Mathis Harbord-Blome, Ina Klären, Sigrid Wollgarten (Hg.) Haltung zeigen! — jetzt erst recht Bildungsmaterialien für Demokratie, Anerkennung und Vielfalt ?!? ?! !! !

Reader für Multiplikator*innen in der Jugend- und Bildungsarbeit

www.vielfalt-mediathek.de Impressum

Düsseldorf 2019 Herausgeber_innen: Mathis Harbord-Blome, Ina Klären, Sigrid Wollgarten

Im Auftrag des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA) Volmerswerther Str. 20 40221 Düsseldorf Tel: 02 11 / 15 92 55-5 Fax: 02 11 / 15 92 55-69 [email protected] www.IDAeV.de Redaktion: Mathis Harbord-Blome, Sigrid Wollgarten, Ina Klären, Ansgar Drücker

Die Veröffentlichungen stellen keine Meinungsäußerung des BMFSFJ bzw. des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autor_innen die Verantwortung.

Alle Texte wurden aus dem Original, wie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung,­ übernommen. Das betrifft auch geschlechtergerechte Schreibweisen, ­Zitierweise und Daten.

ISSN 1616-6027 Gestaltung: Doris Busch, Düsseldorf Druck: Düssel-Druck & Verlag GmbH, Düsseldorf Vorwort

Liebe Leser_innen, diese Broschüre versammelt Beiträge von Projekten, Initiati- Über 6.000 Nutzer_innen und über 1.000 Downloads pro ven und Trägern, die sich tagtäglich für Demokratie, gegen- Monat sind unsere größte Motivation für die kontinuierliche seitige Anerkennung und Vielfalt einsetzen und sich damit Weiterentwicklung des Angebots, etwa bei der Gestaltung der menschenfeindlichen Bestrebungen entgegenstellen. Sie Website, begleitender Social-Media-Auftritte und dem Aus- teilen hier ihren reichen Schatz an Wissen und Erfahrung in bau der Serviceangebote für Projektträger und Nutzer_in- Form von Hintergrundinforma­tionen, Projektvorstellungen, nen. Insbesondere aber auch für die inhaltliche Fortentwick- sowie Übungen und Hilfen mit einem vielfältigen Methoden- lung durch die regelmäßige Aufnahme neuer Materialien, wissen für den Praxiseinsatz. mit denen die Vielfalt-Mediathek die Bearbeitung aktueller gesellschaftlicher Probleme und Konfliktlinien unterstützt Neben dem entschlossenen Einsatz für Demokratie und und ihre Nutzer_innen beim Einsatz für gesellschaftlichen Menschenrechte ist den hier versammelten Projekten ge- Zusammenhalt in Gegenwart und Zukunft stärken möchte. mein, dass ihre Arbeit im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie­ leben!“ durch das Bundesministerium für Fami- All dies wäre nicht möglich ohne die Zusammenarbeit mit lie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde. Demokra- dem Bundesprogramm „Demo­kratie leben!“ und den geför- tie braucht aktive Demokrat_innen. Und aktive Demokrat_in- derten Trägern, ohne die unsere Arbeit nicht stattfinden nen brauchen Ressourcen und Know-how, um sich wirksam kann. Dafür möchten wir als IDA e. V. herzlich danken. Eben- in die demokratische Gestaltung unserer Gesellschaft einzu- so danken wir für die vielen positiven Rückmeldungen zur bringen. „Demokratie­ leben!“ ermöglicht einer großen An- Nutzung der Vielfalt-Mediathek und ihrer Wichtigkeit bei der zahl von Vereinen und Initiativen den professionellen Einsatz Unterstützung demokratischen Engagements, sowie für die für unsere Demokratie in den vielfältigen Bereichen, die in uns entgegengebrachte Anerkennung unserer Arbeit. dieser Broschüre zusammengestellt sind. Damit ist das Pro- Diese Broschüre möchte — wie die Vielfalt-Mediathek — Mut gramm eine der zentralen Grundlagen für die beeindrucken- machen, selbst aktiv zu werden und dafür wertvolles Wis- de Breite und Tiefe an theoretischer und praktischer Exper- sen direkt mit zur Verfügung stellen. Für die Lektüre wün- tise, die in den geförderten Projekten entwickelt wurde. Die schen wir allen Leser_innen viele neue Gedankenanstöße Wirkung aber geht weit darüber hinaus: Wer sich aktiv für und Perspektiven, die hoffentlich Lust machen, selbst aktiv die demokratische Entwicklung unseres Gemeinwesens ein- zu werden oder neue Impulse im bestehenden Engagement setzen möchte, findet fachliche Expertise bei spezialisierten auszuprobieren. Trägern und regionale Ansprech- und Projektpartner für eigene Initiativen. Die Bedeutung des erarbeiteten Wissens und des entstandenen Unterstützungsnetzwerks ist kaum hoch genug einzuschätzen. Sie sind oftmals der entschei- dende Unterschied, ob Willen zum Engagement wirkungslos in Frustration verpufft oder Ansatzpunkte findet und Wirk- samkeit entfaltet, neue Mitstreiter_innen begeistert und einen bleibenden Einfluss auf das lokale Gemeinwesen und unsere demokratische Gesellschaft entwickelt. Die Vielfalt-Mediathek sammelt die vorhandene Expertise und macht sie an zentralem Ort online auffindbar. Dank der kontinuierlichen Förderung seit 2006 bietet sie einen einzigartigen Überblick über die Anfänge, Entwicklungen, Schwerpunkte und Herangehensweisen der Arbeit für De- mokratie und Vielfalt sowie gegen Rechtsextremismus und weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Sie hat sich über die Zeit zu einer Art Gedächtnis der Bun- Stefan Brauneis und Janina Bauke desprogramme zur Demokratieförderung entwickelt und stellt heute 1.816 Materialien zur Verfügung, zu denen 1.150 Vorsitzende_r des Informations und Dokumentations­ weitere im Archiv recherchierbare kommen. zentrums für Antirassismusarbeit (IDA) e.V.

1 Inhalt

Vorwort...... 1 Einleitung...... 4

Zusammen stark sein Methoden gegen Rassismus und für Empowerment...... 6

Pädagogischer Umgang mit Antimuslimischem Rassismus. Ein Beitrag zur Prävention der Radikalisierung von Jugendlichen...... 6 view. Einblicke in Gewaltverhältnisse, politische Konzepte und Perspektiven. Rassismus gegen Rom*nja und Sinte*zza...... 10 „Einen Gleichwertigkeitszauber wirken ­lassen…“ ­ Empowerment in der Offenen Kinder- und ­Jugendarbeit verstehen...... 17 Pädagogischer Umgang mit Antimuslimischem Rassismus. Ein Beitrag zur Prävention der ­Radikalisierung von Jugendlichen...... 19 #Muslimisch_in_Ostdeutschland. Eine Ausstellung für Jugendliche...... 26

Nie wieder Präventive und intervenierende Handlungsstrategien­ gegen Rechtsextremismus und ­Argumentationshilfen gegen rechts­populistische Vereinfachungen...... 29

Le_rstellen im NSU-Komplex. Geschlecht. Rassismus. Antisemitismus ...... 29 „Was soll ich denn da sagen?!“ Zum Umgang mit Rechtsextremismus­ und Rassismus im Schulalltag ...... 33 „Wir holen uns unser Land und unser Volk zurück“ ­Empfehlungen zum Umgang mit rechtspopulistischen ­Parteien in Parlamenten und Kommunen ...... 38 Auch das noch?! Informationen zum Umgang mit Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, Rassismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit an Schulen...... 45 Rassismus als Terror, Struktur und Einstellung. Bildungsbaustein mit Methoden zum NSU-­Komplex. Kontinuitäten, Widersprüche und Suchbewegungen...... 48 Mit Rechten streiten?! Zum Umgang mit rechtspopulistischen und rassistischen Herausforderungen­ ...... 54 Gemeinsam handeln: für Demokratie in ­unserem Gemeinwesen!...... 57

Demokratie — kinderleicht Grundlagen für eine diskriminierungsfreie ­Pädagogik in der Vor- und Grundschule...... 64

Genderblick auf Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen ...... 64 Mariposa. Methoden für Vielfalt und inter­kulturelles Lernen durch Mehrsprachigkeit ...... 71 Für eine Kultur des Miteinanders. Mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Kitas umgehen...... 73 KiDs aktuell, Ausgabe 2/2017...... 75

2 Nichts gelernt? Konzepte gegen primären und sekundären Antisemitismus...... 78

Antisemitismus und Empowerment. Perspektiven, Ansätze, Projektideen ...... 78 Was tun gegen Antisemitismus?! Anregungen zu einer Pädagogik gegen ­Judenfeindlichkeit im 21. Jahrhundert...... 85 Widerspruchstoleranz 2. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit...... 89

Zusammen wachsen Unterstützungsangebote für Multiplika­ ­tor_innen in der Geflüchtetenarbeit...... 96

Vom Willkommen zum Ankommen ...... 96 Einmischen und dagegen halten! Zum Umgang mit rassistischen Anfeindungen ...... 100 Wie kann Integration von Flüchtlingen gelingen, ­damit die Stimmung nicht kippt?...... 101 Ankommen. Durch Normenorientierung und Wertediskussion den Integrationsprozess für Flüchtlinge ­erleichtern. Eine Handreichung für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der Flüchtlingsarbeit...... 103 Geflüchtete stärken! Anregungen für die ­Prävention von religiös-extremistischen Ansprachen in der ­pädagogischen Arbeit mit Geflüchteten...... 105

Jede_r Jeck ist anders Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt leben...... 110

»Ich hab mich normal gefühlt, ich war ja verliebt, aber für die andern ist man anders« — »Homo- und Trans*feindlichkeit in Mecklenburg-Vorpommern« ...... 110 Trans*sexualität. Informationen zu Körper, Sexualität und Beziehung für junge Trans*menschen ...... 113 Homophobie und Transphobie in Schulen und Jugendeinrichtungen: Was können pädagogische Fachkräfte tun?...... 117

Gott ist die Religion egal Ideen, um präventiv gegen religiösen Fundamentalismus­ zu wirken...... 122

Salafismus — Ideologie, Bewegung, Hintergründe...... 122 Geflüchtete stärken! Anregungen für die ­Präven­tion von religiös-extremistischen Ansprachen in der ­pädagogischen Arbeit mit Geflüchteten...... 127 Protest, Provokation oder Propaganda?...... 129

Digitaler Hass Maßnahmen und Prävention zu Hate Speech...... 135

Hetzen und Täuschen. Rechte Strukturen in sozialen Medien. Broschüre zur Tagung am 23./24. Juni 2017 ...... 135 Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Menschenrechtsbildung ...... 139 Projektbeschreibung �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������143 Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Menschenrechtsbildung...... 144

3 Einleitung

Haltung zeigen! ist ein wichtiges gesellschaftspolitisches Ganz im Gegenteil es stärkt die Erkenntnis, dass Haltung Leitbild, vielleicht das wichtigste, das nach 1945 in der deut- zeigen! eine ständige Aufgabe ist und das es im Fall von schen Gesellschaft etabliert und erlernt werden musste, um Gewalt, sei es verbal oder physisch, eine jetzt erst recht eine freie und demokratische Gesellschaft, die Minderhei- Haltung erwachsen muss. Die Gewalttäter_innen und Het- tenrechte und die Meinung Andersdenkender respektiert, zer_innen sind nicht die Mehrheit und dürfen es nie werden. aufzubauen. Haltung zeigen! ist im Zusammenhang mit Die Bundesregierung fördert im Rahmen des Bundespro- der gesellschaftlichen Entwicklung nicht zu verstehen als gramms „Demokratie leben!“, zahlreiche Initiativen, Verei- einmalige Handlung, sondern aus diesem Leitbild erwächst ne, Kommunen und engagierte Bürger_innen, die sich für eine ständige Aufgabe unter die kein Schlussstrich gezo- innovative pädagogische Ansätze im Bereich der Demokra- gen werden kann. Auch weil Angriffe, seien sie verbal, aber tieförderung und Präventionsarbeit einsetzen. eben auch physisch, auf die freie Gesellschaft und auf die hier lebenden Menschen seit Gründung der Bundesrepublik Die Struktur des Bundesprogramms ist dabei aufgebaut wie weiterhin präsent gewesen sind und leider auch heute noch ein Haus. Unter dem Dach des Bundesprogramms befinden eine ständige Gefahr darstellen. sich die Säulen, die das Dach stützen, das sind die Kommu- nen mit ihren Partnerschaften für Demokratie, die Bundes- Die Intention des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ länder mit den Landesdemokratiezentren und der Bund mit — Für ein vielfältiges, gewaltfreies und demokratisches Mit- der Strukturentwicklung bundesweiter Träger. Den Unter- einander — des Bundesministeriums für Familie, Senioren, bau des Hauses bilden die Modellprojekte, die in einzelne ­Frauen und Jugend (BMFSFJ) und seiner Vorgängerpro- Themenbereiche gegliedert sind, in denen sie wirken (z. B. gramme seit Beginn des 21. Jahrhunderts knüpft an diese Demokratiestärkung im ländlichen Raum, Prävention und Definition von Haltung zeigen! als gesellschaftspolitisches Deradikalisierung im Stafvollzug, Engagement und Vielfalt in Leitbild an. Ziel war und ist es Bestrebungen, die darauf zie- der Arbeits- und Unternehmenswelt etc.) Das Fundament des len das friedliche Zusammenleben zwischen den Menschen, Hauses bilden die ministerielle Administration und Öffentlich- Ethnien und Religionen in Deutschland zu stören ernst zu keitsarbeit sowie die unabhängige Programmevaluation und nehmen und etwas dagegen zu unternehmen. wissenschaftliche Begleitung. Die genauen Inhalte und Auf- Das Bundesprogramm übernimmt dabei eine Funktion, die der gaben können unter dem unten eingefügten Schriftsteller Erich Kästner, ein Verfolgter des Nazi-­Regimes, Link bzw. QR-Code eingesehen werden. am 10. Mai 1958 in Hamburg bei der Tagung des PEN-Zen- www.demokratie-leben.de/ trums Westdeutschlands anlässlich des 25. Jahrestages der bundesprogramm/ueber-demokratie- Bücherverbrennung in seiner Rede treffend beschreibt: leben.html „[…] Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätes- tens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu Demokratie leben! spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Kommunen Länder Bund Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Partnerschaften Landes- Strukturentwicklung für Demokratie Demokratiezentren zum bundeszentralen Lawine hält keiner mehr auf [...].“ Träger Das Bundesprogramm, ganz im Sinne Kästners, wird also im Vorfeld tätig, damit es, wenn überhaupt, beim Schneeball Nachhaltige Strukturen bleibt und nichts Größeres daraus erwächst. Ausgewählte Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Um das nachhaltig zu erreichen, ist es wichtig sich an die und Demokratiestärkung im ländlichen Raum junge Generation zu wenden und ihr schon in der Kita, in der Schule und in der Jugendarbeit Werte zu vermitteln, die Radikalisierungsprävention sie stark machen Vorurteilen und Hass entgegen zu treten. Engagement und Vielfalt in der Arbeits- und Unternehmenswelt Dazu bedarf es auch einer starken Zivilgesellschaft, die Wis- sen, Erfahrung, Strategien und Zeit, oft auch ehrenamtlich, Demokratieförderung im Bildungsbereich bereitstellen. Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft Einige werden jetzt einwenden, dass es, trotz einer fast 20-jährigen bundesstaatlichen Förderung von Projekten, Stärkung des Engagements im Netz – gegen Hass im Netz Ini­tiativen und Engagement von Kommunen, weiterhin zu Modellprojekte in den Themenfeldern Gewalt, Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung ge- Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug gen Minderheiten und Andersdenkende kommt. und Bewährungshilfe Die jeweiligen Bundesprogramme und die geförderten Pro- jekte der Zivilgesellschaft und der Partnerschaften für De- Forschung, Öffentlichkeitsarbeit, Begleitprojekte, Bundesamt für Familie und zivil- gesellschaftliche Aufgaben, Programmvernetzung und wissenschaftliche Begleitung mokratie sind aber dadurch nicht gescheitert und schon gar nicht sollte die Forderung lauten die Förderung einzustellen. Quelle: „Demokratie leben!“

4 Das Begleitprojekt Vielfalt-Mediathek übernimmt dabei, damentalismus zu wirken und abschließend wird im achten schon seit 2006, als Projekt des Informations- und Doku- Kapitel auf Prävention und Maßnahmen gegen Hate Speech mentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA) e. V., eingegangen. eine Vermittlerrolle zwischen den von den Projekten ver- Jedes Handlungsfeld ist in einzelne Kapitel gegliedert, die öffentlichten Ergebnissen und der Öffentlichkeit, insbeson- alle dem gleichen Aufbau folgen: Es beginnt mit Hinter- dere Multiplikator_innen der schulischen und außerschuli- grundinformationen zu dem jeweiligen Handlungsfeld. Es schen Bildungsarbeit. Sie ist somit beides, einerseits ist sie folgen zwei bis drei Vorstellungen von Projekten des Hand- das Gedächtnis der Bundesprogramme, andererseits ist sie lungsfeldes. Anschließend werden Methoden und Konzepte am Puls der Zeit. So können Nutzer_innen auf zeitlose und präsentiert, die für die pädagogische Arbeit im jeweiligen damit weiterhin aktuelle Methoden und Erkenntnisse zu- Handlungsfeld passend sind und am Ende werden weitere greifen, aber eben auch auf gegenwärtige Entwicklungen ausgewählte Materialien von anderen Trägern in der Viel- und Herausforderungen mit Hilfe neuer Veröffentlichungen falt-Mediathek aufgelistet und verlinkt. reagieren. Die Hintergrundinformationen wie auch die Methoden und Diese Vermittlerrolle hat uns veranlasst diese Broschüre Konzepte stammen aus Veröffentlichungen von Projektträ- herauszugeben. Sie gibt einen Überblick über das vielfälti- gern, die ebenfalls vorgestellt werden. Über einen Link oder ge Repertoire an Methoden, Konzepten und Informationen QR-Code sind die gesamten Broschüren verfügbar. zu den ganz unterschiedlichen Themenfeldern der Vielfalt- Media­thek und damit des Bundesprogramms. Sie bietet ei- Zum Abschluss der Einleitung möchten wir noch allen Pro- nen Einstieg in unterschiedliche Themen, stellt Projekte vor jektträgern für ihre Zustimmung zur Veröffentlichung von und gibt mit Methoden und Materialien Anregung für die Auszügen aus ihren Materialien danken. Aber auch allen an- praktische Arbeit. deren Programmträgern wollen wir unseren Dank ausspre- chen für ihre wichtige und tolle Arbeit sowie für die vertrau- Leider können wir nicht alle Projekte und ihre wichtige Ar- ensvolle Zusammenarbeit. Ohne das zivilgesellschaftliche beit mit ihren Ergebnissen vorstellen. Deshalb haben wir Engagement kann solch ein Bundesprogramm nicht um- uns für acht Handlungsfelder entschieden, die häufig nach- gesetzt werden und könnte das Projekt Vielfalt-Mediathek gefragt werden und überregional von Bedeutung sind. Im nicht existieren. ersten Kapitel werden Methoden gegen Rassismus und für Empowerment vorgestellt. Darauf folgen präventive und Wir danken natürlich auch dem Bundesministerium für intervenierende Handlungsstrategien gegen Rechtsextre- Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der mismus und Argumentationshilfen gegen rechtspopulisti- Regie­stelle im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaft- sche Vereinfachungen. Das dritte Handlungsfeld erörtert liche Aufgaben (BAFzA) für die konstruktive Zusammenar- Grundlagen für eine diskriminierungsfreie Pädagogik in beit sowie dafür unsere Arbeit und die der vielen anderen der Vor- und Grundschule. Konzepte gegen primären und Programmträger überhaupt zu ermöglichen. sekundären Antisemitismus werden im vierten Kapitel prä- Das Team der Vielfalt-Mediathek wünscht den Leser_innen sentiert. Anschließend werden im fünften Kapitel Unterstüt- eine spannende, aber vor allem lehrreiche und anregende zungsangebote für Multiplikator_innen in der Geflüchteten­ Lektüre und weiterhin viel Erfolg in unserem gemeinsamen arbeit vorgestellt. Kapitel sechs beschäftigt sich mit der Ansinnen ein vielfältiges, gewaltfreies und demokratisches Arbeit zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. In Kapitel Miteinander zu unterstützen und zu fördern. sieben finden sich Ideen um präventiv gegen religiösen Fun-

5 Zusammen stark sein Methoden gegen Rassismus und für Empowerment

Pädagogischer Umgang mit Antimuslimischem Rassismus. Ein Beitrag zur Prävention der Radikalisierung von Jugendlichen (Landeskoordinierungsstelle Demokratiezentren Baden-Württemberg Jugendstiftung Baden-Württemberg)

Kurzbeschreibung: Die Broschüre thematisiert Antimuslimischen Rassismus aus wissenschaftlicher Perspektive und mögliche Herangehensweisen anhand pädagogischer Praxisbeispiele. Ziel ist es, einen Bogen zu spannen von der wissenschaftlichen Sicht auf Rassismuserfahrun- gen Jugendlicher hin zu Handlungsempfehlungen für die pädago- gische Praxis. S. 17–21

„RASSISMUS IST KEIN INDIVIDUELLES PROBLEM“ Interview mit Marwa Al-Radwany zu Begriff und Geschichte des Antimuslimischen ­Rassismus, aktuellen Feindbildern und Auswirkungen auf Betroffene Sebastian Friedrich

Marwa Al-Radwany aus Berlin ist eine der Initiatorinnen „das Fremde“ sei der Grund dafür, dass Menschen Angst des Netzwerks gegen antimuslimischen Rassismus und hätten und feindlich gestimmt seien. Islamfeindlichkeit (NARI). Sie befasst sich seit Jahren mit Der Begriff „Antimuslimischer Rassismus“ hingegen rich- dem Diskurs über Muslime und Ideologien der Gruppen- tet den Blick auf die ausschließend und diskriminierend bezogenen Menschenfeindlichkeit. Sie hält regelmäßig Handelnden, benennt Strukturen und verortet diese als Vorträge und gibt Workshops zu Islamfeindlichkeit und gesellschaftliches und nicht als individuelles Problem. (Antimuslimischem) Rassismus, Mediendarstellungen des Rassismus verstehe ich dabei als einen gesellschaftlichen Islams, Rechtspopulismus und strukturellen Ungleichhei- Mechanismus, der mit Machtstrukturen verknüpft ist und ten im deutschen Bildungssystem. Mit befreundeten Mit- bei dem eine Gruppe mit gesellschaftlichem Zugang zur streiterinnen und Mitstreitern zusammen hat sie 2007 die Macht eine Gruppe mit fehlendem Zugang zu Macht als Initiative Grenzen-Los! gegründet, einen „Verein für eman- „anders“ markiert. Macht bezieht sich sowohl auf sozio­ zipative Bildung und kulturelle Aktion“, der Träger für em- ökonomischen als auch auf politischen und kulturellen powernde kulturelle (Jugend-)Bildungsarbeit ist. Status und Einfluss. Es werden Unterschiede hervorgeho- International ist in der Rassismusforschung vor allem von ben und bewertet und anhand dessen werden die markier- Islamophobie die Rede, wenn es um die Diskriminierung von ten Menschen anders behandelt. Musliminnen und Muslimen geht. Ist das ein geeigneter Be- Das sind die wesentlichen Prozesse und Faktoren von Ras- griff? sismus, also auch von Antimuslimischem Rassismus. Dieser Diesen Begriff verwende ich ungern, da er zu sehr auf in- benötigt nicht unbedingt „Rassen“, die es sowieso unter dividuell-psychologische Ursachen für diskriminierendes Menschen nachgewiesenermaßen nicht gibt. Rassismus Handeln abzielt. Ähnlich wie „Xenophobie“ oder „Frem- kann, wie im Falle des Antimuslimischen Rassismus, auch denangst/-feindlichkeit“ suggeriert der Begriff, es sei „na- Zuschreibungen einer vermeintlich homogenen Kultur türlich“ oder menschlich, dass Menschen Angst vor Frem- oder Religion für die Konstruktion einer auszuschließen- dem hätten. Außerdem schwingt bei den Begriffen mit, den, auf- oder abzuwertenden Gruppe nutzen. Übrigens

6 Hintergrundinformationen

wurden bereits im kolonialen Rassismus und später in sei- für die unmögliche Integration von Musliminnen und Mus- ner biologistischen Steigerung in der Nazizeit Zuschreibun- limen werten. Ausgeblendet wird häufig, dass die Ausein- gen und Charakterisierungen über vermeintliche kulturelle andersetzungen etwas mit den sozialen Bedingungen zu oder charakterliche Eigenschaften bestimmter angeblicher tun haben, wenn eintausend von Flucht oder Krieg trau- „Rassen“ oder Ethnien genutzt. matisierte Menschen unterschiedlichster Herkunft, Mili- eus, Sprachfamilien, politischer Zugehörigkeit etc. sich mit Wie grenzen Sie den Begriff der Islamfeindlichkeit von Anti- mehreren Dutzend oder noch mehr eine Toilette, Dusche muslimischem Rassismus ab? oder Küche teilen müssen. Jeder weiß aus Erfahrung, dass Antimuslimischer Rassismus benennt und benötigt Han- selbst gelindere überfüllte Wartesituationen zu Spannun- delnde und konkrete Praktiken, die von Schmierereien in gen zwischen Menschen führen können, ohne dass es dazu der U-Bahn über Diskriminierungen im Bildungssystem eines religiösen Konflikts bedarf. oder auf dem Arbeitsmarkt bis hin zu Straftaten, wie etwa In der Rassismusforschung ist häufig von einer Konjunktur dem Mord an Marwa El-Sherbini 2009 im Dresdner Land- des Antimuslimischen Rassismus die Rede. Worin liegen die gericht, reichen. Islamfeindlichkeit bezeichnet hingegen Ursachen dieser Konjunktur in Deutschland? die Ideologie, das theoretisch-ideelle Gedankengebilde, das zu Antimuslimischem Rassismus führen oder politi- Ich würde eher von Konjunkturen bestimmter Rassismen sches Handeln wie Militäreinsätze oder Grundrechtsein- sprechen, die wegen unterschiedlicher Faktoren kurz- oder schränkungen rechtfertigen kann. Die Erforschung der langlebiger sein können, ohne damit eine Hierarchisierung Islamfeindlichkeit als politische Ideologie, die Analyse zwischen den Ausgrenzungsformen und Rassismen vor- der Wurzeln, des Aufkommens und der Veränderung nehmen zu wollen. Antisemitismus, Antiziganismus, Ras- sind sehr aufschlussreich, um etwa zu verstehen, wie sismus gegen Schwarze Menschen und mittlerweile eben aus „Ausländern“ oder „Türken und Arabern“ im öf- auch Antimuslimischer Rassismus haben in Deutschland fentlichen Diskurs plötzlich „Muslime“ werden konn- so gesehen leider dauerhaft „Konjunktur“, vor allem im ten. Warum veränderte sich in der Geschichte der Alltagserleben der konkret Betroffenen. Es gibt allerdings Bundesrepublik und der DDR der Fokus von einem Ras- Phasen, in denen sie öffentlich stärker zutage treten, etwa sismus gegenüber allen sogenannten Gastarbeitern weil aus bestimmten Gründen verstärkt politisch Stim- und Vertragsarbeitern auf eine Problematisierung und mung gegen Roma und Sinti gemacht wird oder weil Thilo Thematisierung von Musliminnen und Muslimen? War- Sarrazin ein Interview gibt, in dem er gezielt Muslime dis- um gingen rechtskonservative, rechtspopulistische und kreditiert oder Juden ein Intelligenzgen andichtet. auch neofaschistische Parteien und Gruppierungen dazu Historisch-politisch betrachtet kann man sagen, dass mit über, nicht mehr oder deutlich weniger plump von Auslän- dem Ende des Kalten Krieges und damit dem Ende des ord- dern zu sprechen, sondern von Religion, Kultur und Auf- nungsstiftenden Antagonismus zwischen „freiem Westen“ klärung? Neben den Wurzeln in kolonialer Geschichte und und „Kommunismus“ eine neue bzw. alte Gegenmacht Religionskriegen ist außen- und geopolitisch vor allem die gebraucht und gesucht wurde. Spätestens mit dem zwei- Rolle einer neuen Weltordnung seit dem Zusammenbruch ten Golfkrieg wurde deutlich, dass die Übertragung der des Sowjetsystems und Ende des Kalten Krieges zu nen- Feindbildkonstrukte auf das neue bzw. alte Feindbild Islam nen. Eine wichtige Rolle spielt hier das Strategiepapier hervorragend funktionierte. Nun bedrohte der „irre“, ori- Samuel ­Huntingtons, seinerzeit Berater des US-Außenmi- entalische Despot Saddam Hussein feindbildlich gesehen nisteriums, über den bevorstehenden oder notwendigen „den“ Westen und die meisten Medien spielten die Klavi- „Clash of Civilizations“, dem „Kampf der Kulturen“, wel- atur der Kalten-Kriegs-Rhetorik gekonnt weiter, nur eben cher paradigmatisch für die folgende Außenpolitik bzw. auf ein anderes Objekt bezogen. deren ideologische Verbrämung wurde. Heute wird „unsere“ Freiheit am Hindukusch verteidigt. Sie sprachen vorhin von vermeintlichen Musliminnen und Um die Bevölkerung und Soldatinnen und Soldaten von Muslimen. Wer gilt alles als muslimisch? der Notwendigkeit weiterer Kriege zu überzeugen, geziemt Im öffentlichen Diskurs werden häufig Herkunft und Religi- es sich nicht, dies mit der Wichtigkeit des Außenhandels on gleichgesetzt, als wären sämtliche Menschen, die oder zu begründen, wie der Rücktritt des früheren Bundesprä- deren Eltern oder Großeltern aus einem Land kommen sidenten Horst Köhler gezeigt hat, der so den Kampf der oder kamen, in dem die Bevölkerungsmehrheit muslimisch Bundeswehr gegen Piraten vor Somalia begründet hatte. oder der Islam Staatsreligion ist, automatisch Muslime Da müssen augenscheinlich gewichtigere Motivationen her, oder gar praktizierende Gläubige. Das ist genauso ver- wie etwa Freiheit, Demokratie, westliche Werte oder Frau- kürzt und falsch wie die Gleichsetzung von Mitteleuropä- enrechte, wie wir sie in den letzten Jahren als Begründung ern mit Christen. Im Zuge dieser, euphemistisch gesagt, für die Einsätze in Afghanistan, Mali, Sudan etc. gehört Ungenauigkeit werden oftmals soziale, politische oder haben. Da viele der geopolitisch, geostrategisch wichtig alltagsweltliche Sachverhalte kulturalisiert oder religio- gelegenen bzw. mit zentralen Bodenschätzen ausgestatte- siert. So zum Beispiel, wenn es in völlig überfüllten Auf- ten Länder solche mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit nahmelagern für Geflüchtete zu Auseinandersetzungen sind, kommt es gelegen, die wiederholten militärischen Ein- kommt und die mediale Berichterstattung dies zu einem griffe, die Destabilisierung, auf deren Nährboden Terroris- Kulturkampf hochstilisiert oder Populisten dies als Beweis mus besonders gut gedeihen kann, kulturkampfrhetorisch

7 Zusammen stark sein

umzudeuten. Seit Jahren werden Soldatinnen und Sol- strukturelle Gewalt, die auch durch politisches Regierungs- daten von NATO-Bündnisstaaten darauf trainiert, im handeln oder Nichthandeln in Deutschland, Frankreich und „Krieg gegen den Terror“ den Feind zu bekämpfen. Wenn anderen Orten, an denen Anschläge verübt wurden, mit dieser als möglichst unmenschlich, barbarisch, bedroh- verursacht wird, wird in dieser Debatte oftmals außer Acht lich oder gar parasitär gezeichnet wird, ist das nützlich gelassen. Ich rede dabei nicht von einem simplen Reiz-Re- und senkt die Tötungshemmung. aktions-Schema, sondern einer komplexen Gemengelage. Diese wird man keinesfalls mit lediglich stärkerer poli- Welche Rolle spielen sozioökonomische Faktoren für den zeilicher Beobachtung von Moscheen und Jugendclubs Antimuslimischen Rassismus? oder sozialpädagogischen Präventionsprojekten auflösen Natürlich haben Feindbilder politisch immer auch eine ent- können. Um präventiv auf Jugendliche wirken zu können, lastende Funktion und lenken praktischerweise auch ab muss man ihnen real etwas anbieten können, reelle Pers- von realen, drängenden, selbstverursachten Problemen pektiven aufzeigen können. Wo es diese ökonomisch und oder unangenehmen Themen. Als im Zuge der Herstellung sozial nicht gibt, kann man allenfalls „besänftigen“, was der staatlichen Einigung 1990/91 die ökonomische Lage in nichts an der Grundproblematik ändert und was ich aus Deutschland desolat wurde, war auch schnell ein entlas- pädagogischer Perspektive übrigens auch für grundfalsch tendes Feindbild gefunden. Sie erinnern sich vielleicht an halte. Die oftmals sehr berechtigte Wut ernst zu nehmen die „Asylflut“-Kampagne, deren mediale Orchestrierung und gemeinsam ernsthaft konstruktiv die Ursachen zu be- und die grausamen Folgen. Niemand anderes als die Zei- kämpfen und gemeinsam für bessere Lebensverhältnisse, tung Die Wirtschaftswoche fasste dieses politische Manö- auch in einem globalen Sinn, zu streiten, wäre der einzig ver treffend zusammen. Darin hieß es im August 1991: „So ehrliche und erfolgversprechende Ansatz. konnte es wirklich nicht mehr weitergehen: Alle Welt rede- Sie forschen nicht nur zu Antimuslimischem Rassismus, te nur noch von Inflation und Rezession, höheren Steuern. sondern arbeiteten auch mit muslimischen Jugendlichen im Die Wähler wandten sich in Scharen der Opposition zu. Es Berliner Stadtteil Moabit. Wie äußert sich Antimuslimischer musste etwas geschehen. Und es geschah. Bundesinnen- Rassismus gegenüber Betroffenen? minister Schäuble schob ein neues Thema ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Die Asylantenfrage.“ 2008/2009 gab Zunächst, ich arbeitete nicht nur mit muslimischen Ju- es mit der Banken- und späteren Finanzkrise und milliar- gendlichen, sondern auch mit vermeintlich muslimischen denschweren Bankenrettungen ein ähnliches Gären in der Jugendlichen, die ja genauso von Antimuslimischem „Volksseele“. Interessanterweise war es ein Mitglied des Rassismus betroffen sind. Die Erfahrungen, die viele der Bundesbank-Vorstands, Thilo Sarrazin, der zunächst mit Jugendlichen machen, sind erschreckend. Viele dieser der Feindbild-Keule gegen Sozialleistungsbezieher aus- Erlebnisse sind so alltäglich, dass sich die Jugendlichen holte, die er als faul, verwöhnt und Schlimmeres diskre- oftmals gar nicht bewusst sind, mit Rassismus und teil- ditierte, um anschließend Türken, Araber und Muslime als weise eklatanten Verstößen gegen das Allgemeine Gleich- Zielscheibe zu nehmen. Wochenlang diskutierte die Bun- behandlungsgesetz konfrontiert zu werden. Einer der Ju- desrepublik über nichts anderes als seine Thesen, wäh- gendlichen wird zum Beispiel jeden Freitag auf dem Weg rend in dieser Zeit im Bundestag eine Reihe unpopulärer zur Moschee von Polizisten durchsucht, an die Wand ge- Maßnahmen beschlossen wurden. Und obwohl weitaus drückt und abgetastet. Da es teilweise die gleichen dienst- mehr Menschen in Deutschland durch Rechtsterroristin- habenden Polizisten sind, und sie natürlich noch nie etwas nen und Rechtsterroristen als durch Dschihadistinnen und gefunden haben, kann man davon ausgehen, dass es sich Dschihadisten getötet wurden, nehmen die Bedrohungen hierbei um eine bewusste Schikane handelt. Eine Schüle- durch „Islamisten“ und die politischen Abwehr- und Prä- rin, die Kopftuch trägt, musste das Schuljahr wegen eines ventionsmaßnahmen in der öffentlichen Wahrnehmung ei- angeblich nicht bestandenen Praktikums wiederholen, nen weitaus höheren Stellenwert ein als diejenigen durch obwohl ihre Praktikumsbetreuerinnen ihr beste Leistun- den NSU und seine potenziellen rechtsterroristischen gen bescheinigten. Interessanterweise fielen genau die Nachfolger. drei Schülerinnen der Klasse, die ein Kopftuch tragen, aus denselben Gründen durch das Schuljahr. Nun ist die Nicht erst seit den Anschlägen von Paris ist sowohl in der Klasse einer Berliner Oberschule in einem gehobeneren medialen als auch in der sozialpädagogischen Debatte die Bezirk wieder „schön homogen“. Despektierliche Sprü- Radikalisierung von jungen Musliminnen und Muslimen ein che in Behörden oder von Lehrkräften und feindselige wichtiges Thema. Wie bewerten Sie die Diskussion? Blicke gehören leider zum Alltag der meisten genauso Die meisten Beiträge, die ich dazu höre oder lese, erschei- dazu, wie dass sich Menschen von ihnen in der U-Bahn nen mir hilflos, hektisch und verkürzt oder sind von ein- wegsetzen. Das Gefühl, „aussätzig“ zu sein, belastet seitigen Schuldzuweisungen geprägt. Zudem verengen sie die Jugendlichen sehr, es macht sprachlos und wütend. sich auf psychologische oder soziologische Momente der Was halten Sie von der These, dass die Radikalisierung von Einzeltäter. Sich radikalisierende Jugendliche sind Teil Jugendlichen eine Folge der Diskriminierung ist? einer viel weitreichenderen globalen Problematik von militärischen Auseinandersetzungen, ökonomischer In dieser verkürzten Form würde ich das nicht unterschrei- Abhängigkeit, Umweltzerstörung und sozioökonomi- ben. Prozesse der Radikalisierung, genauer einer Radika- scher Perspektivlosigkeit ganzer Generationen. Diese lisierung, die Demokratie ablehnt und Gewalt befürwor-

8 Hintergrundinformationen

tet, sind immer multifaktoriell bedingt und kein simpler Die Befragungen vor und nach dem Erscheinen von Sar- kausaler Zusammenhang. Die Tatsache, dass sich unter razins „Deutschland schafft sich ab“ und der begleitenden den IS-Anhängerinnen und -Anhängern oder einzelnen medialen Debatte belegen einen signifikanten Anstieg von dschihadistischen Kriminellen immer wieder auch her- Vorurteilen gegenüber „dem Westen“ und auch gegen- kunftsdeutsche junge Menschen ohne rassistische Dis- über Juden, Hass auf den Umgang der „westlichen Welt“ kriminierungserfahrungen und aus akademischen oder mit „dem Islam“, aber vor allem auch die Bevorzugung sozio­ökonomisch stabileren Elternhäusern finden, zeigt, von Segregation anstelle von Inklusion oder Integration. dass die soziologische Ursachenforschung so einfach Die gesellschaftliche Markierung als Problem oder Pro- nicht ist. Bei solchen Zielgruppen kommt vieles zusam- blemverursacher, die Ablehnung und Stigmatisierung, men, unter anderem auch identitäre Desorientierung, die aber auch die ethnisierenden und kulturalisierenden Sehnsucht nach klaren Maßgaben und einfachen Antwor- Zuschreibungen im Zuge der Sarrazindebatte haben ten, einem Richtungsgeber in der heutigen Welt der mul- also gesellschaftliche Gräben weiter vertieft und Radi- tiplen Möglichkeiten, aber auch jugendliche Provokation kalisierungsprozesse eher noch mehr angefeuert, also und Revolte gegen das, was mehrheitlich gesellschaftlich gerade nicht zu einer demokratischen Debattenkultur bei- skandalisiert wird. getragen. Nichtsdestotrotz bilden die jahrelangen Erfahrungen Besonders hervorzuheben ist, dass die Studie die schon gesellschaftlichen Ausschlusses gepaart mit begrün- in früheren Forschungen zu Radikalisierung gewonne- detem Pessimismus ob der eigenen Zukunftschancen, ne Annahme bestätigt, dass Religiosität an sich keinerlei also der Ausblick auf Arbeitslosigkeit und relative Ar- Einfluss auf Radikalisierungsprozesse hat, solange diese mut, einen sehr fruchtbaren Nährboden für eine Radi- in eine kulturelle Identität eingebettet ist. Es ist vielmehr kalisierung. Viele Menschen, die selbst keinen Migrati- die kulturelle Entwurzelung, die zusammen mit anderen onshintergrund haben, können sich gar nicht vorstellen, Faktoren eine militante Radikalisierung begünstigen kann, wie erniedrigend, frustrierend und entwertend es sein also gerade das, was konservative Politikerinnen und Po- kann, von klein auf mit ausgrenzender Sprache und litiker sowie populistische Hardliner fordern, nämlich das Praxis bedacht zu werden. In einem Feldversuch der Be- Abschwören von der „Herkunftskultur“ bei der gleichzei- ratungsstelle Basis und Woge im Hamburger Stadtteil St. tigen Verweigerung einer Aufnahme in die vorherrschen- Pauli wurde in allen getesteten Diskotheken und Clubs aus- de Kultur à la „die Muslime passen hier nicht her“ oder nahmslos schwarzen Clubbesuchern und solchen mit ara- „gehören nicht in die christlich-abendländische Tradition“. bischem Hintergrund der Einlass verweigert, während den Dann nämlich können bestimmte Formen des islamischen gleichermaßen gekleideten, herkunftsdeutschen Clubbe- Fundamentalismus tatsächlich ein attraktives Identitäts- suchern problemlos Einlass gewährt wurde. Und das in ei- angebot darstellen. nem Viertel, dem nachgesagt wird, links und „multikulti“ Das Interview wurde im Dezember 2015 in Berlin geführt. zu sein, einem Viertel in einer kosmopoliten Großstadt, in der Vielfalt Normalität sein sollte, sollte man zumindest meinen. Ähnliche Testingverfahren gibt es etwa für den Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt bei Bewer- Hrsg.: Landeskoordinierungsstelle Demokratie- bungen. Diskriminierung ist für ganze Gesellschaftsgrup- zentrum Baden-Württemberg Jugendstiftung pen in Deutschland also bittere Normalität. Baden-Württemberg. Ich empfehle jeder und jedem, die oder der ein Verständ- Das Demokratiezentrum Baden-Württemberg nis bekommen möchte für die Entwicklung antidemokrati- versteht sich als Bildungs-, Dienstleistungs- und scher Tendenzen und Haltungen aus einer permanenten Vernetzungszentrum im Handlungsfeld Extre- und wiederholten Zurückweisung von Integrationsversu- mismus, präventiver Bildungsarbeit und Men- chen heraus, die vom Bundesministerium des Innern in schenrechtsbildung. Sie finden hier eine Vielzahl Auftrag gegebene Studie „Lebenswelten junger Muslime von Organisationen vernetzt, die Ihnen Kompe- in Deutschland“. Diese zeigt sehr eindrücklich, dass das tenz und Fachwissen zur Verfügung stellen. Die medial gezeichnete Bild von den tendenziell demokratie- Gesamtkoordination liegt bei der Jugendstiftung feindlichen und zu Fundamentalismus neigenden jungen Baden-Württemberg. Musliminnen und Muslimen in Deutschland falsch und voll- kommen undifferenziert ist und dass die überwiegende Mehrheit Gewalt, Fanatismus und Fundamentalismus klar ablehnt und die „westliche Kultur“ begrüßt.1 Außerdem belegt sie sehr anschaulich, welch fatale Folgen die soge- nannte Sarrazindebatte 2010 auf junge Musliminnen und Muslime nichtdeutscher Herkunft in Deutschland hatte.

1 Anmerkung: Die erwähnte Studie erschien 2012 und ist online unter folgendem Link zu finden: www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/ Redaktion/Institute/Sozialwissenschaften/BF/Lehre/SoSe_2015/ www.tinyurl.com/zmxuel6 Islam/Lebenswelten_junger_Muslime.pdf (Abruf: 30.09.2019).

9 Zusammen stark sein

view. Einblicke in Gewaltverhältnisse, politische Konzepte und Perspektiven. Rassismus gegen Rom*nja und Sinte*zza. (Arbeit und Leben DGB/VHS Hamburg e.V.)

Kurzbeschreibung: In der ersten Ausgabe des Magazins „view“ werden Praxen, ­Erfahrungen und Perspektiven von Initiativen und Einzelpersonen, die von Rassismus gegen Rom_nja und Sinte_zza betroffen sind und sich in unterschiedlicher Weise dagegen engagieren, in den Blick genommen. S. 5–11

Was ist Rassismus gegen Rom*nja und Sinte*zza?

Isidora Randjelovi´c

Gegenwärtig erleben wir deutschlandweit eine Konjunk- folge die am stärksten ausgeprägte Feindschaft gegenüber tur rassistischer Ideologien und Organisationen, dabei Asylbewerber*innen geäußert wurde.4 gewinnt auch der Rassismus gegen Rom*nja und Sin- Daraus können wir weiter folgern, dass diejenigen Rom*nja, te*zza1 gesellschaftlich wieder an neuer Auftriebskraft die sowohl islamischen Glaubens als auch Asylbewerber*in- und Legitimation. nen sind, im Schnittpunkt von herkunftsbezogener, auf den Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes fasst die Ergeb- sozialen Status abzielender sowie auf die religiöse Zuge- nisse ihrer Expertise über „Bevölkerungseinstellungen zu hörigkeit gerichteter Feindschaft stehen und damit poten- Sinti und Roma“ folgendermaßen in einem Satz zusammen: ziell Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind. Weiterhin „Bei keiner anderen Gruppe zeigt sich ein so durchgängig lässt sich resümieren, dass Rassismus gegen Sinte*zza und deutliches Bild der Ablehnung.“2 Auch die Mitte-Studie der Rom*nja, je nach der Verbindung mit anderen gesellschaft- Universität Leipzig von 2014 zeigt in Bezug auf Sinte*zza lichen Ausschlussmechanismen, sehr unterschiedliche Fol- und Rom*nja eine starke Ablehnung in der Bevölkerung: gen für die rassismusbetroffenen Menschen hat — auch Beispielsweise unterstellt über die Hälfte der Befragten, wenn der dominante Diskurs homogene und immer gleiche sprich 55,9 %, Sinte*zza und Rom*nja eine Neigung zur Kri- Bilder von „SintiundRoma“­ 5 produziert. Trotz der im Ver- minalität und 55,4 % bestätigen, dass sie ein Problem­ damit gleich zur Vergangenheit verstärkten politischen, wissen- hätten, wenn sich Sinte*zza und Rom*nja in ihrer Wohnge- schaftlichen und öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber gend aufhalten würden. Bemerkenswert an dieser Studie ist dem sogenannten „Phänomen Antiziganismus“6 scheint der auch deren Einschätzung der in der Bevölkerung ansteigen- reale Rassismus gegen Rom*nja und Sinte*zza gesellschaft- den „Islamfeindschaft“3 sowie deren Ergebnisse, denen zu- lich weitgehend akzeptiert zu sein, wenn wir die Forschungs- ergebnisse zu Bevölkerungseinstellungen, die qualitativen

4 Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Hg.): Die stabilisierte 1 Hier wird die gegenderte Schreibweise „Rom*nja und Sinte*zza“ Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland anstatt des generischen Maskulinums Roma und Sinti genutzt, um 2014, Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratie- unterschiedliche Positionierung zu verdeutlichen. Die Interviewten forschung der Universität Leipzig, unter: www.research.uni-leipzig.de/ benutzen unterschiedliche Formulierungen, die wir in der Schreib­ kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf (abgerufen am 27.11.2016). weise in den Interviews berücksichtigen. 5 Isidora Randjelovi´c: Auf vielen Hochzeiten spielen. Strategien und 2 Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.): Zwischen Gleichgültig­ Orte widerständiger Geschichte(n) und Gegenwart(en) in Roma keit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti Communities, in: Kien Ngi Ha/Lauré al-Samarai/Sheila Mysorekar und Roma. Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, (Hg.): Re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color Zentrum für Antisemitismusforschung/Zentrum für Vorurteils- und auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster Konfliktforschung e.V., Berlin 2014, S. 1. 2007, S. 165-180. 3 Der Begriff Islamfeindschaft wird in der Studie verwendet. Zur Gene- 6 Wolfgang Wippermann: Wie die Zigeuner. Antisemitismus und se und kritischen Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten siehe Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997. Siehe auch: Dokumenta- Iman Attia: Zum Begriff des antimuslimischen Rassismus, in: Zülfukar tions- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma: Antiziganismus. Çetin/Savas¸ Tas¸ (Hg.): Gespräche über Rassismus. Perspektiven und Soziale und historische Dimensionen von „Zigeuner“-Stereotypen, Widerstände, Berlin 2015, S. 17–30. Heidelberg 2015.

10 Hintergrundinformationen

Studien zur Bildungssituation von Sinte*zza und Rom*nja7 Mit der Aufklärung entsteht zum einen die wissenschaftliche und die diskursiven Medienanalysen8 zur Grundlage unserer Tsiganologie, die mit einem Konglomerat aus rassistischen Einschätzung nehmen. und sozialen Beschreibung von Sinte*zza und Rom*nja in der Ambivalenz ihrer Zeit bleibt: Erstens sieht sie Sinte*z- Um die Beständigkeit und Zähigkeit des gegen Romn*nja­ za und Rom*nja aus ökonomischer Sicht als Untertanen und Sinte*zza gerichteten Rassismus nachzuvollziehen, ist und Reichtum des Staates an und verlangt Umerziehung, es sinnvoll, seine spezifische Entstehungs- und Tradierungs- um sie zu ordentlichen Bürger*innen zu machen. Zweitens geschichte im deutschen Kontext zu betrachten. Hier ist es formiert sich in der Aufklärung der moderne Rassismus, insbesondere wichtig, die politische, strukturelle und ins- nach dem Menschen nach ihrem Aussehen klassifiziert titutionelle Herausformung und Praxis der Verfolgung von und hierarchisiert werden12 und somit an einer unverän- Rom*nja und Sinte*zza als relevante historische Grundbau- derlichen Essenz von Sinte*zza und Rom*nja festgehalten steine eines bis heute tradierten Gadje-Rassismus9 zu sehen. wird.13 Drittens beginnt im 19. Jahrhundert die Ausformung eines Ordnungsapparates, der Sinte*zza und Rom*nja zu- Historische Voraussetzungen nehmend polizeilich erfasst, als „Rasse von Verbrechern“ Mit der ersten überlieferten Ankunft von Sinte*zza in das kriminalisiert,14 spezielle Stellen für die Verfolgung von Sin- Heilige Römische Reich Deutscher Nation im 15. Jahrhun- te*zza und Rom*nja gründet,15 Gesetze zur Verfolgung von dert beginnt trotz der zunächst durchaus ambivalenten Rom*nja legalisiert,16 Sinte*zza und Rom*nja mithilfe von „Aufnahmepraxis“ eine religiös und sozial legitimierte Stig- Verwaltungstricks ausbürgert17 und tägliche Vertreibungen matisierung sowie massive Verfolgung von Sinte*zza, die von Sinte*zza und Rom*nja organisiert und durchführt. über das Mittelalter und die Neuzeit hinaus bis in das 18. Mit dem Beginn des nationalsozialistischen Regimes ist Jahrhundert hinein durch beachtenswerte Gewaltexzesse also die Erfassung von Sinte*zza und Rom*nja bereits weit und nahezu ausnahmslose Vertreibungen eskaliert. In den fortgeschritten, und auf politischer, gesetzgeberischer, po- Chroniken dieser Zeit werden stigmatisierende Darstellun- lizeilicher Ebene ist längst eine stabile Grundlage für den gen der angereisten „Fremden“ entworfen, die sich auf die folgenden rassistisch motivierten Genozid gelegt. äußeren Merkmale wie die Hautfarbe und Gestalt, auf die Unterstellung ihrer vermeintlichen Religionslosigkeit sowie Während des Nationalsozialismus sind Sinte*zza und auf ihre Tätigkeiten diskriminierend beziehen.10 Diese ste- Rom*nja als Menschen zweiter Klasse definiert und sie reotypen Darstellungen korrespondieren auf der struktu- werden zu staatlich legitimierten Opfern von Eheverboten rellen Ebene mit der grausamen Verfolgung von Sinte*zza mit deutschen Bürger*innen, von Zwangsterilisationen, und Rom*nja durch das gesamte Mittelalter und die Neu- von Deportationen in Arbeitslager, von Zwangsarbeit bis zeit. Sie wurden von mehreren Reichstagen für „vogel­ hin zur Deportation in „Vernichtungslager“.18 Nach dem frei“ erklärt, womit regelrechte Menschenjagden eröffnet Ende des Nationalsozialismus gibt es in Deutschland kei- und die betroffenen Subjekte allein wegen ihrer Herkunft ne Sinte- oder Roma-Familie, die nicht Opfer zu beklagen gebrandmarkt und in Zucht- und Arbeitshäuser verbracht hat, ebenso erging es Familien in den durch die Deutschen wurden. In Preußen galt überdies eine Gesetzgebung, die besetzen Gebieten oder in den mit den Deutschen kolla- die Ermordung von über 16-jährigen und die Entführung borierenden Ländern, wo die Nazis und ihre Kollaborateure der unter 16-jährigen Sinte*zza und Rom*nja in andere Fa- durch Massenerschießungen und ebenfalls durch Zwangs- milien zur „Erziehung“ — was der Leibeigenschaft gleich- kam — legitimierte.11

7 Vgl. Daniel Strauß (Hg.): Studie zur aktuellen Bildungssituation 12 Zum modernen Rassismus siehe: George L. Mosse: Die Geschichte des deutscher Sinti und Roma. Dokumentation und Forschungsbericht, Rassismus in Europa, übersetzt von Elfriede Burau und Hans Günter Mannheim 2011, unter: www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/ Holl, Frankfurt/Main 2006. EVZ_Uploads/Publikationen/Studien/2011_Marburg-strauss_studie_ 13 Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann: Die Zigeuner. Ein historischer sinti_bildung.pdf (abgerufen am 08.02.2018). Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale Andrea Dernbach: Schule ist für Sinti und Roma kein sicherer Ort, in: dieses Volks in Europa, nebst ihrem Ursprunge, Dessau/Leipzig 1783. Tagesspiegel, 2. November 2016, unter: www.tagesspiegel.de/wissen/ 14 Cesare Lombroso, C.: Der Verbrecher in anthropologischer, bildungsaufsteigerinnen-schule-ist-fuer-sinti-und-roma-kein-sicherer- ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg 1894, unter: www. ort/14783888.html (abgerufen am 08.02.2018). ia600305.us.archive.org/11/items/derverbrecherho00lombgoog/der- 8 Markus End: Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strate- verbrecherho00lombgoog.pdf (abgerufen am 08.02.2018). gien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014, 15 Der erste polizeiliche Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei, unter: www.sintiundroma.de/fileadmin/dokumente/publikationen/ die „Zigeunerzentrale“, wurde bereits 1899 in der Polizeidirektion extern/2014StudieMarkusEndAntiziganismus.pdf (abgerufen am München gegründet. 08.02.2018). 16 Siehe Karin Reemtsma: Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegen- 9 Elsa Fernandez: Überlieferungen und Kontinuitäten. Zülfukar Çetin wart. München 1996, S. 97–98. im Gespräch mit Elsa Fernandez, in: Çetin/Tas¸ (Hg.): Gespräche über 17 Reemtsma: Sinti und Roma, S. 85. Rassismus, S. 151–160. 18 Zum nationalsozialistischen Genozid an Sinte*zza und Rom*nja: 10 Vgl. Reimer Gronemeyer: Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozia­ Abhandlungen. Chroniken vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Gießen listische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996. Siehe auch: 1987. Romani Rose/Walter Weiss: Sinti und Roma im „Dritten Reich“. Das 11 Siehe Wippermann: Wie die Zigeuner, S. 50–73. Programm der Vernichtung durch Arbeit, Göttingen 1991.

11 Zusammen stark sein

arbeit, Deportationen und Ermordungen in „Vernichtungs- Zweitens werden Rom*nja z. B. im Gegensatz zu Anti­ lagern“ gewütet haben.19 semitismus nicht als Welteroberer*innen und Herr- scher*innen stigmatisiert, sondern als primitiv und lästig Die Zeit nach dem Nationalsozialismus in Deutschland be- konstruiert. Die Ermordung durch „Vernichtung“ und die schrieb Romani Rose als die „Zweite Verfolgung“.20 Denn Verfolgung durch „Erziehung“ gehen Hand in Hand. Dabei trotz des Regimewechsels gab es im Nach-Nationalsozia- wird z. B. Bildung in Bezug auf Rom*nja immer als „Erzie- lismus-Deutschland für Sinte*zza und Rom*nja weder eine hung“ und nie als Idee der Selbstkonstruktion gedacht.24 selbstverständliche politische Anerkennung des an ihnen Rom*nja fallen oftmals unter die Diskurse kolonialisierter begangenen Genozids noch bereitwillige Gewährung von Subjekte, allerdings im eigenen Land (auch physisch in Be- Entschädigungen für die Zeit in Lagerhaft und die daraus zug auf die langen Perioden der Leibeigenschaft in deut- resultierenden gesundheitlichen Folgen für die Überleben- schen Gebieten bzw. der Versklavung in Rumänien) — aller- den. Beides musste durch die Opfer und Nachfahren gegen dings ohne die imperialistische strukturelle Ebene. große politische und gesamtgesellschaftliche Widerstän- de erkämpft werden,21 und bis heute noch ist die Erinne- Drittens sind traditionell der Ordnungs- und Polizeiappa- rungskultur an den Genozid von Sinte*zza und Rom*nja rat, ebenso wie die Wissenschaft und die Soziale Arbeit, ein fragiles und widersprüchliches Bauwerk deutscher tief im Expertentum zu Sinte*zza und Rom*nja engagiert. Erinnerungspolitik. Erst im vergangenen Jahr 2015 ent- In dieser Dreier-Kollaboration wird ein „Geheimkultur“-My- schuldigte sich die Präsidentin des Bundesgerichtshofs für thos genährt, der auf verschiedenen Ebenen nach Experti- deren skandalöses Urteil in Fragen der Entschädigung von se und Verrat verlangt. Die Ethnisierung von sozialen Pro- Sinte*zza und Rom*nja von 1956, wonach „trotz des Her- blemen verlangt gleichzeitig auf struktureller Ebene nach vortretens rassenideologischer Gesichtspunkte nicht die Kontrolle und Disziplinierung durch den Polizeiapparat, Rasse als solche der Grund für die darin getroffene Anord- nach (Um-) Erziehung durch die Soziale Arbeit und nach nung bildet, sondern die […] asozialen Eigenschaften der wissenschaftlicher Legitimierung dieses Vorgehens durch Zigeuner, die auch früher Anlaß gegeben hatten, die An- die „Tsiganolog*innen“ bzw. anderen „Roma-Expert*in- gehörigen dieses Volkes besonderen Beschränkungen zu nen“. unterwerfen“.22 Viertens ist mit der ordnungspolitischen Verfolgung von Rom*nja der Diskurs um das Nomadentum eng verknüpft. Spezifische historisch gewachseneMerkmale ­ Einerseits wurden die Reisenden-Arbeitstätigkeiten zum von Rassismus gegen Rom*nja und Sinte*zza Lebensstil aller Rom*nja über alle Zeiten hinweg konstru- In Analyse der historischen Verfolgung können spezifische iert. Andererseits müssen Rom*nja in historischer Konti- und bestimmte Merkmale des Rassismus gegen Sinte*z- nuität bis heute Vertreibung erleiden. Heutzutage werden za und Rom*nja herausgearbeitet werden. Ich greife fünf sogar Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren Kennzeichen auf, die mir besonders relevant erscheinen: sind, in ihnen fremde Länder abgeschoben, aus denen sie regelmäßig zurück nach Hause, sprich nach Deutschland, Erstens erfolgt die Rassifizierung von Rom*nja über eine fliehen. Hier produziert die Ausländerbehörde eine Mobili- ausgeprägte Verbindung zu Sexismus. Die Konstruktion tät, die anderswo als Wesen der Rom*nja kulturalisiert wird der Frau als „Mannsweib“, die den Mann ernährt, die be- (zum Teil auch romantisch verklärend), aber aus der bitte- sonders kriminell und promiskuitiv sei, dient nicht nur einer ren Realität von sozialstruktureller Verfolgung gewachsen gender- und heteronormativen Fantasie und Disziplinie- ist. Hinzu kommt, dass gerade diejenigen Rom*nja, die in rung, sondern fungiert auch als Markierung des gesamten Armensiedlungen leben und wiederholt als symbolisches Kollektivs. Bereits in den frühen Chroniken wird über die Bild für alle Rom*nja herhalten müssen, aufgrund der feh- Stigmatisierung der arbeitenden, anders gekleideten sowie lenden Ressourcen die am wenigsten mobile gesellschaftli- auf der Straße sichtbaren Frauen auch die Rassifizierung che Schicht in jedem Land sind. von Sinte*zza und Rom*nja als ganzes Kollektiv deutlich.23 Fünftens sind in den Diskursen, die Rom*nja und Sinte*zza betreffen, sie selbst kaum involviert. Das ist zwar ein klas- sisches Phänomen für alle Rassismen, allerdings wird mei-

19 Für Serbien siehe Milovan Pisari: Stradanje Roma u Srbiji za vreme nes Erachtens die quantitative Unsichtbarkeit von Rom*n- Holokausta, Belgrad 2014. ja, weil sie so massiv ist, auch zu einem qualitativen und 20 Romani Rose: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassis- spezifischen Merkmal des Rassismus gegen Rom*nja und mus in Deutschland, Heidelberg 1987, S. 46. Sinte*zza. 21 Rose: Bürgerrechte für Sinti und Roma, S. 134ff. Die Bilder von Nomadentum, Kriminalität, Schädlingsme- 22 Urteil des Bundesgerichtshofs: Urt. v. 07.01.1956, Az.: IV ZR 273/55, taphern, Promiskuität, schlechter Mutterschaft, musikali- unter: www.juralib.de/entscheidungen/bgh-iv-zr-273/55-07.01.1956 (abgerufen am 08.02.2018). scher Grundbegabung usw. sind über Jahrhunderte aufge- 23 Vgl. Gronemeyer: Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Ab- handlungen. Vgl. Elizabeta Jonuz: Romnja — „rassig“ und „rassisch 24 Jane Schuch: Negotiating the limits of upbringing, education, minderwertig“? Anmerkungen zu Geschichte und Realitäten von Ro- and racial hygiene in Nazi Germany as exemplified in the study mafrauen, in: Brigitte Fuchs/Gabriele Habinger (Hg.): Rassismen und and treatment of Sinti and Roma, in: Journal: Race, Ethnicity Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Education 20 (2017), S. 609-623, unter: www.tandfonline.com/eprint/ Frauen, Wien 1995. udAGESU7YqRCytzj4Y8T/full (abgerufen am 08.02.2018).

12 Hintergrundinformationen

baut und je nach historischen Kontext angereichert. Diese spricht, worüber, wofür und mit welcher Dringlichkeit?“ Bilder finden sich in den aktuellen Debatten zu Geflüchte- ernsthaft und auf inhaltlicher als auch methodischer Ebene ten ebenso wieder wie im Schulunterricht, in den Beleidi- diskutiert werden. Es sind bereits unterschiedliche Alterna- gungen von Mitschüler*innen, in dem Polizeiapparat, in tivvorschläge zu dem Begriff Antiziganismus unterbreitet den Medien. Über die Jahrhunderte bis heute produzieren worden, wie z. B. Antiromaismus, Anti-Roma-Rassismus27 diese Bilder ein Wir und Ihr, welches nicht nur die eigene oder Gadje-Rassismus.28 Die Autor*innen kritisieren unter Identität, im Kontrast zu der oder dem Anderen, als fleißig, anderem die im Begriff „Antiziganismus“ reproduzierte be- arbeitsam, sittsam, sesshaft, gebildet, diszipliniert usw. leidigende rassistische Konstruktion des Begriffs „Zigeu- begründet. Diese Bilder dienen darüber hinaus einer ideo- ner“ bzw. weisen auf das Fehlen eines „Ziganismus“ hin, logische Legitimierung von gesellschaftlichen Ausschlie- auf dem sich der Wortanfang Anti- beziehen könnte. Ich ßungspraxen: teile unter anderem diese Überlegungen und habe selbst im Laufe meiner Auseinandersetzung mit dem Thema Ein aufgeklärtes Europa mit Verfassungen in den jeweiligen Abstand von dem Begriff genommen: erstens weil ich die Nationalstaaten und transnational gültigen Menschen- und Argumentationen von Rom*nja-Aktivist*innen, die sich ve- Kinderrechten stellt sich diskursiv als Zentrum von Huma- hement gegen den Begriff aussprechen, wertschätze und nismus dar. Dessen humanistisches Erbe und wirtschaft- ihnen die begriffliche Definitionsmacht über die Gewalt, die licher Fortschritt sind laut konservativen Apologet*innen sie erfahren, zugestehen möchte. Zweitens gehe ich davon vermeintlich außenpolitisch und auch innenpolitisch durch aus, dass rassismustheoretische Perspektiven einen inhalt- Andere, die als unzivilisiert, kriegerisch und kriminell kon- lichen Gewinn darstellen und besser für das Verständnis struiert werden (aber niemals als Eigenes), gefährdet. Die der Verfolgung von Sinte*zza und Rom*nja geeignet sind. Minderheiten Europas sind dabei nicht als originärer Be- standteil ihres Selbst, sondern auch nach fast 1000 Jah- Wie bereits verschiedene Rassismusforscher*innen for- ren in Europa und nach 600 Jahren in Deutschland immer muliert haben, gibt es nicht nur einen Rassismus, sondern noch „innere Fremde“. Rassismen.29 Auch wenn sie sich in ihren ideologischen und strukturellen Manifestationen und Folgen durchaus vonei- Die eigene fehlende Humanität und die fehlende Einhaltung nander unterscheiden, können sie als differente Systeme z. B. von Standards der Menschen- und Kinderrechte in Be- von Rassismus definiert werden. zug auf Geflüchtete wird darüber legitimiert,25 dass Men- schen, die sich aufmachen, geltendes Recht für sich in An- Demzufolge ist Rassismus gegen Sinte*zza und Rom*nja spruch zu nehmen, zu verlogenen Eindringlingen und einer nicht nur ein Vorurteil oder die Summe mehrerer Vorur- Gefährdung für das soziale System konstruiert werden. Die teile, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis und als sol- rassistischen Diskurse gegen diese geflüchteten Rom*nja ches produzierte es fortwährend Gewalt gegen Rom*nja und die dazugehörigen legalen Ausschließungsmechanis- und Sinte*zza. Diese Gewalt wird legitimiert mithilfe von men wie die zunehmende Abschaffung des Asylrechts, die Diskursen und unterstützt von struktureller Diskriminie- Erklärung von sicheren Herkunftsstaaten und alle anderen rung, z. B. indem Rom*nja das Recht auf Asyl pauschal und legalen jugendhilfe- und sozialrechtlichen Andersbehand- kollektiv abgesprochen wird und ihre Fluchtursachen als lungen der Betroffenen wirken gemeinsam und bestärken wirtschaftliche entpolitisiert und entkontextualisiert wer- sich gegenseitig. Die analytische Perspektive von Stuart den.30 Hall auf rassistische Ideologien und insbesondere deren Der Rassismus gegen Sinte*zza und Rom*nja kann aus Verbindung zu Auschließungspraxen als Verweigerung von verschiedenen Perspektiven analysiert und beschrieben Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen er- werden. Üblicherweise wird in Rassismus-Definitionen der scheint mir als sinnvoller Zugang, auch um die Verfolgung Fokus auf diejenigen, die Rassismus produzieren, bzw. auf von Sinte*zza und Rom*nja theoretisch nachzuvollziehen. die Ausschließungspraxis der hegemonialen Gesellschaft Ich ordne daher das historisch gewachsene System der gerichtet. Rassismus kann daneben allerdings auch in ei- spezifischen Gewalt, die sich gegen Rom*nja und Sinte*zza nen Deutungsrahmen gesetzt werden, der sich auf die Per- richtet, unter dem Begriff Rassismus ein. Dabei betrachte spektive derjenigen konzentriert, die Rassismus erleben. ich die begrifflichen Debatten um die „richtige“ Begriffs- verwendung eher gelassen, obgleich ich selbst keinen überzeugenden analytischen Bedarf sehe, den Rassismus 27 Albert Scherr: Anti-Roma-Rassismus, in: Karim Fereidooni, Meral gegen Rom*nja und Sinte*zza weiterhin als „Antiziganis- El (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen, Wiesbaden 2016, unter: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-14721-1_18 mus“ zu benennen.26 Die gegenwärtigen Wortgefechte er- (abgerufen am 08.02.2018). achte ich als müßig, zumindest so lange bis die Vorausset- 28 Fernandez: Überlieferungen und Kontinuitäten, S. 151–160. zungen dieser Debatte verändert sind und die Fragen „Wer 29 Stuart Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Nora Räthzel (Hg.): Theorien über Rassismus, Hamburg 2000, S. 7–15, hier S. 11. 25 Siehe Fatima El Tayeb: Anders europäisch. Rassismus, Identität und Siehe auch Birgit Rommelspacher: Was ist eigentlich Rassismus?, in: Widerstand im vereinten Europa, Berlin 2015. Paul Mecheril/Claus Melter (Hg.): Rassismuskritik: Band 1: Rassismus­ 26 Isidora Randjelovic: Ein Blick über die Ränder der theorie und -forschung, Schwalbach 2009, [S. 7–16] hier S. 27 ff. Begriffsverhandlungen um „Antiziganismus“, unter: http:// 30 Nizaqete Bislimi: Rom_nja in Deutschland — Visumsfreiheit oder heimatkunde.boell.de/2014/12/03/ein-blick-ueber-die-raender- frei von Rechten?, unter: https://heimatkunde.boell.de/2014/12/03/ der-begriffsverhandlungen-um-antiziganismus (abgerufen am rromnja-deutschland-visumsfreiheit-oder-frei-von-rechten (abgerufen 08.02.2018). am 08.02.2018).

13 Zusammen stark sein

Grundlegend auf die oben genannten theoretischen Über- legungen zum Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis Hrsg.: Arbeit und Leben DGB/VHS Hamburg e.V. und als Ausschlusspraxis definiere ich daher Rassismus ge- Arbeit und Leben Hamburg ist eine gemeinnützige gen Rom*nja und Sinte*zza als eine historisch gewachse- Bildungseinrichtung. Sie möchte Menschen dazu nen Gewalt, die auf die Psyche und die Körper von romani ermutigen, ihr Wissen zu erweitern und selbst aktiv zu Subjekten einwirkt und Lebenserschwernisse, Verletzun- werden. Sie möchte Gelegenheiten schaffen, sich mit gen und Krankheiten, verkürzte Lebenserwartung bis hin anderen auszutauschen und gemeinsam neue Ideen zu zum Tod verursacht. Diese Gewalt schließt Rom*nja indivi- entwickeln. duell und/oder kollektiv und in Verschränkung mit weiteren gesellschaftlichen Platzierungen wie Klasse, Gender, Sex, Projekt: empower. Beratungsstelle für Betroffene rech- religiöser Zugehörigkeit von materiellen, finanziellen sowie ter, rassistischer und antisemitischer Gewalt symbolischen Ressourcen und von gesellschaftlicher Aner- Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Perspektive der Be- kennung und struktureller Teilhabe aus. troffenen. Die Beratung ist vertraulich, parteilich und In diesem Verständnis von Rassismus sind dessen struktu- kostenlos. Sie arbeiten unabhängig von Behörden und relle Erscheinung, das Erleben von Rassismus und dessen auf Wunsch anonym. Bei Bedarf kann in verschiedenen Folgen als Gewalt definiert, die sich gegen Menschen rich- Sprachen beraten werden. tet. Rassismus gegen Rom*nja ist somit nicht nur ein ge- sellschaftliches Phänomen, sondern eine Gewalt, die nach gründlicher Analyse aber auch immer nach konkretem Wi- derstand verlangt.

www.tinyurl.com/yxmleu5t

14 Projektbeschreibung

Dikhen Amen! Seht uns! shops, daran gearbeitet, den stereotypen Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft über Rom_nja und Sinti_zze eigene Identitätsentwürfe entgegenzusetzen. (Junge) Angehörige Das Projekt „Dikhen Ahmen! Seht uns!“ verfolgt das Ziel, der Mehrheitsgesellschaft werden für Rassismus gegenüber junge Rom_nja und Sinti_zze zu Multiplikator_innen­ auszu- Rom_nja und Sinti_zze und dessen Folgen sensibilisiert. Im bilden. Die Jugendlichen erlernen Methoden­ der Empower- Rahmen von „Dikhen Ahmen! Seht uns!“ entstand zudem ment-Arbeit und zur Sensibilisierung der Mehrheitsgesell- das Projekt „Opre Romnja!“, welches sich an junge Rom_nja schaft. Durch ihre Tätigkeit als Workshop Teamer_Innen und Siinti_zze wendet. Das Projekt bietet einen geschütz- werden die Teilnehmer_innen­ gleichzeitig Vorbilder für an- ten Raum, um sich über Rassismus und Sexismus auszutau- dere Jugendliche: sie werden ermutigt für sich einzustehen schen und die Möglichkeit, in die Ausbildung zur Multiplika- und sich für ihre eigenen Interessen und politischen Ziele torin einzusteigen. einzusetzen. „Dikhen Ahmen! Seht uns!“ ist ein bundeswei- tes Projekt von Amaro Drom e.V., einer Jugendselbstorgani- sation von Rom_nja und Nicht-Rom_nja. Trägerbeschreibung: Im Mittelpunkt der Ausbildung stehen die Lebensrealitä- Projektträger: Amaro Drom e.V. ten und das Erfahrungswissen der jungen Rom_nja und Sinti_zze, eine Perspektive, die bisher in der (politischen) Amaro Drom e.V. ist eine interkulturelle Jugend­ Bildungsarbeit wenig beachtet wurde. Basierend auf ihren selbstorganisation von Rom_nja und Nicht-Rom_nja. Erfahrungen und Bedürfnissen werden Methoden zu Em- Der Träger schafft durch gemeinsames Lernen und powerment und Rassismus erarbeitet. Ein Handbuch fasst Erlebnisse Räume zur Selbstorganisation. Ihr Ziel ist die erarbeiteten und erprobten Methoden zusammen und es, junge Menschen zu bestärken und sie zu ermutigen stellt sie einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung. Die sich aktiv politisch und gesellschaftlich zu beteiligen. Jugendlichen treffen sich regelmäßig bei bundesweiten Jugendtreffen. Höhepunkt der Vernetzung ist die jährlich stattfindende Jugendkonferenz mit 100 Teilnehmer_innen, auf der unterschiedliche Workshops angeboten werden und die politische Selbstorganisation vertieft wird. Im Fokus der Ausbildung und den darauf aufbauenden Work- shops steht das Empowerment der Jugendlichen: ihr Selbst- bewusstsein, ihre Selbstorganisation und ihre gesellschaft- liche Teilhabe sollen gestärkt werden. Gleichzeitig wird sowohl durch Öffentlichkeitsarbeit, wie auch durch Work- www.amarodrom.de/dikhen-amen

Building Time — Jugendarbeit, Empowerment & Community Trägerbeschreibung: Projektträger: Each One Teach One (EOTO) e.V. Building Eine der Hauptaufgaben EOTOs besteht darin, Anlauf­stelle für afrikanische-, afrodiasporische und Das Ziel des Projektes ist es einen geschützten Raum für Schwarze Menschen in Deutschland zu sein und Schwarze Kinder und Jugendliche zu schaffen und gemein- mit ­Communities-building kollektive Strukturen zu sam zu gestalten. Die jungen Menschen sollen Selbststär- ­schaffen, die helfen, eine starke und vielfältige Ge- kung erfahren und damit eine positive Selbstidentifikation­ meinschaft auf bundesweiter Ebene zu verbinden. entwickeln. Das Vorstellen schwarzer Vorbilder soll diesen Effekt weiter verstärken. Weiterhin wird die Zielgruppe durch niedrigschwellige Angebote bei Problemen im Alltag unterstützt. Darüber hinaus sollen Schwarze Jugendliche zu Multi­ plikator_innen ausgebildet werden, die ihrerseits dann in die Schwarze Community hinein wirken. Ziel ist demnach auch die kollektive Stärkung der Schwarzen Community. Das Modellprojekt trägt dazu bei, das Ungleichgewicht in Bezug auf die Repräsentation Schwarzer Menschen abzu- bauen, indem diese als Gestalter_innen der Gesellschaft www.tinyurl.com/y6ovz8rj sichtbarer werden.

15 Projektbeschreibung

Vorurteilsbewusste Bildungs­arbeit mit Jugendlichen zu muslimischen Lebenswelten in Ostdeutschland

Muslimfeindlichkeit und Vorurteile gegenüber dem Islam werden Fortbildungen für Pädagog_innen angeboten. Die sind weit verbreitet. In vielen Regionen Ostdeutschlands gesammelten Erfahrungen wie auch die Ergebnisse einer leben aber kaum muslimische Mitbürger_innen. Vorbehalte Fachtagung werden letztendlich publiziert. Alle Ergebnis- gegenüber „dem Islam und den Muslim_innen“ sind aber se, Konzepte und Materialen werden auf der Website www. dort besonders ausgeprägt. muslimisch-in-ostdeutschland.de versammelt, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Projekt baut auf der Grundannahme auf, dass schuli- sche Bildung die Verantwortung dafür trägt, differenziertes und vorurteilsfreies Wissen anzubieten und stereotypen Trägerbeschreibung: Narrativen entgegenzutreten. Das Projekt hat Konzepte und Materialien für die Sekundarstufe entwickelt, die sich nicht Projektträger: Zentrum für Europäische und Orien- nur mit der Religion, sondern auch mit den vorhandenen talische Kultur Vorurteilen gegen Muslim_innen auseinandersetzten. Schü- Das Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur ler_innen und Pädagog_innen sollen dazu befähigt werden, e.V. tritt für die Wertschätzung kultureller Vielfalt ein, das medial transportierte Islam- und Muslim_innenbild kri- möchte Vorurteile abbauen und damit zum gesell- tisch zu reflektieren. Zudem sollen sie gegenüber einseiti- schaftlichen Zusammenhalt beitragen. Ein Schwer- gen Darstellungen sensibilisiert werden und ihnen so besser punkt der Arbeit ist die vorurteilsbewusste Bildungs­ entgegentreten können. arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Um die Ziele zu erreichen wird mit verschiedenen Hand- lungskonzepten gearbeitet. Workshopangebote für muslimi- sche Jugendliche nehmen die Erfahrungen und familiären Migrationsbiographien in den Blick. Die Erzählungen und Er- lebnisse der Jugendlichen werden in die Entwicklung einer Wanderausstellung aufgenommen. Auch die Ergebnisse von Workshops über die Vielfalt des Islams mit Jugendlichen aus der Sekundarstufe werden in die Ausstellung integriert. Diese interaktive Wanderausstellung, welche im Prozess des Projektes erarbeitet wurde, bietet weiteren Schüler_innen www.muslimisch-in-ostdeutschland.de/konzept/ im Rahmen von Projektwochen die Möglichkeit, sich mit vorurteilsbewusste-islambildung/ antimuslimischen Rassismus auseinanderzusetzen. Zudem

16 Übungen und Hilfen

3. Schutzräume schaffen! Kurzbeschreibung: Die Handreichung bietet Rassismus- und Antisemitismuserfahrungen schreiben sich eine Einführung in den in Körper, Psyche und Handlungen ein. Besonders die all- Empowermentansatz. In täglichen wiederholten Erfahrungen machen manchmal Expert_inneninterviews ohnmächtig, wütend, misstrauisch, vorsichtig oder ängst- wird er aus verschiedenen lich. Um ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühl zu Blickwinkeln unter die fördern, ist es wichtig, Jugendlichen stetig wichtige Signale Lupe genommen. Sie zei- zur Selbstermächtigung zu vermitteln: »Du bist nicht schuld gen auf, wie viel dimensio- an dem, was dir passiert!« und »Du darfst selbstbestimmt nal Empower­mentprozesse leben, weil das dein Recht ist!«. Mit Schutzräumen werden und Empowermentprojekte Gegenentwürfe geschaffen, und Betroffene können sich sind. dort erholen. Jugendliche können ihre Erfahrungen ohne Rechtfertigungs- und Erklärungsdruck teilen. Anfangs kön- nen Schutzräume für Jugendliche ungewohnt und entspre- „Einen Gleichwertigkeitszauber wirken ­lassen…“ chend verunsichernd sein. Folgende Botschaften können ­Empowerment in der Offenen Kinder- und für junge Menschen hilfreich sein: Rassismus und Antise- ­Jugendarbeit verstehen mitismus sind anstrengend. Wir dürfen uns davon erholen. (S. 30–31) Selfcare ist wichtig. Welche Strategien wir wählen, um damit (Amadeu Antonio Stiftung) umzugehen, entscheiden wir selbst. Wir sind unterschiedlich und machen unterschiedliche Erfahrungen. Wir sind keine 10 Thesen zu Empowerment in der Opfer, und Lachen ist erlaubt! Offenen Kinder- und Jugendarbeit 4. Ressourcen stärken und Sichtbarkeit Verena Meyer fördern!­ Wenn Jugendliche nicht auf ihre vermeintliche Kultur und/ 1. Antisemitismus und Rassismus oder religiöse Zugehörigkeit reduziert werden, eröffnen ernst ­nehmen und benennen! sich neue Möglichkeitsräume. In geschützten Räumen kön- Um den Empowermentansatz in der OKJA1 implementie- nen sie sich selbstbestimmt mit den Facetten ihres Lebens ren zu können, braucht es zuerst ein gesellschaftliches Be- zeigen und sichtbar werden. Gleichzeitig erproben sie sich wusstsein dafür, warum Empowerment notwendig ist. Denn: mit ihren persönlichen Kompetenzen sowie im sozialen Mit- Erfahrungen mit Antisemitismus und Rassismus sind all- einander. Dadurch bestärkt können sie auch außerhalb von tägliche Lebensrealität von (jungen) Juden_Jüdinnen und geschützten Räumen sichtbar werden und für ihre Interes- People of Color in Deutschland. Dort, wo Mehrheitsangehö- sen eintreten. Ressourcen, Fähigkeiten und Kenntnisse ge- rige diese als solche erkennen, ernstnehmen und benennen langen so in den Vordergrund. können, können sie für Empowermentangebote eintreten. Fort- und Weiterbildungen zu Antisemitismus, Rassismus 5. Kommunale Netzwerke (er)finden! und Empowerment in der OKJA sind hierbei ein wichtiger Wenn Jugendliche sich mit anderen People of Color und/ Bestandteil von Professionalisierung. oder Juden_Jüdinnen lokal oder regional vernetzen, können sie gemeinsam Projekte gegen Antisemitismus und Rassis- 2. Jugendliche sind die Expert_innen mus organisieren. Dabei orientieren sie sich an eigenen Fra- für ihre Lebensrealität! gestellungen und fungieren zugleich als Peer Educators. Sie Jugendliche, die von Antisemitismus und/oder Rassismus be- nehmen somit ihr Recht auf politische Teilhabe in Anspruch troffen sind, machen individuell durchaus sehr unterschied- und binden ihre Perspektiven in die Gesellschaft ein. Entge- liche Erfahrungen. Wenn junge Menschen Fachkräften von gen weit verbreiteter »Integrationsvorstellungen« werden ihren Erfahrungen berichten, verweist das zunächst auf ein sie selbst aktiv und begreifen sich als politisch handelnde Vertrauensverhältnis, und sie gehen davon aus, dass ihnen Akteur_innen. Denn wer in einer Gemeinschaft Wertschät- geglaubt wird und sie sich nicht für ihre Erfahrungen recht- zung und Rückhalt erfährt, kann sich leichter für Menschen- fertigen müssen. Aussagen wie »Sei doch nicht so empfind- rechte einsetzen und auch andere dafür begeistern. lich!« oder »Überleg‘ doch mal, ob du vielleicht nicht selbst dazu beigetragen hast« gefährden die pädagogische Bezie- 6. Zivilgesellschaftliches Engagement auch hung. Darüber hinaus lassen sie junge Menschen an ihrer außerhalb der Mehrheitsgesellschaft Wahrnehmung zweifeln und können verheerende Auswirkun- einbeziehen!­ gen auf ein gesundes Heranwachsen haben. Deswegen gilt es, Was wissen wir eigentlich über Menschen, die die sich trotz Jugendliche als Expert_innen für ihre Erfahrungen ernst zu gesellschaftlicher Aberkennung ihrer Menschenwürde dage- nehmen. Denn sie wissen am besten, was ihnen passiert. gen positioniert haben? Es ist wichtig, diese Geschichte(n) zu 1 Offene Kinder- und Jugendarbeit kennen, um Opferkonstruktionen entgegen zu wirken. Nicht

17 Übungen und Hilfen

nur historische Biografien sind dabei relevant, sondern eben- 9. Auf die Dauer hilft nur Power_sharing! so Narrative zeitgenössischer Juden_Jüdinnen und People of Color, die ihre Widerstandsstrategien sowie Positionen gegen Dank Ansätzen von Empowerment und Community Buildung Antisemitismus und Rassismus sichtbar machen. Das können gibt es mittlerweile bundesweit viele Juden_Jüdinnen und Prominente oder Lokalgrößen wie auch Peers oder Personen People of Color, die sich in ihren jeweiligen Schaffensberei- aus dem lokalen Umfeld sein. Jugendliche werden ermutigt, chen mit Rassismus, Antisemitismus sowie Empowerment die Gegenwart und ihre eigenen Positionen zu entwickeln. befassen und dieses Wissen zugänglich machen. Betroffe- Zivilgesellschaftliches Engagement wird dadurch gefördert, ne erfahren dadurch Bestärkung, weil (Lebens-)Themen und junge Menschen werden motiviert, sich für ein gleichbe- sichtbar werden, die für sie schon lange präsent sind. Mehr- rechtigtes Zusammenleben einzusetzen. heitsangehörigen hingegen werden damit oft ganz neue Themen und Perspektiven eröffnet, die sie noch nie wahr- genommen haben, und sie stellen meist fest, dass sie selbst 7. Fachkräfte als Vorbilder begreifen! Antisemitismus und Rassismus verinnerlicht haben. Dieses In Jugendeinrichtungen sind sie wichtige Vorbilder für junge Konfrontiert-werden ist ungewohnt und kann zu Irritation Menschen. Manche können gut kochen, andere sind geduldi- oder sogar Krisen führen. Folgender Monolog kann Orien- ge Zuhörer_innen. Manche sind unschlagbar beim Tischfuß- tierung bieten: Antisemitismus und Rassismus wird nicht an ball, andere begnadete Musiker_innen. Doch die meisten von einem Tag verlernt. Pädagogische­ Prozesse, die ich selbst ihnen sind mehrheitsangehörig. Jugendlichen of Color und/ nicht verstehe oder nicht begleiten kann, gebe ich ab. Ju- oder jüdischen Jugendlichen fehlen dadurch relevante Role gendlichen stelle ich die Ressourcen zur Verfügung, die sie Models und Identifikationsmöglichkeiten. Für Organisations- brauchen, um geschützte Räume zu organisieren. Mein_e entwicklungs- und institutionelle Öffnungsprozesse bedeutet Kolleg_in ist nicht mein_e Lehrerin, nur weil sie »betroffen« dies, auch personelle Gegebenheiten in den Blick zu nehmen ist. Vielmehr beziehe ich innerhalb und außerhalb meiner und Einstellungsverfahren zu modifizieren. Ziel sollte hierbei Einrichtung klar Position, wenn sie oder andere rassistische immer eine strukturelle Verankerung im Sinne der Bedarfe und/oder antisemitische Übergriffe durch Jugendliche, Ko- und Bedürfnisse von Jugendlichen sein. Wenn Juden_Jüdin- operationspartner_innen oder Kolleg_innen erfahren. nen und People­ of Color als Fachkräfte mit diversen Fähig- keiten, Eigenschaften und Lebensentwürfen vertreten sind, 10. Empowerment für Fachkräfte mit können sich alle Jugendlichen vielfältig orientieren. ­Antisemitismus- und/oder Rassismus­ erfahrungen implementieren! 8. Die eigene Einrichtung mit anderen Augen sehen! Im Kontext von Sozialer Arbeit haben die Erfahrungen deutlich gezeigt, dass es sinnvoll ist, auch für Fachkräf- Nicht nur Personen, sondern auch Materialien wie Bilder und te geschützte Räume zu etablieren, in denen sie sich im Filme bieten jungen Menschen stärkende Bezugspunkte. Ein Rahmen kollegialer Beratung austauschen und entlasten diversitätsbewusstes Setting ist auf der informellen Ebene oft können. Das Spannungsfeld, als »betroffene Fachkraft« der entscheidende Eisbrecher. Häufig kommen Jugendliche einerseits die Diskriminierungserfahrungen von Jugendli- mit Fachkräften über positive Bilder ins Gespräch, denn sie chen zu teilen und anderseits nicht die einrichtungsinterne sind es meist nicht gewohnt, ihre (vermeintliche) Gruppe in »Diskriminierungs-« oder »Migrationsbeauftragte« sein Jugend(bildungs)einrichtungen angemessen oder überhaupt zu wollen, stellt sie immer wieder vor Herausforderungen. repräsentiert zu sehen. Identitätspolitische Prozesse werden Einrichtungsübergreifende Arbeitskreise und Intervisions- sozusagen nebenbei angestoßen, und eine wertschätzende, gruppen ermöglichen eine zielgerichtete Praxisreflexion, anerkennende Einrichtungskultur wird dadurch zugleich ge- die in die eigene Einrichtung getragen werden kann. fördert.

Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung Projekte, die sich kontinuierlich für eine demokratische Kultur engagieren und für den Schutz von Minderheiten Seit ihrer Gründung 1998 ist es eintreten. das Ziel der Amadeu Antonio Stiftung, eine demokratische Projekt: ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassis- Zivilgesellschaft zu stärken, die muskritische Jugendarbeit sich konsequent gegen Rechts- extremismus, Rassismus und Das Modellprojekt „ju:an-Praxisstelle antisemitismus- Antisemitismus wendet. Dafür und rassismuskritische Jugendarbeit“ unterstützt Mul- unterstützt sie Initiativen und tiplikator_innen der offenen Kinder- und Jugendarbeit u. a. durch individuelle Beratung, Coaching, Vernetzung, www.tinyurl.com/y23mfrtn Fortbildung etc.

18 Übungen und Hilfen

de hier also verstanden als Beziehungsarbeit, als Prozess der Kurzbeschreibung: offenen Begegnung zwischen den Teamenden und den Her- Die Broschüre thematisiert anwachsenden sowie unter den Teilnehmenden selbst. Antimuslimischen Ras- Um in diesem Prozess auch eine Verschränkung unterschied- sismus aus wissenschaft- licher Ungleichheitskategorien thematisieren zu können, licher Perspektive und wurden Ansätze aus der geschlechtsbezogenen Pädagogik mögliche Herangehenswei- (feministische Mädchenarbeit, kritisch-solidarische Jungen- sen anhand pädagogischer arbeit) und aus nicht-rassistischen und interkulturellen Kon- Praxisbeispiele. Ziel ist es, zepten aufeinander bezogen. Beiden gemeinsam ist eine pä- einen Bogen zu spannen dagogische professionelle Herangehensweise, die die Rechte von der wissenschaftlichen von Minderheiten, Gewaltbetroffenen und Unterdrückten Sicht auf Rassismuserfah- besonders berücksichtigt. Die Haltung einer Fachkraft bei- rungen Jugendlicher bis spielsweise zur sexualisierten Gewalt ist ausschlaggebend hin zu Handlungsempfeh- dafür, ob ein Raum geschaffen werden kann, in dem diese lungen für die pädagogi- Gewalt zum Thema gemacht werden kann. Voraussetzung sche Praxis. dafür sind fundierte fachliche und politische Auseinander- setzungen und gleichermaßen eine professionelle biogra- Pädagogischer Umgang mit Antimuslimischem fische Reflexion: Was sind meine sozialen Zugehörigkeiten Rassismus. Ein Beitrag zur Prävention der und Positionierungen? Dazu zählt die Reflexion eigener ­Radikalisierung von Jugendlichen Wendepunkte, Privilegien und Diskriminierungserfahrungen (S. 64–73) ebenso, wie das Erlernen einer Distanz, um nicht die eige- (Landeskoordinierungsstelle Demokratiezentren Ba- ne Biografie zur Folie von Bewertungen und Meinungen zu nehmen. den-Württemberg Jugendstiftung Baden-Württemberg)­ Erst diese Auseinandersetzung ermöglicht, im Gruppenpro- zess auch dafür Sorge tragen zu können, dass möglichst KONZEPTIONELLE IMPULSE niemand (abermalig) diskriminiert und verletzt wird. Das ZUM CROSSING VON GENDER & bedeutet auch eine klare Entscheidung des Teams, bei dis- ETHNIZITÄT/MIGRATION kriminierenden Situationen zu intervenieren und sich aus der affirmativen Haltung des Schweigens zu verabschieden. Wir haben Abousoufiane Akka (heute tätig im Antidiskrimi- Durch das transkulturelle Team konnten zudem die Klassen nierungsbereich bei basis & woge e.V.) und Ines Pohlkamp fast durchgängig in Gruppen von Menschen mit und ohne (heute Genderinstitut Bremen) gebeten, die Erfahrun- Rassismuserfahrungen sowie in Mädchen- und Jungengrup- gen des Projektes „>respect< antirassistische jungen- und pen geteilt werden. mädchenarbeit“, das sie von 2003 bis 2011 für das Bremer Konzipiert als Anti-Stereotype-Arbeit war >respect< an der JungenBüro durchgeführt haben, für unsere Expertise auf- Dekonstruktion von zuschreibenden Pauschalisierungen in- zuarbeiten. Das Besondere dieses Projektes war die sehr teressiert, um diese weniger wirksam werden zu lassen. Die systematische Verknüpfung von Gender und Ethnizität, Teilnehmenden wurden spielerisch zu Äußerungen über ihr Empowerment-Pädagogik, Sensibilisierungs- und Antidiskri- Selbstbild und zu ihren Diskriminierungserfahrungen ermu- minierungsarbeit. In dem Projekt der politischen Jugendbil- tigt, um sie in ihrer Eigenwahrnehmung zu stärken. Dabei dung arbeiteten vier Teamende in drei-tägigen Seminaren wurden eine kritische, gleichwohl wertschätzende Ausein- mit Schulklassen (6. bis 11. Jahrgang) in schulnahen Räumen andersetzung mit sich selbst und die kritische Auseinander- der offenen Jugendarbeit. setzung mit gesellschaftlichen Normalisierungsprozessen, Ähnlich wie in den anderen in dieser Publikation beschriebe- mit gesellschaftlichen Zuschreibungen und Zumutungen nen Praxisansätzen war das Ziel, Räume für Begegnungen gefördert, in denen Prozesse der Selbstaneignung, des Wi- und Beziehungen zu ermöglichen, in denen ein Sprechen derstandes, der Resilienz und der politischen Teilhabe ange- 1 über eigene Heterosexismus- und Rassismuserfahrungen, stoßen wurden. über Macht und Ohnmacht, über Verletzungen, Verunsiche- Pädagoginnen und Pädagogen nehmen in diesem Konzept rungen und den jeweiligen Umgang damit möglich wird — für der politischen Bildung die Rolle der Ernstnehmenden und Mädchen und Jungen, für Jugendliche mit und ohne Rassis- Begleitenden ein. Sie anerkennen die Erzählungen von Ras- muserfahrung. sismus und Geschlechterdiskriminierung, Lookism und He- Die als politische Bildung konzipierten Seminare setzten nicht terosexismus, erlauben und ermöglichen das Sich-Darstel- an den vorgedachten Themen der Teamenden an, sondern len, lassen auch Wahrheiten und Lügen als Möglichkeit der an den alltagskulturellen Erfahrungen der Jugendlichen. Selbstdarstellung stehen. Ausgehend von einer Analyse der Ausgangspunkt war das Interesse der Teamenden an dem sozialen Konstruktion von Stereotypen können sie daran an- Erleben von Geschlecht, Sexualität, Ethnizität (und Religion) 1 Die Projektdokumentation aus dem Jahr 2004 ist auf der Webseite als soziale Kategorien im schulischen, außerschulischen und des Bremer JungenBüros (www.bremer-jungenbuero.de) zum Down- familiären Alltag der Teilnehmenden. Politische Bildung wur- load.

19 Übungen und Hilfen

knüpfend Figuren der Lügnerin, des Terroristen, des jungen chen z.B. „gewaltfreie“ Kommunikation und Bewältigungsfor- männlichen Flüchtlings, der kriminell wird, der Muslimin, die men vermittelt wurden. Wichtig war es den Teamenden, die zur Attentäterin wird etc. dekonstruieren und so mit den teilnehmenden Jugendlichen (und vor allem die teilnehmen- Teilnehmenden diskriminierende stereotype Menschenbil- den Jungen) nicht als Gewalt- und Problemverursachende­ der überwinden. anzusprechen, sondern mit ihnen die Möglichkeiten auszulo- ten, über Verletzungen und Verletzbarkeit zu sprechen. Ju- Institution Schule als Grenze gendliche, die rassistische Diskriminierung erfahren müssen, reagieren sehr vielfältig und keineswegs zwangsläufig mit An die Grenzen stößt dieses Konzept der politischen Bil- gewalttätigem Handeln. Oft fühlen sie sich mit Übergriffen dung, wenn es nicht gelingt, eine gute Kooperation mit den und Benachteiligungen alleine gelassen. Es lohne sich, die Lehrkräften aufzubauen und so die Jugendlichen nach den Bearbeitung der Themen Rassismus und Heterosexismus in kurzzeitpädagogischen Interventionen im Seminar wieder in der politischen Bildung loszulösen von gesellschaftlichen und einen Alltag entlassen zu müssen, in dem das Sprechen zum institutionellen Erwartungen, dass damit Phänomene wie Thema sowie die Weiterentwicklung und damit jede nach- Jugendgewalt aber auch religiös begründeter Extremismus haltige Entwicklung systematisch verhindert werden. Hier zu bewältigen seien. Mindestens bedarf es einer (selbst)kriti- waren auch die Erfahrungen von >respect< ernüchternd. schen Reflexion dieser Erwartungen. Konzeptionell vorgesehen waren Absprachen, Feedbackge- spräche und Beratungen mit Lehrkräften. Tatsächlich stie- Zugleich lässt sich gewalttätiges Handeln von Heterosexis- ßen die Teamenden hier auf Desinteresse bis hin zur offenen mus und Rassismus nicht trennen. Die Erwartungen von Mit- Ablehnung. Gleichzeitig erlebten sie Lehrkräfte, die oft auch telgebern, aber auch Lehrkräften gingen hier bei >respect< einen problemorientierten Zugang zu Schülerinnen und nicht immer mit. Schülern hatten, besonders mit Blick auf die muslimischen >respect< ging es um eine Thematisierung von sexueller Jungen. Einzelne engagierte Lehrkräfte fühlten sich mit und geschlechtlicher Diversität, um Respekt, Gleichberech- Problemen alleine gelassen. Rassismus und Heterosexismus tigung in Familie, Freundeskreis und Liebesbeziehung, um erschienen dann als diffuse Nebelglocken, die für sie alleine Anerkennung — unabhängig von sozialer oder ethnisierter nicht zu fassen waren. Ihnen fehlte der fachliche Austausch. Herkunft. Gerade weil die Teamenden sie nicht mit präven- Um solche kurzzeitpädagogischen Projekte sinnvoll zu etab- tiven Maßnahmen eines fehlgeleiteten Extremismusbegriffs lieren, müsse — so die Einschätzung von Akka und Pohlkamp konfrontiert haben, sie nicht defizitorienitert als Protestie- — das strukturelle Versagen des Systems Schule in Bezug rende in der Adoleszenz begriffen haben, sondern weil sie auf rassismuskritische und heteronormativitätskritische ihren Lebensalltag, ihre Gefühle und Wünsche mit der uto- Bildungsarbeit selbst thematisiert und zum Ausgangspunkt pischen Idee einer Zukunft in Gleichheit, Anerkennung und für Bildungsprozesse werden, die die Zusammensetzung Diversität von Zugehörigkeit verknüpfen konnten, hat sich dieser traditionell weiß-deutschen Institutionen und ihre Pa- vielen der Teilnehmenden zum ersten Mal so etwas wie poli- radigmen in den Mittelpunkt stellen. tische Teilhabe eröffnet.

Wie und wo kann eine ­intersektionale ­Pädagogik der Vielfalt konzeptionell ABSCHLIESSEND… VOM UMGANG weiterentwickelt­ werden? MIT RASSISMUSERFAHRUNGEN Akka und Pohlkamp resümieren: Nach wie vor bestehen im Die Ergebnisse der Studien im ersten Teil dieser Broschüre deutschsprachigen Raum nur wenige heteronormativitäts- [Bezieht sich auf die Original-Broschüre] und die Reflexionen kritische und gleichzeitig nicht-rassistische Bildungsange- der Praxisbeispiele geben Hinweise darauf, dass der „Rück- bote, obwohl in beiden Feldern ausreichend Expertise vor- zug“ von Jugendlichen auf die „eigene“ ethnische oder religi- handen ist. Auch die bestehenden Qualifizierungsangebote öse Gruppe auch im Zusammenhang mit der Erfahrung einer bleiben meist in einer Perspektive stecken, denn fast allen vorenthaltenen alternativen Zugehörigkeit zu sehen ist. Wer diesen Angeboten hängt immer wieder ihre Herkunft aus in der Gesellschaft — nicht als Person, sondern als Teil einer und ihr Verhaftet-Sein in der Pointierung (zumeist) nur ei- vorgestellten Gruppe — Abwertung und Ausgrenzung erfährt, ner sozialen Kategorie an. kann in verschiedener Weise darauf reagieren. Eine Möglich- In der Folge fordern Akka und Pohlkamp mehr Begegnun- keit ist es, genau in dieser Gruppe so etwas wie Solidarität, gen, Fachaustausche und gemeinsame Konzeptentwicklun- Zusammenhalt und Handlungswirksamkeit zu suchen. Dies gen beider Gruppen ein. ist weder zwangsläufig noch an und für sich problematisch. Wenn wir angesichts der extremen Radikalisierung von we- Zukunftsorientierung statt nigen Jugendlichen nach Ansatzpunkten für eine nachhalti- Extremismusprävention­ ge Präventionsarbeit suchen, legen die in dieser Publikation dargestellten Überlegungen doch zumindest nahe, dass eine Bezogen auf die Frage des Zusammenhangs von Rassismus- konsequente Arbeit gegen Ausgrenzung und (Antimuslimi- erfahrungen und Radikalisierungstendenzen stellen Akka und schen) Rassismus auch — aber nicht nur — in präventiver Hin- Pohlkamp klar, dass es >respect< nicht um eine Prävention sicht erforderlich ist. von Gewalt ging, in dem Sinne, dass teilnehmenden Jugendli-

20 Übungen und Hilfen

Für die Pädagogik bedeutet dies, dass sie mehr als bisher heiten und Handlungsweisen, verletzende Praktiken mit ei- Konzepte entwickeln muss, wie ein bewusster Umgang mit nem „war nicht so gemeint“ entschuldigt werden oder wenn den Erfahrungen von (Antimuslimischem) Rassismus um- Rassismuserfahrungen bagatellisiert („So schlimm wird das gesetzt werden kann. Die dargestellten Projekte bieten hier nicht sein.“), individualisiert („Das ist ein Einzelfall!“) oder wichtige Ansatzpunkte. Darüber hinaus geht es aber auch pathologisiert werden („Du leidest an Verfolgungswahn.“, darum, situativ im Alltag angemessen zu reagieren. Darauf „Sei nicht so empfindlich!“) (Melter 2006). Wenn pädago- wollen wir in diesen abschließenden Überlegungen eingehen. gische Fachkräfte Jugendliche, die Rassismuserfahrungen oder rassistische Praktiken thematisieren, zurückweisen, Wir haben im Eingangskapitel ein Verständnis von Rassis- ihre Erfahrungen und Perspektiven nicht ernst nehmen, mus skizziert, das nicht auf grobe, eindeutige, absichtsvolle sondern sie, im Gegenteil, abwehren und bagatellisieren, be- Handlungen und Äußerungen beschränkt ist, sondern auch deutet das für Jugendliche — so Melter (2006) — eine sekun- subtile, in Strukturen und Institutionen verankerte, alltägli- däre Rassismuserfahrung: Zu der primären Erfahrung von che und nicht unbedingt absichtlich herbeigeführte Formen Rassismus kommt sekundär die Erfahrung hinzu, dass Ras- einschließt. Ein solches Verständnis von Rassismus ent- sismus nicht gehört, nicht gesehen, nicht anerkannt wird. spricht jedoch nicht dem allgemein vorherrschenden und dominanten Rassismusverständnis in Deutschland, demzu- Pädagogische Fachkräfte, die so reagieren, verpassen auch folge Rassismus ein intentionales Handeln von Individuen die Chance, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. ist. Ein großer Teil der Menschen, die durch rassistische Beispielsweise über ihre Gründe, Rassismus zu thematisie- Strukturen in der Gesellschaft privilegiert sind, behauptet ren oder Praktiken zu problematisieren. Gründe, die — ohne daher, nichts mit Rassismus zu tun zu haben. Dies hat zur dass pädagogische Fachkräfte sich dessen bewusst sind — Folge, dass der Großteil der alltäglichen Rassismuserfahrun- in ihrem eigenen Verhalten, aber auch in der individuellen gen, die Menschen in Deutschland machen, kaum als Dis- und kollektiven Erfahrung von Jugendlichen liegen können. kriminierung oder Rassismus besprechbar sind. Denn weil Würden Fachkräfte sich für die Perspektiven und Begrün- viele Praktiken nicht Teil der allgemeingültigen Definition dungen der Jugendlichen interessieren und nicht nur „aus von Rassismus sind, werden sie zum einen — häufig auch dem Bauch heraus reagieren“, würde der „Rassismusvor- von den Betroffenen selbst (Terkessidis 2004; Scharathow wurf“ auch an Macht verlieren. Für Jugendliche, die ihn 2014a) — kaum selbstverständlich als Rassismus identifi- tatsächlich im Einzelfall als Provokation benutzen, würde ziert und benannt. Zum anderen geht ein Ansprechen von er so schnell unattraktiv. Darüber hinaus gehört es zu den Rassismuserfahrungen vor dem Hintergrund dieses Ras- professionellen Standards der Pädagogik, biografische und sismusverständnisses indirekt immer auch mit einem Ras- lebensweltliche Erfahrungen wahr- und ernstzunehmen und sismusvorwurf einher, der aufgrund der Verknüpfung von Jugendlichen den Raum zu bieten, diese Erfahrungen zu be- Rassismus mit individueller Intentionalität zugleich immer arbeiten. auch den Vorwurf des Rassist-Seins bedeutet. Und dies wird Jugendliche, die Rassismuserfahrungen machen müssen, vehement abgewehrt. erleben ständig und insbesondere von jenen, die diese Er- Auch Pädagoginnen und Pädagogen, die keine Rassismus- fahrungen nicht kennen, dass ihre Erfahrungen nicht ernst erfahrungen machen, reagieren oft eher empört oder ver- genommen, sondern abgewehrt werden. Angesichts dessen letzt als professionell. Weil sie Rassismus meist nur als in- entwickeln sie unterschiedlichste Umgangsweisen mit Ras- tentionalen Akt denken, fühlen sie sich als „Rassistin“ oder sismus. Manche suchen den Fehler bei sich selbst und schä- „Rassist“ diffamiert und in die rechte Ecke gestellt. Entspre- men sich, andere wollen kein Opfer sein und relativieren chend weisen sie den vermeintlichen Vorwurf entschieden oder negieren ihre Erfahrungen und — damit einhergehend zurück und werfen den Jugendlichen manches Mal selbst — häufig auch die entstandenen Verletzungen. Andere weh- vor, den Rassismusvorwurf für andere Zwecke zu instrumen- ren sich, argumentieren und versuchen andere Perspekti- talisieren. Eine solche, leider häufig anzutreffende, Reaktion ven in Diskussionen einzubringen oder werden politisch(er), ist überaus gewaltvoll. Sie ignoriert nicht nur die Erfahrun- wieder andere ziehen sich zurück. gen und Gefühle Jugendlicher, sondern trägt zudem dazu bei, Jugendliche, die Rassismuserfahrungen in Deutschland Die schwierigen Bedingungen des Sprechens­ machen, „zum Schweigen zu bringen“ (silencing). Dies führt über Rassismuserfahrungen verhindern­ nicht nur dazu, dass so agierende pädagogische Fachkräfte wenig von den Rassismuserfahrungen der ihnen anvertrau- ­häufig das explizite Sprechen. ten Jugendlichen wissen und verstehen. Nehmen Pädago- 2 ginnen und Pädagogen Rassismuserfahrungen Jugendli­ Handlungsempfehlungen cher nicht ernst, sondern wehren sie sie ab, etwa indem sie Wenn Rassismus als ein soziales, gesellschaftlich veranker- unterstellen, Jugendliche seien zu sensibel oder würden tes Ungleichheitsverhältnis begriffen wird, sind Rassismus- keinen Spaß verstehen, tragen sie, ob sie wollen oder nicht, erfahrungen eben nicht nur als Folge individueller, rassis- auch dazu bei, Rassismus zu dethematisieren. Damit einher tisch motivierter Handlungsweisen, sondern auch als Folge geht auch die weitere Verfestigung des Ungleichheitsver- von dominanten Selbstverständlichkeiten, strukturellen Ab- hältnisses. Denn die eigene machtvolle Position bleibt un- läufen, normalisierten Erwartungen usw. zu verstehen. angetastet und unhinterfragt. Dies ist beispielsweise auch der Fall, wenn, statt einer Reflexion der eigenen Involviert- 2 Ausführlicher in Foitzik 2015.

21 Übungen und Hilfen

Vor diesem Hintergrund konzentriert sich rassismuskriti- weil sie selbst Teil der Verhältnisse sind, können sie sich sches pädagogisches Handeln ganz grundsätzlich darauf, nicht einfach objektiv und neutral verhalten. pädagogische Kontexte, Strukturen und soziale Beziehungen zu gestalten, die zum einen verhindern, dass Kinder und Ju- „Wenn es gelingt, ein pädagogisches Arrangement her- gendliche neue Rassismuserfahrungen machen müssen und zustellen, das ein Sprechen über Rassismuserfahrun- es zum anderen ermöglichen, dass sie Rassismuserfahrun- gen ermöglicht, darf dennoch nicht vergessen werden, gen thematisieren und Rassismus anklagen können (Scha- dass es in der Regel ein problematisches Thema bleibt. rathow 2014a). Etwa, weil das Aussprechen von Rassismuserfahrungen Dafür braucht es einerseits Aufmerksamkeit für Situa­ auch eine schmerzhafte Realisierung der eigenen ge- tionen, in denen Jugendliche Rassismuserfahrungen von sellschaftlichen Positionierung bedeuten kann.“ sich aus thematisieren. Andererseits müssen Situationen, (Scharathow 2014b, S. 77) in denen dies möglich wird, auch bewusst hergestellt und gestaltet werden. Gleichzeitig gibt es wenig etablierte Kommunikationskultur zu Ausgrenzungserfahrungen. Und das Wissen über Rassis- Räume des Zuhörens mus und Diskriminierung ist sehr unterschiedlich, auch auf- Um Rassismuserfahrungen Jugendlicher anerkennen zu grund unterschiedlicher Positionierungen in rassistisch ge- können, müssen bewusst Räume geschaffen werden. Mög- ordneten Verhältnissen. Gerade mit Gruppen, die intern und lichst alltägliche „Räume“, unmittelbar in den Situationen, bezogen auf die pädagogisch Handelnden von Heterogeni- in denen das Thema relevant wird. Wenn die gewohnten tät und Machtunterschieden geprägt sind, kommt der Refle- Routinen und Abläufe dafür keinen Raum lassen, müssen xion daher eine besondere Bedeutung zu. Diese Reflexion die Routinen und Abläufe unterbrochen werden. Um jeman- bezieht sich auf die eigene Position in rassistischen Verhält- den anerkennen zu können, muss ich sie oder ihn erkennen, nissen und damit einhergehende Erfahrungen, Bilder oder also wahrnehmen. Das vielleicht unmittelbarste, nahelie- Interessen, die Position und das Verstehen der oder des Ju- gendste Mittel dafür ist das Zuhören. Zuhören nicht im Sin- gendlichen sowie den institutionellen wie gesellschaftlichen ne einer Unterhaltung, sondern als eigenständige Tätigkeit, Rahmen. ohne zu kommentieren, ohne zu belehren, ohne Ratschläge ƒƒ Welche Gründe hat die oder der Jugendliche, Rassismus zu erteilen. zu thematisieren oder nicht zu thematisieren? Die Zuhörerin oder der Zuhörer erfährt die Perspektive des ƒƒ Welche Bilder, Empfindungen oder Erinnerungen an eige- Gegenübers, lernt etwas über deren oder dessen Lebenssi- ne Erfahrungen lösen bestimmte Erzählungen, Aussagen tuation, kann dies den eigenen Bildern und Interpretationen (z.B. ethnisierende Äußerungen) oder ein bestimmtes gegenüberstellen und erhält wichtige Informationen über Äußeres (z.B. Kopftuch) in mir aus? die Handlungsgründe. Die oder der Jugendliche erhält ei- ƒƒ Welche allgemeinen Diskurse (z.B. „Sprache ist der Kö- nen Raum, über den sie oder er verfügen kann, macht die nigsweg zur Integration“) spielen in der Handlungssitua­ Erfahrung, als Subjekt gehört zu werden und kann sich mit tion eine Rolle? der eigenen Situation auseinandersetzen. ƒƒ Welchen gesellschaftlichen Erwartungen sehe ich mich gegenüber (z.B. Jugendliche für den Ausbildungsmarkt Die größten Feinde des Zuhörens sind Alltagshektik und ein- passend zu machen)? gefahrene pädagogische Abläufe. Zuhören braucht Freiräu- ƒƒ Welche Rolle spielt in der Interaktion meine gesellschaft- me, die sich manchmal, aber nicht immer von selbst einstel- liche Position? Als was sehe ich mich, als was sieht mich len. Im Alltag sind diese Situationen schwer herzustellen, da die oder der Jugendliche? Welche Machtverhältnisse es meist einen vorübergehenden Ausstieg aus der Alltagsin- sind in der Situation vorhanden? Welche Hierarchien be- teraktion voraussetzt. Manchmal „passieren“ solche Situa- stehen? Welche Privilegien habe ich und welcher bin ich tionen auch unerwartet und informell. Es kommt darauf an, mir bewusst? sie wahrzunehmen und dann gegebenen falls Prioritäten zu verschieben und den sich bietenden Raum zu nutzen. Wesentlich scheint insbesondere in emotional aufgeladenen Diese Räume zur Thematisierung von Rassismuserfahrun- Situationen die Erinnerung, dass es im pädagogischen Han- gen lassen sich auch bewusst herstellen. So können im deln um die Erweiterung der Handlungsspielräume der Ju- pädagogischen Konzept derartige institutionalisierte Ge- gendlichen geht und nicht um die Erleichterung des eigenen spräche vorgesehen werden, in denen jenseits des pädago- Arbeitsalltags. gischen Alltags die Erfahrungen der Jugendlichen im Mittel- punkt stehen. Deutliche Positionierung gegen Rassismus und jede Form von Diskriminierung Selbst-Reflexion Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte ist es, zum einen Pädagogische Fachkräfte können sich angesichts diskrimi- Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein Handeln möglich nierender gesellschaftlicher Strukturen nicht nur auf die machen und zum andern die Jugendlichen darin zu unter- Intuition verlassen, können nicht nur aus dem Bauch oder stützen, eine Entscheidung zu treffen, ob und in welcher dem gesunden Menschenverstand heraus handeln. Eben Weise sie aktiv werden wollen.

22 Übungen und Hilfen

Wenn pädagogische Fachkräfte Jugendliche, die Ausgren- gen, in denen Pädagoginnen und Pädagogen mit Jugendli- zungserfahrungen machen, bei einer produktiven Ausein­ chen arbeiten). Erst die Erfahrung von Selbstwirksamkeit im andersetzung unterstützen wollen, ist eine klare, offene Sinne von realer Teilhabe macht eine Identifikation mit der Positionierung gegen Rassismus und Diskriminierung eine Gesellschaft möglich. Ein Empowerment von Jugendlichen wichtige Voraussetzung. Dies zeigt sich nicht in einem Ak- bedeutet insofern zwangsläufig auch eine Neuverhandlung tionismus ohne Auftrag der Jugendlichen, sondern in einer bestehender Strukturen und Praktiken. selbstverständlichen und parteilichen Haltung. In dieser Publikation haben wir hierfür verschiedene Praxis- Damit ist keine unkritische Haltung der Toleranz gemeint. ansätze vorgestellt. Die innere Haltung der pädagogisch Handelnden kann mit: „Ich respektiere dich in deiner Person, interessiere mich für Empowerment deine Handlungsgründe, teile jedoch nicht alle deine Auffas- sungen“ beschrieben werden. Das schließt ein, in bestimm- „Empowerment-Ansätze fördern die Entwicklung einer ten Situationen auch klare Position zu beziehen und Gren- kollektiven Kultur des selbstbewussten Widerstands ge- zen zu setzen, beispielsweise in Bezug auf diskriminierende gen Ungleichheit sowie rassistische und diskriminieren- und verletzende Äußerungen von Jugendlichen. Wenn die de soziale Gewalt und Unterdrückungsstrukturen und Jugendlichen sich grundsätzlich angenommen und aner- für Selbststärkung, Selbstbestimmung und Partizipation kannt fühlen können, werden sie sich dadurch nicht abge- im Sinne individueller und gesellschaftspolitischer Ver- wertet fühlen. Dies bedeutet auch eine Sensibilisierung für änderungen. […] An erster Stelle steht die Ressourcen- die Hintergründe von Identitätsbildungsprozessen und die bzw. Stärken-Perspektive, bei der der Blick in positiver Vielschichtigkeit individueller Identitäten. So lassen sich und aufwertender Weise auf die Bewusst- und Sichtbar- im Gespräch mit Jugendlichen auch eigene ausgrenzende machung und schließlich (Re-)Aktivierung von (Eigen-) Praktiken sichtbar machen, die mit kollektiven Identitäten Ressourcen gerichtet ist. Dabei besteht die Grundhal- („wir“ vs. „ihr“) verbunden sein können, und für entspre- tung und Überzeugung darin, dass der Mensch selbst chende Gemeinschaftskonstruktionen in religiös begründe- Akteur_in und Gestalter_in seiner/ihrer individuellen ten extremistischen Ideologien sensibilisieren. und sozialen Lebenswirklichkeit ist und damit über die Befähigung für befreiende und heilende Veränderungs- Empowerment prozesse verfügt.“ (Can 2013, S. 12) Angesichts der Relevanz von Ausgrenzungs- und Margina- lisierungserfahrungen als Faktoren in Radikalisierungspro- Rassismuskritik institutionalisieren zessen gewinnt Empowerment von Jugendlichen an zusätz- Der Umgang mit Rassismuserfahrungen kann aber nicht nur licher Bedeutung. Da wir nicht davon ausgehen können, eine Frage der Haltung der pädagogischen Fachkräfte sein. dass Jugendliche von sich aus Rassismuserfahrungen the- Diese Haltungen müssen zum einen von der Institution be- matisieren, braucht es Räume, in denen die Jugendlichen wusst gefördert und gesichert werden, zum andern müssen ihre Erfahrungen bearbeiten können. Diese Räume sind als Strukturen geschaffen werden, die eine solche Arbeit in der ein Ort des Vertrauens und des gegenseitigen Respekts zu beschriebenen Haltung ermöglichen. gestalten. Im Sinne des Empowerment-Ansatzes werden die Äußerungen der Jugendlichen nicht infrage gestellt oder ƒƒ Pädagogische Fachkräfte brauchen ein differenziertes relativiert. Empowerment meint „Selbstermächtigung“, Wissen über Rassismus, seine Funktionen und Wirkungs- dies beinhaltet auch die Förderung eines Selbstverständ- weisen, dafür müssen Qualifizierungen angeboten werden. nisses als handelnde Akteurin oder handelnder Akteur, die ƒƒ Vor dem Hintergrund dieses Wissens müssen sie ihre Rol- oder der gesellschaftlichen Verhältnissen (z.B. Rassismus) le und Position — auch in spezifischen Kontexten — reflek- nicht ohnmächtig ausgesetzt ist, sondern sie durch eige- tieren. Dafür brauchen sie Räume, zum Beispiel im Rah- nes Handeln sichtbar machen und idealerweise verändern men einer Supervision, in der diese Fragen kompetent kann. Der Austausch über Rassismuserfahrungen und das bearbeitet werden können. gemeinsame Nachdenken über Handlungsmöglichkeiten ƒƒ Pädagogische Fachkräfte, die selbst Rassismuserfahrun- können bestärkend wirken. Jugendliche können erkennen, gen machen, brauchen unter Umständen eigene Räume, dass ihre Rassismuserfahrungen kein individuelles Problem um ihre spezifischen Erfahrungen im Team, aber auch sind, sondern dass sie diese Erfahrung mit anderen teilen. mit den Jugendlichen bearbeiten zu können. Das Gewahrwerden, dass die Ursachen für Rassismuserfah- ƒƒ In Personal- und Teamentwicklung müssen die Fragen der rungen nicht in ihren individuellen Eigenschaften liegen, differenten Positionierungen institutionell mitgedacht sondern in den gesellschaftlichen Strukturen verankert werden. Fragen von Rassismuskritik und Empowerment sind, kann entlastend wirken und das Potenzial haben, ge- sind als Querschnittsaufgabe bezogen auf alle Angebote, meinsam mit anderen gegen Rassismus vorgehen zu wollen. den alltäglichen Ablauf, die Teamstrukturen mitzudenken. Jugendliche können sich gegenseitig ermutigen und eigene sowie gemeinsame Stärken erkennen. Zugleich beschränkt Schluss sich der Ansatz des Empowerments nicht auf diskursive und Jugendliche, die rassistische Diskriminierung erfahren kognitive Aspekte, sondern erfordert reale Veränderungen müssen, reagieren sehr vielfältig. Oft fühlen sie sich mit der Gesellschaft selbst (oder — im Kleinen — der Einrichtun- Übergriffen und Benachteiligungen (auch von den pädago-

23 Übungen und Hilfen

gischen Fachkräften) alleingelassen. Wir haben versucht, LITERATUR deutlich zu machen, wie wichtig die Bearbeitung von Ras- sismus als Thema in der politischen Bildung sowie die An- Foitzik, Andreas: Erfahrungen mit Rassismus im pädago- erkennung von Rassismuserfahrung in der pädagogischen gischen Alltag. Eine Einführung zum Thema Rassismus für Praxis sind. Keineswegs dürfen sich solche Elemente in der Fachkräfte in Jugendhilfe und Schule. Thema Jugend Kom- päda­gogischen Praxis allein aus gesellschaftlichen und in- pakt Nr. 3. Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- stitutionellen Erwartungen begründen, damit Phänomene und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e.V., Münster, 2015. wie Jugendgewalt oder auch religiös begründeten Extre- (Bestellbar unter: www.thema-jugend.de) mismus zu bewältigen. Can, Halil: Empowerment aus der People of Color-Pers­ Einen Raum zu öffnen, um Rassismuserfahrungen besprech- pektive. Reflexionen und Empfehlungen zur Durchführung bar zu machen, erfordert geradezu, die Jugendlichen nicht von Empowerment-Workshops gegen Rassismus. Lan- als Gewalt- und Problemverursachende anzusprechen, son- desstelle für Gleichbehandlung — gegen Diskriminierung dern mit ihnen die Möglichkeiten auszuloten, über Verletzun- (LADS), Berlin, 2013. gen und Verletzbarkeit zu sprechen und gemeinsam nach Melter, Claus: Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Die Erweiterung der Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der So- Handlungsfähigkeit geht immer Hand in Hand mit Empower- zialen Arbeit. Waxmann, Münster, 2006. ment: die Stärkung der Jugendlichen, das Erleben ihrer Scharathow, Wiebke: Risiken des Widerstandes. Jugendliche Selbstwirksamkeit, ihrer Widerständigkeit und der vorhande- und ihre Rassismuserfahrungen. Transcript, Bielefeld, 2014a. nen Talente und Fähigkeiten ermöglichen einen (selbst)be- wussteren Umgang mit den Widersprüchen der Gesellschaft. Scharathow, Wiebke: Rassismus. In: Diakonie Württemberg: Woher komme ich? Reflexive und methodische Anregungen Wir sind allerdings davon überzeugt, dass ein professionel- für eine rassismuskritische Bildungsarbeit. Diakonisches ler Umgang mit Jugendlichen und ihren Erfahrungen von Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V., Stutt- Antimuslimischem Rassismus dazu beitragen kann, Jugend- gart, 2014b, S. 74-77. liche darin zu unterstützen, sich in dieser Gesellschaft, mit all ihren Widersprüchen, zu positionieren und sich als Teil Terkessidis, Mark: Die Banalität des Rassismus. Migranten dieser zu verstehen. zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Tran- script, Bielefeld, 2004.

24 Übungen und Hilfen

Checkliste Pädagogischer Umgang mit Rassismuserfahrungen in Gruppenzusammenhängen

Zuhören und Räume schaffen Q Angebote unterschiedlicher Role Models/­Vorbilder Q Zuhören Q Materialien nutzen, die die Perspektive der Q Ernstnehmen und Anerkennen von erlebtem ­betroffenen Jugendlichen sichtbar machen ­Rassismus Q Wissen um Rassismus und dessen Funktionen ver­ Q Achtsamkeit und Sensibilität mitteln Q Räume schaffen, Q Jugendliche entscheiden über die Angebote und die Themen mit v in denen Zeit zum Zuhören besteht v die auf Vertrauen basieren Empowerment v die ein Schutzraum für die Jugendlichen sind — Q Angebote machen, um Jugendliche in ihrer Selbst- d. h. die weitgehend diskriminierungsfrei sind wirksamkeit und Selbstbemächtigung zu stärken Q Keine schnellen Lösungen anbieten, sondern Möglich- Haltung keiten des Umgangs mit Rassismus gemeinsam erar- Q Parteiliche Haltung beiten und die Jugendlichen in ihrem Weg stärken Q Haltung des Intervenierens statt des Schweigens­ bei Q Austausch der Jugendlichen über ihre Rassismus­ diskriminierenden Situationen erfahrungen — Stärkung und Solidarität Q Die Jugendlichen in ihren vielfältigen ­Identitäten und Bezügen wahrnehmen Struktur/Organisation Q Reproduktion von Rassismus vermeiden Q Heterogenität der pädagogischen Fachkräfte (z. B. Kulturalisierung) Q Schulung und Weiterbildung zu Rassismus und unter- schiedlichen Diskriminierungsformen Haltung meint in diesem Kontext eine pädagogische Q Reflexion der eigenen Positionierung und dereigenen ­ professionelle Herangehensweise, die sich in der Of- pädagogische Praxis innerhalb der rassistischen fenheit für eine Begegnung und in der solidarischen gesellschaftlichen Strukturen politischen Auseinandersetzung ausdrückt. Die Rech- Q Prozesshaftes Lernen und Fehlerfreundlichkeit — te von Minderheiten, Gewaltbetroffenen und Unter- ­Ambivalenzen und Widersprüche aushalten lernen drückten werden hierbei besonders berücksichtigt. Q Öffentliches Positionieren der organisierenden Ein- richtungen gegen Rassismus Inhalte Q Parteiliches Einsetzen der organisierenden Q Angebote, bei denen die Jugendlichen im Mittelpunkt ­Einrichtungen bei rassistischen Vorfällen stehen Q Angebote, mit denen die Jugendlichen ihre Erfah- rungen bearbeiten und/oder verarbeiten (z. B. durch Kunst einen Ausdruck/Stimme finden)­

Hrsg.: Landeskoordinierungsstelle Demokratie­ zentrum Baden-Württemberg Jugendstiftung Baden-Württemberg. Das Demokratiezentrum Baden-Württemberg ver- steht sich als Bildungs-, Dienstleistungs- und Ver- netzungszentrum im Handlungsfeld Extremismus, präventiver Bildungsarbeit und Menschenrechts­ bildung. Sie finden hier eine Vielzahl von Organisa- tionen vernetzt, die Ihnen Kompetenz und Fachwis- www.tinyurl.com/zmxuel6 sen zur Verfügung stellen. Die Gesamtkoordination liegt bei der Jugendstiftung Baden-Württemberg.

25 Übungen und Hilfen

Ablauf Kurzbeschreibung: Das Modul „Jeder Mensch 1. Stunde: ? ist vieles“, aus dem Einstiegsspiel: Bingo Ausstellungskonzept von „#Muslimisch_in_Ost- Dauer: 15 min Material: M1 deutschland“, bietet Schü- Die SuS erhalten das Arbeitsblatt „Bingo“ (M1) zur Übung ler_innen die Möglichkeit und schreiben auf diese ihren Namen. Sie erhalten die Auf- über ihre eigene Identität gabe, durch den Raum zu laufen und den anderen aus der und Zugehörigkeit zu Klasse anhand des Bingo-Zettels Fragen zu stellen. Wenn reflektieren. Darüber jemand eine betreffende Frage mit JA beantwortet, unter- hinaus wird dazu ange- schreibt die Person in dem jeweiligen Feld. Wichtig ist: Je- regt sich mit Texten und der Name darf nur einmal vorkommen! „Gewonnen“ hat die Person, welche zuerst horizontal, vertikal oder diagonal Erzählungen muslimischer eine Reihe voller Unterschriften gesammelt hat, die Person Jugendlicher auseinander- ruft laut „BINGO“. Wenn Freude am Spiel besteht, kann die zusetzen. Übung noch fortgesetzt werden, bis weitere SuS eine volle Reihe erreicht haben. #Muslimisch_in_Ostdeutschland Fragen zur Auswertung: Eine Ausstellung für Jugendliche ƒƒ War es schwierig manche Fragen zu stellen oder zu be- (ZEOK — Zentrum für Europäische und Orientalische­ antworten? Kultur e.V.) ƒƒ Habt ihr etwas Neues erfahren? Gab es Überraschungen? ƒƒ Habt ihr Fragen weggelassen, weil ihr sie nicht stellen wolltet? ƒƒ Worin unterscheiden sich Fragen z.B. in Bezug auf das Unterrichtsmodul zu: Identität Sternzeichen von denen, die z.B. danach fragen „ob die Jeder Mensch ist vieles1 Eltern getrennt sind“? Unterrichtsgespräch Identitätskategorien Fach, Schulform Geschichte und Ethik/Religion, Gymnasium und Gesamt- Dauer: 5 min Material: M2 schule Gemeinsam mit den SuS werden die verschiedenen Identi- Klassenstufe Dauer tätskategorien gesammelt. Die SuS sollen benennen, welche 7–10 4 x 45 min Aspekte/Kategorien zur Identität eines Menschen gehören; diese werden an der Tafel (bzw. Pinnwand/Smartboard) ge- Ziele sammelt. Das Modul Jeder Mensch ist vieles bietet den SuS2 die Mög- lichkeit über ihre eigene Identität und Zugehörigkeit zu Impuls: Hilfreich kann es sein, mit Fragen zu starten wie reflektieren sowie sich mit Texten und Erzählungen musli- „Was macht dich aus? Was gehört zu dir?“ und die SuS zu mischer Jugendlicher aus Leipzig auseinanderzusetzen, um fragen, welche Eigenschaften in der Bingo-Übung abgefragt sich auf eine Spurensuche nach Gemeinsamkeiten und Un- wurden. Abhängig von den Ergebnissen dieser gemeinsa- terschieden zu begeben sowie der Frage nachzugehen, was men Arbeit müssen durch die Lehrkraft eventuell noch wei- macht Kultur eigentlich aus. tere Kategorien ergänzt werden (M2).

Die SuS können … Einzelübung ƒƒ unterschiedliche Aspekte von Identität benennen ƒƒ sich mit ihrer eigenen Identität und Zugehörigkeit ausein­ Dauer: 5 min Material: M3 andersetzen Die SuS erhalten das Arbeitsblatt „Meine Apps“ (M3) und ƒƒ Gemeinsamkeiten und Unterschiede untereinander ent- füllen dieses für sich aus. decken Dabei sollten die Kategorien aus M2 berücksichtigt werden. ƒƒ dem Vorurteil begegnen, bei Muslim_innen würde Reli- giosität alle anderen Identitätsbereiche überlagern Jede_r entscheidet selbst, wie wichtig welche Kategorie zur Zeit für ihn/sie ist. Nicht alle Themen müssen verwendet ƒƒ sich einem transkulturellen Kulturverständnis nähern werden. ƒƒ gar nicht — zur Zeit nicht wichtig für mich ƒƒ einmal — gehört zu mir, aber nicht das Allerwichtigste ƒƒ zweimal — das ist mir wichtig ƒƒ dreimal — das ist mir sehr wichtig 1 Materialien siehe S. 76. 2 Schülerinnen und Schüler

26 Übungen und Hilfen

Partnertausch Präsentation der Kleingruppen Dauer: 5 min Dauer: 20 min Die SuS kommen mit ihrer Nachbarin/ihrem Nachbarn zu Die Kleingruppen stellen ihr Porträt eines Jugendlichen vor den folgenden Fragen ins Gespräch: der Klasse vor. ƒƒ Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede fin- det ihr? Auswertungsgespräch ƒƒ Welche Apps haben beide, welche Apps tauchen gar nicht Dauer: 20 min auf? ƒƒ Was hat euch am meisten überrascht? Auswertungsgespräch ƒƒ Gibt es unter den vorgestellten Jugendlichen welche, die dir in manchen Aspekten ähnlich sind? Dauer: 15 min Material M4 ƒƒ Worin unterscheiden sich die hier vorgestellten Jugend- Folgende Auswertungsfragen werden im Plenum bespro- lichen? chen: ƒƒ Was ist dir wichtig, wenn du eine neue Person kennen- ƒƒ Wie war es, diese Übung zu machen? Was war überra- lernst? schend? Was auffallend? ƒƒ Was ist eigentlich Kultur? ƒƒ Möchte jemand sein Smartphone vorstellen? ƒƒ Welche Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten habt ihr ge- Vertiefung „Gemeinsamkeiten und Unterschiede“ funden? Dauer: 15 min Material: M6 ƒƒ Würde die Oberfläche anders aussehen, wenn ihr sie vor 5 Jahren gemacht hättet? Oder in 10 Jahren? Was bleibt Die SuS erhalten das Arbeitsblatt „Gemeinsamkeiten und Un- gleich und was verändert sich? terschiede“ (M6) und lesen es jede_r für sich durch. Anschlie- ƒƒ Wie wäre es, wenn ihr an einem anderen Ort aufgewach- ßend werden folgende Fragen gemeinsam beantwortet: sen wärt und dort leben würdet? Würde die Auswahl ƒƒ Worum geht es hier? gleich aussehen? ƒƒ Fallen euch Beispiele aus eurem eigenen Alltag ein? ƒƒ Wäre eure Identität anders, wenn ihr außerhalb von Deutschland aufgewachsen wärt? Materialien Zum Thema Religiosität (M4): Das Arbeitsmaterial zum Unterrichtsmodul Haben einige von euch auch ein Symbol für Religion ge- „Identität“ können auf der Homepage des wählt? Wie oft habt ihr die App heruntergeladen? Was Projektes #Muslimisch_in_Ostdeutschland glaubt ihr, welche Apps hätte ein muslimischer Jugendlicher unter www.tinyurl.com/y59ggxjo herunter- runtergeladen? geladen werden. Impuls: Jeder Mensch hat ganz verschiedene Zugehörigkeiten Hrsg.: ZEOK — Zentrum für Europäische und Orienta­ und Eigenschaften. Niemand gehört nur einer Kategorie an. lische Kultur e.V. 2./3. Stunde: Das Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur Muslimische Jugendliche im Porträt e.V. tritt für die Wertschätzung kultureller Vielfalt ein, möchte Vorurteile abbauen und damit zum gesell- Einstiegsgespräch schaftlichen Zusammenhalt beitragen. Ein Schwer- Dauer: 5 min punkt der Arbeit ist die vorurteilsbewusste Bildungs­ arbeit mit Kindern und Jugendlichen Impuls aus der vorangegangenen Stunde: Jeder Mensch hat verschiedene Identitätsaspekte und Merkmale, die zu ihm Projekt: Vorurteilsbewusste Bildungsarbeit mit Ju- gehören. Religiös zu sein kann eine dieser Zugehörigkeiten gendlichen zu muslimischen Lebenswelten in Ost- sein. Christen und auch Muslime sind also nicht nur gläubig, deutschland sondern auch … Die Unterschiedlichkeit von muslimischen Jugendlichen soll Thema dieser Stunde sein. Siehe Projektvorstellung auf S. 65

Kleingruppenarbeit Dauer: 30 min Material: M5 Die SuS finden sich in Kleingruppen mit 4-5 Personen zu- sammen. Jede Gruppe erhält ein Material mit einem Por- trät eines muslimischen Jugendlichen (M5). Sie lesen und arbeiten das Material durch und bereiten hierzu eine kleine Präsentation vor. www.tinyurl.com/y59atrds

27 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Rassismusprävention und Empowerment

Titel: Beratung für Betroffene rechter, ras- Titel: Antimuslimischer Populismus. sistischer und antisemitischer Gewalt Rechter Rassismus in neuem Gewand in Deutschland. Qualitätsstandards für Autor_in: Häusler, Alexander eine professionelle Unterstützung Hrsg.: Bundeskoordination Schule ohne Hrsg.: Verband der Beratungsstellen für ­Rassismus — Schule mit Courage ­Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. c/o ReachOut www.tinyurl.com/y2lx9uyq www.tinyurl.com/yy7kgtb5

Titel: Methodenheft Antiziganismus/­Gadjé- Titel: Rassismus: Eine Definition Rassimus. Handreichung für Lehrperso- für die Alltagspraxis nen zur Verwendung im Unterricht Autor_in: Auma, Maureen-Maisha Hrsg.: Netzwerk für Demokratie und Courage Hrsg.: Regionale Arbeitsstellen für ­Bildung, Saar e.V. Integration und Demokratie (RAA) e.V.

www.tinyurl.com/yy57vcaf www.tinyurl.com/y48mqqjg

Titel: Sexismus und Rassismus in der Titel: Gleich ≠ Gleich. Antidiskriminierungs- ­Migrationsgesellschaft und Gleichstellungsdaten im Gespräch Autor_in: González Athenas, Muriel Hrsg.: neue deutsche organisationen Hrsg.: Informations- und Dokumentations­ zentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA)

www.tinyurl.com/y398dted www.tinyurl.com/yyoa4c5y

Titel: Auf verlorenem Posten? Unterstützung Titel: Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege. von Betroffenen rassistischer Gewalt Texte über Antiromaismus und histori- — Herausforderungen und Handlungs- sche Lokalrecherchen zu und von Roma, möglichkeiten in der ­Praxis. Tagungs­ Romnja, Sinti und Sintezze in Sachsen, dokumentation Sachsen-Anhalt und Tschechien Hrsg.: El-Qasem, Kawthar im Auftrag der OBR Hrsg.: Kral, Kathrin/Meichsner, Antje/­ — Opferberatung Rheinland Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen

www.tinyurl.com/yytmdrys www.tinyurl.com/jt2xcuj

28 Nie wieder Präventive und intervenierende Handlungs­ strategien gegen Rechtsextremismus und Argumentationshilfen­ gegen rechtspopulistische­ Vereinfachungen

Le_rstellen im NSU-Komplex. Geschlecht. Rassismus. Antisemitismus (Amadeu Antonio Stiftung)

Kurzbeschreibung: Die Broschüre analysiert Leerstellen, fehlende Informationen und Zusammenhänge im NSU-Komplex. Die Artikel werden durch zwei Interviews mit einem Erlebenden des Keupstraßenanschlags und einer Nebenklageanwältin ergänzt. S. 4-9

Le_rstellen im NSU-Komplex oder warum wir weitere Aufklärung brauchen

Jena 1992. Zu den regelmäßigen Besuchern eines Jugend­ nen schließen jedoch einfach alle Frauen von der Überprü- treffs im Stadtteil Winzerla, gehören auch Jugendliche, die fung aus. Mit Mandy S. wird damit genau die Person nicht rechte Parolen verbreiten. Als sich einige von ihnen mit überprüft, die als Helferin der ersten Stunde nach dem einem Sozialarbeiter über Zukunftspläne und Berufswün- Abtauchen von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos gilt. Die sche unterhalten, sagt eine 17-jährige junge Frau: »Zuerst Fahndung bleibt ergebnislos. einmal müssen die Ausländer weg.« Keiner der Anwesen- Drei Vorfälle die exemplarisch zeigen, dass die Rolle von den Sozialarbeiter*innen reagiert darauf. Die junge Frau ist Frauen im Rechtsextremismus verkannt wurde. Eine ge- Beate Zschäpe. schlechterreflektierte Perspektive hätte eine frühzeitige Zwickau 2007. In einer Wohnung gibt es einen Wasserrohr- Intervention oder die Chance auf Aufklärung zumindest bruch und die zur Hilfe gerufene Polizei klingelt auch in der wesentlich begünstigt. darunterliegenden Wohnung. Susann E. öffnet die Tür. Die Die Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Beamten bitten sie einen Tag später aufs Polizeirevier. Dort Amadeu Antonio Stiftung hat sich nach dem Bekanntwer- macht sie widersprüchliche Angaben zu ihrer Person. Die den des NSU auf den Weg gemacht, das Verhältnis von Beamten lassen sie dennoch gehen und überprüfen ihre Geschlecht, Rechtsextremismus und öffentlicher (Fehl-) Angaben nicht. Susanne E. ist in Wirklichkeit Beate Zschä- Wahrnehmung im NSU-Komplex genauer zu untersuchen pe. Sie weist sich mit dem Personalausweis einer Freundin und darüber aufzuklären. Dazu verfolgen wir von An- aus und wird zu der Zeit bereits seit einigen Jahren von der beginn an das NSU-Verfahren am Oberlandesgericht in Polizei gesucht. München und analysieren geschlechtersensibel die dazu- Nürnberg 2007. Die Polizei geht kurzzeitig der These nach, gehörige Medienberichterstattung. Wir ordnen kritisch dass für die NSU-Mordserie eine rassistische Motivation in die erfolgreiche (Selbst-)Inszenierungen der Hauptange- Betracht kommt und will daher eine Rasterfahndung in der klagten Beate Zschäpe und anderer Frauen im Unterstüt- rechten Szene durchführen. Die polizeilichen Ermittler*in- zer*innen-Umfeld des NSU ein und sensibilisieren für die

29 Nie wieder

Fehlwahrnehmung von Sicherheitsbehörden und Sozial- Fällen gezogen und Vorschläge aus unterschiedlichen arbeit im Umgang mit rechten Frauen. Dabei zeigten sich Perspektiven für Gegenstrategien gemacht. Das Ende des weitere Le_rstellen, wie z.B. die unaufgearbeitete Rolle NSU-Prozesses darf nicht das Ende der gesellschaftlichen von Antisemitismus bei der Radikalisierung der NSU-Mit- Aufklärung bedeuten. Mit dieser Publikation wollen wir ei- glieder oder dass sich ein Gender-Bias und struktureller nen Beitrag leisten, um Le_rstellen weiter zu füllen. Rassismus in Sicherheitsbehörden, Medienberichterstat- Ihr Team der Fachstelle Gender, GMF und tung und Gesellschaft wechselseitig bedingen können. In Rechtsextremismus­ der vorliegenden Broschüre werden diese Themen aufge- griffen, Bezüge zu anderen aktuellen rechtsterroristischen

5 Jahre am Oberlandes­gericht München — eine Chronik des NSU-Prozesses von Ana Lucia Pareja Barroso

Im NSU-Prozess angeklagt sind Beate Zschäpe, Ralf noch nicht beendet, zivilgesellschaftliche Initiativen fordern Wohlleben, André Eminger, Carsten Schultze und Holger in weiteren Bundesländern Untersuchungsausschüsse. Die Gerlach. Der Anklageschrift schlossen sich 95 Nebenklä- Erkenntnisse der Ausschüsse können juristische Folgen ger*innen an, die durch 60 Nebenklage-Vertreter*innen nach sich ziehen. repräsentiert werden. Beate Zschäpe wird als Mitglied des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds die Bildung einer Die Prozesseröffnung terroristischen Vereinigung vorgeworfen, der mutmaßlich Der ursprünglich für April 2013 terminierte Prozessbeginn zwischen den Jahren 2000 und 2007 neun Männer aus wurde auf den 6. Mai verschoben. Die Presseakkreditierung rassistischen Motiven und eine weiße deutsche Polizistin führte zu breiter Kritik. Die türkische Tageszeitung Sabah zum Opfer fielen. Bestandteil der Verhandlung sind au- stellte einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht — ein ßerdem der Mord­anschlag auf den Kollegen der getöteten neues Akkreditierungsverfahren sicherte mit Blick auf die Polizistin, Martin A., der Sprengstoffanschlag in der Kölner Herkunft der Ermordeten und das mediale Interesse auch Keupstraße im Jahr 2004 mit mehr als 22 zum Teil schwer internationalen Medien einen Platz im Verhandlungssaal. Verletzten und der Nagelbombenanschlag 2001 in der Vor Prozessbeginn beteiligten sich 10.000 Menschen an ei- Kölner Probsteigasse mit einer Verletzten. Auch der Bom- ner Großdemonstration gegen Rassismus und Neonazi-Ter- benanschlag in Nürnberg 1999 wird dem NSU und Beate ror in München, auch der Prozessauftakt wurde von Kund- Zschäpe zugerechnet. Darüber hinaus wird sie als mitver- gebungen vor dem Gericht begleitet. antwortlich für 15 Raubüberfälle gesehen, die der Finanzie- rung der Gruppe dienten. Um Spuren zu beseitigen, habe sie nach dem letzten Überfall das mit Uwe Mundlos und Die Mordserie Uwe Böhnhardt gemeinsam bewohnte Haus in Zwickau an- Gegenstand des ersten Prozessjahres waren die zehn Mor- gezündet und dabei den Tod anderer Menschen billigend in de. Mit einem Bekenner*innen-Video und durch etliche In- Kauf genommen: Dies wird als dreifach versuchter Mord im dizien belegt, ging es um die Frage der aktiven Beteiligung Zuge schwerer Brandstiftung gewertet. und gleichberechtigten Mitgliedschaft Zschäpes im NSU. Ralf Wohlleben ist der Beihilfe zum Mord angeklagt — ihm Dabei belasteten die Aussagen der beiden Mitangeklagten wird vorgeworfen, den Kauf der Tatwaffe in Auftrag gege- Gerlach und Schultze Zschäpe und den Angeklagten Wohl- ben zu haben. Als Käufer und Überbringer der Cˇeská 83 leben schwer. Trotz umfassender Angaben bestritten die muss sich Carsten Schultze des gleichen Vorwurfs verant- Teilgeständigen Gerlach und Schultze, gewusst zu haben, worten. André Eminger und Holger Gerlach sind jeweils welche Ziele Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt verfolgten. Im der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ange- Mordfall von Halit Yozgat wurde bekannt, dass der ehemalige klagt. Beide haben ihre Dokumente zur Verfügung gestellt, Verfassungsschutzmitarbeiter und V-Mann-Führer Andreas um Fahrzeuge und Wohnungen anzumieten und sich bei Temme am Tatort war. Er meldete sich nicht als Zeuge bei Arztbesuchen auszuweisen. Außerdem transportierte Ger- der Polizei und sagte vor Gericht aus, nichts von der Ermor- lach die Tatwaffe. Schon zu Beginn des Prozesses gab es dung mitbekommen zu haben. Seine Rolle bleibt ungeklärt. Kritik an der in der Anklageschrift vertretenen These, der Am 1.10.2013 sagte Ismail Yozgat aus, der Vater des ermor- NSU sei eine isoliert handelnde Zelle. Parallel wurde gegen deten Halit. Obwohl Richter Götzl ihn mehrfach unterbrach, neun namentlich bekannte Tatverdächtige ermittelt und ein nahm er sich den Raum, über den Tag zu sprechen, an dem Struktur­ermittlungsverfahren gegen unbekannt eingeleitet. sein Sohn ermordet wurde, und über die Folgen des Mordes und der rassistischen Ermittlungen für die Familie1. Durch be- Für eine parlamentarische Aufarbeitung entstanden auf Bundesebene zwei und in sieben Ländern zehn Untersu- 1 Vgl. NSU Watch (2013): Protokoll 41. Verhandlungstag, chungsausschüsse. Fünf der Ausschüsse haben ihre Arbeit www.bit.ly/2I4Kf5c

30 Hintergrundinformationen

lastende Überreste im Brandschutt der letzten Wohnung des bspw. »Blood and Honour«-Strukturen und dem Thüringer NSU sowie durch Blutspuren auf einer Jogginghose2 konnte Heimatschutz. Schultze, der v.a. den Angeklagten Wohlleben der Mord an der Polizistin dem NSU zugeordnet werden, das schwer belastete, musste auf Initiative der Wohlleben-Vertei- Tatmotiv bleibt indes unbekannt. digung mehrfach seine Glaubwürdigkeit beweisen. Die Neben- klage belegte mit Beweisanträgen und Zeug*innen Verneh- Lücken in der Ermittlungsarbeit mungen das ideologisch gefestigte Weltbild aller Angeklagten und V-Personen im Umfeld des NSU und deren Unterstützung durch Neonazistrukturen. Ebenfalls verhandelt wurde die Mittäterschaft an 15 Raub­überfällen. Im zweiten Prozessjahr, 2014, war staatliches Mitverschul- Zusätzlich stellte die Nebenklage über 300 Fragen an Zschä- den durch das Versagen der Ermittlungsbehörden und der pe, die unbeantwortet blieben und verdeutlichten, wie viel im Einsatz von V-Personen im direkten Umfeld des NSU Gegen- NSU-Komplex unaufgeklärt ist. stand des Prozesses. Die Nebenklage konnte die Verneh- mung einiger ehemals aktiver V-Personen erreichen, ihre Befangenheitsanträge Beweisanträge und Forderungen nach Akteneinsicht stießen jedoch bei der Bundesanwaltschaft (BAW) und dem Bundes- Das fünfte Prozessjahr, 2017, war gezeichnet von Befangen- amt für Verfassungsschutz auf erheblichen Widerstand. In heitsanträgen. Die Verteidigung versuchte das Strafverfah- Berufung auf Quellenschutz blockierte das Innenministeri- ren durch zu lange Verhandlungspausen zum Platzen zu um Hessen u.a. die intensive Überprüfung von Andreas Tem- bringen sowie Gründe für eine mögliche spätere Revision me und seinen Informanten. Vermeintliche Erinnerungslü- des Verfahrens zu bekommen3. Nachdem der vom Gericht cken und der Gebrauch des Aussageverweigerungsrechts beauftragte psychiatrische Gutachter Zschäpe im Falle ei- machten die Befragungen des Neonazi-Umfelds langwierig ner Verurteilung volle Schuldfähigkeit zusprach, versuchte und besonders für die Nebenklage frustrierend. Zschäpe, mit einem weiteren psychologischen Gutachten von Prof. Dr. Joachim Bauer der möglichen Sicherungsver- Der Kölner Nagelbombenanschlag wahrung zu entgehen. Dieser Gutachter wurde aufgrund seiner Befangenheit vom Gericht abgelehnt. Im dritten Jahr des Prozesses, 2015, stand zunächst der Na- gelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni Zivilgesellschaftlicher Widerstand 2004 im Zentrum der Verhandlungen. Am 25. Januar 2015 organisierte die »Initiative Keupstraße ist überall« unter der Londoner Wissenschaftler*innen rekonstruierten den Überschrift »Tag X« u.a. eine Dauerkundgebung vor dem Tathergang zum Mord an Halit Yozgat — mit dem Ergebnis, Gerichtsgebäude und eine bundesweite Demonstration am dass der V-Mann-Führer Andreas Temme die Schüsse ge- Abend. Nach dem Anschlag wurden die Betroffenen und ihr hört und den Ermordeten gesehen haben muss4. Das Gut- Umfeld jahrelang verdächtigt und kriminalisiert. Obwohl das achten wurde allerdings nicht als Beweismittel in den Pro- Gericht die Aussagezeit und die Inhalte stark zu beschrän- zess eingeführt. Im Mai wurde im Rahmen des Bündnisses ken versuchte, nahmen sich die Betroffenen den Raum, um »NSU-Komplex auflösen« mit weiteren Unterstützer*innen über das Erlebte, die Folgen und die rassistischen Ermittlun- ein zivilgesellschaftliches Tribunal veranstaltet, bei dem Be- gen zu berichten. troffene und Angehörige von NSU-Opfern von ihren Pers- pektiven und Erfahrungen berichteten. Dabei wurden in Der NSU als terroristische Vereinigung Form einer Anklageschrift 90 Personen stellvertretend der Verstrickung im NSU-Komplex angeklagt.5 Danach ging es 2015 um den NSU als terroristische Verei- nigung — um den strukturellen Aufbau, Organisationsgrad Plädoyers zum Ende des NSU-Prozesses und die ideologische Verortung. Vereinzelt wurden unter- stützende Neonazis geladen, bspw. aus der Chemnitzer Am 25. Juli 2017 begann die Bundesanwaltschaft ihr Plädo- Neonaziszene, darunter einige Zeuginnen. Auf Wunsch der yer. Für Zschäpe, aus Sicht der Bundesanwaltschaft gleich- Hauptangeklagten stieß Mathias Grasel zur Pflichtverteidi- berechtigtes Mitglied des NSU und schuldig des 10-fachen gung Zschäpes hinzu. Er verlas für Zschäpe am 9. Dezem- Mordes, 39-fachen versuchten Mordes und der Beihilfe an ber 2015 eine Erklärung, in der sie sich selbst darstellte als 15 Raubüberfällen, lag die Strafforderung bei lebenslangem »emotional abhängig« von Böhnhardt und Mundlos, von den Freiheitsentzug mit anschließender Sicherungsverwahrung. Anschlägen und Morden habe sie erst hinterher erfahren. In Für den zweiten Hauptangeklagten Wohlleben forderte die den folgenden Monaten beantwortete Zschäpe Fragen des Bundesanwaltschaft zwölf Jahre Haft. Für Gerlach lag die Gerichts und der BAW schriftlich — nicht aber die der Neben- Strafforderung bei fünf Jahren, Schultze sollte nach Jugend- klage. Wohlleben folgte mit einer eigenen Teileinlassung. strafrecht mit drei Jahren Freiheitsentzug belangt werden. Für Eminger verlangte die Bundesanwaltschaft zwölf Jahre Neonazistrukturen und Raubüberfälle Haft für versuchten Mord sowie Beihilfe zu schwerem und Das vierte Prozessjahr, 2016, war den verschiedenen Kame- 3 Vgl. Reinecke, E. (2017): Obstruktion als Verteidigung, radschaften und neonazistischen Vereinigungen gewidmet, www.bit.ly/2I7604D. 4 Vgl. Forensic Arcitecture (2017): 77SQM_9:26Min., 2 Vgl. NSU Watch (2013): Protokoll 77. Verhandlungstag, www.bit.ly/2pG0GNS. www.bit.ly/2upqBiG 5 Vgl. www.nsu-tribunal.de.

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besonders schwerem Raub. Die Verstrickung staatlicher Be- hörden dementierte die BAW sowohl zum Prozessauftakt als Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung auch in ihrem Abschlussplädoyer, auch die These des von Seit ihrer Gründung 1998 ist es das Ziel der ­Amadeu der Neonaziszene­ isoliert und nur geringfügig unterstützten Antonio Stiftung, eine demokratische Zivilgesellschaft Trios behielt die BAW bei.6 zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextre- mismus, Rassismus und Antisemitismus wendet. Dafür »Ich lebe in diesem Land und ich gehöre unterstützt sie Initiativen und Projekte, die sich kon- zu diesem Land« — die Plädoyers der tinuierlich für eine demokratische Kultur engagieren Nebenklage­ und für den Schutz von Minderheiten eintreten. Die Nebenklage kritisierte in ihren Plädoyers: ­Viele ihrer Projekt: Fachstelle Gender, GMF und Rechts­ Beweisanträge sowie neue Erkenntnisse aus journalisti- extremismus schen Recherchen und parlamentarischen Untersuchungs- Die Fachstelle berät und schult mit einem Fokus­ auf ausschüssen seien nicht in den Prozess eingegangen und Gender bundesweit Zivilgesellschaft, Politik,­ Jugend- dadurch sei die vollständige Aufklärung des Komplexes un- arbeit, Bildungseinrichtungen und Medien im Umgang möglich gemacht worden. Die Nebenklagevertreter*innen mit Rechtsextremismus, Rechtspopulismus­ und Grup- nutzten ihre Plädoyers dazu, den institutionellen Rassismus penbezogener Menschenfeindlichkeit: Was bedeutet seitens der Behörden anzugreifen, sie kritisierten den kon- die Arbeit gegen Rassismus, Antisemitismus oder sequenten Ausschluss rassistischer Tatmotive und hinter- Antifeminismus konkret in der Praxis? Welche Rolle fragten die enorme Dichte an V-Personen im Umkreis des spielt Geschlecht bei abwertenden Einstellungen und NSU ohne erkenntlichen Beitrag zur Aufklärung der Taten. Äußerungen? Etc. Mehrere Angehörige der Mordopfer und Betroffene aus der Keupstraße ergriffen in persönlichen Erklärungen das Wort.7 Sie sprachen über die Folgen der Taten und rassistischen Er- mittlungen und thematisierten die mangelnde Aufklärung im Rahmen des Prozesses. Nach den Nebenklageplädoyers fol- gen die Plädoyers der Verteidigung. Die Urteilsverkündung wird im Sommer 2018 erwartet und soll u.a. von der Initiative »Kein Schlussstrich« mit einem zweiten »Tag X« und Groß- kundgebungen begleitet werden.8

www.tinyurl.com/y25vxatc

6 Vgl. Burschel, F. (2017): Ein Kraftakt nicht enttäuscht zu sein, www.bit.ly/2pHGmM7. 7 Siehe bspw. Spicker, R. (2017): »Die Keupstraße ist eine Straße dieses Staates«, www.bit.ly/2ukV1C. 8 Vgl. www.nsuprozess.net.

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„Was soll ich denn da sagen?!“ Zum Umgang mit ­Rechtsextremismus und Rassismus im Schulalltag (Demokratiezentrum Hessen im beratungsNetzwerk Hessen — ­gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus)

Kurzbeschreibung: Die Studie hat u. a. Lehrer_innen und Schüler_innen befragt, inwieweit sie Rassismus und Rechtsextremismus wahrnehmen, welche Handlungsmöglichkeiten sie sehen und welche Unter­ stützung sie sich wünschen. Darauf basierend wird aufgezeigt, welche Unterstützungsangebote nötig sind. S. 15-21

TEIL II: ANALYSE UND AUSWERTUNG DER INTERVIEWS 1. DEFINITION UND REAKTION — VON DER ­SCHWIERIGKEIT, RASSISMUS ZU BENENNEN

1.1 Zum Rassismusverständnis Die exemplarisch herausgearbeiteten Wahrnehmungsmus- ter sollen dazu dienen, den Blick für mögliche Verengungen Das jeweilige Verständnis von Rassismus und Rechtsextre- in der Wahrnehmung von Rassismus und den damit einher- mismus — jenseits wissenschaftlicher Definitionen — formt gehenden Einschränkungen für das pädagogische Handeln den Blick auf rassistische oder rechtsextreme Phänomene. zu schärfen. Daher wurde zunächst ausgewertet, welches Verständnis die Interviewten von Rassismus haben und welche Handlun- Rassismus als Rechtsextremismus gen und Vorkommnisse sie darauf basierend als rassistisch Es zeigt sich, dass die interviewten Pädagog_innen auf die einstufen. Den vorangestellten Diskursen folgend wirft die Frage, ob sie sich an rassistische Vorfälle an der Schule erin- Auswertung ein Schlaglicht auf die Schwierigkeit, Rassismus nern, meist Beispiele benennen, die mit Rechtsextremismus wahrzunehmen und als solchen zu benennen bzw. die Erfah- assoziiert sind. So ist insbesondere die Verlagerung bzw. rungen von Rassismus aus der Perspektive von Betroffenen Wahrnehmung von Rassismus als Rechtsextremismus eine ansprechen zu können. im schulischen Alltag wahrnehmbare Tendenz. Schüler_ in- Grundsätzlich definieren die Interviewten Rassismus als nen, Lehrer_innen und Schuleiter_innen berichten beispiels- „Benachteiligung“ oder als „Vorurteile gegen Menschen, weise von rechtsextremen Aufklebern oder „Hakenkreuz- die anders sind“, als „Andersbehandlung“ und „Schlech- schmierereien“ am Schulgebäude oder über „einen jungen terbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft“. Menschen, der auch vom Aussehen her ins Bild passte, Verletzung durch Worte oder „körperliche Taten“ werden mit kurzgeschorenen Haaren und Springerstiefeln und angesprochen, ebenso findet sich ein menschenrechtlicher schwarz gekleidet, der sich dann auch im Politik­unterricht Bezug, wenn davon die Rede ist, dass Rassismus Menschen rechtsextrem geäußert hat“ (Schulleitung). Berichtet wird „ihrer Würde beraubt“. Nach rassistischen Vorfällen gefragt, z.B. von szenetypischer Kleidung oder entsprechendem kristallisieren sich für die Verortung von Rassismus grob Habitus. Wird Rassismus vor allem als Rechtsextremismus vier typische Wahrnehmungsmuster heraus, die wie folgt wahrgenommen, wird häufig auch die Anwesenheit einer beschrieben werden können: „organisierten Gruppe, die entsprechend auffällt“ (Schul­ sozialarbeiter_in) erwartet. Die Beschränkung von Rassis- 1) Rassismus wird in Form von Rechtsextremismus wahrge- mus auf Rechtsextremismus birgt die Gefahr, das Phäno- nommen, men als wenig gravierend einzustufen, solange es zu keinen 2) Rassismus wird als Bildungsproblem in entsprechenden Gewalthandlungen kommt: „Man sieht ja auch schon hier Milieus verortet, und da, wie junge Leute gekleidet sind (...), aber es ist kein 3) Rassismus setzt die Anwesenheit „der anderen“ voraus Fall vorgekommen, dass die irgendwie Gewalt ausgeübt vs. Rassismus kommt nicht vor, wenn „die anderen“ nicht hätten.“ (Schulleiter_in). So berichten in einem anderen Fall da sind, Schüler_innen von einem Mitschüler, „der Bomberjacke und 4) Rassismus wird auch, aber nur selten, als subtiler All- Springerstiefel trägt“, über den die Lehrerin jedoch sage, tagsrassismus wahrgenommen. „dass er, wenn man ihn fragt, sagen würde, dass er nichts

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gegen Ausländer hat und auch nie gegen welche vorgehen Handeln und/oder eine rechtsextreme Einstellung bei Ju- würde“ (Schüler_in). So scheinen die Gleichsetzung von gendlichen und Erwachsenen mit höherem Bildungsniveau Rassismus mit Rechtsextremismus und die Einordnung der nicht wahrgenommen wird. Ferner klingt im Zitat des Eltern- Schwere von Vorfällen gekoppelt zu sein mit dem Auftreten beirats die Annahme an, Rassismus setze die Präsenz der physischer Gewalt oder zumindest der geäußerten Bereit- „Anderen“ voraus, also derer, die rassistisch diskriminiert schaft dazu. werden könnten. Auch dies verengt die Wahrnehmung eher, als dass es sie schärft. Festzuhalten ist, dass Bildung und Rassismus als Bildungsproblem die Auseinandersetzung mit (eigenen) Vorurteilen Offenheit fördern und rassistischen Einstellungen entgegenwirken. Al- Wenn in Deutschland über Rassismus und Rechtsextremis- lerdings bedarf es an dieser Stelle einer Schärfung des Be- mus gesprochen wird, ist eine weitere gängige Annahme, wusstseins, nicht nur für die subtilen und unbewussten For- dass dies ein Problem bildungsferner Milieus und zudem ein men von Rassismus, sondern auch für die Frage, inwiefern männliches Phänomen sei.1 Im Kontext der Interviews fin- die Abgrenzung gegenüber sog. bildungsärmeren Schichten det sich dies unter anderem darin wieder, dass „Probleme dem Versuch einer eigenen Besserstellung im Kontext Ras- mit Rassismus“ überwiegend bei den Schüler_innen in den sismus dient (gemäß dem Motto: „Rassistisch — das sind die Haupt- und Berufsfachschulen verortet werden, wie das Zi- anderen“) und damit zu einer Leugnung (des eigenen unbe- tat zeigt: wussten Rassismus) führen kann. „Ich unterrichte überwiegend Abiturienten. Da ist die Grup- pe so gut gebildet und auch von der Vorbildung her so tole- Kann die multikulturelle Schule rassistisch rant, dass da nie ein Problem ist. (...) Also wenn es vorkäme, sein? Widersprüche und Ambivalenzen würde man es sicherlich thematisieren. (...) Ich glaube, grö- ßere Probleme gibt es dann tatsächlich in der Berufsfach- Der zuvor zitierte Elternbeirat lässt anklingen, dass er Ras- schule“ (Lehrer_in). sismus nur dort verorte, wo die „Anderen“, also Menschen, die potenziell von Rassismus betroffen sind, anwesend Seine soziale Verortung im Bildungsbürgertum macht ein seien. Auch Ehlen (2015) beschreibt, dass sich beim The- Elternbeirat dafür verantwortlich, dass er von Rassismus ma Rassismus der Blick der Schüler_innen und Lehrkräfte nichts mitbekomme: ausschließlich auf Schwarze und auf als „anders“ definierte „Bildungsbürgertum, wo man halt in gewissen Kreisen drin Menschen richtet. So wird Rassismus auch in den Interviews ist. Ich habe gar nicht so viel mit Leuten zu tun, die einen mehrmals beschrieben als Problem, welches auftaucht, Migrationshintergrund haben. Nicht, dass ich das ablehne, wenn z.B. „Jugendliche mit unterschiedlichen Nationalitä- aber es ist einfach so. Und von daher auch meine Kinder ten“ (Schulleitung) in den Klassen sind, oder wenn im Rah- nicht. Wenn sie da Freunde hätten, die vielleicht anders men der Zuwanderung nun mehr geflüchtete Menschen in aussehen würden, sage ich jetzt einmal so platt, dann hätte die Schulen kämen. Erst dann könne Rassismus womöglich man da vielleicht schon einmal etwas Anderes mitbekom- zum Thema werden.2 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass men. Aber nein — da das auch alles so deutsche Kinder sind, Rassismus zwingend die Anwesenheit potenziell Betroffener aus klassischen Familien“ (Elternbeirat). voraussetze und reduziert die Thematisierung auf die Ebene der sichtbaren Handlungen. Aus dem Fokus gerät somit die Hier wird die Annahme zugrunde gelegt, dass Rassismus Einstellungsebene und dass rassistische Haltungen und Äu- Ausdruck mangelnder Aufklärung und Bildung sei. Tatsäch- ßerungen sehr wohl ohne die Begegnung mit vermeintlich lich zeigen sowohl die Studien zu GMF als auch die Mitte-Stu- „Anderen“ vorkommen. dien, dass rechtsextreme bzw. rassistische Einstellungen zu- rückgehen, je höher den Bildungsabschluss der Befragten Im Widerspruch zu dieser These stehen die Aussagen von ist (vgl. Heitmeyer, 2012; vgl. Decker, Kiess, Brähler 2015). Interviewten, wonach eine heterogene Schülerschaft vor Wird daraus jedoch der Schluss gezogen, Rassismus käme Rassismus schütze. Die Multikulturalität der Schule dient in gebildeten Kreisen oder in höheren schulischen Bildungs- hier der Argumentation für eine scheinbare Immunisierung gängen vermeintlich gar nicht oder kaum vor, kann diese An- gegen Rassismus. Der Kontakt von Gruppen unterschiedli- nahme die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass rassistisches cher Herkunft, unterschiedlichem sozialem Status und ver- schiedener Muttersprachen verhindere, dass „sich Rassis- 1 Wird Rassismus und Rechtsextremismus nur bei einem ­bestimmten ten breitmachen“ könnten (Schulleitung). In Aussagen wie Personenkreis vermutet, gerät er anderswo schnell aus dem Blick. „bunt sein, unterschiedlich sein, alle anders, alle gleich“ Rechtsextremismus ist kein männliches Phänomen. Auf der Ein- (Schulleitung) findet sich der Versuch, Unterschiede zwi- stellungsebene unterscheiden sich die Zustimmungswerte beider Geschlechter kaum voneinander. Auf der Verhaltensebene, also dort 2 Bei der Suche nach teilnehmenden Schulen für die Studie, wurde das wo rechtsextremes Gedankengut sichtbar wird, gibt es jedoch Unter- Team jedoch auch mit gegenteiligen Annahmen konfrontiert. Eine schiede. So nimmt der prozentuale Anteil der Frauen ab, je eskalieren- Schule aus dem ländlichen Raum empfahl uns, uns mit dem Anliegen der die Handlungen sind: Vom Wahlverhalten über die Mitgliedschaft an eine Schule in der eher kleinstädtischen Nachbargemeinde zu in Kameradschaften, die Beteiligung an Demonstrationen bis hin zu wenden, da es dort mehr Schüler_innen mit Migrationshintergrund rechtsextremen Straftaten sind prozentual mehr Männer als Frauen gebe und somit auch Rassismus. Die zugrundeliegende Annahme, wo beteiligt (vgl. Rommelspacher 2012). Da auch in der Schule zunächst keine vermeintlich „anderen“ Schüler_innen sind, könne es keinen vom Verhalten auf die Einstellung geschlossen wird, bleiben mitunter Rassismus geben, verweist auf die Reduzierung von Rassismus auf Mädchen mit rechtsextremen oder -affinen Einstellungen eher unter sichtbare und bewusste Handlungen, statt auch die Einstellungsebene dem Radar der Wahrnehmung. in den Blick zu nehmen.

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schen Schüler_innen zu markieren, ein unproblematisches dient dann quasi als Aufhänger der Thematisierung. Eine Miteinander zu betonen und gleichzeitig diese Unterschiede Schulsozialarbeiter_in erzählt von rassistischen Witzen ei- zu negieren. ner Besucherführerin in Anspielung auf die sie begleitende Gruppe Schwarzer Schüler_innen bei einer Exkursion: Auch andere Gegensätze, wie das Selbstverständnis, eine multikulturelle Schule zu sein, während gleichzeitig keine „Ich habe sie scharf angekuckt. Was soll ich denn da sagen? anderen Sprachen als Deutsch auf dem Schulhof gedul- Die Jugendlichen sagen öfter: ,Naja, das kennen wir doch det wird, scheint nicht als Widerspruch erkannt zu werden: schon…‘“. „Wir sind ja eine Multikultischule. (...) Es gibt da einen gro- „Was soll ich denn da sagen?“ steht als Äußerung stellver- ßen Vorraum und da sind viele Schüler, die dann ihre Mutter- tretend für das Dilemma, das alltagsrassistische Äußerun- sprache sprechen, vor allem unsere türkische Schüler-Frak- gen und Handlungen für viele darstellen: Wie kann eine an- tion. Wenn ich sie darauf hinweise „Bitte redet Deutsch, wir gemessene Reaktion aussehen, die den Rassismus sichtbar sind hier in der Schule. Schaut, hier sind auch Schüler mit macht, der doch von der anderen Seite als nicht so gemeint im Vorraum, die können eure Sprache nicht“, dann heißt es von der Hand gewiesen werden kann? Die Annahme, nur gleich „Oh, sind Sie rassistisch? Haben Sie etwas gegen an- rassistisch intendiertes Handeln — also Handeln, das ras- dere Türken? Wieso dürfen wir unsere Muttersprache nicht sistisch gemeint war — sei Rassismus, ist weit verbreitet. sprechen?“ Also da fallen dann so Worte, die ich mir da an- In diesem Verständnis entscheidet also der Sprechende, hören muss“ (Schulsozialarbeiter_in). ob eine Botschaft verletzend ist, nicht der Angesproche- Das Verbot des Sprechens von weiteren Sprachen außer ne bzw. derjenige, über den gesprochen wird. In der Kon- Deutsch ist weder gesetzlich geregelt noch in den Schul- sequenz ist es das Problem des Empfängers, wenn dieser regeln der untersuchten Schule verankert. Der Hinweis der sich durch eine Aussage verletzt fühlt, es war ja nicht so Schüler_innen wird als unangebrachter Rassismusvorwurf gemeint. Die Frage also, „Was soll ich denn da sagen?“, bewertet. Eine Bearbeitung und Auseinandersetzung mit die auch der Publikation ihren Titel gab, repräsentiert den Äußerungen der Schüler_innen findet nicht statt. zweierlei: Sie ist Ausdruck der empfundenen Handlungs- limitierung in einem Umfeld, das den Diskriminierenden Alltagsrassismus die Deutungshoheit überlässt und wirft zugleich die Frage nach möglichen Wegen der Thematisierung und Sichtbar- Ein Teil der Befragten benennt die von ihnen wahrgenom- machung von Rassismus auf. menen Phänomene als Alltagsrassismus, den sie als „ver- steckten“, wenig offensichtlichen Rassismus bezeichnen. In dieser Perspektive erfährt das zuvor beschriebene Beispiel Zwischenfazit: Was folgt aus dem des Sprechens einer nicht-deutschen Muttersprache in den jeweiligen Rassismusverständnis? Pausen eine ganz andere Bedeutung. Hier wird das Verbot In den Interviews wird deutlich, dass Rassismus vor allem der Muttersprache als Ausdruck subtilen Rassismus wahr- dann in den Blick gerät, wenn er sich in Form von körper- genommen: licher Gewalt äußert. Verbaler Rassismus wird seltener „Ich finde, es ist eher versteckt, (...) z.B. dass die türkischen wahrgenommen, teilweise als normaler Konflikt unter Ju- Kinder im Schulalltag nicht ihre türkische Sprache sprechen gendlichen eingeordnet und dementsprechend bagatel- dürfen, dass da viele Lehrer auch dahinter sind, [das zu ver- lisiert. Rassismus wird als Phänomen vor allem bildungs- bieten, Anm. der Autorinnen] und das ist auch eine Art von fernen Schichten zugeschrieben. Bildung und auch eine Fremdenfeindlichkeit ein Stück weit, also dass man da als heterogene Schülerschaft werden hingegen als eine Art Schule sich nicht tolerant zeigt“ (Lehrer_in). Prophylaxe gegen Rassismus genannt. Widersprüche — wie das Verbot der Muttersprache an einer sich als multikul- Nicht nur Schüler_innen, auch Lehrkräfte sind von die- turell definierenden Schule — werden nur selten wahrge- ser subtilen Form des Rassismus betroffen. Eine Lehrerin nommen. berichtet, dass sie im Lehrerzimmer aufgefordert wurde, mit ihrer Kollegin Deutsch statt der gemeinsamen Mutter- Daraus folgt eine verengte Wahrnehmung sowohl von Ras- sprache zu sprechen. Sie bringen diese als diskriminierend sismus als auch von Rechtsextremismus. Wo Rassismus nach empfundene Einlassung eines Kollegen bei der Leitung zur diesem Alltagsverständnis nicht zu erwarten ist, sinkt auch Sprache, woraufhin diese sich für das Recht der beiden die Wahrscheinlichkeit, dass er als solcher benannt wird. Die Lehrerinnen einsetzt, sich außerhalb des Unterrichts in ih- Unklarheit in der alltagsheuristischen Definition von Rassis- rer Muttersprache unterhalten zu können. Ein Recht, dass mus und die Tatsache, dass Rassismus in Deutschland als auch Schüler_innen zugestanden werden muss, wie der Ex- Rechtsextremismus und dementsprechend als besondere kurs „Muttersprache als Menschenrecht“ zeigt. Ideologie oft in Verbindung mit dem Auftreten von kör- perlicher Gewalt wahrgenommen wird, macht es nicht nur Auch betroffene Schüler_innen thematisieren in den Inter­ schwierig, den alltäglichen und subtilen Rassismus wahrzu- views subtile Formen rassistischer Diskriminierung. So nehmen und zu benennen, es verhindert auch ein Eingrei- äußern sie ihren Unmut darüber, dass ihre Herkunft oder fen, wenn Schüler_innen oder Lehrer_innen Zeugen von Si- Religion von Lehrer_innen im Kontext der Thematisierung tuationen werden, in denen es um Rassismus geht. Es bleibt aktueller Gewalt- und Terrorakten ins Feld geführt wird. die Annahme bestehen, dass rassistisches Verhalten inten- Die Herkunft der Schüler_innen aus dem jeweiligen Land tional sein müsse, dass den Akteuren also ihr Handeln und

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Muttersprache als Menschenrecht: Vom überwindbaren Mythos einer monolingualen und monokulturellen Schule

Die Gesellschaft in Deutschland ist in den letzten 50 der die sprachliche Vielfalt mehrsprachig aufwachsender bis 60 Jahren seit der Anwerbung der ersten Arbeits- Kinder und Jugendlicher wertschätzt, hat hohe Auswir- migrantinnen und -migranten multikultureller und kungen auf Selbstbild und Selbsteinschätzung, auf das multilingualer geworden. Globalisierung, Flucht und Zugehörigkeitsgefühl, die Familiensolidarität, aber auch auch Internationalisierung in der Arbeitswelt führen auf die Bildungsaspiration. Forschungen belegen, dass dazu, dass diese Entwicklung mit hoher Dynamik fort- unsere Gesellschaft Menschen noch immer dazu zwingt, schreitet. Während früher der Sprachenwechsel von der ihre Sprachenvielfalt zu unterdrücken und zu verschwei- Herkunftssprache in die neue Sprache der Aufnahme- gen (vgl. Krumm 2009). gesellschaft in der dritten Generation vollzogen war, gilt Die Zitate aus der Interviewstudie zeigen eine Unsicher- dieses alte Muster schon längst nicht mehr. Telekommu- heit und eine Uneinigkeit im Umgang mit Muttersprache nikation, verbesserte Reisemöglichkeiten und Satelliten- an den Schulen. Da ist sowohl die Rede davon „dass fernsehen tragen dazu bei, dass die Herkunftssprachen türkischen Kinder im Schulalltag nicht ihre türkische im Lebensalltag lebendig und bedeutungsvoll bleiben. Sprache sprechen dürfen (…)“ und die Wahrnehmung, Und wie geht die Schule damit um? Die Mehrsprachig- dass dies eine subtile „Art von Fremdenfeindlichkeit“ keit der Schülerinnen und Schüler mit Migrationsbio- sei. In anderen Interviews wiederum berichtet eine graphie wird noch immer vorrangig als defizitär und Pädagog_in, dass sie/er die Schüler_innen auffordert, problembeladen wahrgenommen — jedenfalls solange es Deutsch statt der Muttersprache zu sprechen, und dafür sich nicht um prestigeträchtige Sprachen wie Englisch mit Rassismusvorwürfen konfrontiert wird, die sie/er oder Französisch handelt. Während in den Erziehungs- inakzeptabel findet. Aber auch Lehrerinnen und Lehrer wissenschaften die Thematik intensiv diskutiert und mit Migrationsbiographie werden ermahnt, untereinan- weiter entwickelt wird mit der Zielperspektive, sprachli- der nur Deutsch in der Schule zu sprechen. cher, sozialer, ethnischer und religiöser Vielfalt den ihr angemessenen Stellenwert zukommen zu lassen, und An diesen Äußerungen wird sehr deutlich, dass es in damit auch eine interkulturelle und diversitätsbewusste den Kollegien der Sensibilisierung und der kritischen Gestaltung der Schule propagiert, ist die schulische Pra- Reflexion üblicher sprachlicher Praxen bedarf, um xis noch immer überwiegend orientiert an Konzepten sprachlicher Vielfalt den ihr angemessenen Raum in den einer längst nicht mehr vorhandenen Vorstellung von Curricula, im Unterricht und im Schulleben zu geben Homogenität. Das heißt, die pädagogische Verantwor- und Bildungsteilhabe zu fördern. tung für die Gestaltung einer Schule der Vielfalt wird Bereits 1992 kritisiert die bekannte finnische Sprachfor- noch nicht in ihrer vollen Konsequenz für den Schul- scherin Tove Skutnabb-Kangas den üblichen Umgang alltag umgesetzt. Würde es doch bedeuten, die eigene mit Multilingualität mit dem — an Rassismus angelehn- Rolle und Haltungen sowie die eingespielten Traditionen ten — Begriff des Linguizismus (vgl. Skutnabb-Kangas und Routinen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen 1992). Gemeint sind Ideologien und Strukturen, die be- und zu fragen, inwieweit Bildungserfolg für Jede und nutzt werden, um eine ungleiche Verteilung von Macht Jeden gewährleistet und jeder Form von Ausgrenzung und Ressourcen zwischen Gruppen, die auf der Basis und Diskriminierung entgegen gewirkt wird. ihrer Sprachen (ihrer Herkunftssprachen) definiert sind, So ist es nicht verwunderlich, wenn Schülerinnen und zu legitimieren, zu effektivieren und zu reproduzieren. Schüler mit Migrationsbiographie sich diskriminiert füh- Ein durchaus radikaler Ansatz, der geeignet sein kann, len, während Lehrerinnen und Lehrer, Schulsozialarbei- übliche Sprachpraktiken auch einmal aus dieser Pers- terinnen und -sozialarbeiter und Mitglieder der Schullei- pektive zu reflektieren. tung staunend vor deren kritischen Äußerungen stehen Grundsätzlich sollte jedes Kind das Recht haben, seine und einen Rassismussvorwurf weit von sich weisen. Herkunftssprache zu verwenden. Auch Artikel 3 des In sprachlicher Hinsicht herrscht häufig die irrige Ansicht Grundgesetzes regelt den Schutz der Muttersprache: unter den Lehrerinnen und Lehrern vor, dass die Her- Art. 3(3): Niemand darf wegen seines Geschlechtes, sei- kunftssprache der zugewanderten Kinder und Jugendli- ner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,­ seiner chen ein überflüssiges und hinderliches Überbleibsel der Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiö- Migration sei. Je eher dies dem Deutschen Platz mache, sen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder desto schneller werde die Integration in die deutsche Ge- bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinde- sellschaft gelingen. Dieses auf den Erwerb von Deutsch rung benachteiligt werden. als Zweitsprache reduzierte, rein funktionelle Verständ- nis von Spracherwerb ignoriert den hohen identitäts- Es widerspricht also dem Grundgesetz, Menschen den stiftenden Wert einer an Mehrsprachigkeit orientierten Gebrauch ihrer Muttersprache zu verbieten. Dies sollten Bildung. Positiver formuliert: Ein pädagogischer Umgang, auch diejenigen bedenken, die Schule gestalten.

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Grundsätzlich gilt, dass Motivation der stärkste Faktor für Mehrsprachige, interkulturell offene Schulen mit dem Lernerfolg darstellt. Anerkennung und Wertschätzung Blick auf eine umfassende individuelle Lernentwicklung anstelle von, auch unbeabsichtigter, Diskriminierung der Schülerinnen und Schüler sind das Modell der Schule und Rassismus sind grundlegend hierfür. Das bedeutet, der Zukunft. Neben der Verantwortung der Bildungs­ dass sprachliche und kulturelle Vielfalt in positiver Weise politik ist es Aufgabe der Schule, selbst zu klären, wo sie pädagogisch zur Entfaltung gebracht werden müssen. Als steht, für wen sie da ist, wohin sie will. Konsequenz für die Schule ergibt sich daraus, dass sie Dr. James Albert, OStR i.R., in Indien geboren und sich immer wieder neu definieren muss. Sie muss sich in aufgewachsen. Umfangreiche Erfahrungen in Schule und einem ständigen Verbesserungsprozess kritisch evaluie- Lehrerfortbildung in der interkulturellen Bildung und im ren und prüfen, ob die bisherigen Strukturen, Lehrpläne Bereich Antirassismus, Mitglied des Integrationsrates der und pädagogischen Ansätze noch zukunftsfähige Lösun- Stadt Göttingen sowie im niedersächsischen Integrations­ gen bieten oder ob neue Wege gefunden werden müssen. rat. Dies trifft in besonderer Weise auf den schulischen und unterrichtlichen Umgang mit Heterogenität zu. Claudia Schanz, Dipl.-Pädagogin, Schwerpunkt interkul- turelle Pädagogik; tätig in der Lehreraus- und -fortbil- Schulen, die sich statt an Verschiedenheit eher am Leit- dung sowie in der Bildungsverwaltung in den Bereichen bild einer homogen „deutschen“ Schülerschaft orien- Interkulturelle Schulentwicklung, durchgängige Sprach- tieren, marginalisieren Kinder mit Migrationsbiographie bildung, Mehrsprachigkeit, Antidiskriminierung und und (re)produzieren Bildungsbenachteiligung. Um dies politische Bildung. Lehr­beauftragte an der Universität zu überwinden, braucht es nicht nur Diversityeducation Göttingen. in der Lehreraus- und -fortbildungen, sondern auch bil- dungspolitische Rahmenbedingungen, die an Vielfalt und Literatur: Inklusion anknüpfen. Krumm, Hans-Jürgen (2009): Die Bedeutung der Mehr- Wichtig für Schulen ist die Schulinspektion. Diese muss sprachigkeit in den Identitätskonzepten von Migrantinnen entsprechend über klare Qualitätskriterien und Indika- und Migranten. In: Gogolin, Ingrid / Neumann, Ursula toren verfügen. Darüber hinaus bedarf es auch mehr (Hrsg.): Streitfall Zweisprachigkeit. 2009. Wiesbaden. Vielfalt in den Lehrerzimmern: Noch immer sind Lehre- S. 233–241 rinnen und Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte deutlich Skutnabb-Kangas, Tove (1992): Mehrsprachigkeit und die unterrepräsentiert. Erziehung von Migrantenkindern. In: Zeitschrift „Deutsch lernen“. Baltmannsweiler. S. 38–47

seine Wirkung bewusst seien oder den Taten eine Ideologie bzw. Überzeugung zugrunde liegen müsse. Es wird seitens Autor_innen: Georg, Eva/Dürr, Tina der Päda­go­g_innen in der Folge versucht, Vorfälle einzuord- Hrsg.: Demokratiezentrum Hessen im beratungsNetz- nen, und damit verbunden die Schwierigkeit benannt, hier werk Hessen — gemeinsam für Demokratie und gegen eine „Eindeutigkeit“ oder „Wahrheit“ feststellen zu können, Rechtsextremismus um dann „adäquat“ handeln zu können. Das Beratungsnetzwerk Hessen — gemeinsam für Rassismus wird also selten als strukturelles Phänomen ge- Demokratie und gegen Rechtsextremismus ist keine deutet, das weit über individuelle Handlungen, vor allem eigenständige Organisation, sondern ein Netzwerk. Es aber über Rechtsextremismus hinausgeht. In den Inter- besteht aus einem Expertenpool mit insgesamt rund 40 views wird der unmittelbare schulische Alltag als weitge- Mitgliedern sowie etwa 40 Berater_innen vor Ort. Das hend frei von Rassismus wahrgenommen. Demokratiezentrum (im Institut für Erziehungswissen- schaft an der Philipps-Universität­ Marburg) fungiert da- bei als zentrale Fach- und Geschäftsstelle, die die Arbeit koordiniert, lenkt, dokumentiert und auswertet.

www.tinyurl.com/y4rotty7

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„Wir holen uns unser Land und unser Volk zurück“ ­Empfehlungen zum Umgang mit rechtspopulistischen Parteien­ in Parlamenten und Kommunen (Bundesverband Mobile Beratung e.V.)

Kurzbeschreibung: Die Broschüre gibt Empfehlungen zum Umgang mit den aktuellen Herausforderungen durch Rechtspopulismus und die neue Rechte. Sie bietet u.a. Argumentationshilfen, Strategien zum parlamenta­ rischen Umgang sowie zur eigenen Selbstvergewisserung. S. 4–8

I. Herausforderungen durch Rechtspopulismus und Neue Rechte

Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern konnte als auch im öffentlichen Raum und dabei besonders auf kom- sich in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit kei- munaler Ebene. ne Partei rechts des konservativen Spektrums dauerhaft und überregional etablieren. Dies ist überraschend, da un- Rechtspopulismus terschiedliche Einstellungsstudien1 immer wieder zeigten, dass rund ein Viertel der deutschen Bevölkerung rechts- Rechtspopulismus ist eine Form von Politik, die ver- 2 extreme und rechtspopulistische Positionen befürwortet. breitete autoritäre Vorstellungen sowie (kulturell-) Seit dem Jahr 2014 zeigt sich eine neue Entwicklung: Die rassistische Stereotype nutzt und verstärkt und die auf rechtspopulistische Partei „Alternative für Deutschland“ vier Grundprinzipien beruht: (AfD) ist in allen Landesparlamenten, im Europaparlament, in zahlreichen kommunalen Gremien und seit der Wahl am 1. Konstruktion einer WIR-Identität (der „kleine Mann“ 24. September 2017 auch im Deutschen Bundestag vertre- oder „das Volk“) auf Grundlage (kulturell-) rassisti- ten. Bei den Landtagswahlen 2016 wurde sie unter dem Ein- scher Vorurteile, druck des verstärkten Zuzuges geflüchteter Menschen nach 2. aggressive Abgrenzung gegenüber oben („das Esta- Deutschland mit 24,3% in Sachsen-Anhalt und mit 20,8% in blishment“, „die da oben“) und außen („die Muslime“, Mecklenburg-Vorpommern sogar jeweils zweitstärkste Kraft. „die Fremden“), Wenngleich sich die Wahlerfolge bei den verschiedenen 3. Autoritarismus und der positive Bezug auf Füh- Landtagswahlen in Westdeutschland nicht in gleicher Höhe rungsfiguren sowie wiederholten und die Zustimmungswerte bei etwas mehr als 4. Bewegungspolitik, die Parteien und repräsentative 10% liegen, bleibt die Partei eine etablierte Kraft im bundes- Demokratie lediglich als ein Mittel zur Durchsetzung deutschen Parteienspektrum — zumal sie bei den anstehen- eigener Machtansprüche versteht.3 den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thürin- gen voraussichtlich mindestens zweitstärkste Kraft werden Feindbilder von Rechtspopulist_innen sind Regierungen, und sicherlich wieder in die Landtage einziehen wird. Es ist Konzerne, demokratische Parteien oder Lobbyverbände daher wichtig, ihre ideologischen Hintergründe und Strate- (Aggression nach oben) sowie soziale, ethnische oder gien zu kennen, um sich damit effektiv und im Sinne eines religiöse Minderheiten wie Angehörige muslimischer an den Menschenrechten orientierten Demokratieverständ- und jüdischer Gemeinschaften, Asylsuchende und nises auseinandersetzen zu können — sowohl in Parlamenten Migrant_innen, LGBTIQ* etc. (Aggression nach außen). Soziale Missstände und Kriminalität erklären Rechts­ 1 Vgl. u.a. die Langzeituntersuchungen des Instituts für Konflikt- und populist_innen durch (kulturell-) rassistische Stereotype.­ Gewaltforschung, insbesondere die Reihe „Deutsche Zustände“ (2001–2011) und die sog. „Mitte-Studien“: Oliver Decker/Johannes Decker/Elmar Brähler: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechts­ extreme Einstellungen in Deutschland. Leipzig: 2016. 3 Vgl. Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin: 2016. 2 Auch die hohe Zustimmung zu Thilo Sarrazins „Deutschland schafft Vgl. auch das Interview mit dem Politologen Tim Spier: „Potential für sich ab“ von 2010, seine Lesereise und die sich anschließende Debat- rechtspopulistische Parteien.“ In der Mediathek der Bundeszentrale te haben zur Normalisierung von Ungleichwertigkeitsvorstellungen in für politische Bildung (BPB), unter: www.bpb.de/mediathek/182449/ der Gesellschaft massiv beigetragen. potential-fuer-rechtspopulistische-parteien (Zugriff am 27.04.2017).

38 Hintergrundinformationen

Gruppierung „Der Flügel“ um die ostdeutschen AfD-Lan- Umgangssprachlich wird der Begriff Rechtspopulis- desvorsitzenden Björn Höcke (Thüringen) und Andreas Kal- mus oft für gemäßigte oder modernisierte Formen bitz (Brandenburg) großen Einfluss und sorgt für Streit um des Rechtsextremismus gebraucht. Tatsächlich gibt es die Deutungsmacht in der Partei. Die von 3.500 Personen auf der Grundlage der hier genutzten Rechtsextremis- aus dem AfD-Spektrum unterzeichnete „Erfurter Resoluti- mus-Definition4 deutliche Schnittmengen. In der vorlie- on“8 als „Gründungsurkunde“ des Flügels sowie die „Fünf genden Handreichung soll Rechtspopulismus vor allem Grundsätze für Deutschland“9 können als programmatische eine politische Strategie unterschiedlicher Akteur_in- Grundlagen einer völkisch-nationalistischen Ausrichtung nen (auch) in der AfD beschreiben. Sie zeichnet sich der AfD angesehen werden, die Einfluss auf die gesamte durch inszenierte Tabubrüche, das Einfordern radikaler Partei haben.10 Vor dem Hintergrund der Einordnung des Problemlösungen und den Hang zu Verschwörungs­ Flügels durch das Bundesamt für Verfassungsschutz als theorien aus. „Verdachtsfall“ wird in der Partei über den Flügel und sei- Um sich vom gesellschaftlich geächteten Rechtsextre- ne Akteure gestritten. Allerdings nahm Jörg Meuthen Björn mismus abzugrenzen, betonen Rechtspopulist_innen Höcke zuletzt in Schutz, bescheinigte ihm, „in Thüringen ihre Verfassungstreue. Jedoch stellen sie in ihrer wirklich gute Arbeit“ zu verrichten — seine Kandidatur als Agitation Grundwerte wie Menschenwürde, Gleichheit, Spitzenkandidat im Landtagswahlkampf sei „folgerichtig 11 Minderheitenschutz, Diskriminierungsverbot usw. in und klug“ und er habe seine „volle Unterstützung“. Frage, und somit auch internationale Vertragswerke Die außerparlamentarische Bewegung von rechts, auf die und Institutionen (bspw. UN-Verträge und Menschen- sich die genannten Parteistrateg_innen der AfD stützen, rechtskonvention oder EU-Verträge) sowie demokrati- begann in den Jahren 2012 und 2013 mit von rechtsextre- sche Institutionen und Prozesse auf nationaler Ebene. men Parteien wie der NPD oder „Der III. Weg“ organisierten Darüber hinaus kooperieren sie oft mit rechtsextremen­ oder zumindest instrumentalisierten Demonstrationen, die Akteur_innen. aber auch von Bürger_innen besucht wurden, die nicht der rechtsextremen Szene angehörten. Dazu gehörten Demons- Die AfD als parlamentarischer Arm trationen wie die unter dem Label „Nein zum Heim“ (das einer neuen Bewegung von rechts später bundesweit verbreitet wurde) in Berlin-Hellersdorf oder in Duisburg unter dem Motto „Kein Asyl in Neumühl“ Die vorliegende Handreichung wird sich bei der Auseinan- sowie die so genannten Lichtelläufe im sächsischen Schnee- dersetzung mit rechtspopulistischen Parteien auf die AfD berg. Diese zuerst von rechtsextremen Parteien getragenen konzentrieren, da die Partei zuvor — zumindest regional — Mobilisierungen wurden bald darauf auch von der Neuen aktive und teils in kleinem Rahmen erfolgreiche Parteien Rechten mit den Formaten „Ein Prozent“12 und „Identitä- wie etwa Pro NRW/Pro Deutschland, Die Freiheit oder auch Die Republikaner verdrängt oder obsolet gemacht hat. Da- bei nutzen zentrale Protagonist_innen der AfD den Rechts- populismus (siehe Kasten oben) als politische Strategie und weisen inhaltlich-programmatisch große Überschneidungen 8 Siehe „Erfurter Resolution — Die Gründungsurkunde des Flügels“ un- mit der hier genutzten Definition von „Rechtsextremismus“ ter: www.derfluegel.de/erfurter-resolution/ (Zugriff am 05.05.2017). (siehe Kasten Seite 32) nach Hans-Gerd Jaschke auf.5 9 Siehe „Fünf Grundsätze für Deutschland — Wegweiser für eine neue Politik.“ unter: www.derfluegel.de/fuenf-grundsaetze-fuer- So hat sich die AfD im Laufe ihres Bestehens immer mehr deutschland/ (Zugriff am 05.05.2017). zum parlamentarischen Arm einer neuen rechten Bewegung 10 Vgl. hierzu etwa Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Ham- entwickelt6 — allen Beteuerungen ihrer Gründer_innen um burg: 2017, insb. S. 105f, sowie das „Gutachten zu tatsächlichen An- Bernd Lucke oder ihrer späteren Führung um Frauke Petry haltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische zum Trotz. Dieser Neuen Rechten (siehe Kasten Seite 31) be- Grundordnung in der ‚Alternative für Deutschland’ (AfD) und ihren Teilorganisationen“, veröffentlicht unter www.netzpolitik.org/2019/ sonders nahe stand die zwischenzeitlich aufgelöste „Patrio- wir-veroeffentlichen-das-verfassungsschutz-gutachten-zur-afd/ tische Plattform“, die 2014 am Sitz des „Instituts für Staats- (Zugriff am 05.03.2019), in dem es heißt: In der Gesamtschau ist politik“7 (IfS) gegründet wurde. Aktuell hat die parteiinterne festzustellen, dass auch auf der Ebene der Organisationseinheiten partiell ein ethnisch-biologisch bzw. ethnisch-kulturell begründetes Volksverständnis vertreten wird. 4 Siehe die Rechtspopulismus-Definition der BPB unter: www.bpb.de/ 11 Zitate aus einem Interview im Deutschlandfunk vom 03.03.2019, politik/extremismus/rechtsextremismus/173908/glossar?p=51 online unter www.deutschlandfunk.de/afd-bundessprecher-meuthen- (Zugriff am 27.04.2017). verfassungsschutz-chef-hat-seine.868.de.html?dram:article_ 5 Vgl. hierzu etwa: Dieter Rucht (2017): Rechtspopulismus als Bewe- id=442550 (Zugriff am 05.03.2019) gung und Partei, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 2/2017, 12 Die „Ein Prozent Bewegung“ will eine Bürgerbewegung gegen online unter: www.forschungsjournal.de/sites/default/files/fjsbplus/ die „Flüchtlingsinvasion“ sein und sammelt Spenden. An ihr sind fjsb-plus_2017-2_rucht.pdf (Zugriff am 05.03.2019) Akteur_innen der „Identitären Bewegung“ beteiligt. Unterstützt wird 6 Vgl. die Rechtsextremismus-Definition der BPB unter: www.bpb. die Initiative u.a. vom „Compact“-Herausgeber Jürgen Elsässer, dem de/politik/extremismus/rechtsextremismus/173908/glossar?p=45 Magdeburger AfD-Landtagsabgeordneten Hans-Thomas ­Tillschneider (Zugriff am 27.04.2017). sowie dem Verleger Götz Kubitschek. Vgl. dazu den Artikel „Ein 7 Nähere Informationen zum IfS bietet das Internetportal „Mut gegen Prozent — NGO der Neuen Rechten“ bei „Netz gegen Nazis“, unter: rechte Gewalt“ unter: www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/ www.belltower.news/ein-prozent-fuer-unser-land-ngo-der-neuen- lexikon/i/institut-f-r-staatspolitik (Zugriff am 05.05.2017). rechten-42110/ (Zugriff am 05.05.2017).

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re Bewegung“13 unterstützt. Spätestens mit den ab Herbst 2014 aufkommenden ­Pegida-Demonstrationen in Dresden Neue Rechte und ihren Ablegern im gesamten Bundesgebiet wurden die- Der Begriff „Neue Rechte“ bezeichnet eine geistige se Proteste zunehmend zu einer sozialen Bewegung — auch und politische Strömung, deren Ziel die intellektuelle und vor allem in der Selbstwahrnehmung der Beteiligten. Erneuerung des Rechtsextremismus ist. Sie grenzt sich Schon früh spielten soziale Netzwerke für diese Bewegung vom historischen Nationalsozialismus ab und bezieht eine große Rolle. sich stattdessen auf elitäre Vordenker der „Konserva- Parallel zum stärker werdenden Druck dieser neuen Strö- tiven Revolution“ wie Ernst Jünger, Arthur Moeller van mung nahmen rassistisch motivierte Übergriffe und Ge- den Bruck und Carl Schmitt oder auf Wegbereiter des walttaten vor allem auf Geflüchtete, ihre Unterkünfte und Faschismus wie Julius Evola, die während der Weimarer die Unterstützungsstrukturen massiv zu. Im Jahr 2016 Republik zu den antidemokratischen Kräften gehörten. zählte die Bundesregierung mehr als 3.500 Straftaten ge- Methodisch orientiert sich die Neue Rechte auch an gen Geflüchtete, darunter fast tausend Angriffe auf Flücht- Ideen linker Theoretiker_innen, wie etwa der Strategie lingsunterkünfte mit 169 Gewaltdelikten wie Brand- und der „kulturellen Hegemonie“ des ­italienischen Marxis- Sprengstoffanschlägen oder Schüssen. Diese Entwicklun- ten Antonio Gramsci. Dieser Strategie zufolge müssen, gen — zum einen die rassistische Mobilisierung, Gewalt bevor Wahlerfolge einer Partei möglich sind, zuerst gegen geflüchtete Menschen, ihre Unterstützer_innen und deren ideologische Positionen durch Beeinflussung zunehmend auch gegenüber (Kommunal-)Politiker_innen öffentlicher Debatten in der Gesellschaft verankert und zum anderen das Erstarken rechtspopulistischer Ak- werden. Ein erster Schritt auf dem Weg dahin wäre das teur_innen wie Pegida und AfD — verstärken sich gegen- Prägen von Elitendiskursen, z.B. durch publizistische seitig.14 In diesem Kontext ist auch die Strategie einiger Aktivitäten an der Grenze zwischen Konservatismus Protagonist_innen der Neuen Rechten zu sehen, die AfD und Rechtsextremismus. Als wichtigste Medienorgane als parlamentarischen Arm dieser rechtspopulistischen Be- der Neuen Rechten in Deutschland gelten die Wochen- wegung zu etablieren.15 Zu dieser Strategie gehören auch zeitschrift „Junge Freiheit“ (JF) und das vom Institut die durch parlamentarische Anfragen, aber auch über die für Staatspolitik (IfS) im sachsen-anhaltischen Schnell- eigenen Medienkanäle und Sozialen Netzwerke verbreiteten roda herausgegebene Magazin „Sezession“. Angriffe der Partei auf Bildungsträger, Kultureinrichtungen, Etliche Protagonisten der Strömung, wie der JF-Chef- Gedenkstätten und soziale Einrichtungen.16 Ziel dieses Vor- redakteur Stein oder die IfS-Gründer Karlheinz Weiß- gehens ist die Delegitimierung des Engagements, das sich mann und Götz Kubitschek, stammen aus rechtsextre- für eine plurale und offene Gesellschaft einsetzt. men Burschenschaften oder Studentenverbindungen wie der Deutschen Gildenschaft.

Aufklärung, Auseinandersetzung und Selbst- verständigung 13 Die „Identitäre Bewegung“ ist ein Verbund völkischer, aktions- orientierter Gruppen, die ethnopluralistische und kulturrassistische Die in den letzten Jahren gegen den „klassischen“ Rechts- Konzepte vertreten. Sie gehen von einer geschlossenen „europä- extremismus von NPD und Neonazis entwickelten Konzepte ischen Kultur“ aus, deren Identität von anderen Kulturen bedroht greifen beim aktuellen Rechtspopulismus oft zu kurz. Sie sei, vor allem von einer „Islamisierung“. Die Politikwissenschaft nennt die Bewegung rechtsextrem. Siehe dazu die ­Beschreibung können nicht ohne weiteres auf die AfD und andere rechts- der „Identitären“ durch die BPB, unter: www.bpb.de/politik/ populistische Akteur_innen oder auf die Neue Rechte an- extremismus/rechtsextremismus/173908/glossar?p=31; vgl. auch: gewandt werden. Ein breiter Konsens der demokratischen Kai Biermann u.a.: Die Scheinriesen, unter: www.zeit.de/politik/ Ächtung wie gegenüber NPD und Neonazis kann jedenfalls deutschland/2017-04/identitaere-bewegung-rechtsextremismus- gegenüber der aktuellen rassistisch und völkisch-nationalis- neonazis-mitglieder/komplettansicht?print (Zugriff am 05.05.2017). tisch grundierten sozialen Bewegung von rechts, deren par- 14 Vgl. hierzu etwa: Karsten Müller und Carlo Schwarz: Fanning the ­Flames of Hate: Social Media and Hate Crime, 2018. Online unter lamentarischer Arm die AfD ist, nicht vorausgesetzt werden. www.ssrn.com/abstract=3082972 (Zugriff am 05.03.2019) 15 Die bisher geltenden Abgrenzungsbeschlüsse der AfD etwa gegen- Im Jahr 2016 zählte die Bundesregierung mehr als über Pegida sind nach dem Machtgewinn des völkisch-nationalis- 3.500 Straftaten gegen Geflüchtete tischen Parteiflügels um Höcke obsolet, in der Partei gibt es Streit um die genaue Umsetzung, siehe etwa www.zeit.de/politik/ Aus der Diskursanalyse ist bekannt, dass sich die von rechts- deutschland/2018-03/alternative-fuer-deutschland-afd-pegida- extremen und rechtspopulistischen Akteur_innen bewusst kundgebung-joerg-urban oder www.rbb24.de/politik/beitrag/2018/09/ brandenburg-afd-kalbitz-will-keine-pauschale-abgrenzung-von-pegida. im öffentlichen Diskurs platzierten Themen und Tabubrüche html durch ihre Reproduktion in den klassischen Medien sowie 16 Vgl. hierzu die Reaktionen von Brandenburger Theatern und sozialen auf interaktiven virtuellen Plattformen und Blogs schlei- Einrichtungen aus Berlin, www.maz-online.de/Nachrichten/Kultur/ Piccolo-Theater-Cottbus-Brandenburger-Theater-wehren-sich- gegen-die-AfD und www.berliner-woche.de/mitte/c-politik/180- berliner-traeger-kritisieren-anfragen-der-afd_a178430 (Zugriff am 05.03.2019)

40 Hintergrundinformationen

chend verankern.17 Dadurch sind sie in der Lage, eine Wir- wählt wird.19 Die eigentliche Aufklärung muss zum einen die kungsmacht zu entfalten, die ihrer tatsächlichen Stärke und rechtspopulistischen Strategien und Techniken betreffen, Verankerung in der Gesellschaft nicht entspricht. Zudem durch die solche Inhalte wirksam werden. wird gezielt mit Desinformation gearbeitet. Bewusst ge- Zum anderen bedarf es einer Selbstverständigung über zwar streute Falschmeldungen, aber auch rechtsextreme Deutun- grundlegende, aber häufig nur phrasenhaft verwandte Be- gen und Forderungen, finden in kürzester Zeit vielfache Ver- griffe wie Demokratie, Partizipation, Engagement, Zivilgesell- breitung — vor allem in den Echokammern von Medien wie schaft und Solidarität. dem „Compact“-Magazin, dem Blog „Politically Incorrect“18, den Publikationen und Kampagnenplattformen des Instituts für Staatspolitik sowie deren Präsenzen bei Facebook und Rechtsextremismus ­Twitter. Solche Falschmeldungen und Deutungen beeinflus- In dieser Handreichung wird ein im Vergleich zu be-­ sen gesellschaftliche Diskurse und politische Entscheidun- hördlichen Definitionen erweiterter Rechtsextre­ ­ gen, ohne auf einer empirisch belegbaren Grundlage zu be- mismus­ begriff­ verwendet, der sich vor allem auf die ruhen. Auch die oft emotional geführten gesellschaftlichen politischen Inhalte, vertretenen Standpunkte und und politischen Debatten, wie etwa im Nachgang der Über- Aktionsformen­ bezieht. Dadurch wird deutlich, dass die griffe in der Kölner Silvesternacht 2015, werden von rechts- hier als „Rechtspopulismus“ (siehe Definition oben) be- populistischen und rechtsextremen Akteur_innen aufgegrif- schriebene Strategie deutliche Überschneidungen mit fen und instru­mentalisiert. rechtsextremen­ Positionen, Haltungen und Handlungen aufweist. Auch die AfD verfolgt dezidiert eine Politik der Skandalisie- Mit Hans-Gerd Jaschke beschreibt der Begriff „Rechts- rung und Radikalisierung vorhandener gesellschaftlicher extremismus“ im Folgenden „die Gesamtheit von Ein- Debatten, beispielsweise um Zuwanderung oder das Ver- stellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert hältnis zum Islam, und nutzt oder verstärkt vorhandene oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch beding- Ängste und gesellschaftliche Neiddebatten. Das führt zu ten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, einer Verschiebung von Grenzen, sodass ehemals selbstver- nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen ständliche Positionen zum demokratischen Miteinander, den und das Gleichheitsgebot­ der Menschenrechts-Dekla­ Menschenrechten und dem Schutz von Minderheiten zuneh- rationen ablehnen, von der Unterordnung des Bürgers mend infrage gestellt werden. unter die Staatsräson ausgehen und die den Werte­ pluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Rechtspopulistisch vorgetragenen Positionen ist Demokratisierung rückgängig machen wollen. Unter weder allein mit Skandalisierung beizukommen, noch ‚Rechtsextremismus‘ verstehen wir insbesondere indem sie ignoriert werden. Zielsetzungen, die den Individualismus aufheben wollen Rechtspopulistisch vorgetragenen Positionen der AfD ist zugunsten einer völkischen, kollektivistischen, ethnisch allerdings weder allein mit Skandalisierung beizukommen, homogenen Gesellschaft in einem starken National- noch indem sie ignoriert werden. Auch eine dauerhafte staat und in Verbindung damit den Multikulturalismus Ausgrenzung scheint nicht zu gelingen. Zudem hat sich die ablehnen und entschieden bekämpfen. Rechtsextremis- Hoffnung, dass sich die Partei selbst entlarven möge oder mus ist eine antimodernistische, auf soziale Verwerfun- von Kritiker_innen entzaubert, nicht erfüllt. gen industriegesellschaftlicher Entwicklung reagieren- de, sich europaweit in Ansätzen zur sozialen Bewegung Offensichtlich greift eine Aufklärung über die völkisch-natio­ formierende Protestform.“20 nalistischen, rassistischen oder antifeministischen Inhalte der AfD da zu kurz, wo sie genau wegen dieser Inhalte ge-

17 Vgl. z.B.: Sebastian Seng: Normalisierungsmaschine Integration. Eine rassismuskritische Analyse des Integrationsdiskurses. In: Ansgar ­Drücker/Sebastian Seng u.a. (Hrsg.): Geflüchtete, Flucht und Asyl. Texte zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Flucht- und Lebens- realitäten, rassistischen Mobilisierungen, Selbstorganisation, Em- powerment und Jugendarbeit. Düsseldorf: 2016, S. 24–30. Vgl. auch Sebastian Friedrich (Hrsg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisie- rungsprozessen der „Sarrazindebatte“. Münster: 2011. 18 Politically Incorrect“ (kurz: PI oder PI-News) ist ein 2004 gegründe- ter islamfeindlicher Newsblog, der sich zu einem der bedeutendsten 19 Vgl. etwa Frank Decker: Wahlergebnisse und Wählerschaft der deutschsprachigen Internetportale entwickelt hat und international AfD, online unter www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in- mit islamfeindlichen, rechtsextremen und rechtspopulistischen Perso- deutschland/afd/273131/wahlergebnisse-und-waehlerschaft nen und Organisationen vernetzt ist. Siehe die Beschreibung der BPB (Zugriff am 05.03.2019). unter: www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/173908/ 20 Hans-Gerd Jaschke: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: glossar?p=81 (Zugriff am 05.05.2017) Begriffe, Positionen, Praxisfelder. Opladen: 2001, S. 30.

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Hrsg.: Bundesverband Mobile Beratung e.V. Der Bundesverband Mobile Beratung e.V. vertritt die Interessen seiner Mitglieder, die in ganz Deutschland Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus anbieten. Sie unterstützen die fachliche Vernetzung der Mobilen Beratungsteams und organisieren Fachtagungen und Fortbildungen, nehmen an gesellschaftlichen Debatten teil und beraten Politik, Verwaltung und Zivilgesell- schaft.

www.tinyurl.com/y5ekqk7t

42 Projektbeschreibung

We come together — Regionales Handeln für Demokratie, Diversität und Partizipation

Extrem rechte Aktivitäten haben in einigen, v.a. peripher Rechtsextremismus mit Jugendlichen zu bearbeiten. Gleich- gelegenen Regionen des Landes Mecklenburg-Vorpommern zeitig fördern sie die überregionale Vernetzung und den zu einer ernsthaften Bedrohung für den sozialen Zusam- langfristigen Austausch von Personen und Institutionen vor menhalt der Zivilgesellschaft und demokratischer Verhält- Ort. nisse vor Ort geführt. Dieser Entwicklung will das Projekt Zusätzlich werden weitere bedarfsorientierte Angebote er- „We come together — Regionales Handeln für Demokratie, stellt, wie z. B. der Workshop „Mach die Augen auf“, welcher Diversität und Partizipation“ etwas entgegensetzen. Ziel ist rechte Denk- und Handlungsweisen untersucht. Gleichzeitig es, gerade in strukturschwachen und ländlichen Räumen de- bietet der Verein Kommunikationsseminare und „antiras- mokratiefördernde Bildungsprozesse mit Jugendlichen zu sistische“ Trainings für Akteur_innen aus dem schulischen entwickeln und umzusetzen. Jugendliche sollen dadurch zur Kontext, Freizeiteinrichtungen, Vereinen etc. an. Hierbei soll Reflexion eigener Einstellungen angeregt werden, um da- der Austausch und die Vernetzung der verschiedenen zivil- mit auch präventiv gegen Rechtsextremismus zu arbeiten. gesellschaftlichen Akteur_innen unterstützt werden, um so Das Projekt wird in Orten durchgeführt, in denen dezentra- eine langfristige Zusammenarbeit zu initiieren, welche über le Wohnungen oder Gemeinschaftsunterkünfte für Asylsu- den Projektzeitraum hinaus wirkt. chende bestehen und gleichzeitig rechte und rechtsextre- me Strukturen einen hohen Stellenwert besitzen. Über eine vorangehende Sozialraumanalyse wurden die Einstellungen Trägerbeschreibung: dort bezüglich Zuwanderung, demokratische Gesellschaft Projektträger: Soziale Bildung e.V. und menschenfeindlichen Einstellungen erhoben. Der basisdemokratische Verein legt Wert auf ein soli- Die Zielgruppe des Projektes sind Jugendliche zwischen 14 darisches und kollektives Miteinander. Er sieht seine und 18 Jahren aus der Region, mit und ohne Migrations- oder Stärke in der Synergie von Kinder-, Jugend-, Sozial-, Fluchthintergrund. Die Interessen und Lebenswelten dieser Kultur- und Bildungsarbeit. Jugendlichen bilden den Ausgangspunkt für die Bildungs- angebote zu den Themen Migration, Asyl und Gruppenbezo- In allen Arbeitsbereichen verfolgen sie das friedliche gene Menschenfeindlichkeit. Die einjährig konzipierten frei- und gerechte Miteinander willigen Kurse folgen dem Schuljahresrythmus und bauen aller Menschen. Sie un- aufeinander auf. Die Jugendlichen werden befähigt, eigene terstützen Bestrebungen, kreative Projekte, in welchen sie ihre Wünsche für das ge- die eine demokratische, sellschaftliche Zusammenleben vorstellen, umzusetzen. Des soziale als auch emanzi- Weiteren lernen sie, Themen und Methoden selbstständig patorische Gestaltung des anzuwenden und sie an Gleichaltrige weiterzugeben. Gemeinwesens in ihrem Wirkungsbereich zum Ziel Darüber hinaus werden Schulungen und Trainings für Multi­ haben. plikator_innen­ in Schulen, Freizeiteinrichtungen und Ver- einen angeboten, die die Teilnehmenden dazu befähigen, www.tinyurl.com/y5hhadbs die Themen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und

43 Projektbeschreibung

CoBa-Yana ComeBack — you are not alone

Das Projekt berät und unterstützt Menschen, welche die rechtsextreme Szene verlassen möchten, und entwickelt Trägerbeschreibung: gemeinsam mit ihnen neue Lebensperspektiven jenseits der Projektträger: Backup — Comeback e.V. West­fälischer rechtsextremen Erlebniswelt. Verein für die offensive Auseinandersetzung­ mit dem Aber nicht nur Menschen, die schon in der rechtsextremen Rechtsextremismus e.V. Szene abgedriftet sind und jetzt aussteigen wollen, sind Ziel- Der Verein hat sich die offensive Auseinandersetzung­ gruppe, sondern auch junge Menschen, die gefährdet sind mit dem Rechtsextremismus in ganz Westfalen-Lippe in die rechtsextreme Szene abzudriften. Dazu entwickelt zum Ziel gesetzt. Zu diesem Zwecke ist der Verein CoBa-Yana Konzepte für die Aufklärung, De-Radikalisierung Träger zweier Projekte: der und Prävention, die gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Opferberatung BackUp die und staatlichen Akteuren und Institutionen aus der Stadt Betroffene von rechts- Dortmund umgesetzt werden. extremer und rassisti- Zudem unterstützt das Projekt mit individueller Beratung scher Gewalt unterstützt und Fortbildungen Menschen, die im Beruf oder privaten und begleitet sowie der Umfeld mit Rechtsextremen konfrontiert sind. Ausstiegshilfe CoBa-Yana Begleitet wird das Projekt von wissenschaftlichen Projekten ComeBack — you are not und Forschungseinrichtungen wie dem an der Universität alone. Bielefeld ansässigen Institut für Interdisziplinäre Konflikt- www.backup-comeback.de/coba-yana.html und Gewaltforschung (IKG), um aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in der Ausstiegsarbeit, der Präventionsarbeit und der Konzeptentwicklung zu berücksichtigen und die ei- gene Arbeit extern evaluieren zu lassen.

44 Übungen und Hilfen

Kurzbeschreibung: Fallbeispiel: Der Blick von außen Die Handreichung soll Eine große Schwester ist sehr besorgt: Ihre kleine Lehrer_innen und (Sozial-) Schwester berichtete fast täglich von rassistischen Vor- Pädagog_innen bei einem fällen an ihrer Schule. Dort gäbe es eine offen agierende offensiven Umgang mit rassistische Gruppierung mit Schüler_innen überwie- menschenverachtenden gend aus der 7. Klassenstufe.­ Schüler_innen, die ihnen Einstellungen und Verhal- widersprechen, wurden eingeschüchtert und bedroht. tensweisen unterstützen. Das ging bis zu Morddrohungen. Es hatten bereits kör- Sie enthält Hinweise für perliche Übergriffe stattgefunden, die auch angezeigt die pädagogische Arbeit, wurden. Zum Teil wurden Verfahren wegen Mangel an Fallbeispiele, Handlungs- Beweisen eingestellt oder es wurden Sozialstunden auf- möglichkeiten, Methoden erlegt. Bislang haben diese Maßnahmen keine spürbaren etc. Verbesserungen für den Schulalltag gebracht.

Auch das noch?! Informationen zum Umgang mit Die große Schwester wandte sich, leider ohne dort Un- Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, Rassismus terstützung zu finden, an die Schulleitung. Die Antwort in diesem Zusammenhang: „Eine Schule darf sich poli- und Ideologien der Ungleichwertigkeit an Schulen tisch nicht äußern.“ (S. 11–16) (Kulturbüro Sachsen e.V./Courage — Werkstatt Die große Schwester gibt nicht auf. Sie sammelt An- für demokratische Bildungsarbeit e.V.) gebote, die sie der Schule als Vorschläge unterbreiten möchte, damit diese aktiv gegen den Rassismus vorge- hen und die Schüler_innen zum Thema sensibilisieren Fallbeispiele kann.

Die folgenden Fallbeispiele illustrieren die breite Palette von rechtsextremen Vorkommnissen an Schulen von der einfa- Handlungsmöglichkeiten chen Provokation bis hin zur unverblümten Ideologiever- Intervention mittlung. Nutzen Sie Fälle wie die vorab beschriebenen und die mit ih- nen einhergehende Aufmerksamkeit für das Thema für eine Fallbeispiel: Bürgerproteste gegen möglichst breite schulinterne Auseinandersetzung. Bezie- ­Moscheebau und Asylunterkunft hen Sie möglichst viele Zielgruppen mit ein (Schüler_innen, färbt Schulklima Lehrkräfte, Sozialpädagog_innen, Eltern). Im Herbst 2013 kam es in einer sächsischen Großstadt 1. Es ist eine hervorragende Lerngelegenheit für alle Betei- zu Protesten von Bürger_innen gegen den Bau einer ligten. Die Themen liegen auf dem Tisch. Moschee. Die NPD war stark involviert und veranstal- 2. Durch eine öffentliche Thematisierung werden den pro- tete eine Kundgebung vor dem Baugrundstück. Die De- blematischen Einstellungen öffentlich humanistische batten und Proteste gegen Asylunterkünfte sind in der Haltungen entgegengesetzt. Das stärkt demokratische Gegend prägend. Schüler_innen und zeigt Unentschlossenen, dass rechte In der Oberschule vor Ort haben auch viele Schüler_in- Meinungen nicht unumstritten sind. nen Vorurteile gegen Asylsuchende und Muslime. Mitt- 3. (Potenziell) Betroffenen Menschen an der Schule wird lerweile fanden Workshops zu Flucht und Asyl statt. gezeigt, dass sie nicht allein dastehen, sondern auch sie Diese Workshops führten allerdings noch nicht zu einer solidarische Menschen in ihrem Umfeld haben, die sie im wahrnehmbaren Veränderung des Klimas an der Schule. Zweifelsfall unterstützen und nicht wegschauen.

45 Übungen und Hilfen

fungspunkte finden. Insgesamt ist eine auf demokratische Checkliste für den Problemfall Beteiligung und Dialog angelegte Schulkultur, in welcher die Schüler_innen mit ihren Anliegen ernst genommen werden, ƒƒ Informieren Sie sich: Was ist genau passiert? eine ideale Grundlage, um Rechtsextremismus vorzubeugen. ƒƒ Handeln I: Intervenieren Sie im Problemfall, stellen Wo auch immer es geschieht, die Thematisierung von Vorur- Sie Transparenz in Schule und Schul­umfeld her. teilen, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Mobbing ƒƒ Handeln II: Holen Sie sich ggf. Beratung und Hilfe von kann zur Sensibilisierung gegen rechte Ideologien beitragen. außen. ƒƒ Diskutieren Sie den Fall mit Schüler_innen: Seien­ Sie dabei gut informiert und argumentativ vorbereitet. Ursachen von rechtsextremen ƒƒ Beziehen Sie andere (nicht involvierte Schüle-­ Einstellungen­ r_innen) in die Diskussion ein. Entscheiden Sie: Dass Menschen neonazistische Einstellungen überneh- Womit habe ich es hier zu tun? (siehe unten: Päda­ men, hat viele Einflussfaktoren. Es gibt eine Reihe von gogisches Dilemma [Bezieht sich auf die Original-­ wissenschaftlichen Untersuchungen, die zu unterschied- Broschüre]) lichen Ergebnissen kommen. ƒƒ Kooperieren Sie mit Kolleg_innen und Schulleitung.­ Einig ist sich die Forschung darüber, dass rechtsextre­ ƒƒ Ereignis melden: Über Landesamt für Schule­ und me Einstellungen aus autoritären Persönlichkeits- Bildung an das Staatsministerium für Kultus (Schul- merkmalen hervorgehen können. Diese können auftre- leitung kennt sächsische Meldeverfahren). ten, wenn Unterordnung in autoritären Verhältnissen ƒƒ Bleiben Sie am Ball: Halten Sie nach Klärung des Pro- erlebt werden muss, in denen Wünsche und Bedürfnis- blemfalls eine kontinuierliche Ausein­andersetzung se nicht gehört werden. Zur Ausprägung einer autori- mit der Thematik aufrecht. ­Dabei ist die Einbezie- tären Persönlichkeit führen nach Ansicht von Wissen- hung von anderen Lehrkräften und Eltern sinnvoll. schaftler_innen auch das strikte und unhinterfragte Festhalten an gesellschaftlichen Konventionen und Re- Prävention geln sowie ein Klima, das jede Abweichung von diesen Konventionen streng sanktioniert. Wie eingangs erwähnt, sind Vorurteile und Ressentiments so weit verbreitet, dass die Abgrenzung von Prävention und In- Ein anderer Erklärungsansatz geht im Sinne von Depri- tervention nur eingeschränkt Sinn ergibt. vationstheorien davon aus, dass ein subjektiv empfunde- ner Unterschied zwischen Anspruch und Erfüllung der ei- Aber bei den zahlreichen Herausforderungen und Anfor- genen ökonomischen Vorstellungen zu einer Abwertung derungen, die es für Pädagog_innen an Schulen gibt, rückt von Gruppen führt, die als Konkurrenz wahrgenommen das Thema leider viel zu oft erst in den Vordergrund, wenn werden. Wenn die gesellschaftlichen Beziehungen zwi- Vorfälle wie in den oben genannten Beispielen auftreten. Es schen Menschen nach Nutzenkriterien bewertet werden ist nie zu spät oder zu früh, das Thema auf die Agenda zu und ökonomische Prinzipien ins Private übernommen setzen. werden, dann kann diese Entwicklung verstärkt werden. Präventive Arbeit ist sinnvoll. Zu dieser Arbeit gehört die Zweifelsfrei führen auch die Verunsicherungen durch inhaltliche Auseinandersetzung mit menschenverachtenden gesellschaftliche Veränderungen zur Suche nach Be- Ideologien, also informiertes Diskutieren über — statt der zugspunkten, die Rechtsextremismus befördern kön- Tabuisierung von Neonazis. Denn Verbote ohne inhaltliche nen. Durch die Auflösung von traditionellen Milieus und Diskussion rufen nachvollziehbarer Weise oft Unverständnis klassischen Rollenmustern halten sich einige Menschen oder Widerstand hervor. an Dingen fest, die man ihnen in einer sich verändern- den Welt nur schwer nehmen kann, wie z.B. das Ge- Prävention im (Fach-)Unterricht schlecht oder die Herkunft. Damit werden Statusängste kompensiert. Häufig wird die Auseinandersetzung mit Rechtsextremis- mus und seinen Erscheinungsformen an die Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrkräfte delegiert. Diese können na- türlich im Geschichtsunterricht das NPD-Parteiprogramm Hausordnung auf seine inhaltlichen Überschneidungen mit Ideologiefrag- Eine Schule kann niemanden aufgrund seiner oder ihrer Ge- menten des Nationalsozialismus untersuchen. Der Gemein- sinnung vom Zugang zu Bildung ausschließen. Sie können schaftskundeunterricht bietet darüber hinaus zahlreiche sich aber gemeinsam mit ihren Schüler_innen und deren Anlässe für eine intensive Auseinandersetzung mit men- Eltern um ein Schulklima bemühen, in dem demokratische schenfeindlichen Einstellungen und Raum für das Erlernen Grundwerte gelebt — beispielsweise Minderheiten nicht dis- von demokratischen Beteiligungsformen. Allerdings kann kriminiert und neonazistische Erscheinungsformen nicht ge- auch im Kunstunterricht der Sinn und Zweck des Körper- duldet — werden. Schüler_innen, die gezielt zu weltoffenen kults im Nationalsozialismus diskutiert oder die Existenz Personen erzogen werden, die die prinzipielle Gleichheit aller menschlicher Rassen im Biologieunterricht widerlegt wer- Menschen anerkennen und dies auch im Schulalltag leben, den. In vielen Schulfächern lassen sich thematische Anknüp- sind für Neonazis kaum erreichbar. Was können Sie tun?

46 Übungen und Hilfen

Beispielsweise ist es möglich, das Tragen rechtsextremer Symbole per Hausordnung zu verbieten. Mit Schüler_innen Hrsg.: Kulturbüro Sachsen e.V./Courage — ­Werkstatt können Vereinbarungen über ein gleichberechtigtes, faires für demokratische Bildungsarbeit e.V. Miteinander in der Schule getroffen werden. Wichtig ist hier, Für das Kulturbüro Sachsen e.V. ist die Durchsetzung solche Regeln immer mit den Schüler_innen zu vereinba- der Menschenrechte für Alle die Grundvoraussetzung. ren. Nur so finden inhaltliche Diskussionen statt, die es den Ziel ihres Angebotes ist es, jeglicher Abwertung von Schüler_innen ermöglichen, sich mit den Vereinbarungen Menschen entgegen zu treten, sei es auf Grund zuge- zu identifizieren. Für die gemeinsame Erarbeitung solcher schriebener oder tatsächlicher Herkunft, Religionszu- Hausordnungen und Vereinbarungen stehen Ihnen externe gehörigkeit, sexueller Identität oder sozialem Status. Expert_innen (vgl. Kapitel 6 [Bezieht sich auf die Original-­ Broschüre]) gerne zur Seite. Diese helfen bei der Modera- Courage — Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit tion schulinterner Diskussionsprozesse und bei der Ausfor- e.V. ist der Träger des Netzwerks für Demokratie und mulierung von Hausordnungen. Courage (NDC) in Sachsen. Das NDC ist ein bundeswei- tes Netzwerk, das von jungen Leuten getragen wird und sich für Demokratieförderung und gegen menschenver- Vorlage für Hausordnung in Schulen: achtendes Denken engagiert. Das Hauptaufgabenfeld des NDC ist die Ausbildung von jungen Menschen als „Um den Schulfrieden sowie ein tolerantes und angst- Multiplikator_innen und die Durchführung von Projekt- freies Miteinander zu gewährleisten, werden Erschei- tagen, Seminaren und Fortbildungen. nungsformen rechtsradikaler Gesinnung (z.B. Kleidung, Schuhe, Symbole) sowie gewaltbereiter Gruppen nicht toleriert. Das gleiche gilt für Kennzeichen, Handy- videos und Musik, durch deren Symbolgehalt sich andere bedroht, diskriminiert oder verunglimpft fühlen können.“ „Wer gegen die Hausordnung verstößt, muss mit schu- lischen Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Schulaus- schluss rechnen.“

„...verboten ist den Besucher_innen der Schule (Sport- www.tinyurl.com/y4g37z63 stätte etc.) darüber hinaus: a) Rechtsextremes, rassistisches, antisemitisches, nationalsozialistisches, sexistisches, homophobes oder ähnliches menschenverachtendes Propa­ gandamaterial mitzubringen, solcherlei Parolen zu äußern oder zu verbreiten oder Textilien, Beklei- dung, Propa­gandamaterialien, Fahnen oder ähn- liches mitzuführen von Firmen oder Marken, die rechtsextreme, rassistische, antisemitische und/ oder nationalsozialistische Gruppierungen oder Vereinigungen fördern und/oder unterstützen. b) Parolen zu äußern oder zu verbreiten, die men- schenverachtende oder diskriminierende Inhalte haben. c) Das Tragen oder Mitführen von Kleidungsstücken, Fahnen, Transparenten, Aufnähern und ähnlichem mit den Inhalten nach den Buchstaben a) und b). d) Wer gegen die Hausordnung verstößt, muss mit schulischen Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Schulausschluss rechnen.“

47 Übungen und Hilfen

Methoden verstehen wir als „helfende Verfahren“, die in Kurzbeschreibung: pädagogischen Prozessen zwischen Personen und The- Die Broschüre analysiert men(-Komplexen) vermitteln. Sie strukturieren zudem soziale das Ausmaß des NSU-Kom- Dimensionen in der Interaktion von Lehrenden und Lernen- plexes und stellt Methoden den. Methoden sind dabei zunächst lediglich ein Setting von für die Bildungsarbeit vor. Arbeitsweisen und bedürfen einer Kontextualisierung und ge- Dabei wird auf die Konti- nauen Konzipierung ihrer Anleitung, Abläufe und Materialien. nuität von rassistischer Die Ausarbeitung muss daher immer neu auf die Lernziele, Gewalt in Deutschland Lerninhalte, Lerngruppen und auf die Lehrenden und ihre verwiesen und sie nimmt, jeweilige Verknüpfung von Theorie und Praxis sowie didak- neben dem rechten Rand, tischen Grundlagen zugeschnitten werden. Die Lernziele und auch die „Mitte“ der Ge- -inhalte sind Verständigungsgegenstand zwischen den betei- sellschaft sowie staatliche ligten Institutionen und Pädagog_innen in Abstimmung auf Institutionen in den Blick. die Bedürfnisse, Erfahrungen und Möglichkeiten der Teilneh- menden. Die in der Praxis verbreitete Ansicht, zur Bildungs- und Lernraumgestaltung im Wesentlichen Methodenkom- petenzen erlernen zu wollen, bildet dabei eine Schieflage. Methodisches Arbeiten sichert keinen Erfolg des pädagogi- schen Handelns. Es bedarf, wie Elverich, Kalpaka und Reindl- Rassismus als Terror, Struktur und Einstellung. meier verdeutlichen, eines Verständnisses von einer theorie- Bildungsbaustein mit Methoden zum NSU-­Komplex. geleiteten Reflexion als integralem Bestandteil der eigenen pädagogischen Arbeit. Vor diesem Hintergrund müssen in Kontinuitäten, Widersprüche und Suchbewegungen der Konzeptentwicklung und damit der Methodenauswahl (S. 39–44; 60–61) gesellschaftliche Positionierungen und Identitätsaspekte wie (Arbeit und Leben DGB/VHS Hamburg e.V.) Alter oder Geschlecht und die unterschiedliche Eingebunden- heit der Teilnehmenden in Machtverhältnisse, ihre potenzielle METHODEN Privilegierung oder Marginalisierung in Gewaltstrukturen wie Rassismus oder den sogenannten Antiziganismus, beachtet werden. Einzubeziehen ist ebenfalls die Frage, ob für Teilneh- VORSCHLÄGE FÜR EINE mende und die gemeinsamen Lernprozesse gesellschaftliche BILDUNGS­ARBEIT ZUM Erfahrungen zu Gesundheit, Religion oder sozialer Exklusion eine wichtige Rolle spielen; der gegenseitige Kenntnisgrad NSU-KOMPLEX und die Art des Verhältnisses der Teilnehmenden unterein- ander, aber auch soziale Kompetenzen, kognitives Vorwissen Eigene Entwicklung von Caro Keller und Jonas Spengler.1 und ihr Motivationsgrad sind zu beachten. Die Frage, welches Setting, welche Kompetenzen, welche Im Kontext von Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft Methoden Multiplikator_innen brauchen, um Reflexionen ist auch bei der Lernzieldefinition, bei der Auswahl und beim zum NSU-Komplex in Lerngruppen anzuleiten und zu beglei- Einsatz von Methoden die Einbeziehung verschiedener Frage- ten, stellt einen grundlegenden Aspekt für die Gestaltung stellungen aus einer rassismuskritischen Perspektive von Be- einer Methodensammlung zum NSU-Komplex dar. Die Per- deutung: Für wen werden Bildungsangebote gemacht? Sind spektive, aus der wir hier solche Fragen an die Gestaltung diese tatsächlich offen für alle? Wem werden welche Lernräu- von Lernräumen und Methodeneinsatz entwickeln, nennen me ermöglicht? Wer wird von Lernprozessen ausgeschlos- wir politische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. sen? Wer sind die Subjekte in den Lernräumen? Mit welchen Dieser bestimmte Bezug auf die Migrationsgesellschaft er- Begriffen wird gearbeitet? Auf welche theoretischen Grund- fordert von uns eine Benennung und damit Reflexion der lagen und Definitionen von Machtverhältnissen wird sich Grenzen und Möglichkeiten des Kontextes, in dem diese bezogen? Wie setzt sich die Seminarleitung zusammen? Wie Bildungsarbeit stattfindet. Die Perspektive der politischen fließen Selbstreflexion und positionierte Auseinandersetzung Bildungsarbeit, aus der wir kommen, geht davon aus, dass hier ein? Was können die Pädagog_innen den Teilnehmenden Bildungsarbeit gekennzeichnet ist durch gesellschaftliche unter identifikatorischen und kommunikativen Gesichtspunk- Diskurse und strukturelle und inhaltliche Ein- und Ausgren- ten anbieten? Wie setzt sich die Zielgruppe zusammen? Wie zungen. Entsprechend bleibt es in der praktischen Arbeit lassen sich Gewalt, (Re-)Produktion und Verletzungen ver- grundlegend, wie Individuen und Gesellschaft zusammen- meiden und damit Lernprozesse für alle ermöglichen? Wie gedacht werden, was als Problem definiert wird, worin mög- können Seminare als „Schutzraum“ und Lernraum gleichzei- liche Ansatzpunkte für Lösungen bestehen und auf welches tig verstanden werden? Welche — getrennten und gemeinsa- Lernverständnis sich bezogen wird. men — Räume lassen sich eröffnen? Welche (rassismuskriti- schen) Zielsetzungen lassen sich für die unterschiedlichen 1 In diesem Zusammenhang weisen wir ausdrücklich auf die Bildungs­ Konstellationen von Pädagog_innen, Zielgruppen und Rah- initiative lernen aus dem NSU-Komplex (BILAN) hin: mensettings formulieren, um damit Orientierung für die kon- https://bilangegenrechts.wordpress.com/

48 Übungen und Hilfen

zeptionelle Feinplanung des Methoden­einsatzes zu bieten? CHRONOLOGIE DES Die folgende Sammlung von Methoden greift unterschiedli- che Themen und Aspekte auf, die in einer Bildungsarbeit zum NSU-KOMPLEX NSU-Komplex bedeutsam sind. Diese bildet für uns eine erste THEMA: Suchbewegung nach einer Verknüpfung zwischen Theorie Abfolge von Ereignissen zwischen 1996 und 2011 im Zusam- und einer Praxis ab, die sich in der Auseinandersetzung mit menhang mit dem NSU dem NSU-Komplex und den darin wirkenden Macht- und Ge- waltverhältnissen als Teil von politischer Arbeit begreift und ZIELE zu (Re-)Politisierung beitragen möchte. • Einstieg und die weitere Beschäftigung mit dem NSU-Kom- plex gestalten Die Auswahl der Methoden folgt keiner bestimmten Sys- • Orientierung über den historischen Zeitraum und ver- tematik, sondern will nur exemplarisch Möglichkeiten auf- schiedene Phasen schaffen zeigen. Sie beansprucht nicht, ein Seminarkonzept füllen • Verbindung zu anderen individuellen oder gesellschaftli- zu können oder die verschiedenen Phasen eines Seminar- chen Ereignissen herstellen verlaufs abzudecken, sondern möchte vielmehr Anregun- gen für die Ausgestaltung von Modulen zum Themenfeld ZIELGRUPPE NSU-Komplex bereitstellen. Für alle ab 14 Jahren, die einen Begriff von „Neonazis“ und „Nationalsozialismus“ haben. Die Ausgestaltung ist abhän- AUFBAU DER METHODENBESCHREIBUNG gig von den in der Gruppe vorhandenen Vorkenntnissen. Jede Methodenskizze folgt demselben Aufbau: Es werden TN-ZAHL der Titel und die angesprochenen Themen und Ziele ge- Ab 2 TN möglich nannt, dann wird eine Einordnung in Bezug auf die Anzahl ZEIT der Teilnehmenden, das adäquate Alter und den Zeitbe- ca. 90 min darf der Durchführung vorgenommen. Da diese Variablen sich gegenseitig beeinflussen, indem etwa die im Rahmen MATERIAL einer Methode eingeplante Reflexion des Geschehens ab- • Dokumentation Der NSU-Komplex (Dokumentation der hängig vom Alter der Teilnehmenden unterschiedlich lange ARD, 53 min, 2016) dauern kann, sind diese Einordnungen als Rahmendaten zu www.youtube.com/watch?v=LqX32EDs9rU verstehen und jeweils für die konkrete Gruppe zu planen. oder Anschließend wird die Methode vorgestellt. Dazu gehören • Ereignis-Karten A 2 die Schilderung des Ablaufs, häufiger auch Impulse zur An- • Ereignis-Karten B moderation und zu Rahmen und Regeln. Die Reflexion des • selbstentwickelte Ereignis-Karten Geschehens in den Übungen mit der Gruppe bildet einen • Metaplanpapier, Pinnnadeln oder Klebeband, dicke Stifte, zentralen Bestandteil jeder Methode. Die Form dieser Re- Schere, Beamer, Laptop, Lautsprecher (zur Sichtung der flexion, sowohl ihre Arbeitsweisen als auch ihr sprachlicher Dokumentation) Ausdruck, muss jeweils auf die konkrete Gruppe und das konkrete Bildungsvorhaben zugeschnitten werden. Schließ- DARSTELLUNG DER METHODE lich findet sich in jeder Methodenskizze ein Kommentar zu Die Methode soll eine grobe Orientierung über die Taten des konzeptionellen Fragen, in dem Chancen und Risiken der NSU und deren zeitliche Einordnung (vor, während und nach Methode abgewogen werden. Soweit möglich, werden die der Untergrundzeit) schaffen. Zentral sind zunächst die Ta- Quellen der Methode am Ende jeder Skizze benannt und las- ten des NSU (Ereignis-Karten A), die ergänzt werden durch sen sich auf diese Weise in der Literatur wiederfinden. Al- bedeutende Schlüsselereignisse (Ereignis-Karten B). Diese lerdings ist davon auszugehen, dass diese Fundstellen nicht verweisen exemplarisch auf Versäumnisse und die rassis- vollständig sind. Einerseits gibt es in der Bildungsarbeit tische Dimension der Ermittlungen sowie auf das migran- einen zentralen Weg der Weitergabe von Methoden durch tisch-situierte Wissen und das Mitwissen der Nazi-Szene. mündliche Tradierung und konzeptionelle Weiterentwick- lungen in der täglichen Arbeit, dessen Verlauf nicht immer Vorbereitung vollständig nachzuzeichnen ist. Andererseits werden ähnli- • Vorbereitung eines Zeitstrahls von 1996 bis heute auf che Methoden unter sehr unterschiedlichen Benennungen Metaplanpapier an einer großen Pinnwand oder an einer verwendet und unterscheiden sich zudem — da sie ja Pass- freien Wand mittels Klebestreifen. genauigkeit im Einsatz benötigen — in vielen kleinen Details. • Daten von Ereignis-Karten B abschneiden. Daher wurde in den Methodenskizzen die Formulierung „in • Aufkleben von Ereignis-Karten A und der Daten von Ereig- Anlehnung an“ verwendet, wenn schriftliche Quellen ge- nis-Karten B entlang des Zeitstrahls. nannt sind. Materialien, die in den Methoden zum Einsatz • Eine umfangreiche Chronik des NSU-Komplexes bis 2012 kommen, wie Textpassagen aus Akten, Medien oder Litera- findet sich im Magazin der rechte Rand (www.der-rechte- tur, sind verschiedentlich nur exemplarisch abgedruckt, da rand.de/wp-content/uploads/Chronik_drr_zur-NSU_2012. ihr Umfang eine Komplettdarstellung nicht zulässt. Sie sind pdf). in der Regel im Internet zu finden. 2 siehe S. 42

49 Übungen und Hilfen

Durchführung Die Methode ist auch geeignet, um Fragen für das weitere Seminar zu sammeln. Wie konnte das Trio so lange im Unter- • Dokumentation „Der NSU-Komplex“ wird je nach zeitli- grund leben? Wer hätte von der Mordserie wissen können? chen Ressourcen im Vorfeld oder im Workshop gemein- sam mit den TN angesehen. Mit der Methode lässt sich der NSU-Komplex sowohl an die • Filmgespräch: Klärung von Verständnisfragen und zentra- Biographie der (erwachsenen) TN anbinden als auch in ge- len Personen des NSU (10 min). sellschaftliche Entwicklungen einordnen. • Der Zeitstrahl wird eingeführt. TN bekommen einzeln oder Mit den Erweiterungen sollte das Ziel verbunden sein, Ras- als Kleingruppen die Ereignis-Karten B ohne Daten und sismus als mögliche erklärende Kontinuität des NSU-Kom- sollen diese nach zehn Minuten Orientierungs- und Dis- plexes herauszustellen. kussionszeit im Plenum vorstellen und eine Einordnung anhand des Zeitstrahls vornehmen. Über einen Einstieg hinaus lässt sich die erarbeitete Chrono- • Die Ereignis-Karten werden im Plenumsgespräch ge- logie/Methode auch als fortlaufender (räumlicher) Bezugs- meinsam eingeordnet, ggf. korrigiert und besprochen (ca. punkt im Seminar nutzen. Ob dies auch eine kontinuierliche 15–20 min). Im Gespräch soll auf Schlüsselereignisse­ und Sichtbarkeit im Raum bedeutet oder ob sie nur punktuell Phasen hingewiesen werden. einbezogen wird, hängt von Rahmenbedingungen und Teil- nehmenden ab. Entsprechend bietet die Methode unter- MÖGLICHE ERWEITERUNGEN: schiedlich starke Vertiefungsmöglichkeiten. Vorausgesetzt ist eine grobe thematische Orientierung und Vorbereitung Auf den Zeitstrahl kann im weiteren Seminarverlauf Bezug der Seminarleitung. genommen werden, z. B. spiegeln sich die Ideologie-Elemen- te des Rechtsextremismus in den Taten des NSU wider (Anti- Risiken bestehen in einem Abdriften in Detaildiskussionen semitismus, NS-Verherrlichung, Gewalttätigkeit, Rassismus/ und -nachfragen. Ein Fokus auf Schlüsselereignisse sowie Nationalismus). die Betonung, sich nur eine Orientierung und kein Exper- t_in­nenwissen zu erarbeiten, können dem entgegenwirken. Ebenfalls ermöglicht der Zeitstrahl, die weiteren Dimensio- nen des NSU-Komplexes, die staatlichen Verstrickungen und KEINE SPUR?! — WAS ­WÜRDEN den gesellschaftlichen Rassismus miteinander in Zusam- menhang zu bringen und den Komplex zu vertiefen. NAZIS ­NIEMALS TUN?

Weitere Ereignisse, insbesondere nach 2011, können mittels THEMA selbst entwickelter Ereignis-Karten einbezogen werden. Vorherrschende Vorstellungen und Bilder von Rechten und Für eine Erweiterung nach 2011 wären von Bedeutung: die (Neo-)Nazis, Verschiebung von Rassismus an den sogenann- Orte der institutionellen Aufarbeitung (z. B. Prozess, Unter- ten rechten Rand, Distanzierungspraktiken und ihre Effekte suchungsausschüsse), die daran anschließenden Skandale auf die De-Thematisierung von Rassismus im deutschspra- in der Aufarbeitung sowie im Besonderen die Kämpfe der chigen Raum. Angehörigen der Ermordeten und der Betroffenen der An- schläge und ihre Forderungen nach Aufklärung. ZIELE • Auseinandersetzung mit gesellschaftlich vorherrschen- Mit Erwachsenen kann anschließend an die Methode oder den Bildern und Vorstellungen von (Neo-)Nazis und den zu einem späteren Zeitpunkt eine Reflexion des eigenen Ausübenden rechter, rassistischer Gewalt Erlebens dieser Zeit angestoßen werden. In Form eines • Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Verschie- Plenumsgesprächs können folgende Fragen eine Orientie- bung von Rassismus an einen vermeintlich für sich ste- rung bieten: Was habt ihr damals gemacht? Wie habt ihr die henden sogenannten Rand im Zusammenhang mit dem Zeit vor, während und nach der Zeit des NSU im Untergrund NSU-Terror wahrgenommen? Wie habt ihr die Berichterstattung über • Einblick in Möglichkeiten der De-Thematisierung von Ras- die Mordserie vor und nach der Selbstenttarnung 2011 wahr- sismus im deutschsprachigen Raum genommen? • Auseinandersetzung mit Rassismus als gesamtgesell- schaftlichem Machtverhältnis KONZEPTIONELLE ÜBERLEGUNGEN ZUR ZIELGRUPPE METHODE (CHANCEN UND RISIKEN) • Geeignet für Menschen mit und ohne eigene Rassismus- Die Methode versucht, grundlegende Orientierung im Thema erfahrungen ab 14 Jahren. anhand von Ereignissen zu geben, und ermöglicht darüber hi- • Für diese Methode ist kein theoretisches Vorwissen oder naus, Phasen und unterschiedliche Dimensionen des Komple- eine vorherige Auseinandersetzung mit Rassismus nötig. xes aufzuzeigen. Dadurch können erste Irritationen und offene Wichtig sind Interesse der TN an Auseinandersetzung und Fragen entstehen und festgehalten werden, auf die entweder Bereitschaft zur Selbstreflexion. direkt oder im weiteren Verlauf eines Seminars eingegangen TN-ZAHL werden kann. mind. 4 TN ZEIT 45 min

50 Übungen und Hilfen

MATERIAL geführt wurden. Die TN bekommen die Aufgabe, sich den • Film: Was würden Nazis niemals tun? Film unter folgender Fragestellung anzuschauen: Welche (www.tribunal-spots.net/de/spots/02/) Bilder und Vorstellungen über (Neo-)Nazis werden in diesem • Flipchartpapier Film deutlich? • Stifte Zusammenfassung des Films: DARSTELLUNG DER METHODE Im Film (Länge ca. 3 Minuten) werden Personen auf der Straße befragt, ob sie sich einen Neonazi auf einem Fahr- Grober Aufbau rad vorstellen können bzw. mit welchen Verkehrsmitteln Anmoderation, Vorstellung eines Kurzfilms, Kleingrup- Neonazis sich fortbewegen würden. Die Interviews zeigen, pen-Diskussion und gemeinsame Besprechung der Diskussi- dass die Vorstellungen über (Neo-)Nazis verbunden sind mit onsergebnisse in der Großgruppe sowie Ergänzungen. gesamtgesellschaftlich verbreiteten Beschreibungen wie ungebildet, doof, zu wenig Kohle für ein eigenes Auto, nicht Einführung umweltbewusst, nicht sportlich, nicht friedlich, mit schnel- len Autos, ekelig und prollig und mit als männlich assozi- Es wird ein Kurzfilm gezeigt, der im Rahmen der Vorberei- ierten Merkmalen bzw. Stereotypen oder mit Vorstellungen tungen für das NSU-Tribunal erstellt wurde. Er besteht aus von sozial benachteiligten und einer bildungsfernen Schicht Interviews, die Anfang 2017 in einer deutschen Großstadt zugehörigen Personen. Die interviewten Personen sind alle

EREIGNIS-KARTEN A

6.10.1999, Chemnitz 9. September 2000, Nürn- 25. Februar 2004, 25. April 2007, ­Heilbronn: ­Banküberfall berg: Mord an Blumenhänd- Rostock: Der 25 Jahre alte Michèle Kiesewetter, eine ler Enver S¸ims¸ek. Dönerladen-Aushilfsver- aus Thüringen stammende 27.10.1999, Chemnitz käufer Mehmet Turgut wird 22 Jahre alte Bereitschafts- ­Banküberfall 29. August 2001, ermordet. polizistin, wird erschossen. ­München: Der 38 Jahre alte 30.11.2000, Chemnitz Ihr Kollege überlebt schwer türkische Gemüsehändler 9. Juni 2004, Köln: Nagel­ Banküberfall verletzt. Habil Kılıç wird erschossen. bombenanschlag in der 5.7.2001, Zwickau Keupstraße, 22 Menschen 30. September 1996, Jena: 19. Januar 2001, Köln: ­Banküberfall werden verletzt. Betroffene Die Polizei ­findet auf dem Eine Deutsch-Iranerin wird haben bis heute mit Folgen Ernst-­Abbe-Sportfeld eine 25.9.2002, Zwickau in einem Lebensmittel­ des Anschlags wie Verlet- Bomben­attrappe. Sie be- ­Banküberfall geschäft durch einen in zungen und Traumatisierun- steht aus einer rot angestri- einer Keks­dose versteckten 23.9.2003, Chemnitz gen zu kämpfen. chenen, mit der Aufschrift Sprengsatz schwer verletzt. ­Banküberfall „Bombe“ und einem schwar- Hinweise darauf, dass das 9. Juni 2005, ­Nürnberg: zen Hakenkreuz auf rundem 14.5.2004, Chemnitz Trio hinter dem Anschlag Der 50 Jahre alte Besitzer weißem Grund versehenen ­Banküberfall steckt, finden sich auf der in Ismail Yas¸ar wird an seinem Holzkiste und enthält einen der Zwickauer Brandruine Dönerstand ermordet. 18.5.2004, Chemnitz Kanister mit Granitsplitt und gefundenen DVD. ­Banküberfall 15. Juni 2005, ­München: einem Rohrstück. 13. Juni 2001, Nürnberg: Der 41-jährige Theodoros 22.11.2005, Chemnitz 17. August 1996, Worms: Der 49 Jahre alte türki- Boulgarides wird in seinem Banküberfall Zschäpe, Mundlos, Wohl­ sche Änderungsschneider Laden, einem Schlüssel- leben und Gerlach nehmen 5.10.2006, Zwickau Abdurrahim Özüdog˘ru wird dienst, erschossen. an einer unangemeldeten ­Banküberfall ermordet. 4. April 2006, ­Dortmund: Demonstration zum Geden- 7.11.2006, Stralsund 27. Juni 2001, ­Hamburg: In den Mittagsstunden wird ken an den Tod von Rudolf ­Banküberfall Der Obst- und Gemüse- an ­einer vielbefahrenen Heß teil. 8.1.2007, Stralsund händler Süleyman Tas¸köprü Straße der türkischstämmi- ­Banküberfall wird in der Schützenstraße ge Kioskbesitzer Mehmet ermordet. Kubas¸ık mit mehreren Kopf- 7.9.2011, Arnstadt schüssen getötet. ­Banküberfall 6. April 2006, Kassel: 4.11.2011, Eisenach Halit Yozgat, der 21 Jahre ­Banküberfall alte türkische Betreiber eines Internetcafés, wird mit Kopfschüssen ge­tötet.

51 Übungen und Hilfen

deutschsprachig und würden in der Gesellschaft als Weiße Austausch in Kleingruppen: Deutsche gelesen werden. Im Anschluss an die Filmvorführung finden sich Kleingrup- Im Film wird thematisiert, wie an mehreren Tatorten des NSU pen von 2–4 Personen, die (10–15 Minuten) besprechen, was Zeug_innen Weiße Radfahrer beobachtet haben und wie die sie im Film gesehen haben, und diskutieren, welche Vorstel- Ermittler_innen (Neo-)Nazis als Täter ausschließen. Ein Kri- lungen über (Neo-)Nazis in den Interviews deutlich werden. minaloberrat wird mit seiner Aussage von 2013 im bayeri- schen NSU-Untersuchungsausschuss zitiert, die lautet, er Austausch in der Großgruppe: habe noch nie einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen. Mit allen TN wird auf einem Flipchart gesammelt, welche Vorstellungen über (Neo-)Nazis aus den Interviews­ für die Kleingruppen deutlich wurden. Gibt es noch weitere Punkte, die den TN in diesem Zusammenhang im Kurzfilm wichtig waren?

EREIGNIS-KARTEN B

1998/1999 Zielfahnder 6. April 2006, Kassel Ein Sommer 2011, Fehmarn auf einem Schweigemarsch des LKA haben Böhnhardt, Beamter des hessischen Zschäpe macht Frühsport „Kein 10. Opfer!“. Mundlos und Zschäpe aufge- Verfassungsschutzes, der im NDR-Fernsehen. 26. Dezember 1997, Jena spürt. Das Spezialeinsatz- für die Führung von V-Per- 14. April 1996 Böhnhardt Spaziergänger_innen ent- kommando ist alarmiert. sonen aus der extremen hängt einen Puppentorso decken an der Gedenkstätte Szene verantwortlich ist, Mai 2006, Kassel Angehö- mit gelbem Judenstern an für den 1944 erschossenen war kurz vor oder während rige und Freund_innen des eine Autobahnbrücke. Häftling des KZ Buchen- des Mordes an Halit Yozgat ermordeten Halit Yozgat for- wald Magnus Poser auf in dessen Internetcafé. 23. Juni 1999, Nürnberg dern auf einem Schweige- dem Nordfriedhof einen mit Sprengstoffanschlag: Eine marsch „Kein 10. Opfer!“. Ca. 4. November 2011, Eise- einem Hakenkreuz bemalten Reinigungskraft entdeckt 4000 Menschen, vor allem nach Nach einem Bank­ Koffer, der im Nachhinein eine Lampe in einer Toilette aus migrantischen Commu- überfall werden Böhnhardt Mundlos, Böhnhardt und und schaltet sie an. Darauf- nities, nehmen daran teil. und Mundlos tot in ihrem Zschäpe zugeordnet wird. hin gibt sie ein summendes ausgebrannten Wohnmobil 26. Januar 1998 Böhn- Geräusch von sich und ex- 11. November 2011, Köln gefunden. In Zwickau geht hardt, Mundlos und Zschäpe plodiert. Der Mann erleidet Während des Karnevals ihre Wohnung in Flammen tauchen unter. zum Glück aber nur leichte schreddert ein ­Beamter im auf. In den Trümmern Verletzungen, da die Bombe Bundesamt für Verfassungs- 2002 Danksagung an werden Waffen und eine fehlerhaft konstruiert ist. schutz Akten über V-Perso- den NSU in der Neo­nazi- DVD entdeckt, mit einem nen in der rechten Szene. Zeitschrift Weißer Wolf. Bekenntnis zu den Morden 8. November 2011, Jena „Vielen Dank an den NSU, es und einigen Anschlägen. Zschäpe stellt sich der Poli- hat Früchte getragen ;-) Der zei und wird wegen dringen- 26. September 1996 Kap- Kampf geht weiter ...“. den Verdachts der Grün- ke, Mundlos, Böhnhardt und dung der Neonazi-Gruppe 2010 Veröffentlichung des Wohlleben nehmen an der Nationalsozialistischer Liedes „Döner-Killer“ der Verhandlung des vorbestraf- Untergrund (NSU) festge- Rechtsrock-Band „Gigi und ten Rechtsterroristen und nommen. die braunen Stadtmusikan- Holocaustleugners ­Manfred ten“. Im Lied werden die Roeder teil. 2. September 1997, Jena Mordserie und die laufenden Eine Bombe mit einigen 26. Januar 1998, Jena Die Ermittlungen besungen. In Gramm TNT — allerdings Polizei durchsucht sieben rassistischer Sprache wird ohne Zündvorrichtung — Wohnungen und Garagen von der Angst und Verunsi- wird in einem mit einem mutmaßlicher Rechtsex- cherung innerhalb migran- Hakenkreuz bemalten Koffer tremisten im Zuge einer tischer Communities durch vor dem Theaterhaus Jena Razzia. In einer von Zschäpe die Morde gesungen. Das abgelegt, der im Nachhinein angemieteten Garage heben Lied endet mit der Ankün- Mundlos, Böhnhardt und die Beamten eine Bomben- digung: „Der Döner bleibt Zschäpe zugeordnet wird. werkstatt aus. Böhnhardt im Halse stecken, denn er ist bei der Durchsuchung Juni 2006, Dortmund kommt gerne spontan zu Be- anfangs anwesend, steigt in Angehörige und Freun­- such, am Dönerstand, denn sein Auto und fährt weg. d_innen des ermordeten neun sind nicht genug.“ Mehmet Kubas¸ık fordern

52 Übungen und Hilfen

Im nächsten Schritt wird der Realitätsgehalt dieser Bilder dis- kutiert. Entsprechen die genannten Vorstellungen und Bilder Hrsg.: Arbeit und Leben DGB/VHS Hamburg e.V. — der Realität und den Erfahrungen, die die TN haben bzw. ken- Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus nen? Gibt es Beispiele, für die diese Bilder nicht zutreffen? Hamburg (MBT) Als Beispiele für die Diskussion können auch folgende As- Das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus pekte angerissen werden: Beate Zschäpe als nette Nachba- Hamburg ist ein Projekt von Arbeit und Leben DGB/ rin, hütet die Katze, wird als weibliche Täterin nicht ernst VHS Hamburg e.V. genommen, Radfahrer werden für mehrere Tatorte von Das Mobile Beratungsteam Hamburg informiert und Zeug_innen benannt und in Ermittlungsakten festgehalten, berät zu Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemi- aber von Ermittlungsbehörden als Täter ausgeschlossen, tismus. Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen rechte ökologische Bewegung, Mitglieder auf rechten De- können sich an sie wenden, wenn sie mit Vorfällen kon- monstrationen und in rechten Gruppen, Vereinen und Par- frontiert sind, die einen rassistischen, rechtsextremen teien, die aus bildungsnahen und sozial (sehr) gut gestellten oder antisemitischen Hintergrund haben. Milieus kommen uvm. … Projekt: empower. Beratungsstelle für Betroffene rech- Weiterführend kann im nächsten Schritt eine Diskussion ter, rassistischer und antisemitischer Gewalt darüber angestoßen werden, welche Konsequenzen solche Vorstellungen und Bilder haben, welche Effekte sie für das Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Perspektive der Be- Sprechen bzw. Nichtsprechen über Rassismus als gesamtge- troffenen. Die Beratung ist vertraulich, parteilich und sellschaftliches Problem haben. Konkret können auch diese kostenlos. Sie arbeiten unabhängig von Behörden und Fragen diskutiert werden: Welche Auswirkungen haben die- auf Wunsch anonym. Bei Bedarf kann in verschiedenen se Vorstellungen auf die gesellschaftliche Auseinanderset- Sprachen beraten werden. zung mit dem NSU-Terror sowie auf die Ermittlungsbehör- den? Was passiert dabei?

KONZEPTIONELLE ÜBERLEGUNGEN ZUR METHODE (CHANCEN UND RISIKEN) Es empfiehlt sich, die Methode in einem Team von einer Per- son mit und einer Person ohne eigene Rassismuserfahrun- gen oder nur mit Personen mit eigenen Rassismuserfahrun- gen durchzuführen. www.tinyurl.com/y4hk33wa Es ist wichtig, dass das Team sich bereits inhaltlich mit Ras- sismus und seinen Formen und Funktionsweisen auseinan- dergesetzt hat. Wichtig sind eigene Auseinandersetzungen zum NSU-Kom- plex. Zudem ist es wichtig, dass das Team Erfahrungen in positio- nierter Auseinandersetzung mit Rassismus hat, d. h. sich mit eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen und Privilegien und deren Bedeutung für pädagogisches Handeln beschäftigt. Eine Chance der Methode besteht darin, dass Menschen mit und ohne Rassismus Erfahrungen gleichermaßen von ihr lernen können. Die Methode erlaubt, dass alle Teilnehmen- den für sich Bezüge zu ihrer Lebensrealität und ihren Er- fahrungen in rassistischen Verhältnissen herstellen können. Eine Chance der Methode ist es, sich niedrigschwellig dem NSU-Komplex anzunähern. Es besteht wie bei allen Methoden auch hier die Gefahr, dass die Diskussion in andere Themenbereiche abdriftet. Daher ist es wichtig, sie zu moderieren und immer wieder auf die zentralen Fragestellungen zurückzukommen.

53 Übungen und Hilfen

heraus­posaunten rassistischen Spruch ausführlich, nach Kurzbeschreibung: den eigenen Maßstäben einer sachlichen Argumentation zu In sozialen Netzwerken, widerlegen. am Stammtisch, im Be- Für den Umgang mit diskriminierenden Äußerungen in sol- kanntenkreis, überhaupt chen oder ähnlichen Situationen erscheint es demnach zu- im öffentlichen Raum wird nächst wichtig, die eigenen Ansprüche zu präzisieren, um rechte Hetze verbreitet. somit auch die daran geknüpften Handlungsoptionen realis- Die Broschüre gibt Tipps, tisch(er) einschätzen zu können. Zu hohe Ansprüche, etwa wie reagiert werden die aufgestellte Behauptung in der Situation unbedingt wi- kann. Die Hilfestellungen derlegen oder mein Gegenüber zur Einsicht bringen wollen, orientieren sich dabei an können auch lähmend wirken. Ein realistisches Ziel könnte konkreten Situationen, jedoch darin bestehen, die eigene Haltung deutlich zu ma- z. B. bei Veranstaltungen, chen, den Pöbeleien Einhalt zu gebieten oder auch (und vor im öffentlichen Raum oder allem!) mit den von diskriminierenden Äußerungen Betrof- auch in der Familie. fenen solidarisch zu sein und ihnen Unterstützung anzubie- ten. Hierfür bedarf es keiner ausgefeilten Argumentation. Im Gegenteil: Es reichen zwei oder drei für alle Beteiligten und Umstehenden deutlich vernehmbar und entschlossen ausgesprochene Sätze. Diese könnten, etwa in Konfrontati- Mit Rechten streiten?! on mit dem älteren Herrn an der Supermarktkasse, folgen- Zum Umgang mit rechtspopulistischen dermaßen lauten: „Ich möchte Sie bitten, Ihre abwertenden und rassistischen ­Herausforderungen und diskriminierenden Äußerungen zu unterlassen. Es kann (S. 20–25) nicht angehen, dass hier andere Kundinnen und Kunden (Mobile Beratung im Regierungsbezirk ­Münster. Gegen beleidigt werden. Ich will das nicht hören und anderen hier Rechtsextremismus, für Demokratie ­(mobim) im Ge- geht es ganz bestimmt genauso!“ Ein derart formuliertes schichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster) Statement kann in zweierlei Hinsicht Wirkung erzielen. Zum einen unterbricht die verbale Intervention den Redefluss der pöbelnden Person, die oftmals regelrecht in Rage gerät und das Schweigen der Umstehenden als Zustimmung inter- Positionieren und solidarisieren pretiert. Zum anderen kann eine klare Positionierung auch als Signal für jene Unentschlossenen und Verunsicherten Was tun bei Diskriminierung dienen, sich ebenfalls einzumischen. Irgendjemand muss in der Bahn und am Gartenzaun? nur den ersten Schritt wagen... Wichtig dabei ist, gegenüber der pöbelnden Person ruhig Die Auseinandersetzung mit ausgrenzenden und diskrimi- zu bleiben — ihr zwar mit einem entschlossenen Statement nierenden Äußerungen im öffentlichen Raum birgt andere entgegenzutreten, dabei aber selbst auf Beschimpfungen, Herausforderungen als der Umgang mit entsprechenden persönliche Beleidigungen und aggressiv-drohende Gesten Parolen an den sprichwörtlichen „Stammtischen“, im Fami- zu verzichten. Es bedarf einer klaren Ansprache wogegen lien- und Freundeskreis oder bei Veranstaltungen wie etwa (Rassismus, Diskriminierung, abwertende Pauschalisierun- BürgerInnenversammlungen. gen) sich die Intervention richtet. Bisweilen können auch Schlagfertigkeit und Ironisierungen Pöbelnde aus dem Kon- Diskriminierende Situationen im öffentlichen Raum lassen zept bringen. sich als vorwiegend spontane Konstellationen charakterisie- ren. Die Beteiligten — Pöbelnde, die von den Anfeindungen Natürlich: Nicht jeder Mensch ist schlagfertig und in emo- Betroffenen, Umstehende und ZuschauerInnen — kennen tionalen und spontanen Situationen ist es gar nicht so ein- sich in der Regel nicht. Dem älteren Herren an der Super- fach, einen klaren Satz zu formulieren und mit diesem dann marktkasse oder den drei Studenten in der Straßenbahn selbstbewusst Stellung zu beziehen. Jedoch ist es möglich, begegne ich mit großer Wahrscheinlichkeit nur in dieser selbstbewusstes Auftreten zumindest ansatzweise zu spezifischen Situation. Insofern sind deren Verhaltens- und üben. Zahlreiche Bildungsinitiativen bieten beispielsweise Reaktionsweisen nur schwer einzuschätzen. Unklar bleibt Argumentations- und Zivilcouragetrainings an. Sinnvoll in den allermeisten Fällen auch, ob es gemeinsam geteil- kann es darüber hinaus sein, für sich persönlich intervenie- te Konventionen gegenseitigen Respekts gibt, auf deren rende Sätze zurechtzulegen, aufzuschreiben und diese sich Grundlage eine sachliche Diskussion möglich oder über- selbst oder vertrauten Menschen immer mal wieder laut haupt gewünscht ist. Die Rahmenbedingungen erweisen vorzulesen. Dabei geht es nicht um „auswendig lernen“, sich zudem als in der Regel denkbar ungeeignete Orte, da- sondern darum ein Gefühl dafür zu bekommen, selbstbe- rüber eine Verständigung zu erzielen. Die Kurzfristigkeit wusst eine Botschaft zu formulieren. Das eigene Selbstbe- der Situation schränkt die Handlungsmöglichkeiten weiter wusstsein wächst auch mit der Wahrnehmung, in diskrimi- ein, fällt es doch schwer einen zwischen zwei Haltestellen nierenden Situationen nicht auf sich allein gestellt zu sein.

54 Übungen und Hilfen

Von zentraler Bedeutung ist daher zum einen, die Umste- mit den Aussagen oder der Haltung einer Person auseinan- henden zu einer entschlossenen Positionierung zu er- dersetzen muss, die mir weniger nahesteht oder die ich gar mutigen, zum anderen aber auch vor Ort Verantwortliche nicht kenne. in die Pflicht zu nehmen. Bei fortgesetzten rassistischen Es ist etwas Anderes, an der Bushaltestelle oder in der Su- Pöbeleien im Zug sollte demnach der/die SchaffnerIn auf- permarktschlange den „blöden Spruch“ eines unbekannten merksam gemacht werden, da es seine/ihre Aufgabe ist, Menschen zu kontern, als wenn die Mitbewohnerin oder der solche zu unterbinden. Selbiges ist die Aufgabe der Mitar- Onkel neben mir am Küchentisch sitzt und ressentimentge- beiterInnen eines Supermarkts. Dies kann mit dem Verweis ladene Phrasen in die Welt posaunt. Widersprechen kann auf die Hausordnung geschehen. Zahlreiche Verkehrsbe- ich hier zwar auch, aber die Situation ist damit in der Regel triebe, Ladenketten und andere öffentliche Einrichtungen nicht beendet: Früher oder später wird man nämlich aller verfügen darüber hinaus mittlerweile über Leitbilder und Wahrscheinlichkeit nach in ähnlicher Konstellation wieder Außen­darstellungen, die Offenheit und Inklusion hervor- an den Küchentisch und so in die Diskussion zurückkehren. heben und sich von diskriminierenden Verhaltensweisen Außerdem spielt die Emotions- und Beziehungsebene eine distanzieren. Bei Übergriffen und Bedrohungen ist es Auf- zentralere Rolle, so dass es häufig auch ein viel dringliche- gabe der vor Ort Verantwortlichen umgehend die Polizei zu res Interesse gibt, im Gespräch zu bleiben und mit dem Ge- informieren. Geschieht dies nicht oder sind die eigentlich genüber in einen Austausch über die jeweiligen Aussagen Zuständigen sogar UrheberInnen der diskriminierenden und Positionen zu kommen. Sprüche, sollten diese auf die möglichen Konsequenzen ihres Tuns bzw. ihres Unterlassens hingewiesen werden — Auch für Auseinandersetzungen im privaten Umfeld gilt verbunden mit dem Hinweis, sich über das Verhalten bei es, herauszufinden: Welches Ziel verfolge ich in der jewei- der jeweiligen Leitungsebene zu beschweren. Unabhängig ligen Situation? Was will und kann ich erreichen? Möchte davon, ob Verantwortliche ansprechbar sind, ist es gera- ich mein Gegenüber um jeden Preis überzeugen und zum de im Falle von Übergriffen und bedrohlichen Situationen Umdenken bewegen? Will ich meine eigene Haltung zumin- wichtig, Öffentlichkeit herzustellen. Auch in diesen Kon- dest verständlich machen und so einen Perspektivwechsel texten ist es hilfreich, Umstehende gezielt ein­zubeziehen anbieten? Möchte ich die geäußerte Position auf keinen und zum Handeln zu animieren, etwa durch die Aufforde- Fall unwidersprochen stehen lassen? Oder will ich vielleicht rung: „Hier wird ein Mensch bedroht. Sie, mit der bunten einfach verhindern, dass die Diskussion im Streit eska- Mütze, rufen Sie sofort die Polizei!“ liert? Im letzten Fall kann es sich lohnen, die Diskussion so „schonend“ wie möglich zu beenden oder zu unterbrechen Bei aller Fokussierung auf den/die UrheberIn der diskrimi- — möglicherweise verbunden mit dem Angebot, zu einem nierenden Sprüche sollten jedoch keinesfalls die von den anderen Zeitpunkt weiter zu diskutieren, da jetzt nicht der Anfeindungen Betroffenen aus dem Blick geraten. Empathie Zeitpunkt dafür sei: „Ich habe dazu eine andere Meinung, und Solidarität kann auf unterschiedliche Weise zum Aus- aber vielleicht diskutieren wir lieber später darüber. Jetzt druck gebracht werden. Manchmal ist es schon ein freund- hat Carla Geburtstag und wir wollten Torte essen und ihr licher Blick, der Betroffenen das Gefühl gibt, nicht alleine einen schönen Geburtstag bereiten.“ zu stehen. Ein weiterer Schritt sollte sein, die Betroffenen gezielt anzusprechen und ihnen Unterstützung anzubieten, Wenn ich mit meinem Gegenüber im Gespräch bleiben will, diese jedoch nicht aufzudrängen. ist es wichtig, ihn oder sie in ihrer Meinung erst einmal ernst zu nehmen, ruhig und sachlich zu bleiben und mich Von Flüchtlings- und Familienkrisen nicht von Wut oder Ärger über das Gesagte leiten zu las- sen. Stattdessen hat es sich als Strategie bewährt, immer Was tun mit Parolen am Küchen- wieder genau nachzufragen und um Konkretisierungen tisch?! der Problembeschreibung­ zu bitten. So hat mein Gegenüber die Möglichkeit, eigene Widersprüche in der Argumentation Die gesellschaftlichen Kontroversen entlang des Themas selbst zu erkennen. Grundsätzlich hilft es außerdem, darauf Flucht, Asyl und Zuwanderung beschränken sich keines- zu achten, sich in der Diskussion nicht von einer (unbeleg- wegs auf den öffentlichen Raum oder auf Orte dezidiert ten) Behauptung zur nächsten jagen zu lassen, sondern im politischer Auseinandersetzungen. Sie reichen bis in private Zweifel einzufordern, bei einem Thema zu bleiben und die- Beziehungen, Familien und Freundschaften hinein, und auch ses zu Ende zu diskutieren. Verfolgt man das Ziel, sein Ge- hier gilt: Ist das Thema erst einmal angesprochen, prallen genüber zum Überdenken der eigenen Position anzuregen, nicht selten grundlegend gegensätzliche Haltungen und Po- kann es hilfreich sein, auf die Konsequenzen hinzuweisen, sitionen aufeinander. Das kann zu Diskussionen oder zu aus- die die geäußerte Haltung, Forderung oder Behauptung gewachsenen Streitereien führen. Die Kontroversen können ganz konkret hätte. Vor allem durch intensives Nachfragen aber auch persönliche Verunsicherung oder Enttäuschun- besteht die Möglichkeit, herauszufinden, worum genau es gen hervorrufen, weil man im eigenen Freundes- und Famili- meinem Gegenüber eigentlich geht: um eine tatsächliche enkreis bestimmte Haltungen entweder nicht erwartet hätte konkrete Sorge, um eine gezielte Kritik an einem Umstand? oder sie besonders schwer erträglich findet. Oder lediglich darum, pauschale Verurteilungen und Res- Aus einer solchen Situation ergeben sich unter Umständen sentiments gegen „die Flüchtlinge“, „die Politik“ oder „die ganz andere Handlungsunsicherheiten, als wenn ich mich Gutmenschen“ zu artikulieren? Im ersten Fall ist es durch-

55 Übungen und Hilfen

aus denkbar, eine konstruktive Gesprächsebene zu finden, ƒƒ Ruhig und sachlich bleiben Auseinandersetzungen im im zweiten Fall werde ich womöglich zu dem Schluss kom- Bus, an der Kasse oder der Kaffeetafel sind anstrengend men, leider keine gemeinsame Basis zu finden. und machen wütend. Die Emotionalisierung der Ausein- andersetzung ist aber Teil des Mechanismus von Parolen Eine solche Situation kann im familiären Kontext oder im nä- und Rechtspopulismus. Daher empfiehlt es sich, mög- heren Freundeskreis natürlich besonders belastend sein. Die lichst nüchtern zu argumentieren und sich nicht aus der eigenen „Grenzen der Gesprächsbereitschaft“ aufzuzei- Ruhe bringen zu lassen. gen, die Situation zu verlassen oder die Diskussion begrün- det abzubrechen funktioniert für Auseinandersetzungen im ƒƒ GesprächspartnerInnen ernst nehmen Je privater die privaten Bereich nur bedingt. Natürlich ist es möglich, Wi- Situation ist, desto wichtiger ist es, das jeweilige Gegen- derspruch zu äußern oder deutlich zu machen, dass man die über wertzuschätzen und möglicherweise geäußerte Er- Diskussion an dieser Stelle aus bestimmten Gründen nicht fahrungen ernst zu nehmen. Damit ist nicht gemeint, auf weiterführen möchte. Dennoch bleibt der Konflikt anders Diskriminierungen und Vorurteile positiv einzugehen. Es „im Raum stehen“. geht vielmehr darum, die Grundlage für eine sachliche Auseinandersetzung zu schaffen. Eine Voraussetzung da- für ist natürlich, dass es bei der betreffenden Person ein Was tun im Streitfall? wirkliches Interesse an einem Gespräch gibt. auch im privaten Umgang mit Rassismus und Rechtspopu- lismus hilft es, vorbereitet zu sein. sich über eigene Ziele und Möglichkeiten Gedanken zu machen kann helfen, das Hrsg.: mobim. Mobile Beratung im Regierungsbezirk Gefühl der „Ohnmacht“ zu überwinden: Münster Gegen Rechtsextremismus, für Demokratie ƒƒ sich über die eigenen Ziele klar werden Oft stellen wir c/o Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster sehr hohe Ansprüche an uns. Über mein persönliches mobim unterstützt und berät alle, die sich im Regie­ Ziel in möglichen Auseinandersetzungen nachzudenken, rungsbezirk Münster gegen Rechtsextremismus hilft in konkreten Situationen, den Überraschungsmo- und für Demokratie engagieren wollen. Sie ­stellen ment von „Stammtischparolen“ zu überwinden. Nicht je- bei Problemen und Unsicherheiten im Umgang­ de/r lässt sich überzeugen, aber es lohnt sich, die eigene mit rassistischen, antisemitischen oder anderen­ Perspektive deutlich zu machen. ­diskriminierenden Herausforderungen Handlungs­ ƒƒ Handlungsmöglichkeiten präzise einschätzen Ist es sicherheit wieder her. sinnvoll, mich jetzt einzuschalten? Bringe ich mich selbst in Gefahr? Oder gibt es die Möglichkeit, Verbündete zu suchen und Verantwortliche in die Pflicht zu nehmen? Entsprechend der eigenen Ziele ist es in Ordnung, nicht in jeder Situation einzuschreiten, sondern genau entlang der eigenen Möglichkeiten zu entscheiden. ƒƒ klare Positionierung Durch eine deutlich geäußerte Positionierung kann zum einen die übergriffige Person gestoppt oder verunsichert werden, zum anderen wirkt eine solche klare Äußerung vor allem auf die Umstehen- www.tinyurl.com/ycgvwcr5 den. Unsicheren Beteiligten, aber auch Menschen, die selbst einschreiten wollen, können so Orientierung und Handlungsimpulse gegeben werden. ƒƒ Solidarität mit Betroffenen zeigen Im Mittelpunkt der Überlegungen sollten immer die Betroffenen der Aggres- sion stehen: Wie geht es ihnen, wollen sie Unterstützung, können sie gestärkt werden? Direkte Nachfragen und An- sprachen — „Kann ich Ihnen helfen?“ oder „ nicht damit einverstanden, was Ihnen gerade passiert!“ — kön- nen hier hilfreich sein und auch den PöblerInnen zeigen, dass die Betroffenen nicht alleine sind. ƒƒ Nachfragen und Konkretisieren Das Springen von einer Parole zur anderen ist zentrales Merkmal rechtspopulisti- scher Rhetorik — wer dagegen argumentiert, kommt sehr schnell in die Defensive und kann nur reagieren. Direkt nachzufragen, auf einzelne Punkte konkret einzugehen und bei einem Thema zu bleiben sind hier aussichtsrei- che Strategien, um selbst wieder ins Agieren zu kommen.

56 Übungen und Hilfen

Fallbeispiele Kurzbeschreibung: In ländlichen Gebieten ist der Umgang mit Rechts- Die Entstehung und Arbeit eines Bürger­ extremismus häufig von bündnisses in einer Thüringer Kleinstadt1 Unsicherheiten geprägt. Seit dem Jahr 2002 kam es in einer thüringischen Klein- Die Handreichung enthält stadt immer wieder zu Übergriffen aus der rechtsextremen praxisnahe Handlungs- Szene. Neben nicht-rechtsextrem orientierten Jugendlichen empfehlungen, die sich wurden auch Imbissstände von Bewohner/-innen nichtdeut- vor allem an so genannte scher Herkunft angegriffen. Zu dieser Zeit herrschte ein „wirkmächtige“ Personen Klima der Einschüchterung aufgrund der zunehmenden aus Politik und Verwal- Dominanz der rechtsextremen Szene in der Stadt, sodass tung, aber auch aus Zivil- sich die Opfer dieser Angriffe aus Angst meist nicht in die gesellschaft, Schule oder Öffentlichkeit wagten. Vor diesem Hintergrund fand sich im Jugendarbeit richten. Jahr 2003 eine kleine Gruppe engagierter Bürger/-innen zusammen. Es handelte sich um Mitglieder der evangeli- Gemeinsam handeln: für Demokratie in ­unserem schen Kirchengemeinde, die Leiterin des Jugendklubs und Gemeinwesen! einige Jugendliche. Mit Unterstützung externer Beratung (S. 62–73) wurde eine Zusammenkunft von Vertreter/-innen der Stadt, (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement) Schulleitungen und Jugendlichen organisiert, bei der sich herausstellte, dass die Bedrohlichkeit der Situation sehr un- terschiedlich eingeschätzt wurde. Die Gruppe konnte sich Aufbau von Initiativen und daher nicht zu einem gemeinsamen Handeln entschließen. ­Empfehlungen für die Praxis Das Problem wurde jedoch mit Unterstützung von externen Berater/-innen im Jahr 2004 im Rahmen einer öffentlichen Diskussionsrunde erneut behandelt. Auch hier zeigte sich Herausforderungen eine sehr unterschiedliche Problemwahrnehmung. Nach- dem noch in derselben Nach ein Döner-Imbiss angegriffen Problembewusstsein als Voraussetzung wurde, gründete sich daraufhin eine Bürgerinitiative, getra- für die gemeinsame Auseinandersetzung gen von den Kirchengemeinden und parteipolitischen Ver- treter/-innen. Dieses Bündnis sah sich mit einer im Laufe Bei der Auseinandersetzung mit rechtsextremen Vorfällen des Jahres erstarkenden rechtsextremen Szene im gesam- und Aktivitäten in einer ländlichen Gemeinde ist es grund- ten Landkreis konfrontiert. Die Aktivitäten des Bündnisses legend, dass Menschen in der Gemeinde, die das Problem reichten von Friedensgebeten, über Mahnwachen bis hin zu wahrnehmen, bereit sind, sich dazu zu positionieren und Menschenketten. Nach einigen Monaten stand die Region gewillt sind, Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Ge- dennoch aufgrund der zunehmenden rechtsextremen Akti- meinsam sollten diese Personen Formen der Auseinander- vitäten im Fokus der regionalen Presse. setzung festlegen — ob in Form einer Initiative, eines Bünd- nisses, eines Runden Tisches oder in anderer Weise. Eine Aus der Initiative entwickelte sich deshalb kurz darauf ein Kommune, die von rechtsextremen Aktivitäten betroffen ist, „Bündnis gegen Rechts“, in dem Vertreter/-innen der Kir- die das Problem erkennt, es analysiert und sich aktiv entge- chen, alle im Stadtrat vertretenen Parteien, das örtliche Ju- genstellt, kann das Einschüchterungspotenzial der rechts- gendzentrum, die Jusos sowie die Junge Gemeinde einge- extremen Szene deutlich reduzieren. bunden waren. Schon einen Monat nach der Gründung des Bündnisses wurde eine große Veranstaltung organisiert, an Unterschiedliche Problemwahrnehmungen der sich 500 Menschen beteiligten. Dort gelang es erstmals, einen breiten Querschnitt der städtischen Bevölkerung zu Die Entscheidung, eine Initiative zu gründen oder in einem mobilisieren. Im Verlauf entschloss sich das Bündnis dazu, Bürgerbündnis zusammen zu arbeiten, bringt zu Beginn nicht mehr nur auf rechtsextreme Aktivitäten zu reagieren, häufig zahlreiche unterschiedliche Sichtweisen der Betei- sondern auch aktiv gegen Rechtsextremismus zu agieren. ligten zum Vorschein. Die bestehenden Probleme mit dem So entwickelten die Bündnispartner/-innen mit Unterstüt- in der Gemeinde in Erscheinung tretenden Rechtsextremis- zung durch externe Beratung ein Jahresprogramm. Es fand mus werden mitunter sehr verschieden von den beteiligten infolgedessen eine verstärkte inhaltliche Auseinanderset- Akteuren eingeschätzt. Einige beurteilen den Rechtsextre- zung mit dem Rechtsextre­ ­mismus (bspw. durch Fortbildun- mismus möglicherweise eher als Jugendproblem, während andere den Ort als Zentrum rechtsextremer Aktivitäten in der Region betrachten. Die Wahrnehmung des Problems 1 Dieses Fallbeispiel wurde mit freundlicher Genehmigung des Landes­ und das Problembewusstsein sind zum Teil sehr different büros Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung auf Grundlage der Darstellungen in der Publikation „Signale für Demokratie. Beispiele und erfordern daher eine klare Situationsanalyse und eine für die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Rechts- gemeinsame Verständigung über die Problematik in der extremismus“ übernommen (https://library.fes.de/pdf-files/bueros/ Kommune. erfurt/04880.pdf)

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gen, Ausstellungen, Veranstaltungen etc.) in den relevanten Fortbildungen des Regionalzentrums gesellschaftlichen Bereichen des Gemeinwesens statt. Das ­Demokratische Kultur mit Volontär/-innen Klima in der Stadt hat sich aufgrund dieses weitreichenden Engagements so gewandelt, dass nunmehr die Probleme des Nordkuriers offen angesprochen und ausgehandelt werden und mehr Das Regionalzentrum für demokratische Kultur Südvorpom- Menschen Mut dazu haben, sich gegen Rechtsextremismus mern führt regelmäßig mit Volontär/-innen des „Nordkurier“ zu engagieren Fortbildungen zum Thema „Rechtsextremismus und Medi- en“ durch. Darin werden die Grundlagen über die Struktu- Das Bürgerbündnis ren, Strategien und den Lifestyle der rechtsextremen Szene „Unsere Gemeinde ist bunt“ in der Region vermittelt. Insbesondere die Öffentlichkeits- arbeit durch rechtsextreme Parteien und Kameradschaften Seit dem Jahr 2006 ist ein niedersächsischer Ort jährlich sowie deren schlechtes Verhältnis zur Presse werden behan- Ort rechtsextremer „Gedenkmärsche“. delt. Ein weiterer Schwerpunkt besteht in der Analyse von Im gleichen Jahr formierte sich mit einem lokalen Bündnis aktuellen Presseberichten zum Thema Rechtsextremismus. zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen die rechtsextre- Anhand derer werden von den Volontär/-innen Möglichkei- men Aufmärsche. Es bestand zunächst aus einigen Privat- ten des journalistischen Umgangs mit Rechtsextremismus personen aus der Stadt, der örtlichen Jüdischen Gemeinde, erarbeitet und gegeneinander abgewogen. An dieser Stel- Vertreter/-innen der Kommunalpolitik aus unterschiedlichen le wird oft deutlich, dass es journalistisches Feingefühl, Parteien, Lehrer/-innen und Schüler/-innen verschiedener Hintergrundwissen und nicht zuletzt persönlichen Mut be- Schulen, Jugendinitiativen und regionalen Antifa-Gruppen darf, um eine objektive Berichterstattung zu schaffen und sowie Vertreter/-innen von DGB und AWO, welche jedoch gleichzeitig den Rechtsextremisten kein zu großes Podium nicht aus dem Ort kommen. Dieser Kreis zählte 10 bis 15 zu bieten. Letztendlich leisten die Fortbildungen auch eine Personen und setzte sich von Anfang an für ein entschiede- gute Grundlage für eine konstruktive Partnerschaft von Be- nes Auftreten mit Gegenaktivitäten zum gleichen Zeitpunkt rater/-innen und Medienvertreter/-innen. der rechtsextremen Veranstaltung ein, wollte aber darüber hinaus auch einer mit Demonstrationen unerfahrenen Be- Handlungsempfehlungen völkerung ein niederschwelliges Angebot zur Beteiligung anbieten. Aber um die Fragen, welche Art von Aktivitäten Ansprache relevanter Akteursgruppen (Demonstration, Informations- oder Kulturveranstaltung) zu welchem Zeitpunkt mit welchem Ziel (symbolisches Zeichen für gemeinsames vorgehen oder Verhinderung des rechtsextremen „Gedenkmarsches“) Im ersten Schritt der Entstehung einer Initiative oder eines durchgeführt werden sollten, gab es zwischen Kommunal- Bündnisses, welches sich gegen Rechtsextremismus vor Ort politik und dem Bündnis zum Teil starke Kontroversen. Am engagieren möchte, ist es ratsam, dass die Initiativgruppe wenigsten umstritten zwischen dem Bündnis und der ört- es schafft, Menschen vor Ort und insbesondere wichtige lichen Politik und den Vereinen war von Anfang allerdings Schlüsselpersonen zu einem gemeinsamen Treffen zu bewe- die Durchführung von Informations- und Kulturveranstal- gen. Dies kann bspw. in Form einer Informationsveranstal- tungen. tung erfolgen, in der im Austausch miteinander die Erschei- nungsformen des lokalen Rechtsextremismus thematisiert Einige Vertreter/-innen der Kommunalpolitik und lokaler werden. Diese Veranstaltung kann Ausgangspunkt für die Vereine waren jedoch anfangs zögerlich im Hinblick auf an- Gründung einer Initiativgruppe sein, die weitere Schritte zustrebende Aktivitäten. Diejenigen aus dem Kreis der Kom- unternimmt. munalpolitik, die von vornherein im Bündnis mitarbeiteten, waren in ihrem eigenen Umfeld zunächst relativ isoliert. Der Die Suche nach Verbündeten für eine Zusammenarbeit ge- Wendepunkt hin zur aktiven Beteiligung an Gegenaktivitä- gen rechtsextreme Aktivitäten sollte zunächst im engeren ten stellte sich ein, nachdem im Jahr 2009 bekannt wurde, Umfeld beginnen und sich dann im weiteren Umfeld fortset- dass die Rechtsextremen „Trauermärsche“ bis zum Jahr zen, um möglichst alle demokratischen kommunalen Akteu- 2030 in der Stadt angemeldet haben. Es wurde deutlich, re und Verantwortungsträger/-innen einzubinden. dass die rechtsextremen Aufmärsche nicht durch „aktives Zu den potenziellen Partner/-innen, die für die Zusammen- Ignorieren“ wieder von selbst verschwinden würden. In die- arbeit in einem Bündnis gegen rechtsextreme Aktivitäten ser Situation übernahm die politische Spitze des Ortes die gewonnen werden sollten, gehören unter anderem Vertre- Verantwortung. Seither vergrößerte sich die Unterstützung ter/-innen der… von Politik und weiteren gesellschaftlichen Organisationen, • Kommunalpolitik (Verwaltungsspitzen, Mitglieder des indem sie sich erstmals an den Gegenveranstaltungen be- Kreistags/Stadtrats), teiligten. Notwendig für den Erfolg des gesellschaftlichen • Sicherheitsbehörden (Polizei, Verfassungsschutz, Innen- Handelns war ein jahrelanger Prozess beharrlicher Informa- ministerium, Justiz), tionsarbeit, der nach und nach zu einer größeren Sensibili- • Initiativen gegen Rechtsextremismus (z.B. Beratungsstel- sierung bei der Wahrnehmung von rechtsextremen Aktivitä- len für Opfer rechtsextrem motivierter Gewalt), ten geführt hat. • Medien (lokal, regional, ggf. überregional),

58 Übungen und Hilfen

• lokalen Unternehmen, des Rechtsextremismus bilden müssen. Von grundlegenden • Gewerkschaften, politischen Uneinigkeiten, die in der Auseinandersetzung • Kirchengemeinden, mit dem Rechtsextremismus ausgetragen werden, würden • Schulen und Kindertagesstätten, letzten Endes lediglich die rechtsextremen Akteure profitie- • Volkshochschulen, ren. • Nachbarkommunen, Bei Netzwerken, die aus vielen unterschiedlichen Akteurs- • lokalen Vereine (z.B. Freiwillige (Jugend-)Feuerwehr, gruppen zusammengesetzt sind, sollte beachtet werden, Sport- und Heimatvereine), dass die Ressourcen aller Beteiligten zum Tragen kom- • Prominenz (bspw. mit biographischen Bezügen zur Regi- men und insbesondere eine ausgewogene Kommunikati- on), on und Beteiligung im Verhältnis zwischen Bürger/-innen • Mobilen Beratungsteams. und professionellen Akteuren möglich ist. Die Grundsätze Es ist von Vorteil, bei manchen Personen, die wichtig für der Zusammenarbeit eines Bündnisses sollten in einer Ge- ein Bündnis sind, genau zu analysieren, an welchen Punk- schäftsordnung geregelt sein. Diese ersten Schritte sollten ten diese für die Thematik empfänglich sind. Das kann auch beachtet werden, bevor sich das Bündnis der inhaltlichen helfen, Prominente zu finden, die sich für ein Bündnis ein- Arbeit widmet.3 setzen. Auch die Rückenstärkung durch die Landespolitik kann mitunter sehr wertvoll für erfolgreiches Handeln ei- Realistische Zielformulierung und die Wahl ner Initiative oder eines Bündnisses sein. Daneben sollten auch benachteiligte und eher marginalisierte Personen und von Handlungsstrategien Gruppen, wie Migrant/-innen, durch den Einbezug in die Ar- Es kann — insbesondere für beständige Bündnisarbeit — hilf- beit des Bündnisses gestärkt und motiviert werden, sich zu reich sein, die Zielformulierung nicht auf Grundlage eines engagieren. Gelingen kann dies bspw. durch gemeinsame Motivs gegen etwas (z.B. „gegen Rechtsextremismus, Frem- niedrigschwellige Veranstaltungen, wie Sportveranstaltun- denfeindlichkeit…“ oder „gegen braune Ideologie…“), son- gen, die Berührungsängste abbauen und breitere Bündnisse dern mit möglichst positiven Erfolgszielen zu entwickeln. ermöglichen können. Bündnisse und Initiativen benötigen Wichtig ist es, die Ziele der Aktivitäten konkret, realistisch eine breite Basis! und kleinteilig zu formulieren. Sie können sich daran orien- tieren, in einem ersten Schritt Kommunikationsprozesse in Verständigung über die Problem­ der Gemeinde anzustoßen, die auf ortsspezifische Themen wahrnehmung bezogen sind — also Themen, die sich am Alltag der Bür- ger/-innen in der Gemeinde orientieren, zu denen sie einen Grundlegend für die Zusammenarbeit sollten die Verstän- persönlichen Bezug haben. Die Nachbarkommunen sollten digung über die Problemwahrnehmung und eine gemeinsa- darüber informiert und ggf. in die Aktivitäten mit einbezo- me Problemdefinition sein (z.B. im Rahmen einer Zukunfts- gen werden, da die Gefahr bestehen könnte, dass Rechtsex- werkstatt). Erst darauf aufbauend lassen sich strategische treme ihre Aktivitäten in den Nachbarort verlagern, wenn Maßnahmen zum Umgang mit rechtsextremen Aktivitäten der Widerstand in einem Ort groß ist. z.B. in themenspezifischen Arbeitsgruppen entwickeln. Der Prozess der Zielformulierung und auch der Namensfin- dung für ein Bündnis gegen Rechtsextremismus erfordert Gemeinsam Regeln für die Zusammenarbeit Zeit. Die Namensfindung sollte sich an dem (oder den) for- festlegen­ mulierten Ziel(en) orientieren. Die Zusammenarbeit in Initiativen oder Bündnissen erfor- Häufig führen zu hohe Erwartungen gerade auch an eh- dert häufig viel Energie und Zeit. Es ist sinnvoll, die Aufga- renamtlich Engagierte zu Überforderungserscheinungen. benverteilung genau und realistisch auszuhandeln und zu Daher muss eine klare Abgrenzung erfolgen und deutlich analysieren, welcher Akteur welche Ressourcen einbringen gemacht werden, wo die eigenen und wo politische Auf- kann und will. Zudem ist es empfehlenswert, einen Spre- gabenfelder liegen und wo dementsprechend nach Lösun- cher/-innenkreis festzulegen, der für einen begrenzten Zeit- gen gesucht werden muss (Klärung der Zuständigkeiten). raum Ansprechpartner und Koordinator von Aktivitäten des In der Kommune kann das Gemeinwesen gestaltet werden, Bündnisses ist.2 aber manche Probleme sind nicht ausschließlich auf der Dass die unterschiedlichen Parteien in einem Bündnis in al- kommunalen Ebene lösbar. Zu bedenken wäre in diesen len Fragen einen Konsens bilden, sollte nicht erwartet wer- Fällen, welche überörtlichen Ebenen ggf. einbezogen wer- den. Wichtig ist es aber, einen Grundkonsens festzulegen, den müss(t)en. Sind die Erwartungen zu unrealistisch und der sich an der Verteidigung demokratischer Werte und der die Ziele somit schwer zu erreichen, ist die Arbeit gegen Ablehnung rechtsextremer Ideologien orientiert. Klar sollte Rechtsextremismus und für ein demokratisches Gemeinwe- auch sein, dass das Thema nicht zu einem Konkurrenzthe- sen schnell frustrierend. Es sollte möglich sein, in beharrli- ma zwischen den verschiedenen demokratischen Parteien chen Aushandlungsprozessen die Situation in der Kommune werden darf, sondern dass sie eine Einheit in der Abwehr

3 Das „Lern- und Arbeitsbuch gegen Rechtsextremismus — Handeln 2 Siehe dazu auch die Empfehlungen von Grit Hanneforth für Demokratie“ (2008) enthält in seiner auf einer CD beigefügten (vgl. 2008: 331) zum Aufbau von und zur Arbeit in Bündnissen. Materialsammlung ein Beispiel für eine solche Geschäftsordnung.

59 Übungen und Hilfen

und die Aktivitäten rechtsextremer Akteure zu analysieren. schen Strukturen beizutragen. Stabilität und Anerkennung Dabei kann es natürlich auch immer wieder Rückschläge ge- bieten dabei vor allem sehr breit aufgestellte Bündnisse ben und manche Prozesse können über Jahre dauern. Mit (parteiübergreifend, Vertreter/-innen aus verschiedenen ge- demokratischen Prozessen wie diesen ist viel Eigenverant- sellschaftlichen Bereichen). Der Status eines eingetragenen wortung und Arbeit verbunden. Daher ist es neben kleinen Vereins kann von Vorteil sein, wenn man langfristig arbeiten und größeren Erfolgen auch wichtig, dass das Engagement und öffentliche Fördermittel und Spenden akquirieren möch- Anerkennung für die beteiligten Menschen mit sich bringt. te. Allerdings sind Vereine auch zu einer Reihe formaler Akte verpflichtet, die viel Zeit in Anspruch nehmen können. Wich- Abwägen angemessener Formen der tig ist es, die Gründung des Bündnisses oder der Initiative zu Zusammenarbeit­ terminieren und gleichzeitig kontinuierlich Folgetermine für weitere Treffen und Aktivitäten festzulegen.

„Ein Bürgerbündnis ist ein demokratisch legitimiertes,­ Aktivitäten an den Interessanlagen vor Ort vertraglich geregeltes Verhältnis zwischen verschie- orientieren denen gleichberechtigten Partnern, das über einen längeren Zeitraum miteinander arbeiten soll, aber — Die Aktivitäten sollten sich stets an den verschiedenen Inte- bezogen auf die Beseitigung der lokalen Problemlage ressen, Ängsten und Wünschen, aber auch an den Empfäng- — zeitlich befristet ist.“ lichkeiten der unterschiedlichen Akteure und Bündnispart- (Hanneforth 2008: 326) ner orientieren. Die Handlungsmöglichkeiten von Initiativen, Bündnissen Es gilt abzuwägen, ob der Aufwand von spezifischen Formen und ähnlichen Kooperationsformen zur Auseinanderset- der Zusammenarbeit, wie z.B. in Form von Bündnissen, in zung mit Rechtsextremismus sind vielfältig. Hier sollen nur Relation zum Problem steht. Geht es bspw. um eine einma- einige Möglichkeiten vorgestellt und angedeutet werden: lige Gegenaktion zu einer von rechtsextremen Akteuren ƒƒ Diskussions- und Informationsveranstaltungen: In diesen geplanten Demonstration, kann es wirksam und produktiv kann z.B. ein aktueller Vorfall mit rechtsextremem Hin- sein, dafür eine Vorbereitungsgruppe einzurichten, die sich tergrund in der Gemeinde thematisiert werden und ein mit den Planungen der Aktion befasst. Bei andauernden Austausch über mögliche Reaktionen und Formen der Aktivitäten von Rechtsextremisten ist es hingegen ratsam, Zusammenarbeit erfolgen. Die Veranstaltungen können einen ebenfalls dauerhaften Zusammenschluss von Enga- genutzt werden, um weitere Interessierte zu gewinnen, gierten und Interessierten einzurichten. Bündnisbildungen die bereit sind, sich längerfristig mit dem Problem ausei- können in solchen Situationen Menschen miteinander ver- nanderzusetzen. Dazu kann auch fachkundige Unterstüt- netzen, die mit der örtlichen Situation unzufrieden oder zung von außen eingeladen werden — entweder, um die Opfer rechtsextrem motivierter Aktivitäten geworden sind. Veranstaltung zu moderieren oder um Erkenntnisse über Gleichzeitig kann dadurch die Öffentlichkeit mobilisiert so- die rechtsextreme Szene vor Ort vorzustellen. wie ein Problembewusstsein und eine Struktur geschaffen ƒƒ Demonstrationen: Als Protest gegen rechtsextreme Ver- werden, in der sich Menschen engagieren können. Bündnis- anstaltungen in einer Gemeinde (z.B. rechtsextre­ ­me „Ge- gründungen sind dann sinnvoll, wenn es um eine lang an- denkmärsche“ oder Parteitage rechtsextremer Parteien) dauernde Problemstellung, nicht um ein Einzelereignis geht ist die Anmeldung und Durchführung von Demonstrati- und wenn gewisse Ressourcen vorhanden sind, wie perso- onen möglich, bei denen die Bürger/-innen der Region nelle Vielfalt und aktive Akteure. Die Gründung eines Bünd- ihren Unmut zum Ausdruck bringen. nisses ist aufwendig und erfordert umfassendes Know-how ƒƒ Ausstellungen: Die Initiierung von Ausstellungen ist z.B. und Ressourcen. im Zusammenhang mit einer Informationsveranstaltung denkbar. Zum Thema einer Ausstellung könnten z.B. die Grit Hanneforth führt u.a. folgende Beispiele für Problemla- Geschichte des Ortes oder durchgeführte Demokratie- gen auf, in denen eine Bündnisgründung sinnvoll sein kann: projekte in der Gemeinde werden. ƒƒ eine fehlende öffentliche Problematisierung und kriti- ƒƒ Durchführung von Bürgerfesten oder Konzerten: Ob zeit- sche Auseinandersetzung mit rechtsextremen Erschei- gleich zu einer von rechtsextremen Veranstalter/-innen nungen und Akteuren; angemeldeten Kundgebung, Demonstration oder Ver- ƒƒ Situationen, in denen immer wieder Menschen Opfer anstaltung, ob zeitversetzt oder ohne einen konkreten rechtsextremer Gewalt oder Bedrohung werden; Anlass: Die Durchführung von Festen, die die Bürger/-in- ƒƒ Verhältnisse, in denen Bürger/-innen zwar Symptome nen der Gemeinde unter einem demokratischem Motto wie gewalttätige Übergriffe und die Unterwanderung von zusammenbringen, gehört zu den möglichen Aktivitäten Vereinen o.ä. wahrnehmen, aber kaum ein Bewusstsein einer Initiative oder eines Bündnisses. dafür existiert, dass hinter solchen Erscheinungsformen ƒƒ Kampagnen gegen Rechtsextremismus und für Demo- soziokulturell verankerte rechtsextreme Strukturen ste- kratie (mit Flyer/Flugblättern/Postkarten): Kampagnen cken. können sich prägend auswirken und für die beteiligten Bürgerbündnisse haben das Potenzial, langfristige Lö- Personen eine Kommunikationsbasis schaffen und da- sungsstrategien zum Umgang mit Rechtsextremismus zu mit positiven Einfluss auf die politische Kultur vor Ort entwickeln und maßgeblich zur Stärkung der demokrati- haben.

60 Übungen und Hilfen

ƒƒ Entwicklung kommunaler Strategien gegen Rechtsextre­ Für den Erfolg eines Bündnisses ist es daher empfehlens- mismus: Diese Aktivitäten eignen sich für Bündnisse, die wert, von Anfang an vor allem auch mit den lokalen Me- eine dauerhafte Zusammenarbeit anstreben und sehr dienvertreter/-innen zusammen zu arbeiten und eine gute breit aufgestellt sind. und langfristige Partnerschaft einzugehen. Auch Journa- ƒƒ Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung: Veranstal­ list/-innen der regionalen oder überregionalen Presse, die tungsauflagen, Inanspruchnahme von Weiterbildungen, Expert/-innen für das Thema Rechtsextremismus sind, kön- Zusammenarbeit mit Berater/-innen nen angesprochen werden, um sie über die Aktivitäten vor ƒƒ Wissen und Handlungskompetenzen durch Fortbildungen Ort zu informieren. Ziel sollte es sein, durch einen offenen erhöhen. Austausch langfristig Vertrauen aufzubauen.

Bei der Wahl von Strategien muss auch reflektiert werden, Die Lokalpresse ist zum Teil aufgrund der Befürchtung, Le- welche Wirkung dies auf die rechtsextreme Szene haben ser/-innen zu verlieren nicht leicht davon zu überzeugen, kann. Es sollten kreative Formen der Auseinandersetzung ein Problem zu thematisieren und kritisch über einen Ort gefunden werden, die Leute zur Beteiligung motivieren. Ir- zu berichten. Es ist daher denkbar, die Lokalpresse in der ritation und Verunsicherung wirkt interventiv und hat evtl. Form an einem Bündnis zu beteiligen, dass z.B. der bzw. die den Vorteil, neue Zielgruppen zu erreichen. Bündnisse ge- Chefredakteur/-in einer Lokalzeitung im Rahmen einer Ver- gen Rechtsextremismus sollten sich auch mit (potenziel- anstaltung zur Thematik als Redner/-in auftritt. len) Opfern rechtsextremer Gewalt solidarisieren. Darüber hinaus sollte die Verbreitung der verschiedenen Medien in der Region berücksichtigt werden. Das Lesen von Öffentlichkeit für Bündnisse und Initiativen Printmedien oder das Schauen lokaler Fernsehsender ist herstellen im ländlichen Raum nicht so stark verbreitet. Stattdessen existiert dort eine Vielzahl von Menschen, die kostenlose Für den Erfolg des Bündnisses bzw. der Initiative ist es von Anzeigeblätter erhält und liest. Diese Gewohnheiten können Bedeutung, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dies genutzt werden, um auf spezifische Aktivitäten eines Bünd- kann u.a. in Form von kulturellen oder politischen Diskus- nisses hinzuweisen. sionsveranstaltungen geschehen, die genutzt werden kön- nen, um weitere Interessent/-innen zu gewinnen, die bereit Auch das Internet sollte verstärkt als Medium genutzt wer- sind, sich längerfristig mit dem Problem auseinanderzuset- den, um auf die Aktivitäten einer lokalen Initiative aufmerk- zen. Wichtig ist es, bei der Durchführung von Veranstaltun- sam zu machen. So können private Blogs oder Profile in gen gut auf eventuelle Teilnahmen von Rechtsextremen virtuellen Netzwerken, wie Facebook und MySpace, ebenso vorbereitet zu sein, die solche Veranstaltungen häufig im genutzt werden wie eigens für die Initiative bzw. das Bünd- Sinne ihrer „Wortergreifungsstrategie“ missbrauchen. Die nis eingerichtete Internetseiten. Diskussionsleitungen und Veranstaltungsverantwortlichen sollten sich vorher absprechen, wie sie in bestimmten Si- Fortwährende Informationsbeschaffung über tuationen vorgehen wollen. So kann auf Basis eines demo- rechtsextremer Aktivitäten in der Region­ kratischen und menschenrechtsorientierten Standpunktes und mit dem Ziel, rechtsextremen Personen keinen Raum Die zu Beginn notwendige gemeinsame Problemdefinition für ihre Propaganda zu bieten und sich als Teil des demo- und -beschreibung ist unbedingt auch im weiteren Verlauf kratischen Spektrums darzustellen, auch der Ausschluss der Zusammenarbeit fortzusetzen. Lokale rechtsextreme von Veranstaltungen erfolgen. Auf die Initiative oder das Aktionsformen können sich schnell verändern. Daher sind Bündnis kann zudem über Flugblätter, Flyer oder das In- die dauerhafte Beobachtung dieser Entwicklungen und der ternet hingewiesen werden. Darüber hinaus spielt die Zu- gemeinsame Austausch darüber für die Zielformulierung sammenarbeit mit den lokalen und regionalen Medien eine und die Wahl der Gegenstrategien grundlegend. Hier kön- wichtige Rolle. nen regionale und überregionale Expert/-innen Hilfe bei der Sammlung und Vermittlung von Informationen bieten. Partnerschaften mit lokalen, regionalen Hingewiesen sei unter anderem auf die Jahresberichte des Verfassungsschutzes als mögliche Informationsquelle. Für und überregionalen Medien die längerfristige Zusammenarbeit in einem Bündnis bietet Medien spielen häufig eine wesentliche Rolle bei der Ent- sich u.a. die Durchführung regelmäßiger Informationsver- stehung eines Problembewusstseins in der Kommune. Nicht anstaltungen an, zu der z.B. Vertreter/-innen des Verfas- selten ist es erst die Aufmerksamkeit überregionaler Medien sungsschutzes, Mobiler Beratungsteams und höherer Poli- nach einem besonders ernsten Vorfall mit rechtsextremen zeibehörden zu einem Informationsaustausch eingeladen Motiven, durch die vor Ort Diskussionen über die Proble- werden. Es ist empfehlenswert, feste Ansprechpartner/-in- matik angestoßen werden. Diese mitunter skandalisieren- nen auf Seiten dieser externen Organisationen und Behör- den Berichterstattungen werden von den lokalen Akteuren den und auf Seiten des Bündnisses festzulegen. Diese Ko- meist als große Bedrohung für das Image der Gemeinde operation mit Innenministerium, Polizei, Verfassungsschutz wahrgenommen, was mitunter Abwehrreaktionen, Abschot- und Justiz ermöglicht ggf. auch, dass bestimmte Aktivitäten tung und dadurch keine konstruktive Auseinandersetzung frühzeitig auf die Tagesordnung der kommunalen Auseinan- mit den Vorfällen zur Folge hat. dersetzung gebracht werden.

61 Übungen und Hilfen

Hrsg.: Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches ­Engagement (BBE) Das BBE hat sich seit 2002 zum größten nationalen Netzwerk in Europa für die Förderung des bürger- schaftlichen Engagements, von Partizipa­tion und der Bürgergesellschaft entwickelt. In ihm haben sich Institutionen und Organisationen aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsleben, aus Staat, Politik, Medien und Wissenschaft zusammenge- schlossen.

Projekt: Demokratiestärkung im ländlichen Raum Nicht selten werden die strukturschwachen Regionen zum Sammlungs- und Rückzugsort rechtsextremisti- scher Strukturen. Demokratiestärkung im ländlichen Raum hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem etwas entgegenzusetzen und Engagierte sowie Organisatio- nen, die Themen des ländlichen Raums bearbeiten und hier wirken, in den Austausch gezielt zu bringen, um damit Kooperationen anzubahnen und zu vertiefen.

www.tinyurl.com/y47oc4fn

62 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Rechtsextremismusprävention

Titel: Empowerment junger Menschen Titel: Angebote der politischen Bildungs- mit (zugeschriebenem) Migrations- arbeit in Justizvollzugsanstalten­ hintergrund im Spannungsfeld von — ein Beitrag zu Deradikalisierung Othering und Selbstbemächtigung­ und Prävention von menschenver- Autor_in: Farrokhzad, Schahrzad achtenden Ideologien und Gewalt? Hrsg.: Informations- und Dokumentations­ Hrsg.: Anne Frank Zentrum e.V. zentrum für Antirassismusarbeit­ e.V. (IDA)

www.tinyurl.com/y4jaeekw www.tinyurl.com/y27sgt52

Titel: Rechtsextreme Ideologien Titel: Rechts, oder was?! Rechte Musik, im Natur- und Umweltschutz. Symbole und Organisationen. Eine Eine Handreichung Informationsbroschüre mit lokalem Bezug Hrsg.: Fachstelle Radikalisierungspräven­ tion und Engagement im Natur­ Hrsg.: Wuppertaler Initiative für Demokra- schutz (FARN) c/o NaturFreunde tie und Toleranz e.V. Deutschlands

www.tinyurl.com/y2dgl4p8 www.tinyurl.com/y5t57p4e

Titel: Online gut beraten. Bestandsauf- Titel: Im Fokus von Neonazis. Rechte nahme und Transfermöglichkeiten Einschüchterungsversuche auf der der ­Online-Beratung gegen Rechts- Straße — zu Hause und im Büro — extremismus bei Veranstaltungen — im Internet. Autor_innen: Czeremin, Liane/Wolrab, Julia/­ Eine Hand­reichung für Betroffene Ziegenhagen, Martin und Unterstütze­r*innen Hrsg.: Gegen Vergessen — Für Demokratie Hrsg.: ezra — mobile Beratung für Opfer e.V. rechter, rassistischer und antisemiti- scher Gewalt

https://tinyurl.com/y5nmu7s6 www.tinyurl.com/y3msfovu

Titel: Die extreme Rechte und Kampfsport Titel: Nationalismus — Nation — National- Autor_in: Hoff, Tobias staatlichkeit. Baustein zum Einsatz Hrsg.: Informations- und Dokumentations­ in der politischen Bildung zentrum für Antirassismusarbeit­ Autor_in: Schumacher, Mark e.V. (IDA) Hrsg.: Arbeit und Leben DGB/VHS ­Hamburg e.V. www.tinyurl.com/y7vd4pcf

www.tinyurl.com/y4wex9cz

63 Demokratie — kinderleicht Grundlagen für eine diskriminierungsfreie ­Pädagogik in der Vor- und Grundschule

Genderblick auf Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen Katholische Erwachsenenbildung im Land Sachsen-Anhalt e.V. (KEB)

Kurzbeschreibung: Der Diskurs über Migration und Integration wird oft polarisierend geführt. Differenzierte Betrachtungen zu vielfältigen Lebenslagen­ und Bedürfnissen von Jungen und Mädchen gehen in der ­Debatte unter. Der Reader will das mit spezifizierten Betrachtungen und Diskussionsbeiträgen ändern. S. 15–21

Das Leben der Anderen Mädchen*– und jungen*bezogene Lebenswelten aus Migrationsperspektiven Claudia Wallner und Olaf Jantz

Zwischen Zuschreibungen und dem Versuch Jungen* von anderen abgrenzt und damit ein „Wir und Ihr“ der differenzierten Wahrnehmung herstellt. Drittens wird in der Auseinandersetzung mit „migranti- Über die Lebenslagen und Lebenswelten sogenannter schen“ Jugendlichen deutlich, dass damit zumeist gar nicht migrantischer Mädchen* und Jungen* zu sprechen ist po- alle Mädchen* und Jungen* mit Migrationsgeschichte in litisch und in der pädagogischen Arbeit eine notwendige ihrer Familie gemeint sind, sondern diejenigen, bei denen Differenzierung, weil damit eine Perspektive eingenommen dies sichtbar zu sein scheint durch äußere Merkmale wie wird, die es ermöglicht, auf spezifische Zuschreibungen und die Haut-, Haar- und/oder Augenfarbe, das Tragen spezieller Erwartungen, aber auch Selbstverortungen junger Men- Kleidung und Bedeckungen oder den Namen. Wenn wir über schen zu schauen, die Wirkungen auf ihre Lebenswelten Jugendliche mit Migrationshintergrund sprechen, dann aber auch auf ihre Teilhabechancen und die Möglichkeiten sind damit zumeist türkische, arabische oder afrikanische der Partizipation an bspw. Bildung und Erwerbsarbeit ha- Jugendliche gemeint und nicht westeuropäische oder asia- ben. Das bedeutet sicherlich auch, dass wir regional stark tische Jugendliche und zunehmend verschmilzt sprachlich, unterscheiden müssen: in der einen Region sind Geflüchtete medial und politisch die Vorstellung von „migrantisch“ mit die ersten Migrant*innen, die in der Öffentlichkeit und/oder der Zuschreibung „muslimisch“. Auch die Nationalität spielt Pädagogik wirklich sichtbar werden, während es in anderen keine Rolle, wenn das betrachtende Auge anderes sieht: Regionen eine lange Tradition migrationssensibler Perspek- rechtlich und gefühlt deutsch zu sein schützt nicht davor, tiven gibt! Darauf muss eine Genderperspektive auf Mäd- die Zuschreibung Migrant*in zu erfahren. chen* und Jungen* Rücksicht nehmen. Bereits die Rede von „migrantischen“ Mädchen* und Jungen* ist allerdings eine Über Migrationsperspektiven von Mädchen* und Jungen* Fremdzuschreibung, die einerseits mit verallgemeinernden in ihren Lebenswelten zu sprechen findet im Kontext von Bildern verbunden ist und damit pauschalierende Zuschrei- emotional aufgeladenen Kulturkämpfen zu den Themen bungen vornimmt und andererseits Ausgrenzung betreibt, Moderne versus Rückständigkeit und Gleichberechtigung weil sie „othering“ betreibt, also bestimmte Mädchen* und versus patriarchale Verhältnisse der Frauenunterdrückung

64 Hintergrundinformationen

statt und diese wirken auch auf das Selbstverständnis die- che, deren Spielräume eingeschränkt werden. Patriarchale ser Jugendlichen. Vorstellungen von einer Gesellschaftsordnung und von Ge- schlechterverhältnissen sind dabei ein zentraler Faktor, der Lebenswelten von Mädchen* Lebenswelten von Mädchen* einschränkt und bestimmt. Solche Vorstellungen finden sich in Religionen und da ins- Über Lebenslagen von Mädchen* in patriarchal ausgerichte- besondere in den Teilen, die von einem konservativ-patri- ten Gesellschaften ist schon viel gesprochen und geschrie- archalen Weltbild geleitet sind, sie finden sich aber auch in ben worden. Insbesondere die Mädchen*arbeit hat große Bildungssystemen, im Arbeitsleben, in der Mode, im Sport, in Beiträge dazu geleistet, mädchenspezifische Zuschreibun- Mädchenbildern, wo immer patriarchale Kräfte wirken. Inso- gen, gesellschaftliche Bilder und Barrieren zu beschreiben fern können Lebenswelten von Mädchen* pauschal nicht be- und zu kritisieren. Dabei ging es im Fokus immer um kri- schrieben werden und ebenso wenig pauschal, welche Grup- tische Aspekte wie Sexualisierung von Mädchenkörpern, pe von Mädchen* als Ganzes besonders von patriarchalen Anerkennung von Mädchen* über ihre Körperlichkeit und Einschränkungen betroffen ist. Wohl aber können wir sagen, Attraktivität, Gewalt gegen Mädchen* als patriarchales dass einerseits Geschlecht eine wirkungsmächtige Katego- Unterdrückungsinstrument, Barrieren in Ausbildung und rie ist und dass andererseits vielleicht die größte Entwick- Beruf und die Zuweisung von Familienarbeit bei gleichzei- lung im Selbstverständnis von Mädchen* liegt, den Jungen* tigem Anspruch an finanzielle Selbstversorgung durch Er- ebenbürtig zu sein. werbsarbeit im Erwachsenenalter. Die Zielsetzungen von Gleichstellungspolitiken und Mädchenarbeit waren und sind Die Gleichberechtigung von Mädchen* ausgerichtet auf die Herstellung gesellschaftlicher Verhält- nisse, in denen Mädchen* sich frei von Gewalt und Abwer- und Frauen* als Kampffeld der Kulturen tungen entsprechend ihren Persönlichkeiten und Vorstel- Diese differenzierte Gemengelage in Bezug auf die Lebens- lungen von einem guten Leben selbstbestimmt entwickeln welten von Mädchen* widerspricht dem, was medial zu können. Ein Blick auf die Lebenswelten von Mädchen* heute Mädchen* diskutiert wird: hier werden zwei Gruppen ge- zeigt, dass dies bis hierhin unterschiedlich gut gelungen ist: genübergestellt: die Migrantin und die Deutsche, in Nicht- manche Probleme und Vorstellungen von Weiblichkeit ha- anerkennung dessen, dass viele als Migrantin bezeichnete ben sich verändert, andere sind gleichgeblieben oder aus Mädchen* (und Frauen*) Deutsche sind. dem öffentlichen Bewusstsein zurückgedrängt, so dass Die Gleichsetzung „migrantisch = muslimisch = unterdrückt“ Fortschritte und Stagnationen zu verzeichnen sind und eine ist in Bezug auf Mädchen* ein inzwischen gängiges Bild, allgemeingültige Einschätzung schwermachen, inwiefern das gerne benutzt wird, um die Rückständigkeit „der An- sich die Lebenswelten von Mädchen* tatsächlich verändert/ deren“ zu betonen und gleichzeitig die Fortschrittlichkeit verbessert haben. Gleichzeitig gilt, dass Einschränkungen der Gleichstellung in Deutschland. Damit ist ein kollektives und Zuweisungen nicht für alle Mädchen* gleichermaßen „Wir“ gemeint, also eine angenommene Mehrheitsgesell- gelten: das kann kulturelle, religiöse, familiäre, schichtspe- schaft, die „von hier kommt“ und die Werte dieses Landes zifische ... Gründe haben, kann aber auch daran liegen, dass trägt und gegen „die Rückständigen“ verteidigt. Damit ein- Mädchen* genaue Vorstellungen haben, wie sie leben wol- hergehen zwei politische Strategien: Das Rettungsprinzip len und Energie darauf verwenden, dies auch gegen Kon- und die Negation; beide sind einseitig, verfehlen die Kom- ventionen durchzusetzen. D.h., es ist heute schwer zu be- plexität der Phänomene und führen letztendlich nicht dazu, schreiben, wie Lebenswelten von Mädchen* aussehen. Es dass die Lebenssituationen „migrantischer“ Mädchen* sich können Benachteiligungsfaktoren beschrieben werden, die verbessern oder normalisieren im Sinne gesellschaftlicher weiterhin wirksam sind, die aber nicht für alle Mädchen* Anerkennung. Mädchen*, die sich nicht frei entscheiden (gleichermaßen) Wirkungen zeigen. Es können Vektoren wie können, wie sie leben und/oder was sie anziehen wollen Schicht oder Migration ausgemacht werden, die bestimmte und die eine sichtbare Migrationsgeschichte haben, werden Phänomene verstärken, aber auch das muss nicht für je- entweder global als zu rettende Opfer angesehen oder es des Mädchen* gelten. So haben wir — was die Lebenswel- wird bestritten, dass es ein Phänomen wie den Zwang zum ten von Mädchen* angeht — eine Gemengelage von sowohl Tragen des Kopftuches oder Schwimmverbote überhaupt patriarchalen Zuschreibungen als auch Gleichstellungsent- gibt. In beiden Fällen sind die Diskurse nicht zielführend im wicklungen, von sexualisierten Bildern, Freizügigkeiten und Sinne adressierter Mädchen*. Entweder werden Unterschie- konservativen Züchtigkeitsvorstellungen, von wachsendem de — das Andere — pauschaliert und damit diese Mädchen* Bildungserfolg und gleichzeitiger Bildungsbehinderung be- generell als anders gemarkert und ausgeschlossen aus dem stimmter Gruppen, von geschlechterbezogener Gewalt und kollektiven „Wir“ oder Mädchen*, die von Gewalt und Un- der öffentlichen Negierung derselben. terdrückung betroffen sind, werden alleine gelassen, um Und in diesen vielschichtigen Lebenswelten bewegen sich sich vor dem Vorwurf zu schützen, generell etwas gegen individuelle Mädchen*, die ihren eigenen Weg gehen wol- Migrant*innen oder Muslim*innen zu haben oder rassistisch len, sich von den Anforderungen beeindrucken oder zwin- zu sein. Der Kulturkampf gegen patriarchale Verhältnisse gen lassen (müssen) oder diese kaum zur Kenntnis nehmen wird verlagert auf „die Migrant*innen“, wobei nur einige und ihren eigenen Weg jenseits von Geschlechterbildern gemeint sind und damit gelingt es, die „deutschen“ Verhält- suchen. Es gibt Mädchen*, die große Spielräume im Suchen nisse in Sachen Gleichberechtigung zu verklären. Was uns und Finden einer Perspektive Lebenswelten haben und sol- gelingen muss — auch in der Pädagogik und sozialen Arbeit

65 Demokratie — kinderleicht

— ist zu differenzieren, das Grundgesetz mit seinen Ansprü- Interessant ist auch, dass Mädchen* wenig darüber reden chen ernst zu nehmen für alle Menschen, die hier leben und oder berichten, wie es ist, Mädchen* zu sein. Selbst direkt pauschale Zuschreibungen durch kenntnis- und interessen- gefragt verstummen sie eher. Sie können über sich als Per- geleitete Auseinandersetzungen zu ersetzen. sonen berichten und das durchaus positiv und stolz, aber selten wird dies verbunden damit, Mädchen* zu sein. Vermu- Was thematisieren Mädchen* selbst? tet wird hier ein Zwiespalt zwischen dem Erleben oder dem Im Projekt mein Testgelände, einem Genderonlinemagazin, Wunsch nach Emanzipation und Erfahrungen von Abwer- das seit 2013 als Kooperationsprojekt der BAGs Jungen*ar- tung, der so gelöst wird, dass Persönlichkeit und Weiblich- beit und Mädchenpolitik betrieben wird, sind Jugendliche keit getrennt werden. Als Personen zeigen sie sich oft stark aller Geschlechter aus ganz Deutschland eingeladen, ihre und selbstbewusst, bewegen sich in Jugendkulturen auch Positionen, Gedanken, Forderungen etc. zu Geschlechter­ in solchen, die jungendominiert sind und behaupten sich themen mit jugendkulturellen Mitteln auf der Website dort. Mädchen* bewegen sich zwischen Selbstverständlich- www.meinTestgelaende.de zu platzieren. Inzwischen arbei- keiten, Selbstbewusstsein, Zuschreibungen und Abwertun- ten ca. 50 Redaktionsgruppen und Autor*innen im Projekt gen. Manche beziehen sich auf ihre kulturelle oder reli­giöse mit. Von Anfang an waren Jugendliche mit Migrationsge- Zugehörigkeit, manche auf Geschlechterbilder, manche auf schichte stark im Projekt vertreten. Das hatte zum einen Vermischungen, manche versuchen sich den Zuschreibun- damit zu tun, dass anfangs Gruppen gewonnen wurden, gen zu entziehen. in denen bereits Jugendliche mit und ohne Migrations- geschichte zu sozialen Themen zusammenarbeiteten. Es Was thematisieren Jungen* selbst? Aspekte stellte sich aber bald heraus, dass das Onlineportal gerade der jungen*typischen Lebenswelten gesellschaftlich marginalisierte Jugendliche angesprochen hat, die sich hier eine jugendgerechte und bundesweite Jungen*, männliche* Jugendliche und auch junge Män- Plattform erhoffen, um ihre Perspektiven, ihre Themen ner* betonen sehr ähnliche Punkte wie die oben genann- und Anliegen zu verbalisieren. Dazu gehört auch, Bilder ten von Mädchen*, weiblichen* Jugendlichen und jungen über Migrant*innen zu korrigieren. Gezeigt hat sich auch, Frauen*. Diese zeichnen sich stets dadurch aus, wie sie dass Genderthemen Türöffner sind, um insbesondere Ras- einen Weg suchen, durch den Dschungel an Fremd- und sismuserfahrungen zu thematisieren und Wechselwirkun- Selbstzuschreibungen zu schreiten. Es geht auch hier um gen aufzuzeigen. Selbstbestimmung und v.a. um Selbstdefinitionen, die sich sowohl männlich* als auch soziokulturell sowie regional Mädchen* mit Migrationsgeschichte thematisieren oft Er- und auch ethnisch/natio­nal gestalten können. Auch Jun- fahrungen von „othering“: dass sie hier geboren sind, dass gen* präsentieren, ebenso wie Mädchen*, einen Stolz und sie eine gute Bildung erwerben, dass sie sich als Teil der ein bestimmtes Maß an Selbstbewusstsein. Allerdings be- Gesellschaft fühlen, dass sie sich als deutsch empfinden tonen sehr viele Jungen*, im Gegensatz zu Mädchen*, den oder als zu zwei Kulturen gehörig, dass sie aber ob ihres Zusammenhang zu Männlichkeit*: Jungen* wissen, dass sie „Migrationsvordergrunds“ — ihrem Aussehen also und/ männer- und jungentypische Erwartungen erfüllen sollen. oder ihrem Namen das Gefühl haben und Erfahrungen Tun sie dies nicht, besteht ein großes Risiko der Desintegra- machen, niemals als gleichwertige Mitglieder der Gesell- tion, des „sozio-strukturell“ Ausgegrenzt-Werdens und des schaft anerkannt zu werden. Es sind mehr rassistische aktiven Gemobbt-Werdens. Deshalb betonen sehr viele Jun- Erfahrungen als Abwertungserfahrungen bezüglich ihrer gen* ihre Männlichkeitskonstruktionen und sie beschreiben Geschlechtszugehörigkeit, die im Testgelände thematisiert selbst, wenn wir sie anerkennend befragen, wie wackelig werden. Zusammen kommen diese Erfahrungen, wenn sich die jeweiligen „männlichen Lösungen“ innerlich anfüh- Mädchen* ein Kopftuch tragen. Dann berichten Mädchen*, len. Dann werden „Männlichkeitsbeweise“ notwendig. Und dass sie selten gefragt werden, warum sie ein Kopftuch tra- damit beginnt die Spirale der Zuschreibung an insbeson- gen, dafür aber umso öfter mit der Zuschreibung konfron- dere männliche* Jugendliche: Sie werden als dominant, tiert sind, dass sie zum Tragen des Kopftuches gezwungen „mackerhaft‘‘, grenzverletzend usw. wahrgenommen und werden und das Tragen des Kopftuches gleichzeitig bedeu- quasi folgerichtig verhalten sich auch immer wieder wel- tet, dass sie kein selbstbestimmtes Leben führen können. che genauso. Deshalb werden Jungen*welten in der bun- Sie berichten über Verletzungen, darüber, dass über sie ge- desdeutschen Gesellschaft in Ost und West, in Nord und sprochen wird, aber nur selten mit ihnen, dass sie nicht Teil Süd sehr häufig defizitär und negativ-kritisch betrachtet. des Diskurses sind, sondern sein Objekt. Das passt nicht Und auch Jungen* selbst betonen das Kritische an ihren zusammen mit dem Selbstverständnis einer emanzipierten Lebenswelten und insbesondere an Jungen*kulturen. Der jungen Frau*, das sich eben auch bei Mädchen* mit Migra- Weg zu einem jungen*kulturellen Selbstbewusstsein ist da- tionsgeschichte findet. mit immer selbstwidersprüchlich strukturiert: Ich möchte Mädchen*/junge Frauen* setzen sich darüber hinaus mit mich und meine Jungen*kultur gerne präsentieren, muss Fragen von Sexismus und Gewalt gegen Mädchen* ausein­ aber stets aufpassen, dass das nicht in den Genderstrom ander: Alltagserlebnisse von physischen Übergriffen und der Kritik an patriarchalen Verhältnissen gerät. Die Lösung Sprüchen, die auf ihren Körper abzielen, sind Themen, die dieses Dilemmas gelingt im Alltag vielfältig, doch stets viele Mädchen* auf der Plattform diskutieren und über ihre nach dem Erzeugerprinzip der „gelingenden Balancierung Gefühle sprechen, die solche Übergriffe bei ihnen auslösen. meiner Männlichkeit(en)“.

66 Hintergrundinformationen

Unbetonte Vielfalt als Kennzeichen jungen*typischer Le- muslimischem Glauben akzeptiert, anerkennt und auch benswelten wertschätzt. Aber Jungen*, so scheint es, haben in der heutigen Zeit ge- Leider sind die jungen*typischen Lebenswelten in sämt- lernt, dass es nicht nur eine Art gibt, Männlichkeit* zu bewei- lichen Schichten der Gesellschaft nach wie vor durch das sen. Vielmehr betonen viele, dass verschiedene Präsentatio­ Prinzip Konkurrenz gekennzeichnet. Das hat Vorteile im nen einer lebensweltlichen Bewältigung von männlichen* Sport, im Kulturmanagement und im Bildungssystem, weil Anforderungen zumeist tolerant, zuweilen sogar sich ge- es dadurch gelingt, immer einen bestimmten Prozentsatz genseitig unterstützend nebeneinander (be)stehen können. an Jungen* über das Leistungsprinzip zu motivieren. Es Dazu hat sicher beigetragen, dass der Alltag von Jungen hat aber auch den Nachteil, dass Jungen* über stete Ab- und Mädchen* heutzutage (fast) überall in Deutschland als wehrkämpfe systematisch erzogen werden, nicht auf ihre vielfältig bis transkulturell zu beschreiben ist. Besonders die inneren Signale zu hören (Körper, Gefühle, Zweifel, ...). In interkulturellen und transkulturellen Begegnungen haben dieser Hinsicht scheint sich nur sehr langsam etwas zu ver- dort, wo sie wirklich stattfanden und stattfinden, Unterstüt- ändern. Jungen* bleibt nach wie vor ein guter Selbstkontakt zungsformen in den jungen*bezogenen Lebenswelten her- verwehrt. Stattdessen werden große Konzepte betont, die vorgebracht. Jungen* selbst jedoch betonen diese Vielfalt ihnen Rückhalt geben sollen. So wird die eigene Herkunft nicht! Vielmehr beschreiben sie die realen Chancen einer und Nationalität hervorgekramt, ideologische Ehrkonzepte Partizipation in Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt. Die- verbreitet, religiöse Vermeintlichkeiten behauptet und eben ser Zusammenhang lässt sich besonders gut in den Jugend- Maskulinismen hervorgezaubert. kulturen nachzeichnen. Beispielsweise betonen sehr viele Wir würden Jungen* wie Mädchen* dagegen wünschen, Jungen* im Rap und sogar in den gesprochen-gesungenen dass mehr Selbstdefinitionen und damit auch Fremdwahr- Battles die Gemeinsamkeiten unter sich gegenüber stehen- nehmungen als (umsorgend, verständnisvoll, anpassend) den Jungen*(welten). Die allermeisten­ Migranten-Jungen* weiblich* versus (konkurrent, bestimmend, grenzverlet- haben eine Synthese gefunden, die mehr oder weniger ge- zend) männlich* möglich werden! lingende Identitäten präsentiert. Jungen* mit Migrations- vordergrund betonen jedoch, dass sie stets zwei Anforde- rungen bewältigen müssen: Jungen* und Mädchen* in der ­Schleife 1. Was ist (meine) Männlichkeit? sexistischer Zuschreibungen und 2. Was ist (meine) Herkunft/Heimat/Zugehörigkeit? Positionierungen­ Sie sind dabei einer verdoppelten Defizitperspektive aus- Die weiter oben beschriebene Verklärung der „deutschen gesetzt, da sie sich einerseits stets von „mackerhaft, rück- Verhältnisse in Sachen Gleichberechtigung“ wird in der kul- ständiger Männlichkeit“ abgrenzen sollen. Andererseits turalisierenden Vergeschlechtlichung von Migranten-Jun- müssen sie alltäglich in den allermeisten Lebenswelten be- gen* und Migranten-Männern* besonders deutlich. weisen, dass sie „modern-deutsch!“ und nicht etwa „rück- Der überall auf der Welt (prinzipiell) nachzuzeichnende ständig-oriental“ denken. Die Positionierung gegen diese Sexismus wird durch die Migrationsfragen, ganz besonders mächtigen Zuschreibungen gelingt Jungen und männli- in der Perspektive auf unbegleitete, männliche, minder- chen* Jugendlichen je nach Alter und sozialen Ressourcen jährige Jugendliche, quasi aus der deutschen Realität ex- gut oder auch weniger gut. Einige, zumeist die bildungser- ternalisiert. Die These, Sexismus und sexualisierte Gewalt folgreichen männlichen* Jugendlichen, lernen zwischen seien durch Migranten* importiert, verschleiert die alltägli- den kulturell aufgeladenen Lebenswelten zu switchen. Sie che, sozial- und kulturübergreifende Realität sexualisierter lernen, was in welcher von ihnen verlangt wird und welche Grenzverletzungen (zu allermeist in der Reihenfolge männ- Strategie sie jeweils darin ent­wickeln können. Das sind z.B. lich* gegen weiblich*). Diese Polarisierung verunmöglicht Jungen*, die auf der Straße,­ im Jugendzentrum und in den darüber hinaus die alltagsrelevante Frage, wie sich Sexis- Jugendkulturen eine Selbstdefinition als Schwarzkopf, in- mus auch gegen Jungen* und Männer* richtet. klusive der kiez-deutschen Präsentationsformen verfolgen, In der Folge der Geschehnisse in der Silvesternacht um beim Bewerbungsgespräch um eine Lehrstelle mit ihrer 2015/2016 im Kölner Bahnhof können wir festhalten, dass höflichen, elaboriert-deutschen Seite zu glänzen. die öffentliche Betrachtung von Geflüchteten einen Anstieg Reaktion von Jungen* auf bipolare Definitionen an Rassismen und Sexismen offenbart. Hier wurden und Und da die westliche Welt stets bipolar strukturiert zu sein werden große Gruppen homogenisiert und auf ihre Herkunft scheint, bleiben dabei in jungen* typischen Lebenswelten reduziert. Besonders nordafrikanische und/oder arabische sehr oft keine Zwischendefinitionen möglich. Wir können junge Männer* sehen sich der steten Anforderung ausge- es so zusammenfassen, dass Alternativen, Gegensätze und setzt, sich von männlichen Gewalttaten abzugrenzen. Der überhaupt Ambivalenzen genau dann möglich werden, wenn dunkelhäutige, männliche* Jugendliche steht nun vollends die eigene Identität als männliches, kulturelles und soziales als potentielle Bedrohung da. Wesen sicher zu sein scheint. Irgendetwas zwischen „männ- Dagegen erfahren insbesondere muslimische Mädchen* lich*-weiblich*“ oder „deutsch-muslimisch“ (s.o.) usw. wird eine verdoppelte Defizitperspektive, indem einerseits be- dann für Jungen möglich, wenn ihr „männliches Umfeld“ hauptet wird, dass sie als werdende Frauen* eine besondere die eigentliche Kernidentität als z.B. deutscher Junge mit „demokratische und individualisierende“ Erziehung benöti-

67 Demokratie — kinderleicht

gen. Andererseits gelten sie als entmündigte Opfer musli- Doch welchen Respekt zeigen Erwachsene Mädchen* und misch-traditioneller Zurichtung, wogegen sie unsere „pater- Jungen*? Welche Autorität akzeptieren Mädchen* und Jun- nale“ Protegierung benötigten. gen* mit eigener Migrationserfahrung? Benötigen geflüch- tete Mädchen* und Jungen* eigene Formate pädagogischen Wir hingegen wünschen uns, dass Menschen in der Öffent- Handelns? Und schließlich unsere Antwort aus dem Entfal- lichkeit und vor allem in der Pädagogik mit den einzelnen teten auf die Kernfrage geschlechtsbezogener Pädagogik: Menschen sprechen und danach fragen, was diese wün- schen, was sie entscheiden, kurz: wie sie ihre Selbstdefini- tion beschreiben! Wir müssen unsere fachlich-persönliche Haltung (und Einsicht) migrationssensibel, geschlechterbewusst und differenzanerkennend weiterentwickeln, wenn wir Mäd- Sinnvolle Strategien einer pädagogischen chen* wie Jungen* gerecht werden wollen. Das gilt Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung/ Die Frage, die sich anerkennungspädagogisch stellt, heißt, familiärer Migrationsgeschichte und auch ohne; gläu- wie es gelingen kann, die Macht der Zuschreibung an und big oder auch nicht; welcher Hautfarbe auch immer durch Kinder, Jugendliche und Erwachsene nicht zu wie- ... Vielleicht geht es dann nicht mehr darum — wie es derholen. Es geht gerade auch darum, wie Alternativen so lange auch in der Geschlechterpädagogik hieß —, zu Fremd-­ und Selbstzuschreibung sichtbar, ausprobierbar die Klientel abzuholen, wo sie steht, sondern sie da zu und schließlich lebbar durch Pädagogik unterstützt werden begleiten, wo sie ist und sich genau dafür zu interes- können. Dabei drängen sich ausblickend folgende Fragen sieren: wer sie ist und wo sie ist und genau mit dieser auf: Wie können wir Selbstdefinitionen ermöglichen oder Haltung Entwicklung möglich zu machen. wenigstens unterstützen? Wie bekommen wir einen ange- messenen Kontakt und eine tragfähige, pädagogische Be- ziehung in all diesem Zuschreibungsdschungel? Wie muss Hrsg.: Katholische Erwachsenenbildung im Land sich die sprichwörtliche Beziehungsarbeit mit Mädchen* ­Sachsen-Anhalt e.V. (KEB) und Jungen* wandeln, damit wir Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund gerecht werden (können)? Die KEB, gegründet 1990 in Magdeburg, ist ein anerkannter Träger der Erwachsenenbildung im Als sinnvoll haben sich folgende Strategien/­ Bistum Magdeburg und eine nach dem Erwachsenen­ ­ Orientierungspunkte der pädagogischen Alltags­ bildungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt anerkannte gestaltung erwiesen: Einrichtung der Erwachsenenbildung. Transkulturelle Lebenswelten: Projekt: Respekt für Religion — Gemeinsam für Betonung der Gemeinsamkeiten trotz benannter ­kulturelle und religiöse Vielfalt in Sachsen-Anhalt ­Differenzen Das Projekt ist ein Bildungs- und Beratungsprojekt, Geschlechtsbezogene Reflektionen: das den Aufbau ­einer Willkommenskultur in Sachsen-­ Rassismus und Sexismus als Genderkonstruktionen Anhalt unterstützt. In Fortbildungen, Beratungen und Coachings werden Mitarbeiter_innen der Kinder- und Selbstdefinition: Jugendhilfe befähigt, kultu­relle und religiöse Vielfalt Selbstbehauptung gegen Fremdbewertungen bewusst zu gestalten. Multioptionalität: Betonung von Mehrfachzugehörigkeiten Verantwortung: Betonung der Entscheidungsspielräume Bildungsarbeit: Selbstverortung und Wertediskussion

Kinder- und Jugendarbeit sowie schulische und außer- schulische Bildungsangebote sollten Formate (weiter-) entwickeln, in denen Werte, Normen, Moral u.a. alltägliche www.tinyurl.com/y2wstodp Selbstverständlichkeiten entdeckt, besprochen, verhandelt, vereinbart und gegebenenfalls individuell verändert werden (können). Es geht darum, in einen gegenseitig anerkennen- den Dialog einzutreten, der auch in der Begegnung von „Dif- ferenten“ von Wertschätzung für das (vermeintlich) Andere gezeichnet ist.

68 Projektbeschreibung

Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung

Im Kooperationsprojekt „Demokratie und Vielfalt in der Kin- dertagesbetreuung“ haben sich mehrere Träger der freien Was heißt hier eigentlich Demokratie? Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen, um zum Thema ­Demokratieerziehung als originärer demokratische Bildung in der Kindertagesbetreuung zu ar- ­Auftrag der frühkindlichen Bildung beiten. Schon im jungen Alter wird der Grundstein für das Diakonie Deutschland — Miteinander in einer Demokratie gelegt. Durch demokrati- Evangelischer Bundesverband sche Beteili­gungsformen in der Kindertagesbetreuung ler- nen Kinder bereits im Alltag Vielfalt zu schätzen und dass In dem Projekt werden die demokratischen Handlungs- ihre Stimme zählt. Auf diese Weise werden alle Beteiligten kompetenzen von pädagogischem Fachpersonal geför- und insbesondere auch Eltern und Fachkräfte für demokra- dert. Dabei wird insbesondere die Gruppe der Fachbera- tiefeindliche Äußerungsformen und Phänomene Gruppen- tungen in den Fokus gerückt um das Thema nachhaltig bezogener Menschenfeindlichkeit sensibilisiert (z.B. Rassis­ zu verankern. Dazu kommen pädagogische Fachkräfte mus, Antisemitismus, Sexismus oder die Abwertung von in verschiedenen Formaten zusammen, um sich aus- Menschen mit Behinderung). Diese Ziele werden in sechs zutauschen und gegenseitig von vorhandenem Wissen Einzelvorhaben umgesetzt: und Erfahrungen zu profitieren.

Demokratie, das sind wir alle. Vielfalt, Demokratie leben — von Anfang an! das sind wir alle. Demokratie und Vielfalt Demo­kratieförderung in DRK-Kinder­ fördern — Diskriminierung und Barrieren tageseinrichtungen abbauen Deutsches Rotes Kreuz (DRK) Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. Im Fokus dieses Einzelvorhabens steht die Auseinan- In diesem Projekt werden demokratiefördernde und dersetzung von frühpädagogischen Fachkräften mit partizipative Ansätze in der Kindertagesbetreuung den Themen Demokratie, Macht und Adultismus. Dabei identifiziert und in mehreren Modelleinrichtungen des wird auf ein vom DRK entwickeltes Curriculum zurück- Verbandes erprobt. Dadurch werden vorhandene Hand- gegriffen, in dem erzieherische Macht thematisiert wird lungskompetenzen erkannt und weiterentwickelt, mit und mit dem im Rahmen des Projekts rund 100 Multipli- dem Ziel diese festzuhalten und damit weiteren Fach- kator_innen ausgebildet werden. kräften zugänglich zu machen.

Partizipation und Demokratiebildung in Demokratie in den ­Kinderschuhen. ­Kindertagesbetreuung. Ein Beitrag zu Mitbestimmung und Vielfalt in einer pluralistischen und multiethnischen ­katholischen Kitas Gesellschaft Deutscher Caritasverband vertreten durch den Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Ausgehend von den Fachkräften der Kindertagesbe- Kinder (KTK) Bundesverband e.V. treuung will das Teilvorhaben die Kompetenzen zur Das Einzelvorhaben will die Kindertageseinrichtungen Demokratiebildung auf vier Handlungsebenen stärken: des Trägers darin unterstützen allen Kindern mit der In der Interaktion mit den Kindern in den Einrichtun- gleichen Offenheit zu begegnen und dabei insbesonde- gen, mit deren Eltern, im Team untereinander und im re auch die Bedürfnisse von Kindern und Familien mit Sozialraum. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden vor- Fluchterfahrung in den Blick zu nehmen. Dazu werden handene Expertise und Bedarfe abgefragt, Räume des bedarfsgerechte Fort- und Weiterbildungsangebote für Austauschs geschaffen und die Ergebnisse in verschie- Fachkräfte entwickelt und durch Arbeit im Sozialraum denen Formaten, wie beispielsweise Erklärvideos, fest- Eltern ermutigt sich im Gemeinwesen zu engagieren. gehalten.

69 Projektbeschreibung

Demokratie und Partizipation von Anfang an. Demokratische Kultur in der Betreu- ung von jungen Kindern in Kindertages­ pflege sichern und weiterentwickeln. Bundesverband für Kindertagespflege (BVKTP) in Kooperation mit dem Paritätischen Gesamt­ verband Das Einzelvorhaben hat das Ziel demokratische Kul- tur in der Kindertagespflege zu fördern und wei- terzuentwickeln. Das Projekt richtet sich an Eltern, Trägerbeschreibung: Kindertages­pflegepersonen und Fachberatungen und Das Kooperationsprojekt wird von sechs Verbänden bietet Fort­­bildungsmodule, Selbstevaluationen und In- der freien Wohlfahrtspflege getragen: Dem AWO formationsmaterial an. Bundesverband, dem Paritätischen Gesamtverband, der Diakonie, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, dem Deutschen Roten Kreuz und dem Deutschen Caritasverband, vertreten durch den Verband katholischer Tageseinrichtungen für Kinder. Koordiniert wird das Projekt durch die Arbeitsgemein- schaft für Kinder- und Jugendhilfe. ATID — Zukunft Das Kooperationsprojekt wird durch die Arbeits­ gemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe koordiniert Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und bietet auf der gemeinsamen Projekthomepage (ZWST) gebündelt viele Informationen und auch eine Übersicht Ziel des Einzelvorhabens ist es, die Kindertagesein- über die Ergebnisse und Materialien aus den Einzel­ richtungen des Trägers in diversitätsorientierter Bil- vorhaben. dung und Erziehung fortzubilden und Kompetenzen im Umgang mit Diskriminierung zu stärken. Dazu werden Fortbildungen und Fachveranstaltungen durchgeführt sowie Beratung und Supervision angeboten. Die Grund- lage dazu stellen die von der ZWST entwickelten päda- gogischen Ansätze in Anlehnung an den Anti-Bias-An- satz dar.

www.duvk.de

70 Übungen und Hilfen

*Bereite Dich auf Fragen vor, wie der Voll- oder Halbmond Kurzbeschreibung: entsteht. Das Handbuch stellt Methoden zu Sprachen- Paul (5 Jahre) hat el sol mit Bart und Basecap gemalt, wäh- vielfalt und Toleranz rend Lina (4 Jahre) la luna eine Haarschleife und lange vor. Im Anhang finden Wimpern geschenkt hat. Hier können wir mit den Kindern sich ­Kopiervorlagen und über Stereotype sprechen: Nicht jeder Mann hat Bart und Arbeitsblätter, die für die Basecap. Nicht nur Frauen haben lange Haare, auch Männer Arbeit zu Diversität und usw. Vielfalt mit Kindergarten­ kindern eingesetzt wer- Hier laden wir Dich dazu ein, Dich zu fragen, was diese Fra- den können. gen über Geschlechtsstereotype mit Dir machen. Magst Du mehr darüber lernen, dann informiere Dich zum Thema Gender-Pädagogik.

Mariposa. Methoden für Vielfalt und inter­kulturelles Lernen durch Mehrsprachigkeit (S. 39–42) Willkommenskultur (ARBEIT UND LEBEN Bildungsvereinigung Clau — Bienvenidos ­Sachsen-Anhalt e.V.) Bildungs- und Entwicklungsbereiche: Willkommenskultur, Gruppenidentität und Tag und Nacht, die Sonne und der ­Zugehörigkeit Mond El día, la noche, el sol y la luna Pappe und Material für Clau, Buntpapier, A3 Papier, Kleber, Youtube

Bildungs- und Entwicklungsbereiche: Wir singen das Schüttellied. Grob- und Feinmotorik, Bewegung, Gender, ­Kooperation Youtube //////Schütteln//////uh!. El sol, la luna, el día, la noche //////Schütteln: Cabeza Papier und Buntstifte Pies Manos Alle Kinder sitzen im Kreis auf dem Boden und bilden zu- Boca sammen die Sonne, in dem jedes Kind ein Sonnenstrahl ist. Etc. Wenn Du día (Tag) sagst, so liegen die Kinder auf dem Rü- *Alternativ kann auch das Buch „Zuhause kann überall sein“ cken und machen sich so lang wie sie können. Je mehr sich von Irena Kobald und Frey Blackwood mit den Kindern gele- die Sonnenstrahlen strecken, umso mehr Wärme strahlt ihre sen werden. Sonne aus. Danach kommt das Wort noche (Nacht). Nun rol- len sich die Kinder zusammen wie ein kleiner Igel, um zu zeigen, dass die Sonne „schläft“. Du bereitest eine Pappe mit einem gemalten Gesicht vor. Sei kreativ! Hier kann man die Haare aus Gummibändern oder

Wollfäden machen, Knöpfe für die Augen benutzen etc. Erzähle den Kindern, dass auf Spanisch der Mond weiblich (la luna) und die Sonne männlich (el sol) ist, also ein ande- Zeige den Kindern das Gesicht und erkläre, dass dieses Kind res Geschlecht haben als im Deutschen. Komme darüber mit ganz neu in der Gruppe ist. Es heißt Clau und kann nur we- den Kindern ins Gespräch. Ihr könnt darüber mehr recher- nig Deutsch. Als Symbol dafür, dass Clau kein Deutsch kann, chieren, wenn Ihr möchtet. wird der Mund sehr klein gemalt und noch nicht mit einem Lächeln. Die Kinder malen dann el sol und la luna „auf Spanisch“. Sprich mit den Kindern über ihre Bilder und welche Merkma- Dabei hältst Du Clau in der Hand und spielst es als Handpup- le sie der Sonne und dem Mond als männlich oder weiblich pe. Beachte, dass Clau sehr schüchtern, zurückhaltend und gegeben haben und warum. ängstlich ist, weil dieser Moment neu und fremd ist. Dann flüstert es Dir was ins Ohr — diese Worte sind nur für Dich

gedacht, um die Stimmung zu transportieren: „Ich habe Die Kinder bilden kleine Dreier- oder Vierergruppen. In die- Angst, ich verstehe die Sprache der Kinder nicht“. Danach sen Gruppen sollen sie je nach Deiner Anweisung einen Voll- beruhigst Du Clau vor allen Kindern mit freundlichen Wor- mond oder einen Halbmond mit ihren Körpern darstellen. ten, z. B. „Alles­ ist gut. Warte hier einen Moment.“ Danach legst Du Clau zur Seite und kommst mit den Kindern ins

71 Übungen und Hilfen

Gespräch: Wie können wir jemandem helfen unsere Spra- che zu lernen? Du gibst diese Frage in die Runde und regst Hrsg.: ARBEIT UND LEBEN. Bildungsvereinigung die Kinder dazu an, Ideen zu sammeln. Du nimmst die Vor- ­Sachsen-Anhalt e.V. schläge auf und erweiterst diese noch um die Idee eines Bildung für alle von Anfang an ist der Leitgedanke der Willkommensgeschenks, wenn dies aus der Gruppe noch Arbeit und Leben Bildungsvereinigung Sachsen-Anhalt nicht gekommen ist. Nun, was könnte es sein? Hier sollen e.V. Dieser Gedanke steht für Teilhabe und Chancen- die Kinder wieder eigene Ideen entwickeln, z. B. Susanna gleichheit sowie für die Möglichkeit des lebenslangen (4 Jahre) wollte einen Ball und Freddy (6 Jahre) wollte ein Lernens. Das Ziel ist es, mit Bildungsprozessen durch Buch schenken. Ermutigung, Netzwerkbildung und Wissensvermittlung einen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit zu leisten Alle Kinder finden sich nochmal im Kreis ein. Du nimmst und lebenslange Lernchancen zu eröffnen. jetzt Clau wieder in die Gruppe auf. Projekt: Demokratie und Integration Die Kinder wählen ein Kind aus, um das Geschenk oder die in ­Sachsen-Anhalt — DISA Geschenke zu überreichen. Motiviere dieses Kind dazu, ein Das Modellprojekt legt sein Hauptaugenmerk auf die paar willkommen heißende Worte zu sagen und Clau zu er- Arbeit mit Kindern im Vorschul- und Grundschulalter klären, was er mit dem/n Geschenk/en machen kann. Mögli- und deren pädagogischem Umfeld. Dadurch sollen cherweise hat jemand bereits entdeckt, dass der Mund von die demokratische Teilhabe von Kindern in Kitas, Clau größer ist. Wenn nicht, soll darauf aufmerksam ge- Horten und Grundschulen im ländlichen Raum stärker macht werden. Erkläre, wie man sich fühlt, wenn man Hilfe gefördert werden und der respektvolle Umgang mit von Freunden bekommt, die Deutsch sprechen. So lernt man Unterschieden zwischen Menschen, aber auch mögli- außerdem schneller und leichter die Sprache. che Bildungsungleichheiten viel stärker als bisher zum Thema gemacht werden. Die Kinder suchen gemeinsam aus, was es für ein Ball sein soll und was es für ein Buch sein soll. Ihr nutzt ein A3 Blatt und malt das Geschenk auf. Man kann auch mehrere Grup- pen bilden und mehrere Geschenke malen. Alle Kinder bekommen buntes Papier, um kleine Schnipsel zu reißen (dazu können gerne Reste genutzt werden). Die Kinder werden die kleinen Papierfetzen zu kleinen Kügel- chen rollen und knüllen. Mit diesen bunten Papierkügelchen wird die Fläche des aufgemalten Geschenks ausgefüllt und beklebt. Sobald alle mit ihren Geschenken fertig sind wird www.tinyurl.com/yykjajnt aufgeräumt.

Alle klatschen Beifall. Clau und die Geschenke werden z. B. an der Wand als Erinnerung befestigt. *Wir empfehlen, immer eine Willkommenskultur zu fördern. Für alle Kinder, mit oder ohne Migrationshintergrund.

72 Übungen und Hilfen

Sie diese als „dummes Geschwätz“ oder als nicht ernst zu Kurzbeschreibung: nehmend einstufen. Sie müssen keine politischen Diskus- Die Arbeitshilfe wendet sionen führen, insbesondere, wenn Ihr Gegenüber kein In- sich an pädagogische teresse daran zeigt, sich überzeugen zu lassen. Es reicht, Fachkräfte, die in der wenn Sie zunächst darauf hinweisen, wie das Verhalten ver- Kita mit Rechtspopulis- standen werden kann, unabhängig davon, was damit ausge- mus oder -extremismus drückt werden soll. Verweisen Sie auf Ihr Leitbild und auf die konfrontiert werden. Es Grundsätze Ihrer Arbeit. werden Verhaltens­tipps Genauso wichtig ist, die Betroffenen zu stärken: Ein Kind, gegeben, aber auch Anfor- das Ausgrenzung oder Abwertung erlebt, ist pädagogisch derungen für den Schutz darin zu bestärken, diese Ungerechtigkeit nicht hinzuneh- der Kinder formuliert. men, sondern als Ungerechtigkeit anzusprechen. Es muss Worte für seine Empfindungen finden und braucht in der Gemeinschaft der Einrichtung den Raum, sie auszuspre- chen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es Abwertung Für eine Kultur des Miteinanders. und Ausgrenzung verinnerlicht und sie zum Teil seines Mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus Selbstbilds werden. In vielen Situationen gilt dasselbe für in Kitas umgehen seine Familie. (S. 6–9) (Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder 3. Sie bleiben im Gespräch (KTK) — Bundesverband e.V.) Reagieren Sie nicht mit Ausgrenzung auf ausgrenzendes Verhalten. Es geht um das jeweilige Kind, das in Ihrer Ein- richtung bleiben soll. Fragen Sie sich, welche Motive hinter So reagieren Sie angemessen dem Verhalten stehen. Bieten Sie ein Gespräch an, in dem und wirksam Sie aufzeigen, dass Gleichberechtigung, Wertschätzung, Vielfalt und Solidarität zu den Grundlagen Ihrer Arbeit ge- Sie sorgen dafür, dass alle Kinder und Eltern gleichwertig hören und grundlegend für die Bildung und Erziehung der und wertschätzend behandelt werden. Rassistische oder Kinder sind. abwertende Äußerungen einzelner Eltern signalisieren aber das Gegenteil und fordern Sie heraus, zu reagieren: Ihre Kita ist ein Ort für verschiedene Kulturen, Familienmo- delle und Religionen. Weisen sie darauf hin, dass auch das 1. Sie erkennen Grenzverletzungen Kind der betreffenden Familie gut bei Ihnen aufgehoben ist. Unterstreichen Sie dabei den Widerspruch zwischen dem Eine Mutter beklagt sich, dass ihr Kind wegen der „vielen Be- konkreten Verhalten und den Zielen Ihrer Kita. Eltern haben hinderten“ vernachlässigt wird. Auf einem Elternabend wird ein Recht darauf zu erfahren, warum bestimmte Meinungen beantragt, wieder Schweinefleisch einzuführen, das sei doch in der Kita nicht erwünscht sind. Ihr Leitbild oder die Kon- „deutsche Kultur“. Eine kleine Gruppe Eltern wehrt sich mas- zeption Ihrer Kita bieten eine gute Grundlage. Vereinbaren siv gegen den gemeinsamen Besuch einer Synagoge oder ei- Sie eindeutige Regeln und machen Sie Angebote zur weite- ner Moschee. Ein Junge darf nicht zum Tanzprojekt, er „wür- ren Zusammenarbeit. de verweichlichen“. Bei einem gemeinsamen Ausflug sagt eine Kollegin zu Ihnen, man würde es dem Kind ja am Verhal- ten anmerken, dass es unter seinen gleichgeschlechtlichen 4. Sie tauschen sich aus, handeln Eltern leide, das sei ja „nicht normal“. Eine große Schwester ­gemeinsam und schützen das Kind trägt eine 88 auf ihrem Pulli, als sie den Bruder abholt. Ein Sie sind Teil Ihres Teams. Tauschen Sie sich über den kon- Kind malt Hakenkreuze. kreten Fall aus, verständigen Sie sich auf ein gemeinsa- Sie müssen als pädagogische Fachkräfte keine Expert*in- mes Vorgehen und auf einheitliche Sprachregelungen. Das nen für Rechtsextremismus sein. Aber: Sie haben eine hohe stärkt und schützt Sie. Denken Sie gemeinsam darüber Sensibilität für abwertendes und ausgrenzendes Verhalten. nach, welche Beweggründe Sie hinter dem problematischen Sie erkennen, wenn Feindbilder vertreten werden, wenn sich Verhalten vermuten. Handelt es sich um Unsicherheiten, um Kinder oder ihre Familien durch andere bedroht fühlen. Unwissen, um Erfahrungen von Ausgrenzung und Frustrati- on, um Provokation? 2. Sie reagieren direkt Vergegenwärtigen Sie sich die Situation des Kindes, das Sie nicht für Verhaltensweisen und Sprüche seiner Eltern ver- Wichtig ist, dass Sie reagieren, wenn Sie eine Grenzver- antwortlich machen können und dass Sie nicht beschämen letzung erleben oder darauf hingewiesen werden. Ihre Re- dürfen, wenn es diese übernimmt. aktion muss nicht optimal sein. Nicht zu reagieren wäre schlimmer. Reagieren Sie möglichst zeitnah, ruhig, sachlich, Kinder aus autoritären Familienstrukturen leiden unter dem bestimmt, und nicht vor Kindern. Reagieren Sie immer auf Solidaritätskonflikt zwischen der Kita und ihrem zu Hause. menschenfeindliche Äußerungen oder Zeichen, auch wenn Sie sind aber zugleich auf einen Gegenentwurf des Zusam-

73 Übungen und Hilfen

menlebens angewiesen und profitieren in diesem Sinne von widersprechenden Wertvorstellungen. Das hilft außerdem

Definitionen von Rechtsextremismus 5. Sie machen Angebote für Eltern und Rechtspopulismus… und vereinbaren Regeln …und Hintergrundinformationen zu gruppenbezogener Nutzen Sie Elternabende und andere Kontaktmöglichkeiten Menschenfeindlichkeit und der Aufgabe der Wohlfahrt mit den Eltern, um bewusst Themen wie Vielfalt, Gerechtig- finden Sie in der Broschüre: keit, Partizipation, Inklusion und Solidarität aufzugreifen. ƒƒ „Miteinander gegen Hass, Diskriminierung und Verfestigte menschenfeindliche Einstellungen werden Sie dadurch nicht in den Griff bekommen. Deswegen ist es un- Ausgrenzung. Eine Handreichung der Wohlfahrts- abdingbar, dass Sie gemeinsam mit den Eltern Regeln für verbände zum Umgang mit Rassismus, Antisemitis- den Umgang untereinander vereinbaren, die Sie alle konse- mus und Rechtsextremismus“ von 2017 (auch online quent einfordern. erhältlich).

Handreichungen zu Rechtsextremismus und 6. Nehmen Sie Hilfe in Anspruch Rechtspopulismus in der Kita (online erhältlich) Sie haben den Eindruck, dass Sie gezielt provoziert werden ƒƒ Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.) (2018): oder befürchten, dass eine politische Agenda in die Einrich- Ene, mene, muh — und raus bist du! Ungleich­ tung getragen wird? Dann nehmen Sie Kontakt zu einer Beratungsstelle auf und holen sich dort Unterstützung. Die wertigkeit und frühkindliche Pädagogik Beratungen sind kostenfrei und vertraulich. Über Telefonbe- ƒƒ Projekt ElternStärken (Hrsg.) (2015): ratungen hinaus können Profis gemeinsam mit Ihrem Team Eine Broschüre über Rechtextremismus als Thema ein Konzept erstellen, das Ihrer individuellen Situation an- in der Kita gepasst ist. ƒƒ Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) (2014): Hrsg.: Verband Katholischer Tageseinrichtungen Wer kommt denn da sein Kind abholen? Eine Orien­ für Kinder (KTK) Bundesverband e.V. tierung im Umgang mit Rechtsextremismus und Der KTK-Bundesverband versteht sich als Partner sei- Fremdenfeindlichkeit in Kindertagesstätten ner rund 8.000 Mitgliedseinrichtungen. Er fördert die ƒƒ Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.) (2011): pädagogische Arbeit in den Kindertageseinrichtungen Demokratie ist (k)ein Kindergeburtstag. Hand- und vertritt deren Interessen. Der KTK-Bundesverband reichung für Kindertagesstätten im Umgang mit e.V. ist ein anerkannter Fachverband des Deutschen Rechtsextremismus Caritasverbandes. ƒƒ Friedenskreis Halle (Hrsg.) (2010): Projekt: Demokratie in Kinderschuhen — Mitbestim- Handbuch für Erzieherinnen zur Werte-, Demo- mung und Vielfalt in katholischen Kitas (siehe auch kratie- und Vielfaltförderung. Anregungen für die Projektbeschreibung „Demokratie und Vielfalt in der Arbeit in Kindertagesstätten Kindertagesbetreuung“ hier in der Broschüre) Das Projekt unterstützt katholische Kindertagesein- Mehr über rechtsextreme Kleidung richtungen darin, allen Kindern mit gleicher Offenheit und Symbole... zu begegnen, ihre demokratischen Handlungskompe- … erfahren Sie in dem Heft „Das Versteckspiel“ der tenzen zu fördern und das sozialräumliche Engage- Agentur für soziale Perspektiven ment von Eltern zu stärken. Dabei werden die Bedürf- (https://dasversteckspiel.de/). nisse von Kindern und Familien mit Fluchterfahrungen vertieft in den Blick genommen. Fachliche Beratung Wenn Sie glauben, dass Sie es mit Rechtsextremist*in- nen zu tun haben könnten, nehmen Sie Kontakt mit der nächstgelegenen mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus auf. Diese arbeiten vertraulich und helfen Ihnen bei der Entwicklung einer auf Ihre Situa­ tion angepassten Strategie. Aktuelle Adressen und weitere Publikationen finden Sie unter: https://www. bundesverband-mobile-beratung.de/angebote/vor-ort/

www.tinyurl.com/y4mhatfo

74 Übungen und Hilfen

ƒƒ Der Verband binationale Familien und Partnerschaften Kurzbeschreibung: gibt eine rassismuskritische Spielzeug-Positivliste­ heraus. Die Ausgabe zeigt auf, was https://www.verband-binationaler.de/fileadmin/ Spielmaterialien, die auf user_upload/_imported/fileadmin/Dokumente/ Stereotypen basieren, in Regionalgruppen-pdfs/Spielzeugliste_Juli_2015.pdf der Lebens­welt von Kin- ƒƒ Beim Magazin „umstandslos“ gibt es Links für „Spielzeug dern an­richten. Neben der für Kinder mit Behinderung“: Problemanzeige finden www.umstandslos.com/2015/07/10/spielzeug-fuer-kinder- sich in der Ausgabe auch mit-behinderung/ zahlreiche Hilfestellun- gen zur Bearbeitung der Praxisidee 2: Spielmaterialien selbst herstellen Thematik. Eine Möglichkeit, vorurteilsbewusste Spielmaterialien selbst herzustellen, ist, auf Grundmuster von Spielen wie Memo- ry oder Puzzles eigene Bilder oder Fotos anzubringen. Eine Kita hat beispielsweise ein Memory mit Fotos der Ohren der KiDs aktuell, Ausgabe 2/2017 Kinder hergestellt. Während die Kinder schnell wussten, zu wem welches Ohr gehört, war das für die Erwachsenen nicht (S. 1, 3–4) so einfach! Figuren können mithilfe verschiedener Materia- (Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung lien ihren Körperumfang, ihre Kleidung oder Frisuren ver- und Erziehung, Institut fur den Situationsansatz (ISTA) ändern und so den Menschen aus dem Umfeld der Kinder in der Internationalen Akademie Berlin gGmbH (INA)) anpassen.2 Praxisidee 3: Kritisch spielen Ist Ihnen schon aufgefallen, dass die meisten Spielmateri- Spielideen der Kinder können im gemeinsamen Spiel aufge- alien die Vielfalt der hier lebenden Menschen nicht wider- nommen und erweitert werden, sodass sie nicht stereotype spiegeln? So hat beispielsweise die überwiegende Mehrzahl Muster reproduzieren. Das Kind im Rollstuhl könnte zum Bei- der Figuren einen hellen Hautton, keine sichtbaren Beein- spiel einen Drachen bezwingen, die Prinzessin Fußball spie- trächtigungen 1 und ist in der Darstellung von Frauen und len, Spiderman einfach nur Geburtstag feiern oder der Pirat Männern stereotyp. Spielmaterialien sind immer Ausdruck Wäsche waschen. Die Vielfaltsaspekte müssen also nicht un- gesellschaftlicher Machtungleichheiten. In diesem „KiDs ak- bedingt Thema der Handlung sein. Kritisches Spielen heißt tuell“ beschäftigen wir uns mit dem Thema Spielmaterialien auch, Kindern zu ihren Lieblingsspielzeugen (die eventuell aus vorurteilsbewusster und diskriminierungssensibler Per- auch Stereotype bedienen) alternative Spielzeuge anzu- spektive und stellen Ideen für die Praxis vor. bieten. Eine Herausforderung ist es, im gemeinsamen Spiel Stereotype, Ausgrenzung und Unsichtbarmachung altersge- DISKRIMINIERUNGSSENSIBLE recht zum Thema zu machen. Hier gilt es, mutig eigene Wege ALTERNATIVEN­ zu finden. Praxisidee 1: Bewusste Auswahl Praxisidee 4: An Spielzeughersteller*innen ­gerichtete bei Neuanschaffungen Kampagnen unterstützen Louise Derman-Sparks und Julie Olsen Edwards haben Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen zeigen Erfolge. Im- Hinweise zusammengestellt, welche Aspekte bei der diver- mer wieder richten sich Proteste gegen diskriminierende sitätsbewussten und diskriminierungskritischen Auswahl Produkte großer Spielzeugfirmen und führen zu Verände- neuen Spielmaterials zu berücksichtigen sind: rungen. Ebenso gibt es Initiativen für die Erweiterung des bestehenden Angebots. Unterstützen Sie aktuelle Kampa­ ƒƒ https://situationsansatz.de/vorurteilsbewusste- gnen und Initiativen! materialien.html Es gibt einige im Internet verfügbare Empfehlungslisten, die die mühsame Suche nach vielfältigen Spielmaterialien­ er- leichtern können. ƒƒ Seit März 2017 gibt es bei der Fachstelle Kinderwelten das Projekt „Entwicklung vorurteilsbewusster Medien und Materialien“. Neben Bücherkoffern für Kinder hat das Projekt einen Spielzeugkoffer mit Spielmaterialien zusammengestellt, die Vielfalts­aspekte enthalten. https://situationsansatz.de/vorurteilsbewusste- materialien.html

1 Zur Verwendung des Begriffs „Beeinträchtigung“ und ­„Behinderung“ 2 Weitere Ausführungen dazu demnächst auf der Seite der Fachstelle siehe z.B. www.institut-fuer-menschenrechte.de/behinderung/ Kinderwelten: https://situationsansatz.de/vorurteilsbewusste- was-ist-behinderung/ materialien.html

75 Übungen und Hilfen

Zum Weiterlesen und Unterstützen: IHRE ERFAHRUNGEN UND IDEEN? „Pink stinks“ protestiert gegen Geschlechterklischees­ Welche Erfahrungen machen Sie in der Praxis zum Thema in Werbung und Kinderspielzeug: diskriminierungssensible Spielmaterialien in Kita, Schule und Zuhause? Wir freuen uns über Rückmeldungen, neue www.pinkstinks.de Ideen und gute Praxisbeispiele und wünschen viel Spaß beim Spielen! „#toylikeme“ setzt sich für mehr Spielfiguren mit Beeinträchtigungen ein: www.toylikeme.org

Sam, ein Spielzeug zur Thematisierung von Transge- schlechtlichkeit: www.theyouinsideproject.com

Hrsg.: Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste­ und Erziehung in Kitas und Schulen. Dieser basiert auf Bildung und Erziehung, Institut für den Situationsansatz dem Situationsansatz und dem Anti-Bias-Approach. Der (ISTA) in der Internationalen Akademie Berlin gGmbH Ansatz wird verstanden als Beitrag zur Bildungsgerech- (INA) tigkeit. Die Fachstelle Kinderwelten ist Projekt: Antidiskriminierung als aktiver Kinderschutz in 2011 hervorgegangen aus meh- der Kita (angebunden an den Bereich „KiDs — Kinder vor reren Kinderwelten-Projekten, Diskriminierung schützen!“) die seit 2000 im Institut für den Situationsansatz durch- Das Projekt kombiniert die langjährige Erfahrung und geführt wurden. Die Fachstelle Expertise der Fachstelle mit Erkenntnissen und Er- steht für den Ansatz der fahrungen aus der Antidiskriminierungsberatung. Es Vorurteilsbewussten Bildung unterstützt die Realisierung des Rechts aller Kinder auf Schutz vor Diskriminierung sowie des Rechts auf Bildung. www.tinyurl.com/y4g5cbub

76 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Frühpädagogik

Titel: Akzeptanz für Vielfalt von klein auf! Titel: ABC der Demokratiepädagogik. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Initiativen, Konzepte, Programme und ­Kinderbüchern. Ein Rezensionsband für ­Aktivitäten Fachkräfte in Kindertagesstätten Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Demokratie- Hrsg.: Pohlkamp, Ines/Rosenberger, Kevin/­ pädagogik e.V. Stiftung Akademie Waldschlösschen

www.tinyurl.com/y9xl9qt3 www.tinyurl.com/yy6bnmqx

Titel: Botones. Methoden zur Förderung von Titel: Wenn Diskriminierung nicht in den Mehrsprachigkeit und Vielfalt ­Kummerkasten passt. Eine Arbeitshilfe in ­Grundschule und Hort zur Einführung von diskriminierungs- sensiblen Beschwerdeverfahren in der Hrsg.: Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt e.V. Kita Hrsg.: KiDs — Kinder vor Diskriminierung schützen! an der Fachstelle Kinder­ welten für Vorurteilsbewusste Bildung www.tinyurl.com/y36oql63 und Erziehung

www.tinyurl.com/sun6lbn Titel: Demokratie-Vielfalt-Respekt Hrsg.: Jugend- und Familienstiftung des Titel: KiDs aktuell 1/2018 ­Landes ­Berlin VORURTEILSBEWUSST (VOR-)LESEN Kinderbücher für alle! Hrsg.: KiDs — Kinder vor Diskriminierung www.tinyurl.com/y3yf5vek schützen! an der Fachstelle Kinder­ welten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung

www.tinyurl.com/yyw5o8sf

77 Nichts gelernt? Konzepte gegen primären und sekundären Antisemitismus

Antisemitismus und Empowerment. Perspektiven, Ansätze, Projektideen (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.)

Kurzbeschreibung: Die Broschüre stellt die Arbeit des Kompetenzzentrums vor und gibt eine Übersicht über aktuelle Projekte und Trainings. Die folgenden Expertisen und Interviews thematisieren Herausforde- rungen und Diversitätsfelder der jüdischen Gemeinschaft, Anti­ semitismus als individuelle Erfahrung und soziales Phänomen sowie den Begriff des Empowerments. S. 16–24

ANTISEMITISMUS ALS INDIVIDUELLE ERFAHRUNG UND SOZIALES PHÄNOMEN1

Von Marina Chernivsky »Wie ist das, heute als Jude in Deutschland zu leben?«, wird Lena Gorelik oft gefragt. Sie wäre geneigt zu sagen, normal, aber »Normalität wird erst sein, wenn diese Frage nicht mehr gestellt werden muss.« 2

Die Mythen des Antisemitismus3 entstammen einer jahr- im kollektiven Bewusstsein der nicht-jüdischen Bevölke- hundertealten Tradition, die Juden als »Andere« und rung fest verankert ist und auch ohne die direkte Präsenz »Fremde« konstruiert. Juden werden immer noch als ein in des »Jüdischen« auskommt.4 Beim Antisemitismus handelt sich homogenes, monolithisches Kollektiv wahrgenommen es sich also um ein überindividuelles, psycho­historisches und mit stereotypen Merkmalen — Eigenschaften, Verhal- Konstrukt, für das weniger historische Tatsachen oder so- tensweisen, gar Absichten — belegt. Diese Wahrnehmung ziale Konflikte von Bedeutung sind als vielmehr die trans- basiert zumeist auf einer affektbezogenen und durch Vor- generative Phantasie oder Vorstellung von Juden und »Jü- urteile begründeten Abneigung gegen das »Jüdische«, die dischem«.5 Antisemitische Ressentiments sind einerseits historisch

1 Dieser Artikel ist angelehnt an einen bereits veröffentlichten Beitrag außerordentlich stabil, unterliegen andererseits einer be- in der Publikation »Wir stehen alleine da #EveryDayAntisemitism sonderen Dynamik, welche die klassischen Motive über- sichtbar machen und Solidarität stärken. Neue Wege der Erfassung nimmt, aber gleichzeitig für neue Rationalisierungen, Pro- antisemitischer Vorfälle — Unterstützungsangebote für die Betroffe- jektionen und Verschiebungen anfällig bleibt.6 Ihre offenen nen. RIAS 2015. www.report-antisemitism.de/documents/2016-07-18_ und versteckten Manifestationen sind zudem hoch ambi- rias-be_Broschuere_Wir-stehen-alleine-da.pdf valent, verwirrend und tragen im Wesentlichen dazu bei, 2 »Einmal Jude, immer Jude«, ein Zeitungsartikel zur Autorin Lena Gorelik, von Barbara Seppi. vgl. www.derwesten.de/incoming/einmal- jude-immer-jude-id4796128.html#plx1359179889 4 Bundschuh, Stephan 2007 Eine Pädagogik gegen Antisemitismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 31. Jahrgang. S. 32–38. 3 Der Begriff »Antisemitismus«, der in der zweiten Hälfte des 19. Jh. geprägt wurde, bezieht sich ausschließlich auf Juden. Der politische 5 Salzborn, Samuel 2010 Zur Politischen Psychologie des Antisemitismus unterscheidet sich von der klassischen, religiös Antisemitismus. In: Journal für Psychologie. 18. Jahrgang www. geprägten Judenfeindschaft vor allem darin, dass er keine Rücksicht journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/169/167 auf das religiöse Bekenntnis der Einzelnen nimmt. Auch wenn die 6 Zick, Andreas 2009 Menschenfeindlichkeit. Einfallstore und Schutz- sehr heterogenen antisemitischen Traditionen nur teilweise im mo- wälle. In: Das Eigene und das Fremde. Antisemitismus und Fremden- dernen Antisemitismusbegriff abgebildet sind, beschreibt er primär feindlichkeit als Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Tagungs­ die Judenfeindlichkeit. dokumentation. Frankfurt am Main.

78 Hintergrundinformationen

dass deren Wirkmächtigkeit stets übersehen wird. Gleich- Abgrenzung von Nichtjuden gegenüber Juden, die selten zeitig wird die Frage nach Antisemitismus immer wieder wertneutral ist. neu aufgeworfen. »Man fragt sich, was schlimmer ist: der beabsichtigte oder der unbeabsichtigte Antisemitismus? Definitionsversuche Der, mit dem man gespielt hat, weil man überprüfen wollte, Wie bei vielen komplexen Phänomenen gibt es auch hier wo die Grenzen liegen...? Oder der, den man selbst nicht keine allumfassende, allgemein gültige Definition, die bemerkt, weil die Stereotype so sehr zum eigenen Welt- sämtliche Formen und Ebenen des Antisemitismus ganz- verständnis gehören, dass man sie gar nicht mehr in Fra- heitlich erklärt und begründet, aber eine Reihe von wis- ge stellt?« 7 Die Tatsache, dass sich heutzutage nur wenige senschaftlichen Beschreibungen, Arbeitsdefinitionen und Menschen zum offenen Antisemitismus bekennen würden Orientierungshilfen.11 Der 2011 vorgelegte Expertenbericht und sich die überwiegende Mehrheit als nicht antisemitisch des Bundesministeriums des Innern (BMI) schlägt folgende versteht, erschwert die Überwindung des Antisemitismus Orientierung vor : und begründet die berüchtigten Widerstände gegen des- sen Thematisierung.8 Was bleibt, ist ein Antisemitismus »Erstens, Antisemitismus meint Feindschaft gegen Ju- ohne Antisemiten, ein offen verschwiegenes Tabu, eine den als Juden, das heißt der entscheidende Grund für die Mischung aus Scham, Wut und Voreingenommenheit, die artikulierte Ablehnung hängt mit der angeblichen oder eher einer eigensinnigen Affekt­dynamik als dem klaren tatsächlichen jüdischen Herkunft eines Individuums oder Verstand untergeordnet ist.9 einer Gruppe zusammen, kann sich aber auch auf Israel be- ziehen, das als jüdischer Staat verstanden wird. Genau an dieser Stelle spiegelt sich eine spezifische Wahr- nehmung des Jüdischen wider, die nicht zwingend antisemi- Zweitens, Antisemitismus kann sich unterschiedlich arti- tisch, aber dennoch als judenvoreingenommen (Chernivsky kulieren: latente Einstellungen, verbalisierte Diffamierun- 2012) beschrieben werden kann. Kennzeichnend dafür sind gen, politische Forderungen, diskriminierende Praktiken, u.a. die vorsichtig formulierten, aber gleichzeitig wider- personelle Verfolgung, existenzielle Vernichtung. sprüchlichen und daher wenig konsistenten Meinungen Drittens, Antisemitismus kann in verschiedenen Begrün- zu Juden und Judentum. Verbunden werden solche Wahr- dungsformen auftreten: religiös, sozial, politisch, nationa- nehmungen mit stereotypen Annahmen und Bewertungen. listisch, rassistisch, sekundär und antizionistisch.«12 Indem beispielsweise die Religiosität zum Maßstab der An- dersartigkeit stilisiert wird, werden Juden einer geschlos- Zunächst durch die theologisch geprägte Judenfeind- senen sozialen Kategorie zugeordnet, deren Mitglieder in schaft, dann durch die Rassentheorien und den politischen der Fremdwahrnehmung per definitionem anders sind. Die Antisemitismus wurden Juden in den vergangenen Jahr- Internalisierung dieser Differenzkonstruktion vollzieht sich hunderten zu Stellvertretern der »Fremden« oder »Ande- vorwiegend unbemerkt und legt sich wie eine Folie über ren« ernannt. Die Vorstellung einer inneren Homogenität die gemachten Erfahrungen. Die Unterschiede zwischen von Juden als Kollektiv, die Annahme der unüberbrückba- den »Gruppen« werden beispielsweise religiös-kulturell ren Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden sowie die markiert und durch das »objektive« Verhalten deren Mit- binäre Struktur der Gruppenzugehörigkeit, in der der Jude glieder begründet. »Davon ausgehend sind die antisemi- doch ein »Anderer«, ein Dritter, zu sein scheint, begründen tisch konnotierten Denk- und Argumentationsmuster nicht und befestigen projektive antisemitische Konstruktionen immer und nicht zwangsläufig Bestandteil konsistenter unserer Zeit. Zu aktuellen antisemitischen Mythen gehören politischer und antisemitischer Ideologien. Öfter stellen Verschwörungstheorien, Zuschreibungen von Macht, Se- sie ein bequemes Mittel zum Erhalt eigener Selbstbilder parations- und Illoyalitätsvorwürfe, Unterlegenheits- sowie dar oder sind ein Differenzkonstrukt, dem die Vorstellung Überlegenheitsvorstellungen. Die neueren Facetten von einer inneren Homogenität von Juden und zugleich deren Antisemitismus sind lediglich Transformationen religiöser, »Fremdartigkeit« als Kollektiv zugrunde liegt.10 Auch wenn rassistischer und politischer Mythen, in denen »vertraute« diese wirkungsmächtige Vorstellung womöglich nicht als Stereotype nachwirken und weiterleben. ideologischer Antisemitismus gilt, ist sie jedoch Ausdruck Im Folgenden werden ausgewählte Dimensionen von Anti- einer historisch überlieferten und stark internalisierten semitismus im Einzelnen erläutert. Die folgende Klassifika- tion könnte freilich durch weitere ideologische Ausprägun- 7 Gorelik, Lena 2014 »Man wird doch noch mal sagen dürfen...«. gen erweitert und ergänzt werden: Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur. www.bpb.de/apuz/187410/ antisemitismus-in-hoch-und-populaerkultur?p=all. 11 So etwa die vom European Monitoring Centre on Racism and 8 In ihrem Aufsatz »Was ist eigentlich Rassismus?« beschreibt Birgit Xenophobia 2004 entwickelte »Arbeitsdefinition Antisemitismus«, Rommelspacher 2009 Widerstände gegen die Thematisierung von die in Deutschland vornehmlich in den Arbeitsfeldern der Anti- Rassismus — diese Überlegungen lassen sich auf den Bereich des semitismusprävention und des Monitorings von Antisemitismus Antisemitismus übertragen. Vgl. www.birgit-rommelspacher.de/pdfs/ verwendet wird, etwa bei den Berliner Registerstellen und der Was_ist_Rassismus.pdf. Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. www.european- 9 Gorelik. Ebd. forum-on-antisemitism.org/ 10 Scherr, Albert/Schäuble, Barbara 2007. »Ich habe nichts gegen 12 Bericht vom unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus (Hrsg.) ­Juden, aber...« Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesell- 2011 Antisemitismus in Deutschland — Erscheinungsformen — Bedin- schaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Hrsg. gungen — Präventionsansätze. S. 9. https://dipbt.bundestag.de/dip21/ ­Amadeu Antonio Stiftung. btd/17/077/1707700.pdf

79 Nichts gelernt?

Religiöse bzw. traditionelle Dimension tes des Staates Israel und um die fragmentarische Gleich- setzung israelischer Politik mit der des Nationalsozialis- Religiöser Antijudaismus entwickelte sich aus der »Abso- mus. Charakteristisch für eine unsachliche Israelkritik ist lutsetzung« des Christentums, die mit Abgrenzung, Ab- vorwiegend die Vermengung mit antisemitischen Stereoty- lehnung und Dämonisierung der jüdischer Glaubensform pen als Beweis für den »schlechten Charakter« der Juden verbunden war. Im Mittelalter kamen u.a. Vorwürfe des sowie das Übertragen dieser Kritik auf die Gemeinschaft Ritualmordes, der Brunnenvergiftung, Wucherei oder des der Juden in der ganzen Welt. Hierzu gehört ebenso ein Herrschaftswahns hinzu. Die religiöse Dimension dieser emotionsgeladener Zugang zum Nahostkonflikt als auch Form von Antisemitismus wurde durch den Prozess der in diesem Zusammenhang der Gebrauch von Termini wie Säkularisierung abgelöst, aber die damit verbundenen »Imperialismus«, »Apartheid« und »Nationalismus«. Mythen von jüdischem Einfluss, Geldgier und Konspiration sowie Stereotype der Macht, Verschlagenheit, Illoyalität Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus und Hinterhältigkeit sind heute noch wirksam. Zen­trale »Also wildfremden Menschen würde ich nicht direkt sagen, Elemente des traditionellen Antisemitismus wie das Vor- dass ich Jude bin, nur wenn es für den Kontext wichtig ist. urteil des »jüdischen Finanzkapitals« oder der »jüdischen [... ] Erst, wenn es halt dann wirklich um ein jüdisches The- Weltverschwörung« lassen sich auch in anderen späteren ma geht, dann würde ich mich auch offenbaren.« 13 Ideologieformen wiederfinden. Im deutschsprachigen Raum existieren eine Reihe aussa- Politische bzw. rassistische Dimension gekräftiger empirischer Studien zu antisemitischen Ein- stellungen und Vorurteilen.14 Diese und andere Untersu- Im Zuge der Säkularisierung und des aufkommenden Nati- chungen folgen häufig kognitiven Ansätzen, während die onalismus im 19./20. Jahrhundert entwickelte sich der My- Zusammenhänge zwischen kognitiven und affektiven Tei- thos der »Heimatlosigkeit« der Juden und schließlich der len antisemitischer Kommunikation und Praxis (noch) nicht »jüdischen Weltverschwörung«. Auch in der Gegenwart ausreichend erforscht sind.15 Ähnlich sieht es bei der Erfor- finden solche Behauptungen ihre Resonanz. Im Kontext schung der Betroffenenperspektive aus. Bislang gibt es nur von Rassentheorien kam eine neue Dimension hinzu: die wenige Studien zum subjektiven Erleben und Wahrnehmen Idee der biologischen Unveränderbarkeit der »jüdischen von Antisemitismus durch diejenigen, die Antisemitismus Rasse« und deren Unvereinbarkeit mit anderen »Völkern«. erfahren haben. Eine repräsentative »jüdische« Perspekti- Diese beiden Dimensionen tragen auch heute noch dazu ve gibt es nicht, aber die Analyse individueller Antisemitis- bei, dass Juden als »Fremde« und »Andere« aufgefasst muserfahrungen — ihrer unterschiedlichen Deutungen und werden. Die damit verbundenen Stereotype der Fremdar- Bewältigungsweisen — ist unverzichtbar, um die Erschei- tigkeit und der Illoyalität ermöglichen eine Verortung der nungsformen von Antisemitismus in ihrer Beschaffenheit Juden außerhalb der eigenen (nationalen) Gemeinschaft. und Wirkung zu erfassen. Eine Befragung von zehn Berliner Synagogen-Gemeinden zeigt, wie unterschiedlich die Pers- Sekundäre bzw. latente Dimension pektiven auf Antisemitismus sein können und wie wichtig Bei dieser Form von Antisemitismus geht es um eine »neue« jede einzelne von ihnen ist: »Obwohl alle Interviewpart- Variante der Judenfeindlichkeit, welche im deutschspra- ner*innen Antisemitismus als gesellschaftlich relevantes chigen Raum auch als Abwehr- oder Nachkriegsantisemi- Problem beschrieben haben, unterscheiden sich doch ihre tismus bezeichnet wird. Ungeachtet einer konstitutiven Wahrnehmungen und vor allem das Ausmaß selbst ge- Erinnerungskultur und einer langjährigen historischen Auf- machter Erfahrungen. Während hier Wahrnehmungen als arbeitung bildet das Bedürfnis nach Abwehr der NS-Ver- Rezeptionsweisen gesellschaftlicher Debatten, und nicht gangenheit den Schwerpunkt dieses latenten Antisemitis- fallbezogene Beschreibungen von Antisemitismus gefasst mus — auch in der Mitte der Gesellschaft. Kernelemente werden, beziehen sich Erfahrungen anderer auf konkre- sind die Verharmlosung des Verbrechens an den Juden, te Vorfälle, welche die Befragten entweder selbst erlebt die Täter-Opfer-Umkehr sowie die Forderung nach einem haben oder von denen sie Kenntnis bekommen haben.«16 »Schlussstrich« unter die Vergangenheit. Dabei werden die 2013 veröffentlichte die Fundamental Rights Agency (FRA) Rollen von Tätern und Opfern so verdreht, dass die erneute die Ergebnisse ihrer Umfrage zu »Erfahrungen der jüdi- Diskriminierung der Opfer legitim erscheint und die eige- ne historische Verwicklung abgewehrt werden kann. Ähn- lich wie bei den anderen Dimensionen von Antisemitismus wird Juden die Schuld an deren Verfolgung zugeschrieben. 13 die vorliegende Publikation, S. 26 [Bezieht sich auf die Original-­ Durch eine neue Unterstellung der Vorteilsnahme durch Broschüre]. den Holocaust zeigt sich der traditionelle Schuldvorwurf in 14 Zick, Andreas/Klein, Anna 2014 Fragile Mitte — Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Bonn. seiner aktuellen Wirkungsmacht. 15 Jensen, Uffa/Schüler-Springorum, Stefanie 2014 Antisemitismus und Emotionen. www.bpb.de/apuz/187414/antisemitismus-und- Israelbezogene bzw. emotionen?p=all antizionistische Dimension 16 Steinitz, Benjamin 2015 Sachbericht für das Kooperationsprojekt »Wahrnehmungen und Erfahrungen von Antisemitismus jüdischer Bei der antizionistischen oder israelbezogenen Dimension Menschen in Berlin«. Hrsg. RIAS Berlin. In der vorliegenden Publika­ geht es in erster Linie um die Ablehnung des Existenzrech- tion ab S. 32 [Bezieht sich auf die Original-­Broschüre].

80 Hintergrundinformationen

schen Bevölkerung mit Diskriminierungen und Hasskrimi- Neben den genannten Umfragen deuten die zahlreichen nalität in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union«.17 Erfahrungsberichte und Alltagsbeobachtungen darauf hin, Nach Einschätzung der Befragten war Antisemitismus die dass sich die Stimmung der jüdischen Bevölkerung seit Lan- schwerwiegendste persönlich erlebte Diskriminierung. gem im Wandel befindet. Die Alltäglichkeit und Banalität der Jeder sechste Befragte berichtete davon, aufgrund der Vorfälle bedeuten nicht nur reale Einschränkungen in der Zugehörigkeit zum Judentum in den vergangenen zwölf Lebensqualität für jüdische Menschen, sondern verdeutli- Monaten Opfer von verbalen oder physischen Angriffen chen auch eine Wahrnehmungsänderung im sozialen und geworden zu sein. Dies führte bei der Hälfte der Befragten, politischen Selbstverständnis als Teil der deutschen Gesell- die bereits Angriffe erlebt hatten, dazu, bestimmte Gegen- schaft. Besonders der sekundäre Antisemitismus, der sich den zu meiden. Rund zwei Drittel aller Befragten vermie- zwischen den Zeilen und eher als Andeutung äußert, stellt den es zumindest gelegentlich, in der Öffentlichkeit als Ju- das subjektive Empfinden von Normalität und Zugehörig- den identifiziert zu werden. keit infrage und unterstreicht die Fremdmachung — die Veranderung — von Juden als Dritte oder Nichtzugehörige. Heute liegt diese Befragung mehrere Jahre zurück. Sie ist Die regelmäßig aufflammenden gesellschaftlichen Debat- mithin noch vor der letzten antisemitischen Welle im Zuge ten — beispielsweise die »Beschneidungsdebatte« — sowie des Gaza-Konflikts im Sommer 2014 veröffentlicht worden. die scheinbare Normalisierung antisemitischer Kommuni- Seitdem verzeichnet die Polizeistatistik einen erneuten An- kation verunsichern die jüdische Bevölkerung zunehmend. stieg antisemitischer Straftaten, auch Berichte von Über- griffen häufen sich. Knapp 200 antisemitische Straftaten Versteht man die Konfrontation mit dem Antisemitismus zählte die Berliner Polizei im Jahr 2014. Doch dabei handelt als eine Ethnisierungsstrategie, besteht das Risiko einer es sich vor allem um strafrechtlich relevante Vorfälle. Die noch stärkeren Verknüpfung zwischen der eigenen Her- vielen alltäglichen Provokationen, Pöbeleien, Drohungen kunft und einer Stigmatisierung von außen. Die überwie- und Beleidigungen, die nicht in den strafbaren Bereich fal- gende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland len, werden bislang kaum dokumentiert. Für das Jahr 2014 verfügt über eigene Migrationserfahrungen. Aus der Feld- sind besonders die zunehmende öffentliche Verbreitung forschung geht hervor, dass Menschen mit Erfahrungen antisemitischer Verschwörungsideologien, die offen juden- antisemitischer Ethnisierung — beispielsweise durch fremd- feindlichen Positionierungen, antisemitischen Angriffe und bestimmende Zuschreibung physischer wie auch mentaler Sachbeschädigungen im Rahmen antiisraelischer Demons- Eigenschaften — ihre Erfahrungen nicht nur als soziale trationen hervorzuheben. Diese Vorkommnisse wurden Ausgrenzung, sondern auch als ein »essenzielles Stigma«19 dokumentiert und kategorisiert durch die 2014 in Berlin wahrnehmen. Für sie bedeutet es nicht nur einen Akt der gegründete Recherche- und Informationsstelle Antisemi- Veranderung, sondern auch das Erleben von »nicht normal tismus (RIAS).18 Der zweite unabhängige Expertenkreis An- zu sein« wie auch die Internalisierung der Identitätsord- tisemitismus, der im Auftrag des Deutschen Bundestages nung von »nicht-ganz-zugehörig-sein«. über Antisemitismus in Deutschland berichten soll, hat eine Bei wiederholten Differenzerfahrungen besteht das Risiko, Studie in Auftrag gegeben, die einen weiteren Einblick in die eigene jüdische Zugehörigkeit als eine negative Katego- Haltungen, Deutungen, Erfahrungen und Einschätzungen rie zu verbinden und zu verinnerlichen.20 Aus Interviews mit der jüdischen Gemeinschaft ermöglichen wird. Die Studie Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion geht soll Erkenntnisse darüber liefern, wie antisemitische Ein- hervor, dass die aktuellen Erfahrungen mit Antisemitismus stellungen, Verhaltensweisen, Symbole, Berichte und Dis- durch bereits erlebte Erfahrungen verstärkt werden. Darü- kurse von Jüdinnen und Juden in Deutschland erlebt, re- ber hinaus beschränken sich das Wahrnehmen und Erleben zipiert, interpretiert und bewältigt werden. Die Ergebnisse vom Antisemitismus nicht allein auf die jüdische Zugehö- der Studie und die abgeleiteten Handlungsempfehlungen rigkeit, sondern sie vermengen sich mit weiteren Merkma- werden Teil des abschließenden Berichts des unabhängi- len der Differenz wie Geschlecht, Alter, Herkunft, Sprache, gen Expertenkreises sein, der Ende des Jahres 2016 dem körperliche wie auch gesundheitliche Verfassung. Darüber Deutschen Bundestag überreicht wird. hinaus scheint die Erfahrung mit Ausgrenzung und Antise- mitismus psychohistorisch zu sein. Es ist Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses und kann durch aktuelle Erleb- nisse reaktiviert werden. In solchen Fällen kommt es zum 17 Discrimination and Hate Crime Against Jews in EU Member States (Hrsg): Experiences and Perceptions of Antisemitism. www.fra.europa. unerwarteten »Springen« fragmentarischer, emotional eu/sites/default/files/fra-2013-discrimination-hate-crime-against-jews-­ aufgeladener und zum Teil verschwiegener Assoziationen, eu-member-states-0_en.pdf 18 Der Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. hat im Auftrag des Senats die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) 19 Rapoport, Tamar/Lomsky-Feder, Edna/Heider, Angelika 2002 Re­ gegründet. RIAS hat zum Ziel ein umfassendes Meldesystem für anti- collection and Relocation in Immigration: Russian-Jewish Immigrants semitische Vorfälle in Berlin zu entwickeln und damit den Zugang zu „Normalize” Their Anti-Semitic Experiences. Symbolic Interaction. den bestehenden Beratungsangeboten für Betroffene von Antisemi- Volume 25, Issue 2. S.175–198. tismus zu erleichtern. Außerdem soll mit den gemeldeten Fällen nicht 20 Julia Bernstein 2010 Wollen Sie uns etwa über den Holocaust nur die Voraussetzung für detaillierte Einschätzungen und Lagebilder erzählen? In: Trauma und Intervention. Zum professionellen Umgang zu antisemitischen Ausdrucksformen in Berlin geschaffen werden, mit Überlebenden der Shoah und ihren Familienangehörigen. S. 76. sondern auch ein stärkeres Engagement der demokratischen Zivil­ Im Archiv unter: www.zwst.org/cms/documents/347/de_DE/ gesellschaft für das Thema ermöglicht werden. pflegebuch-trauma-intervention-rz-web.pdf

81 Nichts gelernt?

die mitten in der Gegenwart wirksam werden.21 Am Beispiel Judenvoreingenommenheit ist hoch komplex und fest in der Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion die Selbstvergewisserungsdebatten eingeschrieben. Erst zeigt sich, dass »unabhängig davon, welche Bewältigungs- durch die Analyse der gesellschaftlichen Einbettungen strategien des Antisemitismus jede Person für sich entwi- wie auch individuellen Verstrickungen können die Ressen­ ckelt hat, sich ein kollektives Bewusstsein der Juden als timents erkannt, gedeutet und dechiffriert werden. Es stigmatisierte, verfolgte und ausgegrenzte Gruppe heraus- bedarf einer neuen (kollektiven) Bewusstwerdung für die kristallisiert, was von anderen Forschern als (...) »interne Relevanz und Persistenz des Antisemitismus, weil dieser Fremde« oder »domestic foreigners« bezeichnet wurde22 sonst durch Relativierung, Umkehrung oder Verschiebung — auch wenn 75% der Juden und Jüdinnen entsprechend in breiten Teilen der Gesellschaft verhandelt wird. »Die Be- der Forschung von Gitelman sich in der Sowjetunion über- reitschaft, anzuerkennen, dass es Antisemitismus in dieser wiegend »zuhause« gefühlt haben.23 Gesellschaft gibt und dass die am Lernprozess Beteiligten selbst ein Teil davon sind, wird gefordert, wenn die Erarbei- Das jeweilige Erleben und die Reaktion auf Antisemitis- tung der Problematik nicht in Form von Bezichtigung und mus bleibt für die nichtjüdische Bevölkerung weitgehend Beschuldigtwerden erfahren wird.«25 Trotz der jahrelangen unsichtbar. Die mangelnde Solidarität mit den Betroffenen Aufklärung wirkt das »antisemitische Wissen« auch in der und die Verharmlosung antisemitischer Kommunikation Demokratie weiter. Allerdings bietet die demokratische Ge- verstärken das Erleben des interaktionalen, diskursiven sellschaft einen wichtigen Rahmen, dieses Wissen kritisch und offenen Antisemitismus. Antisemitische Äußerun- und eigenverantwortlich zu analysieren, neu zu ordnen und gen werden viel zu häufig bagatellisiert und »als nicht so sich dagegen zu engagieren.26 gemeint« entschuldigt. Antisemitismus als ein aktuelles Alltagsphänomen anzuerkennen, und nicht nur als histo- Gleichzeitig darf die Solidarisierung mit und die Stärkung risches und somit vergangenes Problem, fällt in der deut- von Betroffenen nicht aus dem Blick verloren werden. Der schen Gesellschaft offenbar auch deshalb so schwer, »weil Wunsch nach Selbstermächtigung und Gegenwehr wird aus der mühsam, aber dennoch intensiv erfolgten Aufar- derzeit insbesondere von Seiten junger jüdischer Men- beitung der NS-Verbrechen der Schluss gezogen wird, nun schen oft gestellt. Viele Studierende geben in vom Kom- alles hinter sich gelassen zu haben, was zur Ideologie der petenzzentrum initiierten Interviews an, dass die sozialen Ungleichwertigkeit gehört.«24 Erfahrungen entlang der jüdischen Zugehörigkeit als be- lastende Gratwanderung zwischen einer angeratenen Vor- Fazit sicht, Zuschreibungen von außen und dem Wunsch nach Gleichwertigkeit empfunden wird. Der Bedarf an neuen Der Diskurs um Antisemitismus ist geprägt von fortwäh- Austausch- und Partizipationsformaten ist daher deutlich renden Beschwerden über vermeintliche Sprechverbote bei gestiegen. gleichzeitigen Entgleisungen, Abgrenzungs- und Distanzie- rungswünschen. Die Verwobenheit seiner Erscheinungsfor- Das Konzept der politischen und sozialen Selbstermächti- men und die widersprüchlichen Haltungen zu seiner Rele- gung (Empowerment) bezeichnet im Kern jene emanzipa- vanz verstärken das Verkennungspotential und tragen zur torischen Prozesse, welche den Einzelnen oder einer sys- Unterschätzung der Wirkmächtigkeit antisemitischer Denk- tematisch diskriminierten Gruppe Möglichkeiten bietet, in figuren bei. Die damit einhergehenden Ressentiments sind geschützten Räumen auf Erweiterung ihrer individuellen mit ihren emotionsevozierenden und verschwörungstheo- und kollektiven Handlungsfähigkeit hinzuarbeiten. Für jüdi- retischen Elementen offenbar alltäglich und banal gewor- sche Menschen, deren lebensgeschichtlicher Hintergrund den und gerade deshalb unsichtbar. oft von Veranderung und Differenzerfahrung geprägt ist, bietet dieses Format eine wichtige Brücke zu selbstinitiier- Politische Interventionen können helfen, die Brisanz des ten und eigengesteuerten Prozessen der Selbstermächti- Antisemitismus im Auge zu behalten. Eine übermäßige Po- gung und Selbstorganisation. litisierung kann jedoch auch dazu beitragen, dass die Kri- tik am und die Arbeit gegen Antisemitismus oft reflexartig, quasi auftragsgemäß, ausgeführt wird. Das Phänomen der

21 Ebd. S. 75. 22 Für den Begriff »domestic foreigners«, siehe Levinson, Alexej 1997 »Attitudes of Russians towards Jews and their Emigration 1989- 1994«. In: Lewin-Epstein, Noah/Yaacov, Ro´i & Ritterband, Paul (Hrsg.) 1997 Russian Jews on three Continents: Migration and Re- settlement. London: Frank Cass, S. 222–233. Für den Begriff »internal strangers« or being »abroad at home«. Vgl. Slezkine, Yuri 2004 The Jewish Century. Princeton University Press, Princeton and Oxford. 23 Gitelman, Zvi 1994 »The Reconstruction of Community and Jewish Identity in Russia«, European Jewish A airs, 24 (2). S. 35–56. 24 Astrid Messerschmidt 2012 (Un)sagbares: Über die Thematisierbarkeit von Rassismus und Antisemitismus im Kontext postkolonialer und postnationalsozialistischer Verhältnisse. In: Das offene Schweigen. 25 Ebd. S. 9. (Hrsg. ZWST e.V.). Tagungsdokumentation. Frankfurt am Main. S. 14. 26 Ebd. S. 16.

82 Hintergrundinformationen

Literatur Salzborn, Samuel 2010 Zur Politischen Psychologie des Bernstein, Julia 2010 Wollen Sie uns etwa über den Antisemitismus. In: Journal für Psychologie. 18. Jahrgang. Holo­caust erzählen? In: Trauma und Intervention. Zum www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/ professionellen Umgang mit Überlebenden der Shoah view/169/167 und ihren Familienangehörigen. Im Archiv unter: www. Scherr, Albert/Schäuble, Barbara 2007 »Ich habe nichts zwst.org/cms/documents/347/de_DE/pflegebuch-trauma- gegen Juden, aber...« Ausgangsbedingungen und Perspekti- intervention-rz-web.pdf ven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemi- Bundschuh, Stephan 2007 Eine Pädagogik gegen Antisemi- tismus. Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.). tismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 31. Jahrgang. Slezkine, Yuri 2004 The Jewish Century. Princeton Univer- Chernivsky, Marina/Friedrich, Christiane/Scheuring, Jana sity Press, Princeton and Oxford. 2014 Praxiswelten — Zwischenräume der Veränderung. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (Hg.) 2011 Neue Wege zur Kompetenzerweiterung (Hrsg. ZWST). Antisemitismus in Deutschland — Erscheinungsformen Im Archiv unter: www.zwst-perspektivwechsel.de — ­Bedingungen — Präventionsansätze. https://dipbt. Discrimination and Hate Crime Against Jews in EU bundestag.de/dip21/btd/17/077/1707700.pdf Member States (Hg.): Experiences and Perceptions of Zick, Andreas 2009 Menschenfeindlichkeit. Einfallstore und Antisemitism www.fra.europa.eu/sites/default/files/fra- Schutzwälle. In: Das Eigene und das Fremde. Antisemitis- 2013-discrimination-hate-crime-against-jews-eu-member- mus und Fremdenfeindlichkeit als Formen gesellschaftlicher states_en.pdf Ausgrenzung. Tagungsdokumentation. Frankfurt am Main. European Forum on Antisemitism www.european-forum-on- Zick, Andreas/Klein, Anna 2014 Fragile Mitte — Feindselige antisemitism.org Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Gorelik, Lena 2014 »Man wird doch noch mal sagen Bonn. dürfen …«. Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur. www.bpb.de/apuz/187410/antisemitismus-in-hoch-und- populaerkultur?p=all. Hrsg.: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutsch- »Einmal Jude, immer Jude«, Artikel von Barbara Seppo land e.V. www.derwesten.de/staedte/dorsten/einmal-jude-immer- Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland jude-id4796128.html#plx1359179889. (ZWST) bildet den Zusammenschluss der jüdischen Jensen, Uffa/Schüler-Springorum, Stefanie 2014 Wohlfahrtspflege in Deutschland. Als Dachorganisa- Antisemitismus und Emotionen. www.bpb.de/apuz/187414/ tion vertritt die ZWST die jüdischen Gemeinden und antisemitismus-und-emotionen?p=all Landesverbände auf dem Gebiet der jüdischen Sozial­ arbeit. Sie ist einer der sechs Spitzenverbände der Lewin-Epstein, Noah/Yaacov, Ro´i & Ritterband, Paul (Hrsg.) freien Wohlfahrtspflege in Deutschland und Mitglied 1997 Russian Jews on Three Continents: Migration and der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrts- Resettlement. London: Frank Cass. pflege (BAGFW). Messerschmidt, Astrid 2012 (Un)sagbares: Über die Thema- tisierbarkeit von Rassismus und Antisemitismus im Kontext Projekt: Kompetenzzentrum für Prävention und postkolonialer und postnationalsozialistischer Verhältnisse. ­Empowerment In: Das offene Schweigen (Hrsg. ZWST e.V.). Tagungsdoku­ Das Kompetenzzentrum ist eine Bildungs- und Bera- mentation. Frankfurt am Main. Im Archiv unter: www. tungseinrichtung mit dem Schwerpunkt der Antisemi- zwst-perspektivwechsel.de tismus- und Diskriminierungsprävention. Es richtet sich Rapoport, Tamar/Lomsky-Feder, Edna/Heider, Angelika­ an gesellschaftspolitische Akteur_innen, wie Führungs- 2002 Recollection and Relocation in Immigration: und Fachkräfte aus Politik, Wissenschaft und Bildung ­Russian-Jewish Immigrants »Normalize« Their Anti-Semitic sowie aus jüdischen Einrichtungen und jüdischer Experiences. Symbolic Interaction. Volume 25, Issue 2. Zivilgesellschaft. RIAS (Hrsg) 2015 »Wir stehen alleine da«. #EveryDayAnti­ semitism sichtbar machen und Solidarität stärken. Neue Wege der Erfassung antisemitischer Vorfälle — Unterstützungsangebote für die Betroffenen. https:// report-antisemitism.de/documents/2016-07-18_rias-be_ Broschuere_Wir-stehen-alleine-da.pdf Rommelspacher, Birgit 2009 »Was ist eigentlich Rassis­ mus?« www.birgit-rommel-spacher.de/pdfs/Was_ist_ Rassismus.pdf. www.tinyurl.com/llgmrz2

83 Projektbeschreibung

Zugänge schaffen Trägerbeschreibung: Es hat sich gezeigt, dass der Bedarf an geeigneten Unter- Projektträger: Miteinander Leben e.V. richtskonzepten zur zeitgemäßen Vermittlung von Themen wie „Holocaust“ oder gerade auch „Aktuelle Formen des Der Verein wurde als direkte Reaktion auf die Möllner Antisemitismus“ sehr groß ist. Da zum einen der Anteil mus- Brandanschläge von 1992 gegründet. Ziel des Vereins limischer Kinder gestiegen ist, die häufig einen durch den ist es, das Zusammenleben in der Migrationsgesell- Nahostkonflikt vorgeprägten Zugang zum Thema „Juden- schaft in der Region Mölln zu verbessern, Aufklärungs- tum“ mitbringen, zum anderen nehmen auch antisemitische arbeit gegenüber rechtsextremistischen Auswüchsen Einstellungen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu. in unser Gesellschaft zu betreiben und vor allem Das Ziel des Projekts ist es daher mit pädagogischen Kon- jungen Menschen mit verschiedenen Bildungsange- zepten, schon in der Grundschule Kinder gegenüber Antise- boten für eine demokratische Lebenseinstellung zu mitismus zu sensibilisieren und diesem entgegenzuwirken. gewinnen. Dazu wurden Lehrmodule entwickelt, die die Unterrichts- einheit „Antisemitismus“ um die Gegenwartsperspektive ergänzen. Bereits ab Klassenstufe 4 der Grundschule wird eine Erstbegegnung mit dem Judentum und der Shoa er- möglicht. Die Lernmodule betrachten die unterschiedlichen Aspekte des Nahostkonfliktes und behandeln Verschwö- rungstheorien. Mit Beispielen werden aktuelle Formen des Antisemitismus verdeutlicht. Zur Einführung der Unter- richtskonzepte wurden Lehrerfortbildungen zum Thema Nahostkonflikt und Antisemitismus in der Migrationsgesell- www.verein-miteinander-leben.de schaft durchgeführt. Die Materialien und Konzepte sind auf der Projektwebsite www.zugaengeschaffen.de einsehbar.

Jederzeit wieder! Gemeinsam gegen ­Antisemitismus Trägerbeschreibung: Projektträger: Kölnische Gesellschaft für ­Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Antisemitismus wird in der Öffentlichkeit, auch unter Ju- gendlichen und jungen Erwachsenen, beinahe ausschließlich Die Gesellschaft setzt sich für die Bewahrung der als Problem der Vergangenheit sowie der extremen Rechten ­Menschenwürde, für ein tolerantes und friedliches oder von als muslimisch definierten Migrant_innen wahr- Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher genommen. Formen des sekundären und antizionistischen nationaler, religiöser, weltanschaulicher und sozialer Antisemitismus sind erst gar nicht bekannt oder werden oft Herkunft in Köln, für einen geschwisterlichen Dialog verharmlost. zwischen Christen und Juden und für ein tieferes ­Verständnis der Weltreligionen ein. Das Projekt setzt bei dieser Erkenntnis an und hat das Ziel mit gezielter politischer Bildungsarbeit gegen Antisemitis- mus im Kölner Raum etwas dagegen zu unternehmen. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene sollen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik angeregt werden. Gerade die unterschiedlichen Facetten von Antise- mitismus in der heutigen Zeit sollen vorgestellt und Sensibili- tät für diese Formen des Antisemitismus geschaffen werden. Vier miteinander verbundene Säulen tragen das Projekt: Die Entwicklung von Materialien, die Erprobung dieser in der www.tinyurl.com/y4x7semq praktischen Arbeit mit Schüler_innen, die darauf basierende Evaluation sowie ggf. Weiterentwicklung der Materialien und die Weiterreichung der fertiggestellten Materialien an päda- gogische Multiplikator_innen.

84 Übungen und Hilfen

ohne die Geschichte des Nahostkonflikts zu kennen. Trotz- dem ist eine kurze Einführung hilfreich, um zu verdeutlichen, was der Hintergrund für Selbstmordanschläge in Israel ist. Der Gruppe sollte klar sein, dass der Spielfilm, auch wenn er eine erfundene Geschichte zeigt, auf einen realen Konflikt anspielt. Dabei sollten die Begriffe Intifada, Tanzim und auch die Situation an der Grenze zwischen Israel und den paläs- tinensischen Gebieten deutlich werden. Es empfiehlt sich, das mithilfe einer Landkarte zu erläutern. Im zweiten Schritt schaut die Gruppe die erste Stunde des Films. Nach 59 Mi- nuten beginnt die Szene Tarek und Keren auf dem Baum. An Kurzbeschreibung: dieser Stelle wird der Film gestoppt. Die Aufgabenstellung lautet, in Kleingruppen einen realistischen Schluss zu über- Die Broschüre setzt sich mit dem geschichtlichen Ur- legen. Die erste Frage lautet, was der Selbstmordattentäter sprung von Antisemitismus auseinander und auch mit Tarek, der aufgrund eines technischen Defekts von seinem aktuellen Erscheinungsformen und Bezugspunkten. Dazu Vorhaben zunächst abgehalten wurde, auf Kerens Frage wird grundsätzlich über gängige Methoden der Pädago- antworten kann, was er in Tel Aviv tue. Zu diesem Zeitpunkt gik gegen Antisemitismus reflektiert und methodisch-­ ist schon deutlich geworden, dass sich die beiden ineinander didaktisch Zugänge vorgestellt, wie bestimmten antise- verliebt haben. Wenn alle Kleingruppen zu der Frage eine mitischen Erscheinungsformen begegnet werden kann. mögliche Antwort haben, werden sie im Plenum vorgestellt. Was tun gegen Antisemitismus?! Wer möchte, kann den Dialog auch spielerisch vorführen. Nach einer kurzen Pause wird den Kleingruppen der wirk- Anregungen zu einer Pädagogik gegen liche Dialog ausgehändigt (S. 11 des Schulungsmaterials auf ­Judenfeindlichkeit im 21. Jahrhundert der DVD) und über folgende Fragen gesprochen: Was erzählt (S. 22–23; 26–29) Tarek Keren? Sagt Tarek, dass er Israelis oder Juden hasst? (Arbeit und Leben DGB/VHS Hamburg e.V. — Mobiles Mithilfe der Landkarte kann an dieser Stelle verdeutlicht Beratungsteam gegen Rechtsextremismus Hamburg werden, wo Tarek lebte und wo er früher Fußball spielte. (MBT)) Dann wird die Filmszene Tarek und Keren auf dem Baum ge- zeigt und, wenn nötig, danach gestoppt und kurz erläutert. Wenn es die Zeit erlaubt, können die TeilnehmerInnen sich Ein Selbstmordattentäter an dieser Stelle über ihre emotionale Anteilnahme austau- in Tel Aviv schen: Auf wessen Seite stehen sie? Verstehen sie Tarek? Verstehen sie Keren? Was wünschen sie sich für die beiden? Für den weiteren Verlauf sollen die Kleingruppen jeweils auf Thema: eine Figur im Film besonders achten: Tarek, Keren, Tareks ƒƒ der Nahostkonflikt während der Zweiten Intifada Vater und Mutter, Katz und Shaul. Was sind deren Motive? ƒƒ die Vielgestaltigkeit der israelischen Gesellschaft Im Anschluss wird der Schluss des Films gezeigt. Wiederum ƒƒ innerarabische Konflikte nach einer kurzen Pause erhalten die Kleingruppen den Dia- log Katz und Tarek auf dem Markt. Ziel: ƒƒ illustrieren, dass es im Nahostkonflikt viele verschiedene Rahmen und Regeln: Parteien und weder die Israelis noch die PalästinenserIn- Jede und jeder darf in den Kleingruppen ausreden, die an- nen gibt deren hören ihr/ihm zu. Niemand beeinflusst andere, wie sie den Film wahrzunehmen hätten. Zeit Alter Tn-Zahl 120–240 Min. Ab 14 Jahren 15–30 TN Anmoderation: Material »Anhand eines Spielfilms wollen wir uns mit einem palästi- DVD Alles für meinen Vater (Sof Shavua B’Tel Aviv, 2008, nensischen Selbstmordattentäter beschäftigen.« R: Dror Zahavi, D: Shredy Jabarin, Hili Yalon) inkl. Schu- lungsmaterial. Eine Landkarte, auf der die Orte Tulkarim Reflexion mit der Gruppe: (im Westjordanland) und Nazareth (in Israel) markiert sind. ƒƒ Wer ist für das Unglück der Familie von Tarek verantwort- lich? Warum schließt Keren aus seiner Antwort, dass er die Tanzim hassen müsste? Ab wann wusste Katz, was Darstellung der Methoden Tarek vorhatte? Warum schaltete Katz nicht die Polizei und Arbeitsformen: ein, was wollte Katz erreichen? Wie argumentiert er? Was Man kann den Film Alles für meinen Vater sehen und die ge- hat Tarek gewonnen? Ist Tarek ein Märtyrer, wie er am zeigten familiären und politischen Konflikte nachempfinden, Schluss des Films von den Tanzim dargestellt wird?

85 Übungen und Hilfen

Für welche Gruppen geeignet/ Zeit Alter Tn-Zahl für welche nicht: Ca. 90 Min. Ab 18 Jahren 20–30 TN ƒƒ Dieses Modul ist besonders für Gruppen geeignet, in de- Material nen der Nahostkonflikt Thema ist und Selbstmordatten- Zitate aus: Hermann Bahr: Der Antisemitismus. Ein tate als verständliche Reaktion auf den Konflikt angese- internationales Interview, 1894. Hugo Bettauer: Die Stadt hen werden. ohne Juden. Ein Roman von übermorgen, 1922. James Konzeptionelle Überlegungen zur Methode Joyce: Ulysses [1922], aus dem Englischen von Hans Woll- schläger, 1975. Artur Landsberger: Berlin ohne Juden, (Chancen und Risiken): 1925. Heinrich Mann: Der Untertan, 1918. Thomas Mann: ƒƒ Der Film Alles für meinen Vater ist ein packender Spiel- Die Buddenbrocks. Verfall einer Familie, 1901. film mit sympathischen Hauptfiguren. Auf gelungene Weise zeigt er die Vielgestaltigkeit der israelischen Ge- Darstellung der Methoden sellschaft. Es fällt deswegen jedoch schwer, aus der Ge- und Arbeitsformen: schichte auszusteigen und auf Kleingruppentextarbeit umzustellen. Die Gruppe wird in Kleingruppen aufgeteilt, die jeweils ein ƒƒ Es kann Gruppen zu schwer vorkommen, sich selbst den Zitat ohne Quellenangabe erhalten, z. B. »Das sind unsere Dialog auf dem Baum auszudenken und danach den tat- schlimmsten Feinde! Die mit ihrer sogenannten feinen Bil- sächlichen Dialog aus dem Film zu verstehen. dung, die alles antasten, was uns Deutschen heilig ist! Solch ƒƒ Der Selbstmordattentäter Tarek ist anders als die Israe- ein Judenbengel kann froh sein, dass wir ihn dulden.« (Hein- lis in dem Film eine unrealistische Figur, da er vom Islam rich Mann: Der Untertan [1918], Leipzig 1989, 26. Auflage, und muslimischen Geboten nichts zu wissen scheint. Bei S. 67). Der Auftrag lautet, das Zitat nach 20 Minuten den unserer Gruppe, in der einige Muslime waren, war dies anderen vorlesen und sagen zu können, wann es vermut- allerdings kein Hinderungsgrund, sich mit ihm als Araber lich geschrieben wurde. Außerdem soll spekuliert werden, zu identifizieren. in welcher Art von Text sich das Zitat findet (Sachbuch, ƒƒ Generell muss deutlich werden, dass sich nicht aus jedem Roman, Streitschrift) und wie die VerfasserInnen politisch beliebigen Film etwas Wahres über den Nahostkonflikt einzuordnen sind (links, rechts, gegen Antisemitismus, an- erfahren lässt. tisemitisch). Nach 20 bis 30 Minuten dürfen Handys oder Laptops zur Recherche benutzt werden. Dann sollen die Unser besonderer Dank gilt Sabine Brinkmann für die Anre- TeilnehmerInnen Näheres über die AutorInnen, das jeweili- gung und die konstruktive Hilfestellung bei der Entwicklung ge Werk, seine Auflage usw. recherchieren. des Moduls. Man kann für ein ähnliches Modul auch Zitate aus der Litera- tur nach 1945 heranziehen, die sich mit Antisemitismus, der Literarische Kritik Haltung von Nichtjüdinnen und -juden gegenüber Jüdinnen der Judenfeindschaft und Juden oder der deutschen Diskussion über den Nahost- konflikt beschäftigen. Sarah Diehls Roman Eskimo Limon 9 Thema: behandelt z. B. die Befangenheit nichtjüdischer deutscher Jugendlicher in den Achtzigerjahren, die zum ersten Mal auf ƒƒ Darstellung und Kritik des modernen Antisemitismus in einen gleichaltrigen jüdischen Israeli treffen: Romanen, literarischen Klassikern »Am nächsten Vormittag saßen Eran und Manuela wieder Ziel: auf der Pausenbank. ›Meine Eltern haben mir erzählt, dass deine Eltern von uns vergast worden sind.‹ Eran hörte auf, ƒƒ aufzeigen, inwiefern Judenfeindschaft seit dem 19. Jahr- mit den Beinen zu wippen, und sah Manuela an. ›Meine El- hundert alltäglich war, zu einem »kulturellen Code« wur- tern leben noch. Du meinst meine Urgroßeltern.‹ ›Ach so, ja, de, den die meisten Menschen kannten und verstanden na klar.‹ Manuela schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. ƒƒ verdeutlichen, dass bereits vor 1933 Antisemitismus kriti- ›’tschuldigung.‹ Das war ihr jetzt peinlich. Ausgerechnet so siert und als Gefahr erkannt wurde ein Patzer musste ihr passieren. Sie wollte ihm doch vor allem zeigen, dass sie sich für ihn interessierte, deswegen ƒƒ zeigen, dass Argumentationsweisen, von denen man hatte sie ja auch gleich mit ihren Eltern über ihren neuen meint, es gebe sie erst seit 1945, schon lange vorher be- Mitschüler gesprochen. ›Urgroßeltern‹, wiederholte sie. ›Ja standen (»Ich habe nichts gegen Juden, aber ...«) klar.‹« (Sarah Diehl: Eskimo Limon 9, Zürich 2012, S. 37) An solchen Zitaten ließe sich verdeutlichen, dass aus Be- fangenheit auch Feindseligkeit werden kann. Dann könnte man daran anschließend den Schuldabwehrantisemitismus erklären.

86 Übungen und Hilfen

Rahmen und Regeln: sagen über »Juden« latente Ressentiments bestätigen und nicht infrage stellen. Wenn sich jemand verliest, nimmt sie oder er sich die Zeit und liest den Satz noch einmal in Ruhe vor. Dabei wird nicht gelacht. Vorläufer des »National­ Anmoderation: sozialistischen Untergrunds«. »Wir haben euch ein paar Zitate mitgebracht, von denen wir Die Münchner Neonazi-­ euch noch nicht sagen, wer das gesagt oder geschrieben hat.« Terrorzelle um Martin Wiese Thema: Reflexion mit der Gruppe: ƒƒ Judenhass und Rassismus bei Neonazis im 21. Jahrhun- ƒƒ Bei den Zitaten, in denen der Antisemitismus kritisiert dert wird, soll sich die Reflexion auf den Inhalt des Geschrie- benen richten: Überzeugt es mich? Ist die Aussage wahr? Ziel: Neue, was weiß ich bereits? Bei den Zitaten aus Romanen, in denen AntisemitInnen vorgeführt wer- ƒƒ aufklären über die Gefahr rechtsradikaler Gewalt den, geht es um die mögliche implizite Kritik: Ist mir die ƒƒ Bedeutung des Antisemitismus für Neonazis heute Person, die das in dem Roman äußert, sympathisch? Soll sie mir sympathisch sein? Warum denkt sie so über »die Zeit Alter Tn-Zahl Juden«? Als weitergehende Frage bietet sich an, darüber Ca. 120 Min. Ab 14 Jahren 10–20 TN zu diskutieren, warum diese frühe Kritik des Antisemitis- mus so wenig ausgerichtet hat und inwiefern sie heute Material bekannt ist. Aktuelle Zeitungsberichte zum Gerichtsverfahren gegen Beate Zschäpe und andere Neonazis. Zeitungsberichte Für welche Gruppen geeignet/ über die Mordserie des »Nationalsozialistischen Unter- für welche nicht: grunds« (NSU), am besten mit einer Zeitleiste bzw. einer Deutschlandkarte, auf der die Morde eingezeichnet sind. ƒƒ Die Zitate sind in den meisten Fällen schwer zu verste- Zeitungsberichte über andere Delikte von Neonazis. hen, und es ist für Jugendliche ungewöhnlich, anonymi- ­Außerdem der Artikel von Conny Neumann/Sven Röbel/ sierte Textausschnitte zu lesen. Da die Frage nach den Holger Stark: Völlig neue Dimension, in: Der Spiegel AutorInnen kaum zu lösen ist, führt das Modul leicht zu 38, 15. September 2003. Online unter: www.spiegel.de/ Frustrationen. Das Modul funktioniert umso besser, je spiegel/print/d-28591008.html. mehr AutorInnen darin vorkommen, die die Jugendlichen bereits kennen. Dieses Modul setzt voraus, dass sich die Darstellung der Methoden TeilnehmerInnen klar von antisemitischen Vorstellungen distanzieren, gleichzeitig aber etwas über deren Ursa- und Arbeitsformen: chen und Wirkungskraft wissen wollen. Bei Gruppen, in Es bieten sich verschiedene Methoden an, um in Klein- denen latente antisemitische Vorstellungen vermutet gruppen ein Vorwissen über den NSU zu erarbeiten. Der werden, sollte dieses Modul nicht benutzt werden. Es ist Rassismus der Neonazis ist mittlerweile unübersehbar; es besonders für Gruppen geeignet, denen es nicht schwer- ist für dieses Modul aber hilfreich, Artikel auszuwählen, fällt, mit anspruchsvollen Texten zu arbeiten. die auch den Antisemitismus des NSU-Trios thematisieren, z. B. das Spiel »Pogromly«, das die NSU-Mitglieder spielten Konzeptionelle Überlegungen zur Methode und bei dem es darum ging, Orte »judenfrei« zu machen (Chancen und Risiken): (Björn Hengst: NSU-Prozess: Ein menschenverachtendes Spiel, unter: www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-­ ƒƒ Dieses Modul setzt viel voraus: einerseits eine klare nebenklaegerstellen-beweisantrag-zu-pogromly-a-946072. ­Distanz zu Vorstellungen des modernen Antisemitismus, html). Je nach Vorwissen der Jugendlichen dauert dieser andererseits die Bereitschaft, sich mit ihm mithilfe von Teil lang. anspruchsvollen Texten auseinanderzusetzen. Das Modul kann jüngeren Gruppen Spaß machen, denen altmodi- Das Ziel ist, vorbereitet zu sein auf eine gemeinsame Lektü- sche Sprechweisen gefallen und die gern Theater spielen re des Spiegel-Artikels »Völlig neue Dimension«. Daran an- und gut vorlesen können oder die sich gern in Menschen schließend werden entweder in Kleingruppen (im »Worldca- in anderen Epochen hineinversetzen. Es ist auf jeden fé«) oder im Plenum diese Fragen gemeinsam geklärt: Was Fall wichtig, dass die Zitate, die nicht nur AntisemitIn- hat die Gruppe um Martin Wiese geplant? Warum ist ihnen nen zeigen, sondern sie auch kritisch darstellen (wie bei der Plan nicht geglückt? Woher kam der Hass auf jüdische Hermann Bahr oder literarisch bei James Joyce), in der und muslimische Einrichtungen? Mehrheit sind. Man sollte nicht unterschätzen, dass Aus-

87 Übungen und Hilfen

Rahmen und Regeln: ƒƒ Das Modul führt vor Augen, dass Neonazis im 21. Jahr- hundert nicht nur rassistisch, sondern auch antisemitisch Alle Fragen sind erlaubt. Alle lassen sich ausreden. Wir las- eingestellt sind. Das Ziel besteht also darin zu verdeutli- sen nur bestätigte Fakten gelten. chen, dass die Nazis nicht »früher die Juden« und »heute die Ausländer« hassen, wie manche glauben. Der Rassis- Anmoderation: mus und der Judenhass gehört bei Nazis und Neonazis »Wir gehen jetzt zurück ins Jahr 2003.« zusammen. Das Modul erklärt allerdings nicht, woher dieser Judenhass kommt. Reflexion mit der Gruppe: ƒƒ Was macht Martin Wiese heute? Was bedeutet es, dass Hrsg.: Arbeit und Leben DGB/VHS Hamburg e.V. — bereits 2003 die Namen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus und Beate Zschäpe genannt werden und dass es von Hamburg (MBT) ihnen heißt: »Bereits seit fünf Jahren fahndet das Lan- deskriminalamt Thüringen etwa nach den abgetauchten Das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus Rechtsextremisten Uwe Böhnhardt, 25, Beate Zschäpe, Hamburg ist ein Projekt von Arbeit und Leben DGB/VHS 28, und Uwe Mundlos, 30; Beamte waren in Jena auf Hamburg e.V. ein Depot mit einsatzbereiten Rohrbomben und 1,4 Kilo­ Das Mobile Beratungsteam Hamburg informiert und gramm TNT gestoßen. Weil das Bombentrio bis heute berät zu Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemi- nicht gefasst wurde, droht die Tat zu verjähren«? Warum tismus. Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen konnten sie nicht gefasst werden? Warum dauerte es bis können sich an sie wenden, wenn sie mit Vorfällen kon- 2011, dass Böhnhardt und Mundlos tot aufgefunden wur- frontiert sind, die einen rassistischen, rechtsextremen den und sich Zschäpe der Polizei stellte? oder antisemitischen Hintergrund haben. Für welche Gruppen geeignet/ für welche nicht: ƒƒ Für alle Gruppen geeignet.

Konzeptionelle Überlegungen zur Methode (Chancen und Risiken): ƒƒ Für Jugendliche ist die NSU-Mordserie ein Ereignis, an das sie sich kaum noch erinnern können. Man muss www.tinyurl.com/y65lzcfc grundsätzlich davon ausgehen, dass Jugendliche heute den Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe nicht aufmerk- sam verfolgen. Außerdem sind die vielen nach wie vor offenen Fragen, das Verhalten des Verfassungsschutzes und zum Teil auch der Polizei schwer zu verstehen. Es ist für Jugendliche schwer, es im Nachhinein zu rekonstruie- ren, und dass es bis heute zahlreiche offene Fragen gibt, macht es nicht leichter. Es untergräbt das Grundvertrau- en in die Polizei, dass Menschen, die namentlich bekannt sind und sich in Deutschland aufhalten, nicht gefasst wurden. Man kann die Rolle des Verfassungsschutzes in etwas lockerer Form mit dem Sketch »Aktenzeichen Üx/ Üpsülon üngelöst« mit Serdar Somuncu und Oliver ­Welke aus der heute show vom 6. März 2015 verdeutlichen (on- line unter: www.youtube.com/watch?v=ZkIycy5bhfM). ƒƒ Es empfiehlt sich außerdem, den Ausdruck »Döner­ morde«, der bis 2012 gebräuchlich war, kritisch zu reflek- tieren. ƒƒ Der Spiegel-Artikel ist zudem für viele Jugendliche nicht leicht verständlich. Bei manchen Workshops hat es ge- holfen, zunächst über Wikipedia die Basisinformationen über Martin Wiese zu recherchieren und zu erfahren, dass er seine Gefängnisstrafe abgesessen hat und mitt- lerweile Neonazi-Aufmärsche in Bayern organisiert.

88 Übungen und Hilfen

Aufdecken der einzelnen Teile wird allmählich das Gesamt- Kurzbeschreibung: bild sichtbar. Die TN sollen durch Zuruf erraten, was auf den Das Handbuch enthält, Abbildungen zu sehen ist. neben einer Einführung Die drei Bildmotive des Rätsels zeigen öffentliche Orte, die in das Thema, vielfältige an die nationalsozialistischen Verbrechen an jüdischen (und Methoden, technische An- nicht-jüdischen) Menschen erinnern: leitungen und Materialien für die antisemitismuskri- ƒƒ Ein zentrales Holocaust-Mahnmal (Denkmal für die er- tische Bildungsarbeit. Ein mordeten Juden Europas, Berlin) besonderes Augenmerk ƒƒ Ein dezentrales Gedenktafelprojekt („Stolpersteine“ des wird dabei auf die zentra- Künstlers Gunter Demnig) len Punkte des Themen­ ƒƒ Eine KZ-Gedenkstätte/Überreste eines ehemaligen Kon- gebiets gelegt: Gedenken, zentrationslagers (Staatliches Museum Auschwitz-Birke- Schuld/Verantwortung in nau) Bezug zum Nationalsozia- Haben die TN ein Bild entschlüsselt, so können die Teamen- lismus und dem Holocaust, den das jeweilige Rätsel auflösen. Dabei liegt es in ihrem antisemitische­ Verschwö- Ermessen, wie genau das zu erratende Objekt in den Ant- rungstheorien und der worten benannt sein muss. Konflikt zwischen Israel und Palästina. Nach jeder Auflösung eines Bildrätsels erklären die Teamen- den kurz Hintergrund und Bedeutung des Gezeigten. Dazu ist jedem Bild ein weiteres Foto nachgestellt, das den Blick Widerspruchstoleranz 2. Ein Methodenhandbuch auf den abgebildeten Ort oder Gegenstand noch einmal er- zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit weitert oder ergänzt. Dieser Zwischenschritt einer kurzen, (S. 18–20; 38–40; 44–45) aber eingehenden Erläuterung des Dargestellten hilft den (Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus TN zu verstehen, um welche Gedenkorte und erinnerungs- (KIgA e.V.) kulturelle Handlungen es jeweils geht.

Die Gegenwart der Vergangenheit Methoden für die Auseinandersetzung mit sekundärem Antisemitismus ab 14 Jahren (Sekundarstufe I)

MATERIAL Download-Ordner A1 1, Beamer/Smartboard, Krepp-Klebeband

ZEIT 45 Min (15 Min/30 Min)

LERNZIELE Die TN sind für die gesellschaftliche Bedeutung der NS-Ver- gangenheit sensibilisiert. Sie wissen um verschiedene Orte und Formen des Gedenkens und Erinnerns an die deutschen Verbrechen. Sie sind sich eigener Haltungen und Bezüge zur NS-Geschichte bewusst und können sich dazu kritisch posi- tionieren.

Schritt 1: Bilderrätsel Übung (10 Min) Das Bilderrätsel wird in Form einer digitalen Präsentation (. ORDNER A1) an eine Wand oder ein Smartboard proji- ziert. Es besteht aus verschiedenen Fotos, die wie Puzzles jeweils in mehrere Teile zerlegt sind. Durch das schrittweise

1 Ordner auf der Webseite https://tinyurl.com/qkprb54

89 Übungen und Hilfen

Zusammenführung (5 Min) Aufgabe der TN ist es nun, nacheinander ihre Aussagen auf dem Barometer einzuordnen, je nachdem zu welchem Er- Wenn alle drei Rätsel gelöst und erläutert sind, stellen die gebnis ihre Kleingruppe gekommen ist. Das Maß der Zustim- Teamenden die verschiedenen Orte und Handlungen in ei- mung oder Ablehnung können sie durch die Position ihrer nen übergeordneten Zusammenhang. Sie stellen heraus, Aussage auf der Skala bestimmen. Ihre Entscheidung sollen dass der Geschichte der Judenverfolgung und anderer die TN kurz begründen und auch eventuelle Meinungsunter- NS-Verbrechen in unserer Gesellschaft eine große Bedeu- schiede innerhalb der Gruppe zur Sprache bringen. tung beigemessen wird. Sichtbar wird dies nicht nur an Er- innerungsorten wie Denkmälern oder baulichen Überresten. Die Teamenden können die TN durch gezielte Fragen dabei In unserem Alltag kann uns das Thema auch in anderen Zu- unterstützen, die ihrer Entscheidung zugrundeliegenden Ar- sammenhängen begegnen, zum Beispiel in Gesprächen mit gumente und Gefühle nachvollziehbar zu artikulieren. Daran Familie und Freunden/-innen, in den Medien oder der Schule. anknüpfend können sie durch Nachfragen auch die übrigen TN einbeziehen und zur Diskussion ermutigen. Die Teamenden fragen nun die TN, ob ihnen konkrete Bei- spiele oder Erlebnisse dazu einfallen, wo sie in ihrem Alltag mit der NS-Vergangenheit oder Formen des Gedenkens kon- Aussagen: frontiert sind. Dieser kurze Erfahrungsaustausch dient zu- ƒƒ „Über die Zeit des Nationalsozialismus weiß ich ziemlich gleich als Überleitung zum Aussagen-Barometer (Schritt 2). viel.“ ƒƒ „Ich verstehe nicht, warum ich mich heute noch mit der Hinweis Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen soll.“ ƒƒ „Ich wünsche mir einen anderen Umgang mit dem Thema Machen Sie sich frühzeitig mit den technischen Vorausset- Nationalsozialismus in der Schule.“ zungen der digitalen Präsentation des Bilderrätsels vertraut ƒƒ „Ich sehe gerne Dokumentarfilme über die Nazi-Zeit.“ und probieren Sie diese vorher aus. Je nach Dateiformat er- ƒƒ „Museen und Ausstellungen über die Nazi-Zeit finde ich folgt die schrittweise Aufdeckung der Bildfelder durch einfa- spannend.“ ches Weiterklicken oder Scrollen. Je nach Format steht Ihnen ƒƒ „Ich würde gerne mehr über den Holocaust erfahren.“ am unteren Bildrand ein Quicklink zur Verfügung, mit dem Sie ƒƒ „Beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte sollte man weinen.“ ein frühzeitig erratenes Bild direkt aufdecken bzw. in die Ge- ƒƒ „Ich finde es wichtig, mich mit dem Nationalsozialismus samtansicht überführen können. zu beschäftigen, weil ich in Deutschland lebe.“ Informieren Sie sich im Vorfeld über die im Bilderrätsel be- handelten Orte und Gedenkformen. Hinweis Arbeiten Sie mit kleineren Gruppen, so reduzieren Sie ein- Verweisen Sie nach Möglichkeit auch auf lokale Gedenk- und fach die Anzahl der Aussagen oder lassen Sie diese individu- Erinnerungsorte oder -handlungen (z. B. Gedenkfeiern) aus ell (statt in Kleingruppen) bearbeiten. Ihrer eigenen Umgebung. Sie können solche lokalen Bei- spiele auch in das Bilderrätsel integrieren. (Eine technische Seien Sie gegenüber den Begründungen und Empfindungen Anleitung zum selbstständigen Erstellen eines digitalen Bil- der TN aufgeschlossen und unterlassen Sie Bewertungen. derrätsels finden Sie im. ORDNER A1.) Beachten Sie dabei, Respektieren Sie die Eigenpositionierung der TN auf der Ba- dass sich die Beispiele in ihrem Charakter und/oder ihrer Be- rometer-Skala und vermeiden Sie es, in deren Entscheidung deutung möglichst voneinander unterscheiden. aktiv einzugreifen. Begegnen Sie eventuell problematischen Äußerungen nicht mit ‚Belehrungen‘, sondern öffnen Sie Schritt 2: Aussagen-Barometer den Raum für Diskussion. Lenken Sie den Blick auf kontro- verse Sichtweisen und mögliche Ambivalenzen, ohne Ihre Übung (30 Min) eigene Haltung zu verleugnen. Deutlich grenzüberschreiten- Die TN sitzen im Stuhlkreis und werden zu Kleingruppen von de Kommentare, die andere Menschen abwerten, diskrimi- jeweils zwei bis vier Personen eingeteilt (je nach Größe der nieren oder historische Tatsachen wie den Holocaust infrage Gesamtgruppe). Jede Kleingruppe bekommt eine vorberei- stellen, sind jedoch klar zu unterbinden. tete Aussagekarte (ORDNER A1) zugewiesen, deren Inhalt sie kurz gemeinsam diskutiert und zu der sie sich dann po- sitionieren soll. „Oh what a World“ — Zum Einstieg Die Teamenden bereiten unterdessen eine Barometer-Skala in das Verschwörungsdenken in Form einer langen Linie vor. Diese kleben sie entweder Methoden zur Auseinandersetzung mit mit Krepp-Klebeband in der Mitte des Stuhlkreises auf den Boden, oder sie ziehen sie mit Kreide quer über die gesam- antisemitischen­ Verschwörungsideologien te Breite der aufgeklappten Tafel. Beide Enden der Skala ab 14 Jahren (Sekundarstufe I) kennzeichnen die Teamenden mit einer Positionskarte für Zustimmung („Stimme zu“) und Ablehnung („Stimme nicht zu“) (ORDNER A1). MATERIAL Download-Ordner B1, Flipchartpapier, Filzmarker

90 Übungen und Hilfen

ZEIT Zusammenführung (10 Min) 45 Min (20 Min/25 Min) Alle TN kommen wieder zusammen und sehen sich die Pla- LERNZIELE kate noch einmal gemeinsam an. Wer will, kann noch etwas Die TN sind dafür sensibilisiert, dass die Welt komplex und ergänzen. Anschließend führen die Teamenden die Ergeb- oft schwer überschaubar ist. Sie wissen, dass Gefühle wie nisse zusammen und fokussieren auf die folgenden Aspekte: Ohnmacht, Verwirrung oder Unsicherheit aus den Schwie- rigkeiten entstehen können, sich in einer unübersichtlichen Bei dem Plakat zur „Welt-Beschreibung“ deuten die Tea- Welt zu orientieren. Die TN erhalten einen ersten Einblick menden insbesondere auf solche Charakterisierungen hin, in die Muster und Dynamiken verschwörungstheoretischer die auf Komplexität und schwer Verständliches verweisen Argumentationen. (z. B. „kompliziert“, „unübersichtlich“). Beiträge mit Bezug auf die negativen Folgen gesellschaftlicher und sozialer Verhältnisse sind auf ihre Ursachen zurückzuführen (z. B. Schritt 1: Stumme Diskussion „ungerecht“, „rücksichtslos“, „profit-“ oder „wettbewerbs­ Übung (10 Min) orientiert“). Zwei vorbereitete Plakate werden an unterschiedlichen Stel- Bei dem Plakat zum „Wissenserwerb“ heben die Teamenden len im Raum aufgehängt oder auf freistehenden Tischen die Verschiedenartigkeit möglicher Informationsbeschaf- ausgelegt. fung hervor. Dabei sollten sie zugleich für die Notwendigkeit einer kritischen Prüfung von Quellen sensibilisieren. Gerade Je ein Plakat enthält eine der folgenden Fragen: das vermutlich häufig genannte Beispiel Internet eignet sich ƒƒ „Wie würde ich die Welt, in der wir leben, beschreiben?“ dazu, auch die Verbreitungsmöglichkeiten von Gerüchten ƒƒ „Woher bekomme ich neues Wissen, um zu verstehen, und Mobbing in den Blick zu nehmen. wie die Welt funktioniert?“ Im Ergebnis ist einerseits zu verdeutlichen, dass komplexe Die Plakate sollten gut zugänglich sein und einen schreibfes- gesellschaftliche Zusammenhänge eine Orientierung er- ten Untergrund haben. An beiden Stationen sind mehrere schweren oder sogar Gefühle der Ohnmacht hervorrufen Filzmarker zum Schreiben platziert. können. Aber: Weder kann man alles wissen, noch muss man Die einzelnen TN besuchen jetzt — sich frei im Raum bewe- sich von solcher Komplexität einschüchtern lassen! gend — nacheinander beide Plakat-Stationen und versuchen, Andererseits ist zu zeigen, dass uns vielfältige Möglichkei- die dort formulierten Fragen zu beantworten. Ihre Antwor- ten zur Verfügung stehen, um uns die Orientierung zu er- ten und Kommentare schreiben sie direkt auf das jeweilige leichtern und Informationen zu überprüfen. Aber: Man sollte Plakat, ohne dabei zu sprechen. nicht leichtfertig alles glauben, sondern die Seriosität einer Sie können auch schreibend aufeinander Bezug nehmen, Quelle hinterfragen und mit gesundem Menschenverstand indem sie die verschiedenen Beiträge gegenseitig ergänzen prüfen! oder kommentieren. Beleidigungen und Beschimpfungen sind nicht erlaubt. Die TN können selbstständig entscheiden, Schritt 2: Rollenspiel in welcher Reihenfolge und wie oft sie die Stationen aufsu- chen. Übung (10 Min) Die Teamenden erklären den Ablauf der Übung: Hinweis Die TN werden im Folgenden mit einer kruden Verschwö- Um eine zielführende Bearbeitung der Diskussionsfragen zu rungstheorie konfrontiert. Ihre Aufgabe wird es sein, dage- gewährleisten, kann es hilfreich sein, den einführenden Ar- gen zu argumentieren und die aufgestellten Behauptungen beitsauftrag mit konkreten Beispielen zu erläutern. Während hartnäckig zu hinterfragen. der stummen Diskussionsphase sollten die Teamenden nur dann unterstützend eingreifen, wenn bei der Beantwortung Danach beginnt das eigentliche Spiel. Die Teamenden der Fragen grundsätzliche Missverständnisse zutage treten. schlüpfen in eine Rolle, in der sie vor der Gruppe eine belie- bige, aber bewusst absurde Verschwörungstheorie vertre- ten. So zum Beispiel: (a) „Tische regieren die Schule!“ — Die eigentliche Herr- schaft über die Schule üben die Tische aus. Wenn die Schule des Nachts leer ist, dann erwachen sie zum Le- ben und bewegen sich durch das Gebäude. Alle Vorgän- ge des Schulbetriebs werden insgeheim von ihnen kon- trolliert. (b) „Der öffentliche Personennahverkehr ist ein geheimes Instrument der Autoindustrie!“ — Verspätungen und Ausfälle bei Bussen und Bahnen sind absichtlich ge- schaffen, um der Kundschaft den Alltag zu erschweren.

91 Übungen und Hilfen

Die künstlich geschaffene Mühsal soll die Menschen Danach erfolgt eine systematische Auswertung der Übung zum Kauf und zur Nutzung von Autos animieren. anhand nachstehender Fragen. Gemeinsam untersuchen die TN nacheinander die zu beobachtende Gesprächsdynamik, Ihre Theorie tragen die Teamenden mit Inbrunst und voller Argumentationstechniken und Gegenargumentationen. gespielter Überzeugung vor. Sie untermalen sie mit kreati- ven Argumenten und irren „Beweisführungen“. Fragen: Die Gruppe der TN hingegen versucht, gegen die Ver- schwörungstheorie zu argumentieren. In einem lebhaften ƒƒ Was ist hier gerade passiert? Was konntet ihr beobach- Schlagabtausch versuchen beide Lager, sich gegenseitig zu ten? überzeugen. (Bei zwei Teamenden kann eine/-r von beiden ƒƒ Mit welchen (Gesprächs-)Techniken hat der/die Teamende die Gruppe der TN unterstützen und diese zur aktiven Teil- versucht, euch von der Verschwörungstheorie zu über- nahme animieren.) Nach einigen Minuten wird das Spiel ab- zeugen? gebrochen und im Anschluss gemeinsam analysiert. ƒƒ Welche eurer Argumente oder Mittel haben gut funktio- niert, um gegen die Verschwörungstheorie vorzugehen? Wo gab es Erfolge, wo andere Alternativen? Hinweis Die Teamenden unterstützen die TN gegebenenfalls dabei, In dieser Übung geht es darum, den TN eine manipulative typische Strukturmerkmale zu identifizieren (z. B. stures Be- Kommunikationsdynamik und eine Unzugänglichkeit für ra- harren, häufiges Wiederholen, Behauptungen als Tatsachen tionale Gegenargumente vor Augen zu führen. Die Teamen- darstellen, Unzugänglichkeit für Argumente; Umdeutung den sollten deshalb ihre absurde Verschwörungstheorie und von Gegenargumenten). die zugehörige Argumentation gut vorbereiten, fantasievoll ausgestalten und vor allem als Groteske kenntlich machen. Bei Bedarf nachhelfen können die Teamenden ebenso bei Haben Sie Mut zu bizarren Gedanken-Experimenten! der Analyse und Sammlung möglicher Gegenstrategien (z. B. skeptisches Nachfragen, Quellen und Beweise fordern, Verwenden Sie für Ihre Argumentation Stilmittel wie die fol- alternative Deutungen erwägen, Ironie). genden: ƒƒ Spielen Sie sich als wissend und erleuchtet auf. Zeigen Die Antworten der TN auf die dritte Frage sammeln die Sie sich bemüht, die „Verblendeten“ zu überzeugen. ­Teamenden an der Tafel oder am Flipchart. Dorthin hängen ƒƒ Äußern sie beliebige Verdächtigungen und streuen Sie sie abschließend auch ein schriftliches Fazit (. ORDNER B1): Gerüchte, die sie dann als Wahrheit hinstellen („Man sagt/ ƒƒ „Diskussion schwierig — Wer Verschwörungstheorien weiß doch, dass …“). vertritt, ist oft hartnäckig und nicht offen für Gegenar- ƒƒ Ziehen Sie, was immer Ihnen einfällt, als vermeintlichen gumente.“ Beweis für ihre Theorie heran. Wiederholen Sie Ihre Argu- ƒƒ „Was nicht passt, wird passend gemacht — Angebliche mente vielfach und bleiben Sie stur. Beweise werden nach Belieben benutzt, Gegenargumen- ƒƒ Begegnen Sie kritischen Nachfragen mit Gegenfragen. te sogar umgedeutet.“ Drehen Sie Gegenargumente einfach um, bis diese Ihre ƒƒ „Trotzdem dagegenhalten — Gegen Verschwörungstheo- Theorie scheinbar stützen. rien hilft logisches Denken und ein kritischer Umgang mit ƒƒ Beziehen Sie sich auf zweifelhafte Autoritäten und dubi- Argumenten und Quellen.“ ose Quellen (z. B. angebliche „Geheimstatistiken der Ge- heimdienste“). ƒƒ Untermauern Sie Ihre Argumente mit seltsamen Behaup- Die Fantasie von einer tungen und kreieren Sie sonderbare Zusammenhänge ‚jüdischen Verschwörung‘ (z. B. „auf künstliche Intelligenz zurückzuführen“ oder „senden rätselhafte elektromagnetische Strahlungen“). Methoden zur Auseinandersetzung mit ƒƒ Verweisen Sie auf „dunkle Mächte“ und benutzen Sie antisemitischen­ Verschwörungsideologien Schlagworte wie „einflussreich“, „machtvoll“, „manipu­ liert“, „gelenkt“, „im Geheimen“, „Verschwörung“, „Strip­ ab 14 Jahren (Sekundarstufe I) penzieher“ etc. MATERIAL Keine noch so krude Behauptung ist zu abwegig, keine noch Download-Ordner B1, Beamer/Smartboard so gewagte Spekulation zu verquer! Jedoch: ZEIT Bei aller nötigen Begeisterung für Ihre Rolle — lassen Sie den 20 Min TN ausreichend Raum für Gegenrede und skeptische Fragen, damit diese sich ausprobieren können. LERNZIELE Die TN sind für die Existenz von antisemitischen Verschwö- rungstheorien sensibilisiert. Sie wissen um die antisemiti- Zusammenführung (15 Min) schen Zuschreibungen von Machtstreben und globalem Ein- Teamende und TN finden sich in beruhigter Gesprächssitu- fluss von Jüdinnen und Juden. ation zusammen. Für den Ausstieg aus dem Rollenspiel tau- schen die TN in einer kurzen Runde zunächst erste Eindrü- cke aus, wie das Geschehene auf sie emotional gewirkt hat.

92 Übungen und Hilfen

Bildanalyse Die um 1938 entstandene Karikatur zeigt einen ‚jüdischen Kraken‘ als Symbol der Weltverschwörung. Sein Gesicht Übung (15 Min) trägt die charakteristischen Züge von Winston Churchill. Der Die TN sitzen im Stuhlkreis und mit freiem Sichtfeld vor ei- britische Politiker hatte die antisemitische Politik in Deutsch- ner (Lein-)Wand oder einem Smartboard, worauf ein Bild land wiederholt verurteilt und stand auch der zionistischen projiziert werden kann. Die anschließende Bildanalyse neh- Idee grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Die NS-Pro- men alle gemeinsam in einem moderierten Gespräch vor. paganda fand in Churchill ein willkommenes Feindbild und diffamierte ihn als Teil einer ‚jüdischen Verschwörung‘. Zunächst jedoch kündigen die Teamenden einleitend die bevorstehende Arbeit mit einer Karikatur an und erläutern Im ersten Schritt (Beschreibung) geben die TN erst einmal den Begriff. die einzelnen Bildelemente wieder. Dabei beschränken sie sich auf eine möglichst sachliche Schilderung und nehmen Definition: Eine Karikatur (ital.caricare = überladen) ist eine noch keine weitere Interpretation vor. Sie erkennen einen satirisch verzerrte Zeichnung. Karikaturen begegnen uns überproportionierten, den Erdball fest umklammernden tagtäglich in den Medien. Sie machen sich in zugespitzter Kraken. Seine Tentakel bohren sich derart in die Weltkugel, und übertriebener Form über bestimmte Personen, gesell- dass diese verletzt zu bluten scheint. Das Gesicht des Kra- schaftliche Gruppen oder politische Sachverhalte lustig. Ihr ken wirkt abstoßend, mürrisch und unfreundlich. Über oder Ziel ist es, auf einen konkreten als problematisch empfunde- hinter ihm schwebt ein Davidstern. nen Umstand aufmerksam zu machen, ihn zu kommentieren und zu kritisieren. Fragen: Erst danach werfen die Teamenden das Bild (. ORDNER B1) ƒƒ Was ist auf der Zeichnung zu sehen? an die Wand. Die ausführliche Analyse der Karikatur folgt ei- ƒƒ Welche Gegenstände, Figuren oder Symbole sind hier ab- nem Dreischritt aus Beschreibung, Deutung und Einordnung gebildet, und in welchem Verhältnis stehen diese Bildele- des Dargestellten anhand von Leitfragen. mente zueinander (z. B. Stellung, Proportionen)? ƒƒ Wie lässt sich der Gesichtsausdruck des Kraken beschrei- Hinweis ben, und was tut er mit seinen Tentakeln? Beachten Sie als Voraussetzung für diese Übung unbedingt, Im zweiten Schritt (Deutung) erörtern und interpretieren dass die TN mit typischen Merkmalen und Mechanismen von die TN die Symbolik der Karikatur. Sie identifizieren den Verschwörungstheorien bereits vertraut sein müssen! Ar- Kraken als Sinnbild für eine bedrohliche, die ganze Welt beiten Sie diese im Vorfeld mit den TN heraus, z. B. mit der umklammernde und kontrollierende Macht. Der feste Griff Rätsel-Rallye aus der Methode „Ich mach’ mir die Welt, wie seiner Tentakel und das Blut der Erde stehen für den allum- sie mir gefällt!“. Stellen Sie sicher, dass die Merkmale für alle fassenden, gewaltsamen und zerstörerischen Charakter sei- sichtbar im Raum hängen, oder nutzen Sie die Arbeitshilfe ner Herrschaft. Das über ihm schwebende Symbol des Ju- (ORDNER B1). dentums markiert den Kraken entweder als jüdisch oder als Sollten im Raum die Licht- und Sichtverhältnisse für das ge- unter jüdischem Einfluss stehend. meinsame Betrachten der projizierten Abbildung unvorteil- haft sein, so können Sie die Karikatur auch mehrfach aus- Fragen: drucken und direkt an die TN ausgeben. Sammeln Sie die ƒƒ Was will der Zeichner mit dieser Karikatur ausdrücken? Bilder nach der Übung wieder ein! ƒƒ Welche Bedeutung haben die einzelnen Elemente, Sym- Die Methode eignet sich auch als Hinführung zu einer wei- bole und Handlungen? tergehenden Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus ƒƒ Wofür steht der Krake mit seinen Tentakeln, und warum oder antisemitische Verschwörungstheorien. hat der Zeichner ausgerechnet dieses Tier gewählt? ƒƒ Wie ist der hinter/über dem Kraken schwebende David­ Gegenstand der Bildanaly- stern zu deuten, und was wird damit unterstellt? se ist eine antisemitische Karikatur aus der Feder Im dritten Schritt der Bildbetrachtung (Einordnung) stel- von Josef Plank (Pseudo- len die TN die Karikatur schließlich in den übergeordneten nym „Seppla“). Der ideo- Zusammenhang irrationalen Verschwörungsdenkens. Sie logisch gefestigte Kari- arbeiten heraus, dass die antisemitische Idee ‚jüdischer‘ katurist arbeitete in den Macht und Einflussnahme eine haarsträubend verallgemei- 1920er- und 1930er-Jah- nernde und bösartige Unterstellung darstellt. ren für die nationalsozia- listische Satirezeitschrift Fragen: „Die Brennessel“ und das ƒƒ Warum lässt sich diese Zeichnung als judenfeindlich cha- NS-Wochenblatt „Illustrier- rakterisieren, und was genau wird über Jüdinnen und Ju- ter Beobachter“. den behauptet?

93 Übungen und Hilfen

ƒƒ Woran ist auszumachen, dass es sich hier um eine Ver- schwörungstheorie handelt, bzw. welche Merkmale einer Hrsg.: Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus Verschwörungstheorie sind wiederzuerkennen? e.V. (KIgA e.V.). ƒƒ Spielt es eine Rolle, dass der Zeichner ein Anhänger des KIgA e.V. entwickelt innovative Konzepte für die päda- Nationalsozialismus war? gogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Sie sind aktiv in den Berei- Zusammenführung (5 Min) chen: Antisemitismus, Islam/Islamismus/Antimuslimi- Die Teamenden fassen die zentralen Ergebnisse und Er- scher Rassismus und Historisch-politischer Bildung. Ihr kenntnisse aus der Bildanalyse nochmals zusammen. Sie spezifischer Schwerpunkt ist die Arbeit mit muslimisch können die TN an dieser Stelle noch einmal darauf hinwei- sozialisierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. sen, dass es sich um eine Karikatur aus der NS-Propaganda Projekt: Anders Denken. Politische Bildung gegen handelt. Antisemitismus Die Teamenden weisen deutlich darauf hin, dass die Bild- darstellung nur eine antisemitische Fantasie wiedergibt. Das Projekt erstellt Konzepte und Materialien für die Sie zeigen mit Bezug auf die typischen Merkmale einer antisemitismuskritische Bildungsarbeit mit Schüle- Verschwörungstheorie erneut auf, dass diese Fantasie sich ­r_in­nen der Sek I und Sek II. Die Bildungskonzepte aus Vorannahmen und Unterstellungen speist. Sie stellen fokussieren aktuelle Formen des Antisemitismus wie heraus, dass solche judenfeindlichen Bilder einerseits an den israelbezogenen und den sekundären Antisemitis- alte Vorurteile anknüpfen können und andererseits immer mus, das Feld der Ver- wieder neu verbreitet und somit aktualisiert werden. Auch schwörungstheorien sowie heute noch kursieren unsinnige Vorstellungen und bösarti- ­religiös-fundamentalistische ge Behauptungen über ‚die Juden’ — Gerüchte über ihre an- Positionen. Sie zielen ab auf geblichen Charaktereigenschaften, über Macht und Einfluss, die Befähigung zu Ambigui- über verderbliche und andere schädigende Handlungen. tätstoleranz und kritischer Urteilskompetenz und sind modular einsetzbar.

www.tinyurl.com/y8mwpau4

94 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Antisemitismusprävention

Titel: Gefühlserbschaften im Umbruch Titel: Läuft noch nicht? Gönn dir: 7 Punkte für eine Jugendarbeit gegen Anti­ Hrsg.: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in semitismus! Deutschland e.V. Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung

www.tinyurl.com/y78act89

www.tinyurl.com/ycojoeq4 Titel: Commitment without Borders — Ein deutsch-türkisches Handbuch zu Anti- semitismusprävention und Holocaust Titel: Antisemitismus und Migration. Education Baustein 5 Hrsg.: Demirel, Aycan/Hızarcı, Dervis¸ im Auf- Autor_in: Kiefer, Michael trag der Kreuzberger Initiative gegen Hrsg.: Bundeskoordination Schule ohne Antisemitismus (KIgA e.V.) ­Rassismus — Schule mit Courage

www.tinyurl.com/y96rw6jo www.tinyurl.com/y3oxod2n

Titel: Coexist. Antisemitismus in der ­Migrationsgesellschaft Titel: Jüdische Lebenswelten in Deutschland Hrsg.: beratungsNetzwerk hessen. heute Gemeinsam für Demokratie und gegen Hrsg.: Zeitbild Verlag/Agentur für Kommunika- Rechts­extremismus tion GmbH/Zeitbild Stiftung

www.tinyurl.com/y7zndtqf www.tinyurl.com/yycnl2dh

Titel: Antisemitismus an der Schule — ein beständiges Problem? Titel: Antisemitismus und Protestantismus. Impulse zur Selbstreflexion Hrsg.: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. Hrsg.: Evangelischen Akademien in Deutsch- land e.V.

www.tinyurl.com/y3buqzq7 www.tinyurl.com/y5wwyyb7

95 Zusammen wachsen Unterstützungsangebote für Multiplika­ -­ tor_innen in der Geflüchtetenarbeit

Vom Willkommen zum Ankommen (Amadeu Antonio Stiftung)

Kurzbeschreibung: Die Broschüre fasst die Stimmungen sowie Reaktionen zum ­„Sommer der Migration“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln ­zusammen, stellt Initiativen wie Aktionen vor und skizziert, was weiter getan werden muss, um ein wirkliches Ankommen zu ermöglichen. Ein besonderer Fokus wird auf Frauen, Kinder, ­Menschen mit Behinderung und LGBTI*Q gelegt. S. 2–4

Neue Nachbarn Vom Willkommen zum Ankommen

2015 waren laut UNHCR weltweit ca. 60 Millionen Men- Da Bundesländer und Landkreise seit Anfang der 2010er schen auf der Flucht. Nie zuvor suchten mehr Menschen Jahre im Zuge des Rückbaus sozialer Wohnungen auch in Deutschland Schutz, kein Thema hat die Medien und die Unterbringungskapazitäten sowie dazugehörige Versor- öffentliche Diskussion so beherrscht wie die Ankunft von gungs- und Betreuungsstrukturen für Asylsuchende konse- Flüchtlingen*. quent abgebaut hatten, mussten an vielen Orten neue Ge- meinschaftsunterkünfte eröffnet oder alternative Formen 2015 — das »Jahr der Flüchtlinge« der Unterbringung gesucht werden, um die Flüchtlinge Das Jahr begann mit zahlreichen Booten, die im Mittelmeer unterzubringen. Schnell hieß es, Deutschlands Aufnahme- bei dem Versuch, mit Flüchtlingen an Bord das europäische kapazitäten seien überlastet und die Versorgung von Asyl- Festland zu erreichen, gekentert waren. Das Mittelmeer suchenden nicht leistbar. Oft handelte es sich bei solchen entwickelte sich zum Massengrab — seit 2010 sind hier Äußerungen um nichts anderes als flüchtlingsfeindliche über 10.000 Menschen gestorben oder werden vermisst. Stimmungsmache, denn die Realität sieht anders aus: Nur Im Laufe des Frühjahrs verschob sich der Blick der Öffent- 6% der Kommunen gaben bei einer Umfrage im Februar lichkeit auf die südlichen Balkanländer, wo es im Sommer 2016 an, durch die neuankommenden Flüchtlinge überlas- 2015 einer großen Anzahl von Geflüchteten gelang, Euro- tet zu sein. Die große Mehrheit sprach davon, die Aufgabe pas Grenzen gen Westen zu überqueren. bewältigen zu können. In weiten Teilen Deutschlands ist die Auslastung der Notunterkünfte zudem bereits deutlich ge- Einige EU-Staaten reagierten darauf mit dem Versuch, die sunken, da sich die Zahl der ankommenden Asylsuchenden eigenen Grenzen abzuschotten; bauten Zäune und führten im Frühjahr 2016 deutlich verringert hat. die Kontrollen an den EU-Binnengrenzen wieder ein. Die re- sultierenden humanitären Notstände in den Grenzgebieten Beim Wiederaufbau staatlicher Versorgungsstrukturen wer- Ungarns und Österreichs bewogen schließlich die deutsche den oft ökonomische Überlegungen in den Vordergrund ge- Bundesregierung dazu, die Weiterreise der in Budapest stellt und Qualitätsstandards unterlaufen. So ist das Niveau und Wien Festsitzenden vorübergehend zuzulassen. Die der staatlichen Flüchtlingshilfe der 1990er Jahre bei weitem vollen Züge, die daraufhin nach Deutschland fuhren, wur- noch nicht erreicht. Wären ausreichend finanzielle Mittel den vielfach mit großer Hilfsbereitschaft erwartet. und die politische Bereitschaft zu einer besseren Verteilung

96 Hintergrundinformationen

von Flüchtlingen vorhanden, könnte Deutschland problem- desgebiet waren die Planung und Eröffnung neuer Wohn- los mehr Flüchtlinge aufnehmen und versorgen. stätten von ressentimentgeladenen und rassistischen Protesten der Anwohnerschaft begleitet. Im Herbst 2015 »Flüchtlingskrise« oder Aufnahmekrise? entlud sich dieser Hass auf brutale Weise. Kaum ein Tag verging ohne eine brennende Unterkunft, eine flüchtlings- Die Bilder flüchtender Menschen prägten im Jahr 2015 die feindliche Demonstration oder einen Übergriff auf Geflüch- Medien, ganz Deutschland diskutierte über »die Flücht- tete oder solche Menschen, die man für Geflüchtete hielt. lingskrise«. Flüchtlingskrise: Dieser Begriff konnte sich schnell für die Ereignisse des Sommers 2015 etablieren. Diese Verbrechen finden in einem Klima statt, das rechts- Und wahrlich: Die prekäre Lage der vielen Flüchtenden, die extreme und rechtspopulistische Akteure immer weiter auf ihrem Weg nach Europa mit Gewalt aufgehalten und un- aufheizen, indem sie die Grenzen des Sagbaren kontinuier- ter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten wur- lich verschieben. Rassistische Argumentationen werden so den, war und ist krisenhaft. Tatsächlich meint der Begriff salonfähig gemacht und erscheinen als gangbare Positio- jedoch die vermeintliche Überlastung Deutschlands durch nen. Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien und die als »Welle« oder »Ansturm« dargestellten Neuankom- Gruppierungen treiben mit ihren vermeintlich einfachen menden. Eine solche naturhafte Darstellung führt dazu, Lösungen die Krawalle der »besorgten Bürger« voran. Aber die Dargestellten nicht als menschliche Individuen wahrzu- die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge ist nicht auf das nehmen, sondern als homogene Masse. Diese Massendar- rechte Spektrum beschränkt: In allen Parteien sind populis- stellungen von Geflüchteten werden zudem auf politischer tische Stimmen zu hören, die auf Kosten der Geflüchteten Ebene genutzt, um die vermeintliche Überforderung zu be- auf Stimmenfang gehen. Immer häufiger führt diese Het- tonen und die neuerliche Abschottung zu legitimieren. So ze zu körperlichen Angriffen und Anschlägen auf geplante ist das Recht auf Asyl durch die im Asylpaket II im Februar oder bereits bezogene Unterkünfte, bei denen der Tod von 2016 beschlossenen Schnellverfahren beschränkt worden. Menschen billigend in Kauf genommen wird. Die Bilder aus Die Grenzen Europas wurden vor allem durch den »Türkei- Heidenau, Freital und Clausnitz erinnern erschreckend stark Deal« noch undurchlässiger. an die rassistischen Pogrome der 90er Jahre. Auch heute handelt es sich um nichts anderes als rechten Terror. Die Darstellung von Flüchtlingen als Naturkatastrophe, die plötzlich über Europa hereinbricht, verkennt zudem, dass Zum »Willkommen-Heißen« von Asylsuchenden gehört es die Ursachen der steigenden Zahl von Flüchtenden seit ge- daher auch, den geistigen Brandstifter_innen, die diese raumer Zeit existieren und nicht von der Politik Deutsch- Ausschreitungen provozieren, und jeder anderen Form von lands und der EU losgelöst betrachtet werden können: Rassismus zu widersprechen. Es ist nicht damit getan, sich Der seit 2011 andauernde Krieg in Syrien, der dauerhafte punktuell und in akuten Gefahrensituationen Rechtsextre- Kriegszustand im Irak und der gescheiterte »arabische men entgegen und schützend vor Flüchtlinge zu stellen. Es Frühling« haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen braucht breite zivilgesellschaftliche und staatliche Struktu- flüchten mussten oder vertrieben wurden. Die Situation in ren, die den Geflüchteten dauerhaft ein Leben in Sicherheit libanesischen und jordanischen Flüchtlingscamps spitzte­ ermöglichen und sie in die Lage versetzen, aktiv am gesell- sich weiter zu, als durch ausbleibende Zahlungen das schaftlichen Leben teilzunehmen. ­World Food Programm die Versorgung der Geflüchteten mit Nahrungsmitteln drastisch kürzen musste. Ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete Der Anstieg der Flüchtlingszahlen ist also weder überra- Neben dem neuen Ausmaß rechter Gewalt kam es 2015 schend noch ist das Phänomen der Einwanderung nach jedoch auch zu einem überwältigenden Engagement und Deutschland neu — es war lediglich unvorhersehbar und großer Solidarität mit Asylsuchenden. In Städten, Kom- erstmalig, dass Geflüchtete in so hoher Zahl in so kurzer munen und selbst kleinsten Orten fanden sich Menschen Zeit den Weg nach Deutschland fanden. Tatsächlich ist die zusammen, in denen die Situation der Flüchtlinge Empa- Bundesrepublik schon lange ein Einwanderungsland und thie und den Wunsch zu helfen hervorgerufen hatte. Über hat durch die Aufnahme von Vertriebenen, Spätaussiedle- 30 Millionen Bundesbürger_innen haben sich laut Deut- r_ innen und »Gastarbeiter_innen« viel Erfahrung mit der schem Spendenrat für Geflüchtete engagiert, in dem sie Integration von Migrant_innen. Das im Grundgesetz veran- Geld, Sachleistungen oder Zeit zur Verfügung stellten. Die kerte Recht auf Asyl resultiert direkt aus den Erfahrungen Mehrheit der Deutschen stand und steht Flüchtlingen of- des Zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen his- fen gegenüber. Sie übersetzen, geben Sprachkurse, sam- torischen Verantwortung Deutschlands, politisch Verfolg- meln Spenden und übernehmen Patenschaften. Vielerorts ten und vor Krieg flüchtenden Menschen Schutz zu geben. entstanden Willkommensinitiativen, welche die klaffenden Dessen Gewährung ist keine großzügige Geste, sondern ein Lücken staatlichen Handelns füllten, indem sie selbst die verankertes Recht, das nicht verhandelbar ist. Unterkunft, die Versorgung und die Betreuung der Asylsu- chenden realisierten. Hier organisierte die Zivilgesellschaft Eskalation rechter Hetze und Gewalt ihre Arbeit eigenständig. 2015 war auch das Jahr einer neuerlichen Eskalation flücht- Viele der Engagierten sind noch immer unermüdlich im lingsfeindlicher Hetze und Gewalt. Nie zuvor gab es so viele Einsatz. Sie werden auch künftig den Bedürfnissen der gewalttätige Übergriffe auf Unterkünfte. Im gesamten Bun- Flüchtlinge folgen und sich mit quälenden Wartezeiten

97 Zusammen wachsen

im Asylverfahren, Anerkennungschancen, verhindertem Die Broschüre kann Unterstützenden helfen, nach dem Familiennachzug und anderen politischen und rechtlichen »Willkommen-Heißen« den nächsten Schritt zu gehen und Fragen befassen müssen. Damit ehrenamtliches Engage- eine umfassende Ankommensstruktur aufzubauen, die ment nicht aufgrund dieser Hürden ins Leere läuft, ist eine dauerhafte Inklusion von Flüchtlingen in die Gesell- staatliches Handeln erforderlich. Faire und zügige Asylver- schaft ermöglicht. Das bedeutet, bereits bestehende pro- fahren, menschenwürdige Unterbringung und umfassen- fessionelle Strukturen zu erweitern und so zu verändern, de Gesundheitssorge, Integrationsangebote vom ersten dass Geflüchteten eine langfristige Perspektive und eine Tag an, Sicherstellung von Schulbesuch und Förderung für chancengerechte Teilhabe an der deutschen Gesellschaft Kinder — es gibt einiges zu tun. möglich wird. Denn ein »Willkommen« signalisiert zunächst nur das Empfangen eines Gastes und die Integration in Be- Den Menschen, die sich Tag für Tag unentgeltlich für stehendes. Flüchtlinge einsetzen, gilt unsere vollste Anerkennung und Bewunderung. Als Gesellschaft müssen wir ihre unab- Nun gilt es dafür zu sorgen, dass diese Gäste unsere Nach- kömmliche Arbeit wertschätzen und ihre Motivation stär- bar_innen werden und bleiben und die Möglichkeit bekom- ken. Sie sind es, die Angela Merkels »Wir schaffen das!« men, aktiv und selbstbestimmt zu partizipieren und Neues in die Praxis umsetzen. Die momentane Lage ist auch eine zu schaffen. Chance, Brücken zu schlagen und neue Bündnisse für die Ob der Aufbau einer solchen Ankommensstruktur gelingt, Unterstützung von Flüchtlingen auf einer breiten gesell- hängt vor allem von der Bereitschaft der Beteiligten ab, schaftlichen Basis einzugehen. gemeinsam konstruktive Lösungen zu erarbeiten. Dafür Gleichzeitig müssen die Risiken und Grenzen des ehrenamt- ist eine breite Vernetzung notwendig — Verantwortliche lichen Engagements erkannt werden: Viele Unterstützende der Verwaltung, der Bildungseinrichtungen, der Wirtschaft arbeiten bis zur eigenen Erschöpfung und übernehmen und der Politik müssen in die Pflicht genommen werden, Aufgaben, für die sie nicht qualifiziert sind und die eigent- um die Engagierten in den Willkommensinitiativen und die lich professionelle Kräfte leisten müssten. Es darf kein Dau- Selbstorganisationen von Geflüchteten zu unterstützen erzustand sein, dass der Staat Verantwortung und solch und zu entlasten. Die Inklusion von Flüchtlingen ist nicht überfordernde Aufgaben auf die Zivilgesellschaft über- allein Arbeit der Willkommensinitiativen, sondern eine ge- trägt. Oft wird die Arbeit von Ehrenamtlichen nicht aus- samtgesellschaftliche Aufgabe. reichend wertgeschätzt, sie werden alleingelassen oder es Wir stehen erst am Anfang. Die große Herausforderung der werden ihnen gar Steine in den Weg gelegt. Gegenüber den Inklusion der Geflüchteten kann gelingen. Wir müssen ge- vermeintlichen Ängsten der »besorgten Bürger« erhalten meinsam dafür sorgen, dass die nächsten Jahre die Zeit sie nicht genug Gehör. Doch die Unterstützenden erkennen des Ankommens werden. in ihrem Engagement die Defizite der deutschen Asylpolitik und müssen eine öffentlich wahrnehmbare Stimme erhal- Tahera Ameer, Günter Burkhardt, Marius Hellwig, ten. Gleiches gilt für die Stimmen der Geflüchteten selbst, Anetta Kahane, Andrea Kothen, Timo Reinfrank die ebenfalls kaum gehört werden. Die Arbeit mit Flüchtlingen ist also immer politisch. Die * In dieser Broschüre werden neben dem Begriff »Flücht- Engagierten der Willkommensinitiativen müssen ein poli- ling« weitere Begriffe wie »Geflüchtete« sowie »Schutz-« tisches Selbstbewusstsein und eine Vision entwickeln, wie oder »Asylsuchende« oft synonym verwendet. Alle diese unsere Gesellschaft umgestaltet werden sollte, damit die In- Begriffe haben unserer Meinung nach als Sammelbezeich- klusion von Geflüchteten langfristig gelingen kann. Ohne die nungen Vor- und Nachteile. Perspektive von Menschen mit Fluchterfahrung kann dieser Inklusionsprozess jedoch kaum gelingen. Die Expertise und Perspektive von Migrant_innen- und Geflüchtetenselbstor- ganisationen muss daher präsenter werden. Zudem muss Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung die politische und soziale Arbeit der Kommunen die Bedürf- Seit ihrer Gründung 1998 ist es das Ziel der Amadeu nisse der Betroffenen von Anfang an aktiv einbeziehen. Antonio Stiftung, eine demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremis­ Der nächste Schritt: mus, Rassismus und Anti- Vom Willkommen zum Ankommen semitismus wendet. Dafür Die Ereignisse des Jahres 2015 haben die Amadeu Anto- unterstützt sie Initiativen nio Stiftung und PRO ASYL dazu veranlasst, die Broschüre und Projekte, die sich konti- »Refugees Welcome« umfassend zu aktualisieren und neu nuierlich für eine demokrati- aufzulegen. Das Heft klärt über die Situation der Geflüchte- sche Kultur engagieren und ten in Deutschland auf und zeigt beispielhaft die vielfältige für den Schutz von Minder- Arbeit mit Flüchtlingen auf. Bei der Überarbeitung der Bro- heiten eintreten. schüre wurde ein spezielles Augenmerk auf die Lage be- sonders schutzbedürftiger Menschen wie Frauen, Kinder, www.tinyurl.com/y6fbxy6z Menschen mit Behinderungen oder LGBTI*Q gelegt.

98 Projektbeschreibung

Empowered by Democracy Kooperationsprojekt In dem Projekt „Empowered by Democracy“ stellen sich Empowered by Democracy junge Menschen mit und ohne Fluchthintergrund der Frage: Das Projekt Empowered by Democracy ist ein Projekt „Wie wollen wir in dieser Gesellschaft zusammenleben?“. Im des Bundesausschuss Politische Bildung (bap) e.V. und Rahmen von Workshops und Seminaren werden vielfältige wird von mehreren Trägern umgesetzt: Dem Arbeits- Möglichkeiten angeboten, sich mit dieser Frage und dem kreis deutscher Bildungsstätten (AdB), der Arbeits- Zusammenleben in der Demokratie zu beschäftigen. Diese gemeinschaft katholischer-sozialer Bildungswerke Frage geht alle an — das Projekt will aber auch insbesonde- (AKSB), dem Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben re junge Menschen mit Fluchthintergrund für die Teilnahme (AL), dem Verband der Bildungszentren im ländlichen begeistern. Denn obwohl sie mit Erwartungen, Fragen und Raum (VBLR) und der Evangelischen Trägergruppe Vorstellungen von gesellschaftlichem Leben nach Deutsch- für gesellschaftspolitische Jugendarbeit (et), welche­ land kommen, werden ihre Stimmen oft ignoriert oder nicht die Gesamtkoordination inne hat. Unterstützt wird das ernst genommen. Innerhalb des Projekts soll deshalb eine Projekt von der Gemeinsamen Initiative der Träger­ Ermutigung zu aktiver Mitsprache erfolgen sowie die Chance politischer Jugendbildung im Bundesausschuss genutzt werden, als Teil der Mehrheitsgesellschaft von un- ­Politischer Bildung (GEMINI) und dem Deutschen terschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven zu lernen. ­Volkshochschul-Verband. Neben der Qualifizierung von jungen politischen Bildner_in- nen wird in den Seminaren auch entwickelt und erprobt, wie Formate und Methoden der politischen Bildung und Teilhabe für heterogene Zielgruppen konzipiert werden können. Aus den Ergebnissen werden diversitätsbewusste Konzepte ent- wickelt, mit denen die Multiplikator_innen ihre Kompetenzen erweitern können. Ein Beispiel dafür ist die Ausbildung zur_ zum Klimabotschafter_in. Nach der Teilnahme an drei aufei- nander aufbauenden Seminaren können die Teilnehmer_in- nen ihr erworbenes Fachwissen und die erlernten Methoden www.empowered-by-democracy.de in eigenen Klimaschutzprojekten umsetzen.

Poetry Project — Eine Übergeordnetes Ziel des Projekts ist es Fremdheit zu über- winden, Jugendlichen zu ermöglichen über ihre Gefühle und Schreib-Initiative mit Traumata zu sprechen, Abbau von möglichen Vorbehalten gegenüber Geflüchteten und einen Dialog zwischen den Kul- ­geflüchteten Jugendlichen turen zu beginnen. Die Poesie als verbindendes Element ist dabei Mittel zum Zweck. Poetry Project ist ein viersprachiges Lyrik-Projekt, in dem sich junge Menschen mit und ohne Fluchthintergrund be- gegnen können und die auf Persisch, Arabisch, Deutsch so- Trägerbeschreibung: wie Englisch von ihren Erfahrungen und Gefühlen berichten. Die dabei entstehenden sprachlichen Interaktionen werden Projektträger: The Poetry Projects e.V. durch öffentliche Lesungen nach außen getragen und aus- Initiatorin des Projekts und damit des Vereins ist gewählte Texte aus jeder Schreibgruppe, die das Projekt in SPIEGEL-Auslandskorrespondentin Susanne Koelbl. ganz Deutschland aufbaut, veröffentlicht. Gemeinsam mit dem in Afghanistan aufgewachsenen Die Schreibgruppen setzen sich zusammen aus den Work- Anwalt und Übersetzer Aarash D. Spanta lud sie junge shopanleiter_innen, Übersetzer_innen und jungen Men- Geflüchtete ein, an einem schen. Am Ende werden die Werke vorgestellt und gemein- Gedicht-Workshop teilzu- sam wird über die treffendste Übersetzung diskutiert. Ein nehmen. Seitdem haben erster Gedichtband erschien zu Beginn des Jahres 2018. Die sich Dutzende Schreibgrup- dort publizierten Texte wurden im selben Jahr mit dem Else pen in verschiedenen deut- Lasker-Schüler-Lyrikpreis ausgezeichnet. 2019 erhielten schen Städten gegründet. weitere junge Poet_innen den „THEO — Berlin-Brandenbur- gischer Preis für Junge Literatur“ in den Kategorien Lyrik www.thepoetryproject.de und Sprachräume.

99 Übungen und Hilfen

Allerdings war und ist der Begriff umstritten. Zahlreiche Kri- Kurzbeschreibung: tikerInnen aus Unterstützungsinitiativen betrachten etwa die Immer öfter müssen sich Rede von der „Willkommenskultur“ im offiziellen Sprachge- Menschen die Geflüchtete brauch als bisweilen heuchlerische Vereinnahmung — ange- unterstützen psychischen sichts ständig verschärfter Asylgesetze und zunehmender wie physischen Anfeindun- administrativer Restriktionen gegen Asylsuchende (vgl. Bei- gen erwehren. Die Bro- trag zum „Recht auf Asyl“ in dieser Handreichung), denen schüre will die Engagierten damit unmissverständlich bedeutet wird, dass sie eben gera- unterstützen, indem sie de nicht „willkommen“ sind. Die Kritik knüpft sich zudem an ihnen Argumentations- den oftmals schwammigen Gebrauch des Begriffs unter den und Umgangshilfen AkteurInnen der Unterstützungsarbeit selbst. Wie wird hier anbietet, damit sie sich bei „Willkommenskultur“ verstanden und inhaltlich gefüllt? Mit unterschiedlichen Anfein- welchen Vorstellungen und Motivationen, aber auch mit wel- dungsszenarien behaupten chen Klischeebildern und Erwartungen begegnen beruflich, können. ehrenamtlich und zivilgesellschaftlich Engagierte „den Ande- ren“? Nicht selten zeigt sich im Umgang mit Geflüchteten ein oftmals unreflektierter bzw. von den Unterstützenden selbst Einmischen und dagegen halten! gar nicht erst wahrgenommener Paternalismus. Geflüchtete Zum Umgang mit rassistischen Anfeindungen erscheinen hier in erster Linie als unselbstständige „Adres- im Kontext von Flucht und Asyl. satInnen“ der gewährten Hilfe, nicht aber als eigenständige (S. 12–13) AkteurInnen mit individuellen Erfahrungen, Bedürfnissen, (mobim. Mobile Beratung im Regierungsbezirk Münster­ Kenntnissen und Fähigkeiten. Häufig sind solche Haltungen Gegen Rechtsextremismus, für Demokratie zudem mit positiven wie negativen Zuschreibungen und ste- c/o ­Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster) reotypen Annahmen gegenüber der „Herkunftskultur“ der geflüchteten Menschen verknüpft. Von der „Willkommenskultur“ „Willkommenskultur“ verstanden als eine Idee der Partizipa- zu Teilhabe und Partizipation tion und der Teilhabe, setzt indessen die kritische Selbstre- flexion des eigenen Engagements voraus. Leitfragen hierfür können sein: Welche Erwartungen verknüpfte ich mit meinem Das „Ende der Willkommenskultur“ wurde in den vergan- Engagement? Welche Erwartungen werden enttäuscht, wenn genen Monaten wiederholt und in zunehmend aggressivem Geflüchtete nicht so handeln, wie ich mir das vorgestellt Tonfall ausgerufen. So forderte beispielsweise Armin Schus- habe? Und warum ist das so? Auf die konkrete Unterstüt- ter, Bundestagsabgeordneter der CDU, nach den Anschlägen zungsarbeit bezogen ist es sinnvoll, Angebote auf Grundlage von Ansbach und Würzburg im Juli 2016 an deren Stelle eine einer vor allem fragenden und zuhörenden Haltung gemein- „Abschiedskultur“. Die AfD griff den Begriff sogar in ihrem im sam mit den Geflüchteten zu entwickeln. Solche Zugänge er- Mai 2016 verabschiedeten Grundsatzprogramm auf, indem sie fordern die Bereitschaft, pauschalisierende und kulturalisie- darin einerseits massive Einschränkungen des Grundrechts rende Vorstellungen zu reflektieren. „Die“ Geflüchteten gibt auf Asyl verlangt, andererseits eine „Willkommenskultur für es nicht, die Herausforderung besteht vielmehr darin, sich Neu- und Ungeborene“ in Deutschland postuliert. Parteivor- den hier angekommenen Menschen so zu nähern, dass sie sitzende Frauke Petry diskreditierte die „Willkommenskultur“ die Sicherheit gewinnen, ihre Bedarfe frei äußern zu können. gegenüber Geflüchteten als Ausdruck eines „Schuld- und Dies sind erste Schritte, „Willkommenskultur“ als Teilhabe- Minderwertigkeitskomplexes“ aufgrund der nationalsozialis- und Partizipationskultur zu gestalten, auch wenn der grund- tischen Verbrechen. Die Abrechnung mit dem Begriff ist zu legend unterschiedliche soziale und rechtliche Status eine einem rhetorischen Kernbestandteil rechtspopulistischer Po- vollständige „Augenhöhe“ zwischen geflüchteten Menschen lemik geworden. In ihm bündeln sich die fundamentaloppo- und ihren UnterstützerInnen unmöglich macht. sitionellen Aversionen nicht nur gegen Geflüchtete, sondern auch gegen jede Form der Einwanderung und die „multikul- Aber nicht nur im Hinblick auf die unmittelbare, konkrete Ar- turelle Gesellschaft“ an sich. Tatsächlich bildete sich mit den beit mit Geflüchteten sind Fragen nach Zielen und Motiven kontinuierlich wachsenden Zahlen von Asylsuchenden, die bedeutsam, sondern auch für das Engagement im Rahmen in jüngster Zeit die Bundesrepublik erreichten, unter dem von Unterstützungsinitiativen und „Willkommensbündnis- Schlagwort der „Willkommenskultur“ eine durch zahllose sen“. Diese sollten einerseits gesellschaftlich möglichst breit Initiativen, Bündnisse und Einzelpersonen, aber auch durch aufgestellt und „vor Ort“ in den Kommunen, Stadtteilen und Wohlfahrtsverbände, Sportvereine und Religionsgemein- Nachbarschaften verankert sein. Andererseits ergibt sich schaften getragene, bislang beispiellose Hilfs- und Unterstüt- aus dem Anspruch, möglichst viele AkteurInnen in einem zungsbereitschaft für die hier ankommenden Menschen. Aber Bündnis zu integrieren, die Herausforderung, teilweise sehr auch Behörden und Verwaltungen machten sich zumindest unterschiedliche Perspektiven, Motive und Erwartungshal- zeitweise den Begriff zu eigen. Nicht zuletzt schien sich der tungen der Engagierten in Einklang zu bringen. Während sich Slogan auch gut für die Selbstdarstellung der Bundesrepublik die einen etwa einbringen, indem sie sich auf das Gebot der als weltoffenes, modernes Land nutzbar machen zu lassen. christlichen Nächstenliebe beziehen, sehen andere ihre Akti-

100 Übungen und Hilfen

vitäten als Facette einer kritischen Auseinandersetzung mit ber, zum einen das Wohl der Geflüchteten in den Mittelpunkt der Grenzpolitik der Europäischen Union. Manchen wiederum zu rücken und diesen Anspruch auch explizit zu formulieren, geht es zunächst vielleicht auch darum, durch ehrenamtli- zum anderen Geflüchtete nicht über deren Köpfe hinweg für ches Engagement Anerkennung zu erfahren. Dieser Verstän- politische Forderungen zu instrumentalisieren. digungsprozess sollte nicht zu Ab- und Ausgrenzungen oder zu Hierarchisierungen unter den Aktiven führen, sondern Autor_in: Herkenhoff, Anna-Lena idealerweise dazu beitragen, Transparenz und Klarheit für sich selbst, aber auch gegenüber den BündnispartnerInnen Hrsg.: mobim. Mobile Beratung im Regierungsbezirk herzustellen und die eigene Arbeit zu bereichern. Zielfüh- Münster Gegen Rechtsextremismus, für Demokratie rend kann in diesem Zusammenhang sein, ein gemeinsames c/o Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster Leitbild und einen Grundkonsens zu erarbeiten, auf dessen mobim unterstützt und berät alle, die sich im Regie- Grundlage die verschiedenen AkteurInnen im Bündnis zu- rungsbezirk Münster gegen Rechtsextremismus und sammenarbeiten. Wichtig ist hierbei die Verständigung darü- für Demokratie engagieren wollen. Sie stellen bei Problemen und Unsicherheiten im Umgang mit rassis- tischen, antisemitischen oder anderen diskriminieren- Beispiel für einen Grundkonsens den Herausforderungen Handlungssicherheit wieder „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rech- her. ten geboren. Das Wohl der Flüchtlinge steht im Mittel- punkt unserer Arbeit. Alle Beteiligten grenzen sich gegen jede Form von Rassismus und anderer gruppenbezoge- ner Menschenfeindlichkeit ab. Die Bündnismitglieder un- terstützen die Flüchtlinge in unterschiedlicher Art und Weise. Im Bündnis befinden sich Menschen mit verschie- denen Motivlagen und Aktionsformen. Diese werden von allen Beteiligten anerkannt, akzeptiert und bei Bedarf oder gar Konflikt miteinander besprochen mit dem Ziel, gemeinsam weiterzuarbeiten.“ [entnommen aus: Bun- www.tinyurl.com/y4mhfk38 desverband Mobile Beratung u.a.: Was tun, damit es nicht brennt? Leitfaden zur Vermeidung von rassistisch aufge- ladenen Konflikten im Umfeld von Sammelunterkünften für Flüchtlinge, 4. Auflage 2015}

Kurzbeschreibung: Zusammenfassung der Ergebnisse Die Expertise fasst In der Zusammenschau der Ergebnisse der vorliegenden Erkenntnisse zum The- Expertise lassen sich zunächst übergeordnet zwei zentrale mengebiet „Geflüchtete folgende Schlussfolgerungen ziehen: und Zusammenleben“ aus Wissenschaft und Praxis ƒƒ Maßnahmen zur Prävention flüchtlingsfeindlicher Ein- zusammen und erarbei- stellungen in der Bevölkerung und zur vorausschauen- tet auf dieser Grundlage den Verhinderung von Anfeindungen und Konflikten Handlungsempfehlungen sind insbesondere deshalb wichtig, weil aktuell vor allem für die „Integration von das Engagement der Zivilgesellschaft Wahrnehmung er- Geflüchteten unter der fährt. Ablehnung, die es unter der Bevölkerung gibt und Berücksichtigung lokaler die sich eher an Stammtischen oder in sozialen Medien Stimmungslagen“. äußert, wird nicht explizit als Problem eingeschätzt, so- lange Proteste und Konflikte nicht manifest werden. Ak- tuell bindet die Bewältigung der Herausforderungen vor Ort die zivilgesellschaftlichen Kräfte, für eine präventive Wie kann Integration von Flüchtlingen gelingen, Auseinandersetzung mit rassistischen und rechtsextre- ­damit die Stimmung nicht kippt? men Potentialen bleibt schlichtweg kein Freiraum. (S. 47-48; im Buch 79-82) ƒƒ Im Hinblick auf die ländlichen Gebiete zeichnet sich auf (Expertise des Institut für Sozialarbeit und Sozialpäda- der Basis der Ergebnisse der Interviews mit den Expertin- gogik e.V., Frankfurt (ISS) im Auftrag des beratungsNetz- nen ab, dass Integration eher als ein beiläufiger Prozess werk hessen — Gemeinsam für Demokratie und gegen wahrgenommen wird, spezifische Steuerungserforder- Rechtsextremismus, Wochenschau Verlag) nisse werden nicht explizit benannt. Formen der Nach- barschaftshilfe, der Einfluss von deutungsmächtigen Ak-

101 Übungen und Hilfen

teuren und die unausweichliche räumliche Nähe werden Know-how-Transfer: als Motoren der Integration hervorgehoben, ergänzende ƒƒ z.B. interkommunaler Austausch; Maßnahmen geraten aus dem Blick. Diese Einschätzun- ƒƒ Dokumentation und Publikation guter Praxis. gen machen deutlich, dass für die ländlichen Räume die Identifikation lokaler Schaffung von Bewusstsein für die Notwendigkeit von aktiven Integrationsmaßnahmen hoch ist, insbesonde- flüchtlingsfeindlicher Potentiale: ƒ z.B. Sensibilisierung lokaler Akteure für die Notwendig- re auch deshalb, weil in ländlichen Räumen strukturelle ƒ keit der Wahrnehmung von Rassismus und Rechtsextre- Nachteile (z.B. Mobilitäts-, Arbeitsmarkt- und Angebots- mismus; restriktionen) ausgeglichen werden müssen. ƒƒ Verfahren zur Identifikation latenter Konfliktthemen und Als spezifische mögliche Handlungsfelder für die proaktive der spezifischen Milieus, in denen sie entstehen; Mobile Beratung bilden sich ab: ƒƒ Unterstützung bei der Entwicklung lokaler Deutungsmus- Beratung und Unterstützung von ter; politisch verantwortlichen Akteuren: ƒƒ Risikoanalysen für die Entstehung offenen Protestes ge- gen Flüchtlinge. ƒƒ z.B. Entwicklung einer persönlichen Haltung und von Standing in Konfliktsituationen; Konfliktmoderation ƒƒ Moderation von Prozessen zur Entwicklung eines kom- ƒƒ z.B. Beratung und Moderation in Konflikten zwischen munalen Mottos bei der Flüchtlingsaufnahme und -be- staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren; treuung; ƒƒ Beratung von verantwortlichen Akteuren bei der Modera- ƒƒ Kommunikationsstrategien in Hinblick auf unterschiedli- tion von Konflikten z.B. mit Anwohner/innen; che Zielgruppen; ƒƒ Schulungen von lokalen (interkulturellen) Konfliktlotsen. ƒƒ Sensibilisierung für und ggf. Qualifizierung für die Anlei- tung partizipativer Verfahren; Prävention von Gewalt gegen Flüchtlinge ƒ z.B. Analyse der Entwicklungen in rechten Szenen im Zu- ƒƒ Strategien zum Umgang mit rechtspopulistischen Partei- ƒ en in den Parlamenten; sammenhang mit dem Zuzug von Flüchtlingen; ƒ Analyse und Verhinderung von Prozessen der Ausgren- ƒƒ Erfahrungsaustausch unter Bürgermeister/innen und ƒ Landräte/innen. zung und Bedrohung von Flüchtlingen unter Jugendli- chen; Beratung und Unterstützung ƒƒ Entwicklung lokaler Schutzsstrategien. ehrenamtlich Engagierter: ƒƒ z.B. Entlastung und Erfahrungsaustausch; ƒƒ Wertschätzung, Erhalt und Überführung des Engage- Autor_innen: Bohn, Irina/Alicke, Tina ments in neue Kontexte; Hrsg.: Expertise des Institut für Sozialarbeit und ƒƒ Schulungen in Hinblick auf diskursive Multiplikator/in- Sozialpädagogik e.V., Frankfurt(ISS) im Auftrag des be- nen-Funktion; ratungsNetzwerk hessen — Gemeinsam für Demokratie ƒƒ Vermittlung von Handlungssicherheit gegen Anfeindun- und gegen Rechtsextremismus, Wochenschau Verlag gen; ƒƒ Empowerment von Flüchtlingen und Migrant/innen zur Das beratungsNetzwerk hessen — Gemeinsam für Selbstorganisation und Partizipation; Demokratie und gegen Rechtsextremismus ist keine ƒƒ Strategien im zivilgesellschaftlichen Umgang mit rechts- eigenständige Organisation, sondern ein Netzwerk. Es populistischen Parteien. besteht aus einem Expertenpool mit insgesamt rund 40 Mitgliedern sowie etwa 40 Berater_innen vor Ort. Beratung bei der Entwicklung und Umsetzung Das Demokratiezentrum (im Institut für Erziehungs- neuer Formate der politischen Bildung: wissenschaft an der Philipps-Universität Marburg) ƒƒ z.B. Wissensvermittlung zu bürgerschaftlicher Beteili- fungiert dabei als zentrale Fach- und Geschäftsstelle, gung und Aktivierung für Flüchtlinge; die die Arbeit koordiniert, lenkt, dokumentiert und ƒƒ Ansätze der interkulturellen politischen Bildung; auswertet. ƒƒ diskursorientierte demokratische Wertebildung im öf- fentlichen Raum; ƒƒ Einübung von Gegen-Narrationen insbesondere auch in sozialen Netzwerken. Prozessmoderation für die partizipative ­Erarbeitung von Integrationskonzepten: ƒƒ z.B. Stakeholder-Analysen und Prozessorganisation; ƒƒ Know-how-Vermittlung zu niedrigschwelligen partizipati- ven Verfahren; ƒƒ Beratung zur inklusiven Leitbildentwicklung; www.tinyurl.com/y2tg7aru ƒƒ Adaptierung von Modellen für den ländlichen Raum.

102 Übungen und Hilfen

Reflexionsfragen Kurzbeschreibung: ƒƒ Welche Motivation steckt hinter den Schmierereien? Mitarbeiter_innen in der ƒƒ Kennen wir Organisationen, die zu diesem Thema Bera- Geflüchtetenhilfe fällt eine tung und Unterstützung anbieten? Wo kann ich mich in- wichtige Aufgabe bei der formieren? Werteorientierung und ƒƒ Kenne ich die Gesetzeslage zum Thema Antisemitismus? Wertevermittlung zu. Die ƒƒ Wie gut kenne ich mich mit „israelbezogenem Antisemi- Handreichung setzt bei tismus“ (Ablehnung von Juden, die durch die israelische diesem Punkt an und will Politik begründet wird) aus? als Anregung und Unter- ƒƒ Kann ich zwischen israelkritischen und antisemitischen stützung für die Bezie- Äußerungen unterscheiden? Und wie ist meine persön- hungsarbeit mit Geflüchte- liche Haltung? ten und Migrierten dienen. ƒƒ Was wissen die Bewohner/innen über den Holocaust und die daraus erwachsene historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel? Ankommen. Durch Normenorientierung und Werte- diskussion den Integrationsprozess für Flüchtlinge Anlaufstellen erleichtern. Eine Handreichung für Multiplikatorin- Stiftung SPI nen und Multiplikatoren der Flüchtlingsarbeit Mobiles Beratungsteam Berlin — für Demokratieentwick- (S. 29-35) lung (Stiftung SPI. Geschäftsbereich Lebenslagen, Vielfalt Tel.: 030 41725628 od. 4423718 | E-Mail: mbtberlin@­stiftung- & Stadtentwicklung. Mobiles Beratungsteam Berlin — spi.de Internet: www.mbt-berlin.de für Demokratieentwicklung) JFDA — Jüdisches Forum für Demokratie und gegen An- tisemitismus e.V. Fallbeispiele aus der Praxis Tel.: 030 30875424 | E-Mail: [email protected] Internet: www.jfda.de Die beschriebenen Situationen und Fragen sind, mit leichten Veränderungen 1, der Praxis der mobilen Beratungsarbeit Anne Frank Zentrum e.V. entnommen. Es wurden exemplarische Fallbeispiele ausge- Tel.: 030 288865600 | E-Mail: [email protected] Inter- wählt, die wesentliche Grundwerte unseres Zusammenle- net: www.annefrank.de bens betreffen. Zum Fallbeispiel wird aber keine „richtige Weiterführende Informationen Lösung“ als Handlungsempfehlung gegeben (die selten al- Amadeu Antonio Stiftung ternativlos und noch seltener allgemeingültig wäre). Statt- Projekt „Israelbezogener Antisemitismus“ dessen wird eine Frage zu der exemplarischen Situation Internet: www.amadeu-antonio-stiftung.de gestellt, nach der weitere Reflexionsfragen dazu anregen sollen, eigene Lösungen zu finden. Homosexuelle bzw. LSBTI-Flüchtlinge2 Antisemitismus Situation Selim, 37 Jahre, Sozialpädagoge in einer Notunterkunft: Situation „Seit einiger Zeit habe ich beobachtet, dass Amir — ein Marcus, 29, Sozialbetreuer in einer Notunterkunft: „Neulich 20-jähriger Flüchtling aus Syrien, der alleine hergekommen entdeckten wir auf einer Wand ein Hakenkreuz. Daneben ist — sich immer weiter von den anderen Bewohner/innen hat jemand einen durchgestrichenen Davidstern gezeich- distanziert, häufig alleine beim Essen sitzt, immer öfter die net. Wir haben die Schmierereien sofort entfernt.“ Sachen der anderen wegräumt und hinter ihnen her putzt. Frage Ich sprach ihn darauf an. Amir sagte, dass die anderen ihm „Ich finde, dass wir das nicht einfach so stehen lassen kön- damit drohen, sein wahres Gesicht zu verraten, wenn er nen. Ich weiß aber nicht, wo und wie ich da ansetzen kann. nicht mache, was sie ihm sagen. Er werde nicht als richtiger Was für Möglichkeiten habe ich?“ Mann angesehen, da er homosexuell sei.“ Rechtlicher Rahmen Frage ƒƒ Grundgesetz Art. 1 — Menschenwürde „Wie verbessere ich die Situation für Amir, ohne damit das ƒƒ Grundgesetz Art. 3 — Diskriminierungsverbot Zusammenleben in der Unterkunft für ihn noch schwieriger ƒƒ Strafgesetzbuch § 130 — Straftatbestand Volksverhet- zu machen?“ zung ƒƒ Strafgesetzbuch § 166 — Beschimpfung von Bekenntnis- Rechtlicher Rahmen sen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsverei- ƒƒ Verfassung von Berlin — Schutz vor Diskriminierung auf- nigungen grund der sexuellen Identität

2 Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche 1 So wurden z.B. die Namen der Fallgeber/innen und Orte geändert ­Menschen (LSBTI)

103 Übungen und Hilfen

ƒƒ Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ƒƒ Grundgesetz Art. 3 — Diskriminierungsverbot ƒƒ EU-Grundrechtecharta Art. 21 — Nichtdiskriminierung ƒƒ Kunsturheberrechtsgesetz (KUG) § 22 — Recht am eige- aufgrund sexueller Ausrichtung nen Bild Reflexionsfragen Reflexionsfragen ƒƒ Inwiefern kann ich Ansätze diskriminierender Verhaltens- ƒƒ Warum ist mir der Vorfall aufgefallen? Welche Werte sehe weisen bzw. eindeutige diskriminierende Handlungen er- ich hier angegriffen? kennen? ƒƒ Was hat der Bewohner mit den Fotos und seinen Kom- ƒƒ Ist mir bzw. meinen Kolleg/innen früher etwas in diesem mentaren beabsichtigt? Wie kann ich mit ihm darüber ins Zusammenhang aufgefallen? Gespräch kommen? ƒƒ Wie viel weiß ich selbst über das Thema schutzsuchen- ƒƒ Was möchte ich den Beteiligten über das Leben in de Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie trans- und interge- Deutschland vermitteln? schlechtliche Menschen (LSBTI)? ƒƒ Wie gehe ich mit einer möglichen Verbreitung der Bilder ƒƒ Welche Informationen wären für mich, für das Team und unter den Bewohner/innen um? für Amir wichtig? Weiterführende Informationen ƒƒ Welche Möglichkeiten gibt es, mit den Bewohner/innen über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Landesstelle für Gleichbehandlung — gegen Diskriminie- Diskriminierungsverbot von Homosexuellen ins Ge- rung spräch zu kommen? Tel.: 030 90281866 | E-Mail: antidiskriminierungsstelle@ ƒƒ Lassen sich aus unserer Hausordnung Sanktionen für senaif.berlin.de Internet: www.berlin.de/lb/ads Personen, die sich diskriminierend verhalten, ableiten? YouTube-Kanal der Landeszentrale für politische Bildung Anlaufstellen NRW „Marhaba- Folge 5 — Liebe und Sex“ (Deutsch/Arabisch) Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) Landesverband Berlin-Brandenburg e.V. 3 MILES — Zentrum für Migranten, Lesben, Schwule Rassismus Tel.: 030 22502215 | E-Mail: [email protected] Internet: www. Situation berlin.lsvd.de/projekte/miles Bülent, 38 Jahre, Sozialarbeiter in eine Notunterkunft: „Zwi- LesMigraS schen Jugendlichen in unserer Einrichtung — wir haben vor Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesben- allem Jugendliche aus Afghanistan und Eritrea — fielen in beratung Berlin e.V. Tel.: 030 21915090 | E-Mail: info@les- letzter Zeit häufiger rassistische Äußerungen. Die afghani- migras.de Internet: www.lesmigras.de schen Jugendlichen sagten zum Beispiel einmal: ‚Der N**** ist zum Kloputzen da!‘ An anderer Stelle hörte ich Jugendli- GLADT e.V. che aus Eritrea sich abfällig über die afghanischen Jugend- Tel.: 030 26556633 | E-Mail: [email protected] | Internet: www. lichen äußern, als sie diese als ‚Bauern‘ und ‚nicht lernwillig‘ gladt.de oder ‚dumm‘ bezeichneten.“ Weiterführende Informationen Frage Landesstelle für Gleichbehandlung — Gegen Diskriminie- „Wie kann ich diesen Stigmatisierungen und dem Ausüben rung von verbaler, rassistischer Gewalt begegnen?“ Wegweiser für LSBTI-Geflüchtete Rechtlicher Rahmen ƒƒ Grundgesetz Art. 3 — Diskriminierungsverbot — Allgemei- Das Recht auf persönliche Entfaltung nes Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und Selbstbestimmung ƒƒ EU-Grundrechtecharta Art. 21 — Nichtdiskriminierung Situation Reflexionsfragen Cengiz, 35 Jahre, stellvertretender Leiter einer Notunter- ƒƒ Welche Motivationen stecken hinter den rassistischen kunft für Flüchtlinge, beobachtet eine Gruppe von Bewoh- und diskriminierenden Äußerungen der Jugendlichen? nern, die um ein Handy herum sitzen. Einer der Bewohner ƒƒ Gibt es im Team klare Regeln für den Umgang mit dis- hat heimlich Frauen auf der Straße fotografiert. Er zeigt den kriminierendem Verhalten inklusive Konsequenzen bei anderen Männern die Bilder und äußert sich abfällig über Regelverstößen? den offenherzigen Kleidungsstil der Frauen. Frage 3 Das MBT Berlin verwendet den Begriff „Rassismus“ i. d. R. nur für Einstellungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, welche die „Ich fand das gesamte Verhalten nicht in Ordnung, habe aber Menschheit nach biologischer Abstammung in „Rassen“ einteilen den Moment verpasst, etwas dazu zu sagen. Wie kann ich bzw. die versuchen, die Existenz verschiedener „Menschenrassen“ diese Situation im Nachhinein noch einmal thematisieren?“ zu belegen. Die Herabwürdigung von Menschen als „dumme Bauern“ fällt zwar nicht unter diese Definition, ist aber als (ethnozentriert-) Rechtlicher Rahmen sozialchauvinistische Diskriminierung ebenso wenig tolerierbar und ƒƒ Grundgesetz Art. 2, Abs. 1 — Recht auf die freie Entfaltung entsprechend zu thematisieren — auch wenn dabei die Interaktion der Persönlichkeit (rassistische Beleidigung — sozialchauvinistische Beleidigung) und ggf. zugrundeliegende Gruppendynamiken zu berücksichtigen sind.

104 Übungen und Hilfen

ƒƒ Wie können wir unter den Bewohner/innen ein Bewusst- sein für Rassismus fördern? Hrsg.: Stiftung SPI. Geschäftsbereich Lebenslagen, ƒƒ Wie kann ich ein Verhaltensrepertoire entwickeln, um Vielfalt & Stadtentwicklung. schnell und eindeutig reagieren zu können und meinen Die Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin Standpunkt klar zu machen? »Walter May« verfolgt die Ziele der Arbeiterwohlfahrt Anlaufstellen und soll mit dazu beitragen, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der sich jeder Mensch in Verantwortung Stiftung SPI für sich und das Gemeinwesen frei entfalten kann. Die Mobiles Beratungsteam Berlin — für Demokratieentwick- Projekte des Geschäftsbereichs Lebenslagen, Vielfalt lung & Stadt­entwicklung unterstützen Kinder, Jugendliche Tel.: 030 41725628 und 4423718 | E-Mail: mbtberlin@­ und Familien, deren Leben sich im Gemeinwesen der stiftung-spi.de Internet: www.mbt-berlin.de Stadt abspielt. ReachOut — Opferberatung und Bildung gegen Rechtsex- Projekt: Mobiles Beratungsteam Berlin — tremismus, Rassismus und Antisemitismus für Demokratieentwicklung (MBT). Tel.: 030 69568339 | E-Mail: [email protected] Inter- net: www.reachoutberlin.de Das MBT unterstützt und berät vor allem Multiplikato- r_innen, die über Handlungsspielräume zur Mitgestal- Weiterführende Informationen tung ihres sozialen und beruflichen Umfeldes verfügen. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Ziel ist es, die Stadtgesellschaft darin zu stärken, mit Dokumentation des Fachkongresses „Recht ohne Wirkung? den Herausforderungen von Nationale und internationale Rechtsgrundlagen zur Beseiti- Vielfalt und Verschiedenheit, gung von Rassismus“ Vorurteilen und Diskriminie- rung sowie Erscheinungsfor- men von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit an- gemessen, aktiv und verant- wortlich umzugehen.

www.tinyurl.com/y9xkkxks

wachsen sind, aufgreifen. Dennoch gibt es Besonderheiten, Kurzbeschreibung: die mit Fluchtbiografien einhergehen können. Ein sehr kleiner Teil der Geflüchteten ist für sala­ Förderung von Identität und Gemeinschaft fistische oder dschihadis­ Viele Geflüchtete empfinden das Zusammenleben der Ge- tische Propaganda sellschaft in Deutschland als unpersönlich und distanziert. empfänglich. Damit aber Dies betrifft vor allem unbegleitete minderjährige Geflüch- solche Gruppierungen erst tete, die ihr familiäres und soziales Umfeld zurücklassen gar nicht die Möglichkeit mussten. Gerade das Gefühl von Einsamkeit und sozialer bekommen, Einfluss zu Isolation wird von salafistischen Gruppierungen genutzt, nehmen, bietet die Bro- um Geflüchtete auch unabhängig von religiösen Themen schüre Haupt- und Ehren- anzusprechen. Das offene Ohr, die Geborgenheit und Nähe, amtlichen in der Flücht- die als Familienersatz erscheinen, sind ein Grund für eine lingshilfe Unterstützung in eventuelle Hinwendung zu salafistischen Gruppierungen. der Präventionsarbeit an. Dies geschieht häufig ohne Wissen über die Hintergründe Geflüchtete stärken! Anregungen für die ­Prävention dieser Angebote. In vielen Fällen entsteht das Interesse an von religiös-extremistischen Ansprachen in der salafistischen Angeboten eher durch Zufall, beispielsweise ­pädagogischen Arbeit mit Geflüchteten weil ein Koran als Geschenk angeboten wird oder weil die (S. 10–13) einzige Moschee, in der auf Arabisch gepredigt wird, im salafistischen Spektrum angesiedelt ist. Den meisten Ge- (ufuq.de. Jugendkulturen, Islam & politische Bildung) flüchteten sind die verschiedenen islamischen Vereine und Verbände in Deutschland unbekannt, umso schwerer fällt es Präventionsarbeit mit Geflüchteten ihnen, zwischen einzelnen Strömungen und Orientierungen zu unterscheiden. Daher ist das offene Gespräch wichtig, In der Präventionsarbeit mit Geflüchteten lassen sich viele um herauszufinden, warum sich jemand für eine bestimmte Erfahrungen aus der universellen Prävention mit Jugend- Moschee oder Gruppierung interessiert, und welche Alter- lichen und jungen Erwachsenen, die in Deutschland aufge- nativen denkbar sind.

105 Übungen und Hilfen

In der Jugendarbeit bieten sich verschiedene Möglichkei- Situationen auf mich allein gestellt, unterliege ich plötzlich ten, soziale Bindungen und das Gefühl von Zugehörigkeit zahllosen Zwängen. Dies betrifft nicht nur bürokratische zu stärken. Hierzu zählen neben sportlichen Angeboten und Fragen, sondern beginnt bereits bei den Regeln in der Ge- Freizeitaktivitäten beispielsweise in der Offenen Kinder- meinschaftsküche oder bei der morgendlichen Weckzeit. und Jugendarbeit auch Theater- oder kulturelle Projekte, Auch hier bieten Teilhabemöglichkeiten, aber auch Sport in denen soziale Kontakte aufgebaut werden können, aber und Freizeitaktivitäten die Chance, Selbstwirksamkeit zu er- auch Vereine und Initiativen wie die freiwillige Feuerwehr leben. und morgendliche Lauftreffs. In der Arbeit mit geflüchte- Hierzu gehört auch die Gewissheit, mit eigenen Interessen ten Jugendlichen ist die Komm-Struktur beispielsweise in und Wahrnehmungen anerkannt und ernst genommen zu Jugendeinrichtungen eine besondere Hürde. Anders als werden, zum Beispiel, wenn es darum geht, gemeinsame Jugendliche, die mit entsprechenden Angeboten vertraut Regeln oder Leitbilder in einer Einrichtung zu entwickeln. sind, ist vielen Geflüchteten nicht unmittelbar bewusst, wel- Dabei geht es nicht darum, alle Wünsche und Interessen zu che Einrichtungen und Angebote in ihrem Umfeld existieren. erfüllen oder umzusetzen — das wird in vielen Fällen nicht Für Geflüchtete mit unsicherem Aufenthaltsstatus kommt möglich sein. Die Gewissheit, mit eigenen Positionen ernst die unklare Bleibeperspektive als weitere Hürde hinzu. Die genommen zu werden, macht es trotzdem leichter, das Er- Mühe, den ersten Schritt in eine Jugendeinrichtung zu ge- gebnis (z. B. Regeln über den Umgang mit religiösen Prak- hen, erscheint umso größer, wenn unklar ist, ob ich auch tiken in einer Jugendeinrichtung) anzuerkennen und mit in zwei Monaten noch in Deutschland wohne. Gezielte An- Kompromissen zu leben. sprachen der Jugendlichen und aufsuchende Arbeit von Bei all den Problemen, die mit Fluchtgeschichten verbun- Seiten der betreffenden Einrichtungen können den Zugang den sind, lassen sich auch diese Erfahrungen als Ressource erleichtern. Haupt- und Ehrenamtliche, die mit Geflüchteten verstehen. Denn jede Flucht aus Afghanistan oder Syrien ist arbeiten, spielen insofern eine wichtige Rolle, um Jugend- mit enormen Leistungen verbunden, die jeder Einzelne voll- liche und junge Erwachsene auf entsprechende Angebote bracht hat. Dies gilt gerade für unbegleitete minderjährige hinzuweisen und Hemmschwellen abzubauen. Geflüchtete und lässt sich in der pädagogischen Arbeit zur Grundsätzlich geht es nicht darum, „neue“ Angebote für Bestärkung des Selbstbewusstseins und Stolzes auf die ei- Geflüchtete zu schaffen, sondern darum, bestehende Ak- gene Biographie nutzen. tivitäten zu nutzen und damit Kontakte und Bindungen zu anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter- FLUCHT, TRAUMATISIERUNG schiedlicher Herkunft und Biographien zu fördern. Dabei UND RADIKALISIERUNG können mehrsprachige Angebote oder die Unterstützung Fluchterfahrungen gehen mit großen psychischen Be- von Sprachmittler_innen hilfreich sein, dienen aber vor al- lastungen einher. Dabei spielen die Fluchtursachen in lem dazu, Zugänge zu bestehenden Angeboten zu schaffen. den Herkunftsländern ebenso eine Rolle wie Erlebnisse auf der Flucht oder Erfahrungen nach der Ankunft in Stärkung von Teilhabe und Selbstwirksam- Deutschland. Als Risikofaktoren sind psychische Belas- keit tungen auch für die Präventionsarbeit von Bedeutung. Geflüchtete stehen vor der Herausforderung, in einer neu- So befand sich der 27-Jährige Mohammed Daleel, der en Umgebung einen Platz zu finden, schließlich bedeuten im Juli 2016 einen Sprengstoffanschlag in Ansbach Fluchterfahrungen einen Bruch mit vielen Gewissheiten: verübte, nach einem vorangegangenen Suizidversuch Das soziale und familiäre Umfeld verändert sich, Berufs- in psychiatrischer Behandlung. Das Diagnostisch-The- perspektiven stehen in Frage, Gewohnheiten brechen weg, rapeutische Netzwerk Extremismus des Zentrums De- aber auch Werte und Normen sind nicht mehr identisch mit mokratische Kultur berät bei der Betreuung von radi- dem, was vielleicht im Herkunftsland selbstverständlich war. kalisierungsgefährdeten Personen mit psychischen Umso wichtiger ist die Erfahrung von Einbindung und Teil- Problemen. Wichtig ist auch hier die Verbindung von habe in alltäglichen Dingen. Auch hier bieten Angebote der pädagogischen und psychologischen Angeboten, die Sozialarbeit und der Offenen Kinder- und Jugendarbeit viel- den möglichen Ursachen von Radikalisierungen auf fältige Möglichkeiten, die Einbindung auch von Geflüchteten verschiedenen Ebenen entgegenwirken (Ò Koch 2017, zu stärken. Film- oder Onlineprojekte, Zukunftswerkstätten, Zito/ Martin 2016). Dabei gilt es, möglichen Stigmatisie- Stadtteilprojekte oder das gezielte Engagement in Vereinen rungen von psychisch Erkrankten entgegenzuwirken. und Initiativen sind hierfür Beispiele. Dabei lässt sich direkt So wäre es nach Ansicht von Iris Hauth, Präsidentin an die Interessen und Kompetenzen anknüpfen, die Jugend- der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psy- liche und junge Erwachsene mitbringen. chotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, zum Beispiel falsch, „jeden Anschlag oder jede schwere Ge- Letztlich geht es auch hier um die Förderung von Selbst- walttat psychiatrisch zu begründen. Denn diese Sicht wirksamkeit. Gerade für Jugendliche und junge Erwach- leistet der Stigmatisierung psychisch erkrankter Men- sene, die die Flucht ohne Familie oder Freunde gemeistert schen Vorschub. Die Entwicklung von schwerwiegenden haben, verbindet sich der Alltag in Deutschland mit einer Gewalthandlungen ist auch bei dieser Bevölkerungs- deutlichen Beschränkung der eigenen Autonomie und gruppe ein seltenes Ereignis und nur bei einer Minder- Selbstverantwortung: War ich zuvor auch in existentiellen

106 Übungen und Hilfen

Gespräch zu bringen. Darin haben selbstverständlich auch heit zu beobachten. Für die überwiegende Mehrzahl nichtreligiöse Perspektiven ihren Platz: Religion ist nur ein Gewalttaten sind nicht psychisch erkrankte Menschen Zugang, aber auch für viele Geflüchtete nicht der wichtigs- verantwortlich.“ (-> Fachtagung „Radikalismus — wenn te. Trotzdem kann es sinnvoll sein, Jugendlichen religiöse Menschen extrem werden“, www.dgppn.de) Angebote zu machen bzw. ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, ihren Glauben, beispielsweise innerhalb einer Moschee, zu BESONDERE SITUATION VON UNBEGLEITE- praktizieren. Auch hier gilt allerdings, dass eine Beschrän- kung auf religiöse Angebote allein nicht ausreicht. Ebenso TEN MINDERJÄHRIGEN GEFLÜCHTETEN wichtig sind andere jugendspezifische Angebote, in denen Allein im Jahr 2016 kamen über 35.000 Kinder und Ju- soziale Bindungen gestärkt und nichtreligiöse Interessen gendliche als unbegleitete Geflüchtete nach Deutsch- angesprochen werden. land. Sie befinden sich in einer besonders schwieri- gen Lebenslage. Mit Jugendlichen, die in Deutschland Religion ist allerdings nicht nur eine Ressource, sondern aufgewachsen sind, teilen sie jugendphasenbedingte kann auch Konflikte schüren. So können religiöse Symbole Fragen und Konflikte, Unsicherheiten bezüglich des und Verhaltensweisen auch dazu dienen, andere zu provo- Bildungs- und Berufsweges, die Suche nach Zugehörig- zieren und Aufmerksamkeit zu bekommen, die sonst fehlt: keit, Fragen zu Rollenbildern etc. Besonders schwierig So berichteten Zimmernachbarn des Hamburger Attentä- ist ihre Situation allerdings durch das Fehlen direkter ters Ahmad A., dass A. häufiger mit „Allahu akbar“-Rufen familiärer Bindungen und allem, was damit an existen- durch das Wohnheim lief. Mehr Aufmerksamkeit lässt sich tiellen Ressourcen einhergeht: unbedingte emotionale kaum erreichen. Unterstützung, gefestigte soziale Identität, verbindliche Religion bietet Halt und Orientierung, kann aber auch in soziale Bindungen, Orientierung in Fragen von Werten den Anspruch auf absolute Wahrheit und in den Wunsch zur und Normen. Hinzu kommen Belastungen, die mit der Mission und Normierung münden. Sie bietet Gemeinschaft Fluchterfahrung und den Ereignissen im Herkunftsland und Identität und vermittelt das Gefühl von Zugehörigkeit, verbunden sind. So leidet die Hälfte der geflüchteten gerade wenn ich mich in einer neuen Umgebung nicht zu- Kinder unter psychischen Belastungen, bei jedem fünf- gehörig und ausgeschlossen fühle. Sie kann aber auch ei- ten Kind wurde eine ausgeprägte Posttraumatische nen Rückzug und die Abwertung von anderen befördern: Belastungsstörung diagnostiziert, häufig einhergehend Erfahre ich immer wieder Ablehnung und Zurückweisung, mit suizidalen Gedanken. Zugleich fehlen vielfach thera- bieten mir Salafist_innen eine Gemeinschaft, in der mich peutische Angebote für die Behandlung von Flucht- und schon mein Bekenntnis zur „wahren Religion“ zum „Bruder“ Kriegstraumata. Umso wichtiger sind muttersprach- oder zur „Schwester“ macht. Der Salafismus erlaubt einen liche Betreuungs- sowie langfristige Beratungs- und niedrigschwelligen Zugang zu einer Gemeinschaft, in der es Unterstützungsangebote, die auf diese besonderen zweitrangig ist, woher jemand kommt oder welchen sozialen Schwierigkeiten und Bedürfnisse reagieren. Hinzu Status er oder sie besitzt. kommen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete Erfahrungen von mangelnder Selbstwirksamkeit und In der pädagogischen Arbeit stehen die drei As (Abgrenzung, das Gefühl, äußeren Umständen ausgeliefert zu sein. Anspruch auf absolute Wahrheit und Abwertung) für jene Mo- Gerade für Jugendliche und junge Erwachsene, die die mente, an denen Religiosität „kippt“ und sich nicht mehr mit Schwierigkeiten und Gefahren der Flucht selbst gemeis- Religionsfreiheit rechtfertigen lässt. Dabei geht es um Aus- tert haben, bedeuten die rechtlichen Unsicherheiten im sagen und Verhaltensweisen, die Konflikte provozieren und Alltag, die als „Unfreiheit“ erlebten Regeln in betreuten andere in ihren Freiheiten einschränken können. Religion im Einrichtungen und die fehlenden familiären und berufli- engeren Sinne spielt hier oft nur am Rande eine Rolle, denn chen Perspektiven eine deutliche Einschränkung zuvor die drei As kennen alle Pädagog_innen auch aus der Arbeit erlebter Autonomie und Eigenverantwortung. mit anderen Jugendlichen: Egal ob Mobbing, Rassismus oder sozialer Druck, neu ist das alles leider nicht. Die Erfahrungen im Umgang mit solchen Einstellungen und Verhaltensweisen Religion als Chance und Herausforderung lassen sich auch auf den Umgang mit Ausdrucksformen reli- Religion kann im Alltag von Geflüchteten eine wichtige Rolle giös-extremistischer Ideologien übertragen. spielen. Sie ist eine Ressource, die gerade in der Jugend- phase identitätsbildend und sinnstiftend wirken kann. Zu- Politische Bildung gleich bietet sie Orientierung und ist eine Grundlage von Gemeinschaft und dem Gefühl von Zugehörigkeit. Die Aus- Zu den Leitgedanken der politischen Bildungsarbeit gehört einandersetzung mit religiösen Fragen ist daher auch in der das Überwältigungsverbot. In der politischen Bildung geht pädagogischen Arbeit und Prävention mit Geflüchteten von es nicht darum, Werte und Normen aufzuzwingen, sondern Bedeutung. Dabei geht es in der Regel nicht darum, Religion um eine Auseinandersetzung und reflektierte Erarbeitung zu vermitteln, sondern den Fragen und Interessen von Ju- eigner Einstellungen und Orientierungen sowie um die gendlichen einen Raum zu geben, um unterschiedliche Zu- Stärkung einer Anerkennung von gesellschaftlicher Viel- gänge zu religiösen Glaubensvorstellungen und -praktiken falt und die Förderung von Ambiguitätstoleranz. Flucht und aufzuzeigen und Jugendliche und junge Erwachsene auch Fluchterfahrungen bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte untereinander mit ihren Sichtweisen und Erfahrungen ins für Gespräche, in denen Fragen von Identität, Grundwerten

107 Übungen und Hilfen

oder Rollenbildern zur Sprache kommen — nicht allein unter Geflüchteten, sondern auch mit Jugendlichen und jungen Hrsg.: ufuq.de. Jugendkulturen, Islam & politische Erwachsenen, die in Deutschland aufgewachsen sind. Da- Bildung. bei lassen sich die unterschiedlichen Erfahrungen und die ufuq.de bemüht sich um Alternativen zu den aufge- Heterogenität der Gruppe nutzen, um verallgemeinernden regten Debatten um „Parallelgesellschaften“, religiös Vorstellungen von „den“ Geflüchteten oder „den“ Deut- begründete Radikalisierungen und eine vermeint- schen aufzubrechen — denn auch unter Geflüchteten prägen liche Islamisierung Deutschlands. Sie arbeiten an soziale Unterschiede oder unterschiedliche Bildungshinter- der Schnittstelle von politischer Bildung, Pädagogik, gründe Einstellungen und Orientierungen: Zwischen zwei Wissenschaft und politischer Debatte und informieren, Student_innen aus Damaskus und Bielefeld gibt es mögli- beraten und unterstützen in den Herausforderungen, cherweise mehr Gemeinsamkeiten als zwischen einer Stu- die sich in der pädagogischen Arbeit in der Migrations- dent_in aus Damaskus und einem Handwerker aus Deraa. gesellschaft ergeben können. Die Sichtbarmachung von Gemeinsamkeiten und Unter- schieden und die Erfahrung von Akzeptanz und Anerken- nung unabhängig von individuellen Orientierungen ist ein wichtiger Beitrag zur Sensibilisierung für salafistische An- sprachen und zur Stärkung gegen rigide und abwertende Gemeinschaftsangebote. In ähnlicher Weise lassen sich auch politische und gesellschaftliche Konflikte (zum Beispiel über die Rolle von Menschenrechten in der deutschen Au- ßenpolitik oder über die „Ehe für alle“) aufgreifen, um für die Normalität von Widersprüchen und Konflikten in einer www.tinyurl.com/y2k6oohs pluralistischen Gesellschaft zu sensibilisieren. Erfahrungen aus Projekten, wie sie beispielsweise von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus mit geflüchteten Jugendli- chen durchgeführt werden, zeigen, dass dabei auch schwie- rige Themen wie der Israel-Palästina-Konflikt diskutiert und unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen aufgezeigt werden können. Als besonders hilfreich haben sich Ansätze der peereducation erwiesen, in denen Jugendliche und jun- ge Erwachsene mit eigenen Fluchterfahrungen als Modera- tor_innen mitwirken.

108 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Flucht und Asyl

Titel: Handreichung Politische Bildung mit Titel: Flüchtlinge schützen, Rassismus ent­ Kindern zum Thema Flucht und Zusam- gegentreten. Handreichung für Aktive menleben in der Arbeitswelt Hrsg.: Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein Hrsg.: Mach‘ meinen Kumpel nicht an! — e.V. für Gleichbehandlung, gegen Fremden- feindlichkeit und Rassismus e.V.

www.tinyurl.com/y4ghjed6 www.tinyurl.com/y5cup656

Titel: Junge Geflüchtete als politische Titel: 15 Punkte für eine Willkommensstruktur Bildner*innen. Bausteine für Qualifizie- in Jugendeinrichtungen rungsmaßnahmen Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung Hrsg.: Bundesausschuss Politische Bildung (bap)

www.tinyurl.com/y5j7jexp www.tinyurl.com/y6u9z6m6 Titel: Willkommenskultur vs. Rechtsextremis- Titel: Hetze gegen Flüchtlinge in sozialen mus Medien. Handlungsempfehlungen Hrsg.: gsub-Projektgesellschaft mbH Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung

www.tinyurl.com/y3h66fxa www.tinyurl.com/y62e8zct Titel: Geflüchtete willkommen heißen! Erfah- Titel: Discover Diversity. Politische Bildung rungen und Berichte aus der Praxis mit Geflüchteten Hrsg.: Arbeit und Leben DGB/ Hrsg.: Demirel, Aycan/Hızarcı, Dervis¸ VHS Hamburg e.V. im Auftrag von KIgA e.V.

www.tinyurl.com/y69yfl32 www.tinyurl.com/yyj22exj

109 Jede_r Jeck ist anders Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt leben

»Ich hab mich normal gefühlt, ich war ja verliebt, aber für die andern ist man anders« — »Homo- und Trans*feindlichkeit in Mecklenburg-Vorpommern« (Lola für Demokratie in MV)

Kurzbeschreibung: Ziel der Expertise ist es, die Lebenssituation von LST* in Meck- lenburg-Vorpommern (MV) abzubilden, um Bedarfe und Verän- derungsmöglichkeiten für einen gleichberechtigten Alltag ohne Diskriminierung zu formulieren. Die Expertise kann auch ohne den Bezug zu MV gut genutzt werden, um Homo- und Trans*feindlich- keit im ländlichen Raum zu begegnen. S. 14–17

Zur Geschichte von Homo- und Trans*feindlichkeit

Jamina Diel, Liz Weiler

Wir werfen im Folgenden einen kurzen Blick in die Ge- den. Gegen eine solche Kriminalisierung wandte sich unter schichte, um die heutige Situation von Lesben, Schwulen anderem Magnus Hirschfeld, der als einer der ersten Wis- und Trans* verständlicher zu machen. senschaftler_innen Studien zu Homosexualität durchführ- te und 1919 das Institut für Sexualwissenschaft gründete. Er konnte sich jedoch mit seiner liberalisierenden Position Ergebnisse qualitativer und quantitativer Forschung gesellschaftlich nicht durchsetzen. Der § 175 wurde in die zur Ausprägung von aktueller Homo- und Trans*feind- Verfassung der Weimarer Republik übernommen. Trotz- lichkeit in Deutschland allgemein, in MV im Besonde- dem blühte in der Weimarer Republik die homosexuelle ren, finden Sie unter www.un-sichtbar-mv.de Subkultur — in Großstädten wie Berlin oder Hamburg war ein selbstbestimmtes Leben für viele Lesben und Schwu- Geschichte der (Straf-)Verfolgung le möglich. Mit der Machtübergabe an die Nationalsozia- list_innen wurde diese Subkultur ab 1933 zerschlagen. Die Gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität gibt es seit Nationalsozialist_innen verschärften nicht nur den § 175. Jahrtausenden, in vielen Gesellschaften war und ist sie zu Schwule Männer wurden inhaftiert, gefoltert und ermor- verschiedenen Zeiten akzeptiert und wird im Alltag gelebt, det, Tausende kamen in Konzentrationslagern um.1 Sexu- immer auch gab es Ausgrenzung und Gewalt. Das Konzept alität unter Frauen wurde gesellschaftlich und somit auch der Homosexualität entstand im späten 19. Jahrhundert — juristisch als solche weniger wahr- und ernst genommen und damit auch Kategorisierungen und negative Zuschrei- und dementsprechend nicht nach § 175 verurteilt. Les- bungen von Homosexualität. 1871 wurde ein Gesetz zur ben wurden dennoch aufgrund ihrer Lebensweisen diskri- Bestrafung homosexueller Handlungen unter Männern im Kaiserreich erlassen. Der § 175 legte fest, dass Homosexu- alität mit Gefängnis zu bestrafen sei, auf seiner Grundlage 1 Schätzungen gehen von 50.000 Opfern aus, die auf Grundlage des § 175 im Nationalsozialismus verurteilt wurden. Die Zahl der Ermitt- konnten auch bürgerliche Ehrenreche wie das Wahlrecht lungsverfahren wird auf 100.000 geschätzt. Die Zahl der homosexuel- — das zu dieser Zeit nur Männer hatten — aberkannt wer- len KZ-Häftlinge lag bei 5.000 bis 10.000 (vgl. Rahe).

110 Hintergrundinformationen

miniert und verfolgt, als Verfolgungsgrund wurde häufig abgeschwächt. In den 1970er Jahren formierten sich mehr »Asozialität« und »Kriminalität« angegeben bzw. unter- und mehr Gruppen bspw. aus Reihen der Studierenden- stellt (Schopp­mann 2012: 48 ff.). In Konzentrationslagern oder der Frauenbewegung, die für die Gleichberechtigung wurden sie nicht selten in die Lagerprostitution gezwungen und ein Ende der Stigmatisierung eintraten. 1979 orga- und waren hier systematischer Gewalt und Vergewaltigung nisierten sie die erste Demonstration zum »Christopher ausgesetzt. Street Day« und wurden zunehmend öffentlich sichtbar. In den 1980er Jahren entstanden zunehmend auch Kontakte Zwischen Diskriminierung und Emanzipation zwischen ost- und westdeutschen Gruppierungen. Nach der in DDR und BRD Wiedervereinigung schlossen sich die westdeutschen Ver- bände dem 1990 in Leipzig gegründeten schwulen Dach- Die Verfolgung von Lesben und Schwulen endete nicht verband an. Dieser wurde 1999 in »Lesben- und Schwu- 1945. Nach dem Sieg der Alliierten wurde der Paragraph lenverband Deutschland« umbenannt. Auch aufgrund der mit seiner nationalsozialistischen Verschärfung kritiklos in Bemühungen des Interessenverbandes kam es 1994 zur er- die Gesetzbücher der BRD übernommen. In der DDR ent- satzlosen Abschaffung des § 175. Insgesamt wurden nach schied man sich für die ursprüngliche Form aus der Wei- 1945 50.000 Menschen auf Grundlage des Paragraphen marer Republik. Der Umgang mit Lesben und Schwulen in in Westdeutschland verurteilt. Eine Rehabilitierung ist bis- der Justiz sowie in anderen gesellschaftlichen Bereichen lang nur teilweise erfolgt. 2002 beschloss der Bundestag entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten in beiden die Aufhebung von Verurteilungen aus der Zeit des Nati- deutschen Staaten sehr unterschiedlich: onalsozialismus aufgrund des § 175. Entscheidungen aus der Nachkriegszeit waren von dem Aufhebungsgesetz hin- Ab 1957 wurde der § 175 in der DDR kaum mehr angewandt, gegen nicht betroffen. Diskriminierungen von Lesben und elf Jahre darauf weitgehend abgeschafft (Thinius 2006: Schwulen gibt es auch noch in vielen Lebensbereichen der 16). 1988 wurde der letzte Teil des § 175, welcher exklusiv Gegenwart, von denen einige in dieser Expertise behandelt Beziehungen zwischen erwachsenen Männern und männli- werden. chen Jugendlichen verbot, abgeschafft (ebd.: 29 ff.). Jen- seits dieser juristischen Liberalisierung waren Menschen mit gleichgeschlechtlichen Lebensweisen im städtischen (Un-)Sichtbarkeit von Trans* und insbesondere im ländlichen Räumen der DDR jedoch Es gab schon immer Menschen, die sich nicht mit dem Ge- stark marginalisiert. Berichte von Zeitzeug_innen belegen schlecht identifizieren konnten, das ihnen bei der Geburt die Auswirkungen von Stigmatisierung, Diskriminierung zugeordnet wurde. Die Geschichte von Trans* ist jedoch und Verschweigen. Gesellschaftlich wurde bis in die späten bis ins 20. Jahrhundert kaum recherchiert und aufgrund 1980er Jahre die gesellschaftliche Emanzipation von Les- der Quellenlage und sich wandelnder Bezeichnungen ben und Schwulen nicht unterstützt und war ideologisch auch schwer zu rekonstruieren. Magnus Hirschfeld kann in nicht beabsichtigt. Bspw. wurden ersten Selbstorganisatio­ Deutschland als einer der ersten Wissenschaftler genannt nen keine Versammlungsräume oder öffentliche Präsenz werden, der sich 1918 mit der Thematik auseinandersetz- (z. B. in Zeitschriften) gewährt. Eine solche »ungeplante te und sich für das Recht auf Selbstbestimmung der Ge- Initiative von unten [wurde] zunächst als Opposition und schlechtsidentität, bspw. in Form des Tragens gegenge- Störung empfunden« (ebd. 2006: 24). In den 1980ern schlechtlicher Kleidung, einsetzte (Herrn 2012: 45 f., 2014: setzte jedoch ein langsamer Prozess der Veränderung ein: 59 ff.). Bereits in den 1930er Jahren fanden in Berlin und Homosexualität wurde in Teilen der Partei SED und der Dresden die ersten geschlechtsangleichenden Operatio- evangelischen Kirche als eine zu tolerierende Form der nen statt. Jenseits dieser medizinischen Perspektiven ist Begierde angesehen. An der Humboldt Universität Berlin jedoch leider nur wenig darüber bekannt, wie Trans*Per- wurde eine Forschungsgruppe zur Auseinandersetzung sonen gelebt und in wie weit sie gesellschaftlich integriert mit »Homophilen« und deren Integration in die sozialisti- waren. Tatsächlich war Trans*Sein zu keiner Zeit gesetz- sche Gesellschaft eingerichtet. Es gründeten sich mehrere lich verboten, jedoch aber die sexuelle Beziehung zwischen Arbeitskreise in der evangelischen Kirche sowie außer- Männern (vgl. ehemals §175 dStGB). Mit dieser Begründung kirchliche Gruppen, die bekannteste ist der Sonntagsclub kam es vor und während des Nationalsozialismus zu Inhaf- im Prenzlauer Berg in Berlin. Hier trafen sich Menschen, tierungen von Trans*Personen und auch nach dem Zweiten tauschten sich aus, organisierten sich kulturell und poli- Weltkrieg wurden mit Berufung auf den §175 Trans*Perso- tisch, u. a. um die fortwährende Marginalisierung und be- nen verurteilt (Mueller 2014: 26; Pretzel 2014: 59 ff.). stehende Stigmatisierung im Alltag zu thematisieren. Dies geschah insbesondere durch Öffentlichkeitsarbeit bzw. 1981 trat das Transsexuellengesetz (TSG) in Kraft, das Aufklärung anhand von Vorträgen, Leseabenden, Studien die Änderung des Namens sowie geschlechtsangleichen- sowie Begegnungen bei Musikabenden und die Vernetzung de Eingriffe gestattet, vorausgesetzt der Wunsch und die untereinander (ebd.: 29 ff.). Notwendigkeit hierfür können in zwei psychologischen Gutachten bestätigt werden. Als Voraussetzung für eine In der BRD existierte der § 175 bis 1969 in der von den Na- Kostenerstattung von medizinischen Eingriffen seitens der tionalsozialist_innen verschärften Form. Erst nach starken Krankenkasse ist die jeweilige Person verpflichtet, ein bis zivilgesellschaftlichen Protesten der Lesben- und Schwu- eineinhalb Jahre einen sog. »Alltagstest« (gemeint ist das lenbewegung wurde er 1969 und 1973 überarbeitet und Leben in der Öffentlichkeit im tatsächlichen Geschlecht)

111 Jede_r Jeck ist anders

und eine begleitende Psychotherapie zu absolvieren (Fran- Schoppmann C. (2012): Zwischen strafrechtlicher Verfol- zen/Sauer 2010: 16). Dabei soll die Trans*Person in allen gung und gesellschaftlicher Ächtung: Lesbische Frauen im Lebensbereichen in ihrem selbstgewählten Geschlecht le- »Dritten Reich«. In: Eschebach I (Hg.): Homophobie und ben. In vielen Fällen stellt dies ein erhebliches Problem dar, Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Natio- da viele Trans*Personen insbesondere an ihrem Arbeits- nalsozialismus. Berlin: Metropol Verlag, S. 35–52. platz mit Diskriminierungen konfrontiert werden (ebd.: Thinius B. (2006): Erfahrungen schwuler Männer in der DDR 17). In medizinischer Hinsicht wird Trans*Sein auch heute und in Deutschland Ost. In: Wolfram Setz (Hg.): Homosexua­ noch als psychische Erkrankung bewertet, der zufolge es lität in der DDR. Materialien und Meinungen. Hamburg: sich um eine Identitätsstörung handele. Dieses Verständ- Männerschwarm Verlag, S. 9–88. nis wird von Trans*Personen scharf kritisiert, da es eine Pathologisierung und Stigmatisierung darstellt, die den jeweiligen Menschen die Selbstbestimmung abspricht (vgl. Internetquellen Hamm/Sauer 2014: 4 f). Rahe T. (2010): Die nationalsozialistische Homosexuellen- verfolgung und ihre Folgen. www.lernen-aus-der-geschichte. Jenseits medizinischer und juristischer Diskriminierung de/Lernen-und-Lehren/content/7808/2010-03-08- sind Trans*Menschen auch in Deutschland massiver phy- Die-nationalsozialistische-Homosexuellenverfolgung. sischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Leider wird Zugegriffen: 01.09.2015. das Thema Trans*feindlichkeit systematisch in Studien zu Hasskriminalität, Diskriminierung und Homofeindlichkeit vernachlässigt, weshalb keine repräsentativen Zahlen ge- Hrsg.: Lola für Demokratie in Mecklenburg-­ nannt werden können. Unterstützung erfahren Trans*Per- Vorpommern e. V. sonen in erster Linie in der Community. Sowohl in Trans* und Inter-Projekten als auch den homosexuellen Emanzi- Lola für Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern pationsbewegungen seit den 1970er Jahren erkämpfen sie initiiert, fördert und unterstützt geschlechterreflektie- sich Sichtbarkeit und Akzeptanz. Ihre Selbstorganisationen rende Projekte für demokratische Vielfalt und gegen sind mit Empowerment-Workshops, Fortbildungen, Bera- biologistische Zuschreibungen von Männer- und Frau- tung, Kultur und politischem Aktivismus breit aufgestellt, enrollen in Mecklenburg-Vorpommern. Der Verein setzt wobei vor allem Bühnenauftritte von Trans*Personen eine sich für demokratische Kultur, Geschlechtergerechtig- breitere öffentliche Aufmerksamkeit finden. keit und eine gendersensible Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus ein. Literatur Projekt: un_sichtbar — Lesben, Schwule und Trans* in Franzen J., Sauer A. (2010): Benachteiligung von Trans*Per- Mecklenburg-Vorpommern. Lebensrealitäten, Ausgren- sonen, insbesondere im Arbeitsleben. Hsg.: Antidiskriminie- zungserfahrungen und Widerständigkeiten rungsstelle des Bundes. Heidelberg. Das Projekt nimmt die Lebenserfahrungen von Schwu- Hamm JA, Sauer AT (2014): Perspektivenwechsel: Vor- len, Lesben und Trans* in Geschichte und Gegenwart schläge für eine menschenrechts- und bedürfnisorientierte in den Blick. „un_sichtbar“ fragt nach Lebensentwür- Trans*- Gesundheitsversorgung. In: Zeitschrift für Sexual- fen und Erfahrungen, wobei ein besonderer Fokus auf forschung 27, S. 4–30. der Frage nach Handlungsspielräumen und Wider- ständigkeiten gegenüber Herrn R. (2012): Verkörperungen des anderen Geschlechts — Diskriminierung und Gewalt Transvestitismus und Transsexualität historisch betrachtet, liegt. Es soll dazu beitragen, In: APuZ 62. Jhrg. 20–21/2012, 14. Mai 2012, S. 41–48. eine Kultur der Selbstbe- Mueller K. (2014): Überlegungen zur LGBTI-Forschung stimmung zu entwickeln und Menschenrechtspolitik im 21. Jahrhundert im Rekurs und die Selbstorganisation auf das 19. und 20. Jahrhundert. In: Bundesstiftung Mag- von Schwulen, Lesben und nus-Hirschfeld (Hg.): Forschung im Queerformat. Aktuelle Trans* unterstützen. Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Bielefeld, S. 19–34. www.tinyurl.com/y4kst5w3 Pretzel A. (2014): Verfolgung und Selbstbehauptung — ho- mosexuelle Männer während der Zeit des Nationalsozialis- mus. In: Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld (Hg.) Forschung im Queerformat. Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Bielefeld, S. 47–58.

112 Hintergrundinformationen

Trans*sexualität. Informationen zu Körper, Sexualität und Beziehung für junge Trans*menschen (Trans Recht e.V.) Kurzbeschreibung: Gegenüber Trans*menschen und ihrer Sexualität sind Vorurteile und v. a. Unwissenheit in der Gesellschaft noch weit verbreitet. Die Broschüre möchte das ändern und konzentriert sich daher bewusst auf relevante und spezifische Themen zu Sexualität und Körperbewusstsein für Trans*menschen. S. 8–17

Ein gutes Körpergefühl

Sich in seinem Körper wohl zu fühlen, ist nicht immer eine dir die Zeit herauszufinden, welche Veränderungen gut für leichte Aufgabe. Um dahin zu kommen, kann es helfen, ihn dich sind — und welche Aspekte du vielleicht auch so ak- kennenzulernen und zu verstehen. Selbstbefriedigung kann zeptieren willst, wie sie sind. Auch wenn die Mehrheit der eine Methode sein, um deinen Körper kennenzulernen. Menschen glaubt, nur mit einem geschlechtlich eindeutigen Manchen tut es gut, sich zu streicheln und anzufassen. Da- Körper sei ein glückliches Leben möglich; es gibt, was die- bei kannst du ruhig an Dinge denken, die du gern magst. se Entscheidung angeht, kein Richtig oder Falsch, genauso So kannst du viel darüber herausfinden, was du magst und wie es keine richtige oder falsche Art gibt, trans* zu sein was nicht. Auch dem Körper einfach mal mehr Beachtung zu — oder Mensch zu sein. Wir sind alle unterschiedlich. Körper- schenken als gewöhnlich, ist für manche hilfreich. Du kannst liche Aktivitäten, Sport, oder Hobbys wie Yoga, Meditieren, dich zum Beispiel vor einen Spiegel stellen und dir unter- Singen, Tanzen, Schauspielern, Klettern oder Kampfsport schiedliche Stellen genauer angucken, um Teile zu finden, können Spaß machen und dir helfen, deinen Körper besser die du magst und mit denen du dich gut fühlst. Du kannst zu spüren. Vieles davon wird deine Gefühlslage verbessern, ausprobieren, wie sich verschiedene Materialien auf deiner aber der Körper ist nicht alles. Wir alle mögen unsere Körper Haut anfühlen. Du kannst dir einen kleinen Spiegel besor- weniger, wenn wir unglücklich sind, und wir sind oft unglück- gen und dir deine Geschlechtsorgane/Genitalien einfach mal lich, wenn wir uns mit unseren Körpern schlecht fühlen. So genauer ansehen. Es kann zum Beispiel helfen, vor einem wie es helfen kann, deinen Körper zu bewegen, kann es auch Spiegel zu posen. Vielleicht magst du es auch, durch den helfen, dich abzulenken, Freunde zu treffen, Geschichten zu Regen zu rennen oder dir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lesen, Sachen zu erleben. lassen. Es ist einfach, deinen Körper genauer kennenzuler- nen, indem du dich einfach um ihn kümmerst. Schenk ihm Pubertät/Transition Beachtung wenn du badest, duschst oder dich eincremst. Alle heranwachsenden Menschen müssen früher oder spä- Das kann auch eine gute Gelegenheit sein, herauszufinden, ter durch die Pubertät; und das ist eine Zeit, in der die we- was dich erregt. Du kannst dich selber massieren oder dich nigsten mit sich selbst und ihrem Körper im Reinen sind. von deine_n Partner_in(nen) massieren lassen. Besonders Als Trans*mensch machst du eventuell gleich zwei Puber- am Anfang einer Beziehung kann das helfen. täten durch. Egal ob deine zweite Pubertät, die Transition Du kannst versuchen, Teile deines Körpers zu finden, die du (der soziale, körperliche oder auch rechtliche Wechsel in magst, und diese dann auch speziell betonen. Bsp: Augen eine andere Geschlechterrolle), gleichzeitig, vor, oder nach mit Make-up hervorheben oder T-Shirts tragen wenn du dei- deiner biologischen Pubertät kommt, es wird sich Einiges ne Arme magst. Es gibt viele Mittel und Wege dein Äußeres verändern und das braucht seine Zeit. Du musst dich in eine zu verändern; angefangen bei Klamotten und Make-up bis neue soziale Rolle einfinden und hast dafür vielleicht keine hin zu diversen Operationen. passenden Vorbilder. Insbesondere für Sexualität und Be- ziehungen gibt es für Trans*personen kaum Vorbilder. Das „Manchmal habe ich in einer Badewanne mit ganz kann zu Unsicherheiten und Irritationen führen, bietet aber viel Schaum gebadet. So musste ich meinen Körper auch die Chance, eine eigene Sexualität zu entwickeln. Wenn nicht sehen, aber ich konnte ihn fühlen. Das hat mir es in deinem Umfeld Freund_innen gibt, denen du vertrauen geholfen mich damit wohler zu fühlen.” O. kannst, kann es helfen, mit ihnen über deine Unsicherheiten zu sprechen. Auch mit deine_n Partner_in(nen) solltest du In der Trans*-Community wird viel darüber diskutiert, wie über Unsicherheiten reden — auch wenn diese Gespräche Menschen ihr Äußeres und ihr Inneres in Übereinstimmung manchmal nicht leicht sind. Das ist nicht immer angenehm, bringen können. Es geht allgemein um Veränderung. Nimm lohnt sich aber oft.

113 Jede_r Jeck ist anders

Trans*feindlichkeit Jugendliche, die auch telefonisch oder per Mail erreichbar sind. Dort findest du Unterstützung. Die meisten Menschen erwarten, dass alle anderen sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Ge- Prinzipiell gilt: Je selbstsicherer und offensiver du auftrittst, burt zugeschrieben wurde (so wie sie automatisch davon desto höher sind deine Chancen, dass dein Gegenüber dir ausgehen, Menschen seien hetero). Wenn Trans*menschen zuhört und dich ernst nimmt. Deine besten Tools, das zu be- diese Erwartung durchbrechen, reagieren viele Leute mit kommen, was du brauchst, sind ein kühler Kopf, das Wissen Unverständnis, Ungläubigkeit, Ablehnung, Abwertung oder um eine Rechte und genügend Mut. mit (verbaler, psychischer oder körperlicher) Gewalt. All das nennen wir Trans*feindlichkeit oder Trans*phobie. Sich als trans* outen Beispiele für Trans*feindlichkeit sind vielfältig. Das können Coming-Out, Outen — „rauskommen“ — bedeutet anderen Beschimpfungen auf dem Schulhof sein, oder eine Lehrkraft, zu erzählen, dass du trans* bist. Es kann entspannend sein, die sagt, dass du noch viel zu jung wärst, um zu wissen, ob du wenn andere das wissen, dann musst du keine Angst vor trans* bist. Es ist auch Trans*feindlichkeit („strukturelle Dis- „Entdeckung“ haben. Es kann aber auch angenehmer sein, kriminierung“), wenn ein Staat es Trans*menschen unnötig das nicht zu sagen. Gerade, wenn du Leute nicht gut kennst schwer macht, ihren Namen zu ändern. Trans*feindlichkeit oder sie dir nicht sympathisch sind. kann auch subtil sein, z.B. wenn dir jemand sagt, dass er_sie Flirts, Liebesbeziehungen und sexuelle Begegnungen sind Trans*personen „total spannend“ findet, weil sie so anders Situationen, in denen du vermutlich häufig an den Punkt sind, und du dich fühlst, als wärst du im Zoo. kommst, dich outen zu wollen oder zu müssen. Zu welchem Trans*feindlichkeit kann sich stark auf dein Selbstwertge- Zeitpunkt du das am liebsten machst, kannst du nach dei- fühl auswirken. Es kann dazu führen, dass du ein schlechtes nem Gefühl entscheiden. Manche outen sich relativ schnell, Körpergefühl oder eine negative Selbstwahrnehmung hast. wenn sie eine Person kennenlernen und interessant finden, Sie kann dazu führen, dass du den Spieß umdrehst und sel- manche warten bis es wirklich zu körperlichen Begegnun- ber cis-feindlich wirst. Es ist okay, mal seinen Druck loszu- gen kommt. Manche Menschen sind auch in ihren privaten werden, aber pass auf, dass du nicht selbst gemein wirst. Beziehungen out aber nicht in der Öffentlichkeit. Das kann dazu führen, dass Freund_innen, vor denen du geoutet bist, in der Öffentlichkeit sehr darauf achten müssen, wie sie dich „In meiner Outingphase habe ich die Welt selbst in ansprechen. So wichtig es ist, die persönlichen Grenzen ei- gute Trans*- und schlechte Cis-Menschen eingeteilt. ner Person in Bezug auf Outing zu achten, so frustrierend Heute sehe ich ein, dass diese Einteilung blöd war.” T. kann es auch sein, mitzubekommen, dass eine Person in Be- zug auf Outing ein „Doppelleben“ führt. Es hilft, sich klar zu machen, dass nicht du verkehrt bist — sondern die Gesellschaft, in der du lebst. Du bist anders und wundervoll, genau wie alle anderen. Trans*feindlich- „Ganz ehrlich: Ich kann verstehen, wenn Menschen keit hat weniger mit dir zu tun als mit einer Gesellschaft, sich nicht überall outen. Denn du musst jedes Mal die sehr lange braucht, um Trans* zu verstehen. Das wird deine Geschichte erzählen, du musst dich jedes Mal wohl noch eine Zeit lang dauern. Versuche, dich von ande- erklären, du machst jedes Mal Aufklärungsarbeit, ren Menschen nicht zu sehr verunsichern zu lassen. Manche ohne dafür Geld zu bekommen. Das ist anstrengend.” Trans*jugendliche erleben Ablehnung oder sogar Gewalt B. in ihrer Herkunftsfamilie. Dass deine Eltern/Erziehungsbe- rechtigten nach deinem Coming-Out erst einmal skeptisch Es kann auch als Belästigung empfunden werden, wenn und überfordert sind, ist normal. Dein Umfeld braucht, ge- deine Beziehung von außen anders gesehen wird als du sie nau wie du, Zeit um sich an deine Veränderungen zu ge- lebst. wöhnen. Lass dir und ihnen diese Zeit. Wenn deine Eltern/ Erziehungsberechtigten dir aber verbieten wollen, trans* zu „Es ärgert mich sehr, von Menschen als schwules sein oder zu transitionieren, dann such dir professionelle Pärchen gesehen zu werden und quasi dreifach Unterstützung. Du hast ein Recht auf deine Identität und auf misgendert zu werden (ich, meine Partnerin, unsere deine Transition. Als Jugendliche_r kannst du dich z.B. an Beziehung), da ich eine Verfechterin für lesbische das Jugendamt wenden. Nicht-trans*-sein-zu-dürfen kann Sichtbarkeit in der Welt bin.“ J. (Eine Trans*frau über eine sogenannte „Kindeswohlgefährdung“ darstellen und ihre Beziehung zu ihrer ebenfalls trans* Partnerin) dann muss das Jugendamt dir helfen. Leider sind auch viele Jugendämter in Deutschland noch nicht trans*sensibilisiert und mit der Thematik überfordert. Deshalb ist es sinnvoll, dass du dir vorher Unterstützung suchst durch Erwachsene, die sich mit dem Thema auskennen und dir wohlgesonnen sind. In einigen Städten gibt es Beratungsstellen für LSBTI 1-

1 LSBTI steht für „Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter*“

114 Hintergrundinformationen

„Ich arbeite in einer Kneipe und werde ziemlich oft Hrsg.: Trans*Recht e.V. misgendert. Ich weise auf meine Kleidung hin und Trans*Recht e.V. ist eine junge Initiative von trans* Ak- bitte darum, ein anderes Pronomen zu benutzen. Da- tivist_innen und deren Unterstützer_innen aus Bremen raufhin werde ich oft zum Thema trans* mit Fragen und Umland. Trans*Recht e.V. wurde ins Leben geru- befragt, die ich nicht alle beantworten kann, da ich fen, um trans* Menschen in sozialer, wirtschaftlicher noch arbeiten muss. Manchmal nehme ich mir nach und rechtlicher Hinsicht zu unterstützen und um gegen der Arbeit noch Zeit, um Fragen zu beantworten.” M. Diskriminierungen von trans* Menschen im Recht, in der medizinischen Versorgung und in der Gesellschaft Hilfreich ist es, daran zu denken, dass sich letztlich alle Men- zu kämpfen. schen immer wieder outen müssen. Beim Sex müssen sie sich gegebenenfalls outen in Bezug auf sexuelle Vorlieben (aktiv sein, passiv sein, Vorlieben für Spielzeug, erogene Stellen und No-Go-Areas…). Genau wie hier gibt es auch in Bezug auf trans* kein Patentrezept, wie du Menschen am besten sagst, dass du trans* bist. Das Wichtigste ist vermut- lich, nichts zu überstürzen und darauf zu achten, dass es in einem Setting stattfindet, in dem du dich prinzipiell wohl fühlst. Eventuell braucht die Person, gegenüber der du dich outest, auch ein bisschen Zeit um mit der Situation umzuge- hen. Viele Leute bevorzugen Orte, an denen sie selbst und www.tinyurl.com/ycqbbun2 ihr Gegenüber aufstehen und gehen können, falls die Situa- tion unangenehm wird — z.B. ein Café.

„Meistens platze ich einfach damit raus: „Ich bin trans*!“ Und er oder sie dann so: „Hä?“ Und dann erkläre ich erstmal. Ist unangenehm, aber meistens fragt die Person dann auch nach, und von da aus kann ich dann erklären. Ist nervig, aber ich habe noch keine bessere Methode gefunden.“ K.

115 Projektbeschreibung

All Included — Museum und Schule ­ gemeinsam für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Das Projekt arbeitet gemeinsam mit sechs Schulen und wei- wo“ erdacht und eröffnet, die neben Kurator_innen-Führun- teren Projektpartnern zum Thema sexuelle und geschlecht- gen, eine Reihe von Workshops und Veranstaltungen für jun- liche Vielfalt. Es geht dabei um Geschlechterrollen, Identitä- ge Besucher_innen sowie für Erwachsene anbietet. ten und ganz praktische Fragen wie: Was bedeutet „gender“? Warum tragen Mädchen rosa? Können homosexuelle Paare richtig heiraten? Gab es schon früher Trans_menschen? Wie Trägerbeschreibung: leben Regenbogenfamilien? Was ist mit queer gemeint? Projektträger: Jugend Museum Gestartet ist das Projekt mit Workshops (Projekttagen, Feri- enworkshops und Geschichts- und Lernwerkstätten) in denen Das Jugend Museum ist eine kommunale Einrichtung die Zielgruppe, Kinder und Jugendliche, dazu animiert wur- und gehört zum Bezirksamt Tempelhof-­Schöneberg. den sich selber Gedanken über Geschlechtergerechtigkeit Die Arbeit richtet sich vor allem an Kinder und Jugend­ und Rollenbilder zu machen. Des Weiteren wurden sie dazu liche von 10 bis 18 Jahren, sie bieten aber auch attrak- angeregt ihre eigenen Klischees und Vorurteile zu reflektie- tive Programme für Vorschulkinder, Familien und Men- ren. Basierend auf den Workshopergebnissen wurde eine in- schen mit besonderen Bedürfnissen. Sie legen großen teraktive Werkschau erstellt, die den_die Betrachter_in dazu Wert auf Vielfalt, Inklusivität und einen respektvollen einlädt Position zu beziehen. Umgang miteinander. Im weiteren Verlauf des Projekts wurde die Erarbeitung ei- nes neuen Formats für Schulen in den Mittelpunkt gestellt: „All included mobil“ ist ein mobiles Ausstellungsformat, ge- eignet für den Einsatz im Klassenzimmer, das Schüler_innen die Möglichkeit bietet, sich kreativ mit Geschlechterrollen und diversen Lebensvorstellungen auseinanderzusetzen. Zudem wurde ein Toolkit für Lehrkräfte erstellt, das zur Wei- terarbeit im Unterricht konzipiert wurde.

Im abschließenden Jahr des Projekts wurde die Ausstellung www.all-included.jugendmuseum.de/aktuell.html „Welcome to diversCity — Queer in Schöneberg und anders-

„Andrej ist anders und Selma liebt Sandra“ — Kultursensible sexuelle Orientierung

Das Projekt möchte die Situation von LSBTTIQ-Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund, die aus Trägerbeschreibung: traditionellen oder religiösen Kreisen stammen, verbessern. Projektträger: Türkische Gemeinde in Baden-­ Für sie ist es oft eine große Herausforderung sich über ihre Württemberg (TGBW) sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität klar zu wer- den, diese zu akzeptieren und ihr Leben so zu gestalten, wie Die TGBW ist ein religions- und parteiübergreifender sie es möchten. Zudem soll durch das Projekt das gegensei- Dachverband von Vereinen mit Bezug zur Türkei. Sie tige Verständnis zwischen den einzelnen Kulturen und Com- setzt sich für Inklusion, Antidiskriminierung und die munities gefördert werden. Vermittlung von Aus- und Weiterbildung für Menschen mit Migrationshintergrund ein. Um das erfolgreich umzusetzen, verfolgt das Projekt einen transkulturellen und religionssensiblen Ansatz und führt Ge- spräche mit Jugendlichen und jungen erwachsenen LSBTTIQ aus verschiedenen Kulturen, mit Angehörigen von LSBTTIQ, Vertreter_innen von Migrant_innenorganisationen, religiö- sen Organisationen und der LSBTTIQ-Community sowie mit Vertreter_innen der städtischen Jugendarbeit, sozialwissen- schaftlichen Fachkräften und Organisationen. Die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Projekt werden für Jugendarbeit, Beratung und die Öffentlichkeit zur Verfü- www.kultursensibel-lsbttiq.de gung gestellt. Aus den Ergebnissen der Befragung werden Maßnahmen zur Unterstützung von LSBTTIQ-Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickelt und umgesetzt.

116 Übungen und Hilfen

einer Fremdgruppe1 die Einstellungen gegenüber der ganzen Kurzbeschreibung: Gruppe verbessert (Pettigrew & Tropp, 2006) und das gilt Homophobie/Transphobie­ auch für Kontakt zu Lesben und Schwulen (Smith u a., 2009) werden als Form der Diskri- und transgeschlechtlichen Personen (Walch u a., 2012). In minierung in Schulen und der Berliner Schulbefragung hatten Schüler_innen, die von Jugendeinrichtungen kaum lesbischen, schwulen oder bisexuellen Lehrkräften an ihrer wahrgenommen. Dabei sind Schule wussten, bei der wiederholten Befragung neun Mo- homophobe Beschimpfun- nate später positivere Einstellungen zu Lesben und Schwu- gen weit verbreitet. Die len. Besonders gut wirkt Kontakt, wenn er durch Autoritä- ­Expertise setzt sich daher ten, z. B. staatliche Institutionen legitimiert und unterstützt v. a. mit Lösungsansätzen wird (Pettigrew & Tropp, 2006). Hilfreich für Schulen und auseinander, die helfen Jugendeinrichtungen ist, dass auch indirekter Kontakt Vor- die Akzeptanz sexueller urteile reduziert, also das bloße Wissen, dass eine Person, Vielfalt zu erhöhen sowie mit der man selbst Kontakt hat, wiederum Kontakt zu einem ein Problembewusstsein­ Mitglied der Fremdgruppe hat (Lemmer & Wagner, 2015). In- bei jungen Menschen zu direkter Kontakt kann auch durch Medien, z. B. Schulmate- schaffen. rialien herbeigeführt werden. In der Schulbefragung hatten Schüler_innen positivere Einstellungen und mehr Wissen zu Homophobie und Transphobie in Schulen und LSBT, je häufiger in verschiedenen Fächern und Jahrgängen Jugendeinrichtungen: Was können pädagogische Lesbischsein und Schwulsein thematisiert wurde. Fachkräfte tun? S. 5–10 Doch wie sollen Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte das leisten? Sind die Lehrpläne nicht bereits viel zu voll? Gibt (Projekt Vielfalt-Mediathek des IDA e.V.) es nicht zu viele andere Probleme, die behandelt werden müssen? Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt muss nicht als 2.) Was können pädagogische separates Thema umfangreich behandelt werden. Idealer- ­Fachkräfte tun, um die Akzeptanz weise wird sie ganz selbstverständlich und ohne zeitlichen Zusatz­ aufwand­ berücksichtigt. Beispielsweise können in Tex- für Vielfalt zu verbessern? ten, Fotos, Filmen oder mündlich vorgetragenen Beispielen Erfreulicherweise gibt es inzwischen umfangreiche sozial- neben Heterosexuellen auch Personen vorkommen, die in psychologische Forschung dazu, wie man Vorurteile abbau- einer gleichgeschlechtlichen Beziehung oder einer Regen- en und Akzeptanz für Vielfalt schaffen kann. Auch speziell bogenfamilie2 leben oder früher ein anderes Geschlecht hat- zur Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gibt ten. Sehr hilfreich ist, bei der Anschaffung von Schulbüchern es immer mehr Studien. Unter anderem hat sich auch die solche auszuwählen, die die Vielfalt unserer Gesellschaft Berliner Schulbefragung dieser Fragestellung gewidmet, abbilden, in denen also Menschen verschiedener Geschlech- speziell den Einflussmöglichkeiten durch die Lehrkräfte. Im ter, Altersgruppen, Herkunft, Religion und Weltanschauung, folgenden werde ich sechs Strategien zum Vorurteilsabbau Begabung und sexueller Orientierungen vorkommen, die darstellen. Die Akzeptanz für sexuelle und geschlechtliche in unterschiedlichen Familienformen leben.3 Bereits Bilder- Vielfalt lässt sich verbessern durch (a) die Erhöhung der bücher können die Vielfalt von Familien und Lebensweisen Sichtbarkeit von LSBTI, insbesondere durch die Herstellung berücksichtigen und das Thema Anderssein behandeln.4 Da- persönlichen Kontakts, (b) die explizite Ächtung von Mob- rüber hinaus kann eine Einrichtung LSBTI-Jugendlichen sig- bing und Diskriminierung in der Einrichtung, (c) die Reflexi- on von Geschlechternormen, (d) die Ermöglichung von Per- 1 Fremdgruppe (bzw. Outgroup) bezeichnet in der Sozialpsychologie spektivenübernahme und Empathie, (e) die Vermeidung von lediglich eine Gruppe, der man selbst nicht angehört, egal ob einem Identitätsbedrohung und (f) die Vermittlung von Wissen. diese Gruppe fremd oder vertraut ist. 2.a) Kontakt und Sichtbarkeit schaffen 2 Regenbogenfamilien sind Familien, in denen mindestens ein Elternteil nicht heterosexuell ist, z. B. eine Beziehung aus zwei Frauen mit Vorurteile basieren zu einem erheblichen Teil auf dem Unbe- einem Kind oder eine Beziehung zwischen zwei Männern mit einem hagen gegenüber dem Fremden, dem Unbekannten. Sie sind Kind und der Mutter des Kindes. also Konsequenz einer generellen menschlichen Eigenschaft, 3 Das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt wird beispielsweise die sich im Laufe der Evolution entwickelt hat, da sie uns vor in unterschiedlichen Büchern des Klett-Verlags (siehe www.klett.de/ möglichen Gefahren schützt. Diese Ursache von Vorurteilen thema/vielfalt?campaign=startseite/empfehlung/vielfalt) und des Westermann-Verlags (z. B. www.files.schulbuchzentrum-online.de/ bietet damit auch ein Potenzial für ihren Abbau: Kontakt flashbooks/978-3-507-49492-3/ S. 54, www.files.schulbuchzentrum- zwischen Gruppen. Unbekanntes wird bekannt; vorher Frem- online.de/flashbooks/978-3-425-14001-8/ S. 30, wortstark 9 Titel-Nr. de werden uns vertraut. Mittlerweile belegen viele hundert 48005 S. 33-35, prologo AH 9, Titel-Nr. 124149, S. 6) berücksichtigt. Studien, dass persönlicher Kontakt zu einzelnen Mitgliedern 4 Gutes Material für Kindertageseinrichtungen und Grundschulen bieten zwei Medienkoffer Vielfältige Familienformen und Lebensweisen, die unter anderem über das Berliner Medienforum ausgeliehen werden können (www.berlin.de/sen/bildung/medienforum/unterrichtswerkstatt. html) Für einen Überblick siehe auch https://queerfor.uber.space/ kinder-und-jugend-hilfe/publikationen-und-materialien/index.html.

117 Übungen und Hilfen

nalisieren, dass sie willkommen sind und mit Unterstützung 2.c) Geschlechternormen reflektieren und rechnen können, indem sie Material (z. B. Poster und Bro- ­hinterfragen schüren) präsentieren und ggf. schützen, das sexuelle und Während persönlicher Kontakt und der Umgang mit Dis- geschlechtliche Vielfalt positiv darstellt. kriminierung für ganz unterschiedliche Vorurteile relevant Die positive Wirkung direkten Kontakts kann genutzt wer- sind, sind Geschlechternormen speziell für Vorurteile gegen den, indem LSBTI-Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte LSBTI relevant. Geschlechternormen sind gesellschaftlich mit ihrer Identität genau so selbstverständlich umgehen, geteilte Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer sein wie ihre heterosexuellen Kolleg_innen das tun, wenn sie ihre sollen, also wie ihre Körper beschaffen sein sollen, wie sie Partnerschaft oder Familie erwähnen. Heterosexuelle Lehr- sich inszenieren (z. B. kleiden oder frisieren) sollen, wie kräfte können indirekten Kontakt herstellen, beispielswei- sie denken und fühlen sollen und wie sie sich verhalten se indem sie erwähnen, dass eine Freundin mit einer Frau sollen (d. h. ihre Geschlechterrolle). LSBTI verletzen diese zusammenlebt, der Neffe bisexuell ist oder die Schwester Geschlechternormen. Intergeschlechtliche Personen ver- früher als Mann lebte. In vielen Orten gibt es zudem Auf- letzen die Vorstellung, dass es nur zwei Geschlechter gibt, klärungsprojekte, in denen junge LSBT (größtenteils ehren- die körperlich eindeutig als solche erkennbar sind. Trans- amtlich) die Schulen besuchen und sich dort den Fragen geschlechtliche Personen verletzen die Vorstellung, dass der Schüler_innen stellen.5 Bisherige Evaluationen deuten in einem weiblichen Körper geborene Personen sich später darauf hin, dass selbst kurze Workshops Vorurteile abbauen als Frauen fühlen und inszenieren und in einem männlichen können (Timmermanns, 2003). Körper geborene Personen sich später als Männer fühlen und inszenieren. Lesben und Schwule verletzen die Vorstel- 2.b) Mobbing und Diskriminierung ächten lung, dass Frauen Männer und Männer Frauen begehren. Es Die Berliner Schulbefragung zeigt, dass die Schüler_innen ist daher nicht erstaunlich, dass die Befürwortung traditio- umso häufiger diskriminierendes Verhalten zeigen, je häufi- neller Geschlechterrollen mit negativeren Einstellungen und ger ihr_e Klassenlehrer_in sich selbst über Lesben, Schwule diskrimierenderem Verhalten gegenüber LSBT einhergeht oder nicht-geschlechtskonforme Personen lustig gemacht (Klocke, 2012; Whitley, 2001). hat. Schreiten die Klassenlehrer_innen hingegen bei Diskri- Hilfreich ist daher, wenn pädagogische Fachkräfte über ihre minierung ein, geht das tendenziell mit positiveren Einstel- eigenen Geschlechternormen reflektieren. Wie oben darge- lungen ihrer Schüler_innen zu LSBT einher. Darüber hinaus stellt, machen sich nicht nur Schüler_innen, sondern auch haben Schüler_innen positivere Einstellungen, wenn sie wis- Lehrkräfte über nicht geschlechtskonformes Verhalten lus- sen, dass Mobbing im Leitbild ihrer Schule geächtet wird. tig. Dieses Verhalten hing in der Schulbefragung nicht mit Die Wirksamkeit eines inklusiven Antimobbing-Leitbildes, den Einstellungen der Lehrkräfte zusammen, scheint also bei dem auch sexuelle Orientierung explizit mit benannt oft gedankenlos zu geschehen. Ein „Stell dich nicht so mäd- wird, wird zudem in einer US-amerikanischen Studie belegt chenhaft an“ rutscht unbeabsichtigt auch denen heraus, (Hatzenbuehler & Keyes, 2013). Je mehr Schulen in einem die offen und tolerant sein wollen. Pädagogische Fachkräf- Bezirk ein solches inklusives Antimobbing-Leitbild hatten, te sollten sich also bewusst machen, welches Verhalten sie desto weniger Suizidversuche wurden von lesbischen und bei Jungen mehr irritiert als bei Mädchen oder welche Art, schwulen Jugendlichen unternommen. sich zu kleiden, sie bei Mädchen anstößiger finden als bei Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte oder Eltern sollten also Jungen. Sie sollten überlegen, wie sich ihre Empfindungen diskriminierende Beschimpfungen, wie „Spast“, „Schwuch- in ihrem Verhalten zeigen und was sie den Kindern und Ju- tel“ oder „Jude“ nicht ignorieren, sondern kritisch hinter- gendlichen damit signalisieren. Nach der Reflexion über ihre fragen. Sie können beispielsweise fragen „Warum ist das für eigenen Geschlechternormen können sie auch die Jugend- dich ein Schimpfwort?“, „Was ist so schlimm daran?“ oder lichen dazu anregen. Eine dazu geeignete Übung ist, Zet- „Würdest du dich trauen, zu deiner Liebe zu stehen, wenn tel mit folgenden Satzanfängen zu verteilen (Sielert & Keil, du lesbisch wärst und ‚Lesbe’ dauernd als Schimpfwort 1993, S. 139): „Wenn ich ein Junge [Mädchen] wäre, müsste hörst?“. Wenn Reflektieren alleine nichts hilft, kann auch ich ... / dürfte ich ...“ bzw. „Weil ich ein Mädchen [Junge] eine klare Grenze aufgezeigt werden, etwa „Diese Begriffe bin, muss ich ... / darf ich ...“. Nachdem die Jugendlichen wollen wir hier nicht als Beschimpfungen hören“. Die Aus- die Sätze in Einzelarbeit ergänzt haben, können diese (neu einandersetzung sollte von einer Konfrontation zwischen verteilt) vorgelesen und diskutiert werden.6 Neben bewuss- zwei Personen hin zu einem Hinweis auf die Regeln und die ter Reflexion können pädagogische Fachkräfte (bereits mit Kultur der gesamten Einrichtung verschoben werden. Und Kindern) Bücher oder andere Medien verwenden, in denen genau dazu ist ein explizit formuliertes Leitbild wichtig, in Geschlechternormen anhand von Beispielen erweitert wer- dem Mobbing und Diskriminierung geächtet werden. Dieses den, da darin beispielsweise auch Jungen vorkommen, die Schul- oder Einrichtungsleitbild sollten regelmäßig thema- Schwächen zeigen oder mit Puppen spielen, und Mädchen, tisiert werden, beispielsweise indem gemeinsam mit den die auf Bäume klettern oder Fußball spielen (Quellen siehe Jugendlichen Beispiele für Mobbing und Diskriminierung Kapitel 2.a). gesammelt und Gegenstrategien erarbeitet werden.

6 Eine weitere Übung zur Reflexion über Geschlechternormen mit 5 Einen Überblick über sämtliche deutschen LSBT-Aufklärungsprojekte Jugendlichen finden Sie hier: https://vms.dissens.de/fileadmin/VMS/ finden Sie unter www.bksl.de/schulaufklaerung. redakteure/Collagen_zu_Geschlechterbildern.pdf

118 Übungen und Hilfen

2.d) Perspektivenübernahme und Empathie Wurzeln, einen schwulen Bruder oder eine Tochter, die gän- ­ermöglichen gigen Schönheitsidealen nicht genügt. Aktivitäten, die zu Perspektivenübernahme mit Mitgliedern Neben unserem Gruppenwert können wir auch unser Selbst- einer Fremdgruppe anregen und dadurch Empahie (Einfüh- bild als ein moralisch guter Mensch bedroht sehen. Und lung) ermöglichen, verbessern die Einstellungen gegenüber diese Tatsache kann Versuche, Diskriminierung abzubauen, der ganzen Gruppe. Das gilt gegenüber ganz unterschiedli- beeinträchtigen. Zum eigenen Selbstbild gehört bei vielen chen Gruppen (Beelmann & Heinemann, 2014) und wurde Menschen nämlich auch, dass wir selbst keine oder kaum mittlerweile auch gegenüber Lesben, Schwulen und Bisexu- Vorurteile haben und zumindest niemanden diskriminieren. ellen (Bartos¸ u a., 2014) sowie transgeschlechtlichen Perso- In einem Antidiskriminierungsworkshop oder im Kontakt mit nen nachgewiesen (Tompkins u a., 2015). Mitgliedern einer benachteiligten Gruppe kann es passieren, Auf welche Weise kann Empathie angeregt werden? Wenn dass uns Zweifel an diesem Selbstbild kommen oder wir be- viel Zeit ist, können die Jugendlichen dazu gebracht werden, fürchten, dass andere unsere Vorurteilsfreiheit bezweifeln. im Rollenspiel die Perspektive eines LSBTI-Jugendlichen Wir verhalten uns dann weniger natürlich und kontrollie- einzunehmen. Darin könnte beispielsweise ein Junge einem ren unser Verhalten, damit uns keine Vorurteile unterstellt Freund oder seinen Eltern mitteilen, dass er sich in einen werden können. Diese übermäßige Selbstkontrolle kann die Jungen verliebt hat. Es gibt allerdings auch niedrigschwel- Begegnung mit dem Fremdgruppenmitglied beeinträchti- ligere Methoden wie das Schreiben eines Coming Out-Brie- gen und dazu führen, dass wir das Mitglied nicht besonders fes oder gedankliche Simulationen, wie in der Übung Zum sympathisch finden und sich diese negativen Gefühle auf die ersten Mal verliebt (Bildungsinitiative QUEERFORMAT, 2011). ganze Gruppe übertragen (Vorauer, 2013). Zudem lassen sich Zudem kann Empathie auch angeregt werden, wenn LSBTI Vorurteile in unserem Verhalten nur unterdrücken, wenn wir selbst zu Wort kommen und beispielsweise von ihrem Co- sie die ganze Zeit kognitiv aktivieren; schließlich müssen wir ming Out, ihren Befürchtungen und Hoffnungen davor, den uns bewusst machen, welches Vorurteil wir nicht zeigen wol- Reaktionen anderer und ihrem Umgang damit berichten. len (Macrae u a., 1994). Dies führt dazu, dass sich die Vorur- Diese Erzählungen aus der eigenen Biografie können durch teile in unserem Verhalten umso deutlicher zeigen, sobald die Einladung eines LSBTI-Aufklärungsteams in die Klasse unsere Aufmerksamkeit nachlässt. Es erscheint also hilfrei- oder Einrichtung ermöglicht werden (siehe Kapitel 2.a oder cher, in einem Antidiskriminierungsworkshop zu verdeutli- durch Medien7 wie Filme, Romane oder Geschichten. chen, dass wir alle Vorurteile haben und das kaum bewusst verhindern können. Wichtiger als zu beschließen, keine Vor- 2.e) Identitätsbedrohung vermeiden urteile zu haben, ist, sich die eigenen Vorurteile bewusst zu Existierende Forschung zeigt, dass Vorurteile zunehmen, machen und durch persönlichen Kontakt mit Mitgliedern der wenn wir unsere Identität bedroht sehen (Riek u a., 2006). entsprechenden Gruppe daran zu arbeiten. In unserer Identität als Mitglied einer Gruppe fühlen wir uns bedroht, wenn wir selbst diskriminiert werden, so dass 2.f) Wissen vermitteln der Wert dieser Gruppe und damit auch unser Selbstwert in Wie in den Kapiteln 1d. und 2.a bereits erwähnt, kann Wissen Frage gestellt wird. Beispielsweise werten Jugendliche mit zu LSBT Einstellungen verbessern und zu solidarischerem einem Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Verhalten beitragen. Geschlechtiche und sexuelle Vielfalt UdSSR Lesben und Schwule umso stärker ab, je stärker sie sollte also nicht nur permanent ganz selbstverständlich Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland diskri- berücksichtigt werden, sondern auch als eigenständiges miniert sehen (Simon, 2008). Wichtig beim Abbau von Vor- Thema expliziter behandelt werden. Neben Sexualkunde urteilen ist daher, dass nicht eine Gruppe gegen eine andere im Biologieunterricht bieten sich dafür auch eine Reihe Fä- ausgespielt wird. Diese Gefahr besteht, wenn von einer selbst cher und Themen an, die bisher in diesem Zusammenhang benachteiligten Gruppe (z. B. Migrant_innen) vehementer als weniger beachtet wurden. So können im Geschichts- oder von der Mehrheitsgesellschaft oder der eigenen Partei ver- Sozialkundeunterricht das Thema Diskriminierung und langt wird, andere Gruppen (z. B. Lesben und Schwule) nicht Menschenrechte neben der US-amerikanischen Bürger- zu diskriminieren (ZEIT-ONLINE, 2015). Idealerweise sollten rechtsbewegung und der Frauenbewegung auch am Stone- Sie also mehrere Vielfaltsdimensionen gleichberechtigt be- wall-Aufstand und dem Kampf gegen die Kriminalisierung rücksichtigen und verdeutlichen, dass ganz unterschiedliche und Pathologisierung von LSBTI verdeutlicht werden. Und Arten von Diskriminierung auf ähnlichen Mechanismen beru- im Ethikunterricht können bei den Themen Liebe, Partner- hen. Dies entkräftigt auch das Argument, dass Antidiskrimi- schaft und Familie auch gleichgeschlechtliche Liebe, Co- nierungsarbeit nichts anderes als Lobbyismus für bestimmte ming Out und Regenbogenfamilien thematisiert werden. Interessensgruppen sei. Im Gegenteil, von Diskriminierung betroffen sind wir alle, ob persönlich oder durch die eigene 3.) Zusammenfassung und Fazit Mutter, die im Rollstuhl sitzt, einen Freund mit afrikanischen Schulen, Jugendzentren und Sportvereine sind oft noch keine sicheren Räume für Kinder und Jugendliche, die do- 7 Einen Überblick über geeignete Unterrichtsmaterialien und anderer minierenden Geschlechternormen nicht entsprechen. Durch Medien finde Sie auf den Webseiten des Antidiskriminierungsprojekts Schimpfworte, Witze oder Lustigmachen wird ihnen signa- Schule der Vielfalt — Schule ohne Homophobie: www.schule-der- vielfalt.de/projekte_material.php und www.schule-der-vielfalt.de/ lisiert, dass sie ihre Identität besser verheimlichen sollten. projekte_medien.php Lehrkräfte intervenieren gegen Diskriminierung jedoch nur

119 Übungen und Hilfen

unregelmäßig und berücksichtigen sexuelle und geschlecht- spielsweise durch Einladung eines Aufklärungsworkshops. liche Vielfalt nur selten. Oft wissen sie nichts von LSBTI Bei Diskriminierung sollten sie eingreifen, gruppenbezoge- unter ihren Schüler_innen und von deren fünffach erhöh- ne Beschimpfungen hinterfragen und dabei zur Perspek- ter Suizidgefahr. Dabei können Lehrkräfte, Erzieher_innen tivübernahme anregen. Idealerweise berücksichtigen sie oder (Sozial-)Pädagog_innen dazu beitragen, die Akzeptanz Vielfalt und Antidiskriminierung umfassend, beachten also für Vielfalt und damit die Situation dieser Kinder und Ju- alle Merkmale, die zu Benachteiligungen führen können, gendlichen zu verbessern. So können sie bereits ab der Kita gleichermaßen. Damit verdeutlichen sie die Gemeinsamkei- auch Verhalten jenseits von Geschlechternormen und die ten verschiedener Arten von Diskriminierungen und zeigen, Vielfalt von Liebes- und Familienformen sichtbar machen. dass wir alle davon betroffen sind und von mehr Akzeptanz Sie können persönlichen Kontakt zu LSBTI ermöglichen, bei- von Vielfalt profitieren können.

Autor_in: Klocke, Ulrich Projekt: Vielfalt-Mediathek Hrsg.: Informations- und Dokumentationszentrum für Das Projekt ist ein Informationsportal für Multiplika- Antirassismusarbeit (IDA) e. V. tor_innen der außerschulischen und schulischen Bil- dungsarbeit sowie für engagierte Bürger_innen, die IDA wurde 1990 auf Initiative von demokratischen Informationen und Materialien suchen, die sich gegen Jugendverbänden in Deutschland gegründet, um ein Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit Zeichen gegen Rassismus zu setzen. IDA fungiert als richten. Die Publikationen beruhen, wie die Vielfalt-­ Dienstleistungszentrum, das in den Themenfeldern Mediathek selbst, auf der Förderung durch das Bundes- Rassismus(kritik), Rechtsex- programm „Demokratie leben!“ oder dessen entspre- tremismus, Antisemitismus, chende Vorgängerprogramme. rassismuskritische oder inter- kulturelle Öffnung, Diversität, Magazin Gegenpol: Diskriminierungskritik und Das Magazin Gegenpol nimmt sich Themen und Diskus- Migrationsgesellschaft infor- sionen an, die sich auf die von der Vielfalt-Mediathek miert, dokumentiert, berät und bearbeiteten Sachgebiete beziehen. Zusammen mit qualifiziert. Expert_innen wird über Hintergründe, neue Entwicklun- gen und Kontroversen in den besagten Themenfeldern­ www.tinyurl.com/y63wgtyz berichtet und diskutiert.

120 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Sexuelle Vielfalt

Titel: Glossar zu Begriffen geschlechtlicher Titel: Alles männlich?! Praxistipps für eine und sexueller Vielfalt geschlechterreflektierende Fanarbeit Autor_in: Debus, Katharina/Laumann, Vivien Hrsg.: KoFaS (Kompetenzgruppe Fankulturen Hrsg.: Dissens — Institut für Bildung und und Sport bezogene Soziale Arbeit) ­Forschung e.V.

www.tinyurl.com/y356g2oy www.tinyurl.com/y9b89r3x Titel: Peggy war da! Gender und Social Media Titel: Basisliteratur zur Thematisierung als Kitt rechtspopulistischer Bewegun- ­sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gen im (Lehramts-)Studium Hrsg.: Amadeu Antonio Stifung Hrsg.: Forschungs-und Netzwerkstelle „Vielfalt lehren!“

www.tinyurl.com/yyvzpzl7

www.tinyurl.com/y3o7uffr

Titel: # WE ARE PART OF CULTURE. Vor- und Nachbereitungsanregungen für den Unterricht Hrsg.: Projekt 100% MENSCH

www.tinyurl.com/y2ba6pv4

121 Gott ist die Religion egal Ideen, um präventiv gegen religiösen ­Fundamentalismus zu wirken

Salafismus — Ideologie, Bewegung, Hintergründe (Projekt Vielfalt-Mediathek des IDA e.V.)

Kurzbeschreibung: Unter den ca. vier Millionen Muslim_innen in Deutschland, wird nur eine sehr kleine Minderheit dem salafistischen Spektrum zuge- rechnet. Diese ultrakonservative Interpretation des Islams wächst aber, gerade unter jungen Menschen, beständig. In der Expertise werden die Gründe für diese Faszination näher beleuchtet wie auch die Entstehungsgeschichte, die dahinterstehende Ideologie und Deradikalisierungsstrategien. S. 1–6

Salafismus — Ideologie, Bewegung, Hintergründe

Seit 2004/5 ist auch in Deutschland eine salafistische Sze- Ideologie und Szene ne entstanden, die mit ihrer Ideologie und ihren Aktivitäten gerade auch unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen Charakteristisch für den Salafismus ist ein literalistisches auf Interesse stößt. Im Unterschied zu den 1990er Jahren, Verständnis der religiösen Quellen, nach dem der Wortlaut in denen sich bereits erste kleinere, oft konspira­tiv agieren- des Korans und der Sunna, den Erzählungen aus dem Leben de salafistische Gruppierungen formierten, beschränkt sich des Propheten Muhammeds, unabhängig vom gesellschaft- deren Einfluss immer weniger auf das unmittelbare soziale lichen Kontext verbindlich ist. Die Bezeichnung Salafismus Umfeld. In den vergangenen Jahren erreichten salafistische leitet sich vom Begriff „salaf“ (arab. für „die Altvorderen“) Prediger und Initiativen zunehmend weitere Kreise der Öf- ab, der den Propheten und die ersten drei Generationen sei- fentlichkeit und beeinflussten innerislamische Diskurse. ner Anhänger_innen in der Frühzeit des Islams bezeichnet. In salafistischer Vorstellung gelten sie als Vorbilder, deren Trotz der Bezüge zur islamischen Geschichte und der reli- Lehren und Handlungen eindeutig und ohne Kontextualisie- giösen sowie politischen Einflüsse insbesondere aus dem rung verbindlich seien (Vgl. dazu Bauknecht 2015, 4-15). Nahen Osten handelt es sich dabei zunächst um ein deut- sches Phänomen, dessen Hintergründe, Strukturen und Dy- Mit dieser Sichtweise unterscheiden sich Salafist_innen namiken in der hiesigen Gesellschaft begründet sind (Vgl. wesentlich von anderen islamischen Strömungen, die den Dantschke 2014, 171–186 und Wiedl/Becker 2014, 187–215). Alltag und das Denken von Muslim_innen in Geschichte und Mit 8.350 Personen, die dem salafistischem Spektrum­ An- Gegenwart maßgeblich prägen. So zeichnet sich die Ge- fang 2016 bundesweit zugerechnet wurden (Vgl. Freier schichte der islamischen Theologie durch die Entstehung 2016), handelt es sich um eine sehr kleine Minderheit unter unterschiedlicher Rechtsschulen aus, die sich in ihren Zu- den etwa 4 Millionen Muslim_innen in Deutschland. Dennoch gängen und ihrem Umgang mit den religiösen Quellen zum illustrieren der deutliche Anstieg der Zahl der Anhänger_in- Teil deutlich unterscheiden. Innerislamische Diskussionen nen in wenigen Jahren (2011: 3.800 Personen) und die Sicht- über Auslegungen und Interpretationen sind aus der Ge- barkeit salafistischer Angebote im öffentlichen Raum den schichte des Islams — ähnlich wie im Christentum und im wachsenden Bedarf an präventiven Ansätzen in der schuli- Judentum — nicht wegzudenken und galten lange als selbst- schen und außerschulischen Bildungs- und Sozialarbeit, um verständlicher Ausdruck innerreligiöser Diversität (Vgl. entsprechenden Ansprachen vorzubeugen. ­Bauer 2011, 54–114).

122 Hintergrundinformationen

Aus salafistischer Sicht stehen diese Zugänge zum Islam für Demgegenüber sehen Anhänger_innen (3) der dschihadis- die Gefahr einer Verfälschung der ursprünglichen Lehre. Der tischen Strömung auch im Einsatz von Gewalt ein legitimes Anspruch auf alleinige Wahrheit verbindet sich hier mit der Mittel, um für die Interessen des Islams und der Muslim_in- Abwehr alternativer Lesarten und Umgangsweisen, die als nen zu kämpfen. Aus diesem Spektrum rekrutieren sich die Abkehr vom vermeintlich wahren Islam verurteilt werden. mittlerweile über 800 Personen, die sich aus Deutschland Gleichwohl lassen sich auch in der salafistischen Szene Un- den verschiedenen dschihadistischen Organisationen in Sy- terschiede ausmachen, die sich nicht zuletzt in unterschied- rien und Irak angeschlossen haben (Vgl. Flade 2016), aber lichen und zum Teil widersprüchlichen Strategien und Ver- auch Anhänger_innen aus dem weiteren Umfeld von Grup- haltensmustern äußern. So wird in der wissenschaftlichen pierungen wie „Millatu Ibrahim“ und „Tauhid Germany“, die Diskussion im Wesentlichen zwischen drei Strömungen un- in den vergangenen Jahren verboten wurden. terschieden, deren Übergänge bisweilen fließend sind (Vgl. Nicht immer ist eine klare Abgrenzung der einzelnen Strö- Bauknecht 2015, 4). mungen möglich. So enthält sich die Initiative „Die wahre Als (1) puristisch wird eine Spielart des Salafismus bezeich- Religion“, die durch die Koranverteilungsstände bundes- net, für die das Vorbild der „salaf“ im persönlichen Alltag weit bekannt wurde, expliziten Aufrufen zur Gewalt; gleich- verbindlich ist. Die vermeintlich authentische Lehre gilt den wohl bildet die hier verfochtene Ideologie nicht selten Anhängern dieser Strömung als Leitbild für die eigene Glau- den Ausgangspunkt für eine Hinwendung zur Gewalt. So benspraxis, ohne damit einen ausdrücklichen Anspruch an kam eine Untersuchung der Biographien von deutschen andere zu verbinden, nach diesem Vorbild zu leben. In der Dschihad-Kämpfer_innen in Syrien und Irak zu dem Ergeb- aktuellen Debatte um Ansätze der Präventionsarbeit gehen nis, dass jeder fünfte der Dschihadist_innen zuvor an einem die Einschätzungen dieser Strömung auseinander. Für die der Koran-Verteilungsstände der Initiative beteiligt war (Vgl. Ämter des Verfassungsschutzes zählt dieser Personenkreis BKA/BfV/HKE 2015, 20). Ideologie und Umfeld dieser Initia- nicht zu den „Beobachtungsobjekten“, da eine solche Le- tive bilden insofern einen möglichen Ausgangspunkt einer bensweise von der grundgesetzlich geschützten Religions- weiteren Radikalisierung. und Meinungsfreiheit gedeckt ist und nicht aktiv gegen die Verfassung selbst gerichtet ist. Unabhängig von einer Jugendkultur, Religion und Politik solchen rechtlichen Einschätzung wird von pädagogischen Charakteristisch für die salafistische Szene in Deutschland Akteur_innen auf die Problematik eines entsprechenden ist ihre jugendkulturelle Prägung. Dies betrifft das durch- Religionsverständnisses hingewiesen, das zwar rechtlich un- schnittliche Alter ihrer Anhänger_innen ebenso wie die problematisch, im Alltag und Zusammenleben aber durch- inhaltliche und stilistische Ausrichtung ihrer Aktivitäten aus zu Konflikten führen kann und dem pädagogischen Leit- und Angebote (Vgl. dazu Dantschke 2015, 135–141 und Nord- bild eines „mündigen Bürgers“ entgegensteht. bruch/Müller/Ünlü, 363–370). Im Unterschied dazu steht die (2) politisch-missionarische Religiöse Inhalte nehmen in salafistischen Aktivitäten gro- Strömung ausdrücklich für den Anspruch, die Gesellschaft ßen Raum ein. So bieten salafistische Prediger mit einfachen in ihrem Sinne zu verändern. Die „Dawa“ (arab. für „Einla- und vor allem eindeutigen Aussagen über Glaubensinhalte­ dung zum Islam“) gilt diesen Vertreter_innen als Pflicht ei- und –praktiken gerade jenen Jugendlichen und jungen Er- nes jeden Muslim und richtet sich nicht allein an Nichtmus- wachsenen, die auf der Suche nach religiösen Weltbildern lim_innen, sondern auch an Muslim_innen, die den Islam und Orientierungen sind, leicht zugängliche Antworten auf anders verstehen und praktizieren. Dieses Selbstverständ- religiöse Fragen, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind. nis spiegelt sich in den zahllosen Aktivitäten, die von Vertre- Nicht zufällig lassen sich viele Anhänger_innen dieser Sze- ter_innen dieses Spektrums mit dem Ziel einer Verbreitung nen als „religiöse Analphabeten“ beschreiben, die häufig des eigenen Religionsverständnisses unternommen werden. auch trotz eines Aufwachsens in „muslimischen“ Familien Islam-Seminare, die Verteilung des Korans in Fußgängerzo- kaum über ein gefestigtes Wissen über zentrale Glaubens- nen, „Street-Dawa“ (Ansprachen in Cafés oder auf öffentli- lehren verfügen. Die Attraktivität dieser Antworten gründet chen Plätzen) oder Benefiz-Veranstaltungen anlässlich des damit nicht zuletzt in dem weitgehenden Fehlen alternativer Krieges in Syrien sind nur einige der öffentlichen Aktionen, Angebote (in der Familie, Gemeinde oder Schule), die Ju- die von diesen Initiativen organisiert werden. Besondere gendliche mit der Vielfalt islamischer Traditionen und deren Bedeutung kommt den zahllosen Online-Aktivitäten zu, mit möglichen Umsetzung im gesellschaftlichen Alltag vertraut denen die eigenen Botschaften verbreitet werden. Neben machen könnten. Videoaufzeichnungen von Vorträgen und Predigten zäh- len hierzu auch Diskussionsforen und Angebote in sozialen Zugleich ist in den vergangenen Jahren eine zunehmend Netzwerken, in denen religiöse Fragen beantwortet werden. lebensweltliche Ausrichtung salafistischer Angebote zu Trotz der expliziten Abgrenzung von Nichtmuslim_innen beobachten. So greifen salafistische Ansprachen beispiels- und der Abwertung von Andersgläubigen als „Ungläubige“ weise in sozialen Medien verstärkt persönliche („Was ist der grenzen sich prominente Vertreter dieser Strömung von Ge- Sinn des Lebens?“, Geschlechterrollen, Umgang mit fami- walttaten ab und rufen dazu auf, schon aus Eigeninteresse liären Konflikten, Drogen, Sexualität) und gesellschaftliche und aus Sorge um mögliche Repressionen geltende Gesetze (soziale Ungleichheit, Finanzkrise, „Krise der Demokratie“) zu beachten. Themen auf und bieten damit ein Forum, um über eigene Sorgen und Erfahrungen zu sprechen. Im Zentrum stehen

123 Gott ist die Religion egal

hier nicht unmittelbar religiöse Interessen, sondern ein Un- Die Attraktivität dieser Inhalte wird durch betont jugend- behagen in der Gesellschaft mit ihren Widersprüchen und kulturelle Ansprachen befördert. So zeichnen sich zahlrei- Unzulänglichkeiten. Darin liegt ein Grund, warum salafisti- che Videos aus dem salafistischen Spektrum durch ihre sche Ansprachen auch für Nichtmuslim_innen attraktiv sein professionelle Gestaltung aus, die nicht selten Stilelemente können. Religiöse Inhalte — in Form der Behauptung, der aus Musikvideos und Computerspielen aufnimmt. Auch Ak- Islam biete auf diese Fragen eine endgültige Antwort — wer- tivitäten wie Islamseminare oder „Bruderabende“, die von den oft erst in einem zweiten Schritt eingeführt. salafistischen Gemeinden organisiert werden, verbinden ju- gendliche Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Erfahrungen mit rassistischen Interessen mit ideologischen Angeboten. „Spiel, Spaß und Diskriminierungen und Anfeindungen zu, denen gerade jun- Islam“ lautete beispielsweise das Motto einer Freizeitver- ge Muslim_innen vielfach begegnen. So spielen Berichte anstaltung einer salafistischen Initiative in Berlin, bei der über antimuslimische Übergriffe in salafistischen Medien neben Vorträgen zu religiösen Themen auch gemeinsames eine wichtige Rolle. Dabei dient die Auseinandersetzung mit Kickern und Playstationspiele auf dem Programm standen. entsprechenden Erfahrungen nicht der Stärkung der Betrof- Mit Aktionen wie der „Sharia-Polizei“ in Wuppertal oder der fenen, eigene Rechte und Interessen durchzusetzen. Im Mit- „Street-Dawa“, mit denen Jugendliche und junge Erwachse- telpunkt steht vielmehr das Bemühen, Rassismus und Diskri- ne auf öffentlichen Plätzen oder Cafés in einer Art „salafis- minierung als Ausdruck eines religiösen Konfliktes zwischen tischer Sozialarbeit“ angesprochen werden, erreichen diese Muslim_innen und Nichtmuslim_innen zu präsentieren, in Initiativen auch Personen, die sich bisher nicht in einem re- dem nur der Rückzug auf die Gemeinschaft und den Islam ligiösen Umfeld bewegen. einen Ausweg verspricht. Ziel dieser Opferideologie ist nicht Die öffentliche Aufmerksamkeit, die den Aktivitäten salafis- Gleichberechtigung und Teilhabe, sondern der Rückzug aus tischer Initiativen vielfach in Medien und Politik zuteil wird, der Gesellschaft in die „umma“, die Gemeinschaft der Mus- ist für viele Anhänger_innen kein Hindernis. Sie bestärkt lim_innen. Anfeindungen und das Gefühl von Fremdheit sind vielmehr das Gefühl von Selbstwirksamkeit, als Mitglied die- aus dieser Sicht kein Makel, sondern ein Beleg für die Zuge- ser Gemeinschaft Einfluss nehmen und die Gesellschaft he- hörigkeit zur Gemeinschaft der „wahren Gläubigen“. rausfordern zu können. Ebenso wichtig ist die Thematisierung von Konflikten Dies gilt umso mehr für die Szene des „Pop-Dschihads“, die und Krisen u. a. im Nahen Osten. Auch hier sprechen sa- den Aufruf zur Gewalt im Namen des Islams mit betont mar- lafistische Initiativen Emotionen und Interessen an, die in tialischem Auftreten verbindet. Vertreter_innen dieser Sze- Schule und Freizeit ansonsten kaum zur Sprache kommen. ne lehnen eine Beschränkung auf Missionsarbeit im Rahmen Ohnmacht, Frustration und Wut sind Gefühle, die nicht nur von Vorträgen und Ständen in den Fußgängerzonen ab und muslimische Jugendliche angesichts der Kriege vor allem fordern, auch gewaltsam für die eigene Sache zu kämpfen. im Nahen Osten empfinden. Als Leitmotiv salafistischer Ak- teure dient dabei das Bild von Muslim_innen als Opfer west- Die Entstehung dieser gewaltbereiten Strömung innerhalb licher Aggressionen. So finden sich in salafistischen Medien des salafistischen Spektrums fällt mit der verstärkten (auch immer wieder Bilder und Videos ziviler Opfer der Konflikte deutschsprachigen) Propaganda dschihadistischer Organi- in Syrien, Irak und Israel/Palästina. Die emotionale Wirkung sationen in Syrien und Irak zusammen. Die fortwährenden dieser Bilder wird durch Mahnungen verstärkt, die „Brüder Erfolge insbesondere des „Islamischen Staates“ sind dabei und Schwestern“ nicht im Stich zu lassen. Zugleich werden ein wichtiger Grund für die Attraktivität dieser Botschaf- „Doppelstandards“ angeprangert, die die internationale Po- ten. Auffallend ist die Vielschichtigkeit der Ansprachen, die litik Europas und der USA aus dieser Sicht prägen: Zivile Op- in sozialen Netzwerken und Online-Publikationen zu beob- fer westlicher Interventionen, Waffenlieferungen an repres- achten sind. Gewaltverherrlichungen in Hinrichtungsvideos sive Regime in Ägypten und Saudi-Arabien oder die Position und in martialischen Gesängen, wie sie vom ehemaligen der westlichen Staaten gegenüber Israel sind nur einige der Gangsta-Rapper und IS-Kämpfer Deso Dogg alias Abu Talha Beispiele, die hier angeführt werden. al-Almani verbreitet werden, sind nur eine Facette dieser Propaganda. Ebenso wichtig sind auch hier Darstellungen Mit dem Angebot einer Gemeinschaft, die sich allein über von zivilen Opfern der Konflikte und vom Leid „der“ Mus- den Glauben definiert und sich von der westlichen Gesell- lim_innen, die im Sinne einer Opferideologie instrumenta- schaft abgrenzt, bedienen salafistische Akteure ein weitver- lisiert werden. Hinzu kommen verklärende Darstellungen breitetes Gefühl von Nichtzugehörigkeit und Entfremdung. des Alltags im „Kalifat“ in Form von romantisierenden Land- So verweisen mehrere Studien auf mögliche negative Wir- schaftsaufnahmen oder Bildern von Familien und spielenden kungen der öffentlichen Debatten um den Status des Islams Kindern, die den „utopischen“ Charakter dieser vermeint- auf das Selbstverständnis und die Identifikation von Mus- lich wahrhaft islamischen Gesellschaft betonen. Anders als lim_innen mit der Gesellschaft (vgl. Frindte/Boehnke/Krei- in den Gewaltverherrlichungen geht es hier nicht um eine kenborn/Wagner 2011, 574-592). Salafistische Initiativen Mobilisierung für den Kampf, sondern um das Versprechen bieten hier eine attraktive Alternative kollektiver Identität einer gesellschaftlichen Alternative, in denen Muslim_innen und Gemeinschaft, in der jeder Gläubige unabhängig von unbedrängt von den Konflikten in westlichen Gesellschaften Herkunft und sozialem Status willkommen ist. leben könnten.

124 Hintergrundinformationen

Prävention, Distanzierung und Autor_in: Nordbruch, Götz Deradikalisierung­ Hrsg.: Informations- und Dokumentationszentrum für Die Problematik des Salafismus beschränkt sich nicht auf Antirassismusarbeit (IDA) e. V. Gewaltbereitschaft. Aus gesellschaftlicher Sicht liegt bereits in der freiheits- und demokratiefeindlichen Ausrichtung und IDA wurde 1990 auf Initiative von demokratischen der polarisierenden Wirkung der salafistischen Ideologie die Jugendverbänden in Deutschland gegründet, um ein Notwendigkeit präventiver Arbeit begründet, die alternati- Zeichen gegen Rassismus zu setzen. IDA fungiert als ve Zugänge zu religiösen, gesellschaftlichen und politischen Dienstleistungszentrum, das in den Themenfeldern Fragen eröffnet. Ähnlich wie in anderen Zusammenhän- Rassismus(kritik), Rechtsextremismus, Antisemitismus, gen (beispielsweise zum Problem des Rechtsextremismus) rassismuskritische oder interkulturelle Öffnung, Diver- ist auch in der Auseinandersetzung mit salafistischen Ein- sität, Diskriminierungskritik und Migrationsgesellschaft stellungen und Orientierungen zwischen unterschiedlichen informiert, dokumentiert, berät und qualifiziert. Ebenen der Prävention zu unterscheiden (vgl. dazu Nord- Projekt: Vielfalt-Mediathek bruch 2015, El-Gayar/Strunk 2014, 103-179, Ceylan/Kiefer Das Projekt ist ein Informationsportal für Multipli- 2013, 109-126). kator_innen der außerschulischen und schulischen Primäre — oder universelle — Prävention bezieht sich allge- Bildungsarbeit sowie für engagierte Bürger_innen, die mein auf Jugendliche und junge Erwachsene, die unabhän- Informationen und Materialien suchen die sich gegen gig von Religion und Herkunft durch jugendtypische Such- Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit bewegungen oder persönliche oder familiäre Konflikte für richten. Die Publikationen beruhen, wie die Vielfalt-Me- salafistische Ansprachen empfänglich sind. Hierbei spielt diathek selbst, auf der Förderung durch das Bundes- religiöse Bildung im Sinne einer reflektierten Auseinander- programm „Demokratie leben!“ oder dessen entspre- setzung mit islamischen Traditionen ebenso eine Rolle wie chende Vorgängerprogramme. politisch-bildnerische Ansätze, die die Urteils- und Hand- Magazin Gegenpol: lungskompetenzen im Umgang mit Fragen von Identität, Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe fördern. Da- Das Magazin Gegenpol nimmt sich Themen und Diskus- bei spielt der Aspekt des Empowerments insbesondere von sionen an, die sich auf die von der Vielfalt-Mediathek Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine zentrale Rolle. bearbeiteten Sachgebiete Zugleich verweisen die zunehmend lebensweltlich ausge- beziehen. Zusammen mit richteten Ansprachen salafistischer Akteure auf die Bedeu- Expert_innen wird über tung von sozialen Angeboten, die die Entwicklung von Pers- Hintergründe, neue Entwick- pektiven in Freizeit, Bildung und Beruf ermöglichen. Damit lungen und Kontroversen in beschränkt sich präventive Arbeit nicht auf den schulischen den besagten Themenfel- Bereich, sondern umfasst auch Angebote der Jugend- und dern berichtet und disku- Sozialarbeit, der Jugend- und Familienhilfe, der psycho­ tiert. sozialen Beratung, aber auch der muslimischen Gemeinden. Im Unterschied zur primären Prävention zielen Ansätze www.tinyurl.com/y6f37fya der sekundären und der tertiären Prävention auf Zielgrup- pen, bei denen bereits eine Ideologisierung zu beobachten ist. Auch in der Arbeit mit „gefährdeten“ bzw. bereits ra- dikalisierten Jugendlichen zeigt sich die Bedeutung einer Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure, über die eine Distanzierung von den jeweiligen Szenen und — im besten Falle — eine Deradikalisierung erreicht werden kann. Neben familientherapeutischen Angeboten geht es hier insbe- sondere um die Förderung einer sozialen Einbindung des Betroffenen und dessen Reintegration in gesellschaftliche Strukturen. Gerade im präventiven Bereich wird die Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes deutlich, der nicht allein auf mögliche Adressaten salafistischer Ansprachen ausge- richtet ist. Angesichts der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft im Zusammenhang mit Fragen von Migration und Islam beinhaltet Prävention auch ein öffentliches Be- kenntnis zu gesellschaftlicher und religiöser Diversität, das sich in realen Möglichkeiten der Teilhabe und Partizipation auch für junge Muslim_innen niederschlägt.

125 Projektbeschreibung

„Extrem Demokratisch“ — Muslimische Jugendarbeit stärken

Das Projekt „Extrem Demokratisch — Muslimische Jugend- arbeit stärken“ richtet sich an junge Multiplikator_innen Trägerbeschreibung: der muslimischen Jugendarbeit. Diese werden in allen Be- Projektträger: Die Regionale Arbeitsstellen für reichen ihrer Jugendarbeit unterstützt. Die Prävention von ­Bildung, Integration und Demokratie e.V. (RAA Berlin) religiösem Extremismus steht jedoch im Fokus. Die Multipli- kator_innen entwickeln und erproben Argumentations- und RAA Berlin engagiert sich in diskriminierungskriti- Handlungsansätze, die Jugendliche darin unterstützen sich schen Partizipationsprojekten im Kontext von Schule gegen eine Vereinnahmung von extremistischen Ideologien und Kommune. Neben praktischen Bildungsangeboten zu wehren. Die Akteur_innen der muslimischen Jugendar- bietet der Träger Materialien und Fortbildungen an, beit werden als wertvolle und kompetente Praktiker_innen berät Fachkräfte sowie Eltern und begleitet Organisati- gesehen, die einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag in onsentwicklungsprozesse. der politischen Jugendarbeit leisten. Bei regelmäßig stattfindenden Workshops werden die Multi­ plikator_innen durch externe Expert_innen unterstützt. Ne- ben der Extremismusprävention wird auch zu allgemeinen jugendarbeiterischen Fähigkeiten gearbeitet. Eine Jugend- konferenz zur Mitte der Projektlaufzeit ermöglicht eine Evaluation der erarbeiteten Handlungsansätze der Präventi- onsarbeit und einen engen Austausch sowie Vernetzung. Die Resultate der Workshops, aber auch der Jugendkonferenz, werden von den Multiplikator_innen durch selbstorganisierte www.jugendarbeit-staerken.de Workshops und Vorträge direkt in der Jugendarbeit umge- setzt.

Zukunft bilden!

Ziel des Modellprojektes ist es, zum einen das Engagement von muslimischen Student_innen gegen gruppenbezogene Trägerbeschreibung: Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung zu stärken und Projektträger: Rat muslimischer Studierender zum anderen etwas gegen Abschottungstendenzen in der & Akademiker (RAMSA) eigenen Zielgruppe zu unternehmen. RAMSA ist eine Nichtregierungsorganisation muslimi- Das Projekt will die Meinungsvielfalt stärken und den Diskurs scher Studierender und Akademiker_innen und fördert unter den Studierenden fördern, um religiös begründeten ausgewählte muslimische Hochschulvereinigungen an Antipluralismus zu widersprechen und zu helfen Diskursbei- deutschen Universitäten und Fachhochschulen. RAMSA träge wie auch Ideen von muslimischen Akdaemiker_innen strebt nach Fortschritten in Bildung und Forschung wie zu gesellschaftlichen Problemen und Diskussionen bekannt auch nach mehr und wirkungsvoller gesellschaftlicher zu machen. Partizipation der Muslim_innen in Deutschland. Erreicht werden soll das durch eigens auf muslimische Stu- dierende und Akademiker_innen ausgerichteten Qualifizie- rungsprogramme, Schulungen, Praxisworkshops, Podiums- diskussionen und Fachgespräche mit vereinszugehörigen und externen Expert_innen. Im Vordergrund der Schulungen stehen: sich mit verschiedenen islamistischen Ideologien kri- tisch auseinanderzusetzen, eine deutsch-muslimische Iden- tität auszubilden und das Bewusstsein für freiheitlich-de- mokratische Werte zu stärken. Die Teilnehmer_innen wirken nach den Schulungen dadurch auch als Multiplikator_innen https://tinyurl.com/yx8hf8go in die Gesellschaft hinein. Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts ist der interreligiöse Dialog. Dabei steht im Vordergrund der muslimisch-jüdische Dialog, um bestehende Vorurteile, besonders hinsichtlich eines religiös-begründeten Antisemitismus, zu dekonstru- ieren.

126 Übungen und Hilfen

ständlicher Aspekt ihres Glaubens — oder vor allem modisch Kurzbeschreibung: und schick. Dennoch können Radikalisierungsprozesse auch Ein sehr kleiner Teil der Ge- in Äußerlichkeiten wie Kleidung und Symbolen zum Aus- flüchteten ist für salafisti- druck kommen. Für viele Salafist_innen markieren sie die sche oder dschihadistische Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der „wahren Gläubigen“ Propaganda empfänglich. und verdeutlichen damit zugleich auch die Abgrenzung Damit aber solche Grup- von der „ungläubigen“ Umwelt. Aber auch dies gilt nur mit pierungen erst gar nicht Einschränkungen. So gab es in der Vergangenheit immer die Möglichkeit bekommen, wieder Fälle, in denen gerade gewaltbereite Salafist_innen Einfluss zu nehmen, bietet versuchten, die eigene Überzeugung durch ein möglichst die Broschüre Haupt- und unauffälliges Auftreten zu verschleiern. Ehrenamtlichen in der Grundsätzlich gilt, dass äußerliche Veränderungen und Pro- Flüchtlingshilfe Unterstüt- vokationen zum Jugendalter dazugehören und allein kein zung in der Präventionsar- Hinweis auf eine mögliche Hinwendung zu extremistischen beit an. Szenen sind. Geflüchtete stärken! Anregungen für die ­Präven­tion Äußerliche Veränderungen wie die Entscheidung für „tra- von religiös-extremistischen Ansprachen in der ditionelle“ Kleidung können Anlass für ein Gespräch sein ­pädagogischen Arbeit mit Geflüchteten — allerdings nicht, weil sie für eine Radikalisierung stehen, S. 14–18 sondern weil es in der Arbeit mit Jugendlichen und jungen (ufuq.de. Jugendkulturen, Islam & politische Bildung) Erwachsenen immer sinnvoll ist, Interesse für persönliche Veränderungen zu zeigen und nachzufragen, ohne sich da- Vom Recht, religiös zu sein, und bei von eigenen Vorannahmen leiten zu lassen. dem Problem, Radikalisierungs­ Überhöhung und rigides Festhalten an Ritualen Rituale spielen in den meisten Religionen eine wichtige Rol- prozesse zu erkennen le. Das gilt auch für den Islam. Gerade im Salafismus dienen Niemand wird von heute auf morgen radikal. Die Hinwen- Rituale — ähnlich wie religiöse Kleidung und Symbole — aller­ dung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen ist dings dazu, das Besondere herauszustellen und sich von an- ein Prozess, geschieht in Phasen und äußert sich oft in sicht- deren abzugrenzen. Rituale werden von ihnen überhöht und baren Veränderungen. Deshalb ist es wichtig, bestimmte kompromisslos eingefordert, eine strikte Einhaltung gilt als Merkmale zu kennen, die auf eine Radikalisierung hinweisen Beleg dafür, dass man den „wahren Glauben“ tatsächlich lebt. können. Können! — denn nicht immer lassen sich Symbole, II. Einstellungen Verhaltensweisen und Aussagen eindeutig interpretieren. Ablehnung von Pluralismus und Ablehnung von anderen Viele religiöse Symbole, die für Salafist_innen eine wichti- Die Ablehnung von religiöser, kultureller und politischer ge Rolle spielen, haben auch für andere Muslim_innen eine Vielfalt ist ein wichtiges Merkmal aller extremistischen große Bedeutung. Und auch eine nach außen getragene und Strömungen. Entsprechende Positionen werden auch von selbstbewusst gelebte Religiosität steht natürlich jedem Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus diesen Sze- und jeder frei. Sie ist durch die Religionsfreiheit gedeckt. nen vehement vertreten. Pluralismus und unterschiedliche Das macht das Erkennen und den Umgang mit problemati- Einstellungen und Lebensweisen gelten nicht als selbstver- schen Veränderungen umso schwieriger. Mit den folgenden ständliche Normalität, sondern als Ausdruck einer Abwei- Hinweisen verbindet sich daher der Appell, nachzufragen chung vom wahren Glauben und eine Gefahr für die Einheit. statt zu dramatisieren, das Gespräch zu suchen statt zu ver- Denn für islamistische Strömungen gibt es nur einen wah- urteilen, Interesse zu zeigen statt zu skandalisieren. Nur so ren Glauben — alle anderen sind nicht nur anders, sondern lassen sich die Motive der Jugendlichen verstehen und Um- falsch. Das äußert sich in der kategorischen Ablehnung an- gangsweisen finden, die weder stigmatisieren noch auf Pro- derer Ansichten, die als unmoralisch und sündhaft abgewer- vokationen hereinfallen. Schließlich sind religiöse Symbole tet und denunziert werden. und Äußerlichkeiten immer auch ein Gesprächsangebot, das Viele Menschen haben Vorbehalte gegenüber Pluralismus bewusst oder unbewusst vorgetragen wird. Wenn Sie im per- und Diversität. Die Begegnung mit unterschiedlichen Perso- sönlichen Gespräch den Eindruck gewinnen, dass tatsächlich nen mit verschiedenen Lebensstilen, biographischen Erfah- eine Hinwendung zum Salafismus zu befürchten ist, sollten rungen, Religionsverständnissen und Rollenvorstellungen Sie die Unterstützung einer Beratungsstelle hinzuziehen. ist wichtig, um die Selbstverständlichkeit solcher Unter- schiede zu erfahren und mit ihnen umgehen zu können. Dies I. Äußerlichkeiten betrifft auch das Team oder das Kollegium in einer Einrich- Religiöse Symbole/religiöse Kleidung tung: Vielfalt lässt sich vorleben, indem Unterschiede abge- In Deutschland tragen etwa 23 Prozent der Musliminnen bildet und damit auch anerkannt werden. Die Erfahrung, als zwischen 16 und 25 Jahren ein Kopftuch. Auch für viele anders ernstgenommen und respektiert zu sein, macht es Geflüchtete ist das Kopftuch ein wichtiger und selbstver- leichter, selbst mit Unterschieden umzugehen.

127 Übungen und Hilfen

Alle Menschen folgen mehr oder weniger bewusst Ritualen. Regeln in der Einrichtung oder über die Möglichkeit, eigene In der pädagogischen Arbeit geht es nicht darum, Rituale Erfahrungen und Interessen in die Diskussion zu bringen. selbst zu kritisieren, sondern zu einem Nachdenken über Dabei gehören auch Widersprüche und Konflikte auf den Rituale und deren Hintergründe sowie über eine mögliche Tisch, denn der Alltag in einer pluralistischen Gesellschaft Wirkung auf andere anzuregen. Deshalb sollten Rituale ist voller Konflikte, auf die es oft keine einfachen Antworten nicht als „irrational“ oder unverständlich kritisiert werden. gibt. Dazu gehört auch, eigene Widersprüche zu benennen. Es geht darum zu verstehen, warum jemand auf eine be- Und auch das Eingeständnis von Fehlern oder Missständen stimmte Art handelt und was er oder sie damit zum Aus- in der Gesellschaft ist wichtig, um als Pädagog_in glaubwür- druck bringen will. Erst im Gespräch wird deutlich, ob das dig für demokratische Werte und Überzeugungen werben zu Ritual der Person wichtig ist, weil es zur „Religion dazuge- können. hört“ und der Person etwas gibt (zum Beispiel Halt oder ei- nen strukturierten Tagesablauf) oder ob es als Abgrenzung III. Verhaltensweisen und Provokation gemeint ist. Rückzug von der Umwelt Neuanfang/Rückkehr/Bekehrung Religiöse Überzeugungen können sich auch auf Umgangs- Jugendliche, die sich radikalisieren, beschreiben diese Ent- formen auswirken. Zum Beispiel, wenn es um die Beziehun- wicklung oft als Neuanfang oder als Bekehrung zum wahren gen zwischen den Geschlechtern geht. So ist das Hände- Glauben. Ihr neues Weltbild und ihre neue Orientierung gilt schütteln von Männern und Frauen in einigen islamischen ihnen als „Stunde Null“, die einen radikalen Bruch mit dem Kontexten unüblich, und auch in Deutschland gibt es man- vorangegangenen Leben markiert. Damit geht eine ent- che Muslim_innen, die das ganz ähnlich sehen: Händeschüt- schiedene Abwertung von Ideen, Interessen und Orientie- teln zwischen Männern und Frauen ist unschicklich. Das hat rungen einher, die ihnen vorher wichtig waren. oft etwas mit traditionellen Geschlechterrollen zu tun, kann aber auch ein Zeichen für eine zunehmende Distanz zur Verschwörungstheorien nichtmuslimischen Umwelt sein. Eine solche Abwendung ist Verschwörungstheorien spielen auch im salafistischen Den- charakteristisch für den Salafismus. Der Kontakt zu Nicht- ken eine wichtige Rolle. Wie in anderen Ideologien, die die muslim_innen — aber auch zu Muslim_innen, die den Islam eigene Gemeinschaft überhöhen und andere abwerten, ist anders leben — gilt als potentiell gefährlich. Im äußersten die Vorstellung einer zeitlosen Verschwörung der Anderen Fall bedeutet dies den vollständigen Rückzug auf die „eige- gegen die eigene Gemeinschaft auch für islamistische Welt- ne“ Gemeinschaft. bilder typisch. Die Verweigerung eines Handschlags führt immer wieder Denken in „Wir“ und „Sie“ zu Konflikten. Viele Nichtmuslim_innen sehen darin einen Charakteristisch für islamistische Weltbilder ist das Denken Ausdruck mangelnden Respekts. Für Muslim_innen, die in homogenen Gruppen — ein „Wir“ und „Sie“, die sich un- sich gegen das Händeschütteln entscheiden, kann die ver- vereinbar gegenüberstehen. Das äußert sich zum Beispiel weigerte Geste einen ganz anderen Hintergrund haben: der in der Vorstellung, „der“ Westen sei materialistisch, indivi- Wunsch, einen direkten körperlichen Kontakt mit dem ande- dualistisch und gegen „die“ Muslim_innen, aber auch in der ren Geschlecht zu vermeiden, ohne dass dies als Abwertung Behauptung, es gebe nur einen Islam, der von allen Mus- gemeint ist. Oft legen sie zur Begrüßung die Hand auf das lim_innen gleich gelebt werden müsse. Herz und verstehen dies als Ausdruck der Anerkennung. Klar Der Rückzug auf ein „Wir“ („wir Muslime“, „wir Afghanen“) ist, dass auch vermeintlich gängige Gesten nicht immer ein- ist oft auch eine Reaktion auf Erfahrungen von Ausgren- deutig sind. Erst durch Nachfragen lässt sich klären, wie eine zung und Nichtzugehörigkeit („Ihr seid anders“, „Ihr seid Geste gemeint ist und welche Motive dahinterstehen. Wenn in fremd“). Umso wichtiger ist es, Gemeinsamkeiten herauszu- einem solchen Gespräch eine gegenseitige Anerkennung be- stellen und zu fördern und Bindungen und Identifikation mit kräftigt wird, ist dies mehr wert als ein kräftiger Händedruck. dem sozialem Umfeld zu stärken. Sozialer Druck Ablehnung der Demokratie und von Menschen Ein wichtiges Merkmal islamistischer Bewegungen ist der An- ­gemachten Regeln und Gesetzen spruch, andere von der Richtigkeit des eigenen Glaubens zu Skepsis gegenüber der Demokratie und der politischen Ord- überzeugen. Die Dawa, also die „Einladung zum Islam“, gilt nung ist unter Jugendlichen — muslimischen wie nichtmusli- gerade im Salafismus als Pflicht eines/r jeden Einzelnen. Das mischen — weit verbreitet. In islamistischen Strömungen geht kann sich zum Beispiel in vehementen Versuchen äußern, an- es dabei nicht um eine Kritik von eventuellen Unzulänglich- dere zum Tragen eines Kopftuchs, zum Gebet oder zum Fas- keiten der politischen Strukturen, sondern um eine generelle ten zu drängen. Typisch für Anhänger_innen des Salafismus Ablehnung der Vorstellung, dass „alle Macht vom Volk aus- ist der soziale Druck und ein Mobbing gegenüber anderen, die geht“. Gott allein ist hier der Souverän. Diese Vorstellung ver- sich dem vermeintlich richtigen Verhalten verweigern. bindet sich mit dem Wunsch nach Klarheit und eindeutigen Religiös motivierter sozialer Druck hat viele Parallelen zu Regeln, die von eigener Verantwortung entbinden. anderen Formen des Bedrängens und des Mobbings, die aus Die Erfahrung von Teilhabe und Mitwirkung stärkt die At- dem pädagogischen Alltag bekannt sind. Hilfreich ist es hier, traktivität demokratischer Werte und Prinzipien. Dies gilt das konkrete Problem klar zu benennen: Problematisch ist bereits im Kleinen, zum Beispiel bei der Mitbestimmung über zunächst der soziale Druck selbst, nicht die religiöse Be-

128 Übungen und Hilfen

gründung, die dafür vielleicht angeführt wird. Hier können und Verbreitung von entsprechenden Symbolen unter Stra- rote Linien klargestellt werden, ohne dass die Religiosität fe gestellt. In der Praxis stellt dies viele Pädagog_innen vor zum Problem gemacht wird. Dadurch fällt es dem Angespro- die Schwierigkeit, einschätzen zu müssen, um welche Sym- chenen leichter, Kritik zu akzeptieren, ohne sich auf eine bole es sich dabei handelt. Dies ist gerade beim Symbol des Verteidigung „des“ Islams zurückzuziehen. Islamischen Staates ein Problem, da es eine Passage aus dem islamischen Glaubensbekenntnis aufgreift. FALLBEISPIEL: ALLES IS? Wichtig ist: Ein Bild von Kämpfern mit Kalaschnikow auf einem Face- Das Glaubensbekenntnis selbst ist selbstverständlich nicht book-Profil verheißt selten etwas Gutes — und trotzdem ist verboten, allein in der besonderen graphischen Form, wie es wichtig, genauer hinzuschauen, wie ein Beispiel aus unse- sie vom Islamischen Staat oder zum Beispiel auch von Milla- rer Arbeit zeigt. So bat uns eine Schule um Unterstützung, tu Ibrahim, einer anderen verbotenen Organisation, verwen- weil einer ihrer Schüler ein Bild mit bewaffneten Kämpfern det wird, darf es nicht genutzt und verbreitet werden. auf seiner Facebook-Seite gepostet hatte. Die Lehrerin be- Einen Überblick über Symbole, deren Nutzung mit dem Ver- fürchtete, dass der Schüler damit Sympathien für den Is- bot des „Islamischen Staates“ untersagt wurde, finden Sie lamischen Staat zum Ausdruck brachte. Erst im Gespräch in der Verfügung des Bundesministerium des Innern vom 12. stellte sich schließlich heraus, dass es sich bei den Kämp- September 2014 (Ò www.bit.ly/2rqMJHC) fern um Anhänger der libanesischen Hizbullah handelte, die im syrischen Bürgerkrieg auf der Seite des Regimes und des Irans gegen sunnitische Dschihadisten kämpfen. Auch Hrsg.: ufuq.de. Jugendkulturen, Islam & politische Sympathiebekundungen für die Hizbullah sind ein Problem, Bildung. erfolgen aber aus anderen Motiven als Sympathiebekun- ufuq.de bemüht sich um Alternativen zu den aufge- dungen für den Islamischen Staat. Das Gleiche gilt für Un- regten Debatten um „Parallelgesellschaften“, religiös terstützungserklärungen für das syrische Regime, die kei- begründete Radikalisierungen und eine vermeintli- neswegs selten sind. Ähnlich wie die Hizbullah gilt auch das che Islamisierung Deutschlands. Sie arbeiten an der syrische Regime für viele Syrer_innen und Libanes_innen Schnittstelle von politischer als Schutzmacht der schiitischen, alevitischen oder christ- Bildung, Pädagogik, Wissen- lichen Minderheiten in Syrien und Libanon. Die Erfahrung schaft und politischer Debat- als Minderheit und die Sorge vor dschihadistischer Gewalt te und informieren, beraten sind hier mögliche Motive, die in der pädagogischen Arbeit und unterstützen in den mitgedacht werden müssen. Herausforderungen, die sich in der pädagogischen Arbeit WAS IST EIGENTLICH VERBOTEN? in der Migrationsgesellschaft In den vergangenen Jahren wurden mehrere salafistische ergeben können. Organisationen in Deutschland vom Bundesministerium des www.tinyurl.com/y2k6oohs Innern verboten. Mit dem Verbot wird auch die Verwendung

Kurzbeschreibung: Übersicht: Themen, Ziele und Viele Multiplikator_innen ­Empfehlungen für die pädagogische in der schulischen und au- Arbeit ßerschulischen Pädagogik fühlen sich hinsichtlich der Im Folgenden stellen wir ausgewählte Themen und Ziele vor, Prävention von salafisti- die in der (präventiven) pädagogischen Arbeit behandelt schen Positionen überfor- und verfolgt werden können. Wir geben dazu an dieser Stel- dert und schlecht infor- le lediglich Handlungsempfehlungen. miert. Die Handreichung fasst diese Erfahrungen Konkrete Methoden zur Umsetzung wie etwa Aufstellungen, zusammen, gibt Hinweise Gallery Walks, Rollenspiele, Fragestellungen für Gespräch und vermittelt konkrete und Diskussion, Dilemmaübungen oder Text- und Gruppen- Vorschläge für die Praxis in arbeit müssen jeweils der Gruppe/Klasse und dem Anliegen der schulischen und außer- entsprechend gestaltet werden. schulischen Bildungsarbeit.

Protest, Provokation oder Propaganda? (S. 44-51) (ufuq.de. Jugendkulturen, Islam & politische Bildung)

129 Übungen und Hilfen

Ziel Ziel Empowerment: Anerkennung des Selbstverständnisses Sensibilisierung für demokratie- und freiheitsfeindliche als deutsche Muslim_innen; bzw. von Islam und Muslim_ Positionen sowie für Gruppenbezogene Menschenfeind- innen als Teil von Deutschland lichkeit (GMF) Handlungsempfehlung Handlungsempfehlung ƒƒ Aufzeigen der Normalität des Islam und muslimi- ƒƒ Arbeiten Sie lebensweltnah zu verschiedenen For- scher Lebenswelten men von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ƒƒ positives Aufgreifen religiöser Fragen und Positio- — Islamfeindlichkeit und Salafismus sind zwei unter nen: Anerkennung von Religiosität als Ressource vielen Erscheinungsformen. ƒƒ Herkunft/Biografien/Leistungen der Eltern themati- ƒƒ Frage: Welche Folgen haben daraus abgeleitete Ver- sieren und würdigen haltensformen für das Zusammenleben (in Klasse, Schule, Einrichtung, Kiez oder Gesellschaft)? ƒƒ Leitfragen: „Wie wollen wir leben?“ „Was können wir Ziel tun, damit alle sich sicher und wohl fühlen?“ Reflexion über Werte und Glaubensvorstellungen Handlungsempfehlung Ziel ƒƒ Geben Sie Raum für Religion und religiöse Vorstel- Medienkompetenz fördern lungen (auch im „säkularen“ Kontext) ƒƒ Religion bleibt Glaubenssache: Kritisieren Sie religi- Handlungsempfehlung öse Haltungen nicht als solche, zielen Sie nicht auf ƒƒ Spektrum ausgewählter Medien analysieren: Sind Veränderung, regen Sie zum Nachdenken an alle gleich? Wer berichtet wie? Welche Gründe könn- ƒƒ Förderung von Werteorientierung, um Gemeinsam- te es dafür geben? keiten statt Unterschiede zu betonen: religiös wie ƒƒ Umgang mit Quellen üben (v.a. Internet): Wie entste- nichtreligiös begründete Orientierungen folgen oft hen Meinungen? Was glauben wir? Woher kommen gleichen Werten und Normen, die „übersetzt“ und Informationen? Gibt es eine Wahrheit oder unter- lebensweltnah veranschaulicht werden können schiedliche Perspektiven? ƒƒ Die Jugendlichen diskutieren, welche Werte ihnen ƒƒ Jounalist_innen einladen: Wie funktionieren Medien? wichtig sind, welche im Islam wichtig sind und welche grundlegend für die Demokratie sind? Wo liegen die Gemeinsamkeiten? Ziel Reflexion über Regeln, Normen, Gebote und Verbote Handlungsempfehlung Ziel ƒƒ Fragen: Was sind Regeln, Normen und Gebote? Wie Diskriminierungserfahrungen Raum geben und begeg- geht Ihr in Eurem Leben damit um? Welche sind Euch nen wichtiger als andere? Warum? Handlungsempfehlung ƒƒ Wer bestimmt darüber, welche Regeln gelten? Wer ƒƒ Anerkennen von Diskriminierungs- und Entfrem- sorgt dafür, dass sie eingehalten werden? Ist das ge- dungserfahrungen sowie von Islamfeindlichkeit und recht? antimuslimischem Rassismus in der Gesellschaft: An- sprechen, Raum geben ƒƒ Handlungsoptionen aufzeigen (z.B. Thematisieren in Ziel der Schule, Beratungsangebote, rechtliche Möglich- Förderung von Ambiguitätstoleranz keiten, Herstellen von (Medien-)Öffentlichkeit) Handlungsempfehlung ƒƒ Sensibilisierung für die Gefahr, dass eine Opferrolle ƒƒ Gerechtigkeit ist ein wichtiges Thema für Jugendli- zur Ideologie wird und ein Feindbild („der Westen“ che. Was aber gerecht ist — darüber kann es unter- oder „die NichtMuslim_innen“) entstehen kann schiedliche Vorstellungen geben: Die Jugendlichen ƒƒ Frage (am Beispiel zu erörtern): Wo kippt legitime erörtern anhand möglichst lebensweltnaher Beispie- Kritik in Ideologie und Feindbilder? le (z.B. Handydiebstahl in der Klasse), was gerecht ist. ƒƒ Was sehen religiöse wie nichtreligiöse Regeln vor? Wie geht Rechtsprechung vor?

130 Übungen und Hilfen

Ziel Ein „Rezept für alle Fälle“ Reflexion über Geschlechterrollen Die folgenden sechs Schritte geben Ihnen eine Hand- Handlungsempfehlung lungsorientierung im Fall von Positionen und Verhal- ƒƒ Vertiefung zu Regeln und Normen: Ist es Euch wich- tensweisen „Ihrer“ Jugendlichen, bei denen sie nicht tig, besonders männlich oder weiblich zu sein? Wer wissen, ob dahinter legitimer Protest, gezielte Provoka- entscheidet, was überhaupt „männlich“ oder „weib- tion oder ideologisierte Propaganda steht: lich“ ist? Schritt eins: ƒƒ Zukunftsfrage zu Rollenbildern: „Wie würdet ihr eure Beziehen Sie Positionen und Konflikte nicht auf Kultur, Kinder erziehen?“ Islam oder Islamismus! Oder anders: Fragen Sie sich ƒƒ Sprechen Sie über unterschiedliche Vorstellungen nicht, was „problematische“ und provozierende Positi- von „Ehre“, „Stolz“ und „Respekt“ … Spielen Angst onen oder Verhaltensformen von Jugendlichen mit Is- und Gewalt dabei eine Rolle? lam, Kultur oder Islamismus zu tun haben könnten. Schritt zwei: Ziel Fragen Sie vielmehr: Reflexion über Politik, Gesellschaft und internationale a) Worum geht es hier eigentlich? Was ist das Thema Entwicklungen hinter dem Thema? Handlungsempfehlung b) Wie habe möglicherweise ich selbst (oder die Schule/ ƒƒ Aufgreifen tagesaktueller Nachrichten, die die Ju- Einrichtung/Gesellschaft) zu solchen Verhaltensformen gendlichen beschäftigen, in einer „Aktuellen Stunde“ beigetragen? ƒƒ Differenzierende Darstellung komplexer Zusammen­ hänge (Perspektivwechsel), ohne die Frage von Schritt drei: „Schuld“ klären zu wollen (z.B. Nahostkonflikt) Sagen Sie „Ja“, seien Sie offen und interessiert für das ƒƒ Frage: Welche Möglichkeiten gibt es (für uns), Ein- Anliegen (auch wenn es in Form einer Provokation zum fluss zu nehmen? Ausdruck kommt) und geben Sie den Jugendlichen aus- reichend Raum und Zeit, ihre Ansichten und Perspekti- ven darzulegen und auszutauschen. Ziel Schritt vier: Reflexion über Krieg und Gewalt Sagen Sie nur „Aber …“, d.h. intervenieren Sie nur, wenn Handlungsempfehlung es dabei zu Abwertungen, Absoluten Wahrheitsansprü- ƒƒ Fragen und Themen: Welche Kriege werden gegen- chen und Antipluralistischen Positionen (AAA) kommt wärtig geführt auf der Welt? Worum geht es in die- und diese in der Gruppe unwidersprochen bleiben. sen Kriegen? Welche Rolle spielt Religion? Wie wer- Schritt fünf: den Kriege von den Kriegsparteien dargestellt? Fragen Sie die Jugendlichen nach ihren Wünschen und Vorstellungen zum jeweiligen Thema („Wie wollen wir leben?“) und regen Gespräch und Diskussion an. Ziel Sensibilisierung für Hintergründe und Motive islamisti- Schritt sechs: scher Akteure Wenn ein Gespräch oder eine Diskussion in der Gruppe zu diesem Thema gelingt, haben wir unsere pädagogi- Handlungsempfehlung sche Aufgabe erfüllt und können zufrieden nach Hause ƒƒ Hintergrundinformationen geben: Wer sind die Grup- gehen. pen? Welche und wessen Interessen verfolgen sie? ƒ Gespräch initiieren: Was sind die Folgen? ƒ Checkliste: Umgang mit Fällen von Ideo­ logisierung in Schule und Jugendarbeit Ziel Der Schwerpunkt dieser Broschüre liegt in der Vorbeugung Alternativen zu islamistischer Ideologie ins Gespräch von salafistischer Ideologisierung. In der Regel werden Sie bringen, Sinnangebote und Partizipationsmöglichkeiten es nämlich in der pädagogischen Arbeit „nur“ mit „proble- sichtbar machen matischen“ Positionen und Provokationen oder mit ideolo- gischen Fragmenten zu tun haben. Hier können Sie mit den Handlungsempfehlung genannten Inhalten, Haltungen und Methoden arbeiten. Die ƒƒ Vielfalt muslimischen Lebens ins Gespräch bringen Übergänge zu tatsächlicher salafistischer Ideologisierung ƒƒ lebensweltnahe „Vorbilder“ können allerdings fließend sein: Was, wenn ich feststelle, ƒƒ Religiöse und nichtreligiöse Initiativen ins Gespräch dass ein Jugendlicher regelmäßig auf salafistischen Seiten bringen, die Teilhabe, Gemeinschaft und Engage- surft? Was, wenn ich bemerke, wie sich Jugendliche aus ment ermöglichen (lokal, regional, global) meiner Klasse zunehmend an salafistischen Positionen ori-

131 Übungen und Hilfen

entieren? Hier stellen sich Fragen: Wie fortgeschritten ist 4. Prüfungsphase die Ideologisierung einer/s Jugendlichen bereits? Was kön- Analyse der Ergebnisse von Ansprachen und Maßnahmen: nen wir dagegen tun? Wir stellen Ihnen im Folgenden für Welche Resultate sind erkennbar? solche Fälle eine „Checkliste“ vor, an der Sie sich orientie- ren können. Wesentlich erscheint uns dabei der Austausch a) Ist eine Fortführung der Maßnahmen zielführend? und das gemeinsame Vorgehen von Kolleg_innen. Auch hier b) Können die Maßnahmen ergänzt werden — z.B. durch Hin- handelt es sich noch nicht um Arbeit zur „Deradikalisie- zuziehen von „Expert_ innen“ aus dem Netzwerk vor Ort: rung“. Im Verlauf der internen Auseinandersetzung mit dem wie Islamismusfachleuten, Psychologen, Imamen oder an- „Fall“ wäre aber zu prüfen, ob nicht externe Einrichtungen deren Autoritäten oder durch Vertrauenspersonen (Familie, und Stellen eingeschaltet werden sollten, die gefährdete Ju- Sportvereine etc.)? gendliche und junge Erwachsene ansprechen und ggf. Aus- stiegsprozesse initiieren können. 5. Zweite Handlungsphase 1. Haltung einnehmen In dieser zweiten Phase können ergänzende Maßnahmen Aufsetzen einer „pädagogischen Brille“: Wir sehen „Jungs“ mit ggf. „von außen“ hinzugezogenen Expert_innen oder (und Mädchen) in Not, die auf Abwege geraten sind (nicht entsprechenden Einrichtungen eingeleitet, durchgeführt etwa: gefährliche Terroristen). Halten Sie Kontakt zu dem/ und ausgewertet werden. der Jugendlichen und signalisieren Sie, dass er/sie als Per- Achtung: Zu jeder Zeit sollte im begründeten Fall auch der son weiterhin akzeptiert wird, auch wenn Sie Positionen und Schritt zu fachspezifischen Beratungsstellen, Polizei oder Meinungen nicht teilen. Fragen Sie nach Idealen und Moti- lokalen Moscheegemeinden erwogen werden, wenn diese ven hinter Positionen und Weltbildern, ohne diese zu ver- nicht ohnehin schon Akteure im Netzwerk sind. Sie können urteilen. Teilen Sie ggf. Empörung über Leid und Ungerech- ggf. besser einschätzen, wie weit eine Ideologisierung fort- tigkeit, zunächst ohne die daraus abgeleiteten Positionen/ geschritten ist; oder beurteilen, in welchen Kreisen (Umfeld, Ideologien zu thematisieren. Vereine, Internet) ein/e Jugendliche/r sich bewegt. Dieser Schritt sollte z.B. erfolgen, wenn Jugendliche sich explizit 2. Inhalte prüfen („Was liegt vor?“) von ihrer als „ungläubig“ denunzierten Familie abwenden, In einem „Verhaltens- und Positionscheck“ tauschen die be- extrem abwertend über andere Muslim_ innen, Moscheen teiligten Akteure (z.B. im Kollegium) ihre Erfahrungen bzgl. oder Prediger sprechen und Gewaltbereitschaft oder ernst des „Falls“ aus: zu nehmende (nicht provokative) Sympathie für gewalttäti- ge Gruppen zeigen … (s.o.). Der Schritt „nach draußen“ ist a) Welches „problematische“ Verhalten, welche Positionen auch erforderlich, um sich selbst (bzw. die Einrichtung) zu sind aufgetreten? schützen — sich also nicht zu überschätzen oder zu überfor- b) Welche Erfahrungen gibt es mit bereits erfolgten Reak- dern. Wichtig für das Gelingen des Zusammenwirkens mit tionen auf dieses Verhalten (gelungene und gescheiterte externen Unterstützungsangeboten ist der Kontakt und ein Interventionen)? Vertrauensverhältnis zu den jeweiligen Akteuren und Stel- len in einem Netzwerk, das idealerweise schon besteht, be- c) Analyse: Welche (individuellen) Motive stehen hinter dem vor es zu Problemen und Konflikten kommt. „problematischen“ Verhalten? (z.B. Provokation oder Ideo- logie; Familie; Protest …). Fallbeispiele: Übung zu Prävention 3. Erste Handlungsphase und Begegnung Ansprache und Maßnahmen, die auch dem Schutz der Grup- I. Gemeinsames Beten im Ramadan pe (Klasse, Peers …) dienen sollen: Kurz vor dem Monat Ramadan wendet sich in einem Ju- a) Je nach Analyse können Maßnahmen (z.B. individuelle gendzentrum, das etwa zur Hälfte von arabisch- und tür- Ansprache oder Arbeit mit der jeweiligen Gruppe zu spezi- kischstämmigen und zur anderen Hälfte von herkunftsdeut- fischen Themen) verabredet und durch einzelne beteiligte schen Jugendlichen besucht wird, eine Gruppe von fünf Akteure umgesetzt werden. Dazu sollten realistische und Jugendlichen an die Pädagog_innen und bittet, während überprüfbare Ziele verabredet und definiert werden. des Ramadan abends auf dem Bolzplatz der Einrichtung ge- meinsam beten zu können. Einige der Jugendlichen, die den b) Im Zuge der Maßnahmen/Ansprachen sollte eine dialogi- Wunsch äußern, besuchen das Jugendzentrum seit Jahren. sche Haltung eingenommen werden, um die Gesprächsbe- Ein Jugendlicher, der die Idee aufgebracht hat, kommt erst reitschaft (Offenheit) des/der betreffenden Jugendlichen seit Kurzem. Die Betreuer_innen kennen ihn kaum. zu erproben (s.o.). Die Arbeit sollte sachorientiert (= verhal- tens- und positionsbezogen) sein. Auf ideologischer Ebene Machen Sie sich Gedanken zu folgenden Punkten: können evtl. Irritationen (Verunsicherungen) das Ziel sein. ƒƒ Was spricht dafür, auf den Wunsch einzugehen? ƒƒ Was spricht dagegen? ƒƒ Entwerfen Sie ein Szenario für eine Lösung. ƒƒ Worin bestehen Chancen, Schwierigkeiten und Risiken bei der Umsetzung?

132 Übungen und Hilfen

II. Phasen der Veränderung, Quelle: LI-Hamburg/bearb. Hrsg.: ufuq.de. Jugendkulturen, Islam & politische Bildung. Ein volljähriger Auszubildender fällt an seiner beruflichen ufuq.de bemüht sich um Alternativen zu den aufge- Schule dadurch auf, dass er sein Äußeres verändert (Bart- regten Debatten um „Parallelgesellschaften“, religiös wuchs, langes Gewand) und seine Mitschüler_innen für den begründete Radikalisierungen und eine vermeintli- Islam zu gewinnen versucht. Im Unterricht bringt er das che Islamisierung Deutschlands. Sie arbeiten an der Gespräch oft auf religiöse Fragen und verbindet diese mit Schnittstelle von politischer weltpolitischen Ereignissen. Dem Klassenlehrer kommt über Bildung, Pädagogik, Wissen- einen Mitschüler zu Ohren, dass der Auszubildende in seiner schaft und politischer Debat- Freizeit mit Gleichaltrigen nicht nur Kampfsport betreibt, te und informieren, beraten sondern auch an paramilitärischen Trainings teilnimmt. und unterstützen in den Monate nach seinem Schulabschluss sieht sein Klassenleh- Herausforderungen, die sich rer ein Foto seines Schülers in der Zeitung. Er liest, dass der in der pädagogischen Arbeit junge Mann nach Syrien gegangen und dort als Mitglied ei- in der Migrationsgesellschaft ner islamistischen Kampfgruppe ums Leben gekommen ist. ergeben können. Aufgabe: Welche Möglichkeiten haben Lehrkräfte und Schu- www.tinyurl.com/yykny6pd len, eine solche Entwicklung zu verhindern? Denken Sie da- bei insbesondere auch an Maßnahmen, die an verschiede- nen Phasen einer Entwicklung ansetzen können.

133 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Religiöser Fundamentalismus

Titel: Von Abraham bis Zuckerfest. Die wich- Titel: BAHIRA Beratungsstelle. Beratung, tigsten Begriffe für den interreligiösen Aufklärung, Prävention Dialog Hrsg.: Violence Prevention Network e.V. Hrsg.: Multikulturelles Forum e.V.

www.tinyurl.com/y5wtspke www.tinyurl.com/y3yp4lt6 Titel: Gender & Islam in Deutschland. Baustein 2 Titel: Salafismus Online. Propaganda­ strategien erkennen — Manipulation Auto_rinnen: Kleff, Sanem/Seidel, Eberhard/ entgehen. Materialien für Schule und Toprak, Ahmet außerschulische Jugendarbeit Hrsg.: Bundeskoordination Schule ohne Autor_in: Kimmel, Birgit [u.a.] ­Rassismus — Schule mit Courage Hrsg.: klicksafe/jugendschutz.net

www.tinyurl.com/y3o6aeze

www.tinyurl.com/y449qfb4 Titel: Hassliebe: Muslimfeindlichkeit, Islamis- mus und die Spirale gesellschaftlicher Polarisierung Titel: „Die Freiheit, die ich meine“ — Das Islamismuspräventionsprojekt Auto_rinnen: Fielitz, Maik et. Al. von „Gesicht zeigen!“ — Konzepte — Hrsg.: IDZ. Institut für Demokratie und Zivil­ ­Methoden — Handlungsempfehlungen gesellschaft Hrsg.: Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland e.V.

www.tinyurl.com/yydg3me4

www.tinyurl.com/y45cnj2o

134 Digitaler Hass Maßnahmen und Prävention zu Hate Speech

Hetzen und Täuschen. Rechte Strukturen in sozialen Medien. Broschüre zur Tagung am 23./24. Juni 2017 (Mach‘ meinen Kumpel nicht an! — für Gleichbehandlung, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus e. V.)

Kurzbeschreibung: Die Extreme Rechte legt ihren Fokus vermehrt auf das Internet, um zu rekrutieren und zu propagieren. Diese Entwicklung, ihre Auswirkungen und Interventionsmöglichkeiten waren Thema der Netzwerk-Tagung. In der Broschüre wurden die Inhalte in Form von Fachaufsätzen festgehalten. S. 18–23

Vortrag Faken, manipulieren, simulieren: Wie Rechtsradikale über das Netz Aufmerksamkeit erlangen

Fabian Jellonek, achtsegel.org – Büro für politische Kommunikation und Bildung im Netz

Rechtsradikalen Gruppen gelingt es, im Internet Aufmerk- Fake News, um damit klassische Medienangebote zu diskre- samkeit für sich und ihr Weltbild zu erzeugen. Über gezielte ditieren. Was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff und Falschmeldungen (Fake News) wollen sie Gruppen, die nicht inwiefern ist die Aufregung um Fake News berechtigt? Um in ihr Weltbild passen, oder politische Gegner diskreditie- die Debatte einzuordnen, hilft ein Blick in die Geschichte: ren. Über manipulierende Nachrichtenseiten soll bei ihren Fake News sind keinesfalls eine Erscheinung, die im Inter- Nutzern ein Gefühl der ständigen Bedrohung geschaffen net entstanden ist. Falsche Nachrichten, Behauptungen und werden, das Zustimmung zu radikalen Lösungsansätzen Verleumdungen gibt es seit jeher. erzeugen soll. Rechtsradikale Gruppen wie die Identitäre Ein gut dokumentiertes Beispiel notierte Peter Segl in sei- Bewegung versuchen, durch mediale Inszenierung einen nem Aufsatz „Angst in Pamiers im Sommer 1321“. Er erzählt Bewegungscharakter zu simulieren, um ihre Inhalte in die darin, wie in einem französischen Ort ein Gerücht über Öffentlichkeit zu tragen. Durch die intensive Nutzung dieser eine geplante Brunnenvergiftung zu einem Pogrom gegen Methoden versuchen Rechtsradikale, in den sozialen Medien ­Lepra-Erkrankte führte. Beklemmend macht, dass Segl am eine Nebenöffentlichkeit zu schaffen, die ihre menschenver- Ende seines Textes eine Karte angehängt hat, die zeigt, achtenden Forderungen legitimieren soll. Sie ist Nährbo- wie sich das Gerücht in anderen Orten Frankreichs ver- den, auf dem Hass im Netz und in der Gesellschaft gedeiht. breitete und dort ebenfalls zu Pogromen führte. Die Karte Der folgende Text stellt drei Methoden von rechtsradikalen zeigt auch, dass die Beschuldigten im Laufe der Zeit aus- Gruppen exemplarisch vor. getauscht wurden: Anstelle der Lepra-Erkrankten wurden nun Juden verdächtigt, Brunnen zu vergiften — ein Gerücht, Methode „Fake News“ an das Jahrhunderte später die Propaganda der NSDAP an- Spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten knüpfen konnte. Das Beispiel zeigt zweierlei: erstens, dass der USA sind Fake News in aller Munde. Der Begriff ist der- Fake News kein neues Phänomen sind, und zweitens, wie zeit stark umkämpft. Auch das rechte Lager spricht von hochgradig gefährlich die falschen Gerüchte wirken können.

135 Digitaler Hass

Damals wie heute zielen Fake News darauf ab, bestimmte Eine der bekanntesten offensichtlichen Falschmeldungen Gruppen oder Personen in ein schlechtes Licht zu rücken. der jüngsten Vergangenheit war die „Pizza-Gate“-Affäre. Die Oft steckt dahinter eine politische oder persönliche Absicht erfundene Story behauptete während des US-Wahlkampfs, der Gerüchte-Erfinder. Das Gerücht in Pamiers erfand ein dass enge Mitarbeiter der demokratischen Kandidatin Hillary ehrgeiziger Kirchenmitarbeiter, der seine Karriere ankur- Clinton in einen geheimen Washingtoner Pädophilen-Ring beln wollte. Die vielen Fake News im Zusammenhang mit verwickelt seien. „Pizza-Gate“ heißt die Falschmeldung, den US-Präsidentschaftswahlen wurden unter anderem von weil der ausgedachte Pädophilen-Ring angeblich aus einer Unterstützern Donald Trumps gestreut, um die Stimmung Washingtoner­ Pizzeria operierte. Das ganze Schauermär- im Wahlkampf zu beeinflussen. Gleichzeitig gab es auch chen wurde lediglich auf wilde Spekulationen über vermeint- Plattformen, die aus einer reinen Profitlogik heraus mög- liche Codewörter in geleakten E-Mails von Clintons Mitarbei- lichst spektakuläre Falschmeldungen in die Welt gesetzt terstab gestützt. Interessant ist das Zustandekommen dieser haben. Art von Fake News: Nicht eine einzelne Person dachte sich die abseitige Story aus, sondern ein ganzes Netzwerk der soge- Öffentliche Erregung und Aufruhr erzeugen — diese Absicht nannten Alt-Right-Bewegung (alternative Rechte; politische vermutet man auch hinter dem in Deutschland als „Fall Lisa“ Strömung, die Donald Trump unterstützte) beteiligte sich an bekannt gewordenen Gerücht über die Vergewaltigung einer den Phantastereien auf verschiedenen Internet-Plattformen. minderjährigen Russlanddeutschen. Das Gerücht wurde über Immer neue absurde „Beweise“ wurden zusammengetragen. eine russische Social-Web-Plattform gestreut und führte in Wild wurden Logos von Pizzerien mit Logos von vermeint- mehreren deutschen Städten zu Demonstrationen gegen die lichen, geheimen Zirkeln verglichen und als untrügliche Flüchtlingspolitik mit einigen tausend TeilnehmerInnen. Beweise dargestellt. Obwohl diese „Beweise“ offensichtlich Über geflüchtete Menschen kursieren derzeit besonders vie- nichts als unsinnige Spukgeschichten waren, verbreiteten le Fake News. Die Masse an Gerüchten über Flüchtlinge und sich die Fake News in den USA rasant. Sie beeinflussten nicht ihre weite Verbreitung kann nur damit erklärt werden, dass nur die Stimmung im Wahlkampf, sondern stachelten einen es aktuell besonders leicht ist, diese Gruppe zu diskreditie- Amerikaner sogar dazu an, eine der beschuldigten Pizzerien ren. Schlechte Nachrichten, in denen Geflüchtete als Täter mit einer Waffe zu stürmen, um Beweise für die Verschwö- präsentiert werden, werden von vielen Internet-Usern ge- rungstheorie zu sammeln. teilt und verbreitet, ohne vorher hinterfragt zu werden. Sie Auch jenseits des Atlantiks schlug sich „Pizza-Gate“ nieder. werden für glaubwürdig gehalten, obwohl sie häufig schnell Zahlreiche deutschsprachige Blogs übersetzten das Schau- als Fakes enttarnt werden könnten. ermärchen der amerikanischen Rechten. Der deutsche Grundsätzlich lassen sich Fake News in zwei Kategorien auf- Popsänger Xavier Naidoo zitierte „Pizza-Gate“ in seinem teilen: solche, die versuchen glaubwürdig zu sein und sol- umstrittenen Song „Marionetten“ als Beleg für die Nieder- che, die auf den größtmöglichen Schockeffekt setzen und trächtigkeit von PolitikerInnen. So zeigt „Pizza-Gate“: Selbst dafür offensichtliche Unstimmigkeiten in Kauf nehmen. Bei absurdeste Behauptungen können sich im Netz viral ver- Letzteren werden Personen oder Organisationen häufig breiten, wenn sie hasserfüllten Gruppen nutzen und deren Handlungen nachgesagt, die überhaupt nicht von diesen GegnerInnen diskreditieren. Vermutlich werden viele User, Organisationen getätigt werden können, zum Beispiel wenn die „Pizza-Gate“ teilten, wissen, dass sie aktiv eine Lügen- behauptet wird, die Bundesregierung diktiere Redaktionen, geschichte verbreiten. Bei offensichtlichen Falschmeldun- über welche Themen diese zu berichten hätten. gen geht es nicht darum, Seriosität vorzugaukeln, sondern darum, politischen Gegnern einen besonders schädlichen Anders versuchte es die Alternative für Deutschland, als sie Makel anzudichten. Man nimmt dabei in Kauf, dass jeder, ein Meme verbreitete, in dem behauptet wurde, das Auswär- der sich mit den Fake News auseinandersetzt, an der Story tige Amt habe eine Reisewarnung für Schweden erlassen. zweifeln wird. Ziel ist es, dass der erfundene, gravierende Hier stimmen nachgesagte Handlung und Befugnisse des Vorwurf von möglichst vielen Menschen mit der beschuldig- vermeintlichen Akteurs überein. Tatsächlich veröffentlicht ten Person in Zusammenhang gebracht wird, man also bei das Auswärtige Amt Reisewarnungen, freilich nicht für den Namen von Clintons Mitarbeitern im Hinterkopf hat „... Schweden. Trotzdem finden sich zu Ländern wie Schweden da war doch irgendwas mit…“. Informationen auf der Webseite des Auswärtigen Amts. Al- lerdings handelt es sich dabei um bloße Reiseinformationen Auch offensichtliche Falschmeldungen mit deutschen Bezü- und keineswegs um Warnungen. Dennoch können in einer gen halten sich hartnäckig in sozialen Netzwerken. Anhän- solchen Reiseinformation auch warnende Passagen enthal- gerInnen rechtspopulistischer Parteien behaupten dort zum ten sein, beispielsweise vor Plätzen, an denen besondere Beispiel immer wieder, „die Antifa“ würde aus staatlichen Vorsicht vor Taschendieben geboten ist. Man sieht: Die Fal- Mitteln finanziert. Zwar gibt es die eine Antifa überhaupt schinformation der Rechtspopulisten ist nicht ungeschickt nicht und vermeintliches „Demogeld“ klingt bereits auf den gestrickt. Jemand, der versucht, der erfundenen Nachricht ersten Blick albern, trotzdem sorgt die Falschmeldung dafür, nachzugehen, kann tatsächlich den Eindruck gewinnen, sie dass viele Menschen in Deutschland glauben, Mittel gegen entspreche der Wahrheit. Gut war daher die schnelle Reakti- Rechts, ob nun staatlich oder von Gewerkschaften bereit- on des Auswärtigen Amtes in den sozialen Netzwerken. Dort gestellt, würden zweckentfremdet, um linke Organisationen wurde offiziell klargestellt, dass es für Schweden keinerlei zu finanzieren. Reisewarnung gibt.

136 Hintergrundinformationen

Methode „manipulierende Nachrichtenseiten“ Trotzdem schaffte es die rechtsradikale Gruppe in den ver- gangenen Monaten immer wieder, in die Schlagzeilen zu Fake News findet man immer wieder auch auf sogenann- kommen. Eine ihrer bekanntesten Aktionen war die Beset- ten „manipulierenden Nachrichtenseiten“. Damit sind So- zung des Brandenburger Tors im August 2016. Aktionen wie cial-Web-Angebote gemeint, die den Anschein erwecken diese sind typisch für die Identitären: Sie versuchen durch wollen, sie würden ihre User mit Nachrichten versorgen. eine mediengerechte Gestaltung maximale Aufmerksamkeit Tatsächlich werden dort, neben Fake News auch überwie- für ihre Aktionen zu erreichen. gend Nachrichten aus seriösen Quellen verlinkt. Das perfide dabei: Die Nachrichten werden nicht danach ausgewählt, Begleitet wird dies von gezielter propagandistischer Nut- den Usern einen Überblick über das zu geben, was gerade zung der sozialen Medien. Hier werden professionell gefilm- im Weltgeschehen wichtig ist. Ebenso geht es bei der Aus- te Youtube Clips genutzt, um die Reichweite ihrer Aktionen wahl nicht darum, ein ausgewogenes Bild der Realität zu zu erhöhen. Die Außenwirkung ist bei den Identitären durch- vermitteln. Im Gegenteil: die Auswahl beabsichtigt, die Re- kalkuliert. Als Kern der Corporate Identity der Identitären alität stark zu verzerren. Auf „manipulierenden Nachrich- kann das Lambda-Zeichen gelten, das als Logo fungiert. Das tenseiten“ werden deshalb solche Nachrichten verlinkt, bei Zeichen kann als popkulturelle Referenz an die Comic-Verfil- denen geflüchtete Menschen oder als Fremde wahrgenom- mung „300“ gesehen werden und bezieht sich auf das Wap- mene Menschen als Täter auftreten und Deutsche als Opfer. pen des antiken Sparta. So soll beim Betrachter der Eindruck erweckt werden, Deut- Die Inszenierungen sollen Größe und Relevanz simulieren. sche würden permanent durch Nicht-Deutsche bedroht. Dies beginnt allein schon bei der Selbstbezeichnung als „Be- Um diesen Eindruck zusätzlich zu verstärken, werden die wegung“. Denn der Kern dieser „Bewegung“ wird vor allem verlinkten Nachrichten von den Administratoren solcher aus einer zweistelligen Anzahl von Reisekadern gebildet, Seiten aufgebauscht, indem Überschriften verändert oder die sich an den Aktionen beteiligen. Viele von diesen Kadern besonders drastische Bilder zur Nachricht dazugestellt wer- entstammen Burschenschaften oder anderen rechtsradika- den, die meist in einem ganz anderen Kontext entstanden len Gruppierungen. Die Herkunft ihrer Kader versucht die sind. Viele der „manipulierenden Nachrichtenseiten“, vor Identitäre Bewegung im Social Web zu kaschieren. Sie baut allem solche mit großer Reichweite, werden mehrfach am dabei auf ein simples Stilmittel: Gesicht zeigen. Im Gegen- Tag aktualisiert. Den Administratoren ist dabei vollkommen satz zu anderen rechtsradikalen Gruppierungen tragen die egal, ob der Tankstellenüberfall in der niedersächsischen Aktivisten der Identitären in ihren Videos keinerlei Vermum- Provinz für den Seitenbesucher aus Bayern von Bedeutung mung. So kann die Identitäre Bewegung eine Form der Of- ist: Wenn der geschilderte Vorfall ein schlechtes Licht auf fenheit simulieren, die sie in Wahrheit nicht hat. Zudem ver- die missliebige Gruppe wirft, wird der Beitrag veröffentlicht meidet sie so Bilder, die Betrachter abschrecken könnten. und dann auch geteilt. Viele der provokativen Aktionen sind lediglich in der fertig Diese Form der Stimmungsmache geht leider auf: Unter produzierten Online-Version tatsächlich provokant und re- den verlinkten Nachrichten toben sich viele User aus. In bellisch. Vor Ort dauern die Aktivitäten oft nur wenige Mi- ihren Kommentaren fordern sie drastische Maßnahmen nuten und lassen Augenzeugen meist rätselnd zurück. Ein gegen Geflüchtete und rufen sogar zu Straftaten und Mord besonders bekanntes Beispiel für diese Simulation eines auf. „Manipulierende Nachrichtenseiten“ sind damit so et- rebellischen Gestus stellte die „Blockade“ des Konrad-Ade- was wie ein „Katalysator“ für Hatespeech. Da sich die User nauer-Hauses in Berlin durch Identitäre im Dezember 2016 „manipulierender Nachrichtenseiten“ in ihrer Ablehnung dar: Die Aktivisten blockierten die CDU-Zentrale außerhalb von Migration einig sind, erhalten besonders drastische der Öffnungszeiten, setzen sich also vor eine Tür, durch die Kommentare häufig besonders viele Likes und werden als zu diesem Zeitpunkt niemand durch wollte. erstes unter einem Beitrag angezeigt. So verstärkt sich der Obwohl die Identitäre Bewegung letztendlich zu einem Eindruck, dass Hass und Gewalt gegen Geflüchtete gesell- Großteil mit Simulationen arbeitet, geht ihre Strategie der- schaftlich akzeptiert und anerkannt seien. Die Auswahl der zeit noch zu oft auf: Zahlreiche Medien springen auf die in- Nachrichten sorgt darüber hinaus für Angst und Schrecken szenierten Bilder an und reproduzieren das Selbstbild der und dürfte bei so manchen Nutzern diffuse Bedrohungsge- neurechten Marketing-Gruppe. fühle wie „nirgendwo ist man mehr sicher“ oder „ich trau mich gar nicht mehr auf die Straße“ auslösen. Besonders Auch die Strategie, auf sämtlichen Internet-Plattformen populäre „manipulierende Nachrichtenseiten“ haben über präsent zu sein, zielt in eine ähnliche Richtung. Die Iden- hunderttausend Abonnenten. titäre Bewegung will dadurch als Mitmachbewegung wahr- genommen werden, obwohl sie tatsächlich eine stark abge- Methode „Simulationen“ grenzte kleine Gruppe mit ausgeprägten Hierarchien ist. Als die Identitäre Bewegung nach dem französischen Vorbild am Beispiel der Identitären Bewegung der Génération Identitaire 2012 in Deutschland gegründet Ebenfalls auf hunderttausende Likes kommen mitunter Vi- wurde, war sie zunächst vor allem auf Facebook zu finden. deos aus der Identitären Bewegung. Dabei ist die Gruppie- Für fast jede deutsche Großstadt gab es einen Account der rung eigentlich recht klein. Experten schätzen sie auf 300 Identitären Bewegungen. Beobachtete man diese Accounts bis 400 Mitglieder. über längere Zeit, fiel vor allem auf, dass dieselben Inhal-

137 Digitaler Hass

te auf den verschiedenen Accounts gepostet wurden. Der Parallel zum Rückgang der Tageszeitung gab es eine Zunah- Verdacht liegt nahe, dass die Accounts zentral gesteuert me von unabhängigen Online-Medien. Während viele von wurden. diesen guten und seriösen Arbeit leisten, gibt es auch eine hohe Anzahl von dubiosen Nachrichtenportalen, die gegen- Das Ziel der Identitären ist dabei nicht unbedingt der Auf- wärtig unter dem Namen Fake News zusammengefasst wer- bau einer Bewegung. Vor allem die Erzeugung von medialer den. Bei den Nutzern von Medien hat sich durch die neuen Aufmerksamkeit für die Themen der Neuen Rechten scheint Möglichkeiten im Internet die Gewohnheit und Erwartung Vorrang zu genießen. Das ist kaum verwunderlich: Der neu- eingestellt, dass der Zugang zu Informationen umsonst ist rechte Publizist Götz Kubitschek und sein Think-tank Insti- und sie diese auch anderen umsonst zur Verfügung stel- tut für Staatspolitik spielten eine zentrale Rolle bei der Ent- len können. Die Produktion von verlässlichen und qualita- stehung der Identitären Bewegung und Kubitschek gilt bis tiv hochwertigen Medienangeboten braucht allerdings eine heute als eine der maßgeblichen Figuren. Die Neue Rechte Finanzierungsquelle. In den sozialen Medien stehen diese versucht Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs zu ge- allerdings in Konkurrenz zu den viel billiger herstellbaren winnen — die Identitäre Bewegung und ihre Aktionen dienen ­Fake-News-Angeboten, die zudem noch durch ihre reißeri- dabei als Vehikel. Zentrale Begrifflichkeiten und Thesen, wie sche Form oft eine höhere Aufmerksamkeit erzielen kön- etwa die des „großen Austausches“, werden durch die Iden- nen. Die Auswirkungen davon sind nur zu bekannt. Durch titären bei ihren Aktionen verwendet. Mit den abgefilmten reißerische Artikel werden rassistische Vorurteile ange- Aktionen und der popkulturell gestalteten Corporate Iden- heizt. In der Folge gibt es nicht nur Hasskommentare im In- tity der Identitären Bewegung soll so eine neurechte Bild- ternet, sondern auch einen Anstieg rechtsradikaler Angriffe erwelt geschaffen werden, um die rassistischen und autori- auf Migranten und andere Minderheiten. taristischen Thesen der Neuen Rechten in der Gesellschaft zu verbreiten. Eine gesellschaftliche Anpassung an die neue Gegebenheit passiert nicht von sich aus. Es wird neue Wege brauchen, se- Wie können Fake News eingedämmt werden? riöse und differenzierte Inhalte im Internet zu fördern. Das Wissen um Fake News und darum, wie man sie identifiziert Das Internet hat die Art der Mediennutzung grundlegend und überprüft, muss breite Bevölkerungsschichten errei- verändert. Was Berthold Brecht, damals mit der neuen chen. Das Internet wird in Zukunft immer mehr der Ort sein, Technologie des Rundfunks konfrontiert, in seiner Radio- an dem die Öffentlichkeit ihre gesellschaftlichen Konflikte theorie noch als Utopie ansah, ist Realität geworden: „Um austragen wird. Deshalb ist es zentral, auf die Debattenkul- nun positiv zu werden: das heißt, um das Positive am Rund- tur im Netz zu achten. funk aufzustöbern; ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsappa- rat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Hrsg.: Mach‘ meinen Kumpel nicht an! — Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikations- für Gleichbehandlung, gegen Fremdenfeindlichkeit und apparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsys- Rassismus e.V. tem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur Der Verein, bekannt auch als Kumpelverein oder Gelbe auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhö- Hand, ist Teil des gewerkschaftlichen Engagements rer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechts- ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu set- extremismus. Sie setzen sich für Gleichberechtigung zen.“ Das Internet, insbesondere die sozialen Medien, haben und Chancengleichheit insbesondere in der Arbeitswelt die Verbreitung von Nachrichten von einem massenmedi- ein. Das Ziel ist es, die Bevölkerung aufzuklären und alen System, in dem wenige Sender viele EmpfängerInnen durch eigene Maßnahmen zur Gleichbehandlung in der haben, zu einem Netzwerksystem verwandelt, in dem alle Arbeitswelt beizutragen. Teilhabenden Sender und EmpfängerInnen zugleich sein können. Dies hat massive Auswirkungen auf die Art, wie uns Infor- mationen erreichen. Auf der einen Seite demokratisiert das Internet die Öffentlichkeit dadurch, dass es Menschen hilft, die bisher keine Möglichkeiten hatten, ihre Stimme hörbar zu machen. Zugleich hat es auf der anderen Seite negati- ve Konsequenzen für die Aufbereitung und Qualität von Informationen. Dies verdeutlicht sich insbesondere in der Zeitungskrise. Das Internet bedroht die finanziellen Grund- www.tinyurl.com/y8d7bvwh lagen der Tageszeitungen, deren Auflagen bereits sinken.

138 Hintergrundinformationen

Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Menschenrechtsbildung (Europarat/Neue Deutsche Medienmacher e.V.)

Kurzbeschreibung: Das Handbuch unterstützt Pädagog_innen, das Problem „Hate Speech“ im Internet adäquat mit Jugendlichen zu behandeln. Es erhebt dabei nicht den Anspruch, einen für alle Formen ­gültigen Lösungsansatz zu präsentieren, sondern „Hate Speech“ als ­Symptom für ein tieferliegendes gesellschaftliches Problem zu betrachten und darauf aufbauend, entsprechende Handlungs­ optionen aufzuzeigen. S. 160–166

5.1 HATE SPEECH IM INTERNET

nommen werden muss. Es ist jedoch wichtig, sich bewusst zu (...) der Begriff „Hate Speech“ umfasst nach diesem Ver- machen, dass „etwas unternehmen“ nicht heißen muss, die ständnis jegliche Ausdrucksformen, welche Rassenhass, freie Rede einzuschränken oder zu verbieten: Es gibt viele Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere For- andere Reaktionsmöglichkeiten! Die Hintergrundinformati- men von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, onen zu Kampagnenstrategien beschäftigen sich ausführli- dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, unter cher mit dieser Frage. anderem Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminie- Der letzte Abschnitt dieses Kapitels untersucht verschiede- rung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten und ne Arten, Fälle von Hate Speech zu klassifizieren und einzu- Menschen mit Migrationshintergrund ausdrückt. schätzen. Europarat, Ministerkomitee, Empfehlung Nr. (97) 20 Die Definition des Europarats umfasst alle Ausdrucks- formen, also nicht nur Sprache, sondern auch Bilder, DEFINITION VON HATE SPEECH Videos oder jegliche andere Form von Online-Aktivität. Hate Speech (dt.: Hassrede) ist ein vergleichsweise neuer Be- Cyberhass ist also auch Hate Speech. griff und international noch nicht einheitlich definiert, weil in Deutschland andere Grenzen dafür gelten, was im Netz WARUM MUSS GEGEN HATE SPEECH gerade noch sagbar ist, als beispielsweise in Amerika, im Iran IM INTERNET ANGEGANGEN WERDEN? oder in China. Hate Speech ist also ein Sammelbegriff, der sowohl strafbare als auch nicht strafbare Ausdrucksweisen HATE SPEECH IST VERLETZEND! einschließt. Wörter verletzen, Hass verletzt! Hate Speech ist ein ernstes Die deutsche No-Hate-Speech-Kampagne definiert Hate Problem und kann eine Verletzung der Menschenrechte dar- ­Speech als bewusste Herabsetzung und Bedrohung be- stellen. Hate Speech im Internet ist nicht weniger ernst als stimmter Menschen und Menschengruppen aufgrund ihrer ihre Offline-Ausprägung, ist jedoch oft schwieriger zu identi- Zugehörigkeit zu einer Minderheit (oder ihrer wahrgenom- fizieren und infrage zu stellen. menen Zugehörigkeit zu einer Minderheit). In Deutschland EINSTELLUNGEN INSPIRIEREN ­HANDLUNGEN verwendet man häufig auch den Begriff der gruppenbezoge- nen Menschenfeindlichkeit. Hate Speech ist nicht nur gefährlich, weil sie in sich schädlich ist, sondern auch, weil sie zu gravierenden Menschenrechts- Kurzum: Hate Speech umfasst Ausdrucksformen in Wort, verletzungen, führen kann. Wenn sie nicht eingedämmt wird, Bild und Ton, die Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz för- hat Hate Speech im Internet Rückwirkungen auf die Off- dern und Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Min- line-Welt und verstärkt ethnische Spannungen und andere derheiten ausdrücken. Formen von Diskriminierung und Missbrauch. Die Möglich- Dieses Handbuch basiert auf der oben genannten, etwas keit der raschen Verbreitung von Hass in der virtuellen Welt breiter gefassten Definition des Europarats. Der Ansatz vergrößert den potentiellen Schaden. dieser Seiten stimmt auch mit dem Konzept überein, dass gegen alles, was unter diese Definition fällt, etwas unter-

139 Digitaler Hass

HATE SPEECH IM INTERNET BESTEHT len Welt geworden. Hate Speech im Internet hat häufig Kon- AUS MEHR ALS NUR WORTEN sequenzen im Alltag: Menschen, Gefühle, Erfahrungen und Dynamik sind online und offline gleich. Das Internet ermöglicht uns schnelle und vielfältige Kom- munikation, die sehr häufig anonym verläuft, unter anderem DAS INTERNET IST NOCH JUNG! etwa über Social Media und Online Games. Online-Hass kann durch Videos und Fotos ebenso wie in der vertrauteren Text- Unser Verständnis der virtuellen Welt ist in vielerlei Hinsicht Form ausgedrückt werden. Die visuellen oder multimedialen weniger entwickelt als das der nicht-virtuellen Welt; dasselbe Ausprägungen wirken sich oft stärker auf bewusste und un- gilt im Wesentlichen auch für Gesetze und Vorschriften hin- bewusste Einstellungen aus. sichtlich dessen, was allgemein als akzeptabel oder inakzep- tabel betrachtet wird. Online-Aktivitäten müssen ebenfalls durch die Linse der allgemeinen Werte betrachtet werden, Auf wie viele Arten können Menschen online „hassen“? die uns in unseren Offline-Aktivitäten leiten. Sie müssen Songs, Videos, Tweets, Cartoons, manipulierte Bilder … auch denselben Gesetzen unterworfen sein: Sie müssen ins- besondere durch die bestehenden Menschenrechtsnormen HASS RICHTET SICH SOWOHL GEGEN reguliert werden. ­INDIVIDUEN ALS AUCH GEGEN GRUPPEN DAS INTERNET KANN BESSER WERDEN! Online-Hass richtet sich häufig gegen Menschen und Men- schengruppen, die einer Minderheit angehören (oder denen Das Internet ist nicht mehr und nicht weniger als das, wozu unterstellt wird, einer Minderheit anzugehören). In Deutsch- es Menschen machen. Ebenso wie in der realen Gesellschaft land verwendet man hierfür den Begriff der gruppenbezo- werden bestimmte Verhaltensweisen sich wahrscheinlich genen Menschenfeindlichkeit. Beim Cybermobbing hingegen durchsetzen, wenn sie „akzeptabel“, also zur Norm werden. werden Individuen zur Zielscheibe. Cybermobbing hat in Wir brauchen eine Vision davon, was wir gerne als akzeptier- mehreren belegten Fällen zu Selbstmord geführt. Hass im te Online-Verhaltensweisen sehen würden. Mehr noch: Wir Netz ist eine Gefahr für das Selbstvertrauen und die persön- müssen daran arbeiten, dass diese Verhaltensweisen akzep- liche Sicherheit. tiert werden und nicht andere. Das bedeutet, dass wir, als Jugendliche und BürgerInnen jeden Alters uns auch dafür Haben Sie Dinge online gesagt, die Sie persönlich nicht interessieren müssen, wie das Internet kontrolliert wird, und sagen würden? warum manche Dinge erlaubt sind und andere nicht. Würden Sie das tun, wenn Sie glauben, dass Sie uner- Manche Foren oder Websites haben ihre eigene „Kul- kannt bleiben? tur“. Wie können Jugendliche zur Gestaltung ihrer be- vorzugten „Internetkultur“ beitragen? DAS INTERNET IST NICHT LEICHT ZU KONTROLLIEREN DIE MYTHEN VON ANONYMITÄT UND Hate Speech im Internet wird eher toleriert und weniger STRAFFREIHEIT kontrolliert als Hate Speech offline. Es ist für „Hassende“ Hate Speech im Internet wird dadurch propagiert und ver- auch leichter (und weniger riskant), online Beleidigungen zu stärkt, dass ihre katastrophalen Auswirkungen auf Men- äußern als offline, nicht zuletzt, weil sie sich häufig hinter schen unterschätzt werden, ebenso wie durch zwei Mythen der Maske der Anonymität verstecken können. bezüglich der sozialen Interaktion im Internet: Straffreiheit DIE WURZELN VON HATE SPEECH und Anonymität. Alles, was online geschieht, kann letztlich IM INTERNET REICHEN TIEF zu seinem Autor oder seiner Urheberin zurückverfolgt wer- den; das hängt davon ab, wie weit die Strafverfolgung be- Die Einstellungen und sozialen Spannungen, die zu Hate Spe- reit ist zu gehen. Der Eindruck jedoch, dass man Hate Spe- ech im Internet führen, liegen tief in der Gesellschaft und ech-Inhalte posten oder weiterleiten kann, ohne eine Spur zu sind im Allgemeinen dieselben wie jene, die offline zu Hate hinterlassen, macht es leichter, Hate Speech zu verwenden, Speech führen. Indem gegen Hate Speech im Internet aufge- als wenn der/die TäterIn weiß, dass sein oder ihr Name allen treten wird, wird auch daran gearbeitet, das Auftreten von zugänglich sein wird. Offline-Hass zu verringern. Mit der Anonymität geht das Gefühl der Straffreiheit einher: DAS INTERNET IST KEINE INSEL Die UrheberInnen von Hate Speech mögen sich bewusst sein, dass ihre Handlungen verboten, unanständig oder un- Online-Aktivitäten sind ein riesiger und wachsender Bereich moralisch sind. Sie sind aber überzeugt, dass ihnen nichts der modernen Gesellschaft, sollten jedoch nicht als Feld ge- geschehen wird. Straffreiheit ist ebenfalls ein Mythos, weil sehen werden, in dem die normalen Regeln für menschliches Hate Speech in vielen Mitgliedsstaaten durchaus Gründe für Verhalten nicht gelten müssen. Die virtuelle Existenz von eine strafrechtliche Verfolgung liefern kann. Beide Mythen, Menschen ist stark mit ihrer realen Existenz verbunden. Die Anonymität und Straffreiheit, müssen angesprochen und beiden Lebensbereiche sind nicht voneinander zu trennen: auch entzaubert werden. Die virtuelle Welt ist schlicht zu einem wichtigen Teil der rea-

140 Hintergrundinformationen

KLASSIFIZIERUNG VON HATE SPEECH: ZIELSCHEIBEN ODER POTENTIELLE ­ZIEL­SCHEIBEN SCHLIMMER HASS, SCHLIMMERER HASS Einige Gruppen oder Einzelpersonen können bezüglich be- Jede Reaktion auf Hate Speech muss anerkennen, dass stimmter Kritik empfindlicher reagieren als andere. Das kann „Hass“ entlang einer Bandbreite verläuft: Ein Ausdruck von darauf beruhen, wie sie im Allgemeinen von der Gesellschaft Hass kann schlimmer sein als ein anderer, in dem Sinne, dass gesehen oder wie sie in den Medien dargestellt werden, er beleidigender ist, eine größere Anzahl von Menschen an- oder weil ihre Verhältnisse es ihnen schwerer machen, sich greift, zu Gewalt aufruft etc. selbst zu verteidigen. Eine Verunglimpfung von MuslimInnen Jeder Versuch einer Reaktion auf Hate Speech muss dieser zum Beispiel kann in einem Land, in dem die überwiegende Tatsache Rechnung tragen, weil Unterschiede im Grad des Mehrheit nicht muslimischen Glaubens ist, sehr viel schädli- geäußerten Hasses unterschiedliche Reaktionen erforder- cher sein; ChristInnen fühlen sich bedrohter, wenn sie in der lich machen. Eine angemessene Reaktion auf Hate Speech Minderheit sind. Kindern wird in fast jeder Gesellschaft ein wird die freie Meinungsäußerung nicht einschränken, den besonderes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Schutz zu- Schaden, den sie verursacht (oder verursachen kann), je- gesprochen. doch anerkennen und versuchen, diesen zu begrenzen. Die Die Gruppen, die am häufigsten zur Zielscheibe von Hate folgenden Ausführungen bieten einige nützliche Überlegun- Speech werden, sind in der Definition am Anfang dieses gen für die Einschätzung einzelner Fälle. Abschnitts genannt; es kann jedoch jeder und jede zur Ziel- scheibe von Hate Speech werden, selbst wenn keine der auf- INHALT UND TON DER ÄUSSERUNG gelisteten Formen von Intoleranz zutrifft. [Hinweis: Die folgenden Absätze enthalten Beispiele mit ex- Das folgende Beispiel zeigt, wie dieselbe Aussage bezüg- plizit beleidigender und herabwürdigender Sprache] lich unterschiedlicher Gruppen völlig unterschiedlich wirken Manche Hassäußerungen sind extremer, benutzen beleidi- kann. Die zweite ist vermutlich wesentlich schädlicher. gendere Wörter und rufen möglicherweise andere zu Ge- walttaten auf. Am anderen Ende der Bandbreite finden sich Vorstufen strafbarerer Beleidigungen oder Verallgemei- Politiker sind Juden sind nerungen, die bestimmte Gruppen oder Einzelpersonen in geizige, raffgierige ­geizige, raffgierige einem schlechten Licht erscheinen lassen (und falsch sein Verbrecher Verbrecher können). Eine vorläufige Klassifizierung, die nur auf Inhalt und Ton basiert, könnte die folgenden Äußerungen von schlimm bis schlimmer reihen: KONTEXT

Historisch Behinderte Ein Neger ist Du bist eine Der Kontext einer bestimmten Äußerung umfasst die histori- gesehen war schmarotzen kein Mensch, *** Hure. schen und kulturellen Bedingungen, die eine Hassäußerung der Einfluss vom Staat. sondern ein ­Morgen ver- von Zuwan- Tier. gewaltige ich begleiten. Auch andere Faktoren wie Medium und wahr- derern immer dich. scheinliches Zielpublikum, bestehende Spannungen und negativ. Vorurteile, die „Autorität“ des Urhebers/der Urheberin der Äußerung usw. können dazuzählen.

Zunehmend beleidigend oder bedrohend Von einem 16jährigen auf Podcast des Kanzlers, auf seinem persönlichen, wenig allen wichtigen Nachrichten­ INTENTION DER FÜR DIE ÄUSSERUNG gelesenen Blog gepostet. seiten ­VERANTWORTLICHEN PERSON Besonders im Internet sagen Menschen Dinge, ohne sie rich- Historisch gesehen Historisch gesehen tig abzuwägen. Wir erregen oft Anstoß, ohne das zu wollen, war der Einfluss von war der Einfluss von Zuwanderern immer Zuwanderern immer bedauern es später und ziehen unsere Worte vielleicht sogar negativ. negativ. zurück. In den folgenden beiden Beispielen sind beide Aussa- gen intolerant, eine jedoch wird mit der Intention ausgespro- chen zu verletzen. Die beiden Fälle würden je nach Kontext eine unterschiedliche Reaktion erfordern. Schlimm Schlimmer In einem ­privaten Mail Auf der ­Facebook- an einen Freund — als Schwule Seite einer Person mit „Witz“ dem Wissen gepostet, ausmerzen! dass sie schwul ist.

Schlimm Schlimmer

141 Digitaler Hass

FOLGEN ODER POTENTIELLE FOLGEN walt aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der Religion, Die tatsächlichen oder potentiellen Folgen für Einzelne, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vorgeschoben wird, Gruppen oder die gesamte Gesellschaft sind zentral für die gegen eine Person oder eine Personengruppe befürwortet Einschätzung einer Hassäußerung. Die tatsächliche Betrof- oder fördert oder dazu aufstachelt.“ Das Protokoll verlangt fenheit einer Person oder Gruppe ist meist wichtiger als die von den Mitgliedsstaaten, bestimmte Maßnahmen zu ergrei- Meinung Außenstehender, wie Betroffene sich fühlen könn- fen, um rassistische und fremdenfeindliche Handlungen zu ten oder sollten. Wenn etwa ein rechtskonservativer Bürger verbieten und zu kriminalisieren. Das Komitee zur Compu- oder eine rechtskonservative Bürgerin findet, dass am Wort terkriminalität besteht aus VertreterInnen der Vertragspar- „Neger“ nichts Schlimmes sei, sagt das nichts über die tat- teien des Übereinkommens, bietet Hilfestellung zur die Im- sächliche Betroffenheit aus, die eine People of Colour emp- plementierung des Übereinkommens in Mitgliedsstaaten und findet, wenn sie mit einer rassistischen Bezeichnung kon- unterstützt die betreffenden Maßnahmen. frontiert wird. Im Jahr 2014 nahm das Ministerkomitee des Europarats den HASS, CYBERHASS UND Leitfaden Menschenrechte für InternetnutzerInnen an (CM/ INTERNATIONALES RECHT Rec(2014)6). Der Leitfaden bietet Informationen dazu, was Obwohl der Schwerpunkt dieses Handbuchs nicht unbedingt Rechte und Freiheiten im Kontext des Internets in der Praxis darauf liegt, sich rechtlicher Mittel zu bedienen, ist es sinn- bedeuten, wie man sich auf sie berufen und ihnen gemäß voll, einige der gesetzlichen Verbote von Hate Speech zu er- handeln und wie man auf Rechtsmittel zurückgreifen kann. wähnen, die auch im virtuellen Raum gelten Der Leitfaden bietet zum Beispiel einen Überblick darüber, wie Nichtdiskriminierung und freie Meinungsäußerung im ƒƒ Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche Internet gelten. Der Link zum Leitfaden: https://rm.coe. und politische Rechte stellt fest: „Jedes Eintreten für int/16800cc24e nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgesta- chelt wird, wird durch Gesetz verboten.“ ƒƒ Artikel 4 des Internationalen Übereinkommens zur Hrsg.: Europarat/Neue deutsche Medienmacher e.V. Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (NDM) koordinieren das No Hate Speech Movement erklärt jegliche Propagandatätigkeit, die Rassendiskrimi- in Deutschland, das für die Übersetzung auf Deutsch nierung fördert und dazu aufstachelt, für gesetzwidrig. verantwortlich ist. Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonven- Dem Europarat gehören 47 europäische Staaten an. In tion schützt die Freiheit der Meinungsäußerung, er- seinem Rahmen werden völkerrechtlich verbindliche laubt allerdings neben einigen anderen Zwecken ihre Abkommen abgeschlossen, die der Wahrung der demo- Einschränkung „zum Schutz des guten Rufes oder der kratischen Sicherheit dienen, zum Beispiel der Einsatz Rechte anderer“. Dieser Artikel ermöglicht es den Mit- für die Menschenrechte, die Sicherung demokratischer gliedsstaaten, bestimmte Fälle von Hate Speech in ihrem Grundsätze, die Förderung des wirtschaftlichen und Hoheitsgebiet zu verbieten. sozialen Fortschritts etc. ƒƒ Artikel 17 der Konvention verbietet jede Handlung, „die Die NDM sind ein bundesweiter unabhängiger darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte Zusammenschluss­ von Journalist*innen mit und ohne und Freiheiten abzuschaffen“. Dieser Artikel wurde eben- Migrationsgeschichte. Das Netzwerk versteht sich falls von Regierungen zur Einschränkung einiger Formen als Interessenvertretung­ für Medienschaffende mit von Hate Speech herangezogen. Migrationsgeschichte und tritt für eine ausgewogene Ein weiteres relevantes internationales Rechtsinstrument Berichterstattung­ ein, die das Einwanderungsland des Europarats ist das Übereinkommen über Computerkri- Deutschland adäquat wiedergibt. minalität (auch Budapester Konvention, 2001). Das Überein- Projekt: No Hate Speech Movement kommen über Computerkriminalität ist das einzige bindende Das Projekt wurde 2013 durch den Europarat initiiert internationale Instrument zu diesem Thema. Es dient allen und ist eine internationale Kampagne gegen Hate Staaten als Richtlinie zur Entwicklung umfassender natio- Speech im Netz mit besonderen Fokus auf die sozialen naler Gesetze gegen Computerkriminalität und als Rahmen Netzwerke. Das Hauptziel für die internationale Kooperation zwischen Staaten, die ist es, die Auswirkungen von Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind. Das Zusatz- Hate Speech aufzuzeigen, protokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität Betroffene zu empowern und betreffend die Kriminalisierung rassistischer und fremden- ihnen Solidarität und Hilfe feindlicher Handlungen mittels Computersystemen (2003) zukommen zu lassen. ist ein optionales Protokoll, das staatliche Vertragspartner des Übereinkommens unterzeichnen können. Es definiert „rassistisches und fremdenfeindliches Material“ als „jedes schriftliche Material, jedes Bild oder jede andere Darstellung von Ideen oder Theorien, das Hass, Diskriminierung oder Ge- www.tinyurl.com/y5pdg4yh

142 Projektbeschreibung

WERTE LEBEN — ­ONLINE

Hassrede und Verleumdungen kommen in den Sozialen Zusätzlich werden noch Webinare und themengebundene Medien immer wieder vor. Das verunsichert gerade junge Chat-Aktionen für Schulklassen und für die außerschulische Menschen und weckt bei ihnen ein starkes Bedürfnis nach Jugendarbeit angeboten. Schutz und Aufklärung. Das Peer-to-Peer Projekt „WERTE LEBEN — ONLINE“ will Trägerbeschreibung: durch Vermittlung von Werten und Normen Jugendliche für einen respektvollen Umgang in der Onlinekommunikation Projektträger: JUUUPORT e.V. gewinnen. Im Mittelpunkt stehen dabei präventive Maßnah- Ist ein gemeinnütziger Verein, der junge Menschen men, die aufklären und sensibilisieren. Wichtigstes Ziel da- bei Problemen im Web unterstützt und sich für einen bei ist ein Bewusstsein für eigenverantwortliches Onlinever- respektvollen Umgang in der Onlinekommunikation halten zu schaffen sowie die Eigeninitiative für Respekt und einsetzt. Jugendliche aus ganz Deutschland engagie- Toleranz im Netz zu fördern. ren sich ehrenamtlich in ihren Projekten. Um das auch glaubhaft umsetzen zu können, erfolgt die Ver- mittlung auf Basis des Peer-Education-Ansatzes. Jugend- liche und junge Erwachsene (16 bis 23 Jahre), im Projekt Scouts genannt, werden in Workshops zu Themen wie Hass, Intoleranz und Cybermobbing geschult. Diese Projektinhal- te sollen sie dann als Multiplikator_innen an Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren weitergeben. Die Zielgruppe wird durch selbst entwickelte Social-Me- dia-Kampagnen der Scouts, die die Wertevermittlung zum Thema haben und die auf populären Onlineplattformen ge- www.werteleben.online postet werden, erreicht. Neben der Vermittlung werden die Jugendlichen auch zu Mitmachaktionen animiert.

das nettz

Hate Speech im Netz ist zu einem gesellschaftlich breiten und dringlichen Thema avanciert. Beleidigungen und Dro- Trägerbeschreibung: hungen werden im Netz sehr konkret geäußert, mit dem Ziel Projektträger: gut.org gAG die Adressat_innen einzuschüchtern. Die gut.org gAG ist ein Sozialunternehmen. Es betreibt Damit dieser Entwicklung etwas entgegengesetzt wird, wur- unter anderem die Spendenplattform betterplace.org. de „DAS NETTZ“ ins Leben gerufen, das als eine Art Vernet- Das Unternehmen veranstaltet Workshops und zungs- und Verbreitungsstelle gegen Hate Speech fungieren Tutorials in denen sie ihr Wissen zum Thema Online- soll. „DAS NETTZ“ hat das Ziel Akteur_innen zu vernetzen, Fund­raising an Organisationen weitergibt. Zudem zu unterstützen und aufzubauen, um eine positive Debat- gehört zur gut.org auch das betterplace lab, das an der ten- und Meinungskultur im Netz zu etablieren. Es verfolgt Schnittstelle von sozial und digital forscht. Hier wird dabei einen partizipativen Ansatz und bildet den organisa- überlegt, wie man mit dem Internet noch mehr und torischen Rahmen, in dem die inhaltlichen Impulse und För- noch effektiver Gutes tun kann. derbedürfnisse der Zielgruppe aufgegriffen und bearbeitet werden können. „DAS NETTZ“ macht Wissen zum Thema transparent und leicht auffindbar, ermöglicht Erfahrungsaustausch und stellt Ressourcen für die operative Arbeit der Aktivist_innen und Organisationen der Community bereit. Dabei fördert das NETTZ auch innovative Arbeit durch z. B. einen Förderwett- bewerb, der den Akteur_innen den ersten Baustein für eine Verbesserung ihrer Ressourcen im Engagementfeld liefert und es richtet eine jährlich stattfindende Community-Veran- www.das-nettz.de staltung aus, die das Gemeinschaftsgefühl stärken und dazu beitragen soll, gemeinsam neue Ideen zu entwickeln.

143 Übungen und Hilfen

VORBEREITUNG Kurzbeschreibung: ƒƒ Für jede Arbeitsgruppe werden 4 Bögen Flipchart-­ Das Handbuch unterstützt Papier zusammengeklebt. Pädagog_innen, das ƒƒ Jede Gruppe erhält Filzstifte, Klebstoff, Scheren und Problem „Hate Speech“ im die Exemplare einer der ausgewählten Nachrichten- Internet adäquat mit Ju- publikationen. gendlichen zu behandeln. ƒƒ Jede Gruppe erhält eine Kopie der Checkliste auf Es erhebt dabei nicht den Seite 145. Anspruch, einen für alle Formen gültigen Lösungs- ansatz zu präsentieren, ANLEITUNG sondern „Hate Speech“ als 1. Fragen Sie die Gruppe, was sie unter den folgenden Be- Symptom für ein tieferlie- griffen versteht: Stereotyp, Rassismus, Diskriminie- gendes gesellschaftliches rung Problem zu betrachten und 2. Erklären Sie die Begriffe kurz und betonen Sie folgende darauf aufbauend, entspre- Punkte: chende Handlungsoptionen aufzuzeigen. • Pauschalurteile über Gruppen von Menschen (Stereoty- pe) treffen nur äußerst selten auf alle zu! Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech • Wenn solche Pauschalurteile allgemein anerkannt wer- im Internet durch Menschenrechtsbildung den, dienen sie häufig der Rechtfertigung von Diskrimi- (S. 129–138) nierung, Viktimisierung, Beleidigung und Schlimmerem. (Europarat/Neue Deutsche Medienmacher e.V.) 3. Bitten Sie die TeilnehmerInnen, bestimmte Gruppen zu nennen, die ungerechten Stereotypen ausgeliefert oder GESCHICHTEN, DIE SIE ERZÄHLEN oft die Zielscheibe von diskriminierenden Handlungen, Drohungen oder Hate Speech sind. Erklären Sie, dass die Die TeilnehmerInnen arbeiten in Kleingruppen, um eine Aktivität sich damit beschäftigen wird, wie die Medien Nachrichtenpublikation zu analysieren, wobei sie sich auf Menschen mit Migrationshintergrund darstellen. die Darstellung von Menschen mit Migrationshintergrund und Migration konzentrieren. Die Ergebnisse werden als 4. Zeigen Sie den TeilnehmerInnen die ausgewählten Publi- Collage präsentiert. kationen, die sie in Kleingruppen analysieren sollen. Sie sollen darüber nachdenken, ob die unterschiedlichen Me- THEMEN dien Menschen mit Migrationshintergrund … Rassismus und Diskriminierung, Menschenrechte, freie • in einem allgemein eher positiven Licht, Meinungsäußerung • in einem allgemein eher negativen Licht oder SCHWIERIGKEITSGRAD Stufe 2 • neutral darstellen. GRUPPENGRÖSSE 20 bis 25 Personen 5. Gehen Sie die Checkliste (Seite 145) durch und stellen DAUER 60 Minuten Sie sicher, dass die TeilnehmerInnen verstanden haben, ZIELE worauf sie bei der Analyse achten sollen. Ermutigen Sie ƒƒ Berichterstattung über Menschen mit Migrationshin- sie dazu, auch andere relevante Informationen einzube- tergrund in Printmedien analysieren und ihren Ein- ziehen! fluss auf die Gesellschaft diskutieren 6. Die Gruppe wird in Kleingruppen zu 5 bis 6 Personen ein- ƒƒ Weniger offensichtliche Formen von Rassismus iden- geteilt, jede Gruppe erhält 2 bis 3 Exemplare derselben tifizieren, etwa „versteckte“ Botschaften, selektive Zeitung, den großen Bogen Flipchart-Papier und Stifte, Berichte oder die Verwendung von Bildern, und Aus- Klebstoff, Scheren usw. Erklären Sie, dass sie die Check- einandersetzung damit, wie sie Hate Speech fördern liste zur Identifikation von möglicher Voreingenommen- ƒƒ „Positive“ Geschichten über Menschen mit Migrati- heit verwenden und die Ergebnisse ihrer Analyse als onshintergrund und Zuwanderung diskutieren und Collage präsentieren sollen. Sie sollen die Zeitungen zer- recherchieren schneiden, kommentieren und mit eigenen Bildern oder MATERIAL Texten ergänzen. Erklären Sie, dass die Collagen am Ende ƒƒ Jeweils ca. drei Exemplare von fünf verschiedenen der Übung ausgestellt werden. Zeitungen/Zeitschriften (je nach Gruppengröße) 7. Wenn die Gruppen fertig sind, werden die Poster aufge- ƒƒ Mehrere Bögen Flipchart hängt und jede Gruppe hat Zeit, sich die Ergebnisse der ƒƒ Filzstifte, Klebstoff, Scheren anderen Gruppen anzusehen. Danach beginnt die ge- ƒƒ Reichlich Platz für vier bis fünf Gruppen für die Ar- meinsame Nachbereitung. beit an einer großen Collage ƒƒ Internetzugang (optional)

144 Übungen und Hilfen

NACHBEREITUNG raum von 5 Tagen, um die Menge an möglichem Material zu beschränken. Ein ähnlicher Ansatz könnte auch für Fern- ƒƒ Fragen Sie die TeilnehmerInnen nach ihren allgemeinen sehnachrichten verwendet werden. Eindrücken: Fanden sie die Aktivität sinnvoll/überra- schend? Was ist ihr allgemeiner Eindruck zur Bericht- WEITERE AKTIVITÄTEN erstattung über Menschen mit Migrationshintergrund in den Medien? Finden sie diese Darstellung fair? Unterstützen Sie die TeilnehmerInnen dabei, eine Website ƒƒ Wenn die Gruppen das in ihren Collagen nicht angespro- oder ein Social-Media-Profil mit positiven Geschichten über chen haben, fragen Sie, welche Art von „guten Nachrich- ZuwanderInnen einzurichten. Sie könnten über einige Zu- ten“ man verwenden könnte, um einen anderen Blickwin- wanderInnen-Communitys in ihrem Ort recherchieren, sich kel zu bieten. Gab es zum Beispiel positive Nachrichten die Zustände in den Herkunftsländern oder –regionen, eini- über Menschen ohne Migrationshintergrund? ge der Gründe für Migration und Alltagsgeschichten über ƒƒ Warum sind Menschen mit Migrationshintergrund nach ZuwanderInnen ansehen, die in einem neuen Land leben. Meinung der TeilnehmerInnen in Ländern auf der ganzen Schicken Sie den Link der Website an JournalistInnen von Welt das Ziel von Diskriminierung, Beschimpfung und Zeitungen, die bearbeitet wurden, und teilen Sie ihnen mit, Hate Speech? dass die Website von dem negativen Bild inspiriert wurde, ƒƒ Wie stark ist die Rolle der Medien bei der Verstärkung das in ihrer Publikation verbreitet wird! von negativen Stereotypen? Wenn Internetzugang vorhanden ist, könnten Sie sich über- ƒƒ Sind die TeilnehmerInnen im Internet auf ähnliche Vorur- legen, die größten Nachrichten-Websites anzusehen und die teile oder intolerante Einstellungen gestoßen? Bitten Sie Übung direkt online durchzuführen. In diesem Fall können um Beispiele. Sie auch die Frage von Online-Foren zu Online-Artikeln auf- ƒƒ Wie wirkt sich eine Kultur, in der sie für viele gesellschaft- werfen, in denen UserInnen Kommentare abgeben können. liche Probleme „verantwortlich“ gemacht werden, wohl Diese Kommentare sind manchmal rassistisch. In diesem auf die ZuwanderInnen selbst, ihre Familien und Kinder Fall können Sie mit der Gruppe diskutieren, ob und unter aus? Was bedeutet das umgekehrt für Hate Speech ge- welchen Bedingungen solche Foren akzeptabel sind. genüber ZuwanderInnen? Sie können die Übung auch variieren, indem Sie die Gruppe, ƒƒ Gibt es etwas, das Jugendliche tun können, um eine po- sitivere Sicht auf ZuwanderInnen zu fördern? Kennen sie auf die sie sich bezieht, ihrem Arbeitskontext anpassen. Websites und Seiten mit positiven Nachrichten über Zu- wanderInnen? Handouts CHECKLISTE FÜR GRUPPEN MODERATIONSTIPPS Gibt es Fotos/Bilder, die Menschen mit Migrationshinter- ƒƒ Versuchen Sie, Zeitungen und Zeitschriften zu wählen, die grund darstellen? eine gute Auswahl an politischen/kulturellen Ansichten ƒƒ Sind darunter „positive“? repräsentieren. Es ist wahrscheinlich, dass sogar diejeni- ƒƒ Gibt es „negative“? gen, die ZuwanderInnen am positivsten gegenüberstehen, nicht versuchen, starke negative Emotionen in der Gesell- Wie viele Geschichten über Menschen mit Migrationshinter- schaft zu hinterfragen oder ein Gegengewicht dazu zu bil- grund enthält die Zeitung? den, etwa durch Berichte mit „guten Nachrichten“ über ƒƒ Gibt es irgendwelche „gute Nachrichten“, in denen Men- ZuwanderInnengruppen oder einzelne ZuwanderInnen. schen mit Migrationshintergrund in einem positiven Licht gezeigt werden? ƒƒ Es ist wahrscheinlich, dass viele in der Gruppe die ne- gativen Haltungen teilen, die in den Publikationen zum ƒƒ Gibt es negative Geschichten? Tragen kommen, und das Gefühl haben, diese Haltungen Welche Wörter benutzt eure Zeitung, um (egal welche) Men- seien berechtigt. Ermutigen sie die TeilnehmerInnen, ihre schen mit Migrationshintergrund zu beschreiben? eigenen Meinungen zu äußern, damit sie in der Gruppe ƒƒ Sind sie hauptsächlich positiv, hauptsächlich negativ besprochen werden können. Sie könnten es hilfreich fin- oder hauptsächlich neutral? den, im Vorhinein einige „gute Nachrichten“ zu recher- Gibt es offen rassistische Aussagen? chieren, die in den Publikationen vorkommen hätten kön- ƒƒ Wenn ja, werden sie von Persönlichkeiten des öffent- nen, oder sich die Bedingungen näher anzusehen, die in lichen Lebens getätigt oder sind sie die „Meinung“ des den Ländern herrschen, aus denen die ZuwanderInnen Journalisten/der Journalistin? kommen. Fordern Sie die Gruppe zum Beispiel auf sich vorzustellen, sie wären Jugendliche im Irak oder in Syri- Wie würdest du dich fühlen, wenn du ein Mensch mit Migrati- en, wo der Krieg den Großteil des Landes verwüstet hat. onshintergrund wärest und diese Zeitung liest? Würdest du die Berichte kommentieren oder verändern wollen? VARIANTEN HATE SPEECH VERSTEHEN Statt Printmedien könnten die TeilnehmerInnen auch eine Untersuchung von Online-Newsportalen durchführen. Es Die TeilnehmerInnen beschäftigen sich mit Beispielen von könnte notwendig sein, bestimmte Seiten vorzuschlagen, Hate Speech und diskutieren mögliche Folgen für Einzelne zum Beispiel die Analyse der Startseite über einen Zeit- und die Gesellschaft

145 Übungen und Hilfen

NACHBEREITUNG THEMEN Menschenrechte, Rassismus und Diskriminierung Gehen Sie die Beispiele nacheinander durch und bitten Sie SCHWIERIGKEITSGRAD Stufe 2 um die Antworten der Kleingruppen. Notieren Sie die Ant- worten auf die Fragen auf einem Flipchart. Wenn die Klein- GRUPPENGRÖSSE 10 bis 25 Personen gruppen ähnliche Antworten geben, wird das markiert, in- DAUER 60 Minuten dem die erste Antwort unterstrichen oder mit einer Zahl ZIELE versehen wird, um deutlich zu machen, dass mehr als eine ƒƒ Unterschiedliche Formen von Hate Speech im Inter- Gruppe zum gleichen Schluss gelangt ist. Nachdem alle net und ihre Folgen für ihre Opfer und die Gesell- Gruppen ihre Ergebnisse präsentiert haben, werden die schaft verstehen beiden Flipchart-Bögen besprochen. Die folgenden Fragen ƒƒ Mögliche Reaktionen auf Hate Speech im Internet dienen der Reflexion der Aktivität mit der ganzen Gruppe: analysieren ƒƒ Was haltet ihr von der Aktivität? Was waren eure Gefühle bezüglich des analysierten Beispiels? MATERIAL ƒƒ Kopien der Beispiele von Hate Speech ƒƒ Was waren die am häufigsten von den Gruppen genann- ƒƒ Papier und Stifte ten Folgen von Hate Speech? ƒƒ Flipchart ƒƒ Hatten die Zielgruppen von Hate Speech in den Beispie- len irgendetwas gemeinsam? VORBEREITUNG ƒƒ Kopieren der Beispiele von Hate Speech ƒƒ Gab es unabhängig von der Zielgruppe der Hate Speech ƒƒ Vorbereitung von zwei Flipchart-Bögen mit den Ähnlichkeiten bezüglich der Folgen? Überschriften „Folgen für Opfer“ und „Folgen für die ƒƒ Was könnten die Folgen sein, wenn sich solche Verhal- Gesellschaft“ tensweisen im Internet verbreiten und niemand etwas gegen dieses Problem unternimmt? ANLEITUNG ƒƒ Welche Werkzeuge oder Methoden fallen euch ein, um gegen Hate Speech im Internet vorzugehen? 1. Fragen Sie die TeilnehmerInnen, was sie unter Hate Speech im Internet verstehen. Fragen Sie, ob jemand ƒƒ Was können wir tun, wenn wir im Internet auf solche Bei- im Internet bereits auf Hate Speech gestoßen ist, sei es spiele stoßen? gegenüber einer Einzelperson oder gegenüber Angehö- MODERATIONSTIPPS rigen bestimmter Gruppen (zum Beispiel Homosexuelle, Schwarze, MuslimInnen, Jüdinnen und Juden, Frauen ƒƒ Weitere Informationen über die Kampagne gegen Hate etc.). Was empfinden die TeilnehmerInnen, wenn sie da- Speech im Internet finden sich auf der Kampagnenweb­ rauf stoßen? Wie müssen sich die Opfer ihrer Meinung site (www.coe.int/en/web/no-hate-campaign oder https:// nach fühlen? no-hate-speech.de/). Erklären Sie, dass der Begriff „Hate Speech“ für ein brei- ƒƒ Weitere Informationen über Menschenrechte im Inter- tes Spektrum an Inhalten gebraucht wird: net entnehmen die TeilnehmerInnen auch dem Leitfaden Menschenrechte für InternetnutzerInnen. • Zunächst deckt er sehr viel mehr ab als „Rede“ im herkömmlichen Sinne und kann in Bezug auf andere Kommunikationsformen wie Videos, Bilder, Musik usw. VARIANTEN gebraucht werden. Wenn es die Zeit erlaubt, können die TeilnehmerInnen auf- • Zweitens kann der Begriff gebraucht werden, um ex­ gefordert werden, Solidaritätsbotschaften an die von Hate trem ausfälliges und sogar bedrohliches Verhalten zu Speech betroffenen Opfer zu entwickeln. beschreiben, ebenso wie Kommentare, die „nur“ belei- Sie können die Fallstudien benutzen, um auch die Verbin- digend sind. dungen zwischen Hate Speech und freier Meinungsäu- 2. Erklären Sie den TeilnehmerInnen, dass sie einige echte ßerung zu betrachten. In diesem Fall könnten Sie mit den Beispiele von Hate Speech im Internet analysieren wer- TeilnehmerInnen die Einschränkungen (oder ihr Fehlen) den, wobei besonderes Augenmerk auf ihre Auswirkun- diskutieren, die in den einzelnen Fällen angewandt werden gen auf die Opfer selbst und auf die Gesellschaft gelegt könnten. wird. WEITERE AKTIVITÄTEN 3. Die Gruppe wird in Kleingruppen eingeteilt. Jede Klein- Fordern Sie die TeilnehmerInnen auf, sich die No-Hate-­ gruppe erhält ein Beispiel von Hate Speech im Internet Speech-Bewegung anzusehen und ihr beizutreten, um zu aus den Fallstudien (Seite 147 und 148). zeigen, dass sie gegen Hate Speech im Internet sind. Sie 4. Die Kleingruppen sollen den jeweiligen Fall diskutieren können die Website der Kampagne nutzen, um Stellungnah- und die Fragen beantworten. Dafür stehen 15 Minuten zur men über die Folgen von Hate Speech und die Notwendigkeit Verfügung. zu teilen, solidarisch mit den Opfern dagegen aufzutreten.

146 Übungen und Hilfen

Sollten die TeilnehmerInnen im Internet auf Beispiele von ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? Hate Speech gestoßen sein, melden Sie diese an Hate Spe- Welche Folgen hat Hate Speech für sie? ech Watch auf der Kampagnenseite und diskutieren Sie ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für diese Beispiele mit anderen UserInnen. Sie können auch die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- gemeinsam mit den TeilnehmerInnen auf Hate Speech pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für Watch browsen und die von anderen UserInnen geposteten die Gesellschaft im Allgemeinen aus? Beispiele diskutieren. Die TeilnehmerInnen könnten für ihre Schule oder ihr Jugendzentrum eine „Charta“ gegen Hate Beispiel 4: Speech im Internet entwickeln. An ihrer Schule könnten sie Im Internet wird eine Kampagne organisiert, die unterstellt, auch einen Tag gegen Hate Speech organisieren und an die dass die Wirtschaftskrise im Land die Schuld von Zuwande- Feierlichkeiten anlässlich der Erklärung der Menschenrech- rInnen und Geflüchteten ist. Posts beginnen in den sozialen te ankoppeln, um Bewusstsein für dieses Problem zu schaf- Netzwerken zu zirkulieren: Fotos, die Geflüchtete als aggres- fen. Sie könnten am 21. März, dem Internationalen Tag ge- siv darstellen, Bilder mit Geflüchteten in erniedrigenden Si- gen Rassismus und Diskriminierung, Veranstaltungen gegen tuationen und Kommentare darüber, dass sie der lokalen Hate Speech im Internet organisieren. Bevölkerung die Jobs wegnehmen. Fehlinformationen ver- breiten sich über Social Media-Seiten, darunter auch falsche Handouts Statistiken, die zeigen sollen, dass Menschen mit Migrati- onshintergrund gewalttätig sind und Probleme verursachen. Beispiel 1: Ein junger Mann stellt eine riesige Fahne einer nationalis- ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? tischen Partei auf sein Profil in einem Sozialen Netzwerk Welche Folgen hat Hate Speech für sie? und postet Kommentare wie „Islam raus aus meinem Land ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für — Schützt unser Volk“. Er postet Fotos mit Halbmond und die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- Stern in einem Verbotsschild. Er verbreitet diese Informa- pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für tionen über Soziale Netzwerke und seine private Website. die Gesellschaft im Allgemeinen aus? ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? Beispiel 5: Welche Folgen hat Hate Speech für sie? Beleidigende Kommentare werden auf verschiedenen Nach- ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate Speech für richtenseiten gepostet, die behaupten, dass AusländerInnen die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- kein Recht haben, im Land zu leben. Einige Kommentare ru- pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für fen zu Gewalt gegen nicht-weiße AusländerInnen auf. die Gesellschaft im Allgemeinen aus? ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? Beispiel 2: Welche Folgen hat Hate Speech für sie? A. schreibt eine Publikation, in der er nicht nur zeigt, dass ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate Speech für der Holocaust „nie stattgefunden hat“, sondern auch belei- die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- digende und rassistische Bemerkungen über Jüdinnen und pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für Juden macht. A. teilt die Publikation in seinem persönlichen die Gesellschaft im Allgemeinen aus? Blog und auf mehreren judenfeindlichen Websites. A. stellt die Inhalte auch auf Online-Wikis und stellt sie als „wissen- Beispiel 6: schaftliche Information“ über den Holocaust dar. Videos tauchen im Internet auf, die nahelegen, dass LGBT-Menschen „abartig“ und „krank“ sind und von der Ge- ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? sellschaft ferngehalten werden sollten, weil sie Traditionen Welche Folgen hat Hate Speech für sie? zerstören und den Fortbestand der Nation gefährden. Die ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für Videos berufen sich auf „wissenschaftliche Forschungen“, die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- die Literatur wird jedoch oft falsch oder selektiv zitiert. Ei- pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für nige der Videos zeigen Bilder von LGBT-Familien mit ihren die Gesellschaft im Allgemeinen aus? Kindern. Beispiel 3: ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? Ein Artikel eines führenden Journalisten einer Zeitung, die Welche Folgen hat Hate Speech für sie? der größten politischen Partei nahesteht, nennt Angehörige ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für der Rom(nj)a-Minderheit „Tiere“ und ruft zu ihrer Beseiti- die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- gung mit allen Mitteln auf. Im Forum der Online-Version der pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für Zeitung werden viele Kommentare abgegeben, die den Äu- die Gesellschaft im Allgemeinen aus? ßerungen des Journalisten zustimmen. Beispiel 7: Die Zeitung gibt bezüglich dieser Äußerungen weder eine Ein Fußballspiel wird wegen Beleidigungen und Sprechchö- Erklärung noch eine Entschuldigung ab. Andere Artikel er- ren von Fans gegen einen der Spieler unterbrochen, der als scheinen im Internet, die dieselbe Position vertreten und ei- „schwarz“ betrachtet wird. Ein Video der Sprechchöre und nen ähnlichen Ton anschlagen, und immer mehr Menschen der Spielunterbrechung geht online und wird vielfach ge- geben dazu im Forum Kommentare ab.

147 Übungen und Hilfen

teilt. Rassistische Kommentare werden auf mehreren Web- Beispiel 11: sites wiederholt. Als Beschwerde erhoben wird, behaupten Musik mit nationalistischem Inhalt wird über eine On- mehrere Personen, die diesen Kommentaren zustimmen, sie line-Musikplattform verbreitet. Einige Songs werden von seien Zensuropfer. Mitgliedern zweier ethnischer Gemeinschaften gepostet, die in der Vergangenheit einen gewalttätigen Konflikt ausgetra- ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? gen haben. Die Songs befürworten häufig Gewalt gegenüber Welche Folgen hat Hate Speech für sie? Menschen der jeweils anderen ethnischen Gruppe. ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für Welche Folgen hat Hate Speech für sie? die Gesellschaft im Allgemeinen aus? ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- Beispiel 8: pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für Im Internet zirkuliert seit einiger Zeit eine Jeans-Werbung. die Gesellschaft im Allgemeinen aus? Sie zeigt eine Szene, in der eine Frau von Männern umringt ist. Die Szene hat sexuelle Implikationen, der allgemeine Eindruck ist jedoch der von sexueller Gewalt und Vergewal- tigung. In einem Land beschweren sich mehrere Organisati- Hrsg.: Europarat/Neue deutsche Medienmacher­ e.V. onen. Die Internetberichterstattung über den Fall zieht eine (NDM) koordinieren das No Hate Speech Movement Menge Kommentare auf sich, von denen viele die Vorstel- in Deutschland, das für die Übersetzung auf Deutsch lung bekräftigen, dass Frauen Spielzeuge für Männer sind, verantwortlich ist. denen gegenüber Gewalt erlaubt ist. Dem Europarat gehören 47 europäische Staaten an. In ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? seinem Rahmen werden völkerrechtlich verbindliche Welche Folgen hat Hate Speech für sie? Abkommen abgeschlossen, die der Wahrung der demo- kratischen Sicherheit dienen, zum Beispiel der Einsatz ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für für die Menschenrechte, die Sicherung demokratischer die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- Grundsätze, die Förderung des wirtschaftlichen und pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für sozialen Fortschritts etc. die Gesellschaft im Allgemeinen aus? Die NDM sind ein bundesweiter unabhängiger Beispiel 9: Zusammenschluss­ von Journalist*innen mit und ohne Ein Politiker beschuldigt MuslimInnen, sie seien die Haupt­ Migrationsgeschichte. Das Netzwerk versteht sich ursache von Verbrechen gegen weiße Mädchen. Er beruft als Interessenvertretung­ für Medienschaffende mit sich darauf, dass das „allgemein bekannt“ sei und liefert ei- Migrationsgeschichte und tritt für eine ausgewogene nige „anschauliche Beispiele“. Das Video, das im Artikel ver- Berichterstattung­ ein, die das Einwanderungsland linkt ist, zieht viele Kommentare auf sich, von denen einige Deutschland adäquat wiedergibt. rassistisch und aggressiv sind. Die Rede wird von anderen Projekt: No Hate Speech Movement zitiert, die diese Ansichten teilen, und als seriöse und fun- dierte Meinung präsentiert. Das Projekt wurde 2013 durch den Europarat initiiert und ist eine internationale Kampagne gegen Hate ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? Speech im Netz mit besonderen Fokus auf die sozialen Welche Folgen hat Hate Speech für sie? Netzwerke. Das Hauptziel ist es, die Auswirkungen von ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate ­Speech für Hate Speech aufzuzeigen, Betroffene zu empowern die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- und ihnen Solidarität und Hilfe zukommen zu lassen. pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für die Gesellschaft im Allgemeinen aus? Beispiel 10: Videos über den vergangenen gewalttätigen Konflikt zwi- schen zwei Ländern bleiben auf einem Videokanal online. Viele rassistische Kommentare gegen Menschen in einem der Länder werden gepostet. Rassismus und Beleidigungen zwischen den VertreterInnen der beiden Gemeinschaften ziehen sich über lange Zeit hin. www.tinyurl.com/y5pdg4yh ƒƒ Wer sind in diesem Beispiel die Opfer von Hate Speech? Welche Folgen hat Hate Speech für sie? ƒƒ Welche Folgen kann dieses Beispiel von Hate Speech für die Menschen haben, die sich mit den betroffenen Grup- pen identifizieren? Und wie sieht es mit den Folgen für die Gesellschaft im Allgemeinen aus?

148 Weitere Vorschläge aus der Vielfalt-Mediathek

Digitaler Hass

Titel: Vernetzter Hass — Wie Rechtsextreme Titel: bildmachen. Jugendliche gegen im Social Web Jugendliche umwerben ­islamis­tische Inhalte in Sozialen Medien Autor_innen: Beyersdörfer, Alexandre u. a. stärken. Workshops für Jugendliche und Fortbildungen für Fachkräfte mit An­ Hrsg.: jugendschutz.net sätzen aus Medienpädagogik, politischer Bildung und Prävention Hrsg.: ufuq.de

www.tinyurl.com/yxk5prko

Titel: Hate Speech und Fake News. www.tinyurl.com/y4qedgks Fragen und Antworten

Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung Titel: Digital Streetwork. Pädagogische Inter- ventionen im Web 2.0 Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung

www.tinyurl.com/y4h8bmk7

Titel: Leitfaden für Journalist*innen im www.tinyurl.com/y8q8dbkt ­Umgang mit Hate Speech im Netz Hrsg.: Neue deutsche Medienmacher*innen/ Titel: Digitale Medien und politisch-weltan- Koordination des No Hate Speech schaulicher Extremismus im Jugend­ ­Movement Deutschland alter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis www.tinyurl.com/y6gbnbj3 Hrsg.: Hering, Maruta/Hohenstein, Sally/­ Deutsches Jugendinstitut (DJI)

www.tinyurl.com/yy7ogo5c

149 ?! !!! ? !!

www.vielfalt-mediathek.de