Werbeseite

Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 27. März 2000 Betr.: Mehdorn, Coca-Cola, SPIEGELreporter er Fahrgast, der frühmorgens, kurz nach 6.30 Uhr auf der Zugfahrt von Dnach ein Frühstücksrührei mit Speck verzehrte, zeigte dem Kontrolleur sei- ne Netzkarte, doch das reichte dem Zugbegleiter nicht: Er wollte auch noch die Rück- seite sehen, wo vermerkt ist, ob der Kartenbesitzer zur Nutzung des gesamten Streckennetzes berechtigt ist – Hartmut Mehdorn, 57, neuer Bahn-Chef, ist offenbar noch nicht allen Beschäftigten des Unternehmens bekannt. Auf der Reise in die Hauptstadt er- läuterte Mehdorn dem SPIE- GEL-Redakteur Armin Mahler, 45, seinen harten Sanierungs- kurs. Mahler verfasste zusam- men mit Redakteur Wolfgang Bittner, 58, die Titelgeschichte dieser Ausgabe. Bittner, der schon fünf Bahn-Chefs journa- listisch begleitete, sieht den Konzern in elender Verfassung: „Die Bahn ist leider zu einem Nischenprodukt verkommen“, aber „Mehdorn packt die Pro- K. B. KARWASZ bleme wenigstens an“ (Seite 22). Mahler, Mehdorn, Bittner

oca-Cola, noch immer ein Symbol des American Way of Life, wird weltweit so Cperfekt vermarktet wie kaum ein anderes Produkt. Und als energischer Marke- ting-Stratege bewährt sich auch der neue Chef des US-Getränkegiganten, Douglas Daft, 56. Im „Lindenzimmer“ des Berliner Hotels Adlon empfing der Australier die SPIE- GEL-Redakteure Klaus-Peter Kerbusk, 52, und Helmut Sorge, 57, zu seinem ersten In- terview in Europa, und noch ehe die Journalisten erste Fragen zur kritischen Lage des Cola-Imperiums stellen konnten, hatte Daft den Gesprächsort bereits in einen Show- room umrüsten und das Firmen-Logo wuchtig ins Blickfeld rücken lassen. Hinter ei- nem Sofa, dennoch gut sichtbar, stapelten Mitarbeiter fabrikneue Cola-Kisten, im Vor- raum wurde ein hochglanzpolierter Cola-Getränkeautomat installiert, den Beistelltisch zierte wie selbstverständlich ein Glas Coke (Seite 114).

weimal im Jahr, im März und Oktober, schicken die Top-Designer der Welt ihre ZModels über die Laufstege und lassen tausende Bilder auf die Konsumenten nie- derregnen. Schon bald stehen die Kunden dann in den Geschäften und tauschen Geld gegen Stoff und Stil. Wie das Geschäft mit dem Ge- schmack funktioniert, warum man nicht Kanzler sein muss, um der Mode zu verfallen, und weshalb Klei- dermultis wie H & M schneller kopieren, als Modema- cher wie Yves Saint Laurent oder Jil Sander entwerfen können, beschreibt die Titelgeschichte von SPIEGEL- reporter, dem Monatsmagazin für Reportage, Essay, In- terview. Außerdem im Heft: Cordt Schnibben über den Kuba-Kult, den die steinalten Musiker des „Buena Vista Social Club“ wieder anheizen, und ein Essay von Dirk Kurbjuweit über die „Ich-AG“ – warum sich die Bundesrepublik von einer Solidargemeinschaft in ein Volk von Aktionären verwandelt. SPIEGELreporter ist von Dienstag dieser Woche an im Handel.

Im Internet: www.spiegel.de 13/2000 3 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite In diesem Heft

Titel Lahm und teuer – Radikalkur für die Bahn...... 22 Interview mit Verkehrsminister Reinhard Klimmt über die Unruhe im Unter- Die digitale Bildungskatastrophe Seiten 40 bis 64 nehmen und seine Sanierungspläne ...... 26 Ist Deutschland fit für die Wie die Bahn in die Krise fuhr – und wie sie herauskommen könnte ...... 120 digitale Ära? Es mangelt an Private Firmen als Retter der Nebenstrecken?.... 124 Fachkräften, die Kanzler Gerhard Schröder nun aus Kommentar Indien importieren will. Doch : Die Grünen als Lemminge...... 30 die Fehler sind hausgemacht: Deutschland Politiker und Industrie unter- Panorama: EU-Kommission bremst Berlin / schätzten jahrelang den Be- Amerikaner mobbten Schröders Kandidat Köhler.. 17 schäftigungsboom durch die Grüne: Renate Künast kommt ...... 30 neuen Web-Jobs. Die Hoch- Fahndung: Wie Ex-Agentenchef Pfahls schulen haben die Ausbildung in Asien untertauchte...... 32 Korruption: Interview mit Ex-Elf-Aquitaine-Chef oft noch nicht an die neue Zeit Le Floch-Prigent über die Leuna-Raffinerie angepasst. An den Schulen und seine dubiose Provisionspolitik ...... 35 sind die überalterten Lehrkör-

Affären: Kohl ließ Großspenden vertuschen ...... 37 DPA per mit dem Computer-Un- CDU: Angela Merkels erster Patzer...... 38 Schröder, Kinder am Monitor terricht häufig überfordert. Die Karriere der JU-Chefin Hildegard Müller...... 72 Bildung: Verschlafen die deutschen Universitäten das Internet-Zeitalter? ...... 40 Maschinenbauer lernen um...... 50 Hightech-Unterricht in Gütersloh ...... 54 Chancen in der Bioinformatik...... 60 Die Kabinettsmitglieder und der Computer ...... 64 Wütende Bankkunden Seite 110 PDS: Gysi und Bisky sind amtsmüde...... 68 Arrogant schieben Deutsche und Dresdner Bank Kunden mit einem Vermögen Europa: Verdeckte Parteienfinanzierung ...... 78 Zeitgeschichte: Neue Eichmann-Akten...... 82 unter 200000 Mark zu ihrer Tochtergesellschaft Bank 24 ab. Die Einführung der Luftfahrt: Elektroschocks gegen Zwei-Klassen-Gesellschaft führt zu wütenden Protesten und Massenkündigungen. Herztod an Bord ...... 88 : Betrugsprozess gegen Ex-Spitzel Wolfgang Schnur...... 90 Wintersport: FKK-Loipe als Medien-Fake ...... 98 Beamte: Staatsdiener setzen sich in die Wirtschaft ab ...... 102 Jagd auf ein Phantom Seite 32 Wirtschaft Im Reich der tausend Inseln verliert sich die Spur: Trends: Arbeitsplatzabbau bei Opel? / Kohl- Zielfahnder des BKA glaubten den untergetauch- Spende stürzt WAZ-Verlag in Turbulenzen ...... 107 ten Ex-Rüstungsstaatssekretär Ludwig-Holger Geld: Lebensversicherungen mit horrenden Verwaltungsgebühren / Fondsmanager Pfahls zuletzt in Indonesien ausgemacht zu haben. Fickel über flaue Börsendebüts ...... 109 Der einstige Geheimdienstchef und CSU-Politiker, Großbanken: Arrogante Bankvorstände wollen wegen des Verdachts der Bestechlichkeit weltweit Zwei-Klassen-System einführen...... 110 zur Fahndung ausgeschrieben, narrt seine Verfol- Autoindustrie: Neue Chance für den Smart ...... 112 ger seit nunmehr neun Monaten nach allen Regeln VARIO-PRESS Getränkeindustrie: SPIEGEL-Gespräch mit der konspirativen Kunst. Pfahls dem neuen Coca-Cola-Chef Douglas N. Daft über das Missmanagement seines Vorgängers..... 114 Konzerne: AOL Europa wird amerikanisiert ...... 117 Dienstleistung: Mit Testdieben gegen den Kaufhausklau...... 118 Medien Die neue Lust an der Leistung Seite 162 Trends: Fußball-WM auf dem Handy / Frauen- quartett im ZDF ...... 129 Sie blicken mit gewachsener Fernsehen: US-Kultserie „Sopranos“ ohne Zuversicht in die Welt von Erfolg / Oldie-Invasion nach Ostern ...... 130 morgen, wenn auch ein wenig Vorschau...... 131 „angestrengt und bemüht“. Springer-Verlag: Flopserie im TV-Geschäft...... 132 Die neueste Shell-Jugendstu- Erotik-TV: Ausgenaddelt – Sexbombe wird neue „Peep“-Moderatorin ...... 136 die zeigt eine Generation, die Internet: Yahoo steigt zum auf persönliche Leistung setzt Medienunternehmen auf ...... 140 und von den Politikern nicht Digitales Buch: Stephen Kings neue viel erwartet. Vor allem die Erzählung und andere Internet-Premieren ...... 148 Grünen sind out. Zu den Gesellschaft Schattenseiten der Millen- Szene: Männliche Angst vor dem niums-Generation zählt hef- Frisuren-Fiasko / Autobahnkirchen senken tige Abwehrhaltung gegen Verkehrsrisiko...... 161 Fremde – vor allem im Osten, Jugend: Die Millenniums-Generation – C. + M. FRAGASSO C. + M. FRAGASSO wo kaum Ausländer leben, leistungsbereit und optimistisch...... 162 Jugendliche in Berlin Satire: Dummheit als Obszönität – sitzt die Feindschaft tief. eine schräge Jahrhundertbilanz ...... 172

6 der spiegel 13/2000 Ausland Panorama: EU-Gipfel stützt Hombach / Papst erntet Lob im Nahen Osten...... 179 Frankreich: Jospin in der Bredouille ...... 182 Grossbritannien: Wieder Verärgerung über die Krauts...... 186 Kuba: Interview mit Vizepräsident Carlos Lage über eine Zusammenarbeit mit Deutschland ...... 188 Kosovo-Krieg: Bittere Erkenntnisse am Jahrestag...... 194 Afrika: Hintergrund des Sekten-Selbstmords..... 196 USA: Vom Wahn der Zwangssterilisation...... 200 Südasien: Clinton wechselt die Freunde – von Pakistan zu Indien...... 202 Kriegsverbrechen: Vergewaltiger vor DPA Uno-Tribunal...... 208 Studentenprotest in Paris Japan: Protest gegen US-Basen auf Okinawa .... 212 Taiwan: Unabhängigkeit als Sprengsatz...... 220 Sierra Leone: Wie Kinder zu Soldaten werden...... 224 Frankreich: Jospin im Abschwung Seite 182 Wie Rebellenführer weltweit 300000 Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs verliert Premier Jospin dramatisch in Minderjährige als Kanonenfutter verheizten ...... 226 Meinungsumfragen, seine Reformpläne sind in Gefahr. Präsident Chirac macht Stim- Sport mung gegen ihn – er will dem Sozialisten den Weg in den Élysée-Palast verlegen. Fußball: Die Fehler der -Präsidenten Niebaum und Mayer-Vorfelder ...... 234 Eiskunstlaufen: Stefan Lindemann auf dem Sprung in die Weltklasse ...... 240 Kultur Körperkult der Selbstverstümmelung Seite 298 Szene: Turbulenzen im Rowohlt-Verlag / Bisher unbekannte Briefe von Hermann ...... 245 Sie lassen sich Muster auf den Architektur: Beliebte Neubauten im alten Stil... 248 Leib brennen oder blutige Film: „Sweet and Lowdown“ von Woody Allen .. 254 Narben in die Haut schnei- Autoren: Das Krimidebüt der schwedischen Journalistin Liza Marklund...... 260 den: Mit ihren qualvollen Ri- Interview mit Walter Kempowski über tualen wollen die Anhänger das Luftkrieg-Inferno ...... 264 der „Body Modification“ an Literatur: Ein Japaner mischt sein Land auf...... 268 die Traditionen von Natur- Bestseller ...... 270 völkern anknüpfen. Psycho- Pop: Die traurigen Lieder von Oscar-Kandidatin logen rätseln über den neuen Aimee Mann und ihrem Partner Michael Penn... 274 Theater: Triumph einer Toten...... 278 J. ROTMAN / TONY STONE / TONY ROTMAN J. Körperkult der Selbstver- FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL stümmelung. Indianerin mit Körperschmuck, gepiercte Frau Wissenschaft · Technik Prisma: Neue Theorie zum „Titanic“-Untergang / Leichter schwanger durch Gruppentherapie...... 281 Tiere: Wie der Hund auf den Menschen kam .... 284 Entschlüsselung des Fruchtfliegen-Genoms soll Krebskranken helfen...... 286 Hund zähmt Mensch Seite 284 Automobile: Pannen mit intelligenten Lkw ...... 290 Affären: Fahndung nach Fälschern im Labor ...... 292 Muss die Geschichte des Körperkult: Selbstverstümmeler ahmen Hundes neu geschrieben Rituale von Naturvölkern nach ...... 298 werden? Bei Erbgut-Analy- Mobilfunk: Pleite der Iridium-Handys ...... 302 sen kam heraus, dass die Vierbeiner sich vor 100 000 Briefe ...... 8 Jahren als raffinierte Sozial- Impressum ...... 14, 304 Leserservice...... 304 schmarotzer in das Vertrauen Chronik ...... 305 der Urmenschen eingeschli- Register ...... 306 chen haben. Die Entschlüs- Personalien ...... 308 selung des Hunde-Genoms Hohlspiegel/Rückspiegel...... 310

BOTZEK / ZEFA BOTZEK soll helfen, Erbkrankheiten Spielende Hunde bei Menschen zu heilen. Gipfelstürmer Ein Gespräch mit der „Harry Potter“-Erfinderin Joanne Horror aus dem Netz Seite 148 K. Rowling. Außerdem in kul- turSPIEGEL, dem Magazin 400000 Fans luden sich innerhalb von 24 Stunden eine neue Stephen-King-Erzählung für Abonnenten: Hollywoods aus dem Internet herunter – „ein Aha-Erlebnis für die ganze Branche“, kommentiert neue Helden und die Modefo- ein deutscher Verlagsleiter; wer jetzt nicht handelt, „muss später teuer dafür zahlen“. tos des Japaners Izima Kaoru.

der spiegel 13/2000 7 Briefe

mierung und Shareholder-Value die einzi- „Dass der arbeitende Mensch nur als Kostenfaktor gen Parameter sind, die in der Wirtschaft gesehen wird und meist zu teuer ist, daran haben noch interessieren. Auch wohlhabende Kunden sind in keiner Weise ausgerechnet wir uns ja schon gewöhnt, wenn auch schweren auf diese Hochpreisinstitute angewiesen. Herzens. Aber dass der denkende, fragende und Wenn Banken ein derart verkümmertes Sozialgewissen an den Tag legen, dann handelnde Mensch, im Bankenjargon Privatkunde werde ich jetzt jedenfalls meine Konse- genannt, nun auch als Kunde zu teuer oder lästig quenz ziehen und sämtliche dort geführten ist, sollte uns zu denken geben, und ein Aufschrei Geschäfts-, Privatkonten und auch treu- händerisch verwaltete Aktiendepots ab- müsste durch die Republik gehen.“ ziehen und zu einer Direktbank wechseln, zumal die Konditionen dort erheblich Jürgen Hengster aus Freiberg (Bayern) zum Titel „Unternehmen Größenwahn – Aktienfieber/Megafusionen/Internetboom“ günstiger sind. SPIEGEL-Titel 11/2000 Köln Thomas Ruppert

Bei dieser gigantischen Fusionsbewegung Mir scheint, dass es nicht völlig neue Regeln in Bankwesen, Industrie und Dienstleis- Monopoly mit Lebensgrundlagen sind, denen die Globalisierung unterliegt. tung erhebt sich bei mir die Frage, ob wir Nr.11/2000, Titel: Unternehmen Größenwahn – Aktienfieber/Megafusionen/Internetboom Im Prinzip geht es um Reichtum für die in der Zukunft Politiker für die Lenkung Anführer, Heilsversprechen für deren Ge- der Demokratie-Reste, die uns bleiben, Man stelle sich vor, eine Bank ist die größ- folge und geschürte Angst vor allen ande- tatsächlich brauchen. Oder wird es nicht so te der Welt, und keiner geht hin, weil sein, dass fusionierte aufgeklärte Kunden ihr Geld dort anlegen, Banken die Entschei- wo noch Bodenständigkeit, Orientierung dungsträger der Zu- an Sach- und Ertragswerten und soziale kunft sein werden? Verantwortung zur Unternehmenskultur Berlin Dr. J. Gálvez Q. zählen. Offenburg Dr. Dieter Schumacher Die Schwachstellen der so genannten New Man kann sich des Eindrucks nicht erweh- Economy zeigen Sie ren, Zeitzeuge wie letztlich auch Betrof- trefflich auf. Jedoch fener eines mit – in der Tat – geradezu überbewerten Sie die wahnhafter Verve betriebenen giganti- Bedeutung von Com- schen Experiments zu sein, in dem puris- putern und Software in tisch ausgeprägte Theorien, denen es an den USA. 1999 haben hinreichenden Parametern für Risiken und US-Firmen gerade mal Nebenwirkungen gebricht, bis in die letz- 1,1 Prozent des Brut- ten Konsequenzen realiter ausgelotet wer- tosozialprodukts für den sollen. Und zwar global – auf Gedeih Computer und 1,5

und Verderb. A. VARNHORN Prozent für Software Burghausen (Bayern) Martin P. Kreutzhuber Infineon-Promotion zum Börsengang: Gigantisches Experiment ausgegeben. Da Com- puter und Software Breuers 15 Prozent Return on Investment ren. So gesehen waren Julius Caesar, Alex- schneller abgeschrieben werden als ande- funktionieren leider nur durch ökologi- ander der Große, Napoleon, Hitler und Sta- re Investitionsgüter, lagen die gesamten schen und sozialen Raubbau im Weltmaß- lin auch schon „Global players“ und deren Nettoinvestitionen zwischen 1991 und 1998 stab. Die Global Players spielen also Mo- fanatische Anhänger „Shareholders“. im Durchschnitt bei 2,59 Prozent des Brut- nopoly mit unser aller Lebensgrundlagen. am Main Justus Gerhardt tosozialprodukts und damit deutlich nie- Ein baldiger Crash könnte vielleicht lin- driger als in allen vorherigen Wirtschafts- dernd wirken. Schalten wir also noch einen Die Rosinentaktik, nach der jetzt nur noch zyklen seit 1960. Mit geringen Nettoinves- Börsengang höher. vermögende Kunden hofiert werden sol- titionen bleibt der Anteil von Computern Feldkirchen-Westerham (Bayern) len, wird hoffentlich nicht aufgehen. Mit am Nettokapitalstock der US-Unterneh- Theo Schneider welcher kaltschnäuzigen Arroganz die Her- men auch niedrig, nämlich bei 1,7 Prozent ren Breuer und Walter ihren Kunden und 1997, dem letzten Jahr, für das Zahlen vor- Es zeigt sich, dass unsere heutige Gesell- unvorbereiteten Mitarbeitern gegenüber- handen sind. schaft der verdorbenen Form des Kapita- treten, zeigt doch nur, dass Gewinnmaxi- Washington Christian E. Weller lismus nachrennt, in der die Ausprägung der Ellenbogen-Mentalität uns mal wieder deutlich vor Augen geführt wird. Es ist für Vor 50 Jahren der spiegel vom 30. März 1950 die großen Manager nicht von Interesse, Schulung für Spione Westdeutsche Kommunisten auf Lehrgang in der wie viele ihrer Untertanen auf die Straße DDR. Adoption im Zwielicht Nachforschungen über eine Lebensborn- gesetzt werden, Hauptsache, der Share- Waise. Säuberung unter DDR-Journalisten Berichte über sowjetische holder-Value befriedigt die Aktionäre, Musterkuh statt über Rita Hayworth erwünscht. Eine weiße Königin für deren einziges Bedürfnis zu sein scheint, Bamangwato im Süden Afrikas? Mischehe sorgt für internationale durch krankhaftes Börsen-Gezocke mög- Turbulenzen. Frankokanadier machen Lilienbanner der Bourbonen zu ihrer Staatsflagge Wunsch nach eigenem Staat. Fliegende Untertassen lichst über Nacht reich zu werden. Die Fra- gesichtet Milde Form der Massenhysterie. ge stellt sich, wie lange sich diese Spirale Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de noch weiterdrehen kann. Titel: Die Schauspielerin Joana Maria Gorvin Königstein/Taunus Maik Schildhauer

8 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite fehl der Päpste. Das Hauptproblem aber ist das Beharren auf Vorherrschaft des römi- schen Bischofs und deren albernste Über- steigerung – die Unfehlbarkeit. Das eine ist unchristlich, das andere lächerlich; Jesus müsste ein Narr gewesen sein, wenn er der- gleichen ernsthaft erwogen hätte. Solange der Vatikan weiterhin beansprucht, seine Meinung anderen aufzwingen zu dürfen, sind Schuldbekenntnisse wie das von Jo- hannes Paul II. bloße Augenwischerei – nicht dumm, aber geheuchelt. Berlin Hanjo Lehmann

Der Essay von Karl-Josef Kuschel geht zu christlich mit der katholischen Amtskirche und dem Papst um, da er zumindest in An- sätzen unterstellt, dass die Kirche zu De- mut und Selbstkritik fähig ist. Ich habe meine Kindheit und Schulzeit nach dem

DPA Zweiten Weltkrieg im katholischen Ems- Papst Johannes Paul II. land verbracht und die Segnungen einer Großartiges Schauspiel im Petersdom katholischen Erziehung genossen. Lebhaft habe ich noch ein Ereignis in Erinnerung, Unchristlich und lächerlich das ich mit etwa zehn Jahren in einem Nr. 11/2000, SPIEGEL-Essay: „Erinnern ohne Nonnenkloster hatte. Nachdem wir das Erneuern?“ von Karl-Josef Kuschel Lied „Welten, die ihr waret verloren“ mit Inbrunst gesungen hatten und die Nonne Natürlich weiß jeder aufgeklärte Leser, danach fragte, was denn wohl damit ge- dass Päpste und Konzilien in den letzten meint sei, muss meine Antwort, dass auf 1600 Jahren vielfach geirrt oder gesündigt einem anderen Stern vielleicht auch noch haben. Die etwas abstrakten Sündenbe- Menschen sein könnten, sie so erschüttert kenntnisse, die der am Hirtenstab leiden- haben, dass sie mich einen „bösen Hei- de Papst Wojtyla während des großartigen denbuben“ nannte und in die Ecke stellte. Schauspiels im Petersdom abgegeben hat, So habe ich schon als Kind das Galilei- bestätigen nur unglaubliche Vergehen der Gefühl kennen gelernt. Catholica. Die Sünden sind so schrecklich, Augustfehn (Nieders.) Hermann Ocken dass man nach Meinung eines deutschen Gerichts sogar ungestraft behauptet darf, die katholische Kirche sei die größte Ver- Merkwürdige „Lagerzugehörigkeit“ brecherorganisation der Weltgeschichte. Nr. 11/2000, Kinder: Medienstreit um Findelbabys Rom wird auch kein bisschen weiser: Ge- radezu atemberaubend ist die These des Der Artikel über die Findelkinder hat mich Theologen L. Müller (Mitglied der Inter- sehr berührt, und ich muss sagen, dass die- nationalen Theologischen Kommission des se Initiative in Hamburg, die es ratlosen Vatikans), dass Päpste als „Stellvertreter Müttern erlaubt, ihr Kind anonym in frem- Christi“ zwar sündigen dürfen, die Heilig- de Obhut zu geben, eine starke Unterstüt- keit der Kirche gleichwohl nicht beschä- zung verdient. Das Problem ist nur, eine digt werde. Man kann natürlich auch be- möglichst breite Masse davon in Kenntnis haupten, es gäbe keine Chinesen. zu setzen. Außerdem wird dies leider nur Brühl (Nrdrh.-Westf.) Albrecht Gach in wenigen Großstädten Verbreitung fin- den – wenn überhaupt. Das kirchliche „mea culpa“ des Papstes ist Wolfenbüttel (Nieders.) Joern Ehrentraut zutiefst enttäuschend. Da legt eine Kirche ein Schuldbekenntnis ab, das sich gar nicht auf sie selbst bezieht, sondern nur auf „die Christen“ oder „einige Menschen“ oder „Glieder der Kirche“, während ihre päpst- lichen und bischöflichen Amtsträger – ausgestattet mit ungleich größerer Macht und Verantwortung – mit keinem Wort als Sünder benannt werden. Koblenz Hannelore Engels

Johannes Paul II. stellt die Sache so dar, als hätten am Rande der Kirche irgendwelche

„Christen bisweilen Methoden der Intole- SCHIMKUS / HAMBURGER MORGENPOST V. ranz zugelassen“. Dabei geschahen die Hamburger Babyklappe großen Verbrechen der Kirche alle auf Be- Starke Unterstützung verdient

12 der spiegel 13/2000 Briefe

Bevor das Christentum mit seinen sittli- chen Grundsätzen Verbreitung gefunden hatte, kannte man den Schutz des Neuge- borenen nicht. Erst nachdem Kaiser Kon- stantin im Jahr 325 den Kindsmord als strafbares Verbrechen erklärte, errichtete die katholische Kirche beziehungsweise ihre geistlichen Orden Findelhäuser mit „Babyklappe“, während in den protestan- tischen Ländern das Findelwesen wenig Unterstützung fand. Merkwürdig, wie sich diese „Lagerzugehörigkeit“ bis heute hält. Mohrkirch (Schlesw.-Holst.) Christoph Malter

Fast ein Schnäppchen Nr. 10/2000, Titel: Singles Auf einer Geschäftsreise entdeckte ich am 10. März im Duty-free-Shop von Dubai den SPIEGEL. So ein Flug ist lang, und da zögerte ich nicht, 33 Dirham, das sind um- gerechnet ungefähr 19 Mark, zu investieren – in Anbetracht der aufwendigen „Bear- beitung“ fast ein Schnäppchen. Haag (Bayern) Günter Strasser

Zensierter SPIEGEL-Titel aus Dubai Aufwendige „Bearbeitung“

Um der Wahrheit willen Nr. 10/2000, Leserbrief von Richard von Weizsäcker zu einem Augstein-Kommentar in Heft 9/2000

In seiner Antwort auf Augsteins Kommen- tar nimmt Richard von Weizsäcker daran Anstoß, dass Rudolf Augstein den Entlas- tungsversuch für seinen Nachfolger Jo- hannes Rau für „verquast“ hält. Aber wie anders sollte man Weizsäckers Feststellung nennen: „Er (Rau) hat gerade um der Wahrheit willen nachgeschoben, obwohl er wusste, dass es natürlich besser gewe- sen wäre, wenn er alles gleich auf einmal gewusst hätte.“ Dunkel war’s, der Mond schien helle … Hamburg Dr. Thomas A. Thiel der spiegel 13/2000 13 Briefe

sondern weltweit prakti- 10. Februar wurde Nothilfe aus unserem ziertes Recycling, in Etat zugesagt und schnell und unbürokra- Deutschland seit dem 19. tisch umgesetzt in Medikamente, Trink- Jahrhundert. Auch hier wasseraufbereitung, Maßnahmen zur Seu- gelten fortlaufend ver- chenvorbeugung und die Anmietung von schärfte Vorschriften. Ein- Kleinbussen, mit denen Menschen aus den deutig verboten sind die Katastrophengebieten evakuiert wurden. Beimischung von Klär- Berlin Bernd Dunnzlaff, Pressesprecher schlamm, von Transforma- Ministerium für wirtschaftliche torenöl, die Verbrennung Zusammenarbeit und Entwicklung von Plastikmüll bei der Futtertrocknung wie auch die Hormonmast. Die Auf- Ehrliche Bereitschaft deckung krimineller Prak- Nr. 11/2000, Reparationen: Muss Deutschland noch tiken ist eine Folge der einmal für den Zweiten Weltkrieg zahlen? konsequenten Arbeit der Überwachungsbehörden Der Erfolg eines Schadensausgleichs hängt der Länder und verdient immer auch entscheidend von dem Willen

G. FISCHER / BILDERBERG Anerkennung. der geschädigten Partei ab, eine Ersatz- Massenhaltung von Kälbern: EU-Agrarwahnsinn Berlin Sigrun Neuwerth leistung als solche zu akzeptieren und so die Pressesprecherin Wiederherstellung des Rechts tatsächlich Bundesministerium für Ernährung, anzuerkennen. Ohne diese Bereitschaft zur Jeder ekelt sich Landwirtschaft und Forsten Kooperation in einem rechtlich fundamen- Nr. 11/2000, Fleisch: Risikofaktor Tierfutter; talen Sinne gelingen weder Wiedergutma- Groteske EU-Agrarpolitik Dass Funke dem EU-Agrarwahnsinn ge- nauso ignorant gegenüberstehen würde Solange der Verbraucher immer weniger wie seine europakranken Vorgänger, war zu zahlen bereit ist und nicht nur der Sonn- mir klar. Dass aber die Grünen, die vor tagsbraten auf dem Tisch stehen muss, Jahren als angebliche Ökopartei angetreten sondern jeden Tag Fleisch und Wurst ge- waren, gegen diese Schweinerei nichts gessen wird, wird sich an den Methoden unternehmen und lieber im eigenen Saft der Tierfutterherstellung nicht viel ändern. schmoren, nehme ich ihnen übel. Jeder ekelt sich, aber beim nächsten Ein- Raubling (Bayern) Gunars Denavs kauf schaut man doch wieder auf Sonder- angebote, statt beim kleinen Metzger oder beim Bauern direkt einzukaufen. Einzige Als allererstes Land Frage, die bleibt: Sind die Betreiber der Nr. 11/2000, Mosambik: Verschlief der Westen Anlagen Vegetarier? die Katastrophe? Riegelsberg (Saarland) Doris Lechtenbörger „Tatsächlich hatten das Bundesministe- Seit 50 Jahren betreiben wir eine Flei- rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Demontage in München (1948) scherei, deren Konzept in der heutigen und das Auswärtige Amt erst Ende Fe- Globalisierung des Schadensausgleichs? Zeit antiquiert erscheinen mag. Es besteht bruar gut drei Millionen Mark für Hilfs- eine Wettbewerbsverzerrung zwischen maßnahmen in Mosambik bereitgestellt“, chung noch Reparationen oder Entschädi- Handwerksbetrieben und Schlachthöfen heißt es kritisch im SPIEGEL über die an- gungen für Zwangsarbeit oder Kriegsge- und Wurstfabriken. Hervorgerufen wird gebliche viel zu zögerliche Reaktion der fangenschaft. Der Schadensausgleich nach dies durch subventionierte Fleisch- und Bundesregierung auf die Überflutungska- Verletzungen des Völkerrechts sollte glo- Lebendtiertransporte, subventionierte tastrophe. Doch trotz des apodiktischen balisiert werden. Eine international besetz- Fleischberge in den Kühlhäusern, subven- Satzbeginns geht diese SPIEGEL-Aussage te Behörde würde sicher am ehesten ob- tionierte EU-Schlachthöfe. Der Hand- an den Tatsachen vorbei: Als allererstes jektiv und vermittelnd in der Lage sein, das werksbetrieb erhält keinen Pfennig Unter- Land hat Deutschland schon direkt nach Recht zwischen ehemaligen Kriegspartei- stützung für seine traditionelle Arbeit, im der ersten Flutwelle Nothilfe geleistet: Am en wiederherzustellen, und zwar durch Vor- Gegenteil, er wird mit überhöhten Ge- schläge zur Höhe und Verteilung von Er- bühren der Fleischbeschau und der satzleistungen, die dauerhaft gelten und nur Schlachtabfallentsorgung belastet. Lasst so den Rechtsfrieden begründen können. doch die Tiermehlproduzenten ihr Produkt VERANTWORTLICHER REDAKTEUR Hannover Dr. Dirk Mahne selber essen! dieser Ausgabe für Panorama, Grüne, CDU, Bildung, Europa, Zeitge- schichte, Kosovo-Krieg: Michael Schmidt-Klingenberg; für Titel, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Übach-Palenberg (Nrdrh.-Westf.) Leo Meertens Korruption, Trends, Geld, Großbanken, Autoindustrie, Getränkeindustrie, Fleischermeister Konzerne, Dienstleistung, Springer-Verlag, Erotik-TV, Internet, Chronik: schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Gabor Steingart; für Fahndung, Affären, PDS, Luftfahrt, Stasi, Winter- sport, Beamte, Jugend: Jochen Bölsche; für Fernsehen, Digitales Buch, Für Tierfutter gelten mindestens so Szene, Satire, Architektur, Film, Autoren, Literatur, Bestseller, Pop, In der Mitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in ei- strenge Vorschriften wie für menschliche Theater: Dr. Mathias Schreiber; für Panorama Ausland, Frankreich, ner Teilauflage ein achtseitiger Beihefter der Firma C & A, Nahrungsmittel, teilweise schärfere. Im England, Kuba, Afrika, USA, Südasien, Kriegsverbrechen, Japan, Taiwan, Düsseldorf. Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe Sierra Leone: Dr. Olaf Ihlau; für Fußball, Eiskunstlaufen: Alfred Weinzierl; enthält einen Postkartenbeihefter der Firma Cosmos Le- Übrigen: Leistungsförderer in der Tier- für Prisma, Tiere, Automobile, Affären, Körperkult, Mobilfunk: Olaf ben, Saarbrücken, und des SPIEGEL-Verlags (Cinemaxx), Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Per- ernährung wurden in den vierziger Jahren sonalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Hamburg. In einer Teilauflage klebt eine Postkarte des entdeckt (nicht von der EU-Agrarpolitik) Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Peter Israelischen Verkehrsbüros, Frankfurt/Main, und des SPIE- und werden seither fortlaufend weiterent- Stolle; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, GEL-Verlags/SPIEGELreporter, Hamburg. Eine Teilauf- 20457 Hamburg) lage enthält Beilagen der Firmen Humanitas Buchver- wickelt und immer sparsamer eingesetzt. sand, Wiebelsheim, Vobis, Aachen, sowie die Verleger- Tiermehl ist auch keine Erfindung der EU, beilage SPIEGEL-Verlag/kulturSPIEGEL, Hamburg.

14 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Panorama Deutschland AP Summers, Clinton

nanzexperten freundlich, dann war Schluss mit der Verbindlichkeit. Die Supermacht Amerika rate Köhler dringend, so der Sum- mers-Abgesandte, seine Ambitionen zu zügeln und freiwillig auf den prestige- trächtigen Posten beim Internationalen

REUTERS Währungsfonds zu verzichten: „Wenn nicht, Köhler wird Washington dafür sorgen, dass Sie scheitern.“ INTERNATIONALER WÄHRUNGSFONDS Köhler warf den US-Beamten mit rüden Worten aus seinem Büro. Dann informierte er das Kanzleramt in Berlin. Schröders Helfer waren entsetzt. Besorgt erkundigte sich ein hoher Berli- Rüde Worte ner Beamter im Weißen Haus, was die grobe Demarche bedeu- ten solle. Dabei erwies sich: Präsident Bill Clinton wusste nichts it einem dreisten Schachzug hatte US-Finanzminister von Summers’ Aktion, sein Finanzminister hatte eigenmächtig MLawrence Summers noch zwei Wochen vor der Wahl des versucht, Köhler in letzter Minute zum Amtsverzicht zu pressen. neuen IWF-Präsidenten versucht, den Deutschen Horst Köhler In Berlin erregen sich Schröder-Beamte noch heute über ein zu Fall zu bringen. besonderes Detail des transatlantischen Vorstoßes. Der Sum- Ein Abgesandter des US-Finanzministers Summers erschien mers-Bote war, wie bei Mafia-Drohungen üblich, von relativ am 10. März unangekündigt in Köhlers Büro bei der Ost- niederem Rang, „irgendwas zwischen Referent und Unter- europa-Bank. Eine halbe Stunde plauderten die beiden Fi- abteilungsleiter“.

SPD BÜNDNIS FÜR ARBEIT eller Ebene und auf flexible Art und Weise ermöglicht werden“, heißt es in Geld von Genossen Flexibler Ruhestand einem Gutachten zur Arbeitszeitpolitik, das seit kurzem im Berliner Kanzleramt PD-Bundestagsabgeordnete aus ie Wissenschaftler-Gruppe im vorliegt. Eine „generell defensive Stra- SBrandenburg wollen vor das DBündnis für Arbeit lehnt Frühver- tegie zur Verkürzung der Lebensar- Schiedsgericht ihrer Partei ziehen und rentungsprogramme nach dem Muster beitszeit“ dagegen sei „problematisch“. gegen hohe Abgaben klagen, die ihnen der Rente mit 60 ab. „Ein vorgezogener Dass der von der IG Metall geplante als Mandatsträgern neben dem Mit- Ruhestand sollte allenfalls auf individu- Vorruhestand die Beschäftigungschan- gliedsbeitrag abverlangt werden. Nach cen Jüngerer erhöht, halten der Wahlniederlage im September 1999, die vier Bündnis-Sachver- bei der Ministerpräsident Manfred Stol- ständigen, darunter auch ge- pe die absolute Mehrheit einbüßte, war werkschaftsnahe Wissen- die Landes-SPD in Geldnot geraten. Die schaftler, für fraglich. märkischen Genossen beschlossen des- Zudem liege das Rentenein- halb, ihre Bundestagsabgeordneten zu trittsalter in Deutschland mit schröpfen. Der Landesvorstand erhöhte durchschnittlich 60,5 Jahren ohne Rücksprache mit den Genossen für Männer und 58,4 Jahren die Zwangsabgabe von monatlich 1000 für Frauen bereits heute un- auf 1200 Mark. Die Kläger, darunter ter dem Niveau anderer Ost-SPD-Vormann Mathias Schubert westlicher Industrieländer. und Ex-DDR-Außenminister Markus Der Alternativ-Vorschlag der Meckel, sehen daher die innerparteili- Wissenschaftler zur Rente che Gerechtigkeit verletzt. Sie müssten mit 60: Ausbau der Alters- prozentual wesentlich mehr in die Par- teilzeit und eine allge-

teikasse zahlen als brandenburgische DPA meine Flexibilisierung der Landesminister und Staatssekretäre. Rentenkampagne der IG Metall Arbeitszeit.

der spiegel 13/2000 17 Panorama

UMWELT Abfuhr für Schröder U-Umweltkommissarin EMargot Wallström wider- setzt sich dem Druck von Bun- deskanzler Gerhard Schröder. Für die beantragte Erweite- rung der Dasa-Flugzeugwerft

in Hamburg-Finkenwerder in LUFTAUFNAHMEN FRIEDELS das EU-Schutzgebiet Mühlen- Dasa-Gelände am Mühlenberger Loch in Hamburg berger Loch an der Elbe könne es, so die EU-Kommissarin, In einem Brief von Mitte des Monats hat- bus-Familie“, so Schröder, sei „eines der kein „ökologisches Schnellverfahren“ ge- te Schröder („Ein Anliegen, das mir per- ambitioniertesten europäischen Indu- ben. So seien die von Hamburg und sönlich sehr am Herzen liegt“) den EU- strieprojekte“. EU-Umweltkommissarin Berlin der EU-Kommission vorgeleg- Kommissionspräsidenten Romano Prodi Wallström will gleichwohl auf die Einhal- ten Unterlagen hinsichtlich mögli- gebeten, „darauf hinzuwirken, dass die tung der von Deutschland schon mehr- cher „Alternativen zu dem Standort“ so- umweltrechtliche Unbedenklichkeitser- fach verletzten EU-Richtlinie Flora-Fau- wie den „vorgesehenen Ausgleichs- klärung der Kommission umgehend“ er- na-Habitat bestehen. „Auch bei dieser maßnahmen“ derzeit „nicht über- teilt würde. Der Bau des A3XX-Groß- Entscheidung “, sagt Wallström, „werden zeugend“. raumflugzeuges als Ergänzung der „Air- wir nach Recht und Gesetz vorgehen.“

CDU-FINANZAFFÄRE 100000 Mark von Schäuble an Baumeis- so Baumeister zum SPIEGEL. Erst vor ter im Herbst 1994 überlegt, was mit dem Untersuchungsausschuss des Bun- Versteckte Spende dem Geld passieren solle. Im April oder destages wolle sie sich notfalls auch zu Mai 1995 habe er es dann Finanzberater der Frage äußern, ob Schäuble sie auf- er CDU droht neuer Ärger um die Horst Weyrauch in Bonn übergeben. gefordert habe, dafür zu sorgen, dass D100000-Mark-Spende des Lobbyis- Schornack mutmaßte vor den Staatsan- die Spende nicht bekannt wird. ten an den damali- wälten, die 100000 Mark von Schreiber Schäuble bestreitet, irgendjemanden ge- gen CDU/CSU-Frak- seien identisch mit beten oder gar angewiesen zu haben, tionschef Wolfgang einer entsprechen- die Spende nicht zu veröffentlichen: Schäuble. Das Geld, den Summe, die am „Alles andere ist gelogen.“ so hat der Büroleiter 18. Dezember 1995 der CDU-Bundes- von einem Privat- schatzmeisterei, Jür- konto des Bau- gen Schornack, bei meister-Vorgängers Zitat der Staatsanwalt- Walther Leisler schaft Bonn ausge- Kiep auf einem „Eigentlich habe ich ein sehr

sagt, sollte 1994 be- M. EBNER / MELDEPRESS CDU-Konto bei der einfaches Leben, alles liegt klar wusst nicht im Re- Schäuble, Baumeister Hauck-Bank in auf der Hand. Ich schloss die chenschaftsbericht Frankfurt eingegan- Schule ab, ging auf die Univer- der Partei veröffentlicht werden. Er gen und im Rechenschaftsbericht 1995 sität – und ging zum KGB. Ich habe die 100000 Mark zunächst in ei- als „sonstige Einnahme“ versteckt wor- nem Tresor aufbewahrt, da diese Spen- den sei (SPIEGEL 3/2000). beendete den Dienst beim KGB de auf Weisung der damaligen Schatz- Weyrauch bestätigte, von Schornack – und ging zurück auf die Uni- meisterin „nicht das Schreiber-Geld bekommen zu ha- versität. Von dort ging es nach veröffentlicht werden sollte“, gab ben. Den Umschlag habe er „unverzüg- St. Petersburg. Von St. Peters- Schornack bei einer Vernehmung am lich an Herrn Kiep weitergegeben“. burg nach Moskau, in die Ver- 3. Februar zu Protokoll. Dieser habe ihn „in seine Rocktasche waltung. Danach in die Präsi- Im öffentlichen Streit, wer das Schrei- gesteckt“. Kiep bestreitet den Erhalt des ber-Geld entgegennahm – Schäuble Geldes. Er will die 100000 Mark der dentenkanzlei. Von dort zum oder Baumeister – , war der Ex-Frak- CDU Ende 1995 aus seinem eigenen FSB. Dann ernannten sie mich tionschef in die Defensive geraten und Vermögen gespendet haben. zum Premierminister. Jetzt bin hatte im Februar seinen Rücktritt von Baumeister bezeichnet Schornacks Dar- ich amtierender Präsident. Das der CDU-Führung angekündigt. Nun stellung als „absoluten Unsinn“. „Nie ist alles.“ werden neue Details der Schornack- während meiner gesamten Amtszeit Russlands Präsident Wladimir Putin über Aussage bekannt. Mit der Schatzmeiste- habe ich eine solche Anweisung gege- seine Karriere rin habe er nach der Weitergabe der ben – weder schriftlich noch mündlich“,

18 der spiegel 13/2000 Deutschland

JUSTIZ gen Professor Pfeiffer über Stalking in Deutschland, ob wir nicht auch eine „Konservatives Denken Strafvorschrift brauchen. SPIEGEL: Wie könnte die aussehen? aufbrechen“ Däubler-Gmelin: Sie soll das Verbot der Bedrohung, Nötigung und Beleidigung Bundesjustizministerin Herta Däubler- ergänzen und insbesondere die Belästi- Gmelin, 56, über ihre Vorschläge zum gung in der Absicht, Frauen Angst und verbesserten Schutz vor Psychoterror Schrecken einzujagen, bestrafen. aus verschmähter Liebe („Stalking“) Schlimmstenfalls mit Freiheitsstrafen. SPIEGEL: Hat die Justiz Stalking bislang SPIEGEL: Stalking-Opfer beklagen, dass verharmlost? Ganz neu ist das Phäno- erst ein Mordversuch passiert sein muss, men ja nicht. bevor Justiz und Polizei etwas Däubler-Gmelin: In den letzten unternehmen. Jahren hat das sicher zuge- Däubler-Gmelin: Das ist etwas nommen, aber man hat es übertrieben, aber als Anwältin früher nicht ausreichend ernst weiß ich, wie schwer es sein genommen. Außerdem musste kann, hier zu helfen. halt wie auch bei der Ächtung SPIEGEL: Was wollen Sie ver- von Gewalt in der Erziehung bessern? erst konservatives Denken Däubler-Gmelin: Zunächst gibt aufgebrochen werden. unser Gewaltschutzgesetz, das SPIEGEL: Reicht denn eine Ge- im Sommer im setzesänderung allein aus? beraten wird, den Gerichten Däubler-Gmelin: Nein, es gibt die Möglichkeit, früher Be- hier ein ähnliches Informa- lästigungs-, Bedrohungs- und tionsproblem wie früher beim

Annäherungsverbote aus- L. CHAPERON Umgang mit vergewaltigten zusprechen – also schon be- Däubler-Gmelin Frauen oder sexuell miss- vor etwas passiert ist – brauchten Kindern. Durch und Ordnungsgeld und -haft zu ver- speziell geschulte Beamte und Leitfäden hängen. und Richtlinien sind da bei der Polizei SPIEGEL: Solche Verbote haben sich oft und vor Gericht erhebliche Fortschritte als wirkungslos erwiesen. gemacht worden. So etwas brauchen Däubler-Gmelin: Deshalb verstärken wir wir auch für Stalking-Opfer. Diese Auf- sie. Außerdem prüfen wir anhand der gabe gehen wir mit Bund und Ländern geplanten Untersuchung des Kriminolo- gemeinsam an.

BUNDESWEHR aufgelaufen, beklagten sich mittelständi- sche Firmen bei Mitgliedern des Vertei- Stau in der Werkstatt digungsausschusses. Dem Heer stünden aber nur noch etwa 25 Millionen Mark n zivilen Reparaturwerkstätten, die zur Verfügung. Die Geldknappheit samt Ifür die Bundeswehr arbeiten, stauen Stau in den Werkstätten, so verteidigen sich die gepanzerten Fahrzeuge. Die sich die Militärs, sei durch „nicht vor- Wartungs- und Reparaturarbeiten wer- hersehbare einsatzbedingte Ausgaben“ den nicht erledigt, weil dem Heer das für die Balkan-Mission entstanden. Geld fehlt. Inzwischen seien Aufträge Außerdem hätten „Gefechtsfahrzeuge“ im Wert von gut 100 Millionen Mark wie Kampfpanzer „Vorrang“ vor leich- teren Vehikeln wie etwa dem Transportpanzer M 113. Abgeordnete kritisieren, dass Rüstungsstaatssekretär Walther Stützle dem Heer rund 100 Millionen Mark weggenommen habe, die für Reparaturen bei Zivilwerk- stätten verplant waren: Die Mittel wurden umgelenkt, um Verträge mit Großfirmen zur Instandhaltung von Pan- zerhaubitzen und Flugab- wehr-Panzern einzuhalten.

J. KÖHLER J. Die werden indes auf dem Panzerreparatur in Neubrandenburg Balkan nicht eingesetzt.

der spiegel 13/2000 19 Panorama Deutschland

Am Rande Ex oriente crux Beginnen wir mit einer kryp- tisch anmuten- den These: Auf die Orientie- rungslosigkeit ei- nes Richters folgt die Orientalisierung seiner Recht- sprechung. Klingt kompliziert?

Okay, also der Reihe nach: Im A. SCHOELZEL baden-württembergischen Stutt- Thoben, Diepgen gart hat das Verwaltungsgericht HAUPTSTADT Unbeweglichkeit vieler Kulturleute, die vergangene Woche entschieden, „wie im Steinkohlebergbau“ überkom- dass die muslimische Lehrerin „Wie im mene Strukturen verteidigten. Fereshta Ludin erst dann in einer Thoben und Diepgen trennte auch ihre Steinkohlebergbau“ Haltung zur CDU-Generalsekretärin deutschen Schule unterrichten . Die Senatorin unter- darf, wenn sie ihr Kopftuch ab- ie am vergangenen Donnerstag stützte den Aufklärungskurs in der legt. Wenn der Staat es will, muss Dzurückgetretene Berliner Wissen- Spendenaffäre – Diepgen nicht. Seit schafts- und Kultursenatorin Christa Merkels Wahl zum Parteivorsitz fest- der Schleier ab. Ein paar Kilo- Thoben, 58, schmiss ihren Job, weil der steht, will er nicht mehr für einen Sitz meter weiter, in München, hat Regierende Bürgermeister Eberhard im Präsidium kandidieren. ein Gericht wiederum entschie- Diepgen, 58, der CDU-Parteifreundin den, dass eine Iranerin in Rückendeckung bei geplanten Kündi- gungen und Kürzungen versagte. Die Deutschland gezwungen werden als kompetent geltende Düsseldorferin kann, ein Kopftuch anzuziehen. erklärt, sie sei es leid, „unkalkulierbare Nachgefragt Hintergrund: Die Frau sollte ab- Haushaltslöcher“ zu vertreten. Ihr überforderter Vorgänger Peter Ra- geschoben werden, dafür braucht dunski, ehemaliger Bundesgeschäftsfüh- Schreibfaule Deutsche sie Papiere, und Iran akzeptiert rer der CDU, hatte mit lässigen Ver- nur Passfotos mit Kopftuch tra- sprechen an die Berliner Kulturschaf- Wie viele Briefe haben Sie genden Frauen. Das Gericht ver- fenden im Etat ein Defizit von rund im vergangenen Monat privat 90 Millionen Mark hinterlassen und geschickt? ordnete der Frau den Schleier. dazu das blanke Chaos in den Büchern: Das ist Orientalisierung. In der „Beinah jeden Tag“, so Thoben, keinen 30 Türkei haben Frauen schon Är- „tauchte eine neue Finanzierungslücke auf.“ Sie erklärte öffentlich: Ohne die 1 bis 3 TRUM 41 ger gekriegt, weil sie im Parla- EN 1 Möglichkeit betriebsbedingter Kündi- 4 bis 10Z 20 2 ment ihr Haupt bedeckten – das gungen seien die vom Senat beschlosse- F E ist dort verboten. Insofern haben nen Sparmaßnahmen nicht zu verwirk- mehr als 10I 9 lichen, ein Tabubruch in der Hauptstadt R sich die Stuttgarter der türki- der ÖTV und mit Diepgen nicht zu B 27.-3.00-22 schen Justiz angepasst. In Iran machen. Die rauen Berliner Sitten erstaunten die Würden Sie wegen einer wiederum herrscht Kopftuch- Portoerhöhung Ihr Verhalten zwang, die Münchner Richter für ihre Korrektheit bekannte ehemali- ge Staatssekretärin aus dem Bundes- ändern? passten sich der iranischen Justiz bauministerium: Die Stadt hatte zum NEIN 58 an. Die einfachste Lösung für alle Beispiel 20 Millionen Mark Bundeszu- JA, ich würde dafür wäre, die Urteile zu tauschen. schüsse aus dem Kulturetat an anderer mehr E-Mails schicken 8 Stelle im Landeshaushalt vergraben. JA, ich würde dafür Die eine wandert nach Iran aus, Schon im Januar erkannte sie: „Jetzt ist häufiger telefonieren 23 die andere bleibt hier und wird das Geld nicht mehr nur knapp, es ist JA, ich würde weniger 10 Lehrerin. Aber das geht in alle.“ Briefe schicken Deutschland natürlich nicht. Wir Die subventionsverwöhnten Intendan- ten der defizitären Theater und Opern Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 21. und 22. März; sind hier ja nicht auf dem Basar. lehnten sich gegen die strenge Sparkom- rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent; an 100 missarin auf. Sie dagegen geißelte die fehlende Prozent: weiß nicht/keine Angabe

20 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Titel

K. YAMASHITA / BAVARIA Hamburger Hauptbahnhof: Konzentriert sich das Geschäft künftig auf hochrentable Rennstrecken? Bahnfahrt an die Börse Die rot-grüne Regierung macht Ernst: Nach der Stahlindustrie und den Werften soll nun die Bahn in die Moderne geführt werden. Die Beschäftigten müssen Opfer bringen – und am Ende wird auch der Staat noch einmal helfen müssen.

artmut Mehdorn ist einem Konflikt 1995 noch nie aus dem Weg gegan- 1994 1997 gen. Der neue Chef der Deutschen H 483 1996 Bahn AG pflegt das Image des zupacken- 454 533 den Machers, der entschlossen seinen Weg 639 1998 geht – und seien die Widerstände noch so groß. 334 Am Freitag vergangener Woche mühte Fahrt in den Tunnel sich Mehdorn, 57, ein entscheidendes Hin- Betriebsergebnis der Bahn in Millionen Mark dernis für die von ihm geplante Radikalkur für den Schienenkonzern beiseite zu räu- Ohne Kurskorrektur sind für 2000 bis 2004 men: den Widerstand der Gewerkschaften. Ultimativ hatte Mehdorn die Arbeit- Verluste von 13,3 Milliarden Mark nehmer-Organisationen zu drastischen Zu- geständnissen bei Löhnen und Arbeitszeit Schulden von ca. 20 Milliarden Mark aufgefordert, die diesen vollkommen un- und die Aufzehrung des Eigenkapitals annehmbar schienen. Sonst, so Mehdorn, 1999 seien betriebsbedingte Kündigungen nicht Bahnchef Mehdorn zu erwarten. –170 auszuschließen. K. B. KARWASZ

22 der spiegel 13/2000 steht sich. Gleichzeitig sollten DPA Protestierende Bahnarbeiter: Der neue Konzernchef verletzte ein Tabu sich die Beschäftigten zu meh- reren Nullrunden bereit er- Vor dem entscheidenden Gipfelgespräch „“, sagt Mehdorn, „arbeitet ge- klären. Würden die Löhne doch erhöht, am Freitagnachmittag in einem Kölner Ho- gen uns“ – sie ist sein größter Feind. so die Forderung, sollten diese Steigerun- tel zeigten sich die Arbeitnehmervertreter Die Eile des Bahnchefs ist ganz im Sin- gen mit den üppigen Zulagen der Bahner unnachgiebig. Schon am Wochenende ne von Dieter Vogel. „Mehdorn ist schnell verrechnet werden – unter dem Strich wollten sie eine deutsche Großstadt lahm zur Sache gekommen“, lobt der ehemalige stünde wieder eine Null. legen, für diese Woche sollten ganze Re- Thyssen-Chef. Er leitet den Aufsichtsrat Solche Maßnahmen seien ebenso wenig gionen bestreikt werden. Und im Sommer, der Bahn und hat sich fest vorgenommen, unzumutbar wie ungewöhnlich, schrieb drohten die drei Gewerkschaften der Ei- die Bahn bis zum Jahr 2003 kapitalmarkt- Mehdorn den Gewerkschaften. Auch sei senbahner, könnte sogar der Verkehr zur fähig zu machen. „Das ist mein persönli- zu beachten, dass mehr als 50 Prozent der Expo zum Erliegen kommen. ches Ziel“, sagt er, „und auch das von Meh- Bahnmitarbeiter über 55000 Mark im Jahr Doch nach zehnstündigen Verhandlun- dorn.“ verdienen und damit gut im Industrie- gen war alles anders: Die Gewerkschaften Die beiden sind sich einig: Die Bahn ist durchschnitt liegen. sagten die Warnstreiks ab – und feierten ein Sanierungsfall, und in solchen Fällen Wenn die Gewerkschaften nicht mit- sich als Sieger. Tatsächlich hatten sie Meh- setzen erfahrene Industriemanager wie machten, drohte Mehdorn unverblümt den dorns Ziel zugestimmt, dass die Bahn bis Mehdorn und Vogel harte Schnitte an – die bisherigen Beschäftigungspakt aufzukün- zum Jahr 2004 eine Ergebnisverbesserung Mitarbeiter müssen Opfer bringen, das digen, der noch bis zum Jahr 2002 läuft – von 8,4 Milliarden Mark braucht – und dass Produktprogramm wird bereinigt, Verlust- und betriebsbedingte Kündigungen aus- dafür unkonventionelle Maßnahmen er- bringer fallen weg. drücklich ausschließt. forderlich sind. Rund 3,6 Milliarden Mark will Mehdorn Und als sei das noch nicht genug, hat In den nächsten beiden Monaten wollen bei den Personalkosten einsparen, rein Mehdorn gleich noch eine zweite Front die beiden Parteien im Detail darüber ver- rechnerisch sind das 70000 von insgesamt eröffnet, die seine Kritiker arg irritiert: Er handeln, was darunter zu verstehen ist. 240000 Stellen. Die eine Hälfte soll durch will fast 9000 Streckenkilometer, ein Vier- Kommt es zu keiner Einigung, kann der natürliche Fluktuation aufgebracht wer- tel des Schienennetzes, in enger Zusam- Konflikt erneut eskalieren. den, die andere durch finanzielle Opfer der menarbeit mit den Ländern oder auch pri- Erst drei Monate ist Mehdorn im Amt, Belegschaft. vaten Betreibern regionalisieren. und schon hat er klargemacht, wie ernst es Wie er sich das vorstellt, gab Mehdorn Konzentriert sich die Bahn künftig auf ihm ist mit seiner Schocktherapie für das den Gewerkschaften vor dem Gipfelge- hochrentable Rennstrecken? Strebt Meh- marode Unternehmen. Der Mann, so viel spräch schriftlich: Die Arbeitszeit sollte dorn die börsenfähige Rumpfbahn an, die steht fest, verliert keine Sekunde. gekürzt werden, ohne Lohnausgleich ver- den Interessen der Anleger und nicht dem

der spiegel 13/2000 23 Titel

Wohl der Kunden und Mitarbeiter ver- nes Crashkurses soll die Bahn in der Lage pflichtet ist? sein, ohne staatliche Subventionen auszu- Börsen- statt Bürgerbahn – für Meh- kommen und sich die nötigen Mittel selbst dorns Kritiker ist die Absicht unüberseh- am Kapitalmarkt zu besorgen. bar. Vernachlässigt würden bei diesem Kurs Und deshalb muss er sparen, Mehdorn die verkehrs- und umweltpolitischen Vor- sieht keinen anderen Weg. Mehr Verkehr teile der Schiene. auf die Schiene ziehen, wie seine Kritiker Ohnehin macht sich im Land die Stim- es fordern? „Wie wollen Sie das machen, mung breit, dass zunehmend der Aktien- wenn Sie zu teuer sind?“ kurs über den Wert der Dinge entschei- Die Kunden laufen dem Schienenkon- det. Verlierer sind die Beschäftigten in der zern davon, der Marktanteil sinkt – im Per- so genannten „Old Economy“, und dazu sonen- wie im Frachtverkehr. Gegen die zählt auch die Bahn. Ihre Gehälter sinken Wettbewerber, die Straße und das Flug- – weil es immer noch welche gibt, die im zeug, hat die Bahn im derzeitigen Zustand Vergleich noch weniger verdienen. keine Chance. Verkehrte Welt: Ausgerechnet unter Der Abwärtstrend hält seit Jahrzehnten einer rot-grünen Regierung, die stets den an, er konnte nur kurzzeitig gestoppt wer- Vorrang für die Schiene gefordert hatte, den, als der Bund das Unternehmen im soll die Bahn zum reinen Wirtschafts- Zuge der Bahnreform entschuldete. Nun unternehmen umgebaut werden. So hatte aber steht die Bahn wieder da, wo sie es die Bundesregierung zwar im Rahmen schon vor der Reform stand: am Rande des der Bahnreform Anfang der neunziger Abgrunds (siehe Seite 120). Jahre beschlossen, aber damals war die Seit drei Jahren ist das Betriebsergebnis Regierung schwarz-gelb, die SPD stimm- der Bahn rückläufig, im vergangenen Jahr te dagegen. rutschte es erstmals wieder ins Minus. Wie Mehdorn sieht seine Aufgabe darin, die bisher, so Mehdorns Analyse, könne es Bahn börsenreif zu machen. Am Ende sei- nicht weitergehen. Schon in wenigen Jah-

Bahn frei Das neue Bahnkonzept Überfüllter Bahnhof: Im Wettbewerb mit der zur Verbindung der Ballungsräume Hamburg Hamburg – Berlin 2,2 Millionen Passagiere jährlich 6000 Bremen Passagiere täglich

Hannover Berlin

Dortmund Hamm Kassel Köln

Frankfurt – Köln 12,5 Millionen Frankfurt Passagiere jährlich Gleisbauarbeiten: Volle Kostendeckung für den Würzburg 34000 Mainz Passagiere täglich ren wäre die Bahn abermals heillos über- schuldet – das „Unternehmen Zukunft“ Mannheim Nürnberg pleite. ICE-Ver- Dann, so Mehdorns Horrorszenario, bindungen würde die Bahn zerlegt, ausländische Kon- zwischen den Stuttgart Ballungsräumen kurrenten teilten die Filetstücke unter sich München auf. Eine zweite Bahnreform, davon ist Optimierung des Mehdorn überzeugt, werde es nicht geben. Regional-Pendel- Der Manager, nach eigener Einschät- verkehrs als zung „ein pfiffiges Kerlchen“, ist angetre- Zubringer zu den ten, diese Entwicklung zu stoppen. Dafür Ballungsräumen haben sie ihn geholt, Vogel, der Aufsichts- ratsvorsitzende, aber auch Gerhard Schrö- der, der Kanzler.

24 der spiegel 13/2000 haltung des Kündigungsverzichts. Wir wol- len jedoch nichts unversucht lassen, um mit Ihnen zu Regelungen zu kommen, die zu einer nachhaltigen Verbesserung dieser wirtschaftlichen Lage führen, damit die Beibehaltung des Kündigungsverzichts möglich bleibt.“ Die Gewerkschaften sprachen von Er- pressung, aber über die meisten Punkte wird nun – nach dem Gipfelgespräch – doch verhandelt. Sofort wechselte Meh- dorn die Tonlage: „Es entspricht der Tra- dition der Bahn, dass wir die Probleme ge- meinsam lösen.“ Eine endgültige Einigung wird nicht ein- fach: Die Gehälter der Bahner sind kei- neswegs üppig. Und sie differieren zudem gewaltig – zwischen Ost und West, zwi- schen jenen, die vor der Bahnreform ein- gestellt wurden und demnach in den Ge- nuss von Zulagen wie PZÜ (Persönliche Zulage Überleitung), PZÜ-K (Kindergeld) oder ZÜG (Zulage Überleitung Gedinge) kommen, und den Zu-spät-Gekommenen (siehe Grafik Seite 27). Und dann gibt es noch Staatsdiener und Angestellte. Über ein Drittel der Beschäf- tigten sind Beamte, und denen kann Meh- dorn gar nichts.

M. SCHRÖDER / ARGUS Dienstherr der Staatsdiener ist nicht der Straße hat die Bahn keine Chance Schienenkonzern, sondern eine staatliche Behörde, das Bundeseisenbahnvermögen Die hat er nun, und was für eine. Die (BEV). Das besoldet und befördert die Lo- Transrapidstrecke von Hamburg nach Ber- komotivführer, Schaffner oder Zugbeglei- lin, die seine Vorgänger sich wider besse- ter nach denselben Regeln, die auch für res Wissen von der Politik hatten aufdrän- andere Staatsdiener gelten. gen lassen, kippte er sofort. Dann legte er Weil die Beamten aber weiter am Fahr- ein Konzept für ein neues Streckennetz kartenschalter, im Stellwerk oder auf dem vor, das auf seiner Erfahrung in der Luft- Bahnsteig arbeiten, zahlt der Konzern dem fahrtindustrie basierte: Zwischen den Me- BEV ein Entgelt, das den niedrigen Ange- tropolen sollen Hochgeschwindigkeitszü- stelltentarifen entspricht. Die Differenz ge im Halbstundentakt verkehren, der Re- trägt der Bund. Vergangenes Jahr belief gionalverkehr soll sternförmig auf diese sich der Fehlbetrag auf rund 340 Millionen Knoten – acht oder neun sind geplant – Mark. Hinzu kamen weitere 10,5 Milliarden zulaufen (siehe Grafik). Mark Altersbezüge für die rund 200000 Aber als Mehdorn einen Sanierungsbei- Bahnpensionäre. trag der Belegschaft forderte, verletzte er Rund 7000 Beamte würde Mehdorn jetzt ein Tabu: Die Gewerkschaften, drei ver- gern vorzeitig in Pension schicken. Das schiedene sind für die Eisenbahner zu- würde für den Bund teuer: Die Aktion kos- ständig, hatten sich ihre Zusage zur Bahn- te gut 640 Millionen Mark, so eine interne reform durch üppige Zulagen und eine Be- Stellungnahme des Bundesverkehrsmi- schäftigungszusage abkaufen lassen. nisteriums. An den Kosten soll sich zwar

P. FRISCHMUTH / ARGUS FRISCHMUTH P. Über Mehdorns Vorschläge wollten Ar- auch die Bahn beteiligen, doch darüber Erhalt des Schienennetzes beitnehmervertreter deshalb nicht einmal „konnte bislang keine Einigung erreicht reden. Der konnte das nicht verstehen: Ha- werden“, heißt es in dem Papier. Der Industriemann, hemdsärmelig und ben nicht in allen anderen Krisenbranchen, Nun fürchten viele Bahnexperten, dass unkonventionell, galt schon lange als Ide- in der Stahlindustrie, bei den Werften und sich das Unternehmen auf Kosten der Steu- albesetzung für die derzeit wohl schwie- in vielen großen Metallbetrieben, die Ar- erzahler entlasten wird – „mit fatalen Fol- rigste Managementaufgabe in Deutschland. beitnehmer Opfer gebracht, um ihre Jobs gen für Investitionen und Arbeitsmarkt“, Bei der Dasa hatte er die Airbus-Pro- zu sichern? Warum sollte ausgerechnet bei klagt der grüne Haushaltspolitiker Mat- duktion geleitet, bis er von dem nicht der Bahn nicht möglich sein, was andern- thias Berninger. Denn Finanzminister Hans minder robusten Jürgen Schrempp, heute orts selbstverständlich ist? Eichel hat schon angekündigt: Was die Chef des Dasa-Mutterkonzerns Daimler- Der Bahnchef lud die Gewerkschaften Bahn zusätzlich fürs Personal ausgibt, wird Chrysler, ausgebootet wurde – und ging. deshalb zu einem offiziellen Bündnisge- bei den Investitionen gekappt. Dann trimmte er die verstaubten Hei- spräch und präzisierte seine Vorstellungen Mehr Geld für die Bahn soll es auf delberger Druckmaschinen auf Hightech- in einem Schreiben, das an Deutlichkeit keinen Fall geben, das hat Eichel dem neu- Kurs und brachte sie erfolgreich an die nichts zu wünschen übrig ließ: „Die – ak- en Bahnchef von vornherein klargemacht. Börse. Der Mann suchte eine neue Her- tuelle – wirtschaftliche Lage der Bahn Dabei ist sich Mehdorn mit seinem Ge- ausforderung. zwingt zu Verhandlungen über die Beibe- genspieler Norbert Hansen, dem Vorsit-

der spiegel 13/2000 25 Titel „Schluss mit der Oma-Politik“ Verkehrsminister Reinhard Klimmt über den Sparkurs der Bahn

SPIEGEL: Herr Klimmt, die Bahn will sich triebswirtschaftlich bedingten Fehlbeträ- wird fast schwindlig, wie leicht man fit machen für den Börsengang spätestens gen bewusst kappen. Mit der Oma-Politik heute mit dem Begriff Milliarde umgeht. 2005 und beim Personal kräftig sparen. der Vergangenheit muss Schluss sein: Ich bin auch erschrocken, wie bei den Zählt nur noch der Shareholder-Value? Man kann dem Enkel nicht ständig au- Bauten in Berlin Mittel verbumfiedelt Klimmt: Nein. Der Begriff „Börsengang“ genzwinkernd etwas zustecken. wurden. steht ja nur dafür, dass die Bahn ein wirt- SPIEGEL: Die Bahn möchte wenigstens mit SPIEGEL: Mehdorn möchte die Mehrkos- schaftliches Unternehmen werden soll, den europäischen Konkurrenten gleich- ten nun vom Bund erstattet bekommen. das seine Investitionen selber trägt. Ob das Unternehmen an die Börse geht, ist dann zu entscheiden. SPIEGEL: Der Bund will also nicht wie bei der Privatisierung der Telekom am Ak- tienmarkt kräftig Kasse machen. Klimmt: Ich wäre schon froh, wenn die Bahn uns nichts mehr kostet. Derzeit überweisen wir jährlich 14 Milliarden Mark an Steuergeldern für Altlasten an das Bundeseisenbahnvermögen – damit ist keine neue Strecke gebaut. Gleichzei- tig stellen wir für den Bahnverkehr in den Ländern fast 13 Milliarden aus dem Bun- deshaushalt zur Verfügung. Außerdem zahlt der Bund – auch zukünftig – kräftig für den Ausbau des Schienennetzes. SPIEGEL: Ist die Krise der Bahn durch die Einigung mit den Gewerkschaften vom Freitagabend denn abgewendet? Klimmt: Natürlich bin ich zufrieden, dass die Drohung mit betriebsbedingten Kün-

digungen vom Tisch ist. Da war ich mit M. URBAN Bahnchef Hartmut Mehdorn über Kreuz. Minister Klimmt: „Es gibt weder Sieger noch Besiegte“ Und ich bin auch erleichtert, dass es kei- ne Streiks geben wird. Das könnten wir gestellt sein. Dazu müsste der Mehrwert- Klimmt: Da sehe ich wenig Verhand- uns im Jahr der Expo, in dem Deutsch- steuersatz halbiert werden. lungsspielraum. Wenn etwas im Unter- land seine Leistungsfähigkeit zeigen will, Klimmt: Dafür gibt es keine Pläne. Ver- nehmen völlig falsch läuft, muss man wie gar nicht leisten. gessen Sie bitte nicht: Wir haben die Ent- beim Fußball den Trainer wechseln. Das SPIEGEL: Haben die Gewerkschaften also schuldung der Bahn mit 67 Milliarden haben wir ja gerade erst hinter uns. gesiegt, weil Mehdorn wichtige Forde- Mark Steuergeldern finanziert – als ein- SPIEGEL: Sie fürchten also nicht, dass es rungen zurückgezogen hat? ziges Land in der EU. Ihnen so ergehen könnte wie Borussia Klimmt: Es gibt weder Sieger noch Be- SPIEGEL: Halten Sie es denn für realistisch, Dortmund, die auch vor kurzem den Trai- siegte. Erst mal gilt ein zweimonatiges dass die Bahn von 2004 an ohne staatliche ner gewechselt haben – und in der Bun- Moratorium, aber der Konflikt könnte sich Zuwendungen auskommen wird? desliga trotzdem nur noch verlieren? auf Grund unterschiedlicher Interpreta- Klimmt: Das will ich doch hoffen. Den Un- Klimmt: Nein. Mehdorn hat schon Punk- tionen natürlich erneut zuspitzen. Fest terhalt des Netzes muss sie aus eigener te eingefahren. Mit seiner Dynamik hat er steht aber, dass der Personaleinsatz noch Kraft bezahlen. Allenfalls bei den Altlas- bereits vieles auf den richtigen Weg ge- effizienter werden muss, eine Behörden- ten, wie zum Beispiel der Sanierung der bracht, so das neue Konzept für die Re- bahn darf es nicht länger geben. maroden ostdeutschen Strecken, könnte gionalisierung. SPIEGEL: Haben Gewerkschaften und man darüber reden, ob nicht eine länge- SPIEGEL: Sie finden es also gut, dass die Bahn die Last nicht einfach dem Bund re Frist geboten erscheint. Bahn den Regionalverkehr kappt, auf den zugeschoben? Beide fordern einen Sa- SPIEGEL: Gravierender als die Altlasten Millionen Pendler angewiesen sind? nierungsbeitrag vom Eigentümer. scheinen derzeit die Mehrkosten bei vie- Klimmt: Darum geht es doch nicht. Auch Klimmt: Natürlich sind wir bereit, bei der len neuen Bauvorhaben der Bahn zu sein. ich will, wie Mehdorn, eine Struktur, die Verbesserung der Infrastruktur mitzuhel- Wer hat denn da geschlampt? effektiver und erfolgreicher ist. Es ist un- fen, aber für die kurzfristige Ergebnis- Klimmt: Die Verantwortung liegt bei der sinnig, wenn auf einer Strecke ein Zug finanzierung gilt, schwäbisch gesprochen, Bahn. Es tut weh, dass die ICE-Strecke fährt, und da sitzt nur einer drin. Wer weiterhin: Mir gäbet nix! Wir wollen ja Köln–Frankfurt voraussichtlich zwei Mil- das will, muss sagen, wie er das finan- diese ständige Subventionierung von be- liarden Mark mehr kostet als geplant. Mir ziert. Wenn es heißt, das wird der Klimmt

26 der spiegel 13/2000 zenden der Gewerkschaft der Eisenbahner Mehdorns Vorgänger Ludewig bei seinem Deutschlands (GdED), in einem einig: Die Abschied in einem Brief an den Vorsitzen- schon irgendwie mit Steuergeldern aus- deutsche Bahn hat im Wettbewerb mit der den des Verkehrsausschusses hin: gleichen, werden manche Landräte oder Straße keine Chance, sie ist auch im Ver- Im Gegensatz zu allen anderen europäi- Bürgermeister den Zug auch ohne Fahr- gleich zu anderen Bahnen benachteiligt. schen Bahnen zahle die deutsche den vol- gast rollen lassen – aus Rechthaberei. „Während andere europäische Staaten len Mineralölsteuersatz (rund 400 Millio- SPIEGEL: Was haben Sie stattdessen vor? ihre Bahnen teilweise oder ganz von Tras- nen Mark), und im Inland seien zudem Klimmt: Es gibt Regionalbahnen, die senkosten, Mineralölsteuer und Umsatz- wichtige Wettbewerber wie Binnenschiff- schon jetzt von Kreisen oder Städten be- steuer entlastet haben“, so Hansen, „ist fahrt und Fliegerei von dieser Steuer be- trieben werden, beispielsweise die Saar- Deutschland das einzige Land Europas, das freit. „Warum eigentlich?“, so Ludewig. bahn, die von der Stadt Saarbrücken und seinen Eisenbahnen die volle Kosten- Auch durch die Mehrwertsteuer (980 Mil- anderen Beteiligten getragen wird. Wo deckung für den Erhalt des Schienennetzes lionen Mark allein im Personenfernver- die klassische Eisenbahn zu teuer ist, wird aufbürdet und gleichzeitig Mineralölsteuer kehr) und die Ökosteuer (in der Endstufe die Bahn andere Verkehrsmittel anbieten und Umsatzsteuer abverlangt.“ 400 Millionen Mark pro Jahr) sei das Schie- oder Partner einbinden, Taxi inklusive. Auf diese „erheblichen Benachteiligun- nenunternehmen erheblich belastet. Ins- Das können Sie als Kunde aus einer Hand gen“ der Deutschen Bahn AG wies schon gesamt, so das Fazit des Mehdorn-Vorgän- ordern. Die Bahn holt Sie ab und bringt gers, sei die Bahn in einer Sie hin. Das ist für die Leute besser, für Größenordnung von ein die Ökologie und den Geldbeutel. bis zwei Milliarden Mark SPIEGEL: Die rot-grüne Koalition tut nicht schlechter gestellt als an- mehr für die Bahn als die Vorgänger- dere Bahnen oder kon- regierung. Sparen Sie die Bahn zu Tode? kurrierende Verkehrs- Klimmt: Unsinn. Wir tun alles, um die träger. Bahn zu stärken und die Straße zu entlas- „Nur wenn der Staat ten. So werden wir ab 2003 eine entfer- für bessere steuerliche nungsabhängige Lkw-Gebühr einführen Regelungen sorgt, die und dazu beitragen, dass der Transport Mitarbeiter auf Gehalts- auf der Schiene wieder ein Stückchen at- zuwächse verzichten und traktiver wird. das Bahnmanagement ef- SPIEGEL: Das wird kaum reichen, um den fizienter wird, kann die Nachteil im Logistikgeschäft auszuglei- Sanierung gelingen“, so chen. Müsste man nicht ein eigenes Schie- Ludewig vor den Auf-

nennetz für den Güterverkehr schaffen? / BILDERBERG G. WAGNER sichtsräten. „Dieser Klimmt: Das ist ja die erklärte Strategie der Lokführer: Die Gehälter sind keineswegs üppig … Dreiklang ist kriegsent- Bahn, die mit meinem Hause abgestimmt scheidend.“ ist: Durch gezielte Investitionen in den Einen weiteren Bei- nächsten Jahren sollen schneller und trag des Bundes fordern langsamer Verkehr entkoppelt werden und auch der Bahnvorstand der Güterverkehr bessere Bedingungen und die Gewerkschaften. erhalten. Schon jetzt werden die Häfen in Doch für die Regierung Hamburg oder Lübeck besser angeschlos- hat die Haushaltssanie- sen, in Duisburg-Rheinhausen entsteht ein rung oberste Priorität. Logistik-Knotenpunkt, der Schiene, Straße „Schwäbisch gesprochen: und Wasserstraße kombiniert. Dazu wol- Mir gäbet nix!“, sagt len wir Schienenwege revitalisieren, wie Verkehrsminister Rein- zum Beispiel den „Eisernen Rhein“, der hard Klimmt (siehe In- das Ruhrgebiet mit Antwerpen verbindet. terview). SPIEGEL: Lassen sich solche Zukunftspläne Dann aber muss die mit dem selbsterklärten Kanzler aller Au- Regierung auch die Kon- tos wirklich realisieren? sequenzen tragen – Meh-

Klimmt: Ich muss sagen, dass Gerhard FOCUS / AGENTUR WISCHMANN J. dorns Schocktherapie mit Schröder die Interessen des Verkehrs- … und sie differieren gewaltig: Gleisarbeiter all ihren Folgen. ministers bis jetzt immer Der Bahnsanierer ist unterstützt hat. Ich fühle Nur mit Zuschlag Einkommen eines Bahn-Angestellten in Mark jedenfalls in einer starken mich nicht behindert. Im Situation: Der Kanzler Übrigen bin ich ja auch kann es sich nicht leisten, kein Autofeind. ihn fallen zu lassen. 47 Jahre, Rangierleiter Lokführer SPIEGEL: Teilen Sie denn * ** * ** „Wenn ich hier schei- verheiratet, übernommen eingestellt übernommen eingestellt auch Schröders Ansicht, 2 Kinder West Ost West Ost West Ost West Ost tere“, sagt Mehdorn, Bahn-Sanierer Mehdorn sei „dann müsst ihr schon ein Kandidat für den Wirt- Grundgehalt 3096 2725 3096 2725 4220 3713 3662 3222 lange suchen, bis ihr wie- schafts-Nobelpreis? Zuschläge 1137 1008 405 386 1531 950 700 700 der einen Bahnchef fin- Klimmt: Für Nobelpreisvor- det.“ Wolfgang Bittner, schläge ist ausschließlich Brutto 4233 3733 3501 3111 5751 4663 4362 3922 Armin Mahler, Michael Sauga der Kanzler zuständig. Interview: Petra Bornhöft, Netto 3152 2856 2724 2481 3932 3376 3222 2969 Ulrich Schäfer *von der Bundesbahn/Reichsbahn **von der Bahn AG Lesen Sie auch den Bahn-Report ab Seite 120

der spiegel 13/2000 27 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kommentar Die Grünen als Lemminge RUDOLF AUGSTEIN

ie Einwohner von Pompeji konn- weit bringen kann, und Joschka Fi- ten im Jahr 78 nach Christus nicht scher sähe im Büßergewand auch ko- Dahnen, welches Schicksal ihnen misch aus. der Vesuv ein Jahr später bereiten wür- Die Grünen mögen sich damit trös- de. Bei den Grünen herrscht derzeit nur ten, dass ihr Agieren nicht nutzlos ge- eine Ahnung: die der unabsehbar fort- blieben ist. Doch kann man von Nostal- dauernden Hilflosigkeit. Es ist nun nicht gie nicht leben. In der „Süddeutschen mehr sicher, ob die Partei dem nächsten Zeitung“ moniert Claudius Seidl zu Bundestag überhaupt angehören wird. Recht, „die Natur, welche die frühen Zwar würde Kanzler Schröder sei- Grünen erretten und bewahren woll- nen Koalitionsgenossen gern noch ein ten, war die eigene“. Man kann es an- Stückchen entgegenkommen, aber da ders nicht mehr sehen. sind ihm, angesichts einer wieder er- Wie sonst soll man sich erklären, Protest gegen Atomkraft auf Grünen-Parteitag*: starkenden CDU, Grenzen gesetzt. Er dass eine gegen die Atomkraft gegrün- müsste Wählerstimmen an die Grünen dete Formation die Sprengkraft ihres abtreten, die er vielleicht selber braucht. Hauptthemas ständig unterschätzt? GRÜNE So wohnen wir dem interessanten Die neue deutsche „Financial Times“ Lehrstück bei: wie ein intelligenter bemerkte jüngst wohl nicht zu Unrecht, Letzte Rettung Haufen sich selbst sehenden Auges zu fände Atomfragen Grunde richtet. langweilig, die Brisanz dieses Themas Sind die Postenkämpfe an der Die Schuld allein bei Joschka Fischer rausche an ihm vorbei. zu suchen hieße zu kurz greifen. Den- Wie anders konnte es dazu kommen, Grünen-Spitze bald vorbei? Renate noch hat der übermüdete Außenminis- dass viele Basis-Grüne in der Hermes- Künast tritt an. Doch Joschka ter auf Grund seines Narzissmus einen Bürgschaft für den Neubau eines Kern- Fischer hat sich von seiner Partei beträchtlichen Teil dieser Bürde zu tra- kraftwerks in China einen eklatanten innerlich verabschiedet. gen. Offenbar hat er sich übernommen Verstoß gegen die Grundwerte von und auf seinem unbequemen Weg zu Bündnis 90/Die Grünen sehen? Das ie Aufgabe ist eine der heikelsten viele Fehler gemacht. Schon jetzt wirkt Auswärtige Amt war an der Bürg- im deutschen Parteiengeschäft und er ausgelaugt. Gegen die eigene Partei schaftszusage für Siemens beteiligt, Dschlecht bezahlt dazu. Die Anwär- regieren zu wollen, das ist auch einem doch nicht einmal die betroffenen Ab- ter müssen sichere Jobs und ein ruhiges schlecht bekommen. geordneten waren unterrichtet. Leben aufgeben, um sich fortan be- Mit seinem Wunsch, Amt und Man- Und wie anders war es möglich, dass schimpfen und früher oder später verjagen dat nicht mehr zu trennen, ist Fischer die vom Kanzler gesetzte Frist, Atom- zu lassen. gescheitert. Er ist kein Sadist und auch ausstiegsgespräche mit deutschen Kraft- An diesem Montag ist es wieder so kein Masochist, aber nolens volens in werksbetreibern bis Ende Februar ab- weit. Obgleich die Grünen in den 20 Jah- eine Lage geraten, einen Spagat auszu- zuschließen, ungenutzt verstrich? Pro- ren seit ihrer Gründung 25 Parteichefs ver- probieren, der weder ihm noch einer teste? Nicht von Trittin, nicht von schlissen haben, erwarten die Ökos, dass anderen Leitfigur gelingen kann. Bisher Fischer. sich zwei frische Kandidaten ins Rennen hat es noch keine „Nicht-Partei“ ge- Hans-Peter Repnik, Parlamentari- trauen: Die Berlinerin Renate Künast, 44, schafft, den Spagat zum unerlässlichen scher Geschäftsführer der CDU/CSU- wird ihre Bewerbung abgeben. Ihr baden- Regierungspartner ohne Gefährdung der Bundestagsfraktion, setzt schon jetzt württembergischer eigenen Existenz zu bewerkstelligen. auf das „Hoch Angela“: „Rot-Grün Kollege , Zwar gilt Fischer nach wie vor als fürchtet derzeit mehr Fuchs und Leo- 44, zögert bis zu- heimlicher Führer seiner Partei, aber pard als den politischen Gegner.“ letzt. Beide müssten immer mehr Anhänger fragen sich, Tatsächlich haben die Grünen wieder bei ihrer Wahl ihre wohin er sie führen will. Die traurige mit dem Bruch der Regierungskoalition sicheren Mandate Wahrheit ist, dass auch er nur ein Ziel gedroht, wenn die Türkei mit Leopard- und mithin ihre Jobs verfolgt: als Minister die nächste Bun- 2-Panzern beliefert würde. Zwar hatten als Fraktionschefs destagswahl im Jahr 2002 zu erreichen. sie auf dem Bundesparteitag in Karls- in den jeweiligen Er mag sich das nicht eingestehen, doch ruhe beschlossen, sich mit derlei Dro- Landesparlamenten lehrt dies die Praxis. hungen zurückzuhalten – zwei Tage aufgeben. Wer seine programmatischen Pro- später sah die Welt schon wieder an- Das Duo gilt als bleme nicht lösen kann, hat am Ende ders aus. letzte Rettung für nur leere Worthülsen feilzubieten. Die Auch die Lemminge treibt kein wil- die in Ritualen er- grüne Partei ist arm an Stammwählern der Todestrieb. Sie suchen blindwütig starrte Öko-Partei. und für junge Leute nicht mehr son- nach Nahrung und schieben sich dabei Auf dem Karlsruher derlich attraktiv. selbst ins Meer. Der Mensch, in seiner Parteitag vom vor- Die CDU hat vorgemacht, dass man Gier nach der Futterkrippe, handelt vergangenen Wo- es durch ständiges Entschuldigen nicht nicht anders. chenende doku- DPA * Am 18. März in Karlsruhe. Fischer

30 der spiegel 13/2000 Deutschland

Christian Ströbele, der in Karlsruhe mit im nächsten Jahr wieder als Spitzenkandi- einer fulminanten Rede die Strukturreform dat in den Wahlkampf zu ziehen. Für 2002 zu Fall brachte, plant bereits ein weiteres wollte er sich dann um ein Bundestags- Störmanöver. Künast und Radcke haben mandat bewerben. Kuhn: „Ich habe eine aus seiner Sicht in den entscheidenden Fra- hohe Loyalität zu meinem Landesver- gen – Atomausstieg, Hermes-Kredite für band.“ Nuklearexporte, Wirtschafts- und Sozial- Mit erheblichen beruflichen und finan- politik – die Linientreue vermissen lassen. ziellen Einbußen wäre für ihn der Umzug Nun fahndet der Berliner Rechtsanwalt nach Berlin – die dritte Wahl – verbunden: nach einer prinzipienfesten Alternative. Er verlöre mit dem Landtagsmandat sein Aber so wie Künast kann sich am Ende Rückkehrrecht an die Fachhochschule in auch Kuhn Chancen ausrechnen, selbst Stuttgart. Auf Dienstwagen und Fahrer wenn Radcke gegen ihn ein zweites Mal ins müsste er verzichten. Seine Familie möch- Rennen geht. Ralf Fücks, Vorstand der te ihn in Stuttgart behalten. Heinrich-Böll-Stiftung, und Bundesge- Um ein paar Tausender würden zudem schäftsführer Reinhard Bütikofer, die eben- seine Einkünfte schrumpfen: Etwa 11500 falls auf den Posten schielen, wollen kei- Mark erhält er als Fraktionsvorsitzender, nesfalls gegen ihn antreten. dazu fast 3000 Mark Aufwandspauschale, Die beiden Favoriten brauchen dringend fast doppelt so viel wie Künast, die nur

DPA einen Karriereerfolg. Zu oft schon wurden 5600 Mark an Diäten und eine Pauschale Unberechenbare Stimmungslage sie für feine Posten gehandelt – Künast als von 1700 Mark kassiert. Der Parteijob Bundesjustizministerin und EU-Kommis- wird nach BAT Ia (rund 8000 Mark) mentierte sich die Führungskrise der sarin, Kuhn als Koordinator in Gerhard bezahlt. Spesen sind gesondert abzu- Grünen noch einmal in aller Trostlosig- Schröders Kanzleramt und als Finanz- rechnen. keit. staatssekretär. Aus alledem wurde nichts. Noch eine ganz andere Sorge plagt den Der allseits hoch gelobte Beschluss, den Der Berlinerin, die seit 1985, mit drei- kleinen Professor: Lohnt es sich überhaupt, Atomkurs des grünen Umweltministers jähriger Auszeit, im Abgeordnetenhaus sitzt, nach Berlin umzusiedeln, wenn Freund Fi- Jürgen Trittin zu stützen, entsprang nicht fällt der Wechsel von der Provinz- in die scher aussteigt, weil der für das grüne Pro- etwa einem kollektiven Schub von Ver- Bundespolitik innerhalb der Hauptstadt ei- jekt keine Chancen mehr sieht? Seit lan- nunft, sondern dem gewohnten Proporz- gekungel. Denn im Gegenzug lehnten die Delegierten es ab, fortan die Kombination von Mandat und Parteiamt zuzulassen, wie es der virtuelle Vorsitzende Joschka Fischer verlangt hatte. Nach Fischers Sieg beim Bielefelder Ko- sovo-Parteitag triumphierte nun Trittin. Von Parteiführung keine Spur. Sprecherin Gunda Röstel verzichtet auf eine neue Kandidatur; ihrer Kollegin Antje Radcke, die gern bleiben will, fehlt Integrations- kraft und Ausstrahlung. Fischer gefällt sich in seinem Job als Außenminister bestens, mit seiner Partei will er nicht mehr viel zu tun haben. Trittin instrumentalisiert der- weil seine Sperrminorität. Viel zu tun für die Neuen bei gleichzei- tig hohem Risiko. Ihre Aufgabe wäre es vor allem, das Bild der Grünen in der Öf- fentlichkeit zu verbessern und für Kam- pagnenfähigkeit zu sorgen. Aber die Öko-

Partei hat noch jeden Anführer kleinge- ARIS kriegt. Grüne Kuhn, Künast*: Heikle Aufgabe, schlechte Bezahlung Vergangene Woche entschied der Bun- desvorstand, dass auf einem Parteitag Mit- nigermaßen leicht. Der renommierte baden- gem schon grantelt der Ex-Sponti Joschka te Juni die neue Spitze gewählt und aller württembergische Politiker aber, der mit Un- griesgrämig, redet von einem Leben da- Voraussicht nach auch über einen Atom- terbrechungen seit 1984 dem Landtag an- nach, will Bücher schreiben. In seinem kompromiss mit den Stromkonzernen ab- gehört, müsste sein ganzes Leben umwerfen. Amt, bei Parteifreunden und Gegnern ist gestimmt werden soll. Aber wie die Wahl Noch Ende vergangener Woche beteuerte überall die gleiche Klage zu hören: hoch- ausgeht, bleibt bei der üblicherweise un- er: „Ich bin für jede Überraschung gut.“ fahrend, stillos, flegelhaft. berechenbaren Stimmungslage der Basis Mit drei Optionen plagte er sich herum. Seine Grünen hat Fischer noch nie ernst bis zuletzt ungewiss – egal wer antritt. Die unwahrscheinlichste Variante: ganz genommen. Er nutzt sie, so die interne Kri- Die auf dem Linksticket gebuchte aufzuhören und in seinen ordentlichen Be- tik, vor allem für die eigene Karriere. Auch Künast kann mit den Stimmen der Realos ruf als Professor für Kommunikationswis- wenn er 2002 noch einmal – zum letzten sicher rechnen, wenn sie gegen Radcke senschaft zurückzukehren. Mal? – in den Wahlkampf ziehen will, antritt. Realo-Anführer Fischer hatte sie Seinen Stuttgarter Grünen hatte er – pflegt der grüne Patriarch seit Karlsruhe als Kandidatin ausgerufen. Aber gerade zweite Option – eigentlich versprochen, eine tiefe Depression. Mit seiner Partei ist deshalb misstrauen ihr manche aus dem er seither, so ein Vertrauter, „emotional eigenen Lager. * Bei einer Parteiratssitzung am 28. Februar in Berlin. fertig“. Paul Lersch, Hajo Schumacher

der spiegel 13/2000 31 Deutschland

FAHNDUNG Phantom im Dschungel Ludwig-Holger Pfahls gilt als eine der Schlüsselfiguren im Schmiergeld-Skandal um die umstrittene „Fuchs“-Panzerlieferung an Saudi-Arabien. Im Juli 1999 tauchte der mit Haftbefehl gesuchte Ex-Staatssekretär und -Geheimdienstler in Asien unter. Jetzt suchen ihn BKA-Fahnder auf Bali.

Daimler-Benz-Repräsentant Pfahls in Singapur (1998): „Hätte ich nur diesen Schreiber nie kennen gelernt“

rbeiten, wo andere Urlaub machen Schon einmal, im September 1999, wa- Jagd-Korvetten und 12 Landungsschiffe. – für Zielfahnder des Bundeskrimi- ren die BKA-Fahnder ins Reich der tau- Delikat daran war nicht nur, dass die Analamtes (BKA) wurde der Lebens- send Inseln gereist. Damals glaubte ein indonesische Marineführung die Schiffe traum wachsgesichtiger Bürolurche in der Zeuge, er habe den Untergetauchten im als unbrauchbar deklarierte. Auch Gerüch- vorvergangenen Woche wieder einmal Hotel „The Grand Bali Beach“ gesehen. te über Bestechungsgelder und Rückflüsse Wirklichkeit. Ein „ernst zu nehmender Doch die Spur führte ins Leere. Diesmal („Kickbacks“) an die Unionsparteien ma- Hinweis“ im Fall 91/99 hatte die Beamten waren die Informationen präzise, und auch chen seither die Runde. des Referats ZD 14-3 auf die indonesische die Umstände, unter denen die Zielperson Als die BKA-Beamten an der Villa nahe Insel Bali geführt. angeblich lebte, passten ins Bild. Negara eintrafen, war das Anwesen unbe- In einer Villa nördlich der Stadt Negara, Das Haus gehört einem reichen Indo- wohnt. Der Hausmeister, vom SPIEGEL so der Tipp, halte sich der mit internatio- nesier, der Verbindungen zum Ex-Präsi- mit einem Foto des Gesuchten konfron- nalem Haftbefehl gesuchte Ludwig-Holger denten Bacharuddin Jusuf Habibie haben tiert, ist sicher: „Der Mann war hier.“ Pfahls versteckt. Das CSU-Mitglied, ehe- soll. Und Habibie war nicht nur Manager Wann genau, kann oder will er nicht sagen mals Präsident des Bundesamtes für Ver- der Rüstungsschmiede Messerschmitt-Böl- – Pfahls bleibt ein Phantom. fassungsschutz (BfV) und Staatssekretär kow-Blohm, sondern gilt auch als Freund Kaum ein Spitzenmann aus Politik und im Verteidigungsministerium, wird der vieler Unionspolitiker und Drahtzieher ei- Wirtschaft ist je so tief gefallen wie das Bestechlichkeit beschuldigt; er habe vom nes Waffendeals, den Pfahls einst vorbe- ehemalige Wunderkind aus der bayeri- Lobbyisten Karlheinz Schreiber Schmier- reitet hatte. schen Staatskanzlei. Von CSU-Chef Franz geld in Höhe von 3,8 Millionen Mark 1992 kaufte Indonesien aus Beständen Josef Strauß entdeckt und protegiert, wur- kassiert und die darauf fälligen Abgaben der DDR-Volksarmee 9 Minensuchboote, de Pfahls mit 42 Jahren Geheimdienstchef. hinterzogen. 2 Gefechtsversorgungsschiffe, 16 U-Boot- Knapp zwei Jahre später, 1987, war er be-

32 der spiegel 13/2000 nicht heraus. Kurz darauf reist sein Anwalt Peter Witting aus München an. Er fragt sei- nen Mandanten: „Was haben Sie mit Schrei- ber zwischen 1991 und 1994 besprochen?“ Pfahls, so die Darstellung seiner Ehe- frau, verlor daraufhin die Nerven und kün- digte an: „Jetzt schreibe ich einen Brief an Kohl. Der hat mir das alles eingebrockt, der muss mir da raushelfen.“ Witting will zu diesem Dialog nicht Stellung nehmen. Dann scheint sich alles zum Guten zu wenden. Der Patient, dem der Vize-Direk- tor noch am 2. Juni bescheinigt hat, er sol- le „Aufregung und Reisen in den nächsten drei Monaten“ meiden, verspricht seiner

A. VRACHNOS Frau und seinen Anwälten, er werde sich Angeblicher Pfahls-Unterschlupf auf Bali: „Der Mann war hier“ der deutschen Polizei stellen. In der Nähe des Spitals kauft das Ehepaar Tickets für reits Rüstungsstaatssekretär. Nach seinem Aktion des Bundesnachrichtendienstes die einen Flug von Taipeh über Zürich nach Ausscheiden, 1992, brachte er es zum Spit- Finger im Spiel hatte: 1991 waren im Ham- München – erster Klasse für Herrn Pfahls, zenmanager des Daimler-Benz-Konzerns, burger Hafen Panzer aus NVA-Beständen Economy für die Gattin. zunächst in Brüssel, dann in Singapur. entdeckt worden, die, als Landmaschinen Am 2. Juli reist Birgit Pfahls noch einmal Seit neun Monaten ist Pfahls, der mut- deklariert, zu Testzwecken nach Israel ver- von Taipeh nach Singapur, um „ein paar maßliche Kriminelle, auf der Flucht. Ex- schifft werden sollten – gegen das Verbot Papiere vorzubereiten“. Als sie zwei Tage Kollegen und Ermittler rätseln, ob ihn Pa- des Bundessicherheitsrats. später zurückkommt, ist ihr Mann ver- nik angesichts des jähen Ansehensverfalls Über seine drohende Verhaftung war schwunden. Die Frau gerät nach ihrer ei- in den Untergrund getrieben hat oder ob der Mann mit den guten Beziehungen of- genen Darstellung in Panik und fliegt nach einflussreiche Helfershelfer das Abtauchen fenbar schon vorab informiert. Am 22. Deutschland, angeblich in dem Glauben, eines gefährdeten Komplizen für ange- April 1999 hatte der Ermittlungsrichter we- ihr Mann sei verschleppt worden. Warum bracht hielten. Sicher ist: Als der einstige gen „Flucht- und Verdunkelungsgefahr“ sie nicht sofort die Anwälte oder die Poli- Agentenchef verschwand, kam ihm sein Untersuchungshaft angeordnet. Anfang zei verständigt hat, sagt sie nicht. Talent zu konspirativem Handeln zugute. Mai setzte sich Pfahls nach Taiwan ab – in Am 6. Juli warten Anwälte und Fahnder Das hatte er schon früh unter Beweis ein Land, mit dem Deutschland kein Aus- am Münchner Flughafen vergebens auf das gestellt. Bereits 1984 begleitete er seinen lieferungsabkommen hat. Ehepaar Pfahls. Als die Frau von Frankfurt damaligen Chef Strauß zu einem Treffen Kurz vor seiner Abreise regelt er noch aus Witting anruft und fragt, wo ihr Mann mit dem DDR-Devisenbeschaffer Alexan- eine wichtige Vermögensangelegenheit. Am sei, ist der Anwalt außer sich: „Frau Pfahls, der Schalck-Golodkowski nach Leipzig. 6. Mai lässt er in der deutschen Botschaft in was treiben Sie für ein Spiel?“ Kurze Zeit Schalck meldete daraufhin dem Stasi-Mi- Singapur eine Vollmacht beurkunden, die später legen Witting und sein Partner Egon nister Erich Mielke „streng geheim“, Pfahls seine beiden Töchter aus erster Ehe be- Müller das Mandat nieder. werde neuer Chef des Verfassungsschutzes rechtigt, die Familienvilla zu verkaufen. Ein Schnell machen wilde Spekulationen die – ein Jahr vor dessen Amtsantritt. Botschaftsrat stellt das Papier aus. Im Aus- Runde: Der Ex-Staatssekretär habe aus Auch sein Abgang im Verteidigungsmi- wärtigen Amt will man von dem Haftbefehl Verzweiflung Selbstmord begangen, Dun- nisterium war von einer konspirativen Ak- erst am nächsten Tag erfahren haben. kelmänner aus dem asiatischen Geheim- tion überschattet. Obwohl Pfahls offiziell Derweil meldet sich Pfahls bei seinem dienstmilieu hätten ihn wegen seiner Mit- „ausdrücklich auf eigenen Wunsch“ aus- Arbeitgeber krank. Er lässt mitteilen, er wisserschaft bei dubiosen Waffen-Deals schied, war es auf der Hardthöhe ein offe- liege im „Veterans General Hospital“ in liquidiert und Ähnliches mehr. Die Fakten nes Geheimnis, dass er bei einer illegalen Taipeh. Der Arztbericht nennt „Schwin- sprechen gegen solche Spekulationen. delgefühle und Taubheit der rechten Glied- Am 6. Juli fliegt Pfahls nach Erkennt- maßen“ als Aufnahmegründe. Es folgt ein nissen des BKA mit dem Cathay-Pacific- Verwirrspiel, das offenbar nur einen Zweck Flug CX 451 unter dem Falschnamen hat: Zeit zu gewinnen, um die weitere „Fals“ von Taipeh nach Hongkong. Dort Flucht zu planen. kauft er sechs Flugscheine zu verschiede- Am 8. Mai trifft Pfahls’ zweite Ehefrau nen Zielen. Benutzt hat er ein Ticket, des- Birgit in Taipeh ein. Ihr Gatte eröffnet ihr, sen Reservierungsdaten nach 48 Stunden dass er wohl bald ins Gefängnis müsse, aus dem Computer gelöscht werden – für aber mit allem, was man ihm vorwerfe, einen schwer kranken Mann ein erstaunli- „nichts zu tun“ habe. „Der Mann“, erin- ches Maß an Flexibilität. nert sich Birgit Pfahls, die heute in der Auch andere Indizien sprechen gegen Schweiz lebt, „war nur noch ein Wrack, die Theorie, Pfahls irre, von Verzweiflung heulte und starrte apathisch zur Decke.“ befallen, durch die Welt. Die Geschichte Immer wieder habe er geklagt: „Hätte ich der Ermittlungen im Verfahren mit dem nur diesen Schreiber nie kennen gelernt.“ Aktenzeichen 502 Js 127135/95 der Staats- Mit Mühe gelingt es deutschen Diploma- anwaltschaft zeigt von Anbeginn ten, in das Krankenzimmer vorzudringen, an einen clever taktierenden Beschuldig- um dem Patienten den deutschen Pass zu ten, der medizinische Diagnosen offenbar

AP entziehen. Seinen Zweitpass rückt Pfahls ebenso geschickt einzusetzen weiß wie ju- ristische Mittel. Indonesiens Präsident Habibie (1998) Als der Augsburger Staatsanwalt Kolb Freund vieler Unionspolitiker am 14. Dezember 1995 in Begleitung von

der spiegel 13/2000 33 das Konto „Holgart“ treuhänderisch ver- waltete, und Treffen mit dem CSU-Mann gab. Auffällig ist beispielsweise, dass Pfahls im September 1994 seiner ersten Frau die Villa in Tegernsee für 1,87 Millionen Mark abkaufen wollte. 470000 Mark hatte er da- mals, nach Erkenntnissen der Staatsan- waltschaft, in bar dabei. Zwei Tage zuvor soll er Schreiber getroffen haben. Der bestreitet jegliche Zahlung an Pfahls. Auf dem Konto „Holgart“ sei le- diglich Geld für Firmenprojekte geparkt worden. Seiner Ansicht nach habe Pfahls sich tatsächlich der Polizei stellen wollen. Erst als er in Zeitungsberichten auch mit der Leuna-Elf-Affäre in Verbindung ge- bracht worden sei, habe er „richtig Angst“ bekommen und sei untergetaucht. Auch im zweiten großen Schmiergeld-

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST Skandal gibt es in puncto Pfahls offene CSU-Politiker Strauß (M.), Referent Pfahls (r.)*: Geheimmeldung an Mielke Fragen. Als sich am 10. Juli 1992 eine vertrauliche Runde mit dem damaligen drei Steuerfahndern aus München mit wie vehement sich der seinerzeitige Vertei- Kanzleramtsminister und einem Durchsuchungsbeschluss in der digungsstaatssekretär für den Panzerver- Elf-Präsident Loïk Le Floch-Prigent zu ei- Pfahls-Villa in Tegernsee erschien, wirkte kauf stark gemacht hatte. Bereits im Sep- nem Gespräch über die Höhe der Inves- der Hausherr alles andere als erstaunt. In tember 1990 ließ er seine Hauptabteilung titionszulage traf, saß auch Pfahls im einem Aktenvermerk heißt es: „Auffällig Rüstung prüfen, ob unter anderem zehn Kanzleramt mit am Tisch, obwohl er zu war, dass Herr Dr. Pfahls uns sofort Zutritt „Fuchs“-Panzer aus Bundeswehrbeständen diesem Zeitpunkt kein öffentliches Amt zu seinem Haus gewährt hat.“ an Saudi-Arabien geliefert werden könnten. mehr hatte. Während der mehr als zweistündigen Zu diesem Zeitpunkt galt eine entspre- Im Oktober 1998 hatte er seine Teilnah- Durchsuchung habe sich der Daimler- chende Exportgenehmigung noch als aus- me an der vertraulichen Runde dem SPIE- Manager, damals noch nicht von seiner ers- geschlossen. Als diese wider Erwarten im GEL gegenüber als reinen Zufall bezeich- ten Frau geschieden, mehrfach von sei- Februar 1991 doch erging, konnte der Her- net. Als Mercedes-Benz-Trainee habe er ner Lebensgefährtin den Blutdruck mes- steller Thyssen-Henschel nicht liefern, weil im Mai 1992 auch Elf-Manager kennen ge- sen lassen. „Meine Karriere ist zu Ende“, er keine Panzer hatte. Ohne Pfahls wäre lernt. Kaum in Deutschland zurück, sei er habe er dabei gejammert, „und das bei das Geschäft geplatzt. Gegen den erbitter- dann zu einem Meeting mit dem Elf-Präsi- meinen Schulden.“ Und: „Ich habe nie ten Widerstand der Heeresleitung ent- denten eingeladen worden: „In Bonn habe Geld gesehen von diesem Mann.“ Auf sprach der Staatssekretär der Bitte des Un- ich ihn getroffen und bin mit ihm im Auto Nachfrage bestätigte Pfahls den Fahndern, ternehmens, 36 „Fuchs“-Panzer aus Bun- zum Kanzleramt gefahren.“ dass er damit den Lobbyisten Schreiber ge- deswehrbeständen als „Sachdarlehen“ zur Möglicherweise kein Zufall war es, dass meint habe. Verfügung zu stellen. So verdächtig Pfahls’ sich der Sohn des Elf-Lobbyisten Dieter Engagement auch war – der CSU-Mann Holzer, Nikolaus, um Pfahls kümmerte, als beteuerte, nur auf Wunsch der „höchsten der in Taipeh seine Flucht vorbereitete. Ni- Ebene“, sprich: des Kanzleramts, gehandelt kolaus Holzer war schon am 15. Mai 1999 zu haben. Geld von Schreiber habe er zu am Krankenbett präsent. In der Woche zu- keinem Zeitpunkt erhalten. Das Gegenteil vor hatte er eine Bali-Reise unternommen. war schwer zu beweisen. Am 8. Juli, kurz nachdem Pfahls zuletzt Wichtigstes Beweisstück der Ermittler in Hongkong war, ist Holzer junior wieder war ein Terminkalender, in dem Schreiber in Asien unterwegs. Er bucht mehrere Ho- Eintragungen wie „Waldherr 1“ oder „Hol- tels, checkt aber in keinem ein. Im Schlepp- gart 3.8“ gemacht hatte. Die Entschlüsse- tau hat er einen drahtigen jungen Mann, lung durch die Fahnder galt als umstritten. Typ Bodyguard. Dass all diese Aktivitäten „Waldherr 1“ stand ihrer Ansicht nach für mit dem Job von Nikolaus Holzer als die Übergabe von einer Million Mark an Pfahls-Referent bei DaimlerChrysler in

REPORT MÜNCHEN / ARD REPORT den damaligen Ex-CDU-Schatzmeister Singapur zu erklären sind, ist schwer zu Holzer-Sohn Nikolaus auf Bali (1999) Walther Leisler Kiep, „Holgart 3.8“ de- glauben. Der Sohn des Mannes, der beim Verdächtige Reisen chiffrierten sie als 3,8 Millionen Mark für Leuna-Elf-Deal 50 Millionen Mark Provi- Pfahls. Erst im Februar 1999 konnten die sion erhielt, gilt den Zielfahndern als eine Auf den larmoyanten Auftritt folgte die Ermittler Bankunterlagen aus der Schweiz der Personen, die ihnen den Weg zu dem harte Gangart. Nach der Durchsuchung auswerten – Ergebnis: „Die den Beschul- Gesuchten weisen können. bombardierte Pfahls den ermittelnden digten vorgeworfene Entgegennahme von Dass er es jetzt noch tut, ist unwahr- Staatsanwalt mit Dienstaufsichtsbeschwer- Geldzahlungen findet sich in den … scheinlich. Neue Tipps, so heiß oder so kalt den. Im Januar 1996 schrieb er an CDU-Po- Bankunterlagen wieder.“ wie die alten, gibt es zur Genüge. Für je- litiker: Das Verfahren, barmte er, gefährde Im Fall Pfahls konnten die Ermittler be- den Geschmack ist etwas dabei: asiatische seine „wirtschaftliche Existenz“; er hoffe, legen, dass es zeitliche Zusammenhänge Mata-Hari-Strände für Romantiker, der es werde „schnell beendet“. zwischen Barabhebungen Schreibers, der Nahe Osten für Verschwörungstheoretiker. Diese Hoffnung konnte er damals noch Gewiss ist nur: Pfahls bleibt, bis auf weite- hegen. Lange Zeit hatten die Ermittler nur * Mit DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golod- res, verschwunden. wenig in der Hand. Auffällig war jedoch, kowski (l.) und Max Strauß (3. v. r.) in Leipzig 1984. Jürgen Kremb, Gunther Latsch

34 der spiegel 13/2000 Deutschland

Missbrauch hingewiesen. Ich habe aber auch auf die Konsequenzen eines radikalen KORRUPTION Kurswechsels in dieser Frage hingewiesen. Es fiel die Entscheidung, diese Politik fort- zusetzen. Aber ich war weder Erfinder „Unsere Aktivitäten haben noch Drahtzieher dieser Zahlungen, und ich war schon gar nicht der Nutznießer. Diese Entscheidung, die nicht meine, son- zu Zahlungen geführt“ dern die meines Hauptaktionärs war … SPIEGEL: … das war der französische Staat … Der ehemalige Elf-Aquitaine-Chef Loïk Le Floch-Prigent Le Floch-Prigent: … hat Elf unter die inter- über Schmiergeldvorwürfe und nationalen Spitzenreiter der Branche ge- bracht. Sie hat auch zu Missbrauch geführt, den Einstieg seines Konzerns bei Leuna/Minol der anfechtbar wie vorhersehbar war. Aber es handelte sich nicht um eine schwarze SPIEGEL: Herr Le Floch-Prigent, Sie waren tern. Allerdings eins bestreite ich, nämlich Kasse. Diese Kommissionszahlungen wa- Präsident von Elf Aquitaine und damit ei- dass ich mich persönlich bereichert habe. ren in unserem Bereich von der Politik ge- ner der mächtigsten Wirtschaftsführer SPIEGEL: In Ihrer Amtszeit von 1989 bis 1993 duldet, ähnlich wie auch in der Rüstungs- Frankreichs. Obwohl Sie wegen der Elf- sollen mindestens 1,2 Milliarden Mark des oder Luftfahrtindustrie. Affäre sechs Monate in Untersuchungshaft Ölkonzerns an Kommissionen in dunklen SPIEGEL: Unter Ihnen verdreifachten sich saßen und die Justiz seit Jahren ermittelt, Kanälen versickert sein. War der Konzern die Kommissionszahlungen. Gemeinsam haben Sie bisher geschwiegen. Warum? eine staatliche Schwarzgeldkasse? mit falschen Investitionen, so die „Finan- Le Floch-Prigent: Das Unternehmen Elf exis- Le Floch-Prigent: Kommissionen waren, sind cial Times“, habe Ihre Amtszeit den Kon- tierte weiter, und ich wollte es nicht be- und werden immer bei Ölgesellschaften zern rund acht Milliarden Mark gekostet. lasten. Ich habe es als meine Pflicht an- Teil der Wirklichkeit sein. Die Summen Le Floch-Prigent: Das sind nur Gerüchte und gesehen, mich zurückzuhalten. Aber heu- waren bei Elf nie geheim. Sie wurden in ei- nicht Realitäten. Mein Nachfolger Philippe te ist offensichtlich, dass die Politik meines nem Bericht jeweils am Jahresende dem Jaffré hat konsequent all meine Entschei- Nachfolgers ein Fehlschlag war, Elf wurde Finanzminister und dem Präsidenten der dungen revidiert und radikal verändert. Die- schließlich von Total-Fina geschluckt. Da Republik mitgeteilt. Die Empfänger der ser Kurswechsel ist Elf teuer zu stehen ge- Elf als eigenständiges Unternehmen nicht Gelder wurden allerdings nie benannt, was kommen. Allein der zweimonatige Kampf mehr existiert, muss ich es auch nicht mehr manche heute als skandalös empfinden. gegen die Übernahme durch Total hat Elf schützen. Außerdem sehe ich mich mit un- Als ich Elf-Präsident wurde, habe ich auf zwei Milliarden Francs gekostet, die sich erträglichen Vorwürfen zu meiner Ge- die Risiken dieser Praxis und möglichen Banken und Werbeagenturen geteilt haben. schäftsführung konfrontiert. SPIEGEL: Es waren doch SPIEGEL: Seit 1994 ermittelt die französi- gerade Ihre Strategie und sche Justiz in 13 Fällen gegen Sie. Es geht Ihre Investitionen, die das um Untreue, Veruntreuung öffentlicher Unternehmen in Schwie- Gelder und Bereicherung. Sind das nur rigkeiten brachten. Hirngespinste übereifriger Strafverfolger? Le Floch-Prigent: Während Le Floch-Prigent: Ich habe immer gesagt, meiner Präsidentschaft hat dass ich zu den Ermittlungen nicht Stel- Elf seinen Unternehmens- lung nehme, außer gegenüber den Rich- wert und seine Ölreserven verdoppelt, zudem wur- Manager Le Floch-Prigent, Raffinerie Leuna den die Bereiche Raffine- „Der Umstand, dass Gelder rie, Chemie und Pharma-

gezahlt wurden, ist nie versteckt worden“ CORBIS SYGMA zie internationalisiert. Bei P. LANGROCK / ZENIT P.

der spiegel 13/2000 35 Deutschland meinem Weggang hat sich weder ein Ak- Le Floch-Prigent: Da wir politisch nützliches Pro- tionär noch ein Beschäftigter beschwert. Ölproduzent in den ehe- jekt. Es ist doch normal, Nach meinem Abtritt wurde alles systema- maligen sowjetischen Staa- dass es von beiden Regie- tisch geändert. In einem Unternehmen die ten werden wollten, ent- rungen unterstützt wurde. Strategie so radikal zu ändern ist teuer. Die stand die Idee, Raffine- Damals gab es Ängste, Vorwürfe, die man mir macht, müsste man rien in Ostdeutschland in ein wieder vereinigtes eigentlich gegen meinen Nachfolger richten. der Nähe unseres zukünf- Deutschland könnte sich Er hat Elf verschwinden lassen. tigen Öls zu betreiben. Das aus dem gemeinsamen SPIEGEL: Sie trugen den Spitznamen „der Leuna/Minol-Geschäft war Europa zurückziehen – Eroberer“. Nach Ende des Kalten Krieges also eine logische Konse- und diese Befürchtung wollten Sie schnell im Osten siegen – haben quenz unserer neuen Po- wurde von Verantwort- Sie sich nicht einfach übernommen? litik im Osten. Erst der lichen beiderseits des Le Floch-Prigent: Nein, man hätte diese Stra- Rückzug aus Russland Rheins geteilt. tegie 1993 nur weiterfahren müssen, dann machte Leuna zum riskan- SPIEGEL: Bei dem Leuna- wäre Elf heute unter den Großen des glo- ten Unternehmen. Geschäft wurden 256 Mil- balen Ölgeschäfts. Bei der Ölförderung wa- SPIEGEL: Immer wieder lionen Francs an Kommis- ren wir traditionell vorrangig in Afrika und wird gesagt, dieses Ge- sionen über verdeckte

der Nordsee aktiv. Der Traum der Unter- schäft sei vor allem durch FOCUS / AGENTUR RAPHO Kanäle geschleust. Haben nehmensgründer war aber immer auch eine die Unterstützung von Pariser Elf-Zentrale Sie dazu die Anweisung Öffnung zur damaligen Sowjetunion. Von und François gegeben? 1989 an hat Elf unter meiner Führung ver- Mitterrand zu Stande gekommen. Musste Le Floch-Prigent: Es gab Lobby-Aktionen, sucht, in der ehemaligen UdSSR aktiv zu Mitterrand Sie überreden? und unsere Aktivitäten haben auch zu werden. Wir haben Verhandlungen aufge- Le Floch-Prigent: Dieses Projekt ist ohne Überweisungen geführt. Ich kenne die Vor- nommen, und dieser Prozess beschleunig- Zweifel mit dem Einverständnis aller gänge, aber nicht die Empfänger. te sich mit dem Fall der Mauer. 1993 konn- getroffen worden. Und das sowohl in- SPIEGEL: Und Sie haben die französische ten wir Verträge mit Russland und Kasachs- nerhalb von Elf als auch außerhalb des Regierung davon in Kenntnis gesetzt? tan unterschreiben, weitere Deals in dieser Unternehmens in Frankreich und in Le Floch-Prigent: Der Umstand, dass Gelder Region waren so gut wie fertig. Elf lag vorn Deutschland. Niemand musste insistieren, gezahlt wurden, ist nie versteckt worden: im Rennen. Dann kam der Wechsel, diese alle waren einverstanden. Zum einen, weil weder vor meinem Hauptaktionär noch Bemühungen wurden aufgegeben – und die es in die damalige Oststrategie von Elf pass- meinem Verwaltungsrat, noch meinen Mit- Konkurrenten stiegen im Osten ein. te. Und zum anderen, weil durch dieses arbeitern. Diese Operation wurde von al- SPIEGEL: Warum wollten Sie in Leuna eine Projekt Frankreich seinen Anteil bei der len getragen, es gab einen großen Konsens. Raffinerie bauen und das Tankstellennetz Integration Ostdeutschlands demonstrier- SPIEGEL: Seit Monaten wird kolportiert, Minol erwerben? te. Es war ein technisch intelligentes und Mitterrand habe den Auftrag gegeben, bei diesem Geschäft seinem Freund Helmut etwas Gutes zu tun, mithin Gelder an die CDU fließen sollten. Hat der verstorbene Präsident darüber mit Ihnen gesprochen? Millionen für Elf-Berater Le Floch-Prigent: Ich kann auf Grund des Zoll sicherte brisante Unterlagen im Leuna-Fall laufenden Verfahrens gegen mich diese Fra- ge nicht beantworten, wie so viele andere on den 256 Millionen Francs Kom- übersicht für die Delta einen verfüg- auch nicht. So ist das französische Recht. Vmissionszahlungen des französi- baren Gesamtbetrag von 66 Millionen SPIEGEL: Der Untersuchungsausschuss in schen Ölkonzerns Elf Aquitaine bei der Mark aus. Ein anderes Schriftstück, das Deutschland möchte Sie anhören. Privatisierung der ostdeutschen Raffi- der deutsche Zoll ebenso wie die Ver- Le Floch-Prigent: Dazu bin ich bereit. Aber nerie Leuna landeten insgesamt 161,45 mögensaufstellung bei Holzers Sohn die Richter haben mir verboten, nach Millionen Francs bei der Firma Delta Alfred sicherstellte, als er in die Deutschland zu reisen. Wenn die Deutschen International, die dem saarländischen Schweiz reisen wollte, ist ebenfalls auf- herkommen, werde ich gern aussagen. Geschäftsmann Dieter Holzer zuge- schlussreich. Es handelt sich um ein SPIEGEL: Elf galt als Arm französischer ordnet wird. Dies ergibt sich aus einer „Consultancy Agreement“ für „Leuna Wirtschafts- und Außenpolitik. Das Unter- Vermögensaufstellung der Liechten- (das ,Projekt‘)“. Dieser Beratervertrag nehmen nahm auch nationale Interessen steiner Treuhandgesellschaft Strub vom umreißt alle Aufgaben, von denen Hol- im Ausland wahr, zum Beispiel in Afrika. 3. Mai 1999, die dem SPIEGEL vorliegt. zer behauptet, er habe sie wahrge- Waren Sie Manager oder Politiker? Der gesamte Betrag wurde im Februar nommen, darunter auch die „Führung Le Floch-Prigent: Der Präsident einer großen und April 1993 in zwei Tranchen auf erfolgreicher Verhandlungen mit deut- Ölgesellschaft ist immer zugleich Manager ein Delta-Konto bei der DSL-Bank in schen Behörden“. Allein die Namen und Instrument der Außenpolitik seines Luxemburg transferiert. Aus der Ver- des Auftraggebers und -nehmers sowie Landes. Die Privatisierung von Elf ändert mögensaufstellung geht weiter hervor, die Höhe der Provision fehlen in dem nichts daran. So ist Exxon, das nun Exxon dass die Delta insgesamt 40 Millionen Entwurf ebenso wie Datum und Un- Mobil heißt, ein Instrument der amerikani- Mark in zwei Tranchen „in den Mittle- terschrift. Dafür hatte Holzers Sohn schen Politik, Lukoil der russischen, BP der ren Osten überwiesen“ hat, darunter noch ein weiteres Schriftstück dabei: britischen, und Elf-Total wird eins der fran- 11,25 Millionen Dollar im Oktober 1997 ein weißes Blatt Papier mit zwei Un- zösischen Politik sein. Einzig Shell nimmt an Ibrahim Sahyoun. Der in Beirut le- terschriftsproben seines Vaters. Holzer eine andere Rolle ein, weil es amerikani- bende Verwandte von Holzers Ehefrau hatte zwar immer wieder betont, er schen, britischen und niederländischen In- war 1996 offiziell als „alleiniger Ei- habe für seine Lobbytätigkeit in Sa- teressen folgt. Aber das ist die Ausnahme, gentümer“ der Delta ausgewiesen wor- chen Leuna einen Vertrag gehabt, vor- die die Regel bestätigt. Ich war der Unter- den. Insgesamt weist die Vermögens- gelegt hat er ihn bisher nicht. nehmensführer von Elf und zugleich Diplo- mat im Dienst der Politik meines Landes. Interview: Markus Dettmer, Britta Sandberg

36 der spiegel 13/2000 für die Schwarzen. Sämtliche Firmen wird zu prüfen sein, ob die derzeit legale AFFÄREN gehörten zum Reich des größten europäi- Möglichkeit, eine solche Großspende auf schen Versandhausunternehmens. mehrere, im Eigentum derselben Person 3 Suisses Fast zeitgleich gingen die sechs Tran- befindliche juristische Personen aufzutei- chen bei der CDU ein. Zweimal 20 000 len, dem verfassungsrechtlichen Transpa- Mark landeten am 16. Februar 1998 auf renzgebot entspricht, zumal diesem Gebot für die CDU dem Konto „BSM I“ (Bundesschatzmeis- für das Funktionieren der Demokratie eine terei I) mit der Nummer 52955-06 bei der zentrale Bedeutung zukommt.“ Als Kanzler hat Bimbes-Sammler Hauck-Bank in Frankfurt am Main. Viermal Bei ihrer Schelte stützte sich die Par- 20000 Mark waren es zwei Tage später. lamentspräsidentin auf ein Urteil des Bun- Kohl Großspenden stückeln Zwar ist das Stückeln von Spenden, wenn desverfassungsgerichts. Die Karlsruher lassen, um die Namen von CDU- sie denn auf unterschiedliche, rechtlich Richter hatten 1992 befunden, die Wähler Gönnern geheim zu halten – wider selbständige Gesellschaften verteilt werden, müssten „von der wirklichen Herkunft der den Geist des Parteiengesetzes. streng genommen kein Verstoß gegen den Mittel einer Partei Kenntnis erhalten“. Buchstaben des Parteiengesetzes. Gegen Aber das Schlupfloch im Parteiengesetz er Kanzler geriet ins Schwärmen: dessen Geist aber verstößt es zweifellos – gibt es bis heute, und auch die SPD hat es Ein „großartiges Beispiel“ für den zumal im Fall Otto klar war, dass nur ein schon genutzt. DAufbruch in den neuen Ländern einziger „wirtschaftlich Berechtigter“ über Süssmuths Nachfolger habe der Hamburger Versand-Multi Mi- die Zuwendung entschieden hatte. Auch (SPD) will nun für eine „restriktive Aus- chael Otto gemeinsam mit anderen ge- Kohl musste das nur zu genau wissen. legung und Handhabung“ des Gesetzes schaffen, lobte Helmut Kohl. Zur Eröff- sorgen: „Wer große Spen- nung einer mehr als 400 Millionen Mark den stückelt, verschleiert und teuren Einkaufsmeile im umgebauten Leip- verstößt damit gegen das Ge- ziger Hauptbahnhof war der Kanzler der setz.“ Einheit eigens angereist. Noch heute wahrt Kohl in Nur elf Wochen später griff Otto – Sachen Finanzen stets Dis- die Bundestagswahl 1998 stand an – dem kretion – so wie auch sein Kanzler finanziell unter die Arme. Die Getreuer Hans Terlinden ver- Art und Weise, wie das geschah, ist eines gangene Woche vor dem der bisher deutlichsten Beispiele, wie Spenden-Untersuchungsaus- Parteien das von ihnen 1994 selbst ver- schuss des Bundestages: Der abschiedete Parteiengesetz unterlaufen. einstige Verwaltungschef in Ziemlich dreist nutzte Kohl, der Meister der CDU-Parteizentrale ver- illegaler Spendenpraktiken, damals das weigerte die Aussage. Schließ- Kanzleramt für seine Parteizwecke. Seine lich wird gegen ihn wie auch Büroleiterin und engste Vertraute, Julia- gegen Kohl und den ebenfalls ne Weber, agierte schon mal, als sei aussageunwilligen Horst Wey- sie nicht Staatsdienerin, sondern Funk- rauch, den Hüter der schwar- tionärin im Konrad-Adenauer-Haus der zen Kassen des Ex-Kanzlers, CDU. Sie half dem Bimbes-Sammler beim ermittelt. Die Staatsanwalt- Tricksen und Täuschen. schaft Bonn verdächtigt Kohl Am 27. Januar 1998 wandte sich Otto der Untreue, die beiden an- schriftlich an die Kohl-Helferin Weber: „In deren der Beihilfe. diesem so wichtigen Jahr“, ließ er wissen, Terlinden und Kohl, die sich wolle er der Kanzler-Partei gern Gutes tun. seit mehr als 30 Jahren ken- 120000 Mark stellte er in Aussicht. nen, lassen sich auch durch Allerdings, das lässt der Brief erahnen, solche Schicksalsschläge nicht sollte die Großspende nicht im Rechen- auseinander bringen. Dass das schaftsbericht der CDU auftauchen. Sol- Vertrauensverhältnis offenbar che Bekenntnisscheu ist nicht selten in der ungetrübt ist, belegt ein Vor- Wirtschaft. Otto und Kohls Juliane hatten fall aus dem Januar, an den offenbar schon einen Ausweg erörtert. Der Terlinden sich nur ungern er- Hamburger Milliardär schrieb: „Wie ges- innert. tern am Telefon besprochen, möchte ich Als die Staatsanwaltschaft Ihnen die Gesellschaften aufgeben, von de- damals seine Wohnung in nen je 20000 Mark an die CDU überwiesen Mainz durchsuchte, habe sie

werden.“ DPA im Schlafzimmer einen Ord- Das war scharf kalkuliert – denn ab Kohl-Förderer Otto (l.), Kohl*: Gönner im Schatten ner mit Kohls privaten Konto- 20000,01 Mark hätte laut Parteiengesetz auszügen aus den neunziger jede einzelne Spende gesondert im Re- Schon 1996 hatte die damalige Bundes- Jahren gefunden, berichtete Terlinden jetzt chenschaftsbericht veröffentlicht werden tagspräsidentin Rita Süssmuth ihre Partei Vertrauten. In seinem Auto hätten die Be- müssen. So aber blieben Otto und seine dabei ertappt, wie sie eine 100000-Mark- amten sogar noch einen zweiten Hefter Firmen im Schatten. Großspende des Otto-Konkurrenten Quel- entdeckt. Aus den Grundstücksgesellschaften „Fo- le kassierte, die 1993 kunstvoll auf fünf Fir- Terlinden war das ziemlich peinlich. Ei- rum“ und „Neue OGW“, „Erste Merca- men der Gruppe verteilt worden war. Da- gentlich, habe er den verdutzten Fahndern tor“ und „Zweite Mercator“ sowie den mals mahnte die Christdemokratin: „Es versichert, wollte er die Unterlagen längst beiden Beteiligungs- und Verwaltungs- schon bei der Staatsanwaltschaft abgeliefert Wolfgang Krach, gesellschaften „Britannia“ und „3 Suisses“ * Am 12. November 1997 bei der Eröffnung der Laden- haben. Georg Mascolo sprudelte die verdeckte Wahlkampfhilfe passage im Leipziger Hauptbahnhof.

der spiegel 13/2000 37 Deutschland

Vergangene Woche war die Verwirrung um die Nachfolge Wolfgang Schäubles CDU komplett. Der profilierungssüchtige CDU- peinlich darauf geachtet, nicht als „Ost- Bundestagsabgeordnete , ver- Tante“ zu gelten. Doch mit ihrem Aufstieg Angst teidigungspolitischer Sprecher der Union, bekamen auch die neuen Länder plötzlich lancierte im Handstreich sein eigenes Dos- größere Bedeutung. Fest steht, dass sich sier über die Zukunft der Bundeswehr an unter einer CDU-Chefin Merkel das Ver- vor Angela die Journalisten, während Merkel neben hältnis zur PDS entspannen wird. ihm das Konzept der CDU zur Armee- Dass die Fraktionsmitglieder bei der Nach ihrer Nominierung zur reform zu erläutern versuchte. Wahl ihrer Spitze Günter Nooke dem we- Niemand wusste, welche Position die sentlich bekannteren Sachsen Arnold Parteichefin begann Angela Merkel Union nun hat. Die CSU fühlte sich über- Vaatz vorzogen, war eine Richtungsent- mit einem unglücklichen Auftritt. gangen. Dass sie sich überhaupt gleich nach scheidung. Zwar stammen beide aus der Doch im Osten ist sie eine ernste ihrer Nominierung zum Parteivorsitz auf Bürgerrechtsbewegung der DDR. Doch öf- Herausforderung für SPD und PDS. das verminte Gelände Bundeswehrreform fentlich profilierte sich der leicht choleri- wagte, hielten Parteifreunde für einen Feh- sche Kohlianer Vaatz mit dem Kampf ge- eim Umgang mit Deutschlands ler. Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe gen die „SED-Erben“. Das Arbeitstier Osten war Angela Merkel immer et- nahm das Laienspiel auf seinem Fachgebiet Nooke hingegen setzt auf Sachpolitik. Bwas anders. Schon 1995, als Unions- gelassen zur Kenntnis. Ein zweites Signal waren die Auftritte vize, kritisierte sie die Ausgrenzung der Eigentlich muss Merkel sich um Wichti- Lothar de Maizières im Bundestag und in PDS nach dem Motto „Ignorieren, verteu- geres kümmern. Bis Dienstag nächster Wo- der CDU-Fraktion. Der letzte DDR-Pre- feln, Panik“. Doch West-Unionisten wie che will sie sich einen Generalsekretär aus- mier saß bei der Gedenkstunde zur Erin- hörten nicht auf das suchen. In dieser Woche beginnt sie mit der nerung an die einzig freie DDR-Wahl in „Mädchen“, wie Helmut Kohl sie nannte. Arbeit an ihrer Parteitagsrede. In Essen der ersten Reihe des deutschen Bundes- Im Jahr zehn der Einheit, mit Merkel als muss sie den Vorwurf ausräumen, sie ver- tags – noch vor Wochen unvorstellbar. Parteichefin und dem einstigen Bürger- füge über kein inhaltliches Profil. Auch wenn, wie CDU-Mann Bergner rechtler Günter Nooke als Fraktionsvize im Um ein Thema kommt sie nicht herum, freimütig einräumt, hinter diesen Signalen Bundestag, ist eine sensiblere Tonart drin- den Aufbau-Ost. Zwar hat sie im Kampf noch kein strategisches Konzept stehe, glau- gend nötig. Ein Boom im Osten, ben Ost-Kenner wie der Berliner Sozial- wo Gerhard Schröder 1998 starke wissenschaftler Rolf Reißig, dass die CDU Stimmengewinne gelangen, könnte mit dem früheren Mitglied der DDR-Ju- den Konservativen im Bund neuen gendorganisation FDJ Merkel an der Spitze Schub geben. Frau Merkel, meint verlorenes Terrain zurückgewinnen könnte: , einst erfolgloser Wenn sie „Ost-Themen als Reformthemen Unionsvize unter Patriarch Kohl, für Gesamtdeutschland aufnimmt“, so sei eine „Identitätsfigur“. Mit ihr Reißig, könnte die CDU beim pragmati- könne die Union im Osten „ver- schen Ost-Wähler wieder ankommen. stärkt verankert werden“. PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar Doch Angela Merkel gibt sich Bartsch sieht seine Partei durch Merkel vor beim Thema Ostdeutschland un- einer „neuen Herausforderung“ – nun wird auffällig bedeckt – wie auf anderen es um Programme und Positionen gehen. gefährlichen Politikfeldern auch. „Wenn die CDU unter Angela Merkel sich mit uns inhaltlich auseinander setzen will“, * Rechts: bei der Pressekonferenz zur Zukunft sorgt er sich, „ist das für viele bei uns eine der Bundeswehr am vergangenen Dienstag in

Berlin; unten: am 8. März im mecklenburgi- M. SCHREIBER komplett neue Situation.“ schen Stavenhagen. CDU-Politiker Merkel, Breuer*: Vermintes Gelände Die Sozialdemokraten geben sich derweil demonstrativ gelassen. „Ostdeutsche an der Spitze“, tönt Brandenburgs SPD-Landeschef mit Blick auf Manfred Stolpe und Wolfgang Thierse, „das haben wir seit Jahren.“ Doch neue Gesichter an der Spit- ze, neben der blassen Familienministerin Christine Bergmann und dem allzu zurück- haltenden Staatsminister , tä- ten der Ost-SPD gut, wenn sie gegen Merkel antreten muss. Matthias Platzeck halten ein- flussreiche Ost-Sozis für kabinettsreif. „Der sollte sich“, fordert Mathias Schubert, Ost- Vormann der Bundestags-SPD, „stärker in die Bundespolitik einmischen.“ Derzeit ist Sachsen-Anhalts Ministerprä- sident Reinhard Höppner die Leitfigur der Ost-SPD. „Ich nehme die Herausforderung, die Angela Merkel darstellt, gerne an“, begrüßt er die Konkurrentin, aber mit ei- nem spitzzüngigen Warnhinweis: „Es wäre ein übles Spiel, wenn die Männer in der Union sie nur benutzen, um nach zwei Jah-

L. CHAPERON ren zu zeigen, dass die Ossis es doch nicht Künftige CDU-Chefin Merkel, Parteifreunde*: Im Osten verankert können.“ Stefan Berg, Tina Hildebrandt

38 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Computer-Labor der Fachhochschule Aalen

FOTOS: RÖTTGERS / GRAFFITI / IMAGES.DE (li.); M. VOGEL (M.); DPA (re.)

BILDUNG Ausfall im System Die Computer-Branche sucht verzweifelt nach Programmierern und Internet-Experten. Verpasst Deutschland den Boom im neuen Net-Business? Die Hochschulen sind überfordert. Der Import von Software-Ingenieuren aus Indien wird zum Wahlkampfthema.

ur Zukunft geht es zwei Treppen ten des spendablen Software-Milliardärs. Deutschlands IBM-Chef Erwin Staudt, aufwärts, erste Tür links, im Gebäu- 75000 neue Mitarbeiter sucht die Compu- der Kanzler Gerhard Schröder schon mal in Zde der Ostdeutschen Sparkassen- ter-Branche dieses Jahr, aber nur 45000 die Geheimnisse der Computer-Bedienung akademie. „Hasso-Plattner-Institut“ steht neu ausgebildete Experten kommen auf einweihen darf (siehe Seite 64), hat mit der am Klingelschild. den Arbeitsmarkt. Die übrige Industrie, „Initiative D21“ auf den Mangel seit Mona- Der Mitgründer der Software-Firma klagte der BDI-Präsident Hans-Olaf Hen- ten hingewiesen. Doch erst als der Kanzler SAP hat in Brandenburgs Hauptstadt 100 kel vergangene Woche auf der Hannover vor vier Wochen auf der Computer-Messe Millionen Mark für den Aufbau dieses In- Messe, benötige noch einmal genauso viel Cebit eine „Green Card“ für ausländische stituts gestiftet, damit in Deutschland end- Experten der Informationstechnologie. Software-Entwickler forderte, gab es Alarm. lich Software-Systemingenieure ausgebil- det werden, so wie Plattner sich das vor- stellt: praxisnah und anwendungsorientiert und alles in sieben Semestern. „Weltklas- seleute“ kommen dabei heraus, da ist Platt- ner sicher, „die uns aus den Händen geris- sen werden“. Nur, es wird noch mindestens drei Jahre dauern, bis die kommende Elite der New Economy das Institut verlässt. Gerade ist das erste Semester in den gemieteten Spar- kassen-Räumen vorbei, ein eigenes Ge- bäude in der lieblichen Havellandschaft wird demnächst bezogen. Denn Software, sagt Plattner, „wird im Grünen gemacht“. Wie in der Bay Area um San Francisco soll sein Institut die kreativsten Köpfe anlocken. Dringend gebraucht aber werden solche Leute in der Wirtschaft jetzt – und in weit größerer Zahl als die jährlich 80 Studen- Vorlesung an der Berliner Humboldt-Universität: „Keine Kreativität und keine soziale

40 der spiegel 13/2000 Neue Netzwerker 22181 Informatikstudenten an deutschen Universitäten und Fachhochschulen Studenten auf dem Campus der Universität Konstanz, Bundes- kanzler Schröder bei der Cebit Studenten im 1. Fachsemester 17033 14 271 15070 13771

12936 genen Jahr die Wahlen in Hes- Absolventen sen gewonnen. Warum sollte mit Abschluss 6733 das nun nicht auch im Mai in 5979 6296 6280 6238 5217 NRW gelingen? Fast hat der ehemalige Bil- Quelle: Statistisches Bundesamt dungs- und Forschungsminister der Kohl-Regierung die Diskussion schon schen Bildungswege, von der Grund- bis 1993 94 95 96 97 98 wieder auf das handliche Stammtischformat zur Hochschule, sind für das rasende Zeit- einer emotionalisierten Einwanderungs- alter des digitalen Kapitalismus viel zu debatte reduziert. Dass die Ausbildung der starr, die Lehrer und Dozenten oft noch Jürgen Rüttgers, der CDU-Spitzenkan- jetzt fehlenden Fachkräfte just zu jener Zeit stur ihrem vorgefassten Bild von Welt und didat im nordrhein-westfälischen Wahl- hätte beginnen müssen, da Rüttgers noch als Bildung verhaftet. kampf, verquickte sogleich die beiden so genannter Zukunftsminister amtierte, So wie Computer und Internet die Kul- Reizthemen Ausländer und Ausbildung lässt der Wahlkämpfer gern beiseite. tur der Kommunikation verändern, die zum Schlagwort „Kinder statt Inder“: Doch auch aus der Koalition kommt Kri- Medienwelt umwälzen und die Codes der Durch mehr Computer-Unterricht und die tik an Schröders Aktion. Für den grünen Kids neu bestimmen, so muss auch die Umschulung von Arbeitslosen sei das Pro- Bildungspolitiker Matthias Berninger rea- Ausbildung für die oft ganz neuen Berufe blem auch ohne die Fremden zu lösen. Mit giert die Regierung viel zu langsam auf die der Web-Designer und Network-Manager einer Kampagne gegen die doppelte Staats- Krise. „Die SPD weiß nicht, was sie will“, anderen Regeln folgen. bürgerschaft und gegen die Schulpolitik kritisiert der grüne Bildungspolitiker. Bil- Anpassung an neue Anforderungen fällt von Rot-Grün hatte die CDU im vergan- dungsministerin Bulmahn sei entschlossen, dem föderalen deutschen Bildungswesen Arbeitsminister eher zöger- immer schwer, der Hang des Bundesbür- lich, die SPD-Arbeitsgemeinschaft für Ar- gers zu lebenslänglicher Sicherheit macht beitnehmerfragen „national demokratisch nicht gerade bereit für eine Welt neuer ablehnend“, und Bundeskanzler Schröder Netze voller ungewisser, aber unglaublich „glaubt, dass er durchkommt, wenn er alle schneller Entwicklungen. Droht eine digi- ein bisschen bedient“. Dabei müssen aus- tale Bildungskatastrophe? ländische Studierende weiterhin nach dem „Die Hochschulen haben die Entwick- Abschluss Deutschland verlassen, obwohl lung der Informationsgesellschaft ver- sie dringend gebraucht werden, ärgert sich schlafen, ihre Ausbildung verharrt besten- Berninger: „Das ist doch absurd.“ Die falls im tiefsten Industriezeitalter“, be- kompromisslerische Taktik von Schröder fürchtet Franz Lehner, Präsident des Insti- werde schließlich zu so einer Lösung tuts Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. führen, „dass kein einziger ausländischer Die geplante Green Card für Computer- Programmierer zu uns kommt“. Experten sei „ein Armutszeugnis für die Der Mangel an Experten für die zurzeit Wirtschaft und für die Hochschulen, die wichtigste Zukunftsbranche lässt auf einen Entwicklung des für die Informations- gefährlichen Ausfall im System der deut- gesellschaft benötigten Humankapitals schen Bildung schließen. Es fehlt nicht nur wurde vernachlässigt“.

D. AUSSERHOFER schlicht an einigen zehntausend Informa- „Unsere Studiengänge sind für die Kompetenz“ tikern – die festgelegten Gleise der deut- Geschwindigkeit des Internet viel zu

der spiegel 13/2000 41 Software-Experten im indischen Bangalore

langsam“, meint auch der Saarbrücker neue Berufe entstehen lässt, hatten die Pro- ren jene Software-Ingenieure aus Indien, Wirtschaftsinformatiker August-Wilhelm gnostiker nicht geahnt. „Dass der derzeiti- die auch Schröder gern im Lande hätte. Scheer. Der Professor weiß, wovon er ge Boom so groß werden würde, war ein- Schnelle Programme sollen nun erste spricht: Er ist auch als Unternehmer in der fach nicht vorherzusehen“, sagt Uwe Hilfe leisten, da fast überall an den Unis die Informationstechnologie erfolgreich, mit Baumgarten, Informatik-Professor an der Informatik-Vorlesungen wieder überfüllt 860 Mitarbeitern und 170 Millionen Mark Technischen Universität München. sind. Bayerns Wissenschaftsminister Ze- Umsatz. „Die deutschen Hochschulen ver- Auch Bayerns Wissenschaftsminister hetmair will mit Hilfe von 30 Millionen mitteln vor allem Wissen, vernachlässigen Hans Zehetmair (CSU) entschuldigt die Mark die Studienplätze in diesem Fach von aber soziale Kompetenzen, Kreativität und mangelnde Voraussicht durch die damalige rund 2500 auf 3000 erhöhen. Sein Kollege unternehmerisches Denken.“ Lage am Arbeitsmarkt: „Mitte der neunzi- Klaus von Trotha (CDU) aus Baden-Würt- Die Unternehmen ihrerseits denken sel- ger Jahre haben oft nicht einmal die besten temberg erweitert die Berufsakademien, ten über eine langfristige Qualifizierungs- Informatiker der TU München einen Job eine Mischung aus Studium und Berufs- strategie nach. „Sie behindern ständig die bekommen.“ Die Studenten reagierten ausbildung, um 84 zusätzliche Stellen für Ausbildung durch ihre Kurzsichtigkeit“, prompt. Allein die Zahl der Studienplatz- Informatik- und Medien-Studiengänge. klagt der Hamburger Informatik-Professor Interessenten für Informatik an Univer- Vergangene Woche stellte Bundesbil- Klaus Brunnstein. Die Firmen sind tatsäch- sitäten sank von 8000 im Semester 1989/90 dungsministerin Bulmahn ein Förderpro- lich zu einem guten Teil mitverantwortlich auf 4600 im Sommer 1995. gramm für neue Medien in der Bildung für den gegenwärtigen Mangel an Infor- Studiengänge wie an der Universität Hil- vor. In den nächsten fünf Jahren hat der matik-Nachwuchs. Mitte der neunziger desheim, die nur zu 60 Prozent ausgelastet Bund rund 400 Millionen Mark vorgese- Jahre, als die jetzt fehlenden Absolventen waren, wurden unter der Ministerpräsi- hen, um Computer besser als Lehr- und ihr Studium hätten beginnen müssen, riet dentschaft von Gerhard Schröder ge- Lernmittel einzusetzen und moderne Lern- die Branche heftig davon ab. schlossen. Andere wie in Hamburg leiden Software zu entwickeln. Optimistisch ver- „Programmierer am Ende“, warnte die noch immer unter den Personalkürzungen kündet die Sozialdemokratin: „Wir erle- „Zeit“ im Februar 1995. „Diese Branche aus dieser Zeit, besonders da nun wieder ben in Deutschland eine Aufbruchstim- hat jahrelang dermaßen geboomt – das die Studentenzahlen steil steigen. „Unser mung in Sachen Internet.“ konnte nicht ewig so weitergehen“, er- Fachbereich ist völlig überfordert“, be- klärte auch Werner Dostal vom Institut für schwert sich Professor Brunnstein, „und Jedem Schüler einen Laptop Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der schuld daran ist die inkompetente Landes- Bundesanstalt für Arbeit. Die Hamburger regierung der SPD.“ Per Mausklick in die Zukunft – so lautet Gesellschaft für Technologieberatung und Vor allem in den ärmeren, SPD-regierten das schlichte Rezept von Politik und Wirt- Systementwicklung verkündete gar: „Die Ländern, so Brunnstein, fühlen sich die schaft. Das soll da anfangen, wo die Kinder Computer-Berufe werden langfristig aus- Hochschullehrer zerrieben zwischen dem zum ersten Mal ins staatliche Bildungs- sterben.“ Sparkurs der Landespolitik und den For- system einsteigen: Bis zum Jahr 2001 be- Die Experten glaubten damals, dass Pro- derungen der Bundespolitik. sitzen alle deutschen Schulen einen Inter- grammierer für Großrechner und Anwen- Da tröstet es wenig, dass in anderen Staa- net-Zugang, das hat der Bundeskanzler dungsprogramme überflüssig würden. Im- ten die Fehleinschätzungen des Informa- versprochen. mer mehr gebrauchsfertige Standard-Soft- tik-Marktes kaum geringer waren. In der Und die großen Unternehmen der In- ware werde ihre Arbeit ersetzen. Den Rest gesamten EU werden in drei Jahren 1,7 Mil- formations- und Telekommunikationsin- könnten Spezialisten in Billiglohnländern lionen Experten für Informationstechnolo- dustrie helfen Schröder, nicht ganz selbst- via Datenleitung erledigen. Den Auf- gie fehlen. Selbst die USA wurden vom los: Die Deutsche Telekom plant, in diesem schwung durch das Internet, das völlig Branchen-Boom überrascht und importie- und im nächsten Jahr alle Schulen mit ei-

42 der spiegel 13/2000 Deutschland

www.jobwunder Arbeitsmarkt für Computernetzwerk-Spezialisten in Westeuropa bis 2002 1,6 Millionen Nachfrage an 2002 fehlen Fachkräften etwa 600 000 1,2 Arbeitskräfte, davon allein rund 188000 0,8 in Deutschland Angebot 0,4 Quelle: Inter- Prognose national Data Corporation 1998 1999 2000 2001 2002 1999

CDU-Politiker Rüttgers, Homepage des Internet-Anbieters AOL

FOTOS: CONTACT / AGENTUR FOCUS(li.); B. THISSEN (re.) surft. Weniger als zehn Pro- nath, die Schüler sollten vor allem ange- zent der Pädagogen sind re- leitet werden, selbständig zu arbeiten. Nur gelmäßig mit ihren Schülern neue Computer würden noch nicht für eine im Netz unterwegs. Fast bessere Schule sorgen. „Den Lehrern darf zwei Drittel des Lehrkörpers man nicht nur das Internet erklären, sie sind älter als 45 Jahre – sie brauchen didaktische Tipps, um damit um- gelten als weitgehend „com- gehen zu können.“ Die entscheidende Fra- puter-resistent“. „Die Leh- ge sei, wann der Computer mehr nütze als rer sind die Schwachstelle“, herkömmliche Unterrichtsmethoden. erklärt Walter Thomann Doch die Kultusbürokratie schläft: Ei- nem kostenlosen ISDN-Anschluss auszu- vom Institut für Schulforschung und nen eigenen Studiengang für zukünftige statten und einen ebenso kostenfreien Zu- Lehrerbildung der Universität Wuppertal. Informatik-Lehrer an Gymnasien gibt es gang zu T-Online, dem Internet-Dienst des „Nur wenige meiner Lehrer haben eine nicht einmal in allen Bundesländern. „Leh- Konzerns, anzubieten. Konkurrent AOL Ahnung von Computern“, sagt genervt rerinnen und Lehrer sind in Bezug auf In- will, natürlich ebenfalls umsonst, Zugänge Nigel Treblin, 17, Schüler am Gymnasium formatik derzeit häufig Autodidakten, im zum Internet einrichten und künftig von Ulricianum im ostfriesischen Aurich. „Im günstigsten Fall unterstützt durch Fortbil- den rund 670000 Lehrern in Deutschland Informatik-Unterricht lernen wir noch die dungskurse“, kritisiert Michael Sonnen- keine Grundgebühr mehr verlangen, wenn Computersprache Pascal – wie vor 15 Jah- schein, Informatik-Dekan an der Univer- diese sich von zu Hause in das Internet ren.“ Nigel hat sich, wie viele seiner Mit- sität Oldenburg. Und da die meisten Leh- einwählen. schüler, seine Computerkenntnisse vor al- rer kein Informatik-Studium nachweisen Auch an Hardware soll kein Mangel lem selbst beigebracht. Ab und zu richtet können, dürfen sie das Fach häufig auch mehr herrschen: Die Initiative D21, in der er schon kleinen Firmen gegen Honorar nicht als Leistungskurs anbieten. über 100 Unternehmen und Wirtschafts- eine Hompage ein und wartet mit Freun- Wie dramatisch die Lage ist, zeigt sich an vertreter zusammengeschlossen sind, will den die Computer und den Computerraum der Medizinischen Universität Lübeck. in den nächsten eineinhalb Jahren 20000 an seiner Schule. Michael Herczeg, Professor am Institut für Schulen mit modernster Technik ausstat- Technikfeindlichkeit gibt es unter den Multimediale und Interaktive Systeme: ten. In jeder Bildungsanstalt soll ein 50000 Kids von heute kaum. Die Mitschüler von „Wir bieten Informatik-Fortbildung für Mark teures Set aus Rechnern, einem Ser- Nigel in der 10. Klasse fordern vielmehr: Lehrer, ohne dass dies unser Auftrag wäre ver, Druckern und Lern-Software instal- „Schon in der Grundschule müssen Com- und ohne dass unsere Hochschule dafür fi- liert werden. Die Vision von Jörg Menno puter in den Unterricht“; „die Lehrer brau- nanziert würde.“ Doch ohne das Angebot Harms, Deutschland-Chef von Hewlett chen eine bessere Ausbildung“; „wir wol- der Uni wäre die Zahl der Netz-Dilettanten Packard: „Ein Laptop auf jeder Schul- len den PC täglich benutzen“. unter den Lehrern noch größer. bank.“ „Ja, die Lehrer sind tatsächlich das Pro- „Deutschland steht bei der Integration Doch mit Hardware allein ist der Mise- blem“, bestätigt Reinhard Donath, Eng- des Computers in den Unterricht noch re der Ausbildung für die digitale Welt lischlehrer und Computerexperte am Ulri- ganz am Anfang“, gibt Matthias Rößler nicht beizukommen – es fehlt an geeigne- cianum. „Das Konzept des Lernens muss (CDU), Kultusminister in Sachsen, unum- ten Lehrern und Lehrplänen. Die meisten sich im Informationszeitalter grundlegend wunden zu. Pädagogen gehören zu den Analphabeten ändern.“ Sein Ministerium und der Computer- des Informationszeitalters: Nach einer Stu- Unterricht ex cathedra ist nicht mehr ge- Konzern IBM eröffneten Anfang März ein die der Bertelsmann-Stiftung haben 80 Pro- fragt. Der Pädagoge müsse vom Wissens- Schulungszentrum für Lehrer im World zent der Lehrer noch nie im Internet ge- vermittler zum Moderator werden, so Do- Trade Center in Dresden. Dort sollen in 20

der spiegel 13/2000 43 Morscher Lehrkörper Altersstruktur der deutschen Lehrerschaft Lehrer über 45 Lehrer unter 45 62% davon sind... 38% unter 35 55 Jahre 11% und älter 35 bis 40 19,3% 10,5% 50 bis 55 40 bis 45 18,2% 16,5% 45 bis 50 24,5%

Homepage des Fördervereins für Hochbegabte, Computer-Unterricht

F. HELLER / ARGUM Kursen zunächst 240 Lehrer fit Word, Excel, PowerPoint, Outlook Express für das Internet gemacht wer- und Internet Explorer umgehen, hat mit den. Die Pädagogen lernen E- anderen kleinen Schlaubergern eine Web- Mails zu verschicken, Suchma- site bei Microsoft und schickt seinem schinen im Internet zu benutzen oder mit Eine Folge kann Erben jedes Jahr bei den Großvater E-Mails, um sich über seine El- Mailing-Listen umzugehen. so genannten Junior Consult Conferences tern zu beklagen. seines Mutterkonzerns CSC erleben. Derart junge Computer-Experten sind Die Sprache der Websites Während die so genannten Young Profes- noch eine Ausnahme in dem Land, das die sionals etwa aus Frankreich 23 bis 24 Jahre USA, aber auch Europa zunehmend mit Im Schnitt dauert es 13,5 Semester, dann alt sind, haben die deutschen Berufsanfänger dem dort fehlenden Nachwuchs an Soft- kann sich der erfolgreiche Student in mindestens ein Alter von 27 Jahren. ware-Ingenieuren versorgt. Die Ausbildung Deutschland Diplom-Informatiker nennen. Doch in der flinken Anpassung an den dazu beginnt früh. Mit fünf Jahren wer- Die Informatik ist der klassische Uni-Weg aktuellen Bedarf sehen manche Uni-Wis- den die Schüler mit dem Computer ver- zu den Computer-Berufen. Um 1970 wur- senschaftler gerade das Risiko. „Wenn ich traut gemacht und lernen bis zur High den die ersten Studiengänge eingeführt, in heute Studenten im Schnelldurchlauf aus- School eine beeindruckende Anzahl von der Hochzeit der großen IBM-Rechenzen- bilde, bekomme ich die Rechnung dafür in Programmiersprachen – allerdings nur auf tren und der knappen Speicherplätze. Pro- fünf Jahren“, sagt Herbert Kubicek, Pro- einer kleinen Anzahl von Elite-Schulen grammieren war die höchste Kunst des In- fessor für Angewandte Informatik in Bre- und -Instituten. formatikers. Auch wenn inzwischen viele men. Ein solides Studium der Informatik Die Anforderungen der Ausbildungs- Varianten und Verbesserungen des Infor- vermittle mehr als nur, wie man Websites stätten für Informationstechnologie sind matik-Studiengangs angeboten werden, die bastelt. Informatik sei vielmehr einem extrem hoch, doch die Studenten nehmen Tradition aus der Computer-Urzeit prägt Sprachenstudium zu vergleichen: Der Stu- die Herausforderung stolz an. „Wir arbei- noch allzu häufig den Zugang der Dozen- dent müsse verstehen, welche Program- ten hart, wir sind motiviert und wir kämp- ten zur neuen Netzwelt. miersprache für welche Anwendung ge- fen – angesichts des Bevölkerungsfaktors – Die Uni vernachlässigt den Bezug zur eignet sei und welche Sprachfamilien es gegen eine starke Konkurrenz“, sagt etwa Umwelt und spinnt sich in praxisferne, dabei überhaupt gebe. Rahul Naithani, Student am Delhi College wissenschaftsinterne Fachdebatten ein, „Einzelne Programmiersprachen wer- of Engineering. viele Professoren pflegen einfach ihre den alle drei bis vier Jahre ausgetauscht“, Die Inder haben eine Reihe gewisser- „Großordinarien-Attitüden“ und berieseln sagt Kubicek. „Viele Studenten wollen nur maßen natürlicher Vorteile im Geschäft die Studenten mit Unwesentlichem, mo- Java programmieren und denken, sie krie- mit der digitalen Welt. Sie sprechen die niert Lehner vom Gelsenkirchener Insti- gen dann einen tollen Job – das stimmt Computer-Sprache Englisch wie eine Mut- tut Arbeit und Technik. „Beim Informa- aber leider nur, solange Java in Mode ist.“ tersprache. Und seit Jahrhunderten hat in tikstudium werden die Studenten doch ein- Wer dann nicht über ein fundiertes Wissen Indien ein Denken Tradition, das für das fach stumpf auf die Informationstechnik verfüge und mit vielen Sprachen vertraut Programmieren programmiert: „Die dop- hin abgerichtet, diese Fächer sind total ver- sei, könne neue Sprachen nicht schnell ge- pelte Logik von Sanskrit und Mathema- schult. Und dann wundert man sich, wenn nug lernen und werde von der nächsten tik“ nennt es Manu Bahuguna, Direktor die in der Wirtschaft und bei der Kunden- Generation von Eintagsprogrammierern der Internet-Firma Easel Interactive in betreuung total versagen.“ abgehängt. Delhi. Die deutsche Informatik-Ausbildung Die hochkomplizierte heilige Sprache habe „zu viel Inhalt, zu viel Details und Das indische Software-Wunder und die alte indische Perfektion in Astro- ist deshalb viel zu lang“, meint auch logie und Astronomie erweisen sich als Klaus-Michael Erben, Marketingleiter der Zu Besuch beim indischen Premiermi- Vorteile im Konkurrenzkampf der Com- hessischen Beratungsfirma CSC Ploenzke. nister Atal Behari Vajpayee, verkündete puter-Systeme. „Wir sind schlechte Mana- Zudem fehle in der deutschen Hoch- das Wunderkind Ajay Puri, 3, vor zwei ger“, sagt Bahuguna, „aber Mathematik schulausbildung die „systematische För- Wochen: „Ich will wie Bill Gates werden.“ haben wir weit länger als der Rest der Welt derung von sozialer Kompetenz“. Ajay kann mit den Computer-Programmen betrieben.“

44 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite T. EVERKE (o.) T. Börsengang des Software-Unternehmens SAP an der New Yorker Wall Street (1998), SAP-Homepage, Modell des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam

Das Beispiel USA Auch die amerikanische Wirtschaft wurde vom Boom der Internet-Ära überrascht, die Ausbildung der Fachkräfte kam nicht so schnell hinterher. Bis zu 350000 Arbeits- plätze sind offen, behaupten die Vertreter der Computerindustrie. Die Zahl der so genannten H-1B-Visa für ausländische Ex- perten, so wird gefordert, soll von 115000 Harvard-Universität wurden im letzten digitalen Zukunft ein breites Spektrum an auf 195000 erhöht werden. Ideen-Wettbewerb bereits die Hälfte der Fähigkeiten abdecken müssen. Die Online-Welt lernen die meisten Teams von Risiko-Finanziers gesponsert. Der Gelsenkirchener Experte Lehner Schüler schon am heimischen PC oder in Universitätseigene Patentbüros beraten die schlägt vor, mehr Geisteswissenschaftler in der Schule kennen. Über 80 Prozent der jungen Wissenschaftler, übernehmen die Aufbaustudiengängen umzuschulen, „in amerikanischen Klassenräume haben heu- Patentkosten und bringen Studenten mit Abstimmung mit kleinen Unternehmen“. te Internet-Zugang, 1994 waren es erst Bankiers und Investoren zusammen. Als Er schwärmt: „Stellen Sie sich nur einmal 3 Prozent. In vielen US-Staaten sind die Gegenleistung fließen zwei bis drei Pro- vor, wie schnell sich Anglistikstudenten Schulen fast komplett ans Netz ange- zent vom späteren Firmenumsatz als Li- und Arabisten in einer Spracherkennungs- schlossen. Dennoch sind – wie in Deutsch- zenzgebühr an die Uni zurück. firma nützlich machen könnten.“ land – die Lehrer oft schlecht für den Um- Nicht selten helfen auch Professoren bei Der Berater mit seinen 53 Jahren ver- gang mit dem Internet gerüstet, wissen die der Gründung eines Unternehmens mit, sucht sich derzeit selber als Start-up-Un- Schüler oftmals mehr als ihre Pädagogen. das eine neue Entdeckung vermarkten soll. ternehmer. Er will in einem eigenen Fort- Der Beat allerdings, der die amerikani- Nach einiger Zeit kehren die Gründer wie- bildungsinstitut Schöngeister zu Software- sche Wirtschaft derzeit vorantreibt, lässt der auf ihren Lehrstuhl zurück – und for- Spezialisten umformen. UniNova soll die sich an Schulen und Universitäten nur be- schen weiter. Gründung heißen, wie „Neue Uni“. schränkt lehren. Es ist ein unbändiger Wer so auf das Business-Leben pro- Doch nur mit einfacher Umschulung ist Drang nach Unabhängigkeit, Selbstver- grammiert ist, der stürzt sich auch ohne es nicht getan. Die Kandidaten müssen wirklichung, Erfolg und Reichtum. Uni-Studium auf die neuen Berufe der In- auch zur neuen Kultur ihrer künftigen Ar- Über 70 Prozent der Schüler an den ternet-Welt. Auch wenn schon etliche beitgeber passen. „Mann, wir werden eh amerikanischen High Schools wünschen Hochschulen in E-Commerce ausbilden, schon mit Bewerbungen bombardiert“, sich eine Zukunft als Boss in der eigenen Berufe wie Web-Designer und Webmaster sagt David Linderman, 29, und schüttelt Firma. Rund 10000 Geschäfts-Vorschläge lehren – der Nachwuchs für die zahllosen seine wilde Punker-Frisur. Der Gründer bekommen Risikofinanziers im Silicon Start-ups hat seine Kenntnisse meistens und Leiter der erfolgreichen Web-Agentur Valley oder in New York pro Jahr, oft- sich selbst beigebracht und im Learning-by- „Fork Unstable Media“ hat seine Firma im mals noch von Teenagern. Immer mehr doing vervollkommnet. Die jungen Firmen Hamburger Szeneviertel am Schulterblatt Universitäten veranstalten Businesswett- legen bei Bewerbern mehr Wert auf In- angesiedelt, wo sich die alteingesessene bewerbe, Gewinn ein paar zehntausend itiative, Kreativität und die gewisse Inter- Besetzerszene aus der „Roten Flora“ mun- Dollar. net-Kultur als auf formale Ausbildung. ter mit Fixern, Club-Groupies und den Nahezu jedes Online-Geschäftskonzept Neue-Medien-Tycoonen von Pixelpark und kommt aus den Vereinigten Staaten, oft- Lernen in Start-ups Netzpiloten vermischt. mals von Studenten oder Jungunterneh- „Aber zu 99 Prozent kannst du diese Be- mern unter dreißig. Es muss nicht immer ein Informatiker sein werbungen vergessen. Ich merke sofort, Die Ideen sind für Venture-Kapitalisten – nur mühsam setzt sich bei den Verant- wenn das Umschüler sind, die gerade ein so interessant, dass sie viele Studenten wortlichen der deutschen Ausbildung die halbes Jahr umgelernt haben. Bisschen gleich unter ihre Obhut nehmen: An der Erkenntnis durch, dass die Fachkräfte der Photoshop, bisschen HTML, und so wollen

46 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland Im Schweinezyklus Deutschlands Industrie beklagt einen Mangel an Ingenieuren. Vor allem Elektrotechniker und Maschinenbauer fehlen.

iemens feuert. 150 Mülheimer Be- derte Bundeskanzler Gerhard Schrö- rufsforschung bei der Bundes- schäftigte stellte die Siemens- der sogar zum Import von Gastarbei- anstalt für Arbeit in Nürnberg STochter KWU vergangene Woche tern auf. Die geplante Greencard, so notiert gar: „Der Schweinezy- vor die Alternative: Wechsel in eine Reuther vergangene Woche in Hanno- klus geht um.“ Beschäftigungsgesellschaft oder Kündi- ver, dürfe nicht auf Computerexperten Mit altgedienten Kräften sind gung. Weitere 550 Mitarbeiter von beschränkt werden, sondern müsse die Lücken nicht zu schließen. Deutschlands größtem Elektrokonzern auch Elektrotechniker und Maschinen- Fast die Hälfte der 55 000 ar- stehen in der Ruhrgebietsstadt auf der bauer ins Land lassen. beitslos gemeldeten Ingenieure Abschussliste. Dabei ist der Nachwuchsmangel ist älter als 55, seit mehr als fünf Siemens heuert. Mindestens 3600 hausgemacht. Abgeschreckt vom Ra- Jahren ohne Job und hat, so der Spitzenleute will das Unternehmen in tionalisierungswahn deutscher Unter- VDI, den Anschluss verloren. diesem Jahr unter Vertrag nehmen und nehmen, haben sich 1996 nur noch halb Wie sich Personalchefs ihre wirbt per Stellenbörse im Internet ver- so viele Studienanfänger in den Wunschkandidaten vorstellen, zweifelt um Hochschulabsolventen. Fächern Elektrotechnik und Maschi- haben das Kölner Staufenbiel- „Nach den Computerexperten“, klagt nenbau eingeschrieben wie sechs Jah- Institut für Studien- und Be- Siemens-Personalvorstand Peter Pribil- re zuvor. Nach Angaben des Hoch- rufsplanung sowie der VDMA la, „ist nun auch der Markt für Ingeni- schul-Informations-Systems werden in untersucht. Demnach sollen In- eure praktisch leer gefegt“. den kommenden zwei Jahren daher je- genieure neben Wirtschafts- Stellenabbau einerseits, Nachwuchs- weils nur 28000 junge Ingenieure die und Computerkenntnissen vor mangel andererseits – in der Wirtschaft Unis verlassen. allem die Bereitschaft mitbrin- regiert, so scheint’s, der Irrsinn. Ob- Kaum zieht die Konjunktur an, leidet gen, der Exportnation Deutsch- wohl derzeit mehr als 55000 Ingenieu- die Wirtschaft unter Mangelerschei- land jederzeit und überall auf re in Deutschland arbeitslos sind, jam- nungen. „Die Fehlabstimmung zwi- der Welt zu Diensten zu sein. merten die Firmenbosse auf der Han- schen Arbeitskräftebedarf und -ange- Auf langjährige Berufserfahrung nover-Messe unisono über Personal- bot ist dramatisch“, sagt Holger Hill- oder durch eine Promotion engpässe. Beim Automobilzulieferer mer, der beim Verein Deutscher Inge- belegtes Spezialwissen hinge- Bosch fehlen angeblich 1350 Ingenieu- nieure (VDI) mehr als 40000 Stellen- gen legten die befragten Perso- re, bei VW 300, beim Reifenhersteller ausschreibungen zählte, in denen ein nalchefs keinen gesteigerten Continental 250. abgeschlossenes Elektrotechnik- oder Wert. Eberhard Reuther, Präsident des Ma- Maschinenbaustudium verlangt wurde. Doch die Hochschulen sind schinenbauerverbandes VDMA, for- Das Institut für Arbeitsmarkt- und Be- auf solche Anforderungen kaum eingestellt. Selbst Vorzeige-Unis wie die RWTH Aachen oder die Uni- versität Karlsruhe haben erst Mitte der neunziger Jahre erkannt, dass die neue Ökonomie auch das Ingenieurswesen verändert. Kombistudiengänge wie an der Universität Siegen, die Technik mit Betriebswirtschaft paaren, sind vieler- orts erst im Aufbau. Siemens setzt daher bereits auf Hil- fe aus dem Ausland. 2,7 Millionen Mark stiftete der Konzern im vergangenen Jahr, um 80 Studenten aus Fernost an deutsche Hochschulen zu locken und binnen zwei Jahren zum Abschluss zu bringen. Auch ältere Beschäftigte haben beim Elektrogiganten einstweilen wieder Chancen. Als der Betriebsrat für die laufende Tarifrunde kürzlich die Ren- te mit 60 forderte, wurde Siemens-Per- sonalchef Pribilla giftig: „Wir können uns doch nicht von Leuten trennen, für

M. HENGESBACH / JOKER M. HENGESBACH die es auf dem Arbeitsmarkt keinen Er- Maschinenbau-Studenten (in Bochum): Abgeschreckt vom Rationalisierungswahn satz gibt.“ Alexander Neubacher

50 der spiegel 13/2000 Computer-Labor der Fachhochschule Aalen, Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (USA), Crash-Test-Simulation bei BMW

RÖTTGERS / GRAFFITI / IMAGES.DE (li.); AGENTUR FOCUS (o.) ren in der Branche aktiv. Beispiel ist studierter Germanist. Heute „Aber das Stereotyp des leitet er über 200 Mitarbeiter, darunter Informatikstudenten ist hochspezialisierte Software-Entwickler, heute noch viel schlim- von denen er 80 weitere sucht. Firmenchef mer geworden: Der hat Stefan Wiesenberg findet es „vielfach gar den Rechner mit dem nicht so wichtig, wo die Leute beruflich die bei uns einsteigen. Aber denen fehlt Schlips vertauscht und den Lötkolben mit herkommen“. einfach die Beziehung zum Computer, die dem Handy, kann nicht programmieren „Ich frage deswegen schon gar nicht leben nicht in der Internetkultur, die und hat nur das Hauptfach im Kopf – mehr nach dem Studium oder den Noten sprechen nicht meine Sprache.“ Viel lieber Betriebswirtschaftslehre.“ bei Vorstellungsgesprächen“, sagt Kenan stellt Linderman dagegen Kids von 21, 22 Die Unternehmen selbst müssen einen Sabic, Chefentwickler bei der Kölner Kauf- Jahren ein, die schon ein paar Internet- Teil der Ausbildung leisten, bei Ponton beratungs-Datenbank Amiro.de. „Stattdes- Sites gebastelt haben und einfach „gut können die Mitarbeiter ein Fünftel ihrer sen will ich wissen, was die nebenher ge- drauf“ seien. Zeit für die Fortbildung nutzen. „Das In- jobbt haben.“ Die Uni dagegen vermurkst die Kreati- formatikstudium“, meint Vanasco, „ist Für den Hamburger Professor Brunn- vität der Leute, sagt Linderman. Und wenn heute allenfalls der Anfang einer lebens- stein ist gerade das ausufernde Jobben ein es ein neues Programm zu lernen gebe, langen Lernkarriere.“ Übel. Mehrmals pro Woche bekomme er dann setze man sich eben ein paar Nächte Viele Informatik-Studenten machen Anfragen von Computerfirmen, ob er nicht hin und lerne es – „learning by doing“. nicht mal das Studium zu Ende und lieber Stellenangebote in den Fluren aufhängen Genau nach diesem Prinzip kam Linder- gleich Karriere. An manchen Fakultäten könne. „Dabei arbeiten meine Studenten man schließlich selbst 1994 aus den USA beträgt die Abbrecherquote 50 Prozent, eh schon viel zu viel nebenher“, sagt nach Deutschland und startete völlig ohne und nicht allein wegen der Schwierigkeiten Brunnstein. „Die Studenten werden ein- wirtschaftliches Vorwissen seine Agentur. mit Stochastik, Algebra und Automaten- fach zu früh ausgebeutet. Die kommen Der typische Uni-Informatiker törnt die theorie. Dass ein Informatiker von der Uni schon ab dem dritten Semester total aus fetzigen Jungunternehmer enorm ab, auch Heidelberg kurz vor Studienabschluss zu dem Tritt, weil sie 15 oder 20 Stunden pro wenn sich mit der neuen Ökonomie und einer Computer-Grafik-Firma nach Ham- Woche in irgendwelchen Web-Agenturen dem Aufkommen des World Wide Web das burg wechselt und sogleich 7000 Mark Internetseiten basteln.“ Bild gewandelt hat. „Diese verschrobenen brutto verdient, ist keine Ausnahme. Bastlertypen gibt es heute an der Uni kaum Manche Firmen nehmen mit Bedacht Das Hasso-Plattner-Institut noch“, sagt etwa Salvatore Vanasco, Mit- keine fertigen Informatiker, sondern Quer- begründer und Vorstandsvorsitzender der einsteiger aller Arten. Der Chef des Esse- Studenten wie Professoren am Hasso-Platt- Hamburger Ponton Group und seit 15 Jah- ner E-Commerce-Unternehmens BOV zum ner-Institut (HPI) in Potsdam fühlen sich

der spiegel 13/2000 51 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland Montags Laptop, dienstags Andacht Ein Gütersloher Gymnasium erprobt den Computerunterricht der Zukunft.

ie Bässe hämmern durch den instrument lernen. Obwohl man auch via Mediävisten. Altes und Neues sinnvoll Raum. Zappelig sitzen 28 Teen- Internet ins All blicken kann, gibt es ein miteinander zu verbinden liege aber Dager montags vor ihren aufge- Teleskop. Jeden Dienstag wird von der in der Verantwortung der Erwachsenen. klappten Laptops. Sie lauschen einem schulinternen Pfarrerin in der Aula eine „Man kann nicht sagen: ‚Die Kinder sind Lied über das Leben der Cherokee in Re- Andacht gehalten. blöd, die lesen nicht mehr und spielen servaten: eine ganz normale Englisch- Der Leiter der Schule, Ulrich Engelen, nur noch Gameboy‘, und dann nichts stunde in einer fast normalen Schule. Die 55, will seine Schützlinge optimal auf das tun.“ Die „Verächtlichmachung der Ju- 8c des Evangelisch Stiftischen Gymna- Erwachsensein vorbereiten, aber keine gendlichen, besonders durch die Konser- siums in Gütersloh (ESG) ist eine von „stromlinienförmig gebürsteten Wirt- vativen“, bringt ihn in Rage. fünf „Laptop-Klassen“. schaftsexperten“ heranziehen. Die Schu- Die Laptop-Klassen sind Teil eines Pro- Die Englischlehrerin Yvonne Bans- le ist und bleibt für ihn „der Ort der Per- jekts der Bertelsmann Stiftung mit dem mann, 37, hat den Text von „Cherokee sönlichkeitsbildung“. Gütersloher Gymnasium. Anfang der People“ als Datei im Lap-Server gespei- Für den Oberstudiendirektor sind die achtziger Jahre gab Reinhard Mohn, 78, chert – mit Lücken, die von den Jugend- neuen Technologien wichtig, aber nicht Gründer der Stiftung und Abi-Jahrgang lichen jetzt nach Gehör ergänzt werden automatisch positiv. Die Informationen, 1939 des ESG, den Anstoß zu einem Kon- sollen. Nach der Instruktion, welche Da- die zum Beispiel das Internet bietet, kön- zept für die sinnvolle Integration von Me- tei wohin kopiert werden muss – natürlich nen „nützlich, schrecklich oder blöd“ dien im Schulunterricht. auf Englisch – , dröhnen Paul Revere and sein. Die Schüler sollen Strategien zum Begonnen hat alles mit Video- und the Raiders los. Passend zum Thema „Na- Umgang mit der Informationsfülle ler- Tonstudios und einer Mediathek, in der tive Americans“. nen. Dazu gehört auch die Fähigkeit ein- neben Büchern auch CD-Roms, Videos Neueste Technik und alte Traditionen zuschätzen, in welchen Fällen das Inter- und Diasammlungen thematisch geord- existieren am ESG einträchtig nebenein- net den traditionellen Informationsquel- net zu finden sind. 1996 kam der 150000 ander. Bevor die Schüler in die Welt der len unterlegen ist. Mark teure Multimedienraum hinzu. Dort Bits und Bytes eingeweiht werden, müs- „Das eine tun und das andere nicht findet heute zum Beispiel der Informa- sen sie in der 5. und 6. Klasse ein Streich- lassen“ ist das Credo des promovierten tikunterricht der 10. Klassen statt, in dem

Gütersloher Laptop-Klasse: „Der Unterricht macht viel mehr Spaß und ist spannender“ A. TEICHMANN

54 Homepage des Gütersloher Gymnasiums „Nützlich, schrecklich oder blöd“ die Jugendlichen eigene Webpages pro- grammieren. Aber auch zum Geschichts- unterricht treffen sich dort die Schüler und gestalten zum Beispiel CD-Roms. Eine davon, über Nationalsozialismus, hat inzwischen sogar einige Preise ge- wonnen. Bis jetzt sind 20 Millionen Mark in das Projekt geflossen, eine Million davon für die Laptop-Klassen. Sina Tholen, 14, und ihre Schulkameraden nennen seit gut ei- nem Jahr die von Toshiba für etwa 2000 Mark gelieferten Laptops ihr Eigen. Sie arbeiten nicht nur in den Kernfächern Deutsch, Mathematik, Englisch mit ih- nen, sondern auch in Musik oder Erd- kunde – und nehmen die Geräte natürlich mit nach Hause. Trotz Sponsoring ist der Laptop nicht umsonst zu haben. Die Eltern müssen pro Kind vier Jahre lang 65 Mark im Monat zahlen. Mit diesen gut 3000 Mark ist dann Hard- und Software, Versicherung sowie technischer Service abgegolten. Für nicht so zahlungskräftige Familien übernehmen finanziell besser gestellte Eltern einen Teil der Kosten. Im nächsten Schuljahr können wie- der 90 Siebtklässler mit Laptops aus- gerüstet werden. Die Nachfrage wird das Angebot übersteigen, denn ungefähr 150 Kids werden Schlange stehen. Com- puter-Know-how gehört schließlich mit zur Grundbildung – wie Lesen, Schrei- ben, Rechnen. Die kleinen Pioniere des Laptop-Ex- periments sind zufrieden. „Der Unter- richt macht viel mehr Spaß und ist span- nender“, erklären Sina und ihre Freun- dinnen. Was sie denn mal werden wollen? Modedesignerin, Tierärztin, Chirurgin. Nur Hanna Kunze, 13, will mal „was mit Computern“ machen. Katharina Stegelmann

der spiegel 13/2000 55 Für banale Bildungspolitik nach Berliner Art haben die Potsdamer HPI-Lehrer nur Spott über. In jede Schule einen Computer zu stellen und dann zu glauben, damit den Anschluss an die Weltspitze zu schaffen, findet Peter Tabeling nur witzig. Da könne man auch „jedem ein Auto schenken, da- mit er Maschinenbauingenieur“ werde. Der Studienalltag am HPI ist hart. Acht- Stunden-Tage sind die Regel, jedes der sieben Semester wird in jedem Fach min- destens eine Klausur geschrieben, viele Dozenten fordern zusätzlich noch Hausar- beiten. Es wird viel in Gruppen gearbeitet, jeder Student hat einen Dozenten als Betreuer, an den er sich in allen Fragen wenden kann. Einer der Studenten ist Sebastian Schenk, 21, der nach dem auf kei- nen Fall „einen Laber-Studiengang machen Homepage von Mercedes-Benz: Kopfgeld-Angebote am Schwarzen Brett wollte“. Der SAP-Gründer Plattner hatte ihn fasziniert: „Eine eigene Idee ent- als Elite. Mario Kupries, Dozent am HPI, gen – das ist ein Minderheitenprogramm. Es wickeln, sie konsequent umsetzen, damit ist überzeugt, dass an der Lehrstätte ein gebe immer weniger Bewerber, klagt Ku- reich werden, und das dann zum Beispiel „Ausbildungskonzept verwirklicht wird, pries, die „in mathematisch-technischen durch die Stiftung eines Instituts wieder mit dem Deutschland zum ersten Mal seit Fächern dicke Bretter bohren wollen“. gesellschaftlich einzusetzen“, das findet er langem auch den USA voraus ist“. In Pots- Als das Institut sich kürzlich Potsdamer „wirklich beeindruckend“. Das lässt ihn dam sollen die künftigen Software-Ent- Schülern bei einem Tag der offenen Tür auch über den Stundenplan des ersten Se- wickler lernen, selbst bei den größten und präsentierte, war von den 200 Anwesenden mesters hinwegsehen, der lauter harten komplexesten Computer-Systemen noch ganz schnell die Hälfte wieder geflüchtet, Stoff enthält: Mathematik, System-Model- den Überblick zu behalten. nachdem HPI-Direktor Siegfried Wendt lierung, technische Grundlagen der Infor- Dazu müssen die Studenten tief in die die ersten Diagramme an die Tafel ge- matik, betriebswirtschaftliche Strukturen Welt der Formeln und Algorithmen einstei- schrieben hatte. und Prozesse. Deutschland

Schenks Ziel ist klar: eine Führungspo- bekommt, stehen derzeit gerade mal 200 sition in der Software-Industrie. Die Chan- Absolventen gegenüber: „Da werden so- cen in den Mangel-Berufen der Informa- gar Kopfgelder geboten.“ Sechs Schwarze tionstechnologie stehen gut. „Um sich einer Bretter für Stellenangebote hängen mitt- Karriere zu entziehen“, sagen er und sei- lerweile im Fachbereich Informatik. Viele ne Freunde, „muss man schon Selbstmord der Jung-Informatiker verschwinden auch begehen.“ gleich in die USA. Auch Schmids Fakultät blieb indes nicht Die Universität Karlsruhe verschont vom Rückgang der Informatik- Studentenzahlen Anfang der neunziger Sie hat Deutschlands älteste, größte und Jahre. Der Fachbereich war nicht ausge- wohl auch beste Informatikfakultät. Keine lastet, Stellen wurden abgebaut. Heute, andere Hochschule kann in diesem Fach nachdem die Zahl der Studienanfänger seit Jahren so viel Fördergelder von öf- wieder angezogen hat, fehlt es an Lehr- fentlicher Hand und Unternehmen an sich personal. ziehen wie die Technische Hochschule In der Grundlagenvorlesung drängen Karlsruhe. Den Firmen gefällt besonders sich 700 Studenten in einem Hörsaal, der die Nähe zur Praxis. eigentlich für 500 angelegt ist. Statt 350 Gleich nach dem Vordiplom werden die Erstsemestlern kamen in diesem Winter

Studenten in Projektgruppen eingesetzt. N. ENKE 600. Der Professor, der die Einführung in Statt nur Theorie zu büffeln, können sie Unternehmer Wiesenberg die Informatik liest, hat einen einzigen As- ihre Grundkenntnisse frühzeitig anwen- „Nicht wichtig, wo die Leute herkommen“ sistenten. „Bei der Abschlussklausur muss den. Nützlicher Nebeneffekt: Die Projekt- der innerhalb von zwei Wochen 4000 Prü- arbeit fördert gleichzeitig die Fähigkeit, im im Servicebereich – etwa für Hotelbu- fungsaufgaben korrigieren“, klagt Schmid, Team zu arbeiten. chungen. Ähnlich futuristisch mutet ein an- „wegen der beengten Verhältnisse verlieren So tüfteln Karlsruher Jung-Informatiker deres Projekt an: die Entwicklung huma- wir jetzt viele Studenten vor dem Vor- an einem Spracherkennungsprogramm noider Roboter, die bei der Krankenpflege diplom.“ mit Übersetzungsfunktion. „Das klappt assistieren. schon ganz gut“, sagt Detlef Schmid, De- Dass sein Ausbildungskonzept aufgeht, Hochschule der Künste, Berlin kan am Fachbereich Informatik: „Wenn erfährt Schmid täglich aufs Neue. „Die Ab- man auf der einen Seite Deutsch ins Tele- solventen werden uns im Moment gerade- Immerhin, Malen und Singen kann man fon spricht, kommt am anderen Ende Ja- zu aus der Hand gerissen“, erzählt er. Den an der Berliner Hochschule der Künste panisch raus.“ Einsetzbar ist das Programm rund 5000 Anfragen, die Schmid pro Jahr (HdK) noch studieren. Aber ansonsten Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland Auf der Suche nach dem Genom Bioinformatiker sind gefragt – doch die Unis können nicht genug ausbilden.

eit Monaten habe er „eine freie tete sie eine Initiative zur Bioinfor- rung stellt 13 Millionen Mark aus ihrer Stelle für einen Bioinformatiker“, matik. Fördergelder von insgesamt Hightech-Offensive für die Einrichtung Sklagt Steffen Schulze-Kremer, 50 Millionen Mark stehen für jene Uni- eines Bioinformatik-Lehrstuhls zur Ver- Chef der Abteilung für Bioinformatik versitäten bereit, die die überzeugends- fügung. Einen neuen Studiengang wird am Ressourcenzentrum des Deutschen ten Forschungs- und Ausbildungskon- es vorerst auch in Würzburg nicht ge- Humangenomprojekts in Berlin, „aber zepte ersinnen. „Aber fragen Sie, wen ben. „Der Einstieg in die Bioinforma- ich finde einfach niemanden“. In der Sie wollen“, so Schulze-Kremer, „das tik soll bei uns durch eine Schwer- freien Wirtschaft locken höhere Ge- kommt fünf Jahre zu spät.“ punktbildung in den bereits vorhande- hälter. „Seit der Ausschreibung wollen nen Fächern Biologie und Informatik Voraussichtlich im Jahr 2003 wird plötzlich alle Unis Bioinformatik an- erfolgen“, sagt Jürgen Albert, Dekan das komplette menschliche Erbgut mit bieten“, beobachtet Andreas Zell, In- am Fachbereich Mathematik und In- geschätzten 100000 bis 140000 Genen formatik-Professor in Tübingen. Er formatik. entschlüsselt sein. Die ungeheuren konzipierte einen bundesweit bislang Bereits vor mehr als zehn Jahren Mengen an Information können nur einmaligen Komplett-Studiengang – führte die Technische Fakultät der Uni- mittels komplexer Datenbanken ver- noch vor der DFG-Initiative. Seit dem versität Bielefeld den interdisziplinären waltet und vor allem interpretiert wer- Studiengang „Naturwissenschaftliche den – eine Aufgabe, für die Computer- Informatik“ ein. „Damals war schon spezialisten gefragt sind, die zugleich abzusehen, dass die Informatik sich in molekularbiologisches Know-how mit- die Naturwissenschaften hineinver- bringen. Und nicht nur das menschliche zweigen würde“, erinnert sich der Bie- Genom wird enträtselt. Wissenschaftler lefelder Bioinformatik-Pionier Robert aus aller Welt haben sich die Gene der Giegerich. verschiedensten Organismen vorge- Giegerichs Studenten können ein nommen, denn wer gezielt in Erbgut klassisches Informatik-Studium mit ver- und Stoffwechsel bestimmter Krank- schiedenen naturwissenschaftlichen Fä- heitserreger eingreifen kann, hat damit chern kombinieren – auf dem Arbeits- auch die Möglichkeit, sie zu be- markt sind im Moment vor allem Ab-

kämpfen. K. THIELKER solventen mit molekularbiologischen „Mit den biologischen Daten allein Bioinformatiker Schulze-Kremer Kenntnissen gefragt. „Ständig bekom- kann man nichts anfangen“, erklärt „Das kommt fünf Jahre zu spät“ me ich Anfragen aus der Industrie“, Schulze-Kremer. Die Sequenzierung, erzählt Giegerich. Wer jetzt ein Studi- also die Übersetzung der Erbinforma- Wintersemester 1998/99 büffeln Tübin- um der Bioinformatik aufnimmt, hat tion in eine Buchstabenabfolge, ist nur ger Studenten sowohl Programmier- nach seiner Einschätzung beste Job- ein erster Schritt. Was folgt, wird For- sprachen als auch Biochemie und Mo- Aussichten. schungseinrichtungen ebenso wie pro- lekularbiologie. Der erste Jahrgang Zum Beispiel bei Biomax Informatics fitorientierte Biotech-Unternehmen startete mit 30 Studenten, im zweiten im Biotech-Gründerpark Martinsried noch jahrzehntelang beschäftigen: aus Jahr schrieben sich schon 80 Erstsemes- bei München: Auch hier werden Da- den Sequenzdaten nämlich die Ursa- ter ein. ten, die aus der Sequenzierung der chen von Krankheiten zu lesen und auf Nicht an jeder Universität verbirgt unterschiedlichsten Genome gewon- dieser Grundlage Therapien zu ent- sich hinter der Fachbezeichnung Bio- nen werden, in verwertbare Infor- wickeln. Der jungen Wissenschaft informatik auch ein vollständiger Stu- mationen übersetzt. Hans-Werner Bioinformatik kommt dabei eine diengang. In Freiburg zum Beispiel Mewes, Professor am Max-Planck- Schlüsselposition zu. können Informatik-Studenten seit dem Institut für Biochemie, arbeitet schon Georg Casari, Abteilungsleiter der vergangenen Wintersemester Bioinfor- seit zehn Jahren im Bereich der Bio- Bioinformatik bei der Heidelberger Fir- matik im Nebenfach belegen. Die bio- informatik. Vor mehr als zwei Jahren ma Lion Bioscience, ist ständig auf der logischen Lehrinhalte, so der Informa- hob er Biomax aus der Taufe. „Im Suche nach Nachwuchskräften. Das tik-Professor Hans Burkhardt, der das Augenblick ist es ziemlich schwer, Unternehmen entwickelt Software zur Studienangebot mitentwickelt hat, ma- Mitarbeiter zu finden“, stellt Mewes systematischen Auswertung biologi- chen etwa 20 Prozent des Curriculums fest. scher Informationen und beschäftigt aus. Hier haben die Verantwortlichen Der Wissenschaftler begrüßt deswe- derzeit rund 200 Mitarbeiter, die Hälf- den Bedarf der Industrie erkannt. gen die Einrichtung entsprechender Stu- te davon im Bereich der Bioinformatik. Burkhardt: „Wir haben mit Basel und diengänge. Doch er sieht auch prakti- „Das Fach ist absolut im Aufwind“, ur- Straßburg zwei sehr interessante Phar- sche Probleme: „Ich frage mich, wer teilt Casari. maindustrie-Standorte in unmittelba- eigentlich auf die neu geschaffenen Das hat inzwischen auch die Deut- rer Nähe.“ Lehrstühle berufen werden soll“, über- sche Forschungsgemeinschaft (DFG) Die Universität Würzburg hat ähnli- legt Mewes, „die meisten Top-Kandida- erkannt. Mitte vergangenen Jahres star- che Pläne. Die bayerische Staatsregie- ten sind schon gebunden.“

60 der spiegel 13/2000 Hightech-Medizin, Versuchsroboter „Clever“ im DaimlerChrysler-Labor (in Berlin)

R. FROMMANN / LAIF (li.); A. KULL / VISION PHOTOS (re.) Ruhmann, Experte für die In- pus: Die Universitäten Freiburg, Karlsruhe, formationsgesellschaft in der Mannheim und Heidelberg beteiligen sich Bonner Außenstelle des Bil- an der Virtuellen Hochschule Oberrhein. dungsministeriums. Weil der Die Virtuelle Hochschule Bayern, an der Mittelbau, die Stellen für wis- alle bayerischen Hochschulen mitarbeiten, senschaftliche Mitarbeiter und startet in den nächsten Wochen einen Pra- Assistenten, in den vergange- xistest. Und die Virtuelle Fachhochschule, nen Jahren radikal abgebaut ein Verbund von 15 deutschen und 4 schwe- wurde, verlassen selbst an der dischen Hochschulen, will ab 2002 ein Voll- Lehre interessierte Absolven- studium via Internet anbieten. gehört die Kunsthochschule zur Avant- ten die Informatik-Fakultäten – der Nach- An der Fern-Universität Hagen ist das garde des digitalen Zeitalters. Seit zwei wuchs für die Ausbildung der nächsten Ge- Virtuelle schon Realität. Rund 6000 der Jahren gibt es die Initiative „HdK goes nerationen fehlt. insgesamt 56000 Studiosi sind beim On- Multimedia“, nun entsteht ein Studiengang „Der Arbeitsmarkt saugt alle Kräfte aus line-Zweig eingeschrieben. Sie erledigen für „Electronic Business“, finanziert durch der Ausbildung ab“, sagt Ruhmann, „dabei einen Teil ihrer Aufgaben über das Inter- eine Investorengruppe, zu der unter ande- bräuchten wir dringend Doktoranden, Be- net und nicht über die Post wie die ande- ren die Berliner Verkehrsbetriebe und die rufsschullehrer und Gymnasiallehrer mit ren Kommilitonen. Informatik und Elek- DeTeWe zählen. Für den bundesweit ein- Kenntnissen der Informationstechnologie.“ trotechnik können ab dem Sommersemes- maligen Studiengang werden gerade zwei Doch die Rechnung für das kurzsichtige ter sogar völlig am heimischen Computer Professuren ausgeschrieben. Sparen bei den Computerausbildern be- studiert werden. „Wir wollen Schnittstellenkompetenz komme die Gesellschaft erst in einigen Jah- Billig wird auch die virtuelle Uni nicht. schaffen“, erklärt HdK-Präsident Lothar ren präsentiert: „In fünf Jahren rollt eine Allein die schon jetzt erforderliche hoch- Romain. So sollen den Electronic-Business- Emeritierungswelle an.“ Zwischen 2005 schulinterne Vernetzung kostet nach Rech- Studenten zwar Web-Sprachen wie HTML und 2010 scheiden zwei Drittel der Infor- nung des Wissenschaftsrates 1,5 bis 3 Mil- oder Java sowie Wirtschaftswissenschaften matik-Professoren aus dem Berufsleben, liarden Mark, bessere Rechner für die vermittelt werden, doch der kreative die meistens zur Zeit der Bildungsexpan- Studierenden an den Uni-Arbeitsplätzen Aspekt – bei der Entwicklung einer at- sion Anfang der siebziger Jahre ihre Uni- seien noch einmal mit einer Milliarde Mark traktiven Web-Seite nicht unwesentlich – Laufbahn begannen. zu veranschlagen. soll ebenfalls nicht zu kurz kommen. Wenn in den Hörsälen bald die Infor- Die Vision der Zukunft: Bildung online Zunächst wird „Electronic Business“ für matik-Dozenten fehlen, dann können die und global. Studenten können aus einer Studenten nach dem Vordiplom angebo- Studenten dort Ersatz finden, wo sie oh- Zahl von Hochschulen die für sie am bes- ten. Die Ausbildung dauert fünf Semester, nehin schon surfen: im Netz. ten geeigneten Angebote abrufen und sich eins davon ist für Praktika in den koope- Nach Ansicht des SPD-Politikers und einen individuellen Stundenplan zusam- rierenden Firmen und für eine Diplom- Professors wird schon in fünf menstellen: das Seminar für internationa- arbeit vorgesehen. Jahren jeder zweite Student an einer les Recht von der Harvard University, die Später will die HdK dann einen Master- virtuellen Hochschule studieren. „Der Wirtschaftsvorlesung von der London Studiengang mit internationaler Beteili- Multi-Media-Einsatz wird für die deut- School of Economics, den Spanischkurs gung einführen. Voraussichtliche Koope- schen Universitäten angesichts der wach- von der Universität Barcelona und die rationspartner: die Universität St. Gallen senden Konkurrenz privater Anbieter zu Übung zur deutschen Geschichte von der und das berühmte Massachusetts Institute einer Überlebensfrage“, sagt der frühere Uni Tübingen. So macht Studieren Spaß – of Technology bei Boston. Rektor der Universität . und der realitätsfremde Professor ist nur In den USA gibt es bereits Hochschulen, noch eine Randfigur im digitalen System. Der Mangel an Ausbildern die weitgehend nur noch im Netz existieren, Julia Koch, Joachim Mohr, Mathias Müller etwa die University of Phoenix oder das von Blumencron, Padma Rao, Michael Sauga, Michael Schmidt-Klingenberg, Hilmar „Wir befinden uns in einer sich selbst Regents College. Auch deutsche Hochschu- Schmundt, Hajo Schumacher verstärkenden Abwärtsspirale“, warnt Ingo len sind auf dem Weg zum virtuellen Cam-

der spiegel 13/2000 61 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Homepage des Bundeskanzlers

Grüne Trittin, Röstel Minister Fischer

FOTOS: M. URBAN (li.); OSTKREUZ (re.) Traditionsgenossin nicht. „Er ist bestellt, aber noch nicht eingetroffen“, beteuert Pressesprecher Bernd Dunnzlaff. Auf den Gute Nacht im Netz Geschmack gekommen ist Wieczorek-Zeul, als sie kürzlich ihren ersten Internet-Chat Digitale Bildungskatastrophe absolvierte. Mehr als 1000 Anfragen in ei- ner Stunde, das war für die „interessierte im Kabinett: Nur wenige Minister sind voll internetfähig. Laiin“ (Dunnzlaff) ein echtes Aha-Erlebnis am Computer: „Wenn ich in meinem Wahl- oris Becker ist schon drin. Otto Schi- aber „die Absicht, sich das Bedienen eines kreisbüro Bürgersprechstunde mache, ly auch. Joschka Fischer, Jürgen Trit- PC anzueignen“. kommen vielleicht drei Leute“, vertraute Btin und sowieso. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie sie dem Chat-Organisator Steffen Wenzel Und jetzt will auch der Kanzler rein. Wieczorek-Zeul (SPD) dagegen hält an Be- von „Politik digital“ an. Deutschland soll ans Netz – da kann der währtem fest, ihrer alten Olympia-Monica- Die derzeitige Elite der deutschen Poli- Chef der Deutschen nicht länger ohne An- Reiseschreibmaschine, auf der sie vor ei- tik kämpft mit einem Altersproblem. Denn schluss bleiben. nem viertel Jahrhundert ihre ersten Juso- die Generation Schröder gehört zur letz- Auch wenn auf dem Designer-Schreib- Tiraden tippte. Einen Rechner besitzt die ten, die nicht mit dem Rechner groß wur- tisch aus hellem Birnbaumholz in Schrö- de. Wer sich Kenntnisse ders Büro kein Computer steht: „Natür- nicht selbst aneignete, steht lich kann der Kanzler so ein Ding bedie- heute als Zukunftsmuffel nen“, versichert das Bundespresseamt. Es da. Die einstigen Macho- assistierten Gattin Doris, für die das Surfen Sprüche, dass alles, was im Internet selbstverständlich ist, und IBM- eine Tastatur habe, Frauen Deutschland-Chef Erwin Staudt. Der hat- vorbehalten sei, gehören te den Deutschen ins Gewissen geredet: zum Floskel-Arsenal des „Kein Mensch sollte damit kokettieren, letzten Jahrhunderts. dass er mit dem Computer nicht umgehen Glück für die, die Kinder kann.“ Auch nicht die rot-grüne Bundes- im Haus haben wie Ver- regierung. Denn wer plötzlich ausländische kehrsminister Reinhard Computer-Experten ins Land holen will, Klimmt. Der Computerlose sollte auch selbst ein wenig von den neu- lässt sich daheim in Saar- en Kulturtechniken verstehen. brücken von der @-Gene- Immerhin regiert schon mal der ration betreuen: E-Mails an gute Vorsatz. So wie bei Bundesver- den Großvater Klimmt wer- teidigungsminister den von seinen Enkeln (SPD), der zwar keinen Computer hat, Däubler-Gmelin-Homepage: Rosenbowle mit Champagner Timm, 11, und Lars, 10, ver-

64 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Deutschland waltet. Und in einer ruhigen Minute im heute im bisweilen zähen Regierungsalltag Büro bittet der Bücherfreund seinen Pres- vergewissern will, wie schnell er eigentlich sesprecher Rainer Knauber, mit ihm einen laufen kann, klickt er die Internet-Adres- Streifzug durch die Antiquariatskataloge se www.nycmarathon.msm.com/results_fi- im Internet zu unternehmen. nal.asp an und freut sich, dass dort in einer Auf den Nachwuchs greift auch Finanz- Liste von 31785 Namen „Martin Fischer“ minister (SPD) zurück, wenn auftaucht – mit 3 Stunden, 55 Minuten und es um Computer geht. Sein Sohn Christi- 07 Sekunden auf Platz 8916 des letzten an, 15, kennt sich aus und hat dem Vater New-York-Marathons. zumindest „die Grundbegriffe“ beige- Fit fürs digitale Zeitalter ist beim großen bracht. Auf dem Schreibtisch des sparsa- Koalitionspartner Kulturminister Michael men Hans stehen trotzdem nur Telefone. Naumann, der seine E-Mails selbst ver- Im Büro der Familienministerin Christi- schickt und sich ärgert, wenn das mal wie- ne Bergmann leuchtet zwar, entgegen an- der „so langsam“ geht. Kabinettssenior ders lautenden Presseberichten, ein Moni- nutzt seinen Dienstcomputer tor. „Aber sie würde sich selbst nicht als in- tensive Internet-Surferin bezeichnen“, Im Zukunftsministerium meint Sprecherin Beate Moser. Gelegent- war eine „Grunderneuerung“ in lich blättere Bergmann im Internet in Ge- setzestexten. E-Mails verschickt sie aber Sachen Computer nötig nicht selbst, das erledigt, wie auch die Pa- pier-Post, das Vorzimmer. ausgiebig zur Kontrolle des Presseangebots In Sachen Computer-Know-how liegen auf der Internet-Seite seines Ministeriums. eindeutig die Grünen vorn. Im Grundsatz- Passt ihm etwas nicht, mischt er sich sofort programm von 1980 galt der Computer ih- ein. Auch Arbeitsminister Walter Riester ist nen noch als Teufelswerk. Ihm würden bisweilen mit Laptop unterwegs, Kollege „wesentliche Arbeitsaufgaben übertragen, Werner Müller hat auf seinem Schreibtisch während den Menschen nur noch eine im Wirtschaftsministerium zumindest ei- sinnentleerte Teilfunktion überlassen nen Computer aufgestellt. bleibt“. Heute tummeln sich die grünen Bildungsministerin Bulmahn nutzt den Minister bar jeder Angst vor Sinnkrisen Computer nicht nur für Aktenarbeit und Arbeitsmangel im Netz. und Verwaltung, sondern auch für die Umweltminister Jürgen Trittin etwa hat praktischen Dinge des Lebens. Bevor sein Techniktalent schon an mehreren sie zur Dienstreise nach Washington auf- Computer-Generationen erprobt. Sein ers- bricht, ruft sie im Netz die aktuellen Tem- ter PC war ein Sinclair QL, einer jener peraturen vor Ort ab. Und weil eine Mi- Homecomputer aus den achtziger Jahren, nisterin bei den geltenden Ladenschluss- die heute wie Werkzeuge für elektronische zeiten praktisch nie zum Shoppen Keilschrift anmuten. Mittlerweile ordnet kommt, kleidet sie sich zunehmend per ein handflächengroßer „Palmtop“-Com- Mausklick ein. puter Trittins Termine und Adressen und Bevor sie allerdings die Technik nach reist mit dem Minister bis nach Südafrika. ihren Vorstellungen einsetzen konnte, war Die Bestellung eines Dienstcomputers „eine Grunderneuerung“ fällig. Denn als war eine der ersten Amtshandlungen von Bulmahn das „Zukunftsministerium“ von Gesundheitsministerin . Da- Jürgen Rüttgers (CDU) übernahm, sah es in den Büros nach allem aus, nur nicht „Die Familienministerin würde nach Zukunft. Ein einziges Handy für die sich nicht als intensive gesamte Pressestelle, uralte Faxgeräte, kein Computer im Ministerbüro. Anfangs brach- Internet-Surferin bezeichnen“ te Bulmahn deshalb ihren eigenen Laptop von zu Hause mit. von brachte sie auch das Kopfschütteln ver- Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, wunderter Mitarbeiter nicht ab, die irri- qua Amt befasst mit den eher trockenen tiert fragten: „Aber Frau Ministerin, Sie Aspekten der schönen neuen Technikwelt müssen doch nicht selber schreiben.“ wie dem Urheberrecht im Internet oder Will sie aber: E-Mails zu verschicken der Rechtsgültigkeit digitaler Signaturen, gehört für sie längst zum Alltag, beruflich lässt es auf ihrer persönlichen Homepage wie privat. Nur vom Einkaufen im Netz umso mehr menscheln. Der Netzgemein- hält Frau Fischer, außer bei Büchern, de verrät sie „ihre schönste Gutenacht- nichts. Dazu macht ihr der Bummel durch geschichte“ (das Märchen von der kleinen Boutiquen einfach zu viel Spaß. Meerjungfrau Lunali) und „ihre besten Re- Außenminister Joschka Fischer reist zepte“ (Rosenbowle mit Champagner, nicht nur im Luftwaffen-Jumbo, sondern Zimt und Muskat). auch im World Wide Web um die Welt. Der Nährwert übertrifft den Nachrich- Schon 1997, damals quälte er sich am Com- tengehalt der Seite deutlich: Unter der Ru- puter gerade mit seinem Werk „Für einen brik „Top News“ wird an oberster Stelle neuen Gesellschaftsvertrag“, bestellte er der „Neujahrsempfang in der Mehrzweck- Globalisierungsliteratur beim Online-Buch- halle Ofterdingen“ angekündigt – für den händler amazon.com. Und wenn er sich 30. Januar 2000. Susanne Fischer

66 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Leicht ermattet erklärte er auf einer Pres- wären erheblich: Hals über Kopf müsste PDS sekonferenz, er halte Bartsch und Pau für der neue Parteichef auf dem nächsten Par- geeignete Nachfolger. teitag, Ende des Jahres, gekürt werden. Echt was In 14 Tagen, auf dem PDS-Parteitag in In diversen Parteizirkeln sorgt die Per- Münster, fällt die Entscheidung über den sonaldebatte bereits für Unruhe. Viele Parteivorsitz – auch wenn der offiziell Genossen trauen weder Pau noch Bartsch vorgemacht gar nicht zur Wahl steht. Denn die De- die Integrationsarbeit zu, die der geduldi- legierten müssen, ähnlich wie jüngst die ge Bisky in den vergangenen Jahren be- Die PDS in Personalnot: Die Roten Grünen, über eine Strukturreform ab- wältigt hat. stimmen. Dabei wollen die Pragmatiker Der eloquente und medienerfahrene brauchen einen Nachfolger für um Gysi und Bartsch vor allem eines Bartsch (Spottname: „Osterwelle“) hat sei- ihren amtsmüden Parteichef Bisky durchdrücken: das Ende der Amtszeit- ne Partei allzu offen auf „Koalitionsfähig- – und wohl bald auch für begrenzung für Parteifunktionen auf keit“ in Richtung SPD getrimmt; die West- den Fraktionsvorsitzenden Gysi. acht Jahre. Fundis in der Bundestagsfraktion be- Als Konsequenz aus der etwas lang ge- schimpft er schon mal als „linke Heuchler“. m vergangenen Dienstag, in der ratenen Amtszeit des Bisky-Vorvorvor- Pau wiederum, die dem SPD-Promi Sitzung der Bundestagsfraktion, gängers Erich Honecker (18 Jahre SED- Wolfgang Thierse das Direktmandat weg- Akonnten sich die beiden tief in Chef) hatten die SED-Erben nach der Wen- geschnappt hat und den Ost-/West-Berli- die Augen blicken: PDS-Bundesgeschäfts- de ganz auf Basisdemokratie gemacht. Die ner Landesverband erstaunlich sicher führt, führer , 41, am rechten Anleihe bei den Grünen aber wird vielen hat gegenüber ihrem Konkurrenten Bartsch Flügel des Sitzungstisches im Reichstag von ihnen nun lästig. einen entscheidenden Nachteil: Ihr Ver- und, genau gegenüber, die Ber- hältnis zu den Vorleuten Gysi liner PDS-Landeschefin Petra und Brie ist gespannt. Pau, 36. Stark irritiert hat manch ei- Wieder einmal mussten die nen der PDS-Strippenzieher beiden Ossis ein westdeutsches der rasche Aufstieg der Ost- Fraktionsmitglied ausbremsen: frau Angela Merkel, die ihrer Heidi Lippmann, 43, eine CDU die Aufgabe hierarchi- fundamentaloppositionelle Ex- scher Strukturen empfiehlt. Grüne, wollte eine Grundsatz- „Die Union“, so die PDS-Ab- debatte zum Kosovo-Krieg geordnete Christine Ostrow- lostreten und drängte auf Ver- ski, „hat uns da echt was vor- öffentlichung einer vielseitigen gemacht.“ Für „absurd“ hält Erklärung. die Sächsin eine Aufgabe der Der Westgenossin sichtbar Amtszeitbegrenzung „gerade überdrüssig, griffen Bartsch und jetzt, wo die Konservativen Pau ins fraktionäre Kampfge- darüber diskutieren“. schehen ein: Nicht die Länge Auf Platz eins ihrer Partei von Papieren, belehrten sie uni- will Ostrowski „unbedingt ei- sono die -Frau, entscheide ne Frau“ sehen. Ihr Vorschlag: über deren Wirkung in der Rosemarie Hein, 47. Die Lan-

Weltöffentlichkeit – Schluss der DPA deschefin von Sachsen-Anhalt Debatte. PDS-Vorleute Bisky, Gysi: Klagen über Entzugserscheinungen ist zwar bundesweit kaum Die Harmonie der beiden bekannt, gilt aber als ruhige Spitzengenossen könnte bald Begleiterin der SPD/ PDS-Ko- ein jähes Ende finden. Denn operation in . Bartsch und Pau müssen viel- Der notorische Schwarz- leicht schon in wenigen Wochen seher Brie wähnt seine Partei gegeneinander kandidieren – im ob der Kaderprobleme schon Rennen um den Vorsitz der vor „beträchtlichen Auseinan- PDS. Beide machen sich Hoff- dersetzungen“. Denn die Per- nungen auf den Job. sonalie Bisky ist nicht die ein- Auslöser eines parteiinternen zige, die für Zündstoff sorgt. Wettkampfs um die Sympathien Auch die politische Zukunft der Genossen ist Noch-Chef des heimlichen Parteichefs A. SCHOELZEL M. URBAN , 58. Der Mann, A. SCHOELZEL Gysi, 52, liegt im Ungewissen. der die PDS seit Januar 1993 Nachwuchskader Pau, Hein, Bartsch: „Unbedingt eine Frau“ In internen Runden wird führt, versucht gar nicht zu ver- gegrübelt, wann der PDS-Star heimlichen, was ihm jeder ansehen kann: Findet sich keine Mehrheit für die Sta- wahr macht, was er schon vor Monaten dass er amtsmüde ist. tutenänderung, sind die Amtstage Biskys angekündigt hat: irgendwann in dieser Kaum eine Vorstandssitzung vergeht, in wie auch hunderter von Funktionären an Legislaturperiode auf den Fraktionsvorsitz der Bisky nicht über Entzugserscheinungen der Parteibasis gezählt. Dem leicht krän- zu verzichten. Gysi, der eine dreijährige lamentiert – womit der gelernte Filmwis- kelnden „Integrationsopa“ (Bisky über Bis- Tochter hat, wünscht sich immer wieder senschaftler nicht den Verzicht auf die einst ky) selbst ist die Debatte eher unange- mehr Zeit für Kind, Frau und Kultur. geliebte filterlose Karo-Zigarette meint, nehm: Er wolle keine „Lex Bisky“. Dass auch noch Gysi abtritt, fürchtet sondern die immer selteneren Film- und Die Basis findet an der Statutenände- Brie, würde die Partei nicht verkraf- Theaterbesuche. Sehr zum Ärger von PDS- rung wenig Gefallen. PDS-Vordenker An- ten: „Die PDS ist noch nicht reif, ohne Fraktionschef hat Bisky selbst dré Brie hält ein Scheitern der Reform für Gregor zu existieren.“ die Nachfolgedebatte in Schwung gebracht: „sehr wahrscheinlich“. Die Konsequenzen Stefan Berg, Petra Bornhöft

68 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Spiel gebracht vom niedersächsischen Lan- Aufstiegschancen zu gefährden. Personell CDU desvorsitzenden Christian Wulff. Zu früh. überaltert, strukturell verkrustet und pro- Denn zuerst muss die Partei eine weibliche grammatisch stecken geblieben sei die Politik im Vorsitzende verkraften; eine weitere Frau CDU, bilanziert sie in einem Positions- im Amt des Generalsekretärs hätte die papier für den Parteitag und mahnt vor- Aufbruchbereitschaft der Konservativen sichtig an, die CDU müsse die „Taktfre- Mainstream dann doch überfordert. Hildegard Müller quenz der Erneuerung“ erhöhen. ist nicht traurig darüber. Für sie wäre schon Mut zur letzten Konsequenz fehlt aller- Mit Angela Merkel kommen die ein Präsidiumsplatz sensationell: Vor ihr dings auch in der Jungen Union oft. So Frauen: Die Ökonomin schaffte kein JU-Chef den Sprung. mahnen die Parteiyoungster zwar eine Be- Die Frontfrau des Unions-Nachwuchses grenzung der Amtszeit für Vorsitzende und Hildegard Müller führt die Junge steht, wie ihre Vorgänger schon, vor dem Stellvertreter auf acht Jahre an. Wer eine Union und drängt ins Problem, den traditionsverliebten Ex- Mehrheit von 75 Prozent der Stimmen er- Präsidium der Altmännerpartei. Kanzlerwahlverein zu kritisieren, ohne ihre ringt, dürfte aber auch länger bleiben. Müllers Aufstieg in der JU ls Hildegard Müller 1986 ähnelt dem Durchmarsch von in die CDU eintrat, be- Angela Merkel an die Partei- Astand der Vorstand des spitze. Dass die Düsseldorferin Ortsverbands Lohausen/Sto- nach der Bundestagswahlnie- ckum aus 15 grauhaarigen Her- derlage als erste Frau an die ren im Rentenalter. Heute sit- Spitze des Jugendverbandes ge- zen im 14-köpfigen Gremium wählt wurde und sich dort sieben Frauen, das Durch- durchsetzen konnte, hält Partei- schnittsalter ist beträchtlich ge- freund Wulff für ein „Faszino- sunken. Vergangene Woche ha- sum“. Die CDU-Jugend gilt als ben die 122 Mitglieder aus dem konservativer als die Altvorde- Düsseldorfer Norden Frau Mül- ren. Der Wettbewerb dort ist ler als Vorsitzende wiederge- eher härter, weil die Altersgren- wählt, ohne Gegenstimme. ze von 35 Jahren die Aufstiegs- Nun will Hildegard Müller chancen einschränkt. auch die große CDU aufmi- Während Müllers Vorgänger schen. Beim Bundesparteitag Klaus Escher sich als einer der im April in Essen kandidiert die schärfsten innerparteilichen Kri- 32-Jährige für das Präsidium. tiker der Sozial- und Rentenpo- Und ihre Chancen sind gut, litik der Regierung Kohl profi- trotz gewaltiger Konkurrenz. liert und damit bei den Tradi- Als sicher gilt die Wahl Wolf- tionskompanien unbeliebt ge- gang Schäubles, des hessischen macht hatte, verzichtete Müller Ministerpräsidenten Roland auf lärmende Absetzbewegun- Koch, der früheren Bundesprä- gen von der Bundes-CDU. sidenten-Kandidatin Dagmar Sie profilierte sich nicht ge- Schipanski und des saarländi- gen die Parteispitze, sondern schen Ministerpräsidenten Pe- mit ihr. In der Spendenaffäre ter Müller. Um die restlichen unterstützte sie von Anfang an drei Plätze, die vom Parteitag Merkels Aufklärungskurs. An zu vergeben sind, rangeln sich Schäuble hielt sie noch fest, als voraussichtlich sieben Kandi- der sich schon unrettbar im daten. Parteispendendickicht verstrickt Diplom-Kauffrau Müller hat hatte. Sie fand es ungerecht, dass dabei den stärksten Landes- der Badener fiel, weil Helmut verband hinter sich. Sie wurde Kohl der Hauptschuldige an der vom Landesvorstand der CDU Affäre sei. Nordrhein-Westfalens nomi- Mit dem Altkanzler geriet sie niert, sie kann somit auf rund schon vorher aneinander. Als ein Drittel der Delegiertenstim- Kohl einmal im Bundesvorstand men rechnen. die Kritik der Jungen Union Gleichzeitig ist die studierte an seiner Regierung für die Betriebswirtin Kandidatin der Wahlniederlage mitverantwort- CDU-Nachwuchs-Organisation lich machte, parierte Müller Junge Union, die sie seit No- kühl, das sei doch wohl „ein vember 1998 anführt. Die brü- bisschen undifferenziert“. Sie nette Bankerin profitiert vom kenne da noch ein paar andere derzeit übermächtigen Wunsch Gründe. nach Erneuerung und ihrer Wie Fraktionschef Friedrich Nähe zur designierten Vorsit- Merz gehört Müller zu einer

zenden Angela Merkel. M. URBAN neuen Generation von CDU-Po- Sogar als Generalsekretärin war die Nachwuchskraft zeit- JU-Vorsitzende Müller weise gehandelt worden, ins Taktfrequenz erhöhen 72 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Parteifreundinnen Müller, Merkel*: „Herstellung litikern. Sie ist konservativ und wirkt trotzdem nicht altbacken. Sie hat eine Vorliebe für tantenhafte Halstücher und gediegenen Goldschmuck und fährt gleichwohl selbstverständlich Roller- blades. Wie Merz will sie die Partei nicht neu erfinden, sondern hauptsächlich mo- derner managen. Als „überlegt und eher zurückhaltend“ beschreibt Partei-Vize Wulff die Nach- wuchskraft. „Sachlich, nüchtern, integrie- rend, bestimmt keine Volkstribunin“ sei sie, sagt der bayerische JU-Vorsitzende Markus Söder und stellt schnell klar, dass es in der JU eben genauso sei wie in der Bundes-Union: „Die CSU ist der Navigator.“ Solch bayerische Kraftmeierei lässt Mül- ler einfach abtropfen. Natürlich sei die bayerische JU wichtig, schließlich stelle sie ja den zweitgrößten Landesverband. Nach NRW, dem sie selbst angehört. Sorgsam hat die Bankangestellte darauf geachtet, sich nicht auf weiche Frauen- themen festlegen zu lassen. Als Vize- Vorsitzende der nordrhein-westfälischen Mittelstandsvereinigung steht sie dem Wirtschaftsflügel der Partei näher als den Arbeitnehmervertretern. Wenn sie in der Rentenkommission der CDU sitzt, überkommt sie manchmal Ver- zweiflung über die Beharrungskräfte der versammelten Besitzstandswahrer. Sach- sen-Premier Kurt Biedenkopf ist ihr mit seinen radikalen Umbauplänen für eine steuerfinanzierte Grundrente allemal lieber als der Herz-Jesu-Marxist Nor- bert Blüm.

* Beim Deutschlandtag der Jungen Union im Oktober 1999 in Weimar.

76 der spiegel 13/2000 F. OSSENBRINK F. von Kundenzufriedenheit“

Bis 2010 müsse das Renteneintritts- alter auf 67 Jahre erhöht und das Ren- tenniveau auf 64 Prozent gesenkt wer- den, fordert Müller. Beim Parteitag in Essen will sie außerdem die Einführung einer Generationenbilanz nach ameri- kanischem Vorbild beantragen, die si- cherstellt, dass künftig nicht mehr zu- lasten der Jungen gewirtschaftet wird. Das Jahr 2015 soll als Zielmarke für die Halbierung der Arbeitslosigkeit festge- schrieben werden. Ansonsten liegt die Nachwuchspolitike- rin im Mainstream. Die Legalisierung von Drogen lehnt sie ebenso wie Methadon- programme strikt ab. Sie ist dafür, dass sich schwule Paare als Lebensgemeinschaft ein- tragen lassen können, will aber keine Gleichstellung mit der Ehe. Der Abtrei- bungskompromiss von 1995 war für die gläubige Katholikin „an der Grenze des Tragbaren“. Politische Vorbilder oder Leitfiguren hat Müller nach eigenem Bekunden nicht. Sie orientiert sich an christlichen Werten, die sie politisch in die nicht sehr originellen Schlagworte „Nachhaltigkeit, Mitmensch- lichkeit, Generationengerechtigkeit und Eigenverantwortung“ übersetzt. Bei der Dresdner Bank arbeitet die ge- bürtige Westfälin im so genannten Qua- litätsmanagement. Dort ist sie zuständig für die Suche nach Schwachstellen, die Ver- besserung der internen Zusammenarbeit, die Qualifizierung von Mitarbeitern und die „Herstellung von Kundenzufrieden- heit“, wie es im bürokratischen Banker- deutsch heißt. Optimale Ausgangsbedin- gungen für die Arbeit in der CDU, glaubt Müller. „Da lässt sich so manches nahtlos übertragen.“ Tina Hildebrandt

der spiegel 13/2000 77 Deutschland

untersagt“, merkt der Bericht an, „aber EUROPA niemand kontrolliert, ob dies auch einge- halten wird.“ Innerhalb der Fraktionen Christliche hätten die nationalen Gruppen der Abge- ordneten „einen Freiraum, welcher genutzt wird, um mit der nationalen Partei zusam- Zusammenarbeit menzuarbeiten“. Verdächtig ist dem Rechnungshof auch Haben die Fraktionen im Europa- ein Trick, mit dem die christdemokratische Fraktion der Europäischen Volkspartei Parlament Steuergelder (EVP) Millionen an Steuergeldern an eine für die Parteienfinanzierung außenstehende Institution weitergeleitet zweckentfremdet? und damit jeder näheren Kontrolle entzo- gen hat. Die Prüfer stießen sich an einem o hatte es vor dem Sturz der alten bereits vor über zehn Jahren nach Luxem- EU-Kommission unter Jacques Santer burger Recht gegründeten und im Groß- Sauch angefangen: Der Haushaltskon- herzogtum beheimateten EVP-Fraktions- trollausschuss des Europäischen Parla- ableger: der „Robert-Schuman-Stiftung zur ments (EP) verweigerte am vergangenen Zusammenarbeit Christlicher Demokraten Donnerstag der neuen Kommission des Ro- Europas“. mano Prodi die Entlastung für den Haus- In den Statuten steht zum Stiftungs- halt 1998 – wegen angeblich mangelnder zweck nicht viel Erhellendes: Neben der Aufklärung der alten Affären um Betrug Vergabe von Stipendien seien „Maßnah- und Misswirtschaft. men zu ergreifen, um die Demokratie und Ein heuchlerisches Ablenkungsmanö- den Pluralismus in Europa und der Welt ver: Dem Parlament droht selbst eine zu stärken“ oder „internationale Zusam- peinliche Affäre. In einem noch streng menarbeit zu pflegen“. So ähnlich las sich vertraulichen Bericht stellt der Euro- auch die Satzung jener Staatsbürgerlichen päische Rechnungshof den EP-Fraktionen Vereinigung, über die in der Vergangen- ein vernichtendes Zeugnis über ihr heit die CDU/CSU ihre Spenden-Schwarz- Finanzgebaren aus. gelder gewaschen hatte. Parlamentspräsiden- Der Rechnungshof tin Nicole Fontaine, ei- vermerkt dazu: „Die ne französische Konser- Mittel der Stiftung einer vative, hält den Bericht politischen Fraktion be- wegen seiner Brisanz laufen sich auf rund 10 unter Verschluss. Die Millionen Euro (20 Mil- Luxemburger Prüfer lionen Mark). Die Stif- kritisieren darin Chaos tung erhielt einen jähr- und Undurchsichtigkeit lichen Zuschuss.“ 1998 der Fraktionsfinanzen – waren es immerhin 1,4 1998 immerhin 66 Mil- Millionen Mark aus der lionen Mark aus Mit- Kasse der EVP-Frak- teln der Steuerzahler tion. Der Bericht: „Die Europas. Mittel der Stiftung sind „Es gibt keine festen nicht in der Bilanz der Regeln, was mit dem Fraktion aufgeführt.“ Geld gemacht werden Im Tätigkeitsbericht darf“, so das Fazit ei- der Stiftung finden sich nes Mitglieds des Rech- nur spärliche Angaben. nungshofs, „und das Aber klar wird, dass die ist über die ganzen Jah- Stiftung die Kassen der

re hinweg so gehalten X / STUDIO / GAMMA BUU-DEMANGE nationalen Mitglieds- worden, damit jeder EU-Parlamentspräsidentin Fontaine parteien entlastet: etwa damit machen konnte, durch die Publikation was er wollte.“ Das Fehlen interner Kon- unverkäuflicher Politwerke oder durch groß- trollen habe zur Konsequenz, so der Rech- zügige Zuschüsse für Kongresse in Vene- nungshof-Bericht, „dass Legalität und Ord- dig, Budapest, Taormina oder Banja Luka. nungsmäßigkeit vieler Operationen nicht Um die Veröffentlichung der Peinlich- gewährleistet sind“. keiten hinauszuzögern, hat Präsidentin Bei der „Mehrzahl der Fraktionen“, so Fontaine den Bericht erst mal wieder an der Bericht, sei oft nicht zu erkennen, „was die Prüfer zurückgeschickt, zwecks nähe- die Ausgaben mit dem Funktionieren des rer Erläuterung von Details, „im Sinne der Parlaments oder mit der Fraktion zu tun gewünschten Transparenz“. Der zuständi- haben“. Statt für Informationsaktivitäten ge Prüfer Aunus Salmi, ein Finne, lehnt können die Fraktionen das Geld so auch das ab: Den einzelnen Fraktionen würden unerlaubterweise für Wahlwerbung ein- Sonderberichte mit den jeweiligen Ver- setzen (SPIEGEL 13/1999). „Die Finanzie- fehlungen bis in alle Einzelheiten zuge- rung von nationalen Wahlkampagnen ist schickt. Dirk Koch

78 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

ZEITGESCHICHTE Das Wiener Modell Aus Stasi-Archiven tauchten Akten auf, die Adolf Eichmanns Wüten in Österreich nach dem Anschluss 1938 dokumentieren. Der spätere Holocaust-Organisator vertrieb mit antisemitischem Terror mehr als 100000 Juden aus ihrer Heimat.

as Pappelgrün der Akten- in den fünfziger Jahren wurden sie deckel ist kaum verblasst, die der DDR übergeben und in Gü- DRunenzeichen der SS pran- terzügen nach Berlin-Lichtenberg gen noch deutlich sichtbar auf dem transportiert. Karton, darauf steht schlicht: „SD- Häftlinge aus dem Stasi-Gefäng- Donau“. SD steht für den Sicher- nis Hohenschönhausen, Volkspoli- heitsdienst der SS, und die Aufgabe zisten und Archivare mussten die dieses paramilitärischen Verbandes schweren Kisten mit den Ordnern bestand darin, nach Hitlers umjubel- in ein Depot der Stasi schleppen. tem Einmarsch in Wien 1938 ge- Als das Bundesarchiv nach der Wen- meinsam mit der Sicherheitspolizei de Teile aus der Hinterlassenschaft alle österreichischen Juden aus dem der DDR-Geheimpolizei übernahm, Land zu treiben. blieb erst einmal unbemerkt, dass Die Aktion leitete Adolf Eich- sich darunter die Eichmann-Akten mann, der zu diesem Zeitpunkt 32 befanden. Jahre alt war. Während des Dritten Die Unterlagen sind ein Zufalls- Reiches war er nur seinen Opfern fund des Berliner Historikers Jörg bekannt; erst als die Alliierten nach Rudolph, 34. Noch immer stecken dem Zweiten Weltkrieg seinen Na- die SD-Ordner in den beigefarbe- men ganz oben auf die Fahndungs- nen Stehkartons der Stasi, als seien listen setzten, errang er schaurigen sie dort erst vorige Woche abgelegt Weltruhm. Im Holocaust hatte Eich- worden. Wie viele es sind, ist noch mann den Transport von Juden aus nicht bekannt. Die Stasi-Archivare West- und Mitteleuropa in das Ver- hatten sie an verschiedenen Stellen nichtungslager Auschwitz organi- in ihrem riesigen Archiv verteilt. siert. 1960 spürte ihn der israelische Rudolph schätzt die Zahl der Akten

Geheimdienst Mossad in Buenos / CORBIS SYGMA M. MILNER auf 15000 bis 20000. Aires auf und entführte ihn nach Angeklagter Eichmann (1961): Prägnanter Judenhass Ihre Auswertung wird Monate Jerusalem. Der Schreibtischmörder dauern – und die österreichische kam vor Gericht und erhielt die Debatte über die Entschädigung Todesstrafe; Eichmann starb 1962 am von NS-Opfern neu beleben. Erst Galgen. vorige Woche hat der Jüdische Von Eichmanns Unwesen zeugt Weltkongress der Wiener Regierung eine Fülle von Dokumenten. In mit Klagen gedroht und gefordert, mehreren Versionen hat er zudem endlich geraubtes Eigentum zu- Erinnerungen niedergeschrieben. rückzugeben oder zu kompensie- Was er in der Haft zur Rechtferti- ren. Im Unterschied zur Bundes- gung vor seinen Kindern notierte, republik entschädigte Österreich wurde vor kurzem zur Gänze ver- NS-Verfolgte kaum. öffentlicht (SPIEGEL 10/2000). Nur Die österreichische Historiker- Eichmanns Jahre in Wien nach dem Kommission, die noch von Kanzler Anschluss Österreichs blieben dage- Viktor Klima den Auftrag erhielt, gen blass. den Arisierungen in der damaligen Jetzt aber sind in einer Außenstel- Ostmark nachzuspüren, signalisier- le des Berliner Bundesarchivs tau- te bereits Interesse am Aktenfund. sende von SD- und Gestapo-Akten Über den Wert des Eigentums, über die Verfolgung von Kommu- das die Nazis den jüdischen Öster- nisten und Katholiken, Freimaurern reichern geraubt haben, gibt es und Rotariern aufgetaucht. Ein Teil nur grobe Schätzungen. Die Berli- stammt aus Eichmanns Wiener Büro ner Unterlagen könnten Klarheit und dokumentiert die Leidenszeit bringen. Eichmanns SD war für der österreichischen Juden unter seine ordentliche Buchführung be- den Nazis. kannt. Die Unterlagen hatte die Rote Ar- Zum SD hatte sich der arbeitslo- mee 1945 in Wien erbeutet. Jahre- se Eichmann 1934 freiwillig nach lang lagerten die Papiere in Moskau, Eichmann-Akten: Runenzeichen auf Pappelgrün Berlin gemeldet. Nach einem Jahr

82 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Deutschland wurde der Mann aus dem Bergischen zu ermöglichen; sie liegen heute in den Land, aufgewachsen in Linz, in das so ge- Berliner Eichmann-Akten. nannte Judenreferat versetzt. Der ehrgei- Unter den Nazis wurde Eichmanns Vor- zige Nazi war bemüht, sich bei den neuen gehen als „Wiener Modell“ bekannt. Es Kollegen als Experte zu profilieren. Unter war, so der Eichmann-Experte Hans Sa- den Berliner Papieren finden sich seine frian, eine „Lehrstätte für Vertreibungs- Leihscheine aus der SS-Bibliothek; Eich- experten“**. Als die Nationalsozialisten mann bestellte Bücher wie „Die Juden- später die Juden aus Deutschland und der gemeinden des Mittelalters“ und „Der Tal- Tschechoslowakei vertrieben, orientierten mudquell“ – ausge- sie sich am Wiener wählte Sagen und Er- Muster. zählungen aus dem Organisatorischer Talmud. Kern war die Zentral- Der Aufstieg Eich- stelle für jüdische Aus- manns begann 1938. wanderung, die Eich- Österreich wurde Teil mann in einem Palais des Reiches, und er be- der Familie Rothschild kam die Aufgabe, in in der Prinz-Eugen- Wien für den SD das Straße einrichtete. Dort Referat II-112 aufzu- zog er alle bürokrati- bauen, zuständig für schen Stellen zusam- die „systematische Be- men, deren Bescheide arbeitung des Gegners die Zwangsemigranten Judentum“. brauchten. Eine Unbe- Eichmann und fast denklichkeitsbescheini- alle seine Mitarbeiter gung für die Ausreise haben später bestritten, bekam nur, wer sich zu- dass sie Antisemiten vor freigekauft hatte. gewesen seien. Glaub- Vergebens versuch- haft war das nie; un- te Löwenherz mit im- ter den nun gefunde- mer neuen Eingaben, nen Akten finden sich seinen Schützlingen zu denn auch besonders helfen. Die Bittbriefe prägnante Belege für an Eichmann, etwa mit

ihren Judenhass. Auf AKG dem Anliegen, im 9. Verhaftungslisten jüdi- Juden-Demütigung in Wien (1938)* Wiener Bezirk jüdi- scher Rechtsanwälte, schen Familien „bis zu die gleich nach dem Anschluss ins KZ ihrer Abreise das ungestörte Verbleiben in Dachau gebracht werden sollten, setzten ihren Wohnungen zu ermöglichen“, befin- Eichmann und seine Mitarbeiter hinter den sich ordentlich abgeheftet in den nun jeden Namen Schmähungen wie „Schie- gefundenen Ordnern. ber“, „asozialer Ausbeuter“ oder „sensa- Eichmanns wichtigste Verbündete wa- tionslüsterner Hetzer“. ren Österreichs Antisemiten. Schon am Im Jahr 1938 ging es den Nazis um die Vorabend von Hitlers Einmarsch in Wien Vertreibung der österreichischen Juden, hatten sie begonnen, Läden zu plündern nicht um ihre Ermordung, und Eichmann und den Juden Geld und Vermögen abzu- schuf dafür eine besonders effiziente Büro- pressen, indem sie mit Anzeigen bei der kratie. In den ersten 15 Monaten in Wien Gestapo drohten. Es war, erinnerte sich sorgte der SS-Funktionär – flankiert von of- der Schriftsteller Carl Zuckmayer, als ob fenem Terror – dafür, dass über 100 000 „die Unterwelt ihre Pforten aufgetan und Menschen aus ihrer Heimat flohen. Eich- ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten mann ließ sämtliche österreichischen Juden Geister losgelassen“ hätte. in Wien zusammentreiben, setzte Aus- Erst die wilden Arisierungen machten wanderungsquoten fest und machte die die Menschen mürbe. Die Ausschreitun- jüdische Gemeinde für ihre Erfüllung gen, heißt es in einem Bericht aus Eich- verantwortlich. manns Referat, hätten „am meisten dazu Männer wie Josef Löwenherz, Leiter beigetragen, den Auswanderungsgedanken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Gemeingut der Juden werden zu lassen“. zwang Eichmann, bei jüdischen Auslands- Aus Oberpullendorf im Burgenland mel- organisationen Devisen einzuwerben und dete denn auch die SD-Außenstelle am in Übersee nach Einwanderungsmöglich- 19. August 1939: „Keine Juden im Gebiet. keiten zu suchen. Löwenherz schrieb ver- Auf eine Rückkehr der Juden wird nir- zweifelte Berichte, etwa über seinen Ver- gends Wert gelegt.“ such, 400 Juden die Ausreise nach Ceylon Es ist von bitterschwarzer Ironie, dass der Antisemitismus vielen österreichischen * Ein junger Jude wird gezwungen, das Geschäft seines Juden das Leben rettete. Wären sie in ih- Vaters zu kennzeichnen. rer Heimat geblieben, hätten die Nazis sie ** Hans Safrian: „Eichmann und seine Gehilfen“. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main; 362 Seiten; drei Jahre später in die Todeslager nach 19,90 Mark. Osten deportiert. Klaus Wiegrefe

84 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite LUFTFAHRT Tod über den Wolken Weil immer mehr ältere Menschen fliegen, häufen sich Notfälle an Bord. Viele Airlines rüsten ihre Flotte mit Elektro- schockern zur Reanimation aus.

er ältere Herr rutschte immer tiefer DPA in den Ledersessel der Lufthansa- Flug-Notfall: Lebensrettung mit 5000 Volt DBoeing 747. Ihn plagte akute Atem- not, ein blass-fahles Dreieck bildete sich Linienflüge fordern mit schen Geräten, British um den Mund. Als es dem Fluggast minüt- 2000 Toten fast die dop- Airways zog im vergan- lich schlechter ging, entschied sich der Ka- pelte Zahl an Opfern. So genen Jahr mit der ge- pitän, den Flug von Frankfurt nach San verloren in den Jets der samten Flotte nach. Luft- Francisco abzubrechen. Wenig später setz- British Airways im ver- hansa führt die Defibril- te er die Maschine zur Zwischenlandung gangenen Jahr zehn Men- latoren seit Ende 1999 auf auf dem amerikanischen Militär-Stütz- schen ihr Leben – bei 46,7 allen Fernflügen mit. punkt Thule im Nordwesten Grönlands Millionen Fluggästen. Die technische Ausstat- auf. Dort retten Army-Ärzte dem Deut- Lufthansa rechnet mit ei- tung verlangt eine inten- schen das Leben. nem Todesfall über den sivere Schulung des Per- Notfälle wie dieser können teuer wer- Wolken auf drei bis vier sonals. Die Flugbegleiter den. Die Airlines kalkulieren bei einem Millionen Passagiere. trainieren regelmäßig an Flugabbruch mit Folgekosten bis zu ei- Auch die Zahl der Puppen, wie die Elektro- ner halben Million Mark – für Landege- nicht lebensbedrohlichen den an den Brustkorb von bühren, Hotelunterbringung der Passa- Zwischenfälle an Bord Patienten anzulegen sind giere sowie einen etwaigen Wechsel der steigt beständig. Im ver- und das Herz mit Span- Besatzung. gangenen Jahr registrier- nungsstößen bis zu 5000

Immer häufiger zwingen gesundheitli- te die größte deutsche A. VARNHORN Volt wieder zum Schlagen che Probleme der Fluggäste die Jets auf Airline bereits fast 3000 Reisende Senioren zu bringen ist. „Ich bin da den Boden. Die Lufthansa zählte in ihrer „medizinisch relevante jedes Mal aufgeregt“, sagt aktuellen Jahresstatistik 37 außerplan- Ereignisse“. Immer häufiger kommt über Lufthansa-Chefstewardess Martina Burk- mäßige Zwischenlandungen, bei British den Bordlautsprecher die Frage: „Befindet hard. Automatisch stelle man sich vor, „wie Airways waren es 80 Notstopps. sich zufällig ein Arzt an Bord?“ es wohl ist, wenn es wirklich im Flugzeug Die Notfälle sind eine direkte Folge des Nach Lufthansa-Schätzungen haben die passiert“. Erfolges. Die Airlines haben Fliegen im- Patienten in 75 bis 80 Prozent der Fälle Für den Berliner Notfallmediziner Frank mer günstiger und immer komfortabler Glück. Den Nothelfern steht in nahezu je- Bertschat gehören die Defibrillatoren in- gemacht und damit eine Zusatz-Klientel der Fluglinie ein Arztkoffer zur Verfügung, zwischen wie ein Feuerlöscher zur Grund- gewonnen: die Alten. Der Chef des Me- der bei Lufthansa und British Airways auch ausstattung der Jets: „Bei entsprechender dizinischen Dienstes der Lufthansa, Lutz einen wichtigen Zettel enthält: eine Haf- Schulung können die Geräte von jedem Bergau, beschreibt die Reiselust der neuen tungserklärung, mit der die Airline al- bedient werden.“ Kundschaft so: „Früher sind Rentner mit le eventuellen Schadensersatzansprüche An Bord der Lufthansa-Jets wurde der der Eisenbahn nach Bad Reichenhall ge- übernimmt. Schocker bisher erst einmal erfolgreich ein- fahren, heute muss es der Flug nach Bang- Doch Kreislaufzusammenbrüche und gesetzt. Mitarbeiter von American Airlines kok oder Manila sein.“ Herzversagen sind in 10000 Meter Höhe reanimierten bislang sieben Passagiere. Der Mediziner registriert eine – meist in nur schwer zu behandeln. So musste im Retter und Gerettete treffen sich regel- Unkenntnis der nicht unproblematischen vergangenen Jahr eine Lufthansa-Boeing mäßig in Dallas im eigens gegründeten Bedingungen an Bord – zunehmende Sorg- zweieinhalb Stunden nach dem Start wie- „Golden Hearts Club“. losigkeit bei den mobilen Greisen: „Immer der nach Hongkong zurückkehren, weil die In besonders schwierigen Fällen kommt wieder steigen die Rentner auch gegen den Herzprobleme eines Passagiers nicht in den Hilfe per Funk. Aus ihrem Cockpit haben Rat ihres Arztes ins Flugzeug.“ Griff zu bekommen waren. Er wurde in British-Airways-Piloten eine Direktver- Konstruktionsbedingt herrscht in der Hongkong gerettet, der Jet landete schließ- bindung zum medizinischen Notfalldienst Kabine ein Luftdruck wie auf einem 2500 lich mit sechs Stunden Verspätung in MedAire im amerikanischen Phoenix. Ärz- Meter hohen Berg, der die Sättigung des Frankfurt. te geben der Besatzung Tipps, wie Notfäl- Blutes mit Sauerstoff um sechs Prozent Um für derartige Notfälle besser gerüstet le optimal behandelt werden können. Die herabsetzt. Die relative Luftfeuchte liegt zu sein, statten die Gesellschaften ihre Mediziner können auch Notlandungen an- zwischen 6 und 15 Prozent. Was für ge- Flugzeuge zunehmend mit mobilen Elek- ordnen. Ein ähnliches System wird derzeit sunde Passagiere kein Problem ist, kann troschockern – so genannten Defibrilla- von der Lufthansa getestet. Das Video- alten Menschen den Tod bringen. toren – aus, die vom Kabinenpersonal system „Vidair“ soll Bilder eines Patienten Weltweit sterben jährlich etwa 1200 bedient werden dürfen. Bereits 1997 be- per Funk zu einem Mediziner am Bo- Menschen bei Flugzeugabstürzen, die stückte American Airlines die ersten 247 den senden, der eine rasche Diagnose er- natürlichen Sterbefälle an Bord regulärer Langstrecken-Jets mit solchen automati- stellt. Tanja Wessendorf, Steffen Winter

88 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

STASI Der Untertan, Ausgabe Ost Er war so gierig auf die Macht, dass er seine Vergangenheit und die 33 Stasi-Ordner glatt vergaß. Darum fiel nach der Wende keiner tiefer als Wolfgang Schnur. Demnächst soll der ehemalige Rechtsanwalt wegen versuchten Betrugs vor Gericht.

as kann aus einem werden, des- sen Leben so beginnt? Es ist 1944, Wder Vater ist von den Nazis er- mordet worden, und der Mutter, einer Jü- din, wird der Säugling im Krankenhaus in Stettin weggenommen. Wolfgang hat Kehl- kopfdiphtherie und kommt in ein Kran- kenhaus auf Rügen. Die Baracke brennt ab, eine Bauernfamilie nimmt ihn auf. Kei- ner weiß, wo dieser stille Junge herkommt. Als er 16 Jahre alt ist, hört er, dass seine Mutter noch lebt. Er stöbert sie in Köp- pern im Taunus auf, es ist der 7. August 1961, sechs Tage vor dem Mauerbau. Er will wissen, wer sein Vater war und wer sei- ne jüdischen Vorfahren. Aber die Mutter findet keine Worte. Enttäuscht kehrt Wolf- gang Schnur in die DDR zurück. Was kann aus so einem werden? Letzter Minister- präsident der Deutschen Demokratischen Republik wäre nicht schlecht gewesen. Es ist Winter 1989, und alles funktio- niert. Wolfgang Schnur hat zusammen mit seinem Freund den De- mokratischen Aufbruch gegründet, und Bundeskanzler Helmut Kohl sagt: „Ihm

können Sie vertrauen.“ Und Schnur, ein M. WEISS / OSTKREUZ kleiner Mann, ein bisschen verhuscht und Investitionsberater Schnur: „Dieses Unterschätzen ökonomischer Vorgänge“

Rostock habe das Bürgerkomitee Stasi-Ak- ten gefunden. Der SPIEGEL berichtet. „Da will mir jemand an den Kragen“, sagt Schnur damals. Dann bricht er mit einem Kreislaufkollaps zusammen. Als Eppel- mann ihn im Hospital besucht, streitet Schnur immer noch ab. Eppelmann geht vor die Kameras und spricht von „Ver- trauen“ und „gefälschten Akten“. „Es ist wie das Fremdgehen der Partne- rin“, sagt Eppelmann, nachdem sein Freund zurückgetreten ist. Einige Stasi-Spitzel sind tief gefallen nach der Wende. Ibrahim Böhme, Vorsit- zender der Ost-SPD, lebte jahrelang in seinem Berliner Kämmerchen wie in Iso-

SPIEGEL TV lationshaft und starb verarmt. Der Bürger- Schnur-Grundstück bei Berlin: „Bei Interesse bitte schnell Kontakt aufnehmen“ rechtler Knud Wollenberger, der seine Ehefrau Vera verraten hatte, wurde zum ein wenig verklemmt, packt das Mikrofon. ben mich.“ Es war diese fatale Gier nach nationalen Sinnbild der Niedertracht. Aber „40 Jahre ist unser Land ruiniert worden. Macht. „Geilheit, Verblendung“, sagt keiner fiel so tief wie Wolfgang Schnur. Wir wollen nicht mehr Ruinen, wir wollen Schnur, 55 Jahre alt, „ich war so dicht vor Denn Schnur war einer von nur 20 so ge- ein neues Aufbauwerk“, schreit er. dem Ziel und nicht zu stoppen.“ nannten Einzelanwälten der DDR, ein Held „Ich bin ja selbst über mich überrascht Nur durch die eigene Biografie. Schnur der Dissidenten, und zugleich war er 25 gewesen“, sagt er heute, „dass man plötz- ist im Wahlkampf in -Vor- Jahre lang Inoffizieller Mitarbeiter der lich 100000 Menschen anzieht, ich habe pommern unterwegs, genau zehn Jahre ist Staatssicherheit. Darum verlor er 1993 sei- gespürt, die Menschen wollen mich, sie lie- das jetzt her, als der Anruf kommt. In ne Anwaltszulassung. Und weil „Wolfgang

90 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Schnur immer persönlich bereit war, Din- Schnur trägt Vollbart, ausgelatschte denburg, eine Art Bausparkasse, gab dem ge anzugehen“, wie Wolfgang Schnur sagt, schwarze Schuhe und ein weites Jackett. Kirchenanwalt Schnur ein zinsloses Dar- steckte er Geld in seltsame Unternehmen. Das Arbeitszimmer ist ein Schlachtfeld: lehen. Der zahlte an Dietrich, der zahlte „Dieses Unterschätzen ökonomischer Stapel von Zeitungen, die irgendwann ir- an die Kirche zurück. Im Westen erhielt Vorgänge unter neuen marktwirtschaft- gendwer wegtragen müsste. Im Regal steht Dietrich als Gegenleistung für das Null- lichen Situationen“, sagt Schnur heute. das „Praxishandbuch: Erfolgreich arbeiten summengeschäft Ost 160000 West-Mark – Danach hatte er 1,5 Millionen Mark von zu Hause aus“, daneben der „Autofah- das Diakonische Werk, um gute Verbin- Schulden. Er wurde verurteilt wegen rerkurs Englisch für Anfänger“. dungen zu Stolpes Ost-Kirche bemüht, half Konkursverschleppung (3000 Mark), Man- Und draußen, am Rande des Hubertus- mit der ersten Rate aus; die andere Hälfte dantenverrats (ein Jahr auf Bewährung) sees, verrottet das Boot, „das man mal aus bezahlte Schnur nach der Wende. und Beleidigung eines Richters (1320 dem Wasser holen sollte“. Die Mauern ver- Obwohl das Grundstück über zwei Mil- Mark). Und im April letzten Jahres mar- fallen, die Sträucher wuchern – rund 2500 lionen D-Mark wert ist, hat Schnur nicht schierte er in die Räume der Privatbank Quadratmeter sind nicht einfach zu be- viel Freude am Geschäft seines Lebens: Er Gries & Heissel in Berlin-Grunewald. Zu- wirtschaften. Schnur wohnt in jenem hat das Haus offiziell einem Cousin ver- sammen mit einem Israeli und einem Afri- Prachtbau, den er gekauft hat, nachdem kauft und für 20 Jahre gemietet, doch auch kaner legte Schnur Wertpapiere, angeblich er dem Besitzer „die Ausreise ermöglicht dieser Trick schützt es nicht vor der Zwangs- für 11,8 Millionen Mark, auf den Tisch; der hatte“, wie er den Vorgang nennt. versteigerung. Diese verdammten Schulden Afrikaner und der Israeli verschwanden, In der DDR ging das so: Horst Dietrich, steigen ja weiter, wenn einer nicht tilgen Schnur blieb sitzen, die Wertpapiere waren Eigentümer der Immobilie, wollte in den kann; zwei Millionen sind es mittlerweile. gefälscht. Westen, und Schnur wollte und sollte von Aber eigentlich wollte er etwas ganz an- deres erzählen. Die Familie, ach ja. Sie hat- te keine Ahnung von Vatis Doppelleben. „Sie war absolut geschockt“, sagt Schnur, „gerade denen, die man am liebsten hat, tut man am meisten weh. Ich hoffe, dass mir Vergebung zuteil wird.“ Es ist die zwei- te Familie, denn die erste Ehefrau hatte es nicht ausgehalten. „Freunde sind auch nicht mehr an mei- ne Seite getreten“, sagt Schnur. Es war ja auch schwer für andere, das ge- steht er ihnen zu. Er war lange krank, hat sich abgekapselt, und „wenn dann Ge- sprächsanbahnungen kamen, war es so, dass ich zuerst ein Schuldbekenntnis ab- geben sollte, und da war ich blockiert“. Schuld ist eine vertrackte Sache. Einer- seits, natürlich, „habe ich Menschen ver- raten, das ist meine tiefe Schuld“. Ande- rerseits aber eben auch wieder nicht, denn Schnurs Liste ist lang: Er hat als Anwalt „hunderten, tausenden geholfen“, die sei- netwegen nicht in den Knast kamen. Was

WEREK hätte er tun sollen unter den Umständen? Politiker Eppelmann, Kohl, Schnur*: „Ihm können Sie vertrauen“ „Er ist ein armes Würstchen“, sagt , die von ihrem Anwalt verratene Bür- „Ich hatte damit nichts zu tun“, sagt nach Berlin umsiedeln – dort war gerrechtlerin, „ich denke, dass er Realität Schnur, „wir wollten die Papiere auf ihre er nützlicher. Von Manfred Stolpe, dem auf psychopathische Weise verdrängt.“ Echtheit überprüfen lassen.“ Doch die Ber- Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Es begann, als Schnur nach seiner Rück- liner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Kirche, „wurde ihm angeboten, ein Einfa- kehr in die DDR als Gleisbauarbeiter „in die versuchten Betrugs; demnächst, so ein Ein- milienhaus – Dietrich, Hubertusstraße 6, Produktion“ (Schnur) musste, um zu zeigen, geweihter, soll Anklage erhoben werden. Hessenwinkel – zu erwerben“, wie Schnurs dass er ein braver Sozialist war. Er war 20 Was soll einer noch anfangen mit so ei- Führungsoffizier am 17. Oktober 1988 no- Jahre alt, geriet in eine Prügelei, erstattete nem Leben? Wolfgang Schnur steht in der tierte; „er soll das Angebot annehmen und Anzeige, aber nichts passierte. Da schaute Küche seiner grauen Villa in Hessenwinkel sich von der Kirche bezahlen lassen“. Stol- dieser freundliche Herr von der Stasi vorbei. am Rande Ost- und kocht Blumen- pe selbst schrieb an den „Lieben Bruder „Du machst eine gute Figur, du bist klug kohl, Kartoffeln und Fleischbällchen für Schnur“: „Wir könnten helfen. Bei Inter- und hast Überzeugungen“, sagte der Frem- seinen zweijährigen Sohn Leon. Die Fa- esse bitte schnell Kontakt aufnehmen.“ de. „Es ist ihnen gelungen, in die Lücke zu milie hat Grippe, drei Betten stehen im Dann, so der Stasi-Oberst, habe Stolpe stoßen“, sagt Schnur – die Lücke dessen, Wohnzimmer, und zuerst muss er Frau und die „Generallinie festgelegt: An den Kir- der keine Heimat hatte. Kinder pflegen, ehe er neu beginnen kann. chenanwalt wird zur Absicherung seiner „Sie haben mich gefoltert und er- „Investitions- und Projektberater“ nennt Person ein persönliches Darlehen in Höhe presst“, sagte Schnur einst zu seiner Ver- Schnur sich jetzt. Sein einziger Kunde ist von 240000 Mark auf sein Konto überwie- teidigung. In Wahrheit gab es Kaffee und eine Familie, die in Niedergörsdorf Euro- sen. Diese 240000 Mark der DDR sollen Kuchen, und er unterschrieb sofort. pas größtes Landtechnik-Museum baut. dann auf das Konto des Verkäufers über- Denn Schnur, sagt Schnur, war schon Geld bringt das nicht, bisher. wiesen werden. Dieser überweist den immer einer, der sich Verantwortung auf- Geldbetrag an die kirchliche Einrichtung“. lud. Er war Mitglied der FDJ-Kreisleitung, * Mit Kanzleramtsminister am 24. Novem- Und so geschah es. Der Kollektenfonds und nachdem die nette Kaderleiterin ihm ber 1989 in Bonn. der Evangelischen Kirche in Berlin-Bran- die Ausbildung zum Handelskaufmann er-

92 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland möglicht hatte, nahm er „sogar Aufgaben von der Stasi hieß Joachim Wiegand; schen mit Rückgrat, „diese jungen bis in die Bezirksdirektion des Einzelhan- Schnurs Kinder nannten ihn „Onkel Joe“. Mädchen, die so etwas Sprudelndes hat- dels wahr“. Für einen Untertan, dem Äm- Und wenn die besten Freunde die Wahr- ten“, Menschen eben, die sich trauten, eine ter Anerkennung bedeuten, spielt die Art heit nicht kennen dürfen, wird irgendwann Meinung zu haben und nicht mehr als die- der Ämter keine Rolle. der Führungsoffizier zum besten Freund. se eine. Er wollte dazugehören, auch hier, „Du darfst nie ein Wort verlieren“, flüs- Die zwei, sagt Schnur, hockten stundenlang aber auch hier nur zur Hälfte. Er wollte terte der Herr von der Staatssicherheit zusammen und diskutierten über überall mitmachen, überall meinte er es dann. „Das ist strikter Maßstab für Ge- Honecker und die Welt. Sie wussten, was ernst, und so wurde er Tschekist und Bru- heimdienste, Konspiration bis zum Letz- das Beste für den Sozialismus im Allge- der Schnur in Personalunion. Wieso muss ten“, sagt Schnur. Er schwieg 25 Jahre lang. meinen und für Schnurs es im Leben Dinge geben, So entstand ein Leben in der Schizo- Mandanten im Besonderen die einander ausschließen? phrenie. Nun war der bürgerliche Aufstieg war, auch wenn die Man- Heute wirkt es, als habe möglich, das Jura-Fernstudium, selbst die danten vielleicht etwas an- ihn die Stasi so groß ge- für Normalsterbliche undenkbare Zulas- deres wollten. macht, dass es zur Kata- sung als Einzelanwalt. Ein Stasi-Mann hat- „Mein Anwalt Schnur strophe kommen musste. te das Justizministerium angewiesen, den malte mir meine Zukunft Doch bis zum Ende dachte Antrag „sehr wohlwollend“ zu prüfen. nur in den finstersten Far- Schnur, dass er seine zwei Wer fragt im Moment des Triumphes ben aus“, sagt der ehemali- Leben trennen oder, bes- noch, ob wirklich „die wahre Begabung ge Bürgerrechtler Ralf ser, problemlos vereinbaren des Wolfgang Schnur entdeckt“ wurde, wie Hirsch, „zehn Jahre Knast könnte. Er denkt das immer Wolfgang Schnur weiterhin sagt – oder ob oder Ausreise.“ noch; im Grunde hat er nur diese Begabung bloß eine Erfindung der „Irgendetwas ist nicht den „politischen Fehler“ ge- Stasi war? Dass seine Professoren und all echt“, sagte Rainer Eppel- macht, sich nicht zu offen- die anderen Förderer seine „politischen, mann damals. Schnur habe baren, als die Zeit reif war.

philosophisch-geistigen Fähigkeiten“ drei Laster, nämlich Geld, SPIEGEL TV Als es zu Ende ging, fand (Schnur) erkannten, glaubte er gern. West-Autos, Frauen, „wie Schnur-Akten sich Schnur in der absurden Es war eine DDR-typische Kombination: finanziert der das?“ So Situation wieder, dass er mit Der Mann, der nur gemocht werden woll- schwierig war das nicht. Schnur, der hun- dem Megafon vor der Stasi-Zentrale in te, wurde im scheinbar wahren Leben derte Gespräche protokollierte und den Leipzig dafür kämpfte, dass „diese Leute wichtig – und deshalb auch im Schatten- „werten Genossen“ Erich Mielke „wegen bestraft werden“. „Damit sich Leistung reich. „Ich habe dann ja sehr früh Aufga- der Wichtigkeit meiner Informationen“ endlich lohnt“, stand auf dem Wahlplakat, ben in der Bezirksdirektion des Einzel- schon mal um persönliche Gespräche bat, und darunter stand der Kandidat mit dem handels wahrgenommen“, sagt er stolz. In bekam 200, 500 oder 1000 Mark für seine gierigen Blick eines Süchtigen. So hetzte seiner Parallelwelt wurde Schnur, wie er so Berichte. Doch irgendwem musste Eppel- der Oppositionelle Schnur gegen den Sta- schön formuliert, „aus den Händen der mann ja vertrauen in der Opposition. si-Mann Schnur und glaubte, dass beiden Kreisdienststelle entlassen und in die höhe- Schnur hatte eine Gläubige geheiratet nichts geschehen würde. re Kategorie der Bezirksdienststelle MfS und war gläubig geworden – so wurde er Er glaubte das wirklich, weil er damals Rostock aufgenommen“. Kirchenanwalt. 1976 wurde Wolf Biermann erlebte, was er heute in der CDU be- Wie Ibrahim Böhme und viele andere ausgebürgert, die Opposition brauchte Ver- obachtet: diesen Mechanismus des Ver- lebte Schnur in der Illusion derer, die ihren teidiger – so wurde er Dissidentenanwalt. drängens. Helmut Kohl sprach unter vier Führungsoffizier „überhaupt nicht un- „Das Licht in meiner Zelle“, sagte ein Häft- Augen mit ihm, und Schnur riet dem menschlich“ (Schnur) fanden – in der Illu- ling über seinen Anwalt und Verräter. Kanzler, „den Schritt der Einigung nicht sion, dass das System kontrollierbar und Auch Klier und ver- ohne die Sowjetunion zu machen“. Also deshalb nicht so übel sei. Schnurs Mann trauten ihm. Und Schnur bewunderte Men- flog der Kanzler zu Michail Gorbatschow. So war das damals, und im Rausch der Macht hatte Schnur seine 33 Aktenordner vergessen. „Ich wusste nicht mehr, dass die Akten existierten. Ich hatte Charisma, ich war doch künftiger Ministerpräsident“, sagt er. Am 14. März 1990 war Schluss. CDU- Generalsekretär Volker Rühe schickte ei- nen Vertrauten an Schnurs Krankenbett, damit der keine Dummheiten machte. „Keiner von denen, die mich hofiert hat- ten, hat sich je gemeldet“, sagt Schnur. Und nun sitzt der Mann, der IM „Tors- ten“ war und zum IM „Dr. Ralf Schirmer“ promoviert wurde, in seiner Küche und will eine neue Partei gründen. Vorher muss er noch Mitstreiter finden und Arbeit, und er muss seine Unschuld in der Wert- papiergeschichte beweisen und schulden- frei werden, damit er seine Zulassung zurückbekommt, und … Was also soll werden aus so einem Le- ben? „Ein zeitgeschichtliches Dokument“,

M. BIEDOWICZ sagt Wolfgang Schnur. Er war doch auch Redner Schnur in der Berliner Gethsemane-Kirche (1988): „Ich hatte Charisma“ nur ein Opfer. Klaus Brinkbäumer

96 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite KONTUR FKK auf der Gjaidalm: 1000 Schilling pro nacktem Po

wo sie die Rockgruppe „Die Zwillinge und WINTERSPORT die Blechgäng“ gegründet haben. Regel- mäßig im Winter reisen sie mit ein paar Sauberer Berg dutzend Fans zum Dachstein und nehmen Quartier auf der Gjaidalm. Seit Jahren hält sich auf „Sämtliche Bilder von der FKK-Loipe sind gestellt, wir haben uns jedes Mal einen dem Bildschirm und in Gazetten Heidenspaß daraus gemacht“, erzählt Ri- die Mär von der einzigen chard Bracht. Beim ersten Dreh wurde eine FKK-Loipe der Welt in den Alpen. Gegendemo gleich mitinszeniert. „Unser Berg soll sauber bleiben“, stand auf einem mmer wenn hoch oben auf dem Berg großen Transparent, das ein paar Freunde beim Hüttenwirt Hans Schilcher ein der Zwillinge in die Kamera hielten. IFernsehteam anruft, fragt er die Zwil- „Nackt in die Loipe zu gehen ist völlig linge Richard und Gerd: „Moachts woas idiotisch, weil die Verletzungsgefahr viel Nackeliges?“ zu groß ist“, sagt Skilehrer Uli. Sobald die Meist nicken die beiden und trommeln Sonne scheint, verharscht der Schnee. Wer ein paar Freiwillige zusammen. Der Wirt sich langlegt, riskiert Hautabschürfungen zieht derweil mit seinem Motorschlitten an empfindlichen Stellen oder gar ein eine kurze Loipe in den Schnee. Stunden Ganzkörper-Peeling. Auch das Ambiente später laufen die Zwillinge und ihre Freun- der Schilcherhütte wirkt wenig erotisch: de auf Skiern hüllenlos und telegen an sur- Das rustikale Mobiliar gruppiert sich um ei- renden Kameras vorbei. nen groben Holzklotz, in den einheimische Jahrzehntelang kümmerte sich kein Burschen um die Wette Nägel schlagen. Mensch um die gottverlassene Gjaidalm Der Lohn für den coolen Auftritt im am Fuße des Dachsteins. Um das zu än- Schnee ist ein hübsches Taschengeld fürs dern, hatte der Wirt eine Schnapsidee. Eine Après-Ski. 1000 Schilling, etwa 140 Mark, Nachrichtenagentur verbreitete Mitte der pro nacktem Po zahlen die Fernsehleute neunziger Jahre die Meldung: An einer ab- meist bereitwillig. Denn leicht ist es nicht, gelegenen Skihütte oberhalb des öster- eine komplette TV-Ausrüstung bis vor die reichischen Urlaubsortes Obertraun liege Hütte zu schleppen. Noch deprimierender auf 1750 Metern die einzige FKK-Loipe des aber wäre es, sie ohne Bilder im Kasten Erdballs. Prompt erklomm ein Fernseh- wieder hinunterzutragen. team vom Südwestfunk den Berg, um die So geht die Mär von der einzigen FKK- Sache mit den Nackerpatzln auf Brettern Loipe der Welt weiter um den Globus. Ver- zu dokumentieren. gangene Saison rief das französische Blatt Seither ist das Schilcherhaus weltbe- „VSD – Vendredi, Samedi, Dimanche“ bei kannt. Jeden Winter kraxeln Journalisten Schilcher an. Man plane vier Seiten im zu Hans in die Höhe. Mal tragen ihre Ka- Heft und bat um Fotos. 4000 Schilling meras das Logo von RTL, mal von Sat 1, konnte Richard Bracht rausschlagen. Pro Sieben, MDR oder ORF. Selbst aus Ja- Pro Sieben lud die Zwillinge sogar als pan und Kanada, aus Großbritannien und Experten in eine Talkshow. Richard mim- Frankreich rückten schon Reporter an. te einen überzeugten FKK-Fan, sein Bru- Stets sorgt der Schilcher-Wirt dafür, dass der erregte sich höchst telegen über die die Reporter nicht vergebens kommen. Sauereien am Berg. Beide spielten ihre Rol- Doch wenn die Medienleute wieder weg le perfekt. sind, ist tote Hose am Berg – von einer Für Touristen hat der Schilcher-Wirt Loipe mit hüllenlosen Läufern keine Spur. mittlerweile eigens eine Ansichtskarte fer- Die Zwillinge, die bei Bedarf als ab- tigen lassen. Die zeigt ein Häuflein ent- gehärtete Nudisten im Schnee auftreten, blößter Skifahrer im Schnee und wirbt mit sind die Profi-Musiker Richard und Gerd dem zündenden Slogan: „Nahtlos braun Bracht, 49, aus dem westfälischen Münster, in Obertraun.“ Werner Paczian

98 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Wechselt ein Mitarbeiter in die Wirtschaft, Künftig sollen Beamte einen Wechsel BEAMTE muss ihn der Staat nachversichern. dann anzeigen, wenn die neue Beschäfti- In den vergangenen fünf Jahren ver- gung mit einer früheren Tätigkeit in den Gefährliche ließen nach Schätzungen des Deutschen vergangenen fünf Jahren in Zusammen- Beamtenbundes (DBB) mehrere tausend hang steht. Ist zu befürchten, dass dienst- hoch qualifizierte Beamte den Öffentlichen liche Interessen beeinträchtigt werden, Geneigtheit Dienst. „Die Ministerien lassen darüber kann die neue Erwerbstätigkeit bis zu drei keine Erhebungen erstellen, weil sie mit Jahren ganz oder teilweise untersagt Mit hohen Gehältern der Realität nicht konfrontiert werden wol- werden. len“, sagt DBB-Chef Erhard Geyer. Bei einem Verstoß gegen die Anzeige- wirbt die Wirtschaft qualifizierte Außer Finanzbeamten wandern Richter pflicht will Weimar ein saftiges Bußgeld Beamte ab. Nun soll und Staatsanwälte ab. Häufig wechseln verhängen lassen – bis zur Höhe von 24 der Exodus gestoppt werden. auch Staatsdiener, die – etwa in Baude- Monatsgehältern im neuen Job. zernaten oder bei der Bundeswehr – für die Für seinen Vorstoß sieht der Politiker ahr für Jahr beschaffte der Groß- Vergabe öffentlicher Aufträge zuständig gute Chancen. Schon 1978 gab es eine ähn- betriebsprüfer des Frankfurter Finanz- waren. „Wenn das dreifache Gehalt gebo- liche, allerdings noch schärfere Initiative Jamtes V für den Fiskus zig Millionen ten wird, beginnt das Nachdenken, ob der der damaligen SPD-geführten Bundesre- Mark. Reinhard Henkel gehörte zu den sichere Arbeitsplatz aufgegeben werden gierung. Der Vorschlag scheiterte an den effektivsten Beamten des Landes Hessen. soll“, sagt Dieter Ondracek, Chef der Deut- unionsdominierten Bundesländern. Im September 1999 war er plötzlich weg: schen Steuer-Gewerkschaft. Auch Weimar glaubt, dass „der Aus- Henkel hatte gekündigt und war ausgerech- Die neuen Arbeitgeber erwarten sich tausch zwischen Verwaltung und Wirt- net in die Zentrale der Commerzbank ge- häufig einen Wettbewerbsvorteil, wenn sie schaft (und umgekehrt) im Prinzip posi- wechselt, die er jahrelang überprüft hatte. Staatsangestellte aus dem Dienst heraus- tiv“ sei. Interessenkollisionen müssten je- doch ausgeschlossen wer- den. Bei manchem Sei- tenwechsel frage er sich: „Was wird da eigentlich bezahlt?“ So stieg ein früherer Sachgebietsleiter für die Konzernbetriebs- prüfung der Deutschen Bank ausgerechnet bei ei- ner Anwaltskanzlei ein, die auch den Geldkon- zern beriet. In den vergangenen zehn Jahren verlor der Fiskus allein in Hessen rund 1000 Mitarbeiter. Henkel beispielsweise ge- hörte zum gehobenen A. VARNHORN F. ROGNER / NETZHAUT F. Dienst, dem Rückgrat der Hessisches Finanzministerium, Steuerfahnder im Einsatz*: „Die Leute werden billig abgespeist“ Finanzverwaltung. Den- noch ist für seinesgleichen Henkels oberster Dienstherr, der hessi- kaufen. Manch einer hofft, die Insider- die Besoldungsgruppe A13 (Oberamtsrat, sche CDU-Finanzminister Karlheinz Wei- Kenntnisse über laufende oder geplante rund 95000 Mark Jahresgehalt) fast immer mar, 50, wurde über den gravierenden Ver- Beschaffungsvorhaben und gute Kontakte die Endstation der Karriere. „Die beruf- lust durch seine Mitarbeiter nicht einmal zu Sachbearbeitern gleich mitzuerwerben. lichen Perspektiven sind mittlerweile informiert. Als der Christdemokrat von „Schwer wiegende Risiken“ für den Öf- dermaßen schlecht, dass jegliche Moti- dem spektakulären Seitenwechsel schließ- fentlichen Dienst befürchtet Hessens Re- vation am Boden liegt“, klagt Geyer lich doch noch erfuhr, war es zu spät. „Die gierung, wenn die geltenden rechtlichen vom DBB. öffentliche Verwaltung sieht da nicht gut Vorschriften nicht modifiziert werden. 10 bis 15 Jahre warten qualifizierte Mit- aus“, rügte der Minister. Schon die Anbahnungsgespräche während arbeiter oft auf eine Beförderung. „Die Um den Brain-Drain zu stoppen, will der aktiven Dienstzeit brächten die „kon- Leute werden billig abgespeist“, schimpft Weimar nun über den Bundesrat das Be- krete Gefahr“ mit sich, dass öffentliche In- Steuergewerkschafter Ondracek. amtenrecht in einem wichtigen Punkt re- teressen denen des künftigen Brotherrn Dass die Motivation angesichts der ge- novieren: Wie in der Wirtschaft soll es in untergeordnet werden. ringen Aufstiegschancen oft schwach ist, Zukunft für ausscheidende Beamte eine Wechselbereite Amtsträger könnten zu- räumt auch Weimar ein. „Ich kann denen Art Konkurrenzklausel geben. dem versucht sein, Pflichten zu vernach- aber nicht mehr geben“, sagt er, „weil das Bislang können Beamte, die aus dem ak- lässigen, um ihre Karrierechancen bei po- Beamtenrecht uns daran hindert.“ tiven Dienst aussteigen, ohne Einschrän- tenziellen Arbeitgebern zu verbessern – Der einstige hessische Regierungsrat kung jeden Job annehmen. Ausnahme: durch eine „ähnliche Geneigtheitshaltung, der Finanzbehörde Josef Hillenbrand, heu- Treten sie in den Ruhestand, gilt für sie in wie sie aus Korruptionsfällen bekannt ist“, te als Rechtsanwalt in Frankfurt tätig, bestimmten Fällen eine Wartefrist von bis heißt es in einem internen Positionspapier. hält die Rechtslage für fatal. „Jeder quali- zu fünf Jahren. Um solchen Gefahren besser begegnen fizierte Steuerfahnder oder Betriebsprüfer Der Aderlass kommt den Steuerzahler zu können, müsse, so Weimar, das Beam- müsste mindestens 200000 Mark Jahres- teuer zu stehen. In die Ausbildung seiner tenrechtsrahmengesetz ergänzt werden. gehalt erhalten“, fordert er: „Die sehen Bediensteten investiert er in der Regel doch jeden Tag die Zahlen der Gegen- jeweils mehrere hunderttausend Mark. * Durchsuchung der WestLB in Düsseldorf 1996. seite.“ Felix Kurz

102 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

VERLAGE Storno wegen Kohl ei der größten deutschen Regional- Bzeitung „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ („WAZ“) in Essen gibt es eine Welle von Abbestellungen. Laut Infor- mationen aus dem Vertrieb haben in- zwischen weit über tausend Abonnen- ten im traditionell sozialdemokrati- schen Revier dem Blatt den Rücken ge- kehrt. Zu den Reaktionen kam es, nachdem der ge- schäftsführende „WAZ“-Gesell- schafter Erich Schumann dem wegen Mausche- leien bei der Par- teifinanzierung unter Druck ste-

A. KIRCHHOF / ACTION PRESS A. KIRCHHOF / ACTION henden Ex-CDU- Pkw-Montage in Rüsselsheim Chef Helmut Kohl bei einer Spen- AUTOKONZERNE densammlung pri- vat 800000 Mark zukommen ließ. Unruhe bei Opel „WAZ“-Sprecher

Hans-Dieter Peit- AP ach dem Einstieg des US-Konzerns troffen wäre davon vor allem das Opel- ler nennt eine Schumann NGeneral Motors bei Fiat droht bei Entwicklungszentrum in Rüsselsheim mit Zahl von 800 Ab- der GM-Tochter Opel ein massiver Ab- 8900 Beschäftigten. Opel-Betriebsräte bestellungen für Anfang vergangener bau von Arbeitsplätzen. Nach Informa- fordern vom Vorstand jetzt Aufklärung Woche, mehr will er zur Stornobilanz tionen von Fiat-Managern soll die nächs- darüber, wie die Arbeitsteilung zwischen nicht sagen. Jeden Abbesteller schreibt te Generation des Kleinwagens Opel Deutschen und Italienern aussehen soll der Konzern noch einmal gezielt an Corsa auf der Plattform der Fiat-Model- und wo die Überkapazitäten abgebaut und bittet um Vertrauen, der SPD-Ge- le Seicento, Punto und Palio entstehen werden sollen. Doch der deutsche Opel- nosse und frühere Willy-Brandt-Anwalt und die nächste Reihe des Kompaktwa- Vorstand hat darauf offenbar nur wenig Schumann unterschreibt persönlich je- genmodells Opel Astra auf der des Fiat Einfluss. Von der Beteiligung der US- den Brief. Auch beim Betriebsrat des Bravo. Zudem sollen künftig bei mehre- Muttergesellschaft bei Fiat erfuhren die drittgrößten deutschen Verlags ist die ren Modellen auch die gleichen Motoren Rüsselsheimer erst wenige Stunden, be- Spende an Kohl ein Thema, viele Mit- und Getriebe verwendet werden. Be- vor der Deal öffentlich verkündet wurde. arbeiter haben für den Geldfluss kein Verständnis.

FINANZEN gegenkommen. Die Frankfurter Wäh- Gründe auf, warum sein Haus die Ar- rungshüter, so das Kalkül, könnten beit des Bundesaufsichtsamts für das Bundesbank als allein zuständig werden für die Banken- Kreditwesen (BAKred) übernehmen aufsicht. In einem internen Papier listet sollte. Vor allem würden bisherige Dop- Aufseher Bundesbank-Präsident Ernst Welteke pelarbeiten zwischen Amt und Bank vermieden, und für die Kre- m Streit mit der Bundesbank über die ditinstitute würde die Kon- IAusgliederung der Schuldenverwal- trolle billiger. Sie finanzieren tung des Bundes in eine selbständige über einen Beitrag bislang GmbH will Finanzminister Hans Eichel 90 Prozent der Kosten des (SPD) hart bleiben. Zwar sollen seine BAKred. Zudem falle es der Fachleute mit Vertretern von Bundes- Bundesbank leichter, qualifi- bank und Bundesschuldenverwaltung in ziertes Personal zu gewin- einer gemeinsamen Arbeitsgruppe dis- nen, weil sie besser bezahlen kutieren, am Ende sollen aber doch bei- könne. Das BAKred klage de Behörden ihre Kompetenzen an eine schon seit langem über Per- neue Organisation abgeben. Im Gegen- sonalflucht, die sich mit dem zug, darauf hat sich die Ministeriums- Umzug der Behörde von

spitze verständigt, könne man der Bun- R. BOSSU / CORBIS SYGMA Berlin nach Bonn noch ver- desbank in einem anderen Streitfall ent- Welteke stärken werde.

der spiegel 13/2000 107 Trends

REFORMEN gibt sich eine Dynamik gegenseitiger Beflügelung. Eichel will den Staat SPIEGEL: Ist die Rechtskultur bei den Eli- ten brüchiger geworden? verschlanken Karstedt: Durch die Schere, die sich in den vergangenen Jahren in unserer Ge- undesfinanzminister Hans Eichel sellschaft aufgetan hat, entwickelte sich B(SPD) will die Finanzbeziehungen bei denen „da oben“ eine Arroganz der zwischen Bund und Ländern grundle- Macht. Sie haben einen enormen Zu- gend neu gestalten. Das geht aus einem wachs an ökonomischer Dominanz er- 14-seitigen Konzept aus seinem Ministe- zielt und sind so weit abgehoben, dass rium mit dem Titel „Schritte zum akti- sich ihre Bindung an Werte der Gesamt- vierenden Staat“ hervor. Die Aufgaben gesellschaft lockert. Aus diesem Gefühl von Bund und Ländern, so die Autoren, des „Anything goes“ heraus meint man, müssten klarer voneinander getrennt die Normen übertreten zu können. werden. „Die Mischfinanzierungen zwi- SPIEGEL: Nimmt die Elitekriminalität zu? schen Bund und Ländern sind zu ver- Karstedt: Es gibt keine genauen Zahlen ringern“, heißt es in dem Konzept. Das über den Tatort Chefetage, aber die Gleiche gelte für die Einnahmeseite: Im Gesamtzahl der Ermittlungsfälle bei

Steuergefüge sei deshalb „eine Verstär- M. ZUCHT / DER SPIEGEL Wirtschaftsdelikten ist zwischen 1993 kung der Elemente des Trennsystems zu Karstedt und 1998 immerhin um 35 Prozent ge- prüfen“. Hinter der verklausulierten stiegen. Nicht zuletzt deshalb bieten Forderung verbirgt sich das langfristige KRIMINALITÄT sowohl die Hermes-Versicherung als Ziel, dass sich der Bund hauptsächlich auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft aus den indirekten Steuern wie Mehr- KPMG neuerdings einen Sicherheits- wert- und Mine- „Arroganz und Präventionsservice an, der die Un- ralölsteuer fi- ternehmen auf Schwachstellen durch- nanziert. Die leuchtet. Länder hinge- der Macht“ SPIEGEL: Die OECD-Staaten haben 1999 gen könnten aus eine Konvention gegen Korruption den direkten Die Bielefelder Kriminologin Susanne verabschiedet. Sind damit die Zeiten Steuern, also Karstedt, 50, über Korruption und den für Weiße-Kragen-Täter schwieriger ge- der Einkom- Tatort Chefetage worden?

M. DARCHINGER men- und Kör- Karstedt: Sie sind nicht mehr ganz so Eichel perschaftsteuer, SPIEGEL: Was unterscheidet die Weiße- rosig, aber weiterhin gilt: Was sich lohnt, alimentiert wer- Kragen-Täter von Durchschnittskrimi- lockt. Siehe die zahlreichen Affären um den. Außerdem will Eichel die Bürger nellen? Großprojekte in der Bauindustrie. stärker zur eigenen Absicherung der Karstedt: Typisch für die Täter ist, dass SPIEGEL: Ist die öffentliche Behandlung Altersversorgung und sozialer Risiken sie ihre Delikte nur aus einer Macht- von Skandalen – wie jetzt bei der CDU- wie Arbeitslosigkeit drängen. Um die position heraus begehen können. Meist Spendenaffäre – das beste Mittel, um die maroden Sozialversicherungssysteme gibt es ein Netzwerk von Gleichrangi- Eliten an die Kandare zu nehmen? zu sanieren, heißt es in dem Konzept, gen, zu dem auch Beratergruppen aus Karstedt: Ja, aber es wäre sicher auch müssten „private Vorsorgemaßnahmen Rechtsanwälten und Managementspe- eine große Hilfe, wenn Mitarbeiter, die weitgehend ausgeschöpft werden“. zialisten gehören. Der Wille von Elite- auspacken wollen, keine Angst mehr um Eichels Beamte fordern weiter, dass angehörigen, Macht und Vermögen zu ihren Arbeitsplatz haben müssten. In an- „Anreize gesetzt werden müssen, die maximieren, trifft da auf ein Experten- deren Ländern ist dieser Schutz durchaus übermäßigen Rückgriffen auf das tum, das weiß, wie das geht. Daraus er- üblich. Sozialsystem entgegenwirken“.

ENTERTAINMENT Sportrechteanbietern über Inhalte für Multimedia-Handys. Außerdem sollen den Kunden Börsenberichte, Nachrichten, WM auf dem Handy Spiele und sogar Musikkonzerte angeboten werden. Die Kapa- zitäten im Mobilfunk seien noch so gering, „dass wir uns auf er Münchner Medienunternehmer Leo Kirch will zusam- wirklich attraktive Angebote beschränken wollen“, sagt Tvede. Dmen mit dem Schweizer Software-Unternehmen Fantastic Corporation im Jahr 2002 Bilder von der Fußball-Weltmeister- Fußball-Weltmeisterschaft (1998 in Paris) schaft auf dem Handy anbieten. „Dann sind Spiele live zu se- hen, oder jeder kann sich nach Lust und Laune bereits gefalle- ne Tore noch einmal ansehen“, macht Fantastic-Mitbegründer Lars Tvede den Fußballfans Hoffnung. Für die nächsten sechs Jahre planen die Partner für ihr Joint Venture Worldzap In- vestitionen von 450 Millionen Dollar. Damit sollen genügend Inhalte für eine neue Generation von Handys aufbereitet wer- den. Kirch hält neben der Fußball-WM auch andere wichtige

Sportrechte; Worldzap redet derzeit mit rund 70 weiteren BEHRENDT O. 108 Geld

VERSICHERUNGEN 200 ERDÖL-AKTIEN Aktienkurse Mehr Transparenz von Ölkonzernen Hahn auf, Preise runter ebensversicherungen galten bislang und Ölpreis eit Anfang 1999 hat sich der Preis für als völlig intransparent. Die Ver- Veränderung Rohöl fast verdreifacht, mit gut 30 L 150 S sicherten wussten nicht, wie viel Pro- in Prozent Dollar kostete das Barrel (159 Liter) zent ihrer Beiträge wirklich angelegt zeitweise so viel wie seit neun Jahren wurden, weil die Versicherungen mit nicht mehr. Die Nachfrage nach dem Informationen geizten. Nun hat der Rohstoff zieht dank der guten Weltkon- Branchendienst „Map-Report“ die ver- junktur an, die Ölkonzerne verdienen 100 ÖLPREIS schiedenen Bestandteile des Beitrags glänzend – doch ihr Aktienkurs bleibt aufgegliedert. Danach vereinnahmen davon weitgehend unberührt. Seit Mo- Versicherer wie die DBV-Winterthur, BP Amoco naten steigen die Werte von mächtigen Alte Leipziger oder die Hamburg-Mann- Förderriesen wie Exxon Mobil oder BP heimer bis zu 25 Prozent der Beiträge 50 Amoco nur mäßig; die Anleger favori- als Kosten für Verwaltung, Vertrieb und sieren Telekommunikationstitel, die Vertreterprovisionen. Direktversicherer noch weiteres Wachstum versprechen. wie die Deutsche Allgemeine oder die Auch die Halbjahreskonferenz der Hannoversche Lebensversicherung Opec-Staaten an diesem Montag in behalten dagegen weniger als neun Pro- 0 Exxon Mobil Wien dürfte den Ölaktien kaum neuen zent für sich und können entsprechend Schwung verleihen. Im Gegenteil: Es mehr Geld ihrer Beitragszahler am wird erwartet, dass die Ölminister die Kapitalmarkt anlegen. Branchenführer Förderung wieder ausweiten, um so den Allianz, der mit einer Kostenquote von Quelle: Datastream Preisanstieg zu bremsen. Damit aber 16,5 Prozent im Mittelfeld landet, will –50 sinken die Gewinnerwartungen der vom Sommer an seinen Kunden mehr Jan. Jan. Konzerne, und das wiederum drückt Transparenz bei den Beiträgen bieten. 1999 2000 auf ihre Aktienkurse.

INTERNET-AKTIEN Fickel: Im Internet-Bereich ist es wichtig, auf Marktführer zu setzen. Wir suchen uns deshalb für unseren Fonds diejenigen „Schaufeln für den Goldrausch“ Unternehmen aus, die die Schaufeln für den Goldrausch liefern. Karl Fickel, 39, verwaltet den Fonds In- sengangs noch einmal die Preisspanne SPIEGEL: Was meinen Sie damit? vesco Neue Märkte, in den Anleger eine nach oben gesetzt. Ich hoffe, dass die Fickel: Wir investieren lieber in Inter- Milliarde Mark gesteckt haben. Preise nun wieder realistischer werden. shop, Autonomy oder Pixelpark, die SPIEGEL: Nach einer neuen Studie von Dienstleistungen und Software rund um SPIEGEL: Viele Firmen in Merrill Lynch werden 75 Prozent der In- das Internet liefern. Firmen wie Buch.de der Boombranche In- ternet-Unternehmen niemals die Ge- oder Ricardo.de, die direkt mit den Kon- ternet erlebten in den winnzone erreichen. Wie sortieren Sie sumenten zu tun haben, werden es dage- vergangenen Tagen bei die Gewinner aus? gen viel schwerer haben. ihrem Börsendebüt eine Bauchlandung – zum Neuemissionen von Internet-Werten in Euro Beispiel Lycos Europe, Travel24 oder Ision. 24,5 140

J. LADWIG / BÖRSE ONLINE LADWIG / BÖRSE J. Was ist passiert? 23,5 120 Fickel Fickel: Bisher wurden Europe 22,5 22,98 Knappheitspreise be- 100 zahlt, weil es relativ wenige Internet- 21,5 Unternehmen an der Börse gab. Das hat Ausgabepreis: 80 Ausgabepreis: 91,75 sich geändert, die Anleger können ge- 20,5 Quelle: 24,00 69,00 Datastream nauer hinschauen. Außerdem gab es ge- 19,5 60 rade in Deutschland zu viele Leute, die 22. März 2000 24. März 2000 17. März 2000 24. März 2000 nur die Zeichnungsgewinne einkassieren 44 wollen, ohne sich für die Unternehmen 28 40 zu interessieren. Das muss irgendwann 36 schief gehen, wenn es hinterher niemand 24 gibt, der kaufen will. 23,87 32 SPIEGEL: Sind die Preise für die jungen 20 Ausgabe- 27,00 Internet-Firmen nicht ohnehin zu hoch? Ausgabepreis: 28 preis: Fickel: Da wurde sicherlich übertrieben. 29,00 43,00 16 26 Manchmal wurde sogar während des Bör- 15. März 2000 24. März 2000 17. März 2000 24. März 2000

der spiegel 13/2000 109 Wirtschaft

GROSSBANKEN Die Abschiebung Aufruhr im Geldgewerbe: Die Ankündigung von und Dresdner Bank, weniger vermögende Kunden in ein Spezialinstitut abzuschieben, empört Millionen von Sparern. Die Konkurrenz will von der Wutwelle profitieren.

en Aufreger der Woche liefer- „Wir haben sofort Argumentationshil- te Deutschlands auflagenstärkstes fen an unsere Mitarbeiter ausgehändigt“, DFachblatt für Finanzen und Volks- berichtet ein Niederlassungsleiter der empfinden: „Immer auf die Kleinen!“, ti- Dresdner, „und wir versichern den Anru- telte „Bild“ am Donnerstag vergange- fern, dass wir um jeden Kunden kämpfen. ner Woche. Die Schlagzeile „Dresdner Einstweilen zumindest.“ Bank wirft Millionen Kunden raus“ sorg- Dabei hat jede Bank ein Zwei-Klassen- te für Gesprächsstoff in Kantinen und System, vornehm „Kundensegmentierung“ Kneipen. genannt. Auch die Sparkassen behandeln Schon beim ersten Glas Kölsch brach Chefärzte anders als Krankenschwestern. am Tresen der „Birke“ in Köln-Sülz Em- Allerdings: Keine Sparkasse treibt die we- pörung aus. Alle waren der gleichen niger gut situierte Kundschaft zu einem Meinung wie der freiberufliche Unterneh- Institut, das eigens für die ärmere Mehrheit mensberater Klaus Michel, Kunde bei der der Bevölkerung gegründet wurde. Dresdner und der Deutschen Bank: „Eine „Apartheid-Banking“, mokiert sich ein Unverschämtheit.“ Manager der HypoVereinsbank. Vor allem Der Diplomkaufmann hat sich gerade die Peanuts-Grenze von 200000 Mark, die ein Haus gekauft und ist mit einem deshalb von Harbou öffentlich setzte, erwies sich nur noch fünfstelligen Guthaben nicht als grandiose Fehlleistung. Die Vorstän- mehr erwünscht. Michel will zur Com- de der beiden Großbanken offenbarten merzbank wechseln: „Ich lasse mich nicht einmal mehr, wie weit sie sich von der abschieben.“ Realität der Normalbevölkerung entfernt Den Volkszorn hatte Joachim von Har- haben. bou ausgelöst, Vorstandsmitglied der Bei jedem Kauf mit EC-Karte, bei jeder Dresdner: Wer weniger als 200000 Mark Überweisung zeigt nun jeder Kunde der auf dem Depot hat, gilt als lästiger Klein- beiden Großbanken seine Vermögenslage. sparer und soll zur Deutschen Bank 24 ge- Auch die Bankverbindung deutet nun hen, verkündete der Banker vergangene schon darauf hin, dass der Konsument mit Woche. So sehen es die Verabredungen den hohen Ansprüchen wenig auf dem der Fusionspartner Deutsche und Dresd- ner Bank vor. Die Deutsche Bank hatte im vergan- genen Jahr die Bank 24 gegründet, die Durchschnittsverdiener und Firmen mit Zentralen der Deutschen und der einem Umsatz unter fünf Millionen Mark betreuen soll. Per Standardschrei- Konto hat und der Mittel- ben – „Herzlich willkommen bei der ständler offenbar kein Um- Deutschen Bank 24“ – erfuhren die ver- satzriese ist. dutzten Kunden des Kreditinstituts, dass Andere Banken praktizie- sie hiermit zur Billigtochter abgescho- ren diese Aufteilung deutlich ben werden. sensibler. Sparkassen etwa Reihenweise kündigten die abgewerteten haben sogar die frühere Deutsche-Bank-Kunden ihre Konten und Klassifizierung „Standard- Wertpapier-Depots. Zur Bank 24 werden kunde“ aufgegeben: „Pri- nun auch die ärmeren Klienten der – bald vatkunde“ klingt anspruchs- mit der Deutschen vereinten – Dresdner voller. Aber nur der „Indivi- geschickt. Das größte Finanzhaus der Welt dualkunde“ hat richtig Geld duldet dann nur noch gut vier Prozent der und damit „erhöhten Bera- deutschen Bevölkerung an ihren edlen tungsbedarf“, wie die Kre- Schaltern (siehe Grafik). ditinstitute die bessere Be- Die Kundschaft reagierte verständli- handlung rechtfertigen. cherweise zornig. Tausende beschwerten Wer ein Depot von eini-

sich bei ihren Finanzberatern – oder mach- / IMAGES.DE A. WEYCHARDT gen hunderttausend Mark ten ihrem Ärger in Briefen Luft. Deutsche-Bank-Chef Breuer: Apartheid-Banking? hat, wird umworben, gründ-

110 der spiegel 13/2000 kasse (Haspa), die Abwanderung von der Deutschen und der Dresdner Bank: „Der Prozess geht langsam los.“ Deutschlands größte Sparkasse hat in den vergangenen Wochen rund 2000 Konto- und Depot- übertragungen registriert, sie rechnet mit insgesamt 10 000 – allesamt, wie Dreyer weiß, „gute private Kunden“. Schlagzeile in der Boulevardpresse Mit Anzeigen schürt die Haspa die Ver- Empörung in Kneipen und Kantinen ärgerung und empfiehlt sich als die besse- re Alternative. Auch die über 2000 deutschen Volks- und Raiffeisenbanken machen sich jetzt an die abgeschobene Klientel heran, ebenso die Großbanken, allen voran die Hypo- Vereinsbank mit einem „expansiven Kun- dengewinnungsprogramm“. Ihre Chancen stehen gut: All die Kun- den der Dresdner und Deutschen, die kein Bar- oder Wertpapiervermögen von min- destens 200 000 Mark haben, fühlen sich als „unrentabler Ballast“, stellte Dirk Ziems vom Kölner Marktforschungsinsti- tut IFM fest. Ein Riesenpotenzial für die Konkurrenten der Überfliegerbank.

Mit der Auslagerung ihres Massenge- / ARGUS FRISCHMUTH P. schäfts wollen Deutsche und Dresdner ihre Sparkassen-Werbung chronisch defizitären Filialen sanieren. Mit Anzeigen die Verärgerung geschürt Haspa-Chef Dreyer kann zumindest die „Argumentation nachvollziehen“ und HypoVereinsbank-Chef Albrecht Schmidt. rechnet für Hamburg vor: Die beiden Über ihre Filialleiter vor Ort erfahren sie Großbanken unterhalten zusammen 99 Fi- frühzeitig von Entwicklungen und Ver- lialen und kommen auf einen Marktan- änderungen. „Wir wissen an jeder Milch- teil von zehn Prozent; die Haspa hat dop- kanne der Republik, wer hier welche Ge- pelt so viele Filialen, aber einen Markt- schäfte macht“, sagt Bernd Thiemann, anteil von 55 Prozent. Chef der DG Bank, des Spitzeninstituts Die Deutsche und die Dresdner, so der Volks- und Raiffeisenbanken. scheint es, haben ihr Filialgeschäft arg ver- Vor allem aber: Der Deutsche wechselt nachlässigt. Für die meisten Kreditinsti- nur dann die Bank, wenn er sich sehr tute ist schon ein Kunde rentabel, auf schlecht behandelt fühlt. Der 26-jährige dessen Konto monatlich 2000 Mark ein- Diplomingenieur, den die Deutsche und gehen. Die beiden Frankfurter Fusions- Dresdner als Berufseinsteiger nicht haben kandidaten, die ihre Filialkosten nicht in will, wird als wohlhabender 45-Jähriger den Griff bekommen, brauchen jedoch nicht zu einer Bank wechseln, der er einst weit höhere Umsätze pro Kunde. als Kunde zu schäbig war. Für die meisten Banker sind Filialen „Das ist gut für uns“, freut sich Bernhard „der Königsweg des Bankgeschäfts“, so der Termühlen, Vorstandvorsitzender des Fi- DPA Dresdner Bank: „Der Banker denkt, der Kunde lenkt“ Zwei Klassen Wo die Privatkunden von Dresdner und Deutscher Bank bleiben licher informiert und freundlicher abgefer- tigt; er bekommt günstigere Kredite und kassiert höhere Zinsen. Ein guter Anlageberater kennt selbstver- ständlich auch die Geburtstage seiner Indi- vidualkunden und schickt dann, je nach Be- über deutung, eine Glückwunschkarte oder ei- 200000 Mark nen Blumenstrauß. 800000 Privatkunden 4,4% 10 Mio. Privatkunden Es ist wie bei der Lufthansa: Schampus mit einem Vermögen von mit einem Vermögen von in der First Class, Bier in der Economy. Doch anders als die deutsche Fluglinie sind über 200000 Mark unter unter 200000 Mark sollen von der Deutschen 50000 50000 sollen von der Bank 24 bislang als einzige Unternehmen nur die bis 200000 Mark Bank in 600 Geschäfts- in 1700 Geschäftsstellen Deutsche und Dresdner auf die Idee ge- Mark 66,2% kommen, die weniger betuchte Kundschaft stellen betreut werden. 29,4% betreut werden. öffentlich bloßzustellen und durch Über- Geplanter Marktanteil Geplanter Marktanteil weisung an ein Tochterinstitut für jeden Geldvermögen in diesem Segment: in diesem Segment: erkennbar zu stigmatisieren. der deutschen Haushalte Sichtlich vergnügt beobachtet Karl-Jo- 20 Prozent 10 Prozent achim Dreyer, Chef der Hamburger Spar- Quelle: BBE Unternehmensberatung

der spiegel 13/2000 111 Wirtschaft nanzdienstleisters Marschollek, Lauten- schläger & Partner (MLP). Termühlen ver- Ungleiche Partner Konzerndaten 1999 folgt höchst erfolgreich den entgegen- Mitsubishi Motors soll in gesetzten Weg, den Deutsche-Bank-Chef eine Pkw- und Nutzfahrzeug- Rolf Breuer und sein Kompagnon Bern- Sparte geteilt werden. hard Walter von der Dresdner eingeschla- DaimlerChrysler beteiligt sich an der Pkw-Sparte. gen haben. Geschäftsjahr 98/99 Die Vermögensberater der MLP – laut PRODUKTION Lkw 102145 551473 Eigenwerbung 96 Prozent Hochschulab- weltweit solventen – gelten als die besten der Bran- in Stück Pkw 990467 4305708 che. Sie gehen gezielt an Kunden heran, UMSATZ die nichts oder wenig auf dem Konto ha- in Milliarden Dollar 29,14 151,04 ben: Berufseinsteiger frisch von der Uni- GEWINN* 47 7081 versität. in Millionen Dollar *vor Steuern An denen verdient MLP zunächst kaum BESCHÄFTIGTE 26749 466938 etwas. Aber später, wenn deren Einkom- men steigt, gehören sie zu den lukrativsten Kunden – Besserverdiener, die ihre Versi- cherungen und Altersvorsorge ihrem MLP- AUTOINDUSTRIE Berater anvertrauen. Auch bei anderen Finanzdienstleistern sorgt die Arroganz der Fusionsbanken für Zweite Wahl Stimmung. „Wir werden davon profi- tieren“, sagt Reinfried Pohl, Chef der Fi- Neue Chance für den Smart: Nach dem DaimlerChrysler- nanzfirma DVAG, deren 20000 provisions- hungrige Mitarbeiter sich vorzugsweise um Einstieg bei Mitsubishi soll der Normalverdiener kümmern. Kleinwagen nun auch als Viersitzer gebaut werden. „Ein Gottesgeschenk“ sei die neue Bank, meint auch Carsten Maschmeyer, ber den Aufenthaltsort des Firmen- Renschler sicher, dass er in diesem Jahr Herr über 6000 zumindest formal selb- chefs kursieren beim Kleinwagen- über 100 000 Smart loswird. Doch der ständige Anlageberater der AWD. Masch- Ühersteller Smart seit Wochen nur Durchbruch für den Kleinwagen, von dem meyer arbeitet seit einiger Zeit daran, nach Gerüchte. Mal soll Andreas Renschler in nach den ursprünglichen Plänen 200000 dem Vorbild der MLP aus Provisionsjä- den USA gewesen sein, dann wieder, wie Stück im Jahr hergestellt werden sollten, ist gern kompetente Berater zu machen: „Wir am vorvergangenen Wochenende, in Ja- dies noch nicht. wollen den Kunden ein Leben lang be- pan. Dabei hätte der Smart-Chef doch ge- Den suchte Renschler zusammen mit halten.“ nug in Deutschland zu erledigen. DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp Gute Vermögensberater sind knapp. Die Auftragseingänge für den von aller- auf seinen jüngsten Auslandsreisen. Und Aber derzeit häufen sich bei Kreditinstitu- lei Pleiten verfolgten Kleinwagen Smart er wurde fündig. Wenn DaimlerChrysler in ten Bewerbungen von Anlageexperten der weisen zwar nach oben. Nach 30000 Be- dieser Woche 33,4 Prozent an Mitsubishi Deutschen und Dresdner. „Eine Menge stellungen in den ersten drei Monaten ist übernimmt, dann gibt es am Rande die- Anfragen“ habe ihre Firma erhalten, be- ser deutsch-amerikanisch-japani- richtet Jutta Fink von MLP, „alles hoch schen Allianz einen großen Gewin- qualifizierte Bewerber“. ner: den kleinen Smart. Die Marke Denn niemand weiß, wer bei der fusio- könnte dadurch in eine ganz neue nierten Großbank als Berater für die wohl- Dimension wachsen. habende Kundschaft bleiben darf und wer Ein Plan, den Renschler noch am für die weniger anspruchsvolle Aufgabe in Freitagvormittag vergangener Wo- der Bank 24 abgestellt wird – oder wer che mit Schrempp besprach, sieht selbst auf der Straße steht. vor, dass Smart und Mitsubishi eine Denn mindestens so verunsichert wie Gemeinschaftsfirma gründen. Die die Kunden sind die Mitarbeiter der beiden soll im Mitsubishi-Werk in den Großbanken. Fast jedem ist klar, dass die Niederlanden künftig einen vier- Ankündigung von 16 000 bedrohten Ar- sitzigen Smart produzieren, der auf beitsplätzen zu optimistisch ist – ebenso Motoren und Komponenten der wie die interne Annahme, dass nur 50000 Mitsubishi-Kleinwagenmodelle Mi- wütende Kunden kündigen, wenn sie zur nica und Toppo basiert und weltweit Bank 24 abgeschoben werden. verkauft wird. Die Kunden sind selbstbewusster, als Im Gegensatz zum zweisitzigen die Herren in den obersten Etagen der Smart, dessen Markt vor allem auf Frankfurter Banktürme ahnen. europäische Großstädte beschränkt Vortragsredner und Buchautor Bodo ist, soll der Viersitzer weltweit ver- Schäfer, der mit seinen „Werde reich“-Se- kauft werden und deutlich höhere minaren erfolgreich durch Deutschland Stückzahlen erreichen. Die Marke tourt, kennt die Stimmungslage der Sparer Smart würde mit diesem neuen genau. Die Wut der Leute, prophezeit er, Modell, von dem 200000 Stück im werde für die Geldfürsten unangenehme Jahr hergestellt werden sollen, aus Folgen haben: „Der Banker denkt, und seiner Nische herausfahren und zu

der Kunde lenkt.“ K. B. KARWASZ der Kleinwagenmarke des Daimler- Hermann Bott, Wolfgang Reuter DaimlerChrysler-Chef Schrempp: „Die Welt AG“ Chrysler-Konzerns aufsteigen.

112 der spiegel 13/2000 Für Vorstandschef Schrempp versprach Schrempp noch vor könnte der Einstieg bei Mit- kurzem seinen Aktionären. subishis Personenwagenpro- Doch bis Mitsubishi eine an- duktion zwei Probleme lösen. gemessene Rendite erwirt- DaimlerChrysler muss den An- schaftet, werden noch Jahre teil der Kleinwagen am Absatz vergehen. Dem Börsenkurs stark erhöhen, um die Zusagen von DaimlerChrysler wird der Hersteller an die Europäi- die Japan-Connection vorerst sche Union zu erfüllen, den wohl keinen Auftrieb ver- Flottenverbrauch bis zum Jahr schaffen. 2008 auf rund sechs Liter pro Smart-Chef Renschler hat 100 Kilometer zu senken. Und andere Sorgen. Ohne einen der Konzern ist in Asien bis- Partner wie Mitsubishi hätte lang noch zu schwach vertre- die Marke Smart kaum eine ten. DaimlerChrysler erwirt- Zukunft. Neben dem Zweisit-

schaftet dort nur gut drei AP zer und der Cabrio-Version Prozent seines weltweiten Um- Mitsubishi-Händler (in Tokio): Auf einen starken Partner angewiesen muss Renschler schnell wei- satzes. tere Modelle entwickeln, um Durch den Mitsubishi-Deal wird Daim- Größtes Objekt der Begierde war Honda. die Marke zu etablieren und das Händ- lerChrysler eineinhalb Jahre nach der Doch dieser sehr viel erfolgreichere Auto- lernetz auszulasten. deutsch-amerikanischen Fusion zu der von hersteller steht, wie dessen Eigentümer Ein Roadster ist bereits geplant. Er soll Schrempp schon lange angestrebten „Welt mehrfach versicherten, nicht zum Kauf. ebenfalls in der Smart-Fabrik im elsässi- AG“, die in Asien, den USA und Europa Auch der PSA-Konzern (Peugeot, Citroën) schen Hambach produziert werden. Aber mit eigenen Produktionsstätten und Mar- und Fiat wollten DaimlerChrysler keine der für die Marke wichtige Kleinwagen mit ken vertreten ist. Mitsubishi kann zudem Mehrheitsbeteiligung einräumen. vier Sitzen könnte in dem Werk gar nicht künftig als Standbein für die weitere Ex- Mitsubishi dagegen ist auf einen starken hergestellt werden. Die Montagelinien sind pansion in Asien dienen. Der japanische Partner angewiesen. Das Unternehmen viel zu knapp bemessen und die Lackiere- Konzern ist an Autoherstellern in Korea verliert seit Jahren Marktanteile in Japan rei ebenfalls. (Hyundai) und Malaysia (Proton) beteiligt. und stürzte im letzten Halbjahr sogar in die Nach dem Einstieg bei Mitsubishi will In der DaimlerChrysler-Zentrale in Verlustzone. Die Schulden liegen bei rund der Konzern die Fabrik in den Niederlan- Stuttgart-Möhringen hält sich die Begeis- 33 Milliarden Mark. den übernehmen, die bislang einer Ge- terung dennoch in Grenzen. Die Gra- DaimlerChrysler sichert sich mit seiner meinschaftsfirma der Japaner mit Volvo benkämpfe zwischen Amerikanern und Beteiligung zunächst nur eine Sperrmino- gehört. Wenn Volvo seinen Anteil verkauft, Deutschen nach der Fusion mit Chrysler rität, und Mitsubishi wird weiter von ei- ist genug Platz für eine Smart-Montage haben gezeigt, wie schwierig die Zusam- nem Japaner geführt. Die Stuttgarter ha- vorhanden. menführung von zwei Unternehmen ist. ben lediglich die Option, in den nächsten Im Jahr 2002 soll der Viersitzer auf den Ein dritter Partner von einem dritten Kon- zehn Jahren die Mehrheit zu überneh- Markt kommen. Und bis dahin muss der tinent macht die Konzernführung nicht men. Fraglich ist auch, ob Konzernchef Smart noch kräftig kämpfen. Denn die leichter. Schrempp wird sich, so das „Han- Schrempp mit dem Einstieg bei den krän- Wettbewerber wollen der jüngsten Auto- delsblatt“, mit den Japanern „ein Problem kelnden Japanern nicht weiter sein höchs- marke der Welt auch die kleine Nische für aufhalsen, dessen Tragweite wohl erst in ei- tes Ziel gefährdet: den Shareholder-Value Zweisitzer nicht kampflos überlassen. nigen Jahren sichtbar wird“. zu erhöhen. Toyota entwickelt bereits ein kleines Stadt- Mitsubishi war für DaimlerChrysler bei „Wir werden nichts tun, was nicht mit- auto – für zwei Passagiere. der Partnersuche ohnehin nur zweite Wahl. telfristig den Unternehmenswert erhöht“, Dietmar Hawranek Wirtschaft

SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir haben Fehler gemacht“ Coca-Cola-Chef Douglas N. Daft über die Krise des Konzerns, das radikale Sanierungsprogramm und den Versuch, ein „sanfter“ Multi zu sein

Daft, 56, leitet seit Mitte Februar den Suntrust Banks gesicherte Originalrezept ganz sicher falsch eingeschätzt, wie ernst US-Konzern Coca-Cola. Zuvor war der anbeten muss. die Wirtschaftskrise war und wie schnell sie gebürtige Australier fast 30 Jahre lang Daft: Das Rezept liegt im Safe, das stimmt, sich ausbreiten würde. für den Getränkemulti in Asien tätig. der Rest ist Legende. Wenn ich wollte, SPIEGEL: Sie haben seither nicht nur fast könnte ich mir die Formel sagen lassen. die Hälfte Ihrer Börsenkapitalisierung ver- SPIEGEL: Mr. Daft, haben Sie am Tag Ihrer SPIEGEL: Interessiert Sie die geheime For- loren, sondern Ihr Unternehmen musste Ernennung zum neuen Coca-Cola-Chef mel nicht? obendrein 813 Millionen Dollar abschrei- vor dem Safe der Suntrust Banks in At- Daft: Wahrscheinlich würde ich sie gar ben – darunter allein 543 Millionen Dollar lanta gekniet? nicht verstehen. Muss ich auch nicht, denn in Russland. Auch im Osten eine Fehlkal- Daft: Ich hatte wirklich Wichtigeres zu tun. Coca-Cola ist weit mehr als ein normales kulation? Ich kenne die Coca-Cola-Formel nur im Getränk, in das ein paar Zutaten gemischt Daft: Obwohl wir große Erfahrung bei der Groben und weiß, dass etwas Geheimnis- werden. Selbst wenn man die Formel re- Öffnung neuer Märkte haben, war unsere volles mit ihr in Verbindung gebracht wird. produzieren, den Code der geheimen For- Prognose für Russland falsch. Wir hatten SPIEGEL: Angeblich ist es eine Coca-Cola- mel knacken würde, muss man erst mal Schwierigkeiten erwartet, aber wir haben Tradition, dass der neue Boss das in der das erreichen, was wir geschafft haben: Wir das Ausmaß der Umwälzungen nicht vor- haben in mehr als 100 Jah- hergesehen. Die Abschreibungen, zu de- ren das Image der Marke nen wir uns Ende vergangenen Jahres nach global entwickelt. reiflicher Überlegung entschlossen haben, SPIEGEL: Was bedeutet die waren unumgänglich: Unsere Vermögens- Marke Coca-Cola für Sie? werte in Russland sind einfach im Vergleich Daft: Coca-Cola ist ein Aus- zu dem aktuell erwarteten Wachstums- druck unserer Zeit, ein potenzial viel zu hoch. Symbol für Veränderung. SPIEGEL: Zwei Abfüllfabriken in Russland Die ehemaligen DDR-Bür- im Wert von rund 100 Millionen Dollar ger zum Beispiel kannten sind nie in Betrieb genommen worden, Coca-Cola, bevor die Mau- heißt es. er fiel, sie wollten mit die- Daft: Ganz so ist es nicht. Die sem Getränk nicht allein Werke fahren nur weit unter den Durst löschen – Coke ihrer vollen Auslastung. Russ- war für sie ein Symbol für land bleibt aber ein Markt für einen anderen Way of Life. uns, er wird weiter wachsen, Kein anderes Produkt ist aber wir müssen die Entwick- heute weltweit so bekannt lung dort realistischer ein- wie Coca-Cola. schätzen. SPIEGEL: Trotz dieses welt- SPIEGEL: Können Sie Ihren Ak- berühmten Namens ist Ihr tionären versprechen, dass Unternehmen ins Stolpern Coca-Cola in den nächsten geraten. Ist das die Folge der zehn Jahren in Russland je- asiatischen Wirtschaftskrise, mals einen Gewinn einkalku- oder hat das Chaos bei lieren kann? den russischen Töchtern den Daft: Aber klar. Zwei, drei Jah- Konzern ins Schlingern ge- re wird es wohl dauern, bis wir bracht? das Geschäft wieder auf ein Daft: Beides. Überall ging’s angemessenes Niveau bringen gleichzeitig los – Asien, La- können. teinamerika, Südafrika, Ost- SPIEGEL: Schon vor Ihrer offi- europa. Die Krise in Asien ziellen Amtsübernahme im Fe- kannten wir ja, aber die bruar haben Sie für ordentlich Auswirkungen erreichten Wirbel im Konzern gesorgt, uns erst mit Verzögerung. weil Sie fast 6000 Mitarbeiter Wir mussten akzeptieren: entlassen haben, ein Fünftel Die Makroökonomie ist so- der Belegschaft. Ist so ein har- fort betroffen, aber die in- ter Schnitt nicht allein schon terne Wirtschaft eines Lan- ein Beweis für schwere Fehler des, also auch der private des Managements?

S. M. ROTHER Konsument, reagiert erst mit Daft: Die Entlassungen sind Coke-Chef Daft: „Überall ging die Krise gleichzeitig los“ Zeitverzögerung. Wir haben wirklich bedauerlich, aber er- Werbeaktion

114 der spiegel 13/2000 forderlich. Die Verkleinerung der Beleg- ihre Börsenkapitalisierung nutzen, um aus- strukturieren wir, der Rückenwind ist be- schaft war ein Ergebnis der von mir ange- gerechnet in das Geschäft mit Softdrinks reits spürbar. In Asien geht’s wieder berg- strebten Reorganisation. Es besteht einfach einzusteigen. auf, in Europa sieht es wirtschaftlich bes- die Notwendigkeit, die organisatorischen SPIEGEL: Warum beschränkt sich Ihr Un- ser aus, Amerika ist ohnehin ein guter Strukturen zu verändern, zu dezentralisie- ternehmen eigentlich auf Softdrinks? Markt. Die ersten positiven Ergebnisse er- ren, den lokalen Managern in Europa oder Daft: Weil wir dieses Geschäft am besten warten wir noch in diesem Jahr. Langfristig Asien mehr Verantwortung und auch mehr verstehen. wird sich unser Wachstum wieder bei Entscheidungsfreiheiten zu sichern. SPIEGEL: Die Übernahme eines Misch- 7 Prozent einpendeln, beim Gewinn er- SPIEGEL: Bislang war Coca-Cola ein streng konzerns wie Seagram, der unter anderem warten wir sogar 18 Prozent Zuwachs. zentralistisch geführtes Unternehmen. Nun Whisky oder Schnaps anbietet, schließen SPIEGEL: Immer vorausgesetzt, dass an der sollen plötzlich die Manager vor Ort ent- Sie aus? Wall Street nicht die Kurse zusammenbre- scheiden? Daft: Ja. In den achtziger Jahren hat sich chen oder politische Turbulenzen Ihre Daft: Ja, eines der Erfolgsgeheimnisse un- Coca-Cola mal ins Filmgeschäft gewagt und wichtigen Märkte durcheinander wirbeln. seres Unternehmens ist die Fähigkeit, sich sogar Weingüter betrieben. Sehr schnell ist Daft: Wir rechnen nie mit einem Traum- zu verändern und neuen Gegebenheiten klar geworden, dass wir mehr Geld mit szenario. Wir haben in keinem unserer Mo- anzupassen. Einige Menschen haben mir Softdrinks verdienen können. Coca-Cola delle und keiner unserer Prognosen vor- gesagt, dass sich unser Unternehmen in ist der Kern unseres Unternehmens. gesehen, dass die ganze Welt boomt, und den vergangenen 30 Tagen mehr verändert SPIEGEL: Kein Alkohol in Ihrem Firmenbe- natürlich haben wir berücksichtigt, dass es hat als in den 30 Jahren davor. Das ist je- reich – auch aus moralischen Gründen? zu Problemen irgendwo auf diesem Erdball denfalls deren Eindruck. Daft: Ich bin Australier, die sind dafür be- SPIEGEL: Tatsache ist: Trotz der Restruktu- kannt, sich schon mal einen Drink zu ge- Zitterpartie rierungspläne sind die Aktienkurse seit De- nehmigen. Nein, mit Ethik hat unsere Ab- 160 Coca-Cola-Aktie zember um mehr als 30 Prozent gefallen. neigung nichts zu tun, nur mit einer rea- in Mark Nicht eben ein Vertrauensbeweis? listischen Einschätzung unseres Könnens. Daft: Die Anleger wollen bei uns Wachstum SPIEGEL: Mit einem Anteil von 44 Prozent sehen. Sie warten jetzt ab, wie sich das Un- ist Coca-Cola zwar immer noch klarer 140 ternehmen entwickelt. Die meisten Ana- Marktführer im amerikanischen Softdrink- lysten sind überzeugt, dass 2000 ein Jahr Geschäft, doch schon der Rückgang um des Aufschwungs wird … 0,4 Prozent, wie 1999, hat Wall-Street-In- SPIEGEL: … oder sich Coca-Cola zum Über- vestoren die Frage stellen lassen, ob Coca- 120 nahmekandidaten entwickelt? Cola nun die Wachstumsgrenzen erreicht Daft: Unsere Börsenkapitalisierung ist nach hat. Wie viel Zeit geben Sie sich, diese wie vor hoch. Skeptiker vom Gegenteil zu überzeugen? SPIEGEL: Die von Internet- und Telekom- Daft: Weltweit haben wir erst einen Anteil 100 munikationsfirmen allerdings ist deutlich von 18 Prozent an alkoholfreien Erfri- höher. schungsgetränken. Darüber hinaus erwar- Daft: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ten wir für 2001 Wachstumsraten um sechs Internet-Firmen wie AOL oder Amazon bis sieben Prozent. In diesem Jahr re- 80 Quelle: Datastream 1997 1998 1999 2000

kommen kann – hoffentlich nicht im Aus- maß von 1999. SPIEGEL: Ist es nicht schon allein die Größe eines Unternehmens wie Coca-Cola, die Wachstum so schwierig macht? Daft: Diese Größe ist unsere Stärke. Ich möchte nicht gezwungen sein, eine Infra- struktur aufbauen zu müssen, wie Coca- Cola sie heute besitzt. Die horizontale Ex- pansion haben wir bewältigt, nun müssen wir die vertikale vorantreiben. SPIEGEL: Was meinen Sie damit? Daft: Wir sind überall auf der Welt zu Hau- se, aber die Menschen verändern ständig ihr Konsumverhalten, und darauf müssen wir angemessen reagieren. Nehmen wir das Beispiel China: Mit zunehmendem Wachstum der Wirtschaft wird der durch- schnittliche Pro-Kopf-Verbrauch an Ge- tränken zunehmen. Die ganze Branche wächst, und wir profitieren von dieser Soft- drink-Kultur. Wir müssen uns allerdings mehr als bisher auf den einheimischen Ge- schmack einstellen und dabei die kulturel- len Gegebenheiten respektieren. SPIEGEL: Plötzlich wehren sich selbst na- tionale Regierungen wie die Frankreichs

ACTION PRESS ACTION gegen Coca-Cola, wenn Ihr Konzern ver- von Coca-Cola (in Berlin): „Symbol für einen anderen Way of Life“ sucht, eine Konkurrenzfirma aufzukaufen.

der spiegel 13/2000 115 Wirtschaft

Welche Erklärung haben Sie für SPIEGEL: Solche Programme den unerwarteten Widerstand? nutzen wenig, wenn der Welt- Daft: Ich glaube, wir haben die konzern Coca-Cola in Krisensi- nationalen Sensibilitäten oft tuationen arrogant reagiert – falsch eingeschätzt. Europa ist etwa als die Nachricht von der im Umbruch – keine Regierung Erkrankung belgischer Schul- will sich in dieser Phase vor- kinder nach dem Genuss von werfen lassen, die Interessen Coke eintraf. Damals wiegelte seiner nationalen Industrien die Führung nur ab. nicht ausreichend zu schützen. Daft: Wir haben falsch reagiert. SPIEGEL: War deshalb der Ver- Ein geringer Teil unseres Pro- such, die französische Firma dukts war tatsächlich mangel- Orangina zu schlucken, ein to- haft, nachhaltige Gesundheits- taler Reinfall? schäden allerdings hat es nicht

Daft: Orangina erschien uns als S. M. ROTHER gegeben. Doch statt uns, wie eine ganz einfache Transaktion: Daft (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Größe ist unsere Stärke“ wir es getan haben, mit den Ein Unternehmen wollte ver- Behörden zu verständigen, hät- kaufen, wir waren interessiert. Punkt. Ein der Idee, Coca-Cola als den American Way ten wir nur durch eine vorbehaltlose In- ganz normaler kaufmännischer Vorgang, of Life zu vermarkten. Das hat sich geän- formationspolitik zeigen müssen, dass wir der zu einem Politikum wurde. Wir müssen dert. Coca-Cola ist heute ein lokales Pro- die Ängste der Verbraucher verstehen. Das uns darauf einstellen und immer wieder dukt, das nicht importiert, sondern in den ist verspätet getan worden. mit Politikern Kontakt herstellen, wie ich nationalen Abfüllfabriken hergestellt wird. SPIEGEL: Welche Lehren für die Zukunft es in Europa in den vergangenen Tagen Wir werden deshalb auch stärker mit ein- haben Sie aus dem Skandal gezogen? erstmals getan habe, zuhören, lernen und heimischen Politikern kooperieren und ge- Daft: Wir haben die ohnehin rund um die unsere eigene Position erklären. sellschaftliche Verantwortung mittragen, Uhr durchgeführten Qualitätskontrollen SPIEGEL: Hat die Firma überhaupt eine etwa die Inder bei Impfprogrammen, die weiter verstärkt. Falls – Gott verhüte – sich Chance, dem Begriff „Cola-Imperialismus“ Afrikaner bei Anti-Aids-Kampagnen un- eine derartige Situation wiederholen soll- und der Identifizierung mit der Super- terstützen oder in Mosambik den Men- te, sind wir heute darauf eingestellt, kor- macht USA zu entkommen? schen nach der Flutkatastrophe tatkräftig rekt und schnell zu reagieren, vor allem Daft: Die Verbraucher sehen Coca-Cola helfen, als Zeichen unseres Engagements. verbraucherorientiert, darauf können Sie nicht mehr als Symbol Amerikas wie viel- sich verlassen. leicht in den Nachkriegsjahren. In den fünf- * Mit Redakteuren Helmut Sorge, Klaus-Peter Kerbusk SPIEGEL: Mr. Daft, wir danken Ihnen für ziger Jahren waren wir noch überzeugt von im Berliner Hotel Adlon. dieses Gespräch. Das Europa-Geschäft werde, sagt der Feuerwerk wurde bis Ende 1998 nicht KONZERNE einstige MTV-Gründer Pittman, „enger“ gezündet. Zum Kummer von AOL Inc. von den USA aus geführt. Als starker blieb die Zahl der Abonnenten auf Enge Führung Brückenkopf ist London vorgesehen. Ma- Niedrig-Niveau. nagementstil und Sprache kommen den Dann änderten sich die Positionen. Mit Der US-Medienriese AOL greift Amerikanern entgegen. der Kür Middelhoffs zum Bertelsmann- AOL Europe wird nach den Plänen eine Chef wollten die Deutschen nun Marktan- in Europa durch. Vor allem Controllinginstanz, mit treuen Statthaltern teile um jeden Preis – und AOL trat auf die die widerspenstigen Deutschen aus Übersee besetzt. Auf die AOL-Lan- Bremse. Grund: Die Analysten der Banken sollen domestiziert werden. desfirmen will die Zentrale direkt zugrei- forderten Ausgabendisziplin, sie wollten fen. „Schnellere Entscheidungen“ erwartet endlich ordentliche Gewinne sehen. m Online-Alltag ist das Verhältnis zwi- Deutschland-Chef Uwe Heddendorp: Bis- Skeptisch verfolgten die Amerikaner schen Steve Case, dem Gründer von her sei den Amerikanern das europäische den Start des neuen Europa-Chefs Schmidt IAOL, und Bertelsmann-Chef Thomas Geschehen ab und an „suspekt“ gewesen, bei einer Aufsichtsratssitzung Anfang 1999 Middelhoff in bester Ordnung. nun aber sähen sie AOL Europe „nicht im Pariser Nobelhotel Ritz. So wie bisher Beide haben den Namen des anderen auf mehr als Finanzbeteiligung, sondern als könne es nicht weitergehen, warnte er und die eigene „Buddy-List“ gesetzt – dieser Teil des Gesamtunternehmens“. forderte ein mehrjähriges Investment- Service des Onlinedienstes AOL zeigt an, Für die AOL-Zentrale ist die Ehe mit Programm von zwei Milliarden Mark. Das welche Freunde gerade im Internet surfen. Bertelsmann nur noch ein Erinnerungs- Geld sollte auch in osteuropäische Märkte Am Freitag vorvergangener Woche je- posten. Ohnehin gehörte der Dauerkon- wie Polen fließen. AOL-Oberstratege Pitt- doch endete ein enger geschäftlicher Pakt der beiden Buddies. Nach zähen Verhand- lungen gab der Medienkonzern Bertels- mann die Kontrolle über AOL Europe für rund 15 Milliarden Mark an die US-Mutter AOL Inc. zurück. Europa-Chef Andreas Schmidt, 38, verlässt das Haus, weitere Spitzenleute könnten folgen. Sie alle spüren: Der Internet-Riese aus Virginia, der weltweit das Internet zum Massenmedium machen will, strafft nun die Zügel. Das boomende Internet-Geschäft in Europa soll amerikanisiert werden – die entscheidenden Strategien werden fortan nicht in Hamburg oder Gütersloh, sondern in Dallas und New York ausgeheckt. Der starke Mann bei AOL, Vize-Chef Bob Pittman, 46, will die Zahl der europäi-

schen Abonnenten von vier Millionen auf R. FUCHS / OUTLINE zehn Millionen im Jahr 2003 steigern und AOL-Manager Case, Pittman: „Sehr verschiedene Unternehmenskulturen“ dabei stärker als bisher Ressourcen seines Konzerns nutzen. Selbst das sensible Feld man dagegen favorisierte Spanien und Ita- der „political affairs“, der Beziehungen zu lien, wo es bereits starke Anbieter gab. Be- Regierungen und Aufsichtsämtern, soll aus schlossen wurden lediglich 500 Millionen den USA betreut werden. Mark Investitionen für das Jahr 1999/2000. Der von Schmidt begonnene Streit mit Immer wieder gerieten Schmidt und die dem deutschen Marktführer T-Online ist US-Strategen aneinander. So opponierten manchem im US-Konzern zu lärmig. We- die Pittman-Leute selbst bei guten Ideen, gen des Zuteilverfahrens von Aktien der etwa der Gründung einer europaweiten Telekom-Tochter hatte AOL Europe zuletzt Vermarktungsfirma, mit der AOL Europe sogar eine einstweilige Verfügung durch- inzwischen Großkunden wie den Nah- gesetzt. Nun gilt diese Form des Marke- rungsriesen Unilever als Werbekunden ge- tings offenbar als kontraproduktiv. Intern wann. Auch den Plan, neue AOL-Inhalte lassen Manager bereits durchblicken, die Werbestar Becker für Handys von Europa aus für den ganzen Aktion werde wohl nicht zu Ende verfolgt. Kein Auftritt in England Konzern zu entwickeln, hintertrieben sie. Ohnehin warfen die Amerikaner Schmidt Sogar bei der Werbung mischten sich intern Wichtigtuerei vor; der robuste Ex- flikt zum Alltag. Da seien „sehr verschie- die Amerikaner massiv ein. Tennisstar Bo- Bundesgrenzschützer habe sich zuweilen dene Unternehmenskulturen“ aufeinander ris Becker („Ich bin drin“), der in Deutsch- als zweiter Steve Case aufgespielt. geprallt, sagt der frühere deutsche AOL- land für mächtig Furore sorgte, durfte in Die Regie in Europa übernimmt jetzt Chef Jan Henric Buettner. Er hatte AOL- Frankreich und Großbritannien als Wer- AOL-President-International Michael Lyn- Gründer Case 1991 kennen gelernt und ihn befigur nicht eingesetzt werden. ton, 40. Weltweit will der vorherige Buch- im Herbst 1994 dem Bertelsmann-Mana- Mit dem Ausstieg von Bertelsmann chef des britischen Medienkonzerns ger Middelhoff vorgestellt. könnte auch ein Exitus von Schmidts Crew Pearson die eigenen Konzerninhalte im Damit begann eine Ära großer Gemein- beginnen. Vermarktungschef Stan Sugar- E-Commerce zu Geld machen. Buchbest- samkeiten, auf den unteren Rängen aber man, der erst Mitte 1999 zu AOL kam, wur- seller, Musikhits, Kinoknüller und CNN- knirschte es. Im gemeinsamen Europa-Ge- de nur mühsam zum Bleiben überredet. Nachrichten aus dem Hause Time Warner, schäft fielen die Deutschen zunächst als Sein Vertrag wurde geändert – die neue das seit Januar zum AOL-Imperium pingelige Controller auf. Das von den Kündigungsfrist beträgt 30 Tage. gehört, sollen stärker vermarktet werden. Amerikanern erwünschte Marketing- Hans-Jürgen Jakobs

der spiegel 13/2000 117 Während sich Waren- DIENSTLEISTUNG schwund herunterschrauben lässt, ist bei den Preisen im Ein- Klauen und zelhandel kaum noch Luft. Wo Dauertiefpreise nicht mehr tie- fer fallen können, lockt nur Grinsen noch guter Service die Kund- schaft. Und auch der wird Ein neuer Service entsteht: Immer durch verdeckte Ermittler überwacht. mehr Firmen schicken zur „Mystery Shopper“ sorgen Kontrolle ihres Personals Testdiebe dafür, dass in Kaufhäusern und und Freundlichkeitsermittler los. Einzelhandelsläden nach Kräf- ten gegrüßt und gegrinst wird. ei uns muss jeder klauen“, erklärt Die geheimen Einkäufer fin- Georg Schwarz sein Geschäftsprin- den durch Beratungsgespräche Bzip. Die Mitarbeiter seiner Firma „11 schnell heraus, ob der Kunde Freunde“ umwickeln die Sicherheitseti- als König oder als Störenfried ketten von Brioni-Anzügen mit Alu-Folie, behandelt wird. um sie an der Kasse vorbeizuschleusen. Mit Betreten des Ladens Sie verdrücken sich in Ladenecken und spulen sie ihr Testprogramm stopfen sich die Taschen voll mit Parfüm- ab: Gibt es zur Begrüßung ein flaschen. Und als Höhepunkt ihres Schaf- Lächeln? Wird sich mit Namen fens versuchen sie, gestohlene Ware toll- vorgestellt? Fragt überhaupt dreist gegen Bargeld umzutauschen. mal einer nach den Wünschen So eine Klautour kostet die Kaufhaus- des Kunden? Schaut der Ver- Manager 198 Mark plus Mehrwertsteuer. käufer auch artig ins Gesicht? Das zahlt die Bahnhofsbuchhandlung Suss- Und wie gepflegt tritt der Ser- manns nur zu gern. Große Bekleidungs- vicemann auf? häuser werden folgen. Denn Testdiebe sol- Bei dem Tester- und Bera-

len ihnen helfen, den millionenfachen / CARO A. BASTIAN terunternehmen „Concertare“ Schwund zu stoppen. Berliner Kaufhaus Lafayette: Volkssport Ladenklau wird 10-mal die Wartezeit und Ladendiebstahl ist seit jeher ein Volks- 30-mal das Verhalten getestet, sport. Der Hauptverband des Deutschen ist schier unerschöpflich“, schwärmt Kohl. bis sich der Daumen hebt oder senkt. Das Einzelhandels schätzt den jährlichen Wa- Schon merkt die Versicherungsbranche auf Unternehmen verfügt nach eigenen Aus- renklau auf fünf Milliarden Mark. Am häu- und wittert ein gutes Geschäft. sagen über eine Datei mit 5000 Testern, figsten verschwinden Kondome, Spirituo- In Kooperation mit Kohl versichert die die für ihren Einsatz zuvor geschult sen, Zigaretten und Kosmetika aus den Su- Winterthur neuerdings Geschäfte gegen werden. permarktregalen. Ladendiebstahl. Zunächst als Pilotprojekt „Ein zufriedener Kunde gibt seine Er- Besonders beliebt bei Dieben sind übernimmt sie die Hälfte des Schadens. fahrung an durchschnittlich drei Personen in jüngster Zeit Baumärkte, wo selbst Bedingung: Kohls Klauer müssen den La- weiter. Ein unzufriedener Kunde hingegen schwerstes Gerät – Fräsmaschinen, Garten- den unter die Lupe genommen haben. Ihre an durchschnittlich elf Personen“, sagt Fir- laternen und Schlagbohrer – verschwindet. Ratschläge gilt es zu berücksichtigen. menchef Kai Riedel. Besonders Telekom- Das stets knappe Personal hat kaum noch Ralf Ruckdäschel, Projektleiter bei der munikationsunternehmen und Banken fra- Zeit, die umherstreifende Kundschaft im Winterthur, glaubt an den Erfolg der neu- gen seine neue Dienstleistung nach. Auge zu behalten. Das bargeldlose Ein- en Versicherung: „Bei schmalen Gewin- Geradezu tödlich sind Serviceschlamper kaufen boomt. nen und Preisdruck kann so das wirt- im Hotel- und Gaststättengewerbe. Nie- Auf diese Spezies hat sich Detlef Kohl schaftliche Überleben eines Geschäftes ge- mand weiß das besser als Michael Bauer. mit seiner Ratinger Firma „Securi Team“ sichert werden. Da steckt ein gigantisches Er checkt sich als Geschäftsführer der Böb- spezialisiert. Seine Testdiebe lassen aus Marktvolumen dahinter.“ linger Swiss Gastro Consulting seit 14 Jah- deutschen Baumärkten täglich Waren im ren als Undercover-Agent in diversen No- Wert von 20000 Mark mitgehen. belhotels wie dem Adlon ein und prüft das Dem erfolgreichen Klau folgt die Si- Personal. Ohne Vorwarnung. cherheitsberatung – und dann meist der Er achtet bei Tisch darauf, ob der Kell- Umbau der Geschäfte. Die Ware soll bes- ner die Kerze anzündet. Er stoppt die Zeit, ser einsehbar sein, auch fürs Personal. An- bis die Suppe kommt. Er prüft, ob Fang- lieferung und Lager müssen in der Regel fragen nach Weinsorten auch ja richtig be- stärker vor unerwünschtem Zugriff gesi- antwortet werden. chert, elektronische Artikelsicherungen Im Zimmer kriecht Bauer in jede Ecke, eingeführt und Mitarbeiter geschult wer- auf der Suche nach verstecktem Staub, er den. Kohl nennt das „ein ganzheitliches fahndet nach Haaren auf den Matratzen, Konzept“, das neben Lebensmittel- und sucht Fussel am Föhnfilter, spürt Fremd- Textilfilialisten derzeit in einem dutzend haaren im Abfluss-Sieb hinterher. 1500 Baumärkten umgesetzt worden ist. Punkte muss der Tester abhaken, bis er Den größten Erfolg kann der Firmen- auschecken kann. Ein anstrengender Job chef Kohl im Ratinger toom-Markt vor- sei das, stöhnt er: „Bis Nachts um eins an

weisen, der seinen Schwund, die so ge- M. WEBER W. der Bar hocken und um sechs Uhr schon nannte Inventurdifferenz, von 3 auf 0,5 Testdieb Schwarz (r.) wieder die Pünktlichkeit des Weckrufs tes- Prozent reduzieren konnte. „Unser Markt Taschen voller Parfümflaschen ten, das ist hart.“ Chris Löwer

118 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Titel

IFA Museumszug auf der Odenwaldstrecke: Die Bahn ist mehr als ein normales Unternehmen Zu spät, zu voll, zu dreckig Frustrierte Mitarbeiter, genervte Kunden, verlotterte Gleise und Bahnhöfe – die Krise der Bahn, eine Folge jahrzehntelangen Schlendrians, ist offensichtlich. Pläne zur Sanierung des Schienenunternehmens gibt es reichlich – sie müssen nur umgesetzt werden.

er Regionalexpress aus Wensicken- Am nächsten Tag stand bei Matthias Bahnfahren auch für sie nicht. Vor allem dorf Richtung Berlin stoppte mit- Gibtner das Telefon nicht mehr still. Er ist freitags sind viele Intercity-Züge heillos Dten in der brandenburgischen Ein- bei der Berliner Interessengemeinschaft für überfüllt. „Alle Gänge sind pickepacke öde. Es war spät, ein nasskalter Herbst- Eisenbahn und Nahverkehr (IGEB) für voll“, schildert der Reise-Journalist Mi- abend – und nichts ging mehr. Fahrgastbeschwerden zuständig. Seine chael Knuth das wöchentlich wiederkeh- Warum, das sagte den Fahrgästen nie- Kartei quillt über mit den immer gleichen rende Desaster, „die Seesäcke unserer Va- mand; wie es weitergehen sollte, auch Klagen über Ausfälle, überfüllte Züge, terlandsverteidiger“ würden den letzten nicht: Sie waren auf sich selbst gestellt. klapprige Loks – das Bahnfahren wird zur Stehplatz versperren. Die Reisenden rotteten sich mit Han- Tortur. Gibtner: „Da funktioniert nichts.“ Der Verband Deutscher Verkehrsunter- dy-Besitzern zusammen und orderten Weniger pannengeplagt sind Fernrei- nehmen regte schon mal neue Grenzwer- Taxis. sende, aber das reine Vergnügen ist das te an, ähnlich wie bei der Hühnerhaltung:

Auf vielen Schienen * 56083 35938 Umsatz der Konzernsparten in Mark Mitarbeiter Mitarbeiter

DB Regio Infolge der zweiten Stufe der Bahnreform DB Reise & Touristik der neue Name für den Nahverkehr 14,045 Mrd. Fernverkehr, Autozüge, u.a.

120 der spiegel 13/2000 AP Hochgeschwindigkeitszug ICE-T (in Dresden): Zwischen Vision und Realität klafft eine gewaltige Lücke

Höchstens vier Fahrgäste sollten sich ei- Nun rächen sich die Sünden der Ver- nen Quadratmeter Stehplatz teilen. Das ist gangenheit. Beispiel Infrastruktur: Zwi- auch an den Wochenenden kaum zu schaf- schen vielen Schienen wächst Gras, und auf fen. Dann stürmen rucksackbestückte der Fahrt über uralte Schotterbetten klirren Jugendliche die Züge auf ihrem Weg nach die Gläser im Bordrestaurant, viele Gleis- Irgendwo. anlagen und Bahnhöfe sind verlottert. Der Verdruss beginnt zumeist schon am Zwischen Hagen und Wuppertal fährt Bahnhof, etwa in Hamburg. Defekte Au- auch der ICE im Schnitt unter 100 Stun- tomaten und lange Schlangen an den Schal- denkilometer, hat der Vielfahrer Hans Pa- tern entdeckte Stefanie Bauer aus dem wel festgestellt. Beim Halt in Hagen wer- Stadtteil Eimsbüttel. Es müsse doch mög- den die Fahrgäste um besondere Vorsicht lich sein, so die Bahnkundin, „mehr als beim Aussteigen gebeten, damit sie, so der zwei Schalter zu öffnen, wenn es hier so erzürnte Kunde, „nicht ins schier Boden- voll ist“. lose zwischen oberer Wagen-Trittstufe und „Zu spät, zu voll“, stellte die Stiftung dem ach so fernen Bahnsteig fallen“. Warentest bei einer Umfrage fest. Zugver- Beispiel Tarifwirrwarr: Welcher Fahrgast spätungen schienen auf einigen Strecken versteht schon, warum es für ein und die- „fast schon zum Fahrplan zu gehören“. selbe Strecke mehr als ein Dutzend ver- Keine Frage: Die Bahn ist in einem jäm- schiedene Preise gibt? Das Tarifsystem ist merlichen Zustand. Über Jahrzehnte wur- ein einziger Dschungel aus Spar- und Su- de sie von der Politik vernachlässigt. Eine persparpreisen, aus Gruppen- und Nacht-

wirkliche Trendwende, hin zu einem mo- / MODUS JARDAI tarifen, mit oder ohne Zuschläge. Hinzu dernen kundenorientierten Unternehmen, Bahnreformer Klimmt, Mehdorn kommt ein Wust von Sonderangeboten vom fand nie statt. „Wir schaffen das schon“ Twen-Ticket bis zum Guten-Abend-Ticket

Sonstige DB Netz 0,24 Mrd. 71830 Mitarbeiter 44544 Bau, Wartung und Instandsetzung *zum 31.12.1998 0,40 Mrd. DB Station & Service Mitarbeiter der Infrastruktur 0,35 Mrd. 5629 Mitarbeiter Gastronomie und Handel DB Cargo in den Bahnhöfen 7,989 Mrd. Transport und Logistik 7,086 Mrd.

der spiegel 13/2000 121 M. LANGER / AGENTUR FOCUS Reisende in überfülltem Zug: Das Aussehen des Unternehmens hat sich Besorgnis erregend verschlechtert und zur Freifahrt für „kleine Hunde und Wenn die Investitionsmittel aus dem Ver- mit ihren verkrusteten Strukturen. Der Katzen, jedoch nur im Transportbehälter“. kehrsetat verteilt wurden, konnte sich stets Nürnberger Verkehrsplaner Wolf Drechsel Unklar bleibt: Wie klein muss der Hund ei- die Autofahrer-Lobby durchsetzen. Das vom Verkehrsclub Deutschland (VCD): gentlich sein? Und wann kostet ein großer war, allen Treueschwüren der Politiker zum „Die zentrale Lebenslüge der Bahnreform Hund, der unter dem Sitz kauert, auch in Trotz, bei allen Bundesregierungen so. war: Man müsse nur die Rechtsform än- der 1. Klasse den vollen Fahrpreis? Leider habe es die Bonner Regierung dern, und alles würde besser werden.“ Die Bahnbediensteten wissen in der Re- nicht ermöglichen können, bedauerte be- Ein Run auf die reformierte Bahn blieb gel keine Antwort. „Wie der Ochs vorm reits 1953 Edmund Frohne, damals Präsi- aus, eine große Chance wurde vertan. Die Berg“ kommt sich der Bahnkunde Martin dent der Bundesbahn, „uns für die Besei- eigentlichen Ziele der Reform wurden al- Prohaska da gelegentlich vor. „Der Mann tigung der Kriegsschäden“ die erforderli- lenfalls zögerlich angepackt. Wettbewerb am Schalter“, so seine Erfahrung, „weiß chen Mittel zur Verfügung zu stellen. auf der Schiene ließ der Monopolist DB selbst nicht Bescheid.“ Auch , Verkehrsminister kaum zu. Investitionen wurden oft schlecht Beispiel Kundenfreundlichkeit: Wer sich unter Kanzler , erkannte bald geplant und falsch finanziert. Die Folge: beschwert, wird oft abgebürstet. Vom Ser- die Grenzen des Machbaren: „14 Millio- Die Bahn blieb zu umständlich, zu un- viceunternehmen ist die Bahn so weit ent- nen Autofahrer wollen, dass ihre Steuern pünktlich und viel zu teuer. fernt, dass sich die Münchnerin Sabine für die Straße ausgegeben werden.“ Die Am Geld kann es nicht gelegen haben, Göricke wie eine „Bittstellerin“ vorkommt, Verwendung entspreche nun mal den dass sich nichts änderte, die Mittel aus wenn sie mit der Bahn fahren will. Das er- „Wunschvorstellungen der Bürger“. So Bonn flossen in den vergangenen Jahren innert an alte Zeiten, als der Fahrgast als wurde das Land mit Autobahnen zubeto- reichlich – aber nicht immer dahin, wo sie Beförderungsfall galt – und entsprechend niert, für die Schiene blieb wenig übrig. am dringendsten gebraucht wurden. Seit abgefertigt wurde. Es kam, wie es kommen musste: Anfang 1994 investierte die Bahn 90 Milliarden Da nutzen auch die vielen Millionen der neunziger Jahre war die Bahn so gut Mark, ein großer Teil floss in Luxus- und nichts, die das Schienenunternehmen Jahr wie pleite, die von Bonn eingesetzte Re- Prestigeobjekte. Gleichzeitig verlotterten für Jahr in die Imagewerbung steckt – sie gierungskommission errechnete einen Fi- wichtige Gleisanlangen und Bahnhöfe. verpuffen ohne Wirkung. Viele Kunden nanzbedarf von 400 Milliarden Mark in- Natürlich musste die Bahn im Osten sa- empfinden es geradezu als Hohn, wenn nerhalb von zehn Jahren. niert werden. Aber war es wirklich not- Prominente in aufwändigen TV-Spots ver- Erstmals überhaupt reagierten die Poli- künden: „Die Bahn kommt“. Aber wann? tiker. Die alte Behördenbahn wurde 1994 Passagiere und Tonnage Und in welchem Zustand? abgeschafft, Reichsbahn und Bundesbahn Das Ansehen des Unternehmens hat sich wurden zur Deutschen Bahn AG vereint. Verkehrsleistung 1998 „besorgniserregend verschlechtert“, heißt Alle alten Schulden, mehr als 70 Milliarden es in einer Infas-Untersuchung aus dem Mark, übernahm der Bund. Die Bahn soll- Pkw +1,7% vergangenen Jahr. Beim „Kundenmonitor te fortan wie ein richtiges Unternehmen Deutschland“, einem Branchenvergleich nach betriebswirtschaftlichen Kriterien ge- * Personenverkehr des Marktforschungsinstituts TNS-Emnid, führt werden. So sollte es gelingen, den Bus 75,9 –1,4 % in Milliarden Personen- belegt die Bahn den allerletzten Platz. Abwärtstrend zu wenden und wieder mehr kilometern jährlich Flug- Der schleichende, aber stetige Nieder- Verkehr auf die Schiene zu ziehen. 37,5 +15,4 % *Straßenpersonenverkehr gang der Bahn begann schon vor Jahr- Das Ganze war zunächst nicht viel mehr zeug (Bus, Straßenbahn u.a.) zehnten, er war politisch verordnet und als ein Etikettenschwindel. Hinter der Bahn 66,5 –3,6 % wurde durch Managementfehler verschärft. Rechtsform AG steckte die alte Behörde

122 der spiegel 13/2000 Titel

P. LANGROCK / ZENIT Großbaustelle Lehrter Bahnhof in Berlin: Immer neue Milliardenlöcher tun sich auf

wendig, die Bahnsteige in Dresden mit Kunden auf der Strecke von Hamburg nach nikationsnetz, dann die Reisebürokette DER Granit zu belegen und den Fußboden der Berlin. Weil unbedingt die Magnetbahn und schließlich wichtige Immobilien. Bahnhofshalle in Cottbus zu beheizen? Transrapid gebaut werden sollte, durfte die Neue Geldquellen sind nicht in Sicht, Gewiss brauchte die Bahn auch einen Bahnstrecke jahrelang nicht modernisiert der jetzige Bahnchef Mehdorn übernahm Hochgeschwindigkeitszug. Aber der ICE werden. So quälen sich die Züge noch heu- sein Amt in einer finanziell heiklen Lage: erwies sich als technische Fehlgeburt: Er te in 2 Stunden und 23 Minuten über die Die Übergangshilfen für Altlasten der alten war viel zu schwer, ein richtiger Ener- kaum 300 Kilometer lange Distanz. Reichsbahn enden 2002. Und als Folge der giefresser, und viel zu teuer. Gemessen am hohen Einsatz blieb der reichlichen Investitionen steigt der Ab- Und natürlich muss das Netz erweitert Ertrag der Investitionen gering. Winzige schreibungsbedarf. werden. Aber welchen Sinn macht eine Zuwachsraten beim Umsatz wurden von Schnell trennte sich der Neue deshalb teure Neubaustrecke von München über den Bahnbossen laut bejubelt; dass sie vor vom Milliardengrab Transrapid, doch dafür Ingolstadt nach Nürnberg, die sich nach allem auf höheren Preisen und Bestellun- tun sich immer neue Löcher auf, die nur Ansicht von Verkehrsplanern nie rechnen gen von Regionalzügen auf Kosten der mit vielen Milliarden zu stopfen sind: Die kann? Die „unsinnigste aller Neubau- Länder beruhten, die letztlich der Finanz- Kosten für die Bahnhöfe und Tunnel in strecken“, so der Hamburger Verkehrsex- minister bezahlt, wurde verschwiegen. Berlin stiegen um 50 Prozent auf 5,9 Mil- perte Gottfried Ilgmann, führt von Nürn- Rund 13 Milliarden Mark schießen die liarden Mark, die neue ICE-Strecke zwi- berg nach Erfurt. Sie ist nicht nur unver- Steuerzahler jährlich allein für den Nah- schen Köln und Frankfurt wird wohl bis hältnismäßig teuer, sondern sie verlängert verkehr zu, mehr als 150 Mark pro Bun- zu 1,8 Milliarden mehr kosten. auch die Verbindung von München nach desbürger, ob sie Bahn fahren oder nicht. Gleichzeitig wird der Wettbewerb härter. Berlin um 40 Minuten im Vergleich zu ei- Gleichzeitig lebte die Bahn von der Sub- Gegen Laster aus dem Osten, die zu Dum- ner Strecke, die über das Ballungsgebiet stanz, sie verscherbelte ihr Tafelsilber. Schon pingpreisen fahren, hat die Frachttochter Gera und Leipzig führt. in den achtziger Jahren trennte sich das Un- DB Cargo keine Chance. Jetzt rächte sich, dass immer Politiker ternehmen von der Spedition Schenker, ein Und die Deregulierung im Flugverkehr bestimmt haben, welche neuen Strecken verhängnisvoller Fehler. In den neunziger macht Fliegen immer billiger: So bot die für die Bahn gut sind und welche nicht. Jahren setzte sie diese Tradition fort: Lufthansa das Ticket München–London Die ärgsten Auswüchse spüren die Erst verkaufte sie ihr Telekommu- schon für 149 Mark an – hin und zurück. Dagegen kostet die Rückfahrkarte der DB, selbst mit der BahnCard, knapp 600 Mark, Zuwachs gegenüber 1995 +12,9 % Zuschläge nicht eingerechnet. Lkw Wie soll die Bahn da bestehen? Hat sie 315,9 überhaupt eine Chance? +0,5 % 755,7 An Ideen fehlt es Mehdorn nicht – vie- Binnen- le sind die alten, die schon seit Jahren bei schifffahrt Güterverkehr der Bahn diskutiert werden. Er will endlich +25,9 % +7,0% in Milliarden Tonnen- das Preissystem erneuern, das Netz neu Luft- 64,3 fracht Eisen- kilometern jährlich ordnen, Personen- und Güterverkehr auf 0,7 bahn getrennten Gleisen fahren lassen. Und 73,6 natürlich will er die Kosten senken. Mehdorn hält wenig davon, dass Inter- regios – wie derzeit üblich – von morgens

der spiegel 13/2000 123 Titel Profit auf der Nebenstrecke Bahn und Länder suchen nach neuen Modellen für den Verkehr in der Region.

ndreas Mühlegger aus Peiting hat ein Groß- Araumabteil für sich, als er morgens am Bahnhof Mühldorf östlich von Mün- chen in den Regionalzug steigt. Er will nach Bad Birn- bach im so genannten Bä- derdreieck, um seine kurge- stärkte Frau abzuholen. Au- ßer Mühlegger sitzen noch vier Passagiere im Zug. Mühlegger kennt jedes Signal, jeden Loktyp – er ist Eisenbahnfan. „Ganz fürch- terlich“ findet er die Pläne des neuen Unternehmens- chefs, sich aus unrentablen Nebenstrecken zurückzuzie- hen und dort den Bahnbe- trieb regionalen Gesellschaf- ten zu überlassen. „Der Meh- dorn versteht von der Bahn doch nix.“ Vielleicht kennt er noch nicht jede Lok, aber der Mehdorn versteht was von Regionalzug (im bayerischen Pocking): „Das ist nicht nur ein betriebswirtschaftliches Problem“ Unternehmensführung, und er kann rechnen. Säße er mit dem Bayern nen umgehen sollen. Die Länder müss- Zug eingesetzt worden, weil die Strecke im Zug nach Bad Birnbach, könnte er ten Lösungen für ihre problematischen im Berufsverkehr stark genutzt werde. ihm plastisch erklären, was er mit der Strecken einzeln mit Berlin aushandeln, Das Land habe sich kürzlich mit der Bahn vorhat und warum. heißt es in Thüringens Wirtschaftsmi- Bahn geeinigt, so Eggert, dass nur 20 Pro- Die meisten Bahnhöfe an der Strecke nisterium. Allerdings könnten private zent der Strecken für neue Betreiber aus- sind bereits stillgelegt. In Rohrbach hält Firmen die Nebenstrecken kaum wirt- geschrieben werden. Der Minister be- der Zug vor einem Bilderbuch-Bahnhof, schaftlich betreiben, weil sie in einem sa- fürchtet, dass die DB Regio aus dem Ge- der aus den Anfängen des Gleisbaus in nierungsbedürftigen Zustand sind. schäft gedrängt werden könnte – sie ist Oberbayern stammt. Die Weiche wird Aus ganz anderen Gründen betrachtet einer der größten Arbeitgeber in Meck- noch per Hand bedient, Telefon und Ge- Schwerins Wirtschaftsminister Rolf Eggert lenburg-Vorpommern. gensprechanlage sind Museumsstücke. die Pläne der Bahn mit Skepsis. Seit 1996 Die Bundesländer leisten beträchtliche Der Zug zuckelt im Schnitt mit 45 Kilo- hätten in Mecklenburg-Vorpommern 35 Beiträge für die Sanierung der Strecken metern pro Stunde durch die Landschaft. Prozent mehr Menschen in der Region. Branden- Mehr als acht Milliarden Mark müsste den Schienennahverkehr burg etwa gibt in diesem die Bahn investieren, um die Neben- genutzt. „Deshalb überra- Jahr 588 Millionen Mark strecken auf einen akzeptablen Stand zu schen uns Überlegungen“, dafür aus, Thüringen 460 bringen. Dass der Bahnchef nun einen so Eggert, „über Strecken- Millionen. Eine „faire Teil der Lasten abwälzen will, stößt nicht netze zu sprechen, die ent- Lastenverteilung“ fordert überall auf Zustimmung. weder schon saniert wor- Bernd Rohwer, designier- Es mag ja alles verständlich sein, was den sind oder in die gera- ter Wirtschaftsminister in der Mehdorn mache, sagt Bayerns Ver- de investiert wird.“ Schleswig-Holstein; dann kehrsminister Otto Wiesheu. Aber der Als Beispiel nennt Eg- sähe er eine Chance, Bund trage nun mal die Verantwortung gert die Strecke Wismar– die begonnene Regionali- für den Schienenverkehr. „Hier geht es Rostock–Tessin. Auf dem sierung weiter voranzu- um einen politischen Konflikt zwischen sanierten Teilstück zwi- treiben. Berlin und den Ländern, das ist nicht nur schen Rostock und Tessin, Dass es sinnvoll sein ein betriebswirtschaftliches Problem.“ das von der Bahntochter kann, die Gleise auf Ne-

Die betroffenen Länder sind sich kei- DB Regio betrieben wird, / TRANSPARENT H. HAGEMEYER benstrecken regionalen neswegs einig, wie sie mit Mehdorns Plä- sei sogar ein zusätzlicher Unternehmer Schmitz Betreibern zu überlassen,

124 der spiegel 13/2000 früh bis abends spät durch die ganze kehr kaum zu 20 Prozent ausgelastet. Republik fahren. Er will den Verkehr Rein rechnerisch sind vier von fünf Zü- hat sich bereits gezeigt. So war etwa stattdessen auf acht oder neun Knoten gen leer. die Strecke zwischen Rudersberg und konzentrieren, die mit Hochgeschwindig- Da kann viel Geld gespart werden. „Es Schorndorf nordöstlich von Stuttgart von keitsstrecken verbunden und im Halb- macht keinen Sinn, leere Züge durch die Stilllegung bedroht. Die private Würt- stundentakt bedient werden sollen. Nacht zu jagen“, sagt selbst Albert tembergische Eisenbahn Gesellschaft Eine schöne Vision, die allerdings weit in Schmidt, verkehrspolitischer Sprecher der übernahm den Betrieb auf der Schiene. die Zukunft reicht: Bisher gibt es nur drei Grünen und zugleich Mitglied des Bahn- Sie befördert täglich etwa 4500 Fahrgäste schnelle Hochgeschwindigkeitsstrecken, Aufsichtsrats. Ökologisch vernünftig ist es auf der nur elf Kilometer langen zwischen Hannover und Würzburg, Mann- ohnehin nicht. Schmidt sieht in den so ge- Strecke; früher waren es nicht heim und Stuttgart sowie zwischen Berlin nannten Regent-Plänen des Bahnchefs eine einmal 1300. und Hannover. große Chance für eine bessere Organisa- Ohne die helfende Hand des Die traurige Realität: Der IC von tion des Nahverkehrs. Staates sind indes auch die so Frankfurt nach Düsseldorf braucht fast drei Schon jetzt gibt es zahlreiche ländliche sanierten Strecken nicht zu be- Stunden, Durchschnitt: 95 Stundenkilo- Strecken, die entweder allein von Privaten treiben. In Nordrhein-Westfalen meter. Den Langsamkeitsrekord hält die oder in Partnerschaft mit der Bahn betrie- etwa können Investoren mit Strecke Gera–Zwickau mit 35 Stundenki- ben werden, insgesamt haben sie aber nur Landeszuschüssen von 90 Pro- lometern. einen winzigen Marktanteil von vier Pro- zent rechnen. Zwischen Mehdorns Vision und der Rea- zent (siehe Kasten). Aber wird es der Bahn Wegen der dichten Besiedlung lität klafft eine gewaltige Lücke; sie zu gelingen, tatsächlich Partner für ihre so ge- werden in Nordrhein-Westfalen schließen würde – von der Planung bis zur nannte mittelständische Lösung zu finden? auch die meisten Strecken im Fertigstellung – Jahrzehnte dauern und ge- Werden die Strecken dann doch, wie vie- Nahverkehr intensiv genutzt. waltige Milliardenbeträge verschlingen. le Mehdorn-Kritiker befürchten, irgend- Die Landesregierung ist deshalb Woher nehmen? wann ganz stillgelegt? interessiert, zusammen mit der Bahn Lösungen für problemati- sche Regionen zu finden. „Wir fühlen uns nicht als Opfer der Bahn, sondern als Partner“, sagt Jörg Hennerkes, Staatssekretär im Verkehrsministerium. Düsseldorf zeigt sich aufge- schlossen bei der Suche nach Ko- operationsmodellen. Im Raum Aachen etwa soll der mittel-

C. LEHSTEN / ARGUM C. LEHSTEN ständische Unternehmer Ewald Schmitz eine Chance auf den Schienen bekommen. Schmitz, Betreiber einer Recycling-Firma mit 300 Mitarbeitern, will der Bahn ein stillge- legtes Gleisnetz von 69 Kilometern ab- kaufen. Er will es sanieren und an eine Regionalbahn vermieten – „mit Profit, sonst würde ich es ja nicht machen“, sagt Schmitz.

Der selbstbewusste Unternehmer, der ZANETTINI / LAIF F. bislang alten Schotter und Schienen- Informationsschalter im Kölner Bahnhof: „Wie der Ochs vorm Berg“ stränge einer neuen Verwendung zuführ- te, hat eigens eine neue Firma gegrün- Am meisten Zündstoff birgt – neben dem Das größte Problem der Bahn aber ist – det, die Euregio Verkehrsschienennetz Abbau der Personalkosten – Mehdorns mit immerhin 500 Millionen Mark Verlust GmbH. Nächsten Monat will er den Kauf- Plan, rund 9000 Kilometer Schiene, fast ein im vergangenen Jahr – der Frachtverkehr. vertrag über elf Millionen Mark unter- Viertel des gesamten Netzes, auszugliedern. Dort, meint Mehdorn, „entscheidet sich zeichnen. Auf der Teilstrecke von Aachen Ist das ein erster Schritt zur Rumpfbahn, der Erfolg der Bahn“. nach Stolberg-Hammer soll im nächsten wie Mehdorns Kritiker fürchten? Will sich Gegen die Konkurrenz auf der Straße Jahr der erste Zug fahren. der Bahnchef nur noch auf renditestarke hat die Schiene, unter den derzeitigen Be- Schmitz ist überzeugt, dass sein Pro- Rennstrecken konzentrieren? dingungen, keine Chance. Das liegt nicht jekt Nachahmer finden wird. Partner Mehdorn bestreitet das. Die über 250 nur an der Bahn: Viele Lkw werden im wie er hätten dem Bahn-Management Nebenstrecken, die von der Bahn nicht Ausland billig betankt und von Billiglöh- einiges voraus: „Wir sind nah bei wirtschaftlich betrieben werden, sollen kei- nern gefahren. Dagegen hilft nur politische den Bürgern, kennen jeden Kommunal- neswegs abgestoßen werden. Die Bahn Rückendeckung. Immerhin: Von 2003 an politiker und setzen Kundenwünsche wolle den Verkehr dort lediglich anders or- sollen schwere Lkw eine Abgabe zahlen, schneller um.“ ganisieren. Künftig soll vor Ort entschieden das schafft ein wenig Entlastung. Kurz gesagt: Hier sei der pragmatische werden, wann ein Zug fährt – und wann Der größte Teil des Problems aber ist Mensch am Werk „und nicht ein Mega- der Einsatz eines Busses oder gar eines hausgemacht: Bisher zockeln die Güter- monster mit großem Wasserkopf“. Sammeltaxis sinnvoller ist. züge im Postkutschentempo „wie zu Heiko Martens, Norbert F. Pötzl, Das Gedränge in den Bahnhofshallen Kaisers Zeiten“, so der bisherige Cargo- Andrea Stuppe, Steffen Winter und den Bahnsteigen täuscht. Nur in we- Chef Eberhard Sinnecker, durchs Land. nigen Spitzenzeiten sind die Züge über- Durchschnittstempo: 18 Stundenkilometer. haupt voll, im Schnitt sind sie im Nahver- Ständig werden sie auf ein Nebengleis

der spiegel 13/2000 125 Titel DPA Neuer Messe-Bahnhof in Hannover: Immer haben Politiker bestimmt, welche Strecken für die Bahn gut sind und welche nicht geschoben, um die ICE-Renner durchzu- sich selbst berechnet hatte, sei das Ge- Das alles soll die Bahn attraktiver ma- lassen. schäft, versichert Manager Michael Blü- chen, doch wird es auch mehr Umsatz brin- Dabei gibt es bei der Bahn seit Anfang mer, durchaus rentabel. gen? Neue Kunden anzulocken wird schwie- der neunziger Jahre den Plan „Netz 21“. Er Wenn die Bahn überleben will, dann rig und erfordert, selbst wenn es gelingt, viel sieht vor, den Verkehr zu entmischen. Die muss sie schneller und zuverlässiger wer- Zeit. Kurzfristig sieht Mehdorn keine Alter- schweren Güterzüge sollten auf eigenen den. Aber sie muss auch – zumindest in Re- native: Er muss an die Personalkosten ran, Gleisen zügig vorankommen. Doch der lation zur Konkurrenz – billiger werden. sie machen immerhin 50 Prozent der ge- Plan blieb, bisher jedenfalls, nur ein Plan. Die meisten Kunden, das belegen Umfra- samten Kosten aus. Wie aber will er seine Er wurde, wie bei der DB so üblich, im gen, sind sehr preissensibel. Sie verglei- Truppe zu höherer Leistung, besserem Ser- Aktenschrank abgelegt. chen den Sprit- mit dem Fahrkartenpreis. vice und mehr Freundlichkeit anspornen? Mehdorn und sein Aufsichtsratschef Die- Deshalb müssen die Kosten gesenkt wer- „Die Stimmung ist schlecht, und die Mo- ter Vogel sind wild entschlossen, den alten den, nicht nur die Lohnkosten. „Das Teu- tivation sinkt bei allen“, sagt der Berliner Plan endlich durchzusetzen. „Es muss jetzt re bei der Bahn ist die Trasse“, behauptet Lokführer Franko Rick. Viele haben resi- losgehen“, drängt Vogel. DB-Cargo sei „zu der Verkehrswissenschaftler Ilgmann, die gniert, schalten auf stur oder machen blau. wenig kundenorientiert, zu teuer und nicht Kosten des Schienennetzes müssten runter. Der Krankenstand liegt bei 6,6 Prozent, im schlagkräftig genug“, resignierte DB-Vor- Wer nämlich Leistungen bei der Bahn Schnitt fehlen dem Bahnbetrieb täglich fast stand Sinnecker schon vor einigen Jahren. ordert, diese Regelung gilt seit der Reform 16000 Arbeitnehmer. Daran hat sich nichts geändert. Vor allem von 1994, muss dafür Benutzungsgebühren Gleichzeitig aber will Mehdorn bei der bei der Ausarbeitung der Logistik tun sich bezahlen. Diese ergeben sich zum größten Sicherheit keine Abstriche machen und die Eisenbahner schwer. Jetzt rächt sich, Teil aus den Kosten für die Verkehrswege. den Service ausbauen – ein schwieriger, dass die Bahn die Spedition Schenker ver- Neue Strecken jedoch, meint der Kritiker sagen: ein unmöglicher Spagat. kauft hat. „Wir brauchen die ganze Logistik- Münchner Verkehrswissenschaftler Karl- Die Bahn ist eben doch mehr als ein nor- Kette“, sagt Mehdorn. Der Kunde erwartet, heinz Rößler, wurden in der Vergangen- males Unternehmen. Sie wird von vielen dass seine Fracht von Haus zu Haus beför- heit viel zu teuer gebaut. Derartige Kosten gehasst, aber auch von vielen geliebt. Mil- dert wird – nicht von Bahnhof zu Bahnhof. ließen sich durch landschaftsangepasste lionen sind auf sie angewiesen – nicht zu- Auch beim Güterverkehr könnten pri- Trassen und den Einsatz moderner Neige- letzt die deutsche Volkswirtschaft. vate Anbieter durchaus hilfreich sein, den technik-Züge drastisch drücken, glaubt Aber warum sollte die Bahn deshalb Massenverkehr wieder auf die Schiene zu Rößler. Niedrige Fahrwegkosten sind Vor- nicht wirtschaftlich zu führen sein? Ange- verlagern. So befährt die Spedition Hoyer aussetzung für tiefere Trassenpreise und sichts ständig verstopfter Straßen glaubt erfolgreich eine Strecke, die von der DB damit billigere Fahrscheine. der Bahnchef fest an eine Renaissance der schon aufgegeben worden war. Einmal täg- Das gesamte Preissystem muss gründ- Schiene wie zu jener Gründerzeit vor mehr lich schleppt eine uralte Lok, gesteuert von lich entrümpelt werden. Bis zum Jahr 2001 als 100 Jahren, als die Eisenbahnen noch bereits pensionierten DB-Lokführern, Che- will Mehdorn auch das geschafft haben. profitable Aktiengesellschaften waren. mikalien von Brunsbüttel nach Hamburg. Die Grundidee, bei der Luftfahrt abge- Der Macher Mehdorn gibt sich als uner- Obwohl Hoyer Trassenpreise von zehn schaut, ist ebenfalls nicht ganz neu: Volle schütterlicher Optimist: „Wir schaffen das Mark pro Kilometer an die Bahn zahlen Züge, etwa freitags und sonntags, sollen schon.“ Wolfgang Bittner, Chris Löwer, muss, doppelt so viel wie die Bahn zuvor teurer, leere Züge dafür billiger werden. armin Mahler

126 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

Durchschnittliche Einschaltquoten im Wanderung kann Folgen ha- Hauptabendprogramm ben für die RTL-Senderfami- in Prozent, Montags bis sonntags, lie, da Spots auf RTL für we- 18,8 20.15 Uhr bis 21.05 Uhr, Zuschauer: 14 bis 49 Jahre sentlich mehr Geld verkauft 16,0 werden. Rund 34 Prozent 15,3 des „Big Brother“-Publikums sind laut GfK übrigens 12,8 12,7 Stammseher – und die gucken 11,9 12,4 sich offenbar heiße Szenen auch gern im Internet an. Unter Adressen wie „bigbro- ther.debox.de“ werden Foto- 5,8 sequenzen aus der Serie zum Herunterladen angeboten, 1. März: vorzugsweise Duschdetails Start von mit Manuela oder Jona. Ohne „Big Brother“ Urheberrechte haben die Be- treiber einfach die Sendung Febr. März Febr. März Febr. März Febr. März auf Video aufgenommen und TV-Show-Teilnehmerin dann in PC-taugliche Fotos RTL 2 umgewandelt; als Emblem der Ama- teurshows wird etwa „Big Bit“ verwen- det. Mittlerweile gibt es im Netz sogar Little Sister, Big Uncle das „Big Brother“-Spiel „Big Uncle“, eine zynische Variante des beliebten orwiegend von den Privatsendern die Container-Show. Nach Zahlen des Computer-Ballerspiels „Moorhuhnjagd“. VRTL und Pro Sieben holt die tägliche Nürnberger Instituts GfK schalten zum Statt Vögel huschen nun die Köpfe der Spannersendung „Big Brother“ auf RTL Beispiel rund 500000 Seher der RTL-Dai- TV-Container-Insassen über den Schirm. 2 ihre Zuschauer. Beide Kanäle verlieren ly Soap „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ Wer die umstrittene Jona per Mausklick nach 20.15 Uhr erheblich Zuschauer an danach zum Schwesterkanal RTL 2. Die trifft, erhält Extrapunkte.

PRESSE ZDF Frankfurter Frischzellenkur Das Frauen-Quartett ie „Frankfurter Rundschau“, in den siebziger Jahren die it einer neuen Quasselrun- DPflichtlektüre von Sozialdemokraten und Gewerkschaf- Mde für Frauen will das ZDF tern, will mit Modernisierungsmaßnahmen den Anschluss an ab Herbst am Freitagnachmittag die überregionale Konkurrenz finden. Für den im Juni in Ren- Quote machen und – wenn mög- te gehenden Chefredakteur Roderich Reifenrath, 64, soll ab lich – das Publikum verjüngen. Juli ein Triumvirat die „FR“ attraktiver machen und vor allem Für die Sendung „Wir vier“ la- die bei rund 190000 Stück stagnierende Auflage steigern. Zur den sich die Moderatorinnen Su- neuen Führungsriege gehören die bisherigen Vizechefs Hans- sanne Fröhlich, Sibylle Nicolai Helmut Kohl und Jochen Siemens sowie ein externer Journa- und Annabelle Mandeng jede list, der noch gesucht wird. Geplant ist eine optische Auffri- Woche einen prominenten weib- schung des Blatts – „wir werden im Laufe des Jahres über ein lichen Gast zur 45-minütigen neues Layout nachdenken“, bestätigt Reifenrath. Bereits Ende Plauderei auf die Couch – „über April startet ein seit langem geplantes Farbmagazin im Zei- ein exponiertes Thema“, erklärt tungsformat als Wochen- ZDF-Programmdirektor Markus endbeilage. Vor allem der Schächter. Geplant sei aber kei- Erfolg der „Welt“, die ne reine Talkshow, sondern eine nach einer Generalreform „Mischung aus Diskussion, Show

die Auflage um 10 Pro- und Service“. Gewappnet mit PRESS / ACTION C. AUGUSTIN zent auf 240000 steigern Rezepten für das Sonntagses- Mandeng konnte, hat die träge sen, gegen Orangenhaut und für „FR“-Maschinerie auf den kleinen Börsengewinn sollen die Zuschauerinnen ins Wo- Touren gebracht. „Süd- chenende starten. Die Mitspieler des gemütlichen Quartetts deutsche Zeitung“ sind einschlägig vorbelastet. Während Nicolai das ZDF-Frau- (416000) und die staats- enmagazin „Mona Lisa“ moderiert und Fröhlich im Radiopro- tragende Ortskonkurrenz gramm des Hessischen Rundfunks die Single-Expertin gibt, hat „Frankfurter Allgemei- Mandeng derzeit den sportivsten Job: Bei „Fit for Fun“-TV im

ne“(401000) sind oh- I. GOROVENKO / IP-PHOTO Privatsender Vox sinnt sie über Gemüsepfannen und Problem- nehin weit enteilt. „FR“-Gebäude zonengymnastik.

der spiegel 13/2000 129 Medien

QUOTEN Krimi-Serien im Spätabend- Auf Emma und ewig Arme Paten: „Sopranos“ Programm des ZDF durchschnittlich ie Welt haben die 68er ret- mit schwachem Start 16,7% ten, dem Guten zum Sieg Zuschauerquote D bei der Erst- verhelfen, die versteinerten Ver- omen – leider nicht immer Omen: ausstrahlung „Für alle Fälle Fitz“ hältnisse zum Tanzen bringen wol- NDie „Cosa Nostra“-Serie „Die So- 1996 pranos“ ist alles andere als die Sache len – und wenn ihnen das nicht so- 9,8% der deutschen Fernsehzuschauer. Mit bei der Wieder- fort gelang, gab es immer noch katastrophalen Marktanteilen schnitten holung 1998 „Die Sopranos“ Emma Peel. Die unvergleichli- die ersten beiden Teile der satirischen jeweils sonntags, che Kämpferin im Leder-Catsuit Geschichte über einen fiktiven Mafia- 22.30 Uhr 6,1% % brachte regelmäßig auf ungleich Clan aus New Jersey ab, über die 5,1 elegantere Art die Bösewichter zur „Newsweek“ geschrieben hatte, sie sei das „eindrucksvollste Fernsehereignis Strecke. Eine Generation später der letzten Jahre“. „Für alle Fälle Fitz“, 19. März kam dann ein Unseliger auf die die ambitionierte Krimireihe aus Eng- 12. März Idee, den Nachgeborenen ver- land mit dem bulligen Polizeipsycholo- gleichbaren Trost zu spenden. Und gen (Robbie Coltrane), hatte noch in der Zuschauer an Eigenproduktionen aus einer britischen Kult-Serie, der Wiederholung am Dienstagabend lässt US-Ware immer häufiger zu Kas- deren fröhliche Subversion der höhere Quoten als die „Sopranos“, de- sengift im deutschen Fernsehen wer- ren Paten-Kämpfe in Amerika auf dem den. Selbst der beliebte Knitterkommis- Aufmüpfigkeit gegen damals glei- elitären Kabelkanal HBO bisweilen sar „Columbo“ musste sich im Februar chermaßen mächti- mehr als zehn Millionen Seher verfolgt auf RTL im Schnitt mit einstelligen ge wie sauertöpfi- hatten. Die zunehmende Gewöhnung Marktanteilen begnügen. sche Moralapostel entsprang, wurde eine schreckliche Hollywood-Pleite, die zwar sofort aus den Kinos ver- schwand, dafür nun TV-Auferstehung feiert – mit der de- primierenden Aussicht auf ewige Wiederholungen. So nimmt das Remake bittere Rache: Nun wird eine mittelprächtige US-Darstelle- rin namens Uma Thurman für alle Zeiten mit jener Diana Rigg kon- kurrieren, die britische Höflichkeit als tödliche Waffe nutzen und ih- CINETEXT rer eisigen Unnahbarkeit kühnste ARD erotische Versprechungen abge- Altenstar Pfitzmann mit Renate Richter, Mira, Juhnke in „Lasterhaftes Pärchen“ winnen konnte. Beauty and brains sowie die fließende Beherrschung PROJEKTE von neun Sprachen plus Kung Fu wird ersetzt durch Latex und alt- Oldies nach Ostern kluge Sprüche. Sicher, auch Diana er Osterhase geht, die Alten kommen – im Ersten. Am 28. April, anlässlich ihres Rigg, 61, ist nicht mehr die Alte, D90. Geburtstags, ist die unverwüstliche Brigitte Mira in dem ARD-TV-Spiel „Ein sondern, erstens, von der Königin lasterhaftes Pärchen“ zu sehen. Sie spielt die Witwe Käthe, die erleben muss, wie der böse Mann (Helmut Berger) ihrer Enkelin aus ihrem traditionsreichen Café einen geadelt und, zweitens, Gastdozen- halbseidenen Nachtclub macht. Trost angesichts dieser bedenklichen ökonomischen tin am St. Catherine’s College der Modernisierung wird Käthe aus dem Jenseits gespendet, wo ihr verstorbener Mann Universität von Oxford. Aber eine (Harald Juhnke) den Kontakt zu seiner Frau nicht hat abreißen lassen und später so- aller angeblichen Verruchtheit gar – je oller, je doller – leibhaftig auf die Welt zurückkehrt. Die unerbittlich kregele zum Trotz übereifrige Pfadfinderin Mira wird in dem Film außerdem von Helen Vita und Evelyn Künneke unterstützt: mit zu langen Beinen hat sie als als „Drei alte Schachteln“ tourte das Trio erfolgreich durch Deutschland. Drei Tage später taucht ein anderer TV-Geront aus den Wassern des Berliner Wannsees auf: Nachfolgerin nicht verdient, nicht Günter Pfitzmann, 75, ist mit zwei weiteren Folgen der Bootsbauer-Reihe „Der Ha- mal in der Glotze. velkaiser“ (am 1. und 3. Mai, 20.15 Uhr) zu sehen. Die Titel der Filme signalisieren greisenheißes Tatterday-Night-Fieber: „Kieloben“, „Feuersturm“.

130 der spiegel 13/2000 Fernsehen

sche Kenntnisse. Sie Vorschau führen zur Lösung. Ein sympathisches Team Einschalten brettert mit Geiger durch verwegene Abenteuer, German Hollywood die der deutsche Stunt- Dienstag, 20.15 Uhr, Arte könig Hermann Joha ein- Henning Lohner führt in seiner vier- gerichtet hat: die eigen- teiligen Doku-Soap Träume rund um sinnige und zu Einzelak- die Traumfabrik vor: von Menschen, tionen neigende Sunny die es wie die Journalistin Frances (Yvonne de Bark) und Schönberger geschafft haben, und sol- der sensible Kai (Jens chen, die sich nach einer Karriere Peter Nünemann), der sehnen wie der Nachwuchsschauspie- nicht gern auf Menschen ler Thomas Reese, der sich in Film- schießt. premieren einschleicht, um Arnold Schwarzenegger anzusprechen. Ge- Tatort: Kalte Herzen schickt verdichtet Lohner das Bemü- Sonntag, 20.15 Uhr, ARD hen um Berühmtheit zur unterhalt- Regisseur Thomas Bohn samen Seifenoper, der Genius Loci hat die „Tatort“-Kommis- wirkt ansteckend. sarin des Südwestrund- funks, Lena Odenthal Die Motorrad-Cops (Ulrike Folkerts), schon Donnerstag, 20.15 Uhr, RTL in abenteuerlichsten Ge- Eine Gangsterbande begeht zwei schichten begleitet. In „Tatort“-Darsteller Tidof (M.), Weitershausen (r.) Banküberfälle und hinterlässt am Tat- „Nahkampf“ musste sie ort das Zeichen „Y“. Der neue Chef Verbrechen in einer Bundeswehrkaserne hausen). Wie selbstverständlich weitet eines LKA-Teams, Tom Geiger (Mat- aufklären, der Film „Tod im All“ zeigte sich der Krimi transatlantisch aus: thias Paul), steht vor einem Rätsel. Er die spröde Polizeidame in außerirdi- Odenthal durchstreift Los Angeles, und seine Leute fahren zwar schnell schen Gefilden. Diesmal muss sich Lena parliert mit amerikanischen Polizei- und elegant Motorrad, doch das allein in der Glitzerwelt der Medien bewäh- kollegen und verliert trotzdem an kei- nützt nichts bei der Ermittlung der ren: ein ermordetes Topmodel, ein ner Stelle ihren rauen Charakter. Re- Gangster, wie der spannende Pilot- merkwürdig depressiver deutscher Hol- gisseur Bohn führt auch die Bilder film zu einer neuen Serie zeigt. Hirn- lywood-Star (Max Tidof), eine superehr- und den Schnitt auf das Niveau des arbeit ist gefragt, besonders geometri- geizige Managerin (Gila von Weiters- Kinos (Kamera: Hans-Jörg Allgeier).

Ausschalten

Ben & Maria – diesem Film: Es war einmal ein Unter- Kenntnis vielleicht ein sich dem Sys- Liebe auf den zweiten Blick nehmerssohn, der hieß Ben Raabe tem verweigernder Schüler von Karl Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 (Matthias Koeberlin), der wollte im Marx geworden, aber in diesem Film Warum sollen die Grimm-Brothers Bündnis mit geldschweren Spekulanten versöhnt er den Ethos des Kleinpro- des modernen Fernsehens keine Mär- die marode Firma seines Vaters (Hanns duzenten mit der Ideenwelt des Groß- chen aus Shareholders Wunderland Zischler) an sich reißen. Doch der Alte konzerns: Ben, mit seinem Vater aus- erzählen? Uwe Wilhelm (Buch) und entdeckte den Verrat, widersetzte sich gesöhnt, stellt im großen Stil die Uwe Janson (Regie) versuchen es in der feindlichen Übernahme und ver- Stühle aus der Werkstatt her, die Al- stieß den Sohn. Da verließen Ben auch ternativen dürfen in der Nische wei- seine sinistren Unterstützer, und seine terhobeln. Das Herz Marias gewinnt Verlobte wandte sich von ihm ab. Damit er außerdem – der Kapitalismus löst nicht genug: Wegen Suffs verlor er auch alle Probleme. Zum guten Filmmär- noch den Führerschein. Ganz verlassen chen gehören zauberhafte Szenen streifte der arme Ben ohne Kreditkarten und viel Charme. Leider lässt sich durch die schnieke Einsamkeit der Sze- „Ben & Maria“ dafür keine Zeit. nebars. Und wenn es so weitergegangen wäre, hätte er bei seinem Vater um Ver- Pierre Boulez probt mit zeihung bitten müssen. Doch der verlo- den Wiener Philharmonikern rene Sohn begegnete der lieben Maria Mittwoch, 21.45 Uhr, Arte (Stefanie Stappenbeck), die werkelte in … und die Zuschauer fragen sich, war- einer Beschütztenwerkstatt alternativ um sie auch noch sehen sollen, was und wenig einträglich an der Herstel- sich schwierig anhört. Der verhinder- lung bequemer Stühle. Bei ihr lernte te Sprengmeister aller Opernhäuser Ben, dass Geld ein Fetisch ist, wenn dirigiert anlässlich seines 75. Geburts- sein Wert nicht von ehrlicher Arbeit be- tags ein eigenes Werk und „Drei Stappenbeck, Koeberlin in „Ben …“ stimmt ist. Früher wäre er über diese Orchesterstücke“ von Alban Berg.

der spiegel 13/2000 131 Medien

SPRINGER-VERLAG „Operation Käse“ Mit eigenen TV-Produktionen wollte Springer-Chef August Fischer den Zeitungskonzern ins elektronische Zeitalter führen. Doch der Einstieg ins Fernsehgeschäft ging daneben. Nach millionenschweren Fehlinvestitionen wird nun auch über einen Ausstieg nachgedacht.

urz vor ihrer letzten Sendung fand bis zum Jahr 2008 auf zwölf Milliarden Peter Schwartzkopff („Jörg Pilawa“, „Son- Susan Stahnke Trost in der heimi- Mark. Im hart umkämpften Zeitungsmarkt ja“, „Andreas Türck“). Dabei störte die Kschen Flora. „Das Leben“, räso- sind solche Steigerungsraten nicht hinzu- Verlagsmanager nicht, dass ihre neue Fir- nierte die Blondine, „ist wie ein Blumen- bekommen, also setzte Fischer auf Expan- ma jährlich 30 Millionen Mark – also zwei strauß, in dem sich gelegentlich eine ver- sion im Ausland und „weiteres Wachstum Drittel der Firmenerlöse – bei Sat 1 ein- dorrte Distel findet.“ durch entschlossenen Einstieg ins Fernse- streicht, an dem Springer beteiligt ist. „Die An diesem Montag hat das Martyrium hen und die Programmplanung“. haben praktisch ihren eigenen Umsatz ge- der „Minus-Frau“ („Bunte“) endlich ein Endlich sollte gelingen, was Verlags- kauft“, spotteten Branchenkenner. Ende. Um 22.15 Uhr moderiert die Di- gründer Axel Caesar Springer in 40 Jahren Und dann „Newsmaker“: „Wir wollen plombetriebswirtin das Sat-1-Magazin nie geschafft hatte. Der versuchte bereits zurück zu den Wurzeln des investigativen „Newsmaker“ zum letzten Mal, dann wird 1964 vergebens, das ZDF zu kaufen, woll- Journalismus“, kündigte der ansonsten die Sendung (Werbeslogan: „Das wird Sie te 1967 – über eine saarländische Lizenz – eher zurückhaltende Fischer-Vize Claus La- interessieren“) eingestellt – rass an. Die Macher ver- wegen anhaltender Erfolg- sprachen ein „Magazinfor- losigkeit. Aus, die Maus. mat, das es in dieser Form Die frühere „Tages- noch nicht gibt“. Als Vor- schau“-Sprecherin mag bild wurde das legendä- sich trösten: Sie ist mit re US-Fernsehmagazin „60 ihrem Schmerz nicht allein. Minutes“ bemüht. Doch Ihr Leidensgenosse sitzt im schon kurz nach dem Start elften Stock des Hambur- vor einem Jahr war klar: ger Springer-Hochhauses: Springer hatte das Fernse- Auch für August („Gus“) hen nicht neu erfunden – Fischer, 61, den Chef des sondern allenfalls eine Verlags („Bild“, „Welt“, Laubsägearbeit vorgelegt. „Hörzu“), ist das Ende Mit wenigen Ausnah- eine bittere Niederlage. men blieb die Quote des Der Grund steht auf der Magazins in der für die Homepage der Sendung Werbung relevanten Ziel- im Internet: „Newsma- gruppe der 14- bis 49-Jäh- ker“, heißt es da, „ist das rigen konsequent bei unter erste, selbst produzierte einer Million Zuschauer. Magazin der Axel Springer Im Februar fiel sie gar auf TV Produktion GmbH, ei- ein neues Tief: Nur wenig

ner Tochterfirma des Axel GIRIBAS J. mehr als eine halbe Million Springer Verlages“. Jetzt Verlegerin Springer, Konzern-Chef Fischer: Erfolgloser TV-Ausflug ließ sich noch von den sieht es ganz danach aus, Reportagen über Penis- als würde das erste Magazin auch das einen Kommerzsender aufmachen und bruch durch exzessiven Sex und Killer- letzte sein. versuchte schließlich 1970, sich bei Studio bakterien in der Zahnbürste locken. Sat- Dabei sollte „Newsmaker“, da war sich Hamburg einzukaufen, der privatisierten 1-Chef Fred Kogel zog die Konsequenz. Fischer sicher, eigentlich nur der Anfang ei- Produktionstochter des NDR. Doch Sprin- „Newsmaker“ wird eingestellt, obwohl das ner großen TV-Offensive werden. Mittel- ger scheiterte. Erst 1985, kurz vor seinem Magazin eigentlich ein Bleiberecht zu fristig wolle Springer „Programmlieferant Tod, stieg der Verlag beim neuen Privat- haben schien. für Deutschland und Europa werden“, hat- sender Sat 1 ein. Schließlich hält Springer 41 Prozent an te der neue Chef im Juni 1998 kurz nach Das Schicksal des verstorbenen Pa- Sat 1 und hat jahrelang neidvoll zusehen seinem Amtsantritt versprochen. Er sei triarchen vor Augen, plante Visionär Fi- müssen, wie nur Mitgesellschafter Leo drauf und dran, tönte er, für die „Zukunft scher den großen Wurf: Binnen zwei Jah- Kirch, der an Springer 40 Prozent der An- als Produzent von TV-Programmen im In- ren sollte der Minianteil der elektro- teile hält und an Sat 1 mit 59 Prozent be- und Ausland Top-Leute an unser Haus zu nischen Medien am Gesamtumsatz von teiligt ist, durch umfangreiche Spielfilm- binden“. mickrigen 80 Millionen auf 300 Millionen verkäufe am Sendebetrieb verdiente. Fischer, der unter dem australisch-ame- Mark steigen. Munter kaufte sich Fischer Fischer war es, der sich mit dem Münch- rikanischen Medienunternehmer Rupert ins TV-Geschäft ein. ner Filmhändler auf einen Kompromiss ei- Murdoch Karriere gemacht hatte, wollte Für geschätzte 40 Millionen Mark über- nigte: Springer sollte in Zukunft im jour- Springer ins elektronische Zeitalter führen. nahm der Konzern Ende 1998 90 Prozent nalistischen Bereich das Sagen haben und Der Konzernumsatz sollte rasant steigen – an der Hamburger Talkshowfabrik von entsprechende Inhalte zuliefern dürfen, um

132 der spiegel 13/2000 so zumindest einen Teil der rund 300 Mil- ausgeträumt“, heißt es im Umfeld der Locker vereinbarte man im Mai vergan- lionen Mark der auf den Verlag entfallen- Großaktionärin Friede Springer. Und: genen Jahres zudem die Koproduktion ei- den Anlaufverluste des Senders zurückzu- „Über kurz oder lang wird sich Springer ner sechsteiligen Dokumentation über das holen. Kirch hingegen verkauft Sat 1 wei- von der Inhalteproduktion fürs Fernsehen weltweite Wirken von Geisterheilern. Das ter Serien und Spielfilme und bekam die wohl verabschieden.“ Werk sollte nach dem Willen der Hambur- Mehrheit im Aufsichtsrat. Fischer steht damit vor einem Scher- ger Verlagsmanager der Branche signali- Doch nach dem Ende von „Newsma- benhaufen: Seine Globalisierungsstrategie sieren: Schaut her, selbst das ZDF kauft ker“ ist Springer – abgesehen von ein paar ist bisher kaum vorangekommen, und der bei uns ein. Reportagen für die Reihe „24 Stunden“ – Ausflug ins TV-Geschäft brachte auch nur Doch als Barden und seine Truppe im als Inhaltelieferant ein Totalausfall. „Die Ärger. Der eigens gegründete Fernseh- November in Mainz auftauchten, war auch Blütenträume vom Verlegerfernsehen sind ableger Axel Springer TV mit Zweitsitz in London hat bisher nichts entwickelt, womit sich im deutschen Fernsehen Quote ma- chen ließe. Springers TV-Aktivitäten Unauffällig wurde jetzt der Mann weg- 40,05% geschickt, der für Fischer den Einstieg ins Leo Kirch TV-Geschäft schaffen sollte. Stephen Bar- den, 49, verlässt den Konzern, um sich fortan dem Hotelfernsehen zu widmen. Der Engländer, ein Elektronische Medien „Newsmaker“ alter Fischer-Spezi aus ge- Vorstand: Ralf Kogeler Durchschnittliche meinsamen Tagen bei Mur- Einschaltquote 2000 doch, musste sogar auf seine TV-Sender Abfindung verzichten – bei 41% Springer ein Vorgang mit Sel- 59% tenheitswert. Barden (Verlagsspott: „Fisherman’s 11,3% Friend“) gilt jetzt als Hauptverantwortli- cher des TV-Debakels. Dabei war es Fi- scher, der ihn stets in den höchsten Tönen Axel Springer TV Produktions GmbH gelobt hatte. „Als gäbe es keinen Besseren Geschäftsführung: Peter Schwartzkopff auf der Welt“, wie sich ein hoher Manager erinnert. Der Wundermann aus London (Jahres- TV News 100% gehalt: rund 1,3 Millionen Mark) hatte Axel Springer TV News GmbH wenig Lust, sich auf sein neues Einsatzge- „Newsmaker“, Sat 1 biet einzulassen. Des Deutschen nur be- „24 Stunden“, Sat 1 dingt mächtig, versuchte er, englisch- sprachige TV-Formate für den deutschen TV Fiction Markt umzusetzen. Konferenzen wurden 100% Commerz-Film Medien- auf Englisch abgehalten, deutsche Beiträge gesellschaft mbH vom Chef persönlich abgenommen – ob- 50% wohl er sie gar nicht verstehen konnte. Multimedia GmbH

SAT 1 SAT „Wenn etwas nicht klappte, waren es die u. a. „Nordseeklinik“, ZDF „Alphateam“, Sat 1 „Newsmaker“-Moderatorin Stahnke ‚bloody germans‘“, sagt ein „Newsmaker“- 50% „Das wird Sie interessieren“ Redakteur. Metropol Film- und Fernseh-GmbH Bei der Tochterfirma Schwartzkopff TV 25% wollte Barden eine Kopie der US-Sendung Pro-Film-Gruppe „Loveline“ in Auftrag geben, in der es um u. a. „Tatort“, ARD „Rettungsflieger“, ZDF ausgedachte und wahre Sex-Erlebnisse „Doppelter Einsatz“, RTL geht. „Das Format mag zwar in Amerika funktionieren, hat aber TV Talk und Entertainment nichts mit deutscher Fernseh- 90% „Echt wahr“ Schwartzkopff TV rezeption zu tun“, wurde er Productions GmbH Durchschnittliche von Schwartzkopff knapp Einschaltquote 2000 „Jörg Pilawa“, „Sonja“, Sat 1 beschieden. „Andreas Türck“, Pro Sieben Für einen regelrechten Kul- turschock sorgte Barden ausge- TV International rechnet beim ZDF, das bei Springer 85% Axel Springer TV international auf der Wunschliste möglicher Geschäfts- Ltd., London partner ganz vorn rangiert. So hatten sich 51% ZDF-Intendant Dieter Stolte und Verlags- GRB Entertainment Inc., chef Fischer schon frühzeitig getroffen, Los Angeles um über TV-Ausgaben der Springer-Titel Dokumentationen, Reality-TV „Computer-Bild“ und „Auto-Bild“ zu ver- „Echt wahr“, Sat 1 (GRB Deutschland) 50% 50% handeln. Die Herren wurden sich nicht ei- ISPR Internationale

SAT 1 SAT nig, nur zum Senden der Verleihung des Sportrechte Verwertungs- „Echt wahr“-Moderatorin Preradovic von Springer gesponserten „Goldenen gesellschaft Gut abgehangene Polizeivideos aus L. A. Lenkrads“ ließ sich Stolte überreden.

der spiegel 13/2000 133 Medien dieses Projekt schnell gestorben. Auf Inzwischen hat der Verlag die Notbrem- Geheiß eines Schamanen-Forschers, den se gezogen. Nachdem die Controller auf Barden aus North Dakota einfliegen ließ, Anraten des zuständigen Vorstands Ralf mussten die verdutzten ZDF-Redakteure Kogeler Bardens Finanzgebaren überprüft einen Kreis bilden – anschließend wurden hatten, wurde dem vermeintlichen Hotshot aus allen Himmelsrichtungen die guten der Abschied nahe gelegt. „Angesichts sei- Geister angerufen. „Eine äußerst bizarre ner eigenen Bilanz reichte er den Rück- Veranstaltung“, erinnert sich einer der Teil- tritt ein“, heißt es mit leiser Ironie im Ver- nehmer. lag. Nachfolger wird Peter Schwartzkopff. Viel brachte der Spuk nicht. Nach acht- Konzernchef Fischer bemüht sich in- stündiger Meditation über den Drehbuch- zwischen um Schadensbegrenzung. Vor entwürfen stand fest: nichts fürs sonntäg- zwei Wochen flogen er und Kogeler nach liche Abendprogramm. „Das war nur et- Los Angeles, um sich mit dem Manage- was für eingefleischte Doku-Fans“, sagt ein ment der Produktionsfirma GRB Enter-

ZDF-Mitarbeiter. Wohlweislich hatten die / FOCUS A. GARRELS tainment zu treffen, die weltweit spekta- Mainzer angesichts des verschwiemelten TV-Manager Barden kuläre Katastrophenbilder („Inferno“, Esoterik-Themas nur eine unverbindliche Schamanen für die „bloody germans“ „Storm Warning“) vertreibt. Absichtserklärung unterzeichnet: „Es ist Auf Anraten von Barden und zur Ver- angestrebt, als Koproduzent bei diesen kaufen und sich selbst als Geschäftsführer wunderung der Branche hatte sich Sprin- Produktionen zu erscheinen.“ der neuen Super-Firma Axel-Springer- ger 1999 für etwa 60 Millionen Mark mit 51 Barden („Der Zuschauer muss als Pa- Endemol TV Group zu inthronisieren Prozent an der Firma beteiligt, die es ge- tient betrachtet werden“) ließ sich dadurch (Projektname: „Operation Käse“), stieß im rade mal auf einen Umsatz von 20 Millio- nicht bremsen. Längst hatte er die Firma Vorstand auf wenig Gegenliebe. „Man nen Mark bringt. Nun steckt GRB in Li- VAC Productions in Los Angeles mit der muss wissen, wo die Grenzen sind“, sagt quiditätsproblemen und benötigt dringend Sechs-Millionen-Mark-Produktion beauf- ein hochrangiger Springer-Manager, „der einen Millionenkredit, um die Programm- tragt. Das Risiko trug allein der Springer- wusste es nicht mehr.“ vorräte aufzufrischen. Verlag. In dem Vertrag tauchen zwei Denn Firmengründer Gary R. alte Bekannte des Springer-Chefs Benz hatte noch vor dem Springer- als Produzenten auf: der Inder Dee- Deal wertvolle Lizenzen veräußert pak Nayar und Russel Fischer – der – ausgerechnet an die Konkur- Sohn des Konzernherrn. Der war renten des zukünftigen Miteigen- bereits im Frühjahr 1999 mit Bar- tümers. So sicherte sich der den nach New York gereist, um Mit- Sender Pro Sieben Fol- arbeiter für die Dreharbeiten zu Durchschnittliche gen der beliebten Reihe werben. Einschaltquote „Welt der Wunder“, und „Als ich mich gewundert habe, bei Sat 1 in 2000 auch RTL 2 griff sich dass für so ein Projekt überhaupt Sendematerial, zum Geld da ist“, erinnert sich ein Re- Beispiel für die Streiche gisseur, „wurde mir mit dem Hin- der „dümmsten Verbre- weis auf Fischers Sohn signalisiert, cher der Welt“. dass man ganz tiefe Taschen habe.“ Der Springer TV-Holding blieben Fischer senior will sich zu dem Vor- nur die Reste: gut abgehangene Po- gang nicht äußern. Kommentar der lizeivideos aus Los Angeles, die seit Verlagssprecherin: Der Vertrag sei Monaten im Sat-1-Vorabendpro- inzwischen aufgelöst worden. gramm von der bedauernswerten Das stimmt. Im Februar – also Moderatorin Milena Preradovic über ein halbes Jahr nach Vertrags- abgearbeitet werden. Zuletzt düm- abschluss – wurde eine Auflösungs- pelte die Quote der Sendung „Echt vereinbarung getroffen. Die Zu- wahr“ bei sechs Prozent. In Kür- sammenarbeit mit dem ZDF war da ze will sie Sat-1-Chef Kogel aus schon in weite Ferne gerückt. Zu- dem täglichen Programm kegeln – dem waren zu diesem Zeitpunkt be- nach der Umstellung auf einen reits fast eine Million Mark nach Los wöchentlichen Sendetermin soll Angeles geflossen – für unbrauch- „Echt wahr“ voraussichtlich 2001 bare Entwürfe, mit denen zumin- „vereinbarungsgemäß auslaufen“. dest beim ZDF niemand etwas an- Nach dem Scheitern von Fischers fangen konnte. TV-Plänen steht nun die Frage nach Ungeachtet der Misserfolge der Zukunft des Konzernablegers drängte Fischer-Freund Barden wei- auf der Tagesordnung. „Die Dis- ter auf Expansion: Fleißig schrieb krepanz zwischen der ursprüngli- er Einkaufslisten voll mit Firmen, chen Vision und dem jetzigen Zu- deren Namen den Konzernobe- stand der Fernsehabteilung wird ren verdächtig nach Geldver- zunehmend problematischer“, heißt schwendung klangen: Microcast, es in einem internen Papier, das zu Fast TV oder Paul Allens Vulcan dem ernüchternden Fazit kommt: Ventures. „Zusammengefasst haben wir beim Auch Bardens Plan, für 1,5 Mil- Ausbau unserer Produkte wenig

liarden Mark Anteile des holländi- 1 / SAT S. SCHRAPS Erfolg gehabt.“ Oliver Gehrs, schen TV-Produzenten Endemol zu Sat-1-Chef Kogel: Laubsägearbeiten vom Gesellschafter Konstantin von Hammerstein

134 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Medien

bei „Tittensepp“ Andor- EROTIK-TV fer (nicht „Bild“) weit mehr ein als Naddel. Ge- Fräuleins rade erst hatte die Noch- Moderatorin Gottlieb Wendehals zu Gast bei Wunder „Peep!“ Der abgewrack- te Bierzelt-Feger hielt der RTL 2 verschärft weiter das Pro- Muslimin seinen nack- ten Hintern hin und bat gramm: Das Sex-Magazin vergebens um ein Auto- „Peep!“ soll eine neue Moderatorin gramm. Naddel kreisch- bekommen – blonder und te, so was täte sie nicht. üppiger als all ihre Vorgängerinnen. Er solle doch um Got- tes/Allahs/Dieters willen anchmal ist das Leben doch arg wieder die Hose hoch- frauenverachtend. Wer wüsste das ziehen. Mbesser als Nadja Abd El Farrag, Konnte oder wollte 35, gemeinhin bekannter als „Naddel“. sie nicht unterschreiben? Jahrelang musste sich die Halb-Sudane- Egal: Im Sommer läuft sin nach oben kämpfen – als Apotheken- ihr Vertrag aus. helferin, Altenpflegerin und Dauerfreun- Fräulein Weber – so din von Dieter Bohlen, um dann endlich ist zu vermuten – hätte Aufklärungsarbeit via TV leisten zu Herrn Wendehals min- können. Ihr Sexualkundeunterricht heißt destens einen ironisie- „Peep!“ und wird vom RTL-2-Durch- renden Lippenstift-Kuss- schnittszuschauer noch immer gern miss- mund aufs Gesäß ge- verstanden in der Art: „‚Peep‘ ist datt, wo presst. Sie könnte also die Naddel, die wo von dem Bohlen die durchaus die Krönung Freundin ist, gut aussieht.“ von „Peep!“ werden, ob- Seit vergangener Woche sieht Naddel alt wohl auch ihre vier Vor- aus, denn da fing „Bild“ an zu tit(t)eln: gängerinnen mit dem „Sorry, Naddel! Du wirst gefeuert“. Tag 2: Versprechen antraten, al- „Bohlen bekam einen Wutanfall“. Tag 3: les werde freier, frecher, „Frl. Weber ist da!“ Gemeint war das frivoler als je zuvor. deutsch-römische Fräulein- und Busen- Am Anfang war da wunder Manuela („Ela“) Weber, dem in Amanda Lear, den wer-

München ein adäquater Empfang bereitet PRESS MEDIA / PICTURE GIANNI / PHOTO F. beirrelevanten Zielgrup- wurde – samt Foto mit Handy, Hutschach- Oberweiten-Ikone Weber: „Mama der Machos“ pen noch als androgyne tel und neuem Kurzhaar- Kurzzeit-Disco-Königin schnitt. der Machos“ („Süddeut- und Muse des spanischen Surrealisten Sal- Am Donnerstag saß die sche Zeitung“), weil sie vador Dalí bekannt. Danach kam Verona Schöne bereits bei RTL-2- noch lasziver wirkte als die Feldbusch, die den Fernsehjob ihrer ge- Chef Josef Andorfer auf der vielen anderen Show-Blon- scheiterten Ehe mit Dieter Bohlen und Besetzungscouch. Ob und dinen, die das italienische der damit einhergehenden Gratis-Publici- was geredet wurde, blieb Publikum mit nur zwei Ta- ty verdankte. unklar, auch wenn Ela gern lenten gewinnen wollen: Verona ironisierte auch allerhand, ob- verlauten lässt: „Ich weiß, links und rechts. wohl bis heute unklar ist, ob sie weiß, was wie ich Männer überzeugen Fräulein Weber brüstet das bedeutet. Der Ruf als Blaupause aller kann.“ sich auch gern. Sogar mit nicht komplett blöden Oberweitenpräsen- Andorfer säftelte: „Seit ihren Kochkünsten. Das tatorinnen ist ihr jedenfalls kaum streitig ich die ersten Fotos von ihr goutieren die Italiener. zu machen. Beerbt wurde sie von einer jun- gesehen habe, wusste ich, „Ich ironisiere dieses gen Blondine der Wie-hieß-die-noch-mal- die gehört wieder ins deut- Frauenbild, indem ich es Kategorie, später dann von Naddel. sche Fernsehen.“ Dort hat- übertreibe“, beschreibt die Manfred Meier, als Unterhaltungschef te Fräulein Weber bislang gebürtige Würzburgerin ihr von „Bild“ der wichtigste Mann im me-

nur ein kurzes Gastspiel als & THOMAS / THOMAS REINHOLD Erfolgsrezept. Bei Bedarf dialen Kampf um Vor- statt Überbau, senkt Assistentin bei dem Flop „Peep!“-Star Abd El Farrag steckt sie sich deshalb den Daumen: „Wenn Naddel irgendeinen „Sommer, Sonne, Sat 1“. schon mal den Zeigefinger Scheiß macht, ist es natürlich immer eine Moderator Jörg Wontorra muss das mit der zwischen die glänzenden Lippen, um ir- Geschichte für uns. Aber schon dieser „blonden Sünde“ derart falsch interpretiert gendwie lüstern in die Kamera zu schauen. Name … Fräulein Weber, das klingt wie haben, dass sie nach drei Folgen entnervt Auf anderen Fotos, die aus zeitgeschichtli- Metzgerei-Gehilfin“, schwärmt er. zurück nach Rom floh. chen Gründen nun gern überliefert wer- Für die nötige Fleischbeschau wird Mei- Im italienischen TV ist Ela danach ein den, hebt sie ihre üppige Oberweite statt ir- er sorgen, auch wenn er Ende vergangener Star geworden, als 1,80-Meter-Dekoration gendeines Niveaus, das bei RTL 2 sowieso Woche die Wahl der Qual hatte: entweder der Fußball-Show „Goleada“, wo ihr keinen interessiert. Fräuleins Wunder oder das gerade ver- Konzept aus richtigen Versprechern und So schlug die „schärfste Blondine der storbene Busenmodell Lollo Ferrari im of- falschen Versprechungen voll aufging. TV-Unterhaltung“ („Bild“) als „deutsch- fenen Sarg zeigen. Manchmal ist das Leben Sie avancierte zur teutonischen „Mama italienisches Sexsymbol“ (noch mal „Bild“) doch arg frauenfreundlich. Thomas Tuma

136 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Medien

INTERNET Die Lümmel aus Santa Clara Die Yahoo-Gründer Jerry Yang und David Filo bauten ihre Suchmaschine zu einem Medienkonzern modernen Typs aus: mit Inhalten und Shopping-Seiten. Schon spekuliert die Branche über einen Zusammenschluss nach dem Vorbild von AOL/Time Warner.

to the World Wide Web“ in Yahoo um- tauften. Das stand für „Yet another hierar- chical officious oracle“, doch Gefallen fand nur die Kurzform. Yahoo, dieser prollige Freudenschrei aus dem Bauch zweier Nerds heraus, traf den Nerv der Netzgemeinde. Die Netz- Fünf Jahre nach Firmen- gründung ist Yahoo die wohl Rakete beliebteste Einstiegsdroge Aufgerufene für Internet-Benutzer. Welt- Yahoo-Seiten 400 weit 120 Millionen Besucher im Internet, Tagesdurch- pro Monat registriert inzwi- schnitt in schen die Yahoo-Statistik. Millionen Über Yahoo kann man 300 heute Möbel ersteigern, Jobs ergattern, Blumen für die Liebste bestellen und, wenn 200 das alles nichts bringt, erneut auf Brautschau gehen. Wer will, bekommt eine eigene Webpage, die ist für Privat- 100 leute sogar kostenfrei. Immer mehr Internet-Be- sucher nutzen das Angebot. 1997 1998 1999 Flapsig, locker und jung, hat der Titel in Amerika fast schon Kultstatus. „Do you Yahoo?“, fragen Yang und Filo gelb auf Lila in der Werbung. Mit über 2000 Angestellten, 21 Auslands- filialen und 589 Millionen Dollar Umsatz hat sich Yahoo als feste Macht in der neu- en Wirtschaft etabliert, gleichzeitig aber das Image des frisch-frechen Start-ups be- halten. Wer jedoch auf der Suche nach der Firmenzentrale durch das Industriegebiet im kalifornischen Santa Clara kurvt und dabei nach einem originellen Gebäude Aus- schau hält, der wird enttäuscht. Am Central Expressway steht ein stinknormaler Ver-

E. KASHI / AGENTUR FOCUSE. KASHI / AGENTUR waltungskasten aus Stahl und Glas. Unternehmer Yang: Den Nerv der Netzgemeinde getroffen Im Foyer liegen Bonbons aus und Bil- deralben von Firmenfeten, die in Art und as für ein Glück, dass die beiden den USA so viel wie Hinterwäldler, Roh- Aufmachung an den letzten Dia-Abend bei noch so jung waren, als ihr Baby ling, Lümmel. Jeder Unternehmensbera- den Nachbarn erinnern. Auch die Stim- Weinen Namen brauchte. Welcher ter hätte diesen Spaß zweifellos mit einem mung inside Yahoo ist ungefähr so kultig Erwachsene hätte sich schon getraut, eine Lehrsatz aus der Marketing-Bibel beiseite wie die bei der Bundesversicherungsan- Firma Yahoo zu nennen? gewischt: Komische Firmennamen sind stalt für Angestellte. Lange Gänge führen Yahoos, das sind zum einen die affen- pubertär und nicht massenkompatibel. an einem Labyrinth von kleinen Arbeits- artigen, ziemlich triebhaften Wesen aus Zum Glück war kein Experte in der waben vorbei, in denen junge Leute fleißig Gullivers Reisen. Aber auch die großen Nähe, als der damals 27-jährige David Filo in ihre Computer tippen. Ein Teppich Ungeheuer, die man im amerikanischen und sein zwei Jahre jüngerer Freund Jerry dämpft die Schritte. Die Trennwände sind Hinterland findet: stiernackige Rednecks Yang in ihrem stickigen Wohnwagen auf mit Lärm schluckendem Textil überzogen. mit langen Gewehren und kurzen Ge- dem Universitätsgelände von Stanford ihr Immerhin: Die Chefs teilen die pastell- duldsfäden. Ein Yahoo zu sein bedeutet in Web-Seitenverzeichnis von „Jerry’s Guide farbene Biederkeit mit ihren Angestell-

140 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Medien A. FREEBERG Yahoo-Zentrale in Santa Clara: Kultig wie bei der Bundesversicherungsanstalt ten. Wer einen Blick über die Trennwand pendium dazu. Filo, sein stiller Kumpel aus schafft hatten, zogen Yang und Filo im in Jerry Yangs Verschlag wirft, sieht ihn Louisiana, beherrschte die Technik. Zu- Frühjahr 1995 ins erste eigene Büro. Sie meist mit dem Telefon in der Hand aufge- sammen machten sie sich daran, fleißig wie hatten Geld, eine gute Idee und keine Ah- regt hin und her tigern. Er winkt. Beschei- Buchhalter, den Cyberspace aufzuräumen. nung, wie man ein Unternehmen führt. Ein den sei er geblieben, sagen die Mitarbeiter, Die Ordnungswut wurde zum Hobby. Geschäftsführer musste her. jederzeit ansprechbar, und zu Weihnachten Sie suchten gute Web-Seiten und sammel- Ein Headhunter brachte Tim Koogle, der verteile er Geschenke. Yang selbst spricht ten sie unter verschiedenen Oberbegriffen: damals die Hightech-Firma Intermec lei- von Yahoo als seiner Familie, „ein Ort vol- Gesundheit, Wissenschaft, Sport, Freizeit. tete. „Ich fand eine Firma ohne Ge- ler junger Leute, die genauso gern wie ich Was ihnen besonders gefiel, landete im schäftsplan, ohne Umsatz, ohne Gewinn, die Welt verändern wollen“. Ordner „What’s cool“. Nach einem Jahr aber mit tollen Burschen und einer Soft- Yahoo also ist anders – so zumindest soll hatten sie bereits 20000 Einträge, und das ware, nach der die Leute verrückt waren“, es der Besucher sehen. Deshalb kleben gol- erinnert sich der heute 48-Jährige. Koogle dene Sterne statt gedruckter Namensschil- wurde Mitarbeiter Nummer sieben. „Ir- der an den Produktionszellen. Die Schreib- gendwie habe ich plötzlich begriffen, dass tische sind voll mit Spielzeug und Kult- das Internet etwas qualitativ völlig Neues Nippes. Beim Chef liegt ein zusammenge- schaffen würde.“ Im April 1996 brachte er rollter Futon in der Ecke, weil Computer- Yahoo an die Börse, sicherte sich 2 Prozent freaks, so will es das Klischee, bekanntlich der Anteile und den Gründern damals je unter dem Schreibtisch nächtigen. 20 Prozent. Als Anspielung auf den Goldjungen Seither ist die Aktie um rund 6900 Pro- Yang steht vor seiner Wabe ein überle- zent gestiegen. 203 Milliarden Mark ist bensgroßer Papp-Oskar. Zwei Eingangslu- Yahoo heute wert, bei einem Gewinn von ken weiter bei Vorstandschef Tim Koogle 260 Millionen Mark. Yang und Filo sind in- lehnen E-Gitarren an der Wand, bewacht Yahoo-Internet-Verzeichnis zwischen je 20 Milliarden Mark schwer, von einem Starschnitt von Darth Vader, Die Ordnungswut wurde zum Beruf Koogle rund 4 Milliarden. dem Fürsten der Finsternis aus „Star Der Vorstandschef muss grinsen, wenn Wars“. Der Ulk gehört hier offenbar zum Verzeichnis wuchs und wuchs. Um es über- man die Zahlen anspricht. Nein, Angst System und macht auch vor ernsten Kon- sichtlich zu halten, programmierte Filo eine habe er keine vor der viel beschworenen ferenzen nicht halt. Die kargen Räume sind Suchmaschine dazu. Die durchforstet das Kurskorrektur bei Internet-Aktien. „Wenn nach Eiscremesorten und Weinreben be- handverlesene Verzeichnis. Wird sie dort der Markt zurückgesetzt wird, werden nannt. Krisensitzung im Merlot! Strategie- nicht fündig, sucht sie im gesamten Inter- schließlich alle zurückgestuft, wir werden treffen im Gewürztraminer! net nach der gewünschten Information. unsere Position nicht verlieren.“ Des Gel- Das ganze Szenario wirkt, als würde ver- Schnell sprach sich die Neuigkeit auf dem des wegen müsse ohnehin keiner mehr ar- sucht, die Zeit zurückzudrehen, um die Campus herum. Im Mai 1994 zählten Ya- beiten, sagt Koogle. lockere Atmosphäre des Anfangs für im- hoos Seiten ein paar tausend Besucher täg- Warum er und seine Kollegen trotzdem mer festzuhalten, diesen Frühling 1994, als lich, im Dezember waren es schon über noch jeden Tag ins Büro kommen, häufig sich die beiden Studenten Yang und Filo 100000. Als der Uni-Computer den Ansturm 12 bis 14 Stunden lang? Weil alle dabei sein vor ihrer Abschlussprüfung drückten. Statt nicht mehr verkraftete und die Verwaltung wollen, wenn Geschichte gemacht wird: über Büchern zu büffeln, surften sie lieber die beiden Internet-Bibliothekare darum „Bei so viel Geld kann die Frage doch nur im World Wide Web – ein Vergnügen, das bat, sich einen anderen Rechner zu suchen, noch sein: Was arbeite ich? Wo kann ich gerade erst möglich geworden war durch beschlossen Filo und Yang, sich selbständig was gestalten, was verändern?“, sagt die Erfindung des Mosaic-Browsers, die- zu machen. Es war der ideale Zeitpunkt. Koogle. „Wir legen die Grundfeste für eine sem Geniestreich von Marc Andreessen, Denn weniger als die Idee war der Mo- neue Wirtschaft, wir bestimmen die Spiel- dem späteren Netscape-Gründer. Yang und ment entscheidend für den Erfolg. „Ein regeln. Und wir demokratisieren den In- Filo waren fasziniert von der unerforschten paar Jahre früher hätte es noch nicht genü- formationsfluss, ganz so, wie sich das die grenzenlosen Welt, die sich da auftat. Nur gend Web-Seiten und Internet-Benutzer ge- Woodstock-Generation immer gewünscht die Unordnung darin missfiel ihnen. geben. Ein bisschen später, und Microsoft hat. Wer Zugang zum Internet hat, hat Zu- Yang wusste, wie man ordnet. Als Sohn wäre darauf gekommen“, schreibt David gang zu Wissen.“ einer allein erziehenden Mutter verdiente Kaplan in seinem Buch „The Silicon Boys“. Vielleicht ist der wahre Grund für die der in Taiwan geborene Amerikaner als Mit einer Million Dollar Startkapital, die Arbeitswut auch nur die ständige Paranoia, Aushilfsbibliothekar Geld zu seinem Sti- sie sich über einen Risikokapitalfonds be- schon morgen könnte die Zukunft vorbei

142 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Medien

sein, eine Berufskrankheit der gesamten Branche. Wegen der enormen Geschwin- digkeit im Internet-Geschäft, so glauben viele, genügt ein kleiner Fehler, eine kur- ze Periode der Schwäche, ein falscher Rich- tungsentscheid, und die Wall Street kappt die Geldinfusionen. Mehrfach schon hatten Konkurrenten den Tod von Yahoo pro- phezeit: Fortgeschrittene Surfer, so das Ar- gument, legen sich auf Dauer ihre eigenen Lesezeichen an und brauchen kein vorge- kautes Verzeichnis. Auf diese Gefahr hat Yahoo mit einer Änderung des Angebots reagiert. Statt als Navigationshilfe versteht sich die Firma heute mehr als genereller Online-Dienst. Mehr Inhalte, mehr Tiefe, mehr Service sollen die Kunden zum Angebot locken. AP Firmenchefs Filo, Yang (1997) Der Ulk gehört zum System

Schon jetzt, sagt Koogle, mache das ei- gentliche Verzeichnis weniger als die Hälf- te der Aktivitäten aus. Deshalb hat Yahoo Partnerschaften mit etwa 1000 Firmen ge- schlossen, die Musik und Auktionen, Nach- richten und Börsenkurse liefern, alles eben, was den Kunden so oft und lange wie mög- lich im Dienst hält. „Stickyness“ heißt die- se neue Währung des Netzes, vergleichbar mit Auflage und Einschaltquoten in den traditionellen Medien. Denn wie dort verdient auch Yahoo sein Geld vor allem mit Werbung. Je länger möglichst viele Leute auf den Yahoo-Seiten kleben bleiben, umso teurer kann die Wer- bung verkauft werden. Gleichzeitig haben Firmen wie Yahoo einen enormen Vorteil, der traditionellen Medien versagt bleibt: Sie können den glä- sernen Kunden bieten, weil sie das Ver- halten jedes Einzelnen im Netz exakt ver- folgen. So genannte Cookies, die sich wie kleine Spione in den Computer von Netz- benutzern festsetzen, beobachten und speichern deren Surfstationen. Anonym, schwört Koogle. Doch der Werbende kann

146 der spiegel 13/2000 gegen Entgelt erfahren, wie viele Leute sei- ne Werbung wie lange gesehen haben, wie viele draufgeklickt haben und was dieser Kundenkreis sonst noch für Vorlieben hat. Das große Geschäft allerdings liegt im E-Commerce. Ein Unternehmen, das seine Web-Seite auf dem Yahoo-Server ablegen will, muss eine Gästegebühr zahlen. Zu- sätzlich kassiert Yahoo eine Kommission für jede Transaktion im Shopping-Bereich, was heißt: Bei jedem Verkauf verdient Yahoo mit. Auch deshalb ist eine hohe Kundenzahl für das Überleben so wichtig. Dafür, dass die Kunden nicht abtrünnig werden, sorgen die Yahoo-Markenpfleger. Sie sollen die neuen Angebote cool und lustig präsentieren, ganz nach dem Ge- schmack der Internet-Gemeinde eben. Zur Einführung der Shop- ping-Seiten etwa mietete Yahoo an einem hektischen Einkaufstag die Parkplätze ei- nes Einkaufszentrums und verschenkte sie an die stauge- nervten Käufer – mit der Emp- fehlung, sich den Stress in Zu- kunft zu ersparen und statt- dessen lieber bequem im Netz einzukaufen. Zur Vorstellung der Karrie- reseiten verloste Yahoo Pro- bejobs. Der attraktivste: Ge- schmackstester in der Eis- cremefirma Ben & Jerry’s. Zum Start der Netzauktionen versteigerte Yahoo Lippenab- drücke von Meryl Streep und Cindy Crawford. Guerrilla- Marketing heißen bei Yahoo solche Aktionen, die den Kult- status der Marke heben. Doch Imagepflege wird auf Dauer nicht ausreichen. Experten erwarten einen bal- digen Zusammenschluss von Yahoo und einem klassischen Medienunternehmen nach dem Vorbild AOL/Time Warner. Noch winkt Koogle ab: Yahoo sei wie die Schweiz, unabhängig und frei. Doch das Gerücht, eine Verbindung mit Rupert Mur- dochs Medienimperium könne schon bald unterschriftsreif sein, hält sich ziemlich hartnäckig. No comment, heißt es dazu im Hause der Lümmel aus Santa Clara. Die Allianz würde durchaus Sinn ma- chen: Bei einer Fusion könnte Yahoo, das auf drahtlosen Internet-Zugang setzt, Mur- dochs Satelliten nutzen. In jedem Fall jedoch will Yahoo, anders als AOL, auch in Zukunft auf Gebühren verzichten. Schon deshalb, weil Koogle das Abonnentengeschäft schlicht zu mager ist. „Der Internet-Zugang ist doch nur eine Frage der Technik, und die wird auf Dau- er immer billiger werden“, sagt er und lästert zuckersüß in Richtung des Haupt- konkurrenten AOL: „Mit dem Verkauf von Zugang kann man sicherlich ein tolles klei- nes Unternehmen machen. Wir aber wol- len ein tolles großes.“ Michaela Schiessl der spiegel 13/2000 147 Medien

DIGITALES BUCH Schauder auf Verlangen Zum ersten Mal veröffentlichte ein Bestseller-Autor sein neues Erzählwerk zuerst und ausschließlich im Internet: Horror-Meister Stephen King. Der sensationelle Erfolg dieser Premiere markiert für die Verlagsbranche den Beginn einer neuen Ära.

lig überwältigt“, sagte deshalb der Simon- &-Schuster-Verleger Jack Romanos, „nie- mand hat vorausgesehen, dass so viele Leu- te das geschriebene Wort in einer papier- losen Form akzeptieren.“ Kings digitale Publikation demonstriert spektakulär, dass das immer in die Zukunft verschobene Zeitalter des elektronischen Buchs nun doch angebrochen ist. „Das war ein Aha-Erlebnis für die ganze Branche“, sagt Georg Reuchlein, Chef des Münchner Goldmann-Verlags, „es hat deutlich ge- macht: Jeden Tag, den man jetzt verstrei- chen lässt, wird man später teuer bezahlen müssen.“ Lange überließ die deutsche Buch- branche die virtuelle Welt den Dilettan- ten. Zuerst boten Hobby-Autoren jene Tex- te auf privaten Internet-Seiten zum Lesen und Herunterladen an, die sie bei keinem Verlag unterbringen konnten oder wollten: „Das Dope hatte Pits Nerven gerade sanft King-Präsentation im Internet: So schnell wurde Literatur noch nie zum Verkaufshit aufgefächert, als er Manuelas ersten Schrei hörte. Sein Magen krampfte. Alles war zu. mmer wenn ein neuer Roman von Ste- Er kannte diesen gurgelnden Ton in ihrer phen King erscheint, hat der Buchhan- Stimme. Er wusste, was er zu bedeuten Idel gute Laune: Ein Mann rennt durch hatte“ – so beginnt beispielsweise eine ein abgelegenes Hotel und will seiner Frau Kurzgeschichte auf der private2me.de- mit einer Axt den Schädel spalten; ein Homepage. Unter wissdorf.com ist „Ham- Mädchen entdeckt seine psychokinetischen let – Ein Romananfang“ zu lesen: „In sol- Kräfte und rächt sich an seinen Peinigern; chen Nächten ging der Spuk meist in den ein Fan zertrümmert einem gefesselten Köpfen um. Und nur dort – so dachte Ho- Schriftsteller mit dem Hammer die Schien- ratio, als er die Stufen zum Wehrgang beine – fast jedes der mehr als fünfzig nahm. Sein eisenklirrender Schritt schallte Schauerwerke des Amerikaners war ein hohl von den engen Wänden wider.“ Bestseller und damit ein schönes Geschäft In den USA geht es professioneller zu. für den Buchhandel. Da haben viele etablierte Autoren wie Doch nun ist King für die Buchhändler Stewart O’Nan oder die Krimi-Schreiberin selbst zum Horror geworden. Seine Erzäh- Janet Evanovich längst eigene Homepages lung „Riding the Bullet“ veröffentlichte der – mit bis zu 300000 Besuchern pro Monat. Schriftsteller vorvergangene Woche aus- In Deutschland nutzen nur wenige jünge- schließlich im Internet. Innerhalb von 24 re oder jung gebliebene Schriftsteller das Stunden luden sich 400000 Fans die 68-sei- Netz zur Selbstpromotion, zum öffentli- tige Gruselgeschichte über einen Anhalter, chen Schreiben, Diskutieren oder Schwa- der neben einem Toten am Steuer durch dronieren. Rainald Goetz produzierte 1998 Maine fährt, auf ihren Computer – kosten- das Internet-Tagebuch „Abfall für alle“,

los über die Web-Site des Netz-Buchhänd- PRESS / ACTION REX FEATURES das demokratisch und kostenlos täglich lers Amazon.com, für umgerechnet fünf Horror-Schriftsteller King mitzulesen war. Matthias Politycki schrieb, Mark bei der Konkurrenz Barnesand- 400000 Downloads an einem Tag unterstützt von der Kultursendung „As- noble.com und einigen anderen Anbietern pekte“, unter der Beobachtung und auch im Netz. Die Erzählung kann am Bild- teratur noch nie zum Bestseller geworden. gemeinsam mit Internet-Surfern den Ro- schirm gelesen, im Heimcomputer gespei- Dauer-Hitschreiber wie King oder wie die man „Marietta“. Elke Naters gründete mit chert, aber auf Grund eines technischen US-Thrillerautoren Tom Clancy und John Sven Lager die Webseite ampool.de, auf Tricks nicht ausgedruckt werden. Grisham verkaufen maximal 75000 Exem- der ausgewählte Kollegen über sich, das Die Buchhandlungen gingen leer aus: plare am ersten Erscheinungstag, wenn Leben, das Leiden und den Rest schrei- ein Schreckenstag. Denn so schnell ist Li- auch für 50 Mark pro Stück. „Ich bin völ- ben, auf der dazugehörigen loop-Seite darf

148 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Medien

verfügbar. Sie in das Lesegerät zu laden dauert ein bis zwei Minuten – in der Zeit kann niemand in eine Buchhandlung gehen und einen Roman kaufen. Die nächste Ge- neration des Rocket-E-Books, die noch in diesem Jahr ausgeliefert werden soll, wird außerdem gleichzeitig Terminkalender sein und Musik abspielen können – bei einem geplanten Preis von 99 Dollar. Microsoft arbeitet derweil an einem Programm, das die Les- barkeit der Schrift verbessert. „Reizvolle Möglichkeiten“ sieht der Goldmann-Verleger Reuchlein daher in dem neuen Buchspeicher: „Wer zehn Bücher in den Urlaub mitnehmen will, braucht nur noch ein kleines Gerät zu tragen.“ Sehr praktisch sei das digitale Buch beispielswei-

W. BELLWINKEL W. se auch für Anwälte: Sie müssten Schriftstellerin Naters: Leben, Leiden und Selbstpromotion am virtuellen Pool keine dicken Gesetzeskommen- tare mehr herumschleppen und das Publikum gegenpöbeln. In virtuellen Trotz konstant steigender Verkaufszah- könnten ihre Literatur außerdem schnell Salons treffen sich Autoren und Leser zum len schreiben alle Internet-Buchhandlun- und unkompliziert aktualisieren. Immer- Plausch – zum Beispiel im „Berliner Zim- gen noch rote Zahlen. Barnesandnoble.com hin hält Goldmann schon 60 deutsche und mer“ oder im „Literatur-Café“. hofft aber, im Jahre 2002 die Profitzone zu internationale Titel als E-Book bereit, und Ungedruckten Hobbyschreibern oder erreichen. für jeden musste Reuchlein mit Autoren Autoren von Doktorarbeiten eröffnet die Im Juni wird in Deutschland eine neue und Agenten die elektronischen Rechte digitale Welt noch weitere Chancen: Der Lese-Ära anbrechen. Dann bringt hier die erst verhandeln. Hamburger Grossist und Internet-Händler US-Firma NuvoMedia als erste ein Lese- Die meisten Verlage halten sich mit Libri bietet an, für rund 500 Mark die Tex- gerät auf den Markt, das „Rocket-E-Book“ ihrem digitalen Engagement noch zurück. te digital aufzubereiten und sie auf Bestel- – einen rund 600 Gramm schweren Com- „Ich glaube, nur in Ausnahmefällen sind lung, als so genanntes Book on Demand, puter, klein wie ein Taschenbuch, der 50 Leute bereit, 400 Buchseiten auf einem auch in der Auflage von einem einzigen Bücher mit je 400 Seiten speichern kann. E-Book-Display zu lesen“, sagt Hans-Peter Exemplar zu drucken. Etwa 500 Mark wird das Gerät kosten, das Übleis, Geschäftsführer der Droemer-Welt- Wolfram Göbel, früher Verleger von Ull- in den USA seit anderthalb Jahren im bild-Verlagsgruppe. Tatsächlich wurden in stein und Vater des Dünndruck-Ta- Handel ist. den USA bisher erst schätzungsweise 10000 schenbuchs, geht jetzt als erster Verlag mit 1998 boten die Internet-Buchhändler 140 Rocket-E-Books verkauft. Vor allem aber 20 Krimis on Demand auf den Markt. „Es verschiedene E-Books zum Herunterladen ist Übleis überzeugt, dass nur die Bücher ist Bewegung in eine Szene gekommen, an, heute sind es 6000 Titel. Sogar Bücher weniger Autoren zum neuen Medium pas- die lange die Marktchancen der elektroni- von der „New York Times“-Bestseller- sen: In Deutschland komme da gerade mal schen Medien nicht gesehen hat“, sagt Gö- Liste und zahlreiche Neuerscheinungen der Teenie-Autor Benjamin Lebert in Fra- bel. Tatsächlich plant die amerikanische sind in Amerika inzwischen als E-Book ge; in den USA sehe er Chancen für Tom Buchhandelskette Borders, solche Schnell- Clancy. druckmaschinen in jeden ihrer Läden zu Dass Stephen King als erster Bestseller- stellen, um sich in einem stagnierenden Autor ein Werk ausschließlich digital ver- Buchmarkt bloß keine Anteile von gewitz- öffentlicht, sei, sagt Übleis, „nicht weiter ten Kleinunternehmern abnehmen zu las- überraschend“. King sei „extrem innova- sen – auch wenn jedes Gerät derzeit 40000 tiv“, schließlich habe er als erster eine Dollar kostet. Kurzgeschichten-Sammlung exklusiv als Erste Erfahrungen mit den Leiden der Audio-Version herausgebracht und mit Zuspätgekommenen in der schnellen „The Green Mile“ den Fortsetzungsroman Internet-Welt hatte nämlich schon der modernisiert – der, ganz konservativ als Konkurrent Barnes & Noble gemacht. Einteiler, derzeit im Kino zu sehen ist. Als der 1997 seinen digitalen Laden eröff- Kings Internet-Erzählung „Riding the nete, hatte der Amazon-Gründer Jeff Be- Bullet“ ist auf eine unbeabsichtigte Wei- zos zwei Jahre Vorsprung: 1999 machte se rückschrittlich – sie ist nur auf einem Amazon.com mit 1,6 Milliarden Dollar fast PC lesbar, Besitzer von Macintosh-Com- sechsmal so viel Umsatz wie der Nachzüg- putern wurden aus der Gruselwelt ausge- ler. In Deutschland war Amazon.de schnel- schlossen. ler und erfolgreicher als die Bertelsmann- Diese werden also in den Laden Konkurrenz Bol.de: 51,3 Millionen Mark gehen und dort das kaufen müssen, Umsatz allein im vergangenen Quartal – für das sich der Rocket-E-Book-Erfin- Bol.de schaffte es im ganzen Jahr insge- der Martin Eberhard einen Schauer- samt nur auf einen zweistelligen Millio- Lesegerät Rocket-E-Book namen ausgedacht hat: ein „Toter-Baum- nenbetrag. Speicher für 50 Schmöker Buch“. Marianne Wellershoff

152 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

RELIGIOSITÄT „Raststätte für die Seele“ Klaus Vornberger, 40, Pfarrer der Autobahnkirche St. Christophorus in Baden-Baden-Sandweier, über Rasen und Rasten

SPIEGEL: Herr Vornberger, werden Auto- bahnkirchen noch gebraucht? Vornberger: O ja. Sie erfreuen sich gro- ßer Beliebtheit. Demnächst werden so- gar zwei neue Gotteshäuser eingeweiht. SPIEGEL: Fürchten die anderen Kirchen- gemeinden nicht die Konkurrenz? Vornberger: Nein, die Gemeinden haben grundsätzlich nichts gegen Autobahn- kirchen. Sie dürfen bloß nicht zu viel kosten. SPIEGEL: Wann ist bei Ihnen Hochsaison? Vornberger: Immer dann, wenn viele

Menschen auf Achse sind, also Weih- (re.) BARRY X (li.); T. / STUDIO GAMMA FOTOS: nachten, aber auch zu Ostern. Modetrend Silbermetallic SPIEGEL: Beruhigt der Gottesdienst MODE auch die chroni- schen Raser? Vornberger: Es ist Silber aus der Flasche wissenschaftlich erwiesen, dass die n der Mode beginnt das neue Jahrtausend metallisch. Silberne Kettenhemdchen, Einkehr in Auto- IStoffe mit schillernden Hologramm-Effekten, spinnwebenfein gehäkelte Lu- bahnkirchen auch rexfädchen und versilbertes Leder fehlen in kaum einer Designer-Kollektion. Nicht ein Beitrag zur der Astronauten-Look der Siebziger feiert seine Renaissance, sondern Glamour und Verkehrssicherheit Eleganz früherer Jahrhundertwenden. Der edelmetallische Look kommt die Käu- ist. Nach einem ferin teuer zu stehen, es sei denn, sie bedient sich eines einfachen Tricks: Mit ein Stopp wird die paar Dosen „Britannia Silber“-Acrylfarbe kann sie sogar eine ausgediente Leder- Fahrweise deutlich jacke prima selbst versilbern. Und das Ergebnis kann mit den Kreationen von defensiver. Ich Alexander McQueen, Chanel oder Givenchy glänzend mithalten. weiß allerdings nicht, wie viele Kilometer das vor- hält.

D. SAYLAN / ZEITENSPIEGEL D. SAYLAN SPIEGEL: Dennoch HAARE und psychologischen Tests unterzog. Vornberger bleiben Autofah- Ergebnis der Studie: Die Testpersonen rer selten länger Zausige Zeiten fühlten sich an diesen „Bad Hair“-Ta- als fünf Minuten. Reicht das für einen gen eher ungesellig und waren schnel- Besinnungs-Drive-In? enn schon morgens die Frisur ler in peinliche Situationen zu bringen. Vornberger: Ja. Die Menschen wollen Wnicht ordentlich sitzen will, ist Allerdings scheinen Männer von solch schnell in die Kirche springen und dann häufig auch der Rest des Tages außer haarigen Situationen weitaus stärker weiter. Deshalb gibt es bei uns nur we- Façon. Die Angelsachsen kennen für betroffen zu sein als Frauen. Bei ihnen nige Gottesdienste. Geschätzt werden derartig zerzauste Zeiten sogar einen wirkt offenbar ein die Ruhe und Anonymität. Hier ist man eigenen Begriff: „Bad Hair Days“; und Frisuren-Fiasko mit seiner Religiosität allein. Wir sind diese kritischen Tage haben mitunter weitaus extremer eine Raststätte für die Seele. sogar unangenehme psychische Wir- auf das Selbstbe- SPIEGEL: Für viele Gläubige passen Auto kungen. Das hat nun die Yale-Professo- wusstsein und führt und Kirche nicht zusammen. rin Marianne La- zu größerer Unsi- Vornberger: Da irren sie. Kirchen am France herausge- cherheit. Und da- Wegesrand haben eine lange Tradition. funden, die 120 mit, so die Gelehr- Und wenn man an die Wallfahrten Männer und Frau- te LaFrance, sei denkt, gehören Kirche und Unterwegs- en im Auftrag des nun auch die An- Sein geradezu zusammen. Das hat sich Shampoo-Herstel- nahme widerlegt,

in der mobilen Gesellschaft nicht ge- lers Procter & REUTERS Frauen legten mehr ändert. Für Reisende ist so eine Rast Gamble über ihr „Bad Hair“-Opfer Wert auf ihr Äuße-

von unschätzbarem Wert. Aussehen befragte / DPA PA Blair, Biedenkopf res als Männer.

der spiegel 13/2000 161 Gesellschaft

JUGEND Leicht verkrampfte Zuversicht Leistungsbereit und ziemlich optimistisch macht sich die Generation 2000 auf den Weg – so ein zentrales Ergebnis der neuesten Shell-Studie. Aber die Welt der jungen Leute ist noch sehr viel bunter – und zeigt ihre Schatten: Das Interesse an Politik sinkt, die Ausländerfeindlichkeit sitzt tief.

m Abend darf es gern ein Sinfonie- Als Leitfaden durch die komplexe Wirk- konzert sein. Für den Genuss ge- lichkeit dieser Generation 2000 liegt jetzt Apflegter Live-Musik im Wiesba- eine neue Shell-Jugendstudie vor, die von dener Kurhaus hat sich Laura Diehl, 18, einem Forscherteam um den Frankfurter ein Abo besorgt. In der Nacht sucht die Sozialwissenschaftler Arthur Fischer er- Schülerin dagegen eher die harten Töne: stellt worden ist. Für ihr 1,7 Millionen Mark Jugendliche Disco-Besucher, Freundespaar Laura, „Manchmal will ich einfach nur abtanzen“, teures Werk im Auftrag der deutschen sagt sie, da hat sie „nichts gegen Techno“. Tochter des Öl- und Energiekonzerns ha- Als wichtigste Grundstimmung regi- Auch tagsüber erweitert Laura schwung- ben die Experten 4546 Jugendliche über ihr strieren die Wissenschaftler in der Millen- voll ihren Horizont. Auf der Theaterbühne Leben ausgefragt – darunter erstmals jun- nium-Generation eine „gewachsene Zu- ihres Gymnasiums führt sie nach einigen ge Leute ohne deutschen Pass, vor allem versicht“. Die Jugendlichen finden die Hauptrollen inzwischen selbst Regie; Kul- Türken und Italiener*. Welt, so wie sie ist, ganz in Ordnung und turmanagement schwebt ihr als Berufsziel Die inzwischen 13. Shell-Studie seit 1953, haben zum großen Teil das Gefühl, sie kä- vor. Beim Abitur im nächsten Monat hält die wie ihre vier Vorgängerinnen haupt- men schon irgendwie durch: „Von Welt- sie eine glatte Eins als Durchschnittsnote sächlich durch Fischers Psydata-Institut er- verbesserung ist nichts zu sehen, auch für „möglich“, aber auf eine gute Party arbeitet worden ist, bietet einen einzigar- nichts von revolutionären Utopien.“ will sie deshalb nicht verzichten: „Ich kann tigen Schatz von Daten aus der Welt der Die Hälfte der deutschen Jugendlichen auch mal saufen, ich bin ja Halb-Finnin.“ 15- bis 24-Jährigen. Den Forschern ging es sieht ihre persönliche Zukunft positiv, we- Lauras Freund, der 24-jährige Student „nicht um bloße Meinungen“, wie Psyda- niger als zehn Prozent haben das neue Jörg Lichtenberg, hat auch ziemlich viel ta-Studienleiterin Yvonne Fritzsche sagt: Jahrtausend mit düsteren Mienen begon- um die Ohren. Im Frankfurter „Venture „Wir versuchen, an die tieferen Überzeu- nen. Vor drei Jahren, in den Zeiten der Lab“, einem Internet-Gründerzentrum, gungen heranzukommen.“ Rekordarbeitslosigkeit, hatten die Forscher feilt der angehende Betriebswirt mit sechs noch erheblich mehr Pessimismus gefun- Gleichgesinnten am großen Auftritt der ge- * Einzelergebnisse unter www.spiegel.de. den (siehe Schaubild). meinsamen Firma „Snacker.de“. Noch ist alles geheim, aber wichtig genug, um die Seminare eine Weile sausen zu lassen: „Die Mehr Leistung, weniger Politik Shell-Studie über die 15- bis 24-Jährigen Sache hier ist spannender.“ „Wie stellst du dir deine Zukunft vor?“„Ich betrachte mein Leben als eine Laura und Jörg könnten so etwas sein Aufgabe, für die ich da bin und für die wie das Idealpaar ihrer Generation – selbst- WESTDEUTSCHLAND ich alle Kräfte einsetze. Ich möchte in bewusst und vielseitig, pragmatisch und eher zuversichtlich meinem Leben etwas leisten, auch weltgewandt. Doch so einfach ist der Nach- 1991 61 wenn das oft schwer und mühsam ist.“ wuchs nicht zu fassen, ein paar Schlag- 1996 35 worte genügen nicht mehr. 1999 50 männlich Pech für die Eltern, die sich im Gefolge eher düster weiblich einiger 68er-Helden als rebellische Gene- 1991 5 ration etabliert haben: Ihre Kinder machen WESTDEUTSCHLAND 1996 15 nicht nur einiges anders als sie. Die jungen 1991 41 1999 9 Leute entwinden sich auch entschiedener 1999 50 als je zuvor dem Zugriff der Alten unter ir- gendeinem aufgedrückten Sammelnamen – OSTDEUTSCHLAND 1991 48 von der angepassten, der hedonistischen eher zuversichtlich 1999 52 oder der überflüssigen Generation kann 1991 53 ernsthaft keine Rede mehr sein. 1996 35 OSTDEUTSCHLAND Ach, die Jugend. Folgt auf die wunder- 1999 50 1991 50 baren Jahre, als die Etiketten noch gehal- eher düster 1999 52 ten haben, das große Rätselraten? 1991 3 1991 62 162 1996 12 1999 8 1999 58 FOTOS: EPD (li.);FOTOS: / ARGUM (o.); STOCKMEIER F. (u.) BAUER W. Jörg: Junge Pragmatiker, die manchmal „einfach nur abtanzen“ wollen

Vom Höhepunkt der Zuversicht kurz Osten groß geworden ist, hat klare Vor- unteren 900000 höchstens in ihren Träu- nach der Wiedervereinigung aber ist die stellungen von ihrer Zukunft. „Auf jeden men wiederfinden. Selbst wenn sie einen Jugend auch heute noch ein gutes Stück Fall“ strebt sie einen Beruf an, „in dem Computer hätten, könnten sie nicht viel da- entfernt. Die frohgemuten Gesichter der man geregelte Arbeitszeiten hat“; eine mit anfangen – es hat ihnen keiner gezeigt, jungen Pragmatiker wirken, so die For- Stelle als Pharmazeutisch-Technische Assis- wozu die Kisten eigentlich gut sind. scher, „oft angestrengt und bemüht“. tentin würde ihr gut gefallen. Die junge Ohnehin widerlegen die im vorigen Jahr Kaum einer träumt vom freien Leben Berlinerin ist sicher: „Ich werde schon viel erhobenen Daten manches Klischee über auf der fernen Insel. Lieber macht sich der arbeiten, allein wegen meiner Kinder.“ Sie die Kids am Computer: 44 Prozent der Ju- Nachwuchs fit für den Arbeitsmarkt – will zwei, mindestens. „Wenn es finanziell gendlichen besitzen gar keinen (siehe leicht verkrampft im Hier und Jetzt. Der stimmt, könnte ich mir auch ein drittes Schaubild Seite 164). Junge Italiener und neue Ehrgeiz zeigt sich in einem gestei- Kind leisten“, überlegt Eileen. Türken loggen sich daheim noch seltener gerten Leistungswillen, der im Osten sogar Mehr denn je streben die Mädchen eine ein als ihre deutschen Altersgenossen. noch stärker ausgeprägt ist als im Westen. Balance zwischen Beruf und Familie an, Auch das Internet kann, positiv be- „Bei mir steht immer im Zeugnis, dass fanden die Forscher heraus. Die frohe trachtet, noch ordentlich wachsen. Nur ein ich ein sehr selbstbewusstes Mädchen bin“, Hoffnung der Teenies, dass ihnen der Viertel der jungen Leute, die angeblich mit sagt Eileen Zwickert und fühlt sich korrekt Gleichklang gelingen wird, geht jedoch ir- der neuen Technik groß werden, ist nach beurteilt. Die 15-jährige, die im Berliner gendwann verloren. Bei den 22- bis 24- den Shell-Daten schon drin. Klare Unter- jährigen Frauen zeigt sich ein Knick, sie schiede zeigen sich zwischen Großstadt (30 geben in traditioneller Weise der Familie Prozent Nutzer) und Land (21 Prozent), Angaben in Prozent die Prioriät. Studienleiterin Fritzsche alten Bundesländern (27 Prozent) und neu- „Ja, ich interessiere mich für Politik.“ seufzt: „Nicht alle Blütenträume reifen.“ en (18 Prozent). Schatten entdecken die Wissenschaftler Generell erklären knapp zwei Drittel der WESTDEUTSCHLAND in vielen der jungen Biografien. Besonders Befragten, sie seien „etwas“ oder „sehr“ 1996 46 gefährlich für die Lebenseinstellung wird es an Technik interessiert. Wie zu Omas Zei- 1999 45 offenbar, wenn der Vater seine Arbeit ver- ten aber ist Technik eher Männersache – liert: Die Zukunft erscheint diesen Ju- beim deutschen wie beim ausländischen OSTDEUTSCHLAND gendlichen trüber als anderen, die Hürden Nachwuchs. Die Jungen zeigen sich zu 42 1996 50 auf dem Weg zum eigenen Erfolge wirken Prozent „sehr“ an Technik interessiert, die 1999 35 höher. Girlies nur zu 5 Prozent – es sei denn, es Werner Fuchs-Heinritz, Co-Autor der geht ums drahtlose Telefonieren. Beim „Welche politische Gruppierung Studie, kommt zu dem Schluss, dass rund Handy-Besitz folgen zumindest die deut- steht dir am nächsten?“ * * zehn Prozent der Jugendlichen bereits tief- schen Mädchen (23 Prozent) ihren männ- Befragung Mitte 1999 1996 1999 greifend „verunsichert und ratlos“ sind: lichen Altersgenossen (33 Prozent) in ei- SPD 20,0 21,2 „Sie haben wenig Möglichkeiten, sich dem nem vergleichsweise geringen Abstand. CDU/CSU 15,4 21,7 Wandel in allen Lebensbereichen anzu- Entgegen einem verbreiteten Zerrbild B’90/Die Grünen 21,6 11,1 passen, geschweige denn, darin ihre Chan- sind junge Leute, die häufig am Computer PDS 2,8 2,9 ce zu nutzen – und sie wissen das.“ hocken, durchaus gesellig und menschlich Auf den glamourösen Bildern einer rund- aufgeschlossen. Eher weisen dagegen jene, FDP 2,1 2,0 um digitalisierten, im Internet beheimate- die von Technik nichts wissen wollen (oder Republikaner 2,4 1,8 ten Power-Generation können sich diese können), soziale Defizite auf. Die berüch- *von 100 abweichende andere 2,5 3,5 Summen sind rundungs- der spiegel 13/2000 163 bedingt keine 32,7 35,9 Gesellschaft

von Wahlenthaltungen aus schierem Des- interesse: 31,6 Prozent der jungen Ossis bekennen sich jetzt dazu, vor drei Jahren waren es erst 19,4 Prozent. Im Westen tei- len nun schon 26,7 Prozent der Jugendli- chen diese Einstellung, zuvor lag ihr Anteil bei 18,5 Prozent. Fischer zieht den Schluss: „Die Jugendlichen entfernen sich nicht etwa bewusst vom politischen System, sie lassen es mehr und mehr links liegen.“ Silvia Menezes, 17, aus Halle findet: „Po- litik ist ’ne ganz komische Sache.“ Ihre Skepsis kann die Schülerin mit den gestyl- ten Rastalocken leicht begründen: „So lan- ge es gut geht, interessiert es mich nicht.“ Natürlich hatte Silvia, deren Eltern aus Mosambik in die damalige DDR kamen, in den Tagen der Flutkatastrophe ein Ohr für die Nachrichtensendungen. Aber auch die- se Neugier lässt irgendwann nach: „Meine

B. BOSTELMANN / ARGUM B. BOSTELMANN Verwandten sind, ein Glück, nicht von der Forscher Fischer, Fritzsche, Fuchs-Heinritz, Münchmeier: Politik bleibt links liegen Überschwemmung betroffen“, sagt sie und zieht weiter mit ihrer Clique zum Burger tigten „Cyber-Zombies“ und „Internet- teresses der Jugend – und der Absturz dau- King, den in der Gruppe alle „BK“ nen- Junkies“ tauchen in den Shell-Daten nicht ert an. Der Sinn für Politik hat sich, wie die nen, englisch ausgesprochen. auf, vielmehr entpuppen sich die „Heavy Zahlen zeigen, vor allem im deutschen Wenn die Jugendlichen überhaupt noch User“ als recht umgängliche Zeitgenossen. Osten dramatisch zurückentwickelt (siehe eine politische Partei ernst nehmen, dann Psydata-Studienleiterin Fritzsche kommt Schaubild Seite 163). eher eine große, etablierte. Im Drei-Jahres- zu dem Ergebnis: Die Tekkies „leben häu- Bestätigt findet Psydata-Chef Fischer Vergleich konnte die SPD etwas, die Uni- figer in Partnerschaften und führen ein Le- diesen Trend in der deutlichen Zunahme on deutlich zulegen (allerdings stammen ben mit reichhaltigen Freizeitaktivitäten“. die Daten aus den Tagen vor der CDU-Fi- Zwar streben sie besonders energisch den nanzaffäre). Brutal abgestraft werden die beruflichen Erfolg an, offensichtlich aber Vernetzt und verkabelt Grünen – die Affinität junger Leute zur nicht um jeden Preis – Fritzsche entdeck- Angaben in Prozent, 15- bis 24-Jährige Öko-Partei hat sich praktisch halbiert. te in dieser Gruppe „überdurchschnittlich „Wie lange siehst du an Werktagen fern?“ CDU und CSU profitieren, wie Fischer starke Verfechter von gesellschaftlicher 1 Stunde 22 analysiert, von ihrem Image als Parteien Teilhabe und von sozialer Integration“. „der ökonomischen Moderne, der techno- Der Frankfurter Jungunternehmer Jörg, 2 Stunden 33 logischen Innovationen und damit des ge- der zur Zeit alle Energie in sein Online- 3 Stunden 21 sellschaftlichen Fortschritts“. Wer sich ge- Projekt „Snacker.de“ steckt, sagt von sich mehr als 18 wappnet fühlt, in der globalen Welt mit- selbst: „Ich bin überhaupt kein Technik- 3 Stunden spielen zu können, neigt am ehesten zur freak.“ Eher begeistert den 24-Jährigen die „Ja, ich besitze ein Handy.“ Union. Das Bild der SPD-Klientel kontu- Aussicht, „bis 30 Internet zu machen und riert sich dagegen „nur unscharf“ – Fischer danach Filme“. Italiener 41 sieht viele „ähnliche Werte“ wie bei den Manchmal staunt er noch, wie leicht es Türken 28 CDU/CSU-Anhängern, unterfüttert mit für aufgeweckte Youngster ist, an Kapital Deutsche 28 „Resten eines traditionell sozialdemokra- zu kommen: „Da findet ein Generations- tischen Milieus früherer Jahre“. wandel statt. Die Herren der alten Struk- Dass die Grünen derart einbrechen, turen hätten sich früher nie mit einem wie führt Fischer nicht nur auf handwerkliche mir an einen Tisch gesetzt. Heute wollen Schwächen oder Vermittlungsprobleme sie einem alle Geld geben.“ Doch nur Ab- „Hast du zuhause einen Computer?“ zurück, sondern auf den Kern der Pro- kassieren ist nicht sein Ding, Jörg hält am Ja, ich nutze grammatik: „Viele Jugendliche erleben die- Traum vom Filmemachen fest. Sechs Dreh- ihn allein 30 se Partei und ihre Positionen als sehr ne- bücher hat er schon angefangen, die will er Ja, ich nutze ihn gativ bestimmt.“ „unbedingt fertig schreiben“. mit anderen 25 Im Abwärtstrend liegen auch die nicht- Wenn er mal dafür Zeit hat. Jetzt läuft Nein 44 staatlichen Organisationen. Zwar erreichen Jörg schon „seit drei Tagen in denselben Menschenrechts- und Umweltverbände Klamotten“ herum. Als unverhofft einer noch immer höhere Sympathiewerte als der deutschen Internet-Gurus am Telefon „Wofür benutzt du deinen Computer?“ staatliche Instanzen. Aber die Zeiten, als Mehrfachnennung möglich ist, bucht er trotzdem sofort den nächsten weiblich männlich Greenpeace-Kämpfer wie Popstars ange- Flug nach Berlin, um die Chance zu einem himmelt wurden, sind vorbei. Textverarbeitung 75 67 persönlichen Gespräch zu nutzen. Gut, Auf einer Skala von 1 („sehr wenig Ver- sagt Jörg, dass er „eine sehr verständnis- Computerspiele 39 66 trauen“) bis 5 („sehr viel Vertrauen“) volle Freundin“ hat. Und tschüss. Tabellenkalkulation 33 36 mussten die Umweltschützer den stärksten Die Politik spielt in Jörgs Leben keine Lernprogramme 30 27 Rückgang hinnehmen, ihr Wert sank bin- große Rolle, und das geht den meisten sei- nen drei Jahren von 3,8 auf 3,5. Jetzt lie- Internet 25 34 ner Altersgenossen ebenso. Schon die 1997 gen sie, in der Rangfolge vertrauenswürdi- veröffentlichte Shell-Studie verzeichnete Sprachprogramme 20 17 ger Instanzen, nur knapp vor Gerichten einen drastischen Rückgang des Politik-In- (von 3,3 hoch auf 3,4), Menschenrechts-

164 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft gruppen (herunter von 3,5 auf 3,4) und Polizei (hoch von 3,1 auf 3,3). Am Ende rangie- ren wie zuvor Kirchen und Parteien (beide leicht verbes- sert von 2,4 auf 2,5). Vor allem in der ehemali- gen DDR verlieren die Kämp- fer für eine bessere Welt er- heblich an Boden – aus Sicht der Jugendlichen dort hat der ökologische oder humanitäre Einsatz „keine Bedeutung für ihr derzeitiges oder künftiges Leben“ (Fischer). Auch krawalliges Marke- ting weckt oft eher Skepsis: „Umweltorganisationen wie Greenpeace sind mir zu mili- tant“, erklärt Stefan Wappler,

21, aus Leipzig. Stefan, der in BAUER W. FOTOS: seiner Heimatstadt Volks- Ausländische Jugendliche Silvia, Alev: Hin- und hergerissen zwischen den Kulturen wirtschaft studiert, sieht sich zwar politisch auf Seiten der Grünen. Das terschied. Doch der Graben zwischen alter lität wird von einer heftigen Abwehrbe- hindert ihn aber nicht daran, sich von sei- BRD und früherer DDR bleibt tief. Die da- reitschaft gegen Fremde begleitet. Auslän- ner Zukunft einen ziemlich konservativen von geprägten Unterschiede in den Aussa- derfeindliche Töne sind, wie auch die Shell- Steckbrief zu malen. gen der Jugendlichen, resümiert Fischer, Studie belegt, im Osten deutlich lauter als Spätestens mit 35 Jahren würde er „gern „fallen so eklatant aus, dass sie Differenzen im Westen. In den neuen Ländern, wo der sechsstellig im Jahr verdienen“, denn: „Ich zwischen den Bundesländern überlagern“. Anteil der Nichtdeutschen an der Wohn- hoffe auf ’ne S-Klasse und ein eigenes Haus Kein Grund zur Panik, so scheint es. Im- bevölkerung bei 2,2 Prozent liegt (im Wes- oder eine eigene Wohnung.“ Weil er seine merhin sind die jungen Ostdeutschen, wie ten: 10,4 Prozent), finden mehr als zwei Chance als Finanz-Analyst oder Unter- sie in der Shell-Studie auftreten, „aufs Drittel der Jugendlichen, das Boot sei nehmensberater suchen will, heißt Stefans Ganze gesehen einsatzbereiter, höher mo- schon überfüllt. Devise: „Einsatz und Arbeitswillen.“ Das tiviert und leistungsorientierter als die Es erscheint paradox, ist aber Teil der Private muss warten: „Wegen dem Job will westdeutschen Jugendlichen“. Zehn Jahre Wirklichkeit: Gerade diejenigen jungen ich nicht heiraten, bevor ich 30 bin, dann nach dem Mauerfall halten es 52,8 Prozent Leute, die überhaupt keinen Kontakt zu hätte ich gern zwei oder drei Kinder.“ der Jugendlichen im Osten für wahr- Ausländern haben, sind besonders fest Seinen Zivildienst hat Stefan in Stutt- scheinlich oder sicher, dass sie sich eines davon überzeugt, dass schon zu viele im gart abgeleistet, doch nun ist er auch gern Tages beruflich selbständig machen. Im Land leben. Der Sozialpädagoge Richard wieder daheim: „Wie gut, dass ich kein Westen erreicht die Gruppe der potenziel- Münchmeier, Mitverfasser der Studie, hat Schwabe bin“, freut sich der junge Sachse. len Unternehmer nur 45,7 Prozent. auch in Westdeutschland festgestellt: „Aus- Die Stuttgarter „Reihenhäuser-Vororte mit Dabei steht das Materielle für die jungen länderfeindlichkeit ist auf dem Lande und diesen Super-Rasen“ fand er schlicht „gru- Ostdeutschen klar im Vordergrund. Unter in Kleinstädten, wo wenig Fremde leben, selig“. Große Unterschiede zwischen Ost- den Gründen für ihre Berufswahl nennen wesentlich verbreiteter als in den Städten.“ und West kann Stefan aber nicht mehr fest- 48,9 Prozent der Ostler, aber nur 42 Pro- Immerhin 27 Prozent aller deutschen Ju- stellen: „Im Westen haben sie zum Teil zent der Wessis: „Ich will bei der Arbeit gendlichen erscheinen in Münchmeiers mehr Geld, aber auch das ändert sich.“ viel Geld verdienen.“ Auswertung als „hoch ausländerfeindlich“. Die Daten der Shell-Studie zeigen ein Die Wessis liegen besonders deutlich bei Als Erklärung bietet Münchmeier an: anderes Bild. Die Wissenschaftler haben der Aussage vorn: „Ich will bei der Arbeit „Schlechtere Lebensbedingungen, gerin- zwar zunächst geprüft, ob andere regiona- von freundlichen Kollegen umgeben sein“ gere Bildung, schlechtere Ausstattung oder le Differenzen vielleicht inzwischen schär- (West: 42,7 Prozent, Ost: 32,9 Prozent). zumindest eine Selbsteinschätzung in die- fere Schatten werfen als der Ost-West-Un- Die neue ostdeutsche Ellenbogen-Menta- ser Richtung.“

Misstrauen gegen Fremde Umfrage unter deutschen Jugendlichen; Angaben in Prozent „Wie oft hast du mit ausländischen männlich weiblich „Wie beurteilst du die Höhe des Ausländer- Jugendlichen zu tun?“ anteils in Deutschland?“ OSTDEUTSCHLAND WESTDEUTSCHLAND OSTDEUTSCHLAND WESTDEUTSCHLAND 49,1 13,1 71,1 61,1 nie zu hoch 48,5 17,3 67,7 59,6

44,4 47,1 26,8 37,0 weniger häufig gerade richtig 42,4 48,5 30,4 38,5

häufig, 6,6 39,8 2,1 2,0 sehr zu von 100 abweichende 9,1 34,1 niedrig Summen sind häufig 1,9 1,8 rundungsbedingt

168 der spiegel 13/2000 Von einer multikulturellen Gesellschaft kann nach dem Fazit der Forscher auch dort kaum die Rede sein, wo ein kräftiger Mix prinzipiell möglich wäre – zu oft gehen deutsche und ausländische Kids getrennte Wege. Ihren Freizeit-Aktivitäten gehen deutsche Jugendliche weitaus häufiger in rein deutschen Cliquen nach als in ge- mischter Runde – am ehesten treffen die Gruppen noch bei Feten oder im Musik- raum aufeinander. Die ausländischen Kids erweisen sich dagegen überwiegend als aufgeschlossen. Münchmeier fasst zusammen: „Die viel be- klagte Unwilligkeit zur Anpassung an die deutschen Lebensweisen scheint zumin- dest für die hier untersuchten Gruppen nicht zuzutreffen.“ Das gilt so klar allerdings nur für die jungen Männer. Italienische und vor allem türkische Mädchen sind noch viel stärker in traditionellen Bindungen verhaftet. Die in Frankfurt aufgewachsene Türkin Alev ist zwar jetzt bereits 21 Jahre alt, aber wo es langgeht, bestimmt ihre Mutter: „Wenn ich mal größer weg will, gibt es Terz“, er- zählt sie. Zu Hause auszuziehen kommt für Alev, die zur Zeit beim Amtsgericht Frankfurt eine Ausbildung als Justizange- stellte absolviert, nicht in Frage: „Dann bräuchte ich gar nicht mehr zurückzu- kommen.“ Manchmal fühlt sich Alev zwischen den Kulturen hin- und hergerissen. „Ich kann nicht sagen, ich bin mehr deutsch, ich bin mehr türkisch.“ Dass Sex vor der Ehe tabu ist, akzeptiert sie. Heiraten will sie einen Türken, denn „man muss schon aus der- selben Kultur stammen“. Aber auf jeden Fall sollte der Mann wie sie selbst in Deutschland aufgewachsen sein – so einer, glaubt sie, „akzeptiert einen als Frau viel mehr“. Dass sie schon mal einen Freund hatte, musste Alev vor ihrer Mutter verheimli- chen – sie sah keine Wahl: „Bei meinen türkischen Freundinnen ist das genauso wie bei mir.“ Von einer Dominanz der Eltern ist bei deutschen Jugendlichen hingegen nicht mehr viel zu spüren. Der klassische Gene- rationskonflikt schleift sich immer mehr ab, Mutter und Vater erscheinen als Part- ner, nicht als Widerpart. Wollten Mitte der achtziger Jahre noch 48 Prozent der Ju- gendlichen ihre eigenen Kinder einmal „anders“ oder „ganz anders“ erziehen, als sie selbst erzogen wurden, ist dieser Anteil mittlerweile auf 28 Prozent gesunken. Für die Alten kann das auch bedeuten: Sie haben nicht mehr viel zu melden. Die Wiesbadener Einser-Schülerin Laura hat sich, sagt sie, früh von ihren Eltern gelöst. Deren Erfahrung nutzt die junge Frau, „wenn es hart auf hart kommt“, wie ein Beratungsunternehmen: „Ich höre mir dann ihre Meinung an. Aber ob ich den Rat befolge, entscheide ich danach.“ Dominik Cziesche, Dietmar Pieper der spiegel 13/2000 169 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft

SATIRE Das so genannte Obszöne Die Humoristen Eckhard Henscheid und Gerhard Henschel beklagen in einem 600-Seiten-Pamphlet die Schamlosigkeit des zu Ende gegangenen Jahrhunderts – und scheren dabei politische Massenmörder, Models und banale Blödiane über einen Kamm. C. HIRES / GAMMA / STUDIO X / STUDIO C. HIRES / GAMMA AKG Mahnmal für Pol-Pot-Opfer in Kambodscha, Stalin-Plakat (1944): Horrorrevue der Unholde und Massenmörder

ann ein ganzes Jahrhundert obszön in 134 Kapiteln sammeln sie Beweise ins enzyklopädische, ja säkulare Fach sein? Kommt darauf an, was man für ihre doch einigermaßen verblüffende drängt – darin seinem Lieblingsfeind Gün- Kdarunter versteht. Die klassische Behauptung*. ter Grass („Mein Jahrhundert“) nicht Bedeutung – „unanständig, anstößig“ – Sex – dies könnte manch eiligen Käu- unähnlich –, war abzusehen. Eine „Kul- greift nicht mehr, seit gesellschaftlich strit- fer enttäuschen – spielt dabei nicht die turgeschichte der Missverständnisse“ aus tig ist, woran Anstoß genommen werden Hauptrolle. In einer anderen Obszö- seiner Feder (und einigen Mitfedern) liegt soll: also seit den späten sechziger Jahren. nitätsklasse treten dafür die großen Un- bereits vor. Die 68er holten mit dem Schlachtruf von holde dieses blutgetränkten Jahrhunderts Seinen Ruf als giftiger Spaßvogel und der „sexuellen Befreiung“ das bis dahin an: Wilhelm II. und Hitler, Stalin und Idi Hanswurst in allen Gassen hat Henscheid, schamhaft Verborgene aus Schlafzimmern Amin. Aber auch weniger bekannte Mas- 58, über die Jahre planvoll ruiniert: Er frap- und Schmuddelecken ins Licht der Öffent- senmörder werden nicht verschmäht, etwa pierte seine Leser mit zarter Lyrik und lichkeit, ja nutzten es gezielt zur Provoka- General Paul von Lettow-Vorbeck, der für noch zarterer Prosa tion des prüden Establishments. die Vernichtung von 100 000 Hereros mit- („Maria Schnee“), ar- Zugleich verschob sich die Bedeutung verantwortlich war, dafür den Orden beitete sich biogra- vom Sexuellen ins Politische, was der 68er „Pour le mérite“ erhielt und auch später fisch an Helmut Kohl Philosoph Herbert Marcuse so formuliert nichts ausließ, sich „ins Buch des deut- und dem Bäderkö- hat: „Nicht das Bild einer nackten Frau, die schen Arschlochs nig Zwick ab und ließ ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, son- einzutragen“. sich sogar darüber dern das eines Generals in vollem Wichs.“ Dass es zumal aus, welche Tiere ins Derart erweitert taugte der Begriff Eckhard Henscheid Himmelreich kom- Obszönität bald für alles und jedes. Nur men. Selbst die „Tri- konsequent also, dass die beiden Autoren * Eckhard Henscheid, Ger- logie des laufenden Eckhard Henscheid und Gerhard Henschel hard Henschel: „Jahrhun- Schwachsinns“, jene dert der Obszönität. Eine nun dem ganzen eben dahingegange- (re.) H. ANDRE (li.); M. WITT FOTOS: Nonsens- und pro- Bilanz“. Alexander Fest nen 20. Jahrhundert das Etikett der Obszö- Verlag, Berlin; 608 Seiten; Henschel (o.), millehaltige Roman- nität ankleben. Auf über 600 Seiten und 39,80 Mark. Henscheid folge aus den siebzi-

172 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft ger Jahren, die ihn zum Kultautor gemacht eher harmlos: „Aber obszön war sie doch, Wer im falschen Leben nur Falsches er- hatte, sei – darauf legt er Wert – weniger die jungdeutsche, vom totalen Krieg hinter blickt, der tut sich schwer, zwischen ganz von Sechsämtertropfen als von Dosto- den sieben Bergen entzückte Claque.“ schlimm und bloß blöd zu unterscheiden, jewski inspiriert. Im übrigen werden überwiegend Lieb- ja überhaupt Akzente zu setzen. Hen- Der Großschriftsteller und -inquisitor lingsfeinde des Duos zum Gruselkabinett scheid/Henschel verraten das durch zu- Henscheid hat als Protagonist der so ge- gruppiert: „Top-Theologe“ Hans Küng und nehmend schrillere Tonlage. Eine gespreiz- nannten Neuen Frankfurter Schule in un- „Spezialtörin“ Luise Rinser und der te Formulierung des Suhrkamp-Verlegers zähligen Satiren und Polemiken Häme vor- schwangere neue Mann Franz Alt; der Siegfried Unseld wird „Obszönitätssatz des zugsweise über linke Ikonen ausgegossen „ZDF-Großuniversalhistoriker“ Guido Jahrhunderts“, eine Pop-CD des Papstes – eine glänzende Vorbereitung für die ul- Knopp, Außenminister Fischer (der aus un- gar zum „verworfensten Event des letzten timative Erledigung des ganzen Jahrhun- erfindlichen Gründen als „Jockel“ fir- Jahrzehnts, wenn nicht aller bisher katho- derts (manche der alten Texte werden auch miert). lisch bekannt gewordener Zeiten“. einfach schamlos nachgedruckt). Das Banale regt zumal Henscheid er- Überhaupt geht es selten ohne Super- Henscheids Mitstreiter Gerhard Hen- heblich mehr auf und an als das Böse, die lative. Rudolf Steiner war „der dreisteste schel, 37, hat sich die Sporen zum Satiriker mediale Widerspiegelung der Fakten mehr und am dürftigsten begabte Goethe-Imita- J. MÜLLER-SCHNECK J. W. BOKELBERG W. Maoisten bei einer Vietnam-Demonstration (1968), Berliner „Kommune 1“ (1968): Noch obszöner als ihre Leitbilder? in jener „Titanic“ verdient, die Henscheid als diese selbst, Druckerschwärze und tor“, Thomas Mann „ehren- und ruhm- einst gründen half. Die beiden Fast-Na- Fernsehbilder mehr als Blut und Eisen. Da süchtiger als wohl je ein Mensch vor ihm“. mensvettern haben das Jahrhundert nach ist er in guter Gesellschaft mit seinem Peter Konwitschny, ein Vertreter des ver- Temperament und Interesse unter sich auf- Hausgott Karl Kraus, der die Schlechtigkeit hassten Regietheaters, ist „die derzeit ese- geteilt: Henschel fertigt die gewichtigeren der Welt vor allem in der Scham- und ligste und ruinöseste und omnipräsentest Gegner ab, Henscheid die dümmeren. Das Geistlosigkeit der „Journaille“ erkannte. abgrasendste Zumutung“, und bei der Be- Ergebnis: eine Mischung aus grimmiger Nur war der Umkehrschluss, eine bes- gegnung von und der Häme und kalter Wut. sere Presse mache auch eine bessere Welt, „vollends entsetzlichen“ und darüber hin- Empörender als die finstersten Schur- schon damals falsch. Und dass der Ge- aus „sumpfdummen“ ver- ken Hitler, Stalin und Pol Pot erscheinen schmackswart Henscheid seine schwers- sagen Henscheid gar die Worte: „Wenn den beiden Autoren dabei offenbar deren ten Geschütze gegen vergleichsweise läp- zwei gleich Dumme sich dermaßen finden, Lobredner und Speichellecker, die Heuch- pische Vorfälle richtet, ist, wenn nicht hat selbst das stärkste Empfinden des so ge- ler und Beschöniger von der schreibenden selbst obszön, so doch peinlich. Zumal arteten Obszönen für gescheite Leute kei- Zunft – vielleicht weil die leichter zu wenn ihm als letzter und ultimativer Vor- nen rechten Sinn mehr. Und wir geben’s packen sind. So werden die Nürnberger wurf einfällt, dass „nicht mal der Satzbau also auf.“ Rassengesetze pflichtschuldigst kritisiert, stimmt“. Dieser sprachliche Offenbarungseid ge- aber fast noch schärfer ihre „peinliche“ Dafür stimmt vieles andere in dieser genüber einem eher harmlosen Anlass lässt und „ignorante“ Verkennung durch die Horrorrevue des vergangenen Säkulums, allerdings am gesamten Projekt zweifeln. Meisterdenker der Kritischen Theorie. So und viele Verdikte sind erfrischend böse Dummheit, von Henscheid zum notwen- werden die Vergewaltigungen der Roten formuliert: „Der schärfste Kritiker des digen Bestandteil des Obszönen erklärt, Armee in Ostpreußen nicht verschwiegen, Schweins war feierabends selber eins“: scheint im Laufe des Jahrhunderts alle an- aber auch nicht die dumme Bemerkung Dies – über den FBI-Chef J. Edgar Hoover deren Merkmale des Obszönen zu ver- des Publizisten Erich Kuby, manchen Frau- – ist freilich ein halbes Selbstzitat. drängen, trübt ihm aber selbst den Blick. en habe es ja wohl gefallen. Fußball im Fernsehen: Das sind „nur So ist es weder Hitler noch Stalin, weder Schlimm sind die Verbrechen des Schahs noch Sauereien, präsentiert von Brauerei- Auschwitz noch der Gulag, der ihn am von Persien, der seine Untertanen foltern en“. Lady Di, diese „dumme halbadelige Ende des Buches erschöpft nach Satan und ließ, aber schlimmer seine Lobhudler von Gans“, geht als „Schnepfe“ und „Grinse- dem Jüngsten Gericht rufen lässt, sondern der deutschen Regenbogenpresse. Und zu automat“ in die Jahrhundertbilanz ein. Anna Nicole Smith. Die hat mal erfolg- Milo∆eviƒ fällt den Autoren deutlich weni- Und dass die Psychoanalyse sich zugleich reich für Unterwäsche posiert und nach ger ein als zu den ihn mit den primitivsten als „Renommierwissenschaft“, als „kab- der Kurzehe mit einem Milliardär von den Klischees verteufelnden Boulevardzeitun- balistisch geführte Staatsreligion“ und als Erben eine neunstellige Dollarsumme ein- gen. Mao hat Millionen auf dem Gewis- „Märtyrerdisziplin“ geriert, ist durchaus zuklagen versucht. Ist das nun obszön – sen, die westdeutschen Maoisten waren schamlos – und fein beobachtet. oder bloß clever? Martin Ebel

176 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland DPA REUTERS Zerstörte Häuser im bosnischen Br‡ko Koordinator Hombach

BALKAN Staats- und Regierungschefs ausdrücklich die Bedeutung des Stabilitätspaktes. Sie beauftragten ihre Außenminister, die auch von Kommissionspräsident Romano Prodi und vor allem in Hilfe für Hombach Washington beklagte „Balkanisierung der Balkanhilfe“ schnell zu beenden. Das nie offiziell vorgelegte Solana-Patten-Papier er Koordinator des Balkan-Stabilitätspaktes, Bodo Hom- war damit gegenstandslos, und Hombach kam ohne Anse- Dbach, geriet in schweres Feuer. Ein gemeinsames Papier hensverlust davon. Die Staatsführer verweigerten der Kom- von EU-Außenkommissar Chris Patten und Javier Solana, mission zudem die von Prodi begehrte Blankovollmacht über Außenpolitik-Beauftragter des Europäischen Rates, übte gna- 5,5 Milliarden Euro für den Balkan: Die EU soll den Bedarf an- denlos Kritik an der zersplitterten EU-Balkanhilfe. Die beiden hand konkreter Projekte belegen – was der Kommission die Ar- für Außenpolitik zuständigen Eurokraten strebten, so hieß es beit erschwert. Am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche in Brüssel, nach alleiniger Oberhoheit über die Krisenregion – werden sich zudem Weltbank, Europäische Investitionsbank zu Lasten des ebenfalls dort tätigen Bodo Hombach. Doch auf und die Geberländer verpflichten, zunächst 1,5 Milliarden Euro dem EU-Gipfel Ende voriger Woche in Lissabon betonten die für den Balkan bereitzustellen.

CHILE etwa 200 000 Menschen verantwortlich Die größten sind. Nach den Empfehlungen würden Vorbild Deutschland Rüstungs- sich Regierungen verpflichten, die exporteure Frankreich Produktion, Lagerbestände und ei einer umfassenden Justizreform, Anteile am 17,6% den Export solchen Kriegsgeräts die noch in diesem Jahr beginnen weltweiten einem Uno-Register zu melden B Waffenhandel soll, berät die Berliner Bundesregierung 1998 und künftig nur noch mit Waffen Chile. Das Andenland will nach deut- USA Großbritannien zu handeln, die eindeutig mar- Quelle: Military schem Vorbild eine Staatsanwaltschaft, Balance 48,6 % Russland 16,2 kiert sind. Frankreich, das mit Pflichtverteidiger sowie öffentliche Ge- 5,1 Großbritannien, Russland und richtsverhandlungen einführen. „Die den USA 1998 für über 85 Pro- chilenische Strafjustiz hat beim Schutz Israel 2,2 zent des Weltwaffenhandels ver- vor Menschenrechtsverletzungen unter Deutschland antwortlich war, versucht, die Pläne der Diktatur versagt“, sagt der deutsche Sonstige 1,5 schon im Vorfeld auszuhebeln. Paris Strafrechtsexperte Cornelius Prittwitz, 8,8 sorgte dafür, dass der Sprecher des Pro- der das chilenische Justizministerium jekts – ausgerechnet Frankreichs Ex- im Auftrag der Gesellschaft für Techni- Premier Michel Rocard – in New York sche Zusammenarbeit (GTZ) berät. Die nicht vor dem Sicherheitsrat auftreten Reform, die einer Verfassungsänderung FRANKREICH durfte und entsandte zudem seinen bedurfte, kostet rund eine Milliarde Uno-Botschafter Alain Dejammet als Mark und beginnt zunächst in zwei Pi- Kontrolle blockiert Bedenkenträger zu Rocards Treffen mit lotregionen. Innerhalb von vier Jahren dem Generalsekretär der Weltgemein- soll das ganze Land in den Genuss der it diplomatischen Winkelzügen schaft, Kofi Annan. Schließlich interve- Neuerungen kommen. Die chilenische Mversucht Frankreich eine interna- nierte Präsident Jacques Chirac auch Justiz gilt als äußerst ineffizient. Derzeit tionale Initiative zur Kontrolle von noch beim Vorsitzenden der Initiative, arbeiten nur 75 hauptamtliche Strafrich- leichten Waffen zu unterlaufen: Der Malis Staatspräsident Alpha Oumar ter und 165 Richter mit Zuständigkeit Vorschlag, unterzeichnet von 20 promi- Konaré. Der ließ seinen Kollegen jedoch auch für andere Rechtsbereiche in dem nenten Staatsmännern, soll den illegalen abblitzen. „Frankreich wäre gut bera- Andenstaat. Nach der Reform sollen Handel mit Pistolen, Sturmgewehren ten“, so der Afrikaner, „wenn es in die- sich 1434 Staatsanwälte und Richter al- und Maschinengewehren einschränken sem Fall nicht die koloniale Karte spie- lein um Strafverfahren kümmern. – Waffen, die für den Tod von jährlich len würde.“

der spiegel 13/2000 179 Panorama

ISRAEL „Fast ein größeres Wunder als Jesus“ aum war das Papamobil mit dem Heiligen KVater um die Ecke gebogen, kehrte wieder Alltag ein im Flüchtlingslager Deheische bei Betlehem: Bei einem Zusammenstoß mit der palästinensischen Polizei wurden nach Angaben des Lagerkomitees vergangenen Mittwoch fast 50 Personen verletzt. „Die Polizeigewalt hat un- sere Freude über den Papstbesuch ruiniert“, klagt der Politologe Hischam Ahmed, der selbst in dem Camp lebt. Trotzdem bleibt der Abstecher des Papstes in das seit 1948 bestehende Lager in sei- nen Augen wirkungsvoll: „Die Welt weiß jetzt, dass es uns gibt.“ Ob Johannes Paul II. mit sei-

ner historischen Pilgerreise durchs Heilige Land AP tatsächlich hilft, das palästinensische Flücht- Papst Johannes Paul II., Arafat in Betlehem lingsproblem zu lösen, ist ebenso fraglich wie sein konkreter Einfluss auf den ins Stocken geratenen Friedens- auch für die Israelis Balsam mit: Als erster Papst besuchte der prozess. Gleichwohl wird diese Reise des Heiligen Vaters ver- Heilige Vater die israelische Holocaust-Gedenkstätte Jad Wa- mutlich als Erfolg in die Geschichte eingehen: Dem Oberhaupt schem, um die „tiefe Trauer“ der katholischen Kirche über das über weltweit eine Milliarde Katholiken gelang es in einem Leid der Schoa-Opfer zu bekennen. Dass Johannes Paul II. wie- schwierigen Balanceakt, sich sowohl Israelis wie Palästinenser zu der nicht zum Schweigen des Vatikans während der Judenver- Freunden zu machen. In den Autonomiegebieten Jassir Arafats folgung unter der Nazi-Herrschaft Stellung nahm, gehört zu den unterstützte der Papst das „natürliche Recht“ der Palästinenser wenigen Enttäuschungen, die er auf seiner Reise auslöste. Auch auf ihre nationale Heimstatt. „Das Leiden des palästinensischen den Flüchtlingen in Deheische hatte er nicht den Gefallen getan, Volkes währt schon viel zu lange“, klagte Johannes Paul II. Ein ihr Recht auf Rückkehr in die heute israelisch kontrollierte Hei- dankbarer Arafat, der fit und munter wie schon lange nicht mat zu fordern. Dennoch kletterte die Popularität des Christus- mehr wirkte, umarmte den Besucher aus Rom. Der brachte Botschafters von Tag zu Tag. Eine Woche lang verfolgten hun-

POLEN BURMA Lauschangriff auf die EU Unheilige Allianz mit Israel? ie Botschaften der Staaten der Eu- srael hilft dabei, die Armee des international geächteten Burma (Myanmar) zu mo- Dropäischen Union in Warschau sind Idernisieren. Das behauptet die angesehene britische Fachzeitschrift „Jane’s Intelli- über die USA verärgert, weil sie zuneh- gence Review“. Die Militärs in Rangun rüsten danach in China erworbene mend und ganz unverhohlen von den F-7-Kampfflugzeuge mit israelischen Radargeräten und Luft-Luft-Raketen nach. Auch Amerikanern abgehört werden. Dabei drei Fregatten, für die Peking lediglich die Bootskörper lieferte, sollen mit israeli- soll es sich vor allem um Wirtschafts- scher Elektronik bestückt werden. Zudem ließ die Junta Mittelsmänner über die Lie- spionage handeln. „In Europa regen ferung von 16 gebrauchten Haubitzen verhandeln. Burmesische Gewehre sollen Bau- sich Politiker über aktive russische teile israelischer Schusswaffen enthalten. Die Israelis bestreiten den Vorwurf der Schlapphüte auf“, klagt ein westlicher Kooperation mit einer Junta, die für ihre brutale Unterdrückung von Oppositionellen Diplomat, „aber von den USA wird es und ethnischen Minder- einfach so hingenommen.“ Die Vertre- heiten berüchtigt ist. Al- ter der EU befürchten zudem, dass nach lerdings pflegt Israel be- Polens Eintritt in die Union, frühestens reits seit den fünfziger 2003, Washington in Warschau direkt Jahren militärische Be- Einblick nehmen könnte in geheime ziehungen zu Burma. Unterlagen aus Brüssel oder anderen Unter Waffenhändlern EU-Hauptstädten. Die Diplomaten se- ist es ein offenes Ge- hen den Grund für eine allzu große pol- heimnis, dass Israel ver- nische Offenheit in der anhaltenden sucht, in Chinas südost- Dankbarkeit der Polen für die US-Un- asiatisches Waffenge-

terstützung bei der Nato-Osterweite- PRESS SIPA schäft einzubrechen. rung, von der sich Warschau Schutz vor dem noch immer beargwöhnten russi- Grenzbefestigung des schen Nachbarn verspricht. burmesischen Militärs 180 Ausland

GROSSBRITANNIEN Bald bechern rund um die Uhr ie Labour-Regierung hat sich dazu durchgerungen, eine eiserne Regel des briti- Dschen Soziallebens zu eliminieren: die Sperrstunde, derzufolge „Public Houses“ respektive Pubs auf der Insel ihre Gäste um elf Uhr abends auf die Straße setzen müssen. Im Innenministerium liegt jetzt ein Gesetzentwurf vor, der es Wirten ermög- licht, rund um die Uhr Alkohol auszuschenken – falls der zuständige Gemeinderat dies gestattet. Führende Vertreter der Polizei begrüßen die Initiative, da so dem no- torischen Kampftrinken unter dem Damoklesschwert der „last order“ der feuchte Boden entzogen werden könnte. Zudem erhoffen sich die Ordnungshüter – wenn nicht mehr zum gleichen Zeitpunkt Massen von angetrunkenen Zechern freigesetzt werden – einen Rückgang der populären Schlägereien vor Kneipentüren. Das im Ver- gleich zum europäischen Festland rigide Alkohol-Regime hatte die britische Regie- rung 1916 während des Ers- ten Weltkriegs errichtet, um zu verhindern, dass verka- terte Arbeiter in den Munitionsfabriken statt scharfer Granaten Blindgän-

A. BRUTMANN ger drehten. Während die Barak, Papst in Jad Waschem Lobbyisten der Tourismus- Industrie hinter den Kulis- derttausende Juden und Muslime die sen für den Fall der Sperr- Schritte des kranken, zitternden Grei- stunde kämpfen, zeigt sich ses. „Dass er sich in seiner ganzen das Publikum nicht begeis- Schwäche zeigte, hat seine Wirkung so tert. Nach einer Ende Fe- stark gemacht“, sagte der israelische bruar veröffentlichten Un- Schriftsteller Amos Oz, der den Papst tersuchung des „Instituts „Rabbi Jesus“ nennt. „Wenn auch bei für Alkohol-Studien“ lehnt den letzten heiklen Stationen in Naza- die Mehrheit der Briten die ret und Jerusalem Konflikte und Pannen Liberalisierung ab und will ausbleiben, dann hat er fast ein größe- – konservativ – an der ge-

res Wunder vollbracht als Jesus.“ wohnten Sperrstunde fest- FOCUSG. MENDEL / NETWORK AGENTUR halten. Britischer Pub

RUSSLAND skandinavisch-lockere Bekenntnis, ein Stau von tausenden Besuchern, die Zehntel aller Europäer würden in Bet- schon Stunden vor der Eröffnung an Möbel für die Ostfront ten des Masseneinrichters gezeugt. der Panzersperre aufmarschiert waren. Mehr als zwölf Jahre hatte das Billig- 40 Millionen Dollar hat der deutsch- eit vorigen Mittwoch kann auch Kaufhaus über eine russische Filiale stämmige Konzernchef Ingvar Kamprad SIwan Normalverbraucher „moder- verhandelt. Jetzt konnte Ikea am nord- in seine Attacke auf Russlands grob ver- nen Lebensstil“ aus Kiefer und Fichte westlichen Rand der Hauptstadt nahe nachlässigte Konsumenten investiert. käuflich erwerben: Der schwedische der Leningrader Chaussee Stellung be- Zu Sowjetzeiten wurden die wenigen Möbelhändler Ikea will den russischen ziehen, wo seit 1966 symbolische Pan- Möbel heimischer Produktion oft schon Markt erobern. „Das meistgelesene zersperren an die letzte Verteidigungs- vom Lkw herunter verkauft, in der Jel- Buch nach der Bibel“, so sollte ein Re- linie vor Moskau erinnern, an der Ende zin-Ära waren West-Importe noch viel klamespruch in der Moskauer Metro 1941 der Angriff von Hitlers zu teuer. Ikea setzt jetzt nicht nur auf den Katalog empfehlen, doch sitten- scheiterte: auf 28000 Quadratmetern Gewinn, sondern auch aufs Image: strenge U-Bahn-Bürokraten ließen die Verkaufsfläche mit 550 rasch angelern- „Wenn Ikea in Russland erfolgreich ist, Parole ebenso wenig kleben wie das ten Ortskräften und einem gewaltigen weiß das bald die ganze Welt.“ AP P. KASSIN P. Besucheransturm bei der Eröffnung, Verteidigungsdenkmal vor der Ikea-Filiale

der spiegel 13/2000 181 Ausland

Anti-Jospin-Demonstration in Paris, Staatschef Chirac (bei der Begrüßung des marokkanischen Königs Mohammed VI. am 19. März): „Von

FRANKREICH Premier im Luftloch Trotz glänzender Wirtschaftsdaten schlittert die Regierung Jospin in eine Krise. Massenproteste der treuesten Anhänger der Linken blockieren Reformen. Damit schwindet die Hoffnung des sozialistischen Premiers, dereinst den konservativen Präsidenten Chirac zu beerben.

en Steinwürfen radikaler palästi- gänger seit 30 Jahren hielt, ist erstmals gern der Linken gehören. Vor ihrem Druck nensischer Studenten vor vier Wo- empfindlich zurückgegangen. und ihren Parolen weicht der sonst so be- Dchen hatte Lionel Jospin mutig und Von drei Nachwahlen, welche die So- herrschte Jospin zurück. würdevoll getrotzt. Und doch sieht es fast zialisten vorletzten Sonntag allesamt zu ge- Mindestens zwei Minister sind ablö- so aus, als habe der Kiesel, der ihn Ende winnen hofften, gingen zwei verloren. In sungsreif. Eine Regierungsumbildung ist Februar am Kopf traf und für alle Fern- den Städten demonstrieren Gewerkschaf- unvermeidlich geworden. Der Premier fügt sehzuschauer daheim sichtbar einen bluti- ter, Finanzbeamte, Lehrer und Schüler, die sich nur höchst widerwillig in eine Not- gen Fleck im weißen Haarschopf hinter- normalerweise zu den treuesten Anhän- operation, weil sie ihm vorkommt wie eine ließ, den Glorienschein des fran- „Abwertung“ seines politischen Kapitals. zösischen Premiers zerstört. Premier Jospin: „Die Maschine läuft nicht rund“ „Die Zeit, in der uns alles gelang, ist Seit seiner Rückkehr aus dem vorbei“, konstatiert sein treuer Schildträ- gefährlichen Nahen Osten wird ger, der sozialistische Parteichef François Jospin von einem Ungemach nach Hollande, „die Maschine läuft nicht mehr dem anderen gezaust. Einen rund.“ Jospin, der präzise, selbstsichere „schwarzen Frühling“ sagt „Le Fi- Chefingenieur, wirkt plötzlich ratlos – als garo“ für den Regierungschef vor- hätte er, nach fast drei Jahren im Amt, was aus. Die Beliebtheit des Sozia- für französische Verhältnisse ein kleiner listen, der sich bisher felsenfest in Rekord ist, die Richtung verloren. den Meinungsumfragen mit Spit- Das „Luftloch“, in das der Premier sich

zenwerten wie keiner seiner Vor- AFP / DPA aus sonnigem Himmel fallen sieht, tat sich 182 Dabei hat Jospin („ja zur das Ego seines Gegenspielers, um die ver- Marktwirtschaft, nein zur Markt- meintliche Spalte in Jospins psychologi- gesellschaft“) seine linke Klientel scher Rüstung zu vertiefen. nicht vergessen. Die Kaufkraft der So wies er ihn nach der verunglückten Arbeitnehmer stieg 1999 stärker Nahost-Reise zurecht, warnte vor der Ge- als das Bruttoinlandsprodukt, bei fahr innenpolitischer „Unbeweglichkeit“ niedriger Inflation. Folgerichtig und ermahnte die Regierung, die Chancen verbuchen die Handelshäuser des Wachstums für eine schnellere Moder- ständig neue Konsumschübe. nisierung des Staates zu nutzen. „Frankreich hebt ab“, staunte „Chirac ist überhaupt nicht sympa- das US-Magazin „Newsweek“ thisch“, beklagt sich der Premier über den über ein Land, das jenseits des At- Präsidenten, der sich so gern unters Volk lantiks lange als altmodisch, ver- mischt und als herzlicher Landesvater Hän- schlossen und unbeweglich ver- de schüttelt. Zwischen Regierungs- und schrien war. Staatschef, so Jospin, gebe es eine „Asym- „Und an diesem Wirtschafts- metrie“ zu seinen Lasten. Immer wenn wunder soll die Regierung gar kei- Schwierigkeiten entstünden, „wenden sich nen Anteil haben?“, fragt Jospin die Franzosen an die Regierung“, nicht an die einfallslose Opposition gern den Präsidenten. spöttisch. In aller Ruhe gedachte Chirac kann dagegen abwarten und er auf einer mächtigen Grund- Stimmung machen. Tatsächlich trägt der welle des Optimismus einen un- Hausherr des Elysée zu Jospins Turbulen- aufhaltsamen Siegeszug anzutre- zen ganz erheblich bei. In Zeiten der Ko- ten – bis in den Elysée-Palast bei habitation, wenn Präsident und Premier den Präsidentschaftswahlen 2002. aus gegensätzlichen politischen Lagern Stattdessen liegt sein Rivale, kommen, hat die französische Exekutive der gaullistische Präsident Jacques faktisch zwei Köpfe. Statt an einem Strang Chirac, so klar vor ihm wie nie in zu ziehen, hofft jeder, von Fehlern des an- den letzten drei Jahren. Schon deren zu profitieren. Und weil sie einander rühmt sich der Staatschef im Hin- behindern, statt sich zu ergänzen, droht blick auf den unumgänglichen dem Land eine Blockade an der Spitze. Zweikampf: „Von Mann zu Mann Die glänzenden Wirtschaftsdaten ha-

FOTOS: AFP / DPA (li.); DPA (re.) (li.); DPA AFP / DPA FOTOS: bin ich stärker.“ ben diese vom Gründervater Charles de Mann zu Mann bin ich stärker“ Im Senat feierten ihn Partei- Gaulle nicht vorhergesehene Struktur- freunde vorige Woche als die schwäche der Fünften Republik zunächst ganz überraschend auf. Denn den Franzo- „Schwalbe, die den Frühling bringt“ nach überdeckt. Doch jetzt, da Jospin vor sen geht es so gut wie seit Jahrzehnten einem langen Winter fern der Macht. Der dem schwierigsten Teil seines Reformtests nicht mehr. Allein 1999 entstanden 420000 gaullistische Fraktionschef Jean-Louis steht – Steuern, Renten und Öffentlicher neue Jobs, dieses Jahr soll die Arbeitslo- Debré überreichte dem sachkundigen Ja- Dienst –, lässt der Präsident ihn allein. senquote erstmals unter die Zehnprozent- pan-Liebhaber Chirac zwei kleine Statuen Dabei hatte Chirac sich anfangs selbst marke sinken. Die Wirtschaft wächst mit aus der Edo-Zeit (18. Jahrhundert), die den vorgenommen, in diesen kritischen Berei- 3,5 bis 4 Prozent weit schneller als die des großen Samurai Yoshitsune und seinen chen als Modernisierer zu glänzen, eine früher so beneideten Deutschland. Knappen Benkei darstellen: „Der große große „Staatsreform“ sollte zu seinen blei- Auch die Investitionen ausländischer Samurai, das sind Sie, und wir sind Ihre benden Hinterlassenschaften gehören. Unternehmen sind im traditionell nach in- Knappen“, schmeichelte er. Der Präsident Aber um keinen Preis will er Jospin den Er- nen gewandten Frankreich mit 70 Milliar- war entzückt. folg gönnen, der ihm selbst im ersten An- den Mark doppelt so hoch wie beim großen Chirac glaubt inzwischen, bei seinem lauf mit seinem gaullistischen Premier Nachbarn im Osten. Vor allem amerikani- Premier einen charakterlichen Defekt ent- Alain Juppé von 1995 bis 1997 versagt blieb. sche Fonds halten rund ein Viertel der im deckt zu haben, der diesen letztlich zu Fall Klammheimlich stachelte der Präsident, Börsenindex CAC 40 notierten Aktien- bringen werde: einen bis zur Arroganz rei- der im Blick auf den Euro mit Juppé einen werte. chenden Starrsinn. Gezielt provoziert er schmerzhaften Sparkurs eingeschlagen hat-

Erfolgsmodell? Wirtschaftsentwicklung Frankreichs unter der Präsidentschaft Chiracs; seit 1997 mit Jospins sozialistischer Regierung

ABGABENQUOTE HAUSHALTSDEFIZIT/ WIRTSCHAFTSWACHSTUM ARBEITSLOSENQUOTE Anteil von Steuern und Abgaben ÜBERSCHUSS in Prozent gegenüber dem Vorjahr in Prozent am Bruttoinlandsprodukt Anteil am Bruttoinlands- Frankreich in Prozent produkt in Prozent Frankreich Frankreich 0,7 50,2 2,9 11,7 –1,6 11,1 48,0 Italien 2,8 2,7 11,2 46,3 –1,8 10,5 45,0 46,0 –2,3 Deutschland –3,2 1,8 9,1 44,2 Frankreich 1,7 1,7 8,7 –5,6 1,3 8,2 Groß- britannien 40,3 –5,8 1,0 38,6 –7,6 Quelle: OECD, 1999 geschätzt; Quelle: OECD, 1999 geschätzt; Quelle: OECD; Zahlen 6,1 Quelle: OECD geschätzt Zahlen für Frankreich 1999: Insee Zahlen für Frankreich 1999: MEF für Frankreich 1999: MEF 1995 96 97 98 99 1995 96 97 98 99 1995 96 97 98 99 1995 96 97 98 99

der spiegel 13/2000 183 Ausland te, die Begehrlichkeit des Volkes an – und Krankenhäuser, in denen Ärzte und Pfle- am Rande des Staatsbanketts für Marokkos machte damit dem alten, beharrenden Teil ger wegen Arbeitsüberlastung protestier- König Mohammed VI. an, die Reform der der Nation Mut. Schon vor Monaten be- ten, bekamen Geld und 12000 zusätzliche Steuerverwaltung zurückzuziehen. „Ins gann er per Flüsterpropaganda zu verkün- Stellen versprochen. Mark getroffen“, bot Sautter, erst fünf Mo- den, der Staat habe viel Geld in der Kas- Danach gab es kein Halten mehr. Die nate im Amt, seinen Rücktritt an. Der se, die Steuern sprudelten üppiger als in Finanzbeamten traten – ausgerechnet zum Technokrat, der sich nie einer Wahl ge- der Haushaltsplanung vorausgeschätzt. Abgabetermin der jährlichen Steuer- stellt hat, war als Nachfolger des charis- Die Regierung, noch nicht ganz sicher erklärung – in den Streik gegen eine ge- matischen Dominique Strauss-Kahn über- über die tatsächliche Höhe der Mehrein- plante Reform ihrer kostspieligen und in- fordert – aber der Premier selbst hatte ihn nahmen und wohl auch unschlüssig über effizienten Verwaltung. Auch ihre Verwendung, schwieg zunächst. So die Lehrer gingen zu zehn- entstand der Eindruck, Jospin und sein Fi- tausenden auf die Straße. nanzminister Christian Sautter hätten et- Erziehungsminister Claude was zu verbergen und wollten den Bür- Allègre hatte sie erbost, weil gern vorenthalten, was denen zustünde. er das Schulwesen mit ei- Die für die Regierung verhängnisvolle nem „Mammut“ verglich, Debatte um „la cagnotte“, das fette Spar- das „abspecken“ müsse. schwein, begann. „La cagnotte“ heißt auch Der „sinistre Minister“, ein populäres Stück des großen Komö- wie die Demonstranten ihn dienschreibers Labiche aus dem 19. Jahr- schmähen, ist Sohn eines hundert, und im Nu sah es so aus, als hät- Lehrers, Vater eines Lehrers, te der das Szenenbuch geschrieben. Was selbst Professor für Geophy- tun mit all den Sous? „Ah, sapristi!“, heißt sik und zudem enger Freund es in Labiches Posse: „Meine Herren, wir Jospins seit 40 Jahren. Verge-

befinden uns im Besitz einer beträcht- bens führte er an, dass die AFP / DPA lichen, unverhofften Summe. Man erwar- Zahl der Schüler in den letz- Finanzminister Sautter*: Zu viel Geld in der Kasse tet von uns etwas Großes, etwas, das die ten zehn Jahren um 450000 Massen beeindruckt.“ abgenommen habe, im gleichen Zeitraum ausgewählt und ihm überdies noch die jun- Das Dumme daran ist nur, dass Jospin, aber das Budget von 200 Milliarden auf 308 ge Staatssekretärin Florence Parly an die ewig ernst und streng, in jedem Lustspiel Milliarden Francs gestiegen sei – zweiein- Seite gestellt, die exakt die gleichen eine glatte Fehlbesetzung ist. 50 Milliar- halbmal schneller als der Gesamthaushalt. Schwächen aufweist wie ihr Chef. den Francs, etwa 15 Milliarden Mark, habe Niemand hörte auf ihn. Lehrer ver- Die Gewerkschaften triumphierten über man im Topf, gab das Finanzministerium brannten öffentlich ihre Wählerkarten und Sautters Kapitulation. Die Reform des öf- schließlich bekannt. Fünf Milliarden stell- forderten: „Jospin, wenn du Präsident wer- fentlichen Sektors, in dem fünf Millionen te Jospin für die Bewältigung der Sturm- den willst, dann kastriere deinen Pitbull.“ Franzosen beschäftigt sind – gut 20 Pro- schäden und der Ölpest bereit. Auch die Im Erziehungswesen sind 1,2 Millionen zent der Erwerbsbevölkerung –, dürfte bis Menschen beschäftigt, und sie bilden seit zu den Parlaments- und Präsidentschafts- Lehrerprotest in Paris jeher die Kernwählerschaft der Linken. wahlen 2002 kaum vorankommen. „Jospin, kastriere deinen Pitbull“ Schon der große General de Gaulle hat- Keine Wagnisse – das scheint auch das te nach der Mai-Revolte von 1968 befun- Leitmotiv Jospins für die Rentenpläne der den: „Dieser Lehrkörper, außerhalb der Regierung zu sein. Die französische Ge- Welt, außerhalb der Zeit – man muss ihm sellschaft altert schnell, schon heute kommt das Schwert ins Kreuz stoßen.“ Sein selbst ein Pensionär auf 2,2 Beschäftigte. Doch ernannter Erbe Chirac aber hält sich her- der Premier beschwichtigte: Das Renten- aus und schaut dem Kesseltreiben zu. alter (60 Jahre) müsse nicht angehoben Jospin glaubte, die Konflikte mit einem werden, am Generationenvertrag ändere Schlag entschärfen zu können: Er zer- sich nichts. Private Pensionsfonds seien trümmerte einfach das Sparschwein. Um 40 weiterhin nicht nötig, auch die Beiträge Milliarden Francs würden noch in diesem blieben stabil. Erst 2020 werde das Loch in Jahr die Steuern gesenkt, vor allem für die der Rentenkasse dramatisch. einkommensschwächsten Schichten, ver- Ganz vorsichtig, als wolle er die Ge- kündete er im Fernsehen. werkschaften ja nicht reizen, bot er dann Das machte nur mäßig Eindruck, denn noch an, gemeinsam über eine Verlän- junge Aufsteiger und die gut verdienenden gerung der Beitragslaufzeit im Öffent- Mittelschichten gehen weitgehend leer aus: lichen Dienst nachzudenken – die beträgt Der Spitzensteuersatz von 54 Prozent nämlich nur 37,5 Jahre statt 40 in der pri- bleibt ebenso unangetastet wie die starke vaten Wirtschaft. Die Staatsdiener lehn- Progression. Und die Herabsetzung der ten gleich ab. extrem hohen Mehrwertsteuer von 20,6 Im Elysée, wo noch vor kurzem Zweifel Prozent um einen Punkt wird sich bei den und Skepsis um sich griffen, steigt derweil Preisen kaum bemerkbar machen. die Moral. Chirac würde Jospin gern zum Auch die Lehrer sollen etwas bekom- ideologischen Gefangenen der Linken ma- men, freilich nur eine Milliarde. „Er hat chen, denn er ist sich sicher: „Frankreich ist mich im Stich gelassen“, klagte Allègre nicht rechts, aber mehrheitlich konserva- über den Premier und erwog den Abgang. tiv.“ Der Premier sieht die Falle. Genüss- Ähnlich erging es Finanzminister Saut- lich haben die Präsidentenberater fest- ter. Barsch wies Jospin ihn Montagabend gestellt, dass die „Selbstzufriedenheit“ Jospins, die Chirac so mächtig ärgerte, ver-

AFP / DPA * Mit Staatssekretärin Parly. flogen sei. Romain Leick

der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

Der Boss der Ingenieurs- und Elektri- in Zukunft in Europa nur mehr in Euro- GROSSBRITANNIEN kergewerkschaft Sir Ken Jackson kündigte Ländern investieren würden, wenn die In- Druck auf Fernsehgesellschaften und Pro- sulaner sich nicht bald um den Beitritt zur Wut auf die minente an, um BMW zum „Paria der Gemeinschaftswährung bemühten. Und Autowelt“ zu machen. nach dem Rückzug von BMW erwägt jetzt Lynne Jones, Labour-Unterhausabge- auch Ford, die Produktion des „Fiesta“ aus Krauts ordnete aus dem vom Rover-Verkauf am dem Ost-Londoner Werk Dagenham nach härtesten getroffenen Birmingham, be- Köln zu verlegen – das wäre ein Verlust Der Verkauf von Rover durch kannte bereits: „Ich würde sicher Leute von weiteren 4000 Jobs. unterstützen, keinen BMW zu kaufen.“ Während Tony Blair und seine Regie- BMW belebt antideutsche Eine Labour-Europaabgeordnete und der rung noch immer nicht durchblicken Ressentiments. Zugleich verschärft ehemalige Parteigeschäftsführer der Kon- lassen, wann sie das schon vor über zwei sich die Debatte um servativen, Sir Norman Fowler, verspra- Jahren angekündigte Referendum über den britischen Beitritt zum Euro. chen das schnellstmögliche Verscherbeln den Euro abhalten wollen, geißelt die ihrer bayerischen Karossen. Opposition die fatalen Folgen dieser op- ls „Lügner“ brandmarkte Stephen Angesichts solch patriotischer Aufwal- portunistischen Verzögerungstaktik. Der Byers, Premier Blairs Industriemi- lungen sah sich Peter Hain, Staatssekretär liberaldemokratische Finanzexperte Mat- Anister, erbost einen Manager von im Außenministerium, dazu genötigt, vor thew Taylor macht die Euro-Abstinenz BMW. Denn der hatte ihn nicht vorab in „Rassismus und Xenophobie“ zu warnen. für den Verlust von 120 000 Industrie- die hochgeheimen Pläne über den Verkauf „Hakenkreuze auf BMWs“ seien für den jobs im Jahr 1999 bei einer boomenden von Rover eingeweiht. Nachdem Byers je- Erhalt von Jobs nicht hilfreich. Wirtschaft verantwortlich. „Die Labour doch vorigen Donnerstag im Rover 75 vor Ökonomisch einsichtige Briten wie Hain Party traut sich nicht“, so Taylor, „es dem Münchner BMW-Hauptquartier vor- können sich nur mehr schwer gegen die mit den Pressebaronen aufzunehmen, gefahren war, zeigte sich die gegen den Euro argu- der smarte New-Labour- mentieren.“ Mann eher kleinlaut. Mit Allen voran tut das die vagen Hilfszusagen ließ „Sun“. Die mit bis zu zehn sich der Brite wieder nach Millionen Lesern größte Hause schicken. britische Tageszeitung führt Während Byers inzwi- seit Jahren einen fanati- schen versucht, die Diskus- schen Kreuzzug für das sion zu versachlichen, ko- Pfund, der nicht ohne Wir- chen die Emotionen auf der kung geblieben ist: Ende Insel weiterhin hoch. Seit Januar sprachen sich in der bajuwarische Automo- einer Umfrage 69 Prozent bilkonzern den Verkauf der für die Beibehaltung des zuletzt tägliche Verluste Pfunds aus. von mehr als drei Millionen Verstärkt wird diese Mark produzierenden Ro- Stimmung durch die Kon- ver-Tochter beschlossen servativen. Manche euro- hat, schüren Gewerkschaf- phoben Nationalisten bei ter und Boulevardzeitun- den Tories fordern ernst- gen die latenten englischen haft, Großbritannien solle Ressentiments gegen die aus der EU austreten und „Krauts“. sich der amerikanischen Freihandelszone Nafta an- schließen. Wie die „Sun“ mit ihren europafreundlichen Kriti- kern umspringt, demon- strierte sie vergangene Wo- che, nachdem der britische Botschafter in Berlin, Sir Paul Lever, in der „Welt“ Antideutsche Karikatur*: Ab in die Mongolei erklärte hatte, die Deutsch- landberichte der Murdoch- Erkenntnis sperren, dass Rover weniger Blätter „Sun“ und „Times“ seien „von das Opfer bayerischer Bösartigkeit als einem Vokabular aus dem Krieg domi- der Überbewertung des Pfunds geworden niert“. Das Massenblatt warf Lever dar- ist. Seit dem Kauf Rovers durch BMW aufhin vor, er habe „den in Britannien war der Kurs der britischen Währung um empfundenen Zorn über die BMW-Lügen“ mehr als 20 Prozent gegenüber dem Euro nicht erwähnt. gestiegen – was besonders auf den Preis Der Botschafter musste einen erniedri- für Rover-Automobile im Export durch- genden Rückzug antreten und sich schrift- schlug. lich für seine „ungehörigen“ Bemerkun- Anfang des Jahres drohten Manager von gen entschuldigen. Der „Sun“ war dies

AP Toyota den Briten ebenfalls damit, dass sie nicht Triumph genug. Sie forderte Levers Rover-Arbeiter in Longbridge Strafversetzung – „beispielsweise in die Opfer des starken Pfunds * In der Zeitung „Daily Mail“. Äußere Mongolei“. Michael Sontheimer

186 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

KUBA „Wir bleiben Sozialisten“ Der Vizepräsident des Staatsrats, Carlos Lage, über die Beziehungen der Zuckerinsel zu Deutschland und die Zukunft von Fidel Castros Revolution

ren europäischen Konkurrenten gleichgestellt sind. SPIEGEL: Hauptsächlich der Tou- rismus bietet weitere Anreize für deutsches Engagement. Lage: Im vergangenen Jahr reis- ten 200000 Deutsche nach Kuba, das sind 23 Prozent mehr als 1998. Für das laufende Jahr er- warten wir wieder eine Zunah- me von 30 Prozent allein der Be- sucher aus Deutschland. SPIEGEL: Haben Sie mit Ihren deutschen Gesprächspartnern auch über die Zukunft des poli- tischen Systems in Kuba dis- kutiert? Lage: Ich habe zur Kenntnis ge- nommen, dass es Kritik gibt an einigen Aspekten der kubani- schen Realität … SPIEGEL: … wie dem Mangel an Meinungsfreiheit und Demo- kratie. Lage: Wir teilen diese Meinun- gen meist nicht. So haben wir deutlich gemacht, dass beson- ders die USA viel Desinforma-

S. CREUTZMANN tion über uns verbreiten, denn Restaurierung der Altstadt von Havanna: „Durchhalten dank der Opferbereitschaft der Kubaner“ die US-Presseagenturen haben auf der Welt das Informations- SPIEGEL: Hat Ihr jetzt abgeschlossener Be- handlungen über die Schuldenaltlasten monopol. Aber selbst die schlimmsten such in Deutschland geholfen, die interna- vorzubereiten. Bei Besuchen in Betrie- Feinde der Revolution konnten nicht be- tionale Quarantäne gegen Kuba zu durch- ben habe ich bemerkt, dass das Interesse weisen, dass es bei uns in den vergangenen brechen? an meiner Heimat groß ist. Die Aussicht, 40 Jahren einen einzigen Verschwunde- Lage: Wir haben diplomatische Beziehun- dass wieder Hermes-Bürgschaften deut- nen, Gefolterten oder einen politischen gen zu 169 Ländern und Handelskontak- sche Exporte nach Kuba absichern könn- Mord gegeben hat. Wir haben ein anderes te mit mehr als 140 Ländern, darunter ten, wird die deutschen Unternehmer an- politisches System. Die große Frage ist nun, Deutschland. Die Blockadepolitik geht spornen, zumal sie dann endlich mit ande- ob die Demokratie es gestattet, verschie- allein von den Vereinigten dene Systeme zuzulassen. Staaten aus. Aber es ist ih- SPIEGEL: Haupthindernis für die Unter- nen nicht gelungen, Kuba Carlos Lage Dávila zeichnung eines Vertrags über die Zusam- von der Welt zu isolieren. ist seit 1993 Vizepräsident menarbeit mit der EU war die Weigerung SPIEGEL: Sind Sie mit dem von Kubas Staatsrat, also Kubas, in Zukunft mehr als nur eine Par- Ergebnis Ihrer Gespräche Stellvertreter Castros, und tei zuzulassen und freie Meinungsäuße- in Berliner Ministerien und Sekretär des Ministerrats. rung für die Bürger zu garantieren. mit Vertretern von Länder- Der Kinderarzt und So- Lage: Da betreten die Europäer vermintes regierungen zufrieden? ziologe koordiniert die Gelände. Denn sie müssten in ihrer Außen- Lage: Ja, wir haben die Be- Wirtschaftspolitik. Nach politik dann schon konsequenter sein: Das ziehungen zu Deutschland der Krise, in die der Zu- Einparteiensystem in China scheint kein unter der neuen Regierung sammenbruch Osteuropas Hindernis zu bedeuten für enge Wirt- verbessern können. Denn die Zuckerinsel stürzte, schaftsbeziehungen mit europäischen Staa- die Aufnahme von Ent- entwarf Lage, 48, Refor- ten. Die USA haben den Chinesen sogar wicklungshilfe für Kuba men, die das Überle- eine Sonderbehandlung zugebilligt. Klar, wurde beschlossen. Wir ha- ben des sozialistischen wir haben ja auch nicht 1,2 Milliarden Ein- ben eine Frist von drei Mo- Systems ermöglichten. wohner. Wir glauben, dass unser Festhal-

naten festgelegt, um Ver- ORGANDO / LAIF ten an einer Einheitspartei der Demokra-

188 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland tie nicht widerspricht. Bei uns schlägt das Aufgrund der Blockade haben wir heute SPIEGEL: Die viel gerühmte Opferbereit- Volk direkt die Kandidaten für Wahlen vor, keinen Zugang zu langfristigen Krediten. schaft der Kubaner gerät nun an ihre Gren- bei Ihnen sind es die Parteien. Wir müssen beispielsweise Reis aus China zen. Gerade Akademiker müssen mit Peso- SPIEGEL: Sehen Sie die Chance, jetzt ein herbeiholen, anstatt Lebensmittel gegen- Gehältern auskommen, Taxifahrer verdie- Abkommen mit der EU zu Stande zu über beim Nachbarn einzukaufen. Und nen ein Hundertfaches, und das auch noch bringen? überdies dürften dann endlich US-Tou- in Dollar. Gefährdet die wachsende sozia- Lage: Darüber haben wir nicht gesprochen. risten an unsere Strände reisen. le Kluft nicht den Zusammenhalt? Die EU hält an ihrer vor vier Jahren for- Aber was politische Reformen angeht: Al- Lage: Heute haben schon 65 Prozent der mulierten Position fest, dass zuerst les Nötige haben wir schon im Januar 1959 Kubaner Dollar. Aber es stimmt: Die Maß- ein Wandel innerhalb des kubanischen abgeschlossen. Unser Ziel ist es, an der nahmen, die wir einleiten mussten, ha- Systems stattfinden müsse, ben Ungleichheit geschaf- bevor die Zusammen- fen. Das wollten wir nicht, arbeit eingeleitet wird. Die- aber es war unvermeidbar. se Forderung scheint uns Wir hoffen, mit fortschrei- kein korrekter Umgang zwi- tender wirtschaftlicher Ent- schen souveränen Staaten wicklung diese Ungerech- zu sein. tigkeiten kompensieren zu SPIEGEL: Glauben Sie, dass können. Vergangenes Jahr der engere Zusammen- haben wir schon die Löhne schluss der Europäer zu im Gesundheitswesen, in einer Währungsunion das der Erziehung und in der Selbstbewusstsein gegenüber Justiz um 30 Prozent er- den Amerikanern stärkt, so höht. dass sie Kuba gegen die Em- Außerdem zahlen wir den bargo-Politik unterstützen? Arbeitern mehr, wenn die Lage: Europa lehnt die Produktion gesteigert wird. Blockade ab. Viele europäi- Überdies haben alle Kuba- sche Unternehmen haben in ner Anrecht auf kostenlose Kuba investiert. Das Helms- Schulbildung und ärztliche Burton-Gesetz, das unter Betreuung. Jeder Bürger er- Präsident Bill Clinton hält monatlich eine Reihe durchgesetzt wurde, be- von Grundnahrungsmitteln. droht europäische Firmen, Das reicht natürlich nicht, die mit uns Handel treiben. aber ein Teil der Ernährung Einige haben deshalb ihre ist ebenfalls ein Geschenk Beziehungen zu Kuba abge- vom Staat. brochen. Was den Euro an- SPIEGEL: Experten schätzen, langt, so glauben wir, dass dass die Mehrheit der Ku- er dem internationalen Fi- baner nebenher schwarzar-

nanzsystem nützt. Es wä- REUTERS beiten. Lässt sich dieses Pro- re wünschenswert, dass es Staatschef Castro: „Alle politischen Reformen schon 1959 abgeschlossen“ blem mit stärkerer Polizei- nicht nur eine starke Wäh- präsenz lösen? rung wie den Dollar gäbe, sondern dane- Revolution festzuhalten. Wir sind und blei- Lage: Wir setzen die Polizei nicht gegen ben den Euro und andere mehr. Seit der ben Sozialisten, mit oder ohne Embargo. Schwarzarbeiter ein. Informelle Tätigkeit Schaffung des Euro wird die in unseren Wir glauben, dass der Sozialismus uns ist auch keine kubanische Spezialität. Wir Augen fehlerhafte Entwicklung hin zu gesellschaftliches Gleichgewicht gebracht haben den Eindruck, dass das Problem in einer international anerkannten Einheits- hat, Gesundheit und Bildung für alle, Si- den Krisenjahren zwischen 1993 und 1995 währung durchbrochen, die nach dem Un- cherheit vor Verbrechen, Korruption und viel stärker war. Damals wurde praktisch tergang der Sowjetunion einsetzte. Drogen. ausschließlich auf dem Schwarzmarkt ge- SPIEGEL: Was würde passieren, wenn die SPIEGEL: Dennoch musste Kuba nach dem handelt. Jetzt herrscht mehr Ordnung. Amerikaner das Embargo aufhöben? Wür- Zusammenbruch der Sowjetunion wirt- SPIEGEL: Revolutionäre gehen nie in Pen- den Sie dann politische Reformen ein- schaftliche Reformen zulassen. Ausländi- sion, hat Fidel Castro einmal gesagt. Aber leiten? sche Investitionen und die Legalisierung sie sind nicht unsterblich. Wird das kuba- Lage: Unsere Wirtschaft würde einen des Dollarbesitzes sorgten dafür, dass es nische System von heute bestehen bleiben, außerordentlichen Aufschwung nehmen. jetzt wieder aufwärts geht. Steht eine wei- wenn der Máximo Líder nicht mehr da ist? tere Liberalisierung an? Lage: Helmut Kohl war 16 Jahre an der Lage: Der Hauptgrund für unser Durch- Macht, Maggie Thatcher in Großbritannien halten unter enormen materiellen Ein- 11 Jahre oder Felipe González in Spanien schränkungen ist die Opferbereitschaft der 14 Jahre. Nichts passierte, als sie abtraten. Bevölkerung. Die ökonomischen Reformen Wenn Fidel nicht mehr ist, wird die Revo- waren sehr wichtig, wir werden sie auch lution trotzdem fortgesetzt. Sein Abgang nicht wieder rückgängig machen, denn wir wird gerade ihre Gültigkeit auf die Probe mussten uns an die Globalisierung der stellen. Dann wird bewiesen sein, dass wir Wirtschaft anpassen. Heute kann sich kein die Bedingungen geschaffen haben, die das Land mehr isoliert entwickeln. Aber wir Überleben des Sozialismus sichern. Wir behalten Planwirtschaft und Staats- glauben, der Übergang wird sich ganz

ORGANDO / LAIF besitz bei. natürlich vollziehen. Wir wollen aber nicht Lage (r.), SPIEGEL-Redakteure* vorgreifen. Fidel erfreut sich sehr guter „Nichts passierte, als Kohl abtrat“ * Helene Zuber, Stefan Aust, Dolmetscherin (2. v. l.). Gesundheit. ™

190 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

Wozu denn auch. Dass Gerhard Schrö- Milo∆eviƒ sei einer „vorbedachten“ und KOSOVO-KRIEG der schon aus purer Bündnissolidarität beim „brutalen“ Vertreibungsstrategie gefolgt, nächsten Konflikt wieder so entscheiden so Robertson, Berichte der OSZE und im Schweigen im würde wie im Vorfeld der Nato-Luftangrif- Lauf des Krieges erworbene Kenntnisse fe auf Serbien, daran lässt er keine Zweifel. über die serbische „Operation Hufeisen“ Und die kritischen Fragen, die während des seien der Beleg. Kabinett Krieges so hitzig diskutiert worden waren, Mit Skizzen zu diesem angeblich detail- hatte tags zuvor ja schon der Nato-General- lierten „Operationsplan“ der Serben- Zum Jahrestag der ersten Nato- sekretär George Robertson in einer ausgie- Führung hatte Scharping im April vorigen bigen Rechtfertigungsschrift abgehandelt. Jahres versucht, Kritiker zu beschwichti- Angriffe gegen Serbien verbittet War die Nato-Aktion ohne Mandat der gen, die den Flüchtlingsstrom mehr den sich die Regierung kritische Fragen. Uno ein Verstoß gegen das Völkerrecht? Wa- Nato-Bomben als den Übergriffen serbi- Die Gefahr eines neuen ren wirklich alle Mittel der Verhandlungsdi- scher Schergen anlasteten. In seiner Er- Krieges bleibt ein Tabu-Thema. plomatie ausgereizt? Haben die Nato-Bom- klärungsnot fand Scharping endlich den ber jene Flüchtlingswelle verursacht, die sie „Beweis für die systematische Vertreibung er Außenminister sprach kaum fünf eigentlich verhindern wollten? Hat die Alli- ab Herbst 1998“ und für die Alleinschuld Minuten. Der Kanzler sagte kein anz mit Gräuelberichten die Öffentlichkeit des Belgrader Despoten. DWort, und der Verteidigungsminis- getäuscht? War es ein Fehler, nicht mit Bo- Ein Buch des pensionierten Brigadegene- ter schwieg lieber. Damit war das Geden- dentruppen und Invasion zu drohen? Hat rals Heinz Loquai, der früher bei der deut- ken an den Beginn des Kosovo-Kriegs vor die Nato genug getan, um „Kollateralschä- schen OSZE-Vertretung in Wien tätig war, einem Jahr im Berliner Kabinett absolviert. den“ bei Zivilisten zu vermeiden? nährte indes vorige Woche Schlagzeilen vol- Routinemäßig, als ginge es nur um neue Die Antworten des Lord Robertson of ler Zweifel an der Echtheit des „Hufeisen“- EU-Richtlinien für Schnittblumen, nahm Port Ellen, so der offizielle Titel des schot- Dokuments: Der Wehrminister, im Streit um Gerhard Schröders Kabinett Bundeswehrreform und frag- am vergangenen Mittwoch würdige Rüstungsexporte oh- einen dürren Lagebericht nehin unter massivem Druck, Joschka Fischers nebst einer musste sich wieder einmal elfseitigen Jahresbilanz „zu- selbst verteidigen: „Es gibt stimmend zur Kenntnis“. diesen Plan.“ Dabei hatte der Die Regierung erteilt sich SPIEGEL längst aufgedeckt, darin gute Noten. Auch die dass das Papier aus der Gift- „internationale Gemein- küche des bulgarischen Ge- schaft“, so das Fazit des Pa- heimdienstes stammt und piers, „ist auf dem richtigen vom Außenministerium in So- Weg“. fia an Fischer gespielt worden In Wahrheit jedoch ist die war (SPIEGEL 2/2000). Un- Lage dramatisch: Weil die umstritten ist dagegen, dass versprochenen EU-Milliar- die USA und ihre Partner den nicht fließen, steht die schon lange vorher zum Krieg Uno-Übergangsverwaltung entschlossen waren. im Quasi-Protektorat Kosovo Mittlerweile droht schon kurz vor dem Kollaps. Weil der nächste Konflikt mit die internationale Gemein- Milo∆eviƒ, diesmal wegen schaft viel zu wenige und Montenegro. Wenn im April obendrein mental wie ma- der Stab des Euro-Korps die teriell meist schlecht ge- Leitung der Kfor-Truppe wappnete Polizisten, Richter übernimmt, könnte der unbe-

und Staatsanwälte schickt, M. DARCHINGER rechenbare Trickser aus Bel- herrscht Straffreiheit für Ver- Verteidigungsminister Scharping*: Vorbedachte Vertreibungsstrategie? grad versucht sein, die West- brecher jeden Kalibers. Europäer samt ihrer neuen Wenn den Milliarden für die Bomben tischen Adligen an der Nato-Spitze, blieben gemeinsamen Sicherheitspolitik militärisch nicht rasch Milliarden für den Aufbau fol- von Selbstzweifeln ungetrübt. Seine Er- auf die Probe zu stellen. gen, so ein Hilferuf des deutschen Kfor- folgsbilanz hallte vielmehr wie ein spätes Mit vermeintlich chirurgischen Luft- Kommandeurs Klaus Reinhardt an den Echo auf die moralisierenden Völkermord- schlägen wie vor einem Jahr wäre es Uno-Sicherheitsrat, bestehe die „reale Ge- Parolen und Auschwitz-Vergleiche, mit de- wohl nicht getan. Denn die Bodentruppen fahr“, dass „unsere Gegner doch noch ge- nen SPD-Wehrminister Rudolf Scharping sind schon da: Knapp 45 000 Soldaten winnen“. Als Erste, so die Warnung des und sein grüner Kollege Fischer vor Jah- aus 38 Ländern sind im Kosovo und im Generals an die Uno-Diplomaten am New resfrist in Deutschland Stimmung für den angrenzenden Mazedonien stationiert, Yorker East River, „würden das Ihre Sol- Krieg und dessen sittliche Notwendigkeit 5700 davon stammen aus Deutschland: daten zu spüren bekommen“. gemacht hatten. „Unsere Jungs“, sagt ein Scharping-Ge- Im Kabinett wollte indes niemand „Brutal“ ist dabei offenbar ein Lieb- hilfe voller Argwohn, „stehen unmittelbar darüber reden, wie eifrig serbische und lingsadjektiv des Lords: Die Allianz habe am Zaun.“ albanische Scharfmacher schon wieder mit ihren Bomben die „brutale Unter- Trotz „donnernder Ankündigungen“ zündeln. Ausdrücklichen Dank an die drückung“ und die „brutale Gewaltkam- des scheidenden US-Präsidenten Bill Clin- Soldaten, die im Kosovo und in Bosnien- pagne“ des „brutalen“ Belgrader Regimes ton über Nato-Beistand für Montenegro, so Herzegowina den brüchigen Frieden si- gestoppt. Dessen Anführer Slobodan ein Mitglied der rot-grünen Schröder-Rie- chern, gab es auch nicht. Heikle Fragen, ge, herrschte zur realen neuen Kriegsge- selbstkritische womöglich, wurden nicht * Bei einer Pressekonferenz mit Fotos von mutmaßlichen fahr jedoch nur Schweigen im Kabinett: gestellt. serbischen Gräueltaten am 7. April 1999 in Bonn. „Das Thema ist tabu.“ Alexander Szandar

194 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

Der ärmste Erdteil der Welt giert nach Wundern und wird zum bevorzugten Ge- AFRIKA biet von angeblichen Erlösern. Sekten und Freikirchen, wie Ugandas obskure Zehn- Gebote-Bewegung, gedeihen südlich der Sa- Kontinent der Kulte hara wie kaum anderswo: Zwischen Dakar am Atlantik und Daressalam am Indischen Selbst ernannte Propheten jagen den christlichen Kirchen Ozean verkünden schätzungsweise 20000 neue Kirchen ihre Botschaft. Ihre rund südlich der Sahara die Gläubigen ab. 50 Millionen Mitglieder kommen überwie- In Uganda trieb ein Sektenführer hunderte in den Tod. gend von den Religionsgemeinschaften der Katholiken und Protestanten. ie Ministerin für Moral und Inte- dacht, dass viele Leute unwissend oder un- Die etablierten Amtskirchen wehren sich grität im Kabinett von Präsident Yo- ter Zwang ins Verderben geführt wurden. verzweifelt gegen die Abwanderung zu den Dweri Museveni gibt dem Westen die Die Polizei fand Körper von Sektenmit- aufblühenden „junk churches“. Denn auch Schuld für die Tragödie. „All dieser Unsinn gliedern, die offenbar umgebracht worden die etwa sechs Millionen Afrikaner, die kommt doch aus Amerika“, sagt Miriam waren, weil sie am Endzeit-Gottesdienst sich jedes Jahr zum Christentum bekeh- Matembe, „die Homosexualität, dass Frau- nicht teilnehmen wollten. ren lassen, gehen zum großen Teil zu den en andere Frauen lieben, diese apokalyp- „Die Menschen sind hungrig nach einem fundamentalistischen Kirchen. tischen Kulte.“ Gott, und sie sind vertrauensselig“, sin- Dort fühlen sich viele Menschen gebor- So ein Kult hat ihr Land jetzt weltweit in niert Ministerin Matembe über das grau- gener als in den aus der Mission hervorge- die Schlagzeilen katapultiert: In Uganda envolle Ereignis. Ihr Präsident bedauert gangenen Amtskirchen mit ihren hoheits- verbrannten sich vorletzte Woche mehrere den rätselhaften Massentod in seinem Land vollen, aber volksfernen Führern. Denn hundert Mitglieder der „Bewegung für die als eine neue Art von „Barbarei“. Tatsäch- bei den Sekten trommeln und tanzen die Wiedereinsetzung der Zehn Gebote Got- lich waren Gruppenselbstmorde in Afrika Gläubigen; ihre Priester predigen in afri- tes“. Die Gläubigen folgten in einer Kirche – anders als in Europa und Amerika – bis- kanischen Sprachen und erfüllen oft Auf- im Dorf Kanungu dem Ruf ihres Sekten- lang unbekannt. Doch zum Jahrtausend- gaben von Zauberern und Fetischpriestern. führers Joseph Kibweteere. Der hatte den wechsel machten Experten auch auf dem „Mancher europäische Missionar würde Weltuntergang angekündigt und gleichzeitig Schwarzen Kontinent Endzeitstimmung sich im Grabe umdrehen“, sagt die Ethno- die Erlösung: Seine Anhänger würden nach aus. „All die nicht enden- dem gemeinsamen Freitod mit einer neuen den Kriege in der Region, Arche Noah ins Paradies fahren. sogar die Überschwemmun- Was von der Verheißung blieb, waren gen in Mosambik werden als fürchterliche Bilder aus dem Land, das Beweis für das nahende Winston Churchill einst die „Perle Afri- Ende verstanden“, weiß die kas“ genannt hatte: eine bis auf die Grund- Kölner Ethnologin Heike mauern niedergebrannte Kirche, ein Hau- Behrend, die in Afrika reli- fen verkohlter Leichname – und der Ver- giöse Kulte erforscht. DPA Sektenführer Kibweteere (2. v. r.), Sektenopfer* „Hungrig nach einem Gott“

login Behrend, „wenn er sehen könnte, was bei der Afrikanisierung des Christen- tums entstanden ist.“ Die afrikanischen Kirchen ersetzen ent- wurzelten Menschen die fehlende Sippe oder Stammesgemeinschaft – Arbeitslosen in Großstadtslums, Wanderarbeitern und Studenten. Besonders in Notzeiten gedei- hen die neuen Gemeinschaften: 1990, zu Beginn des liberianischen Bürgerkriegs, gab es in der Hauptstadt Monrovia 70 Kirchen, nach dem Ende der Kämpfe 1997 waren es über 200 Gotteshäuser. Seit dem Völkermord 1994 in Ruanda stieg die Zahl der Kirchen im Land von 8 auf rund 300. In Uganda erklären Soziologen den Zu- lauf zu den Sekten mit der Traumatisie-

REUTERS * Im Dorf Kanungu. Werbeseite

Werbeseite Ausland rung des Volks während der Schreckens- Viele Prediger sind Scharlatane. In etli- von Armut und Bürgerkriegen, wandten herrschaft des Despoten Idi Amin und mit chen afrikanischen Ländern kommt es im- sich viele Menschen neuen Göttern zu. der wütenden Aids-Epidemie. In Ghana mer wieder zu Strafverfahren gegen Kir- Deren selbst ernannte Verkünder auf Er- und Nigeria treibt vor allem materielle Not chenführer; einige sollen in Zauberei und den profitierten in den neunziger Jahren die Bürger zu den neuen Kirchen. Denn Ritualmorde verwickelt sein. von der vom Westen verordneten Demo- wenn die Wirtschaft kriselt, floriert der In Nigeria ermittelte die Staatsanwalt- kratisierung nach dem Ende des Kalten Glaube – und mit dem lässt sich jede Men- schaft gegen einen „Bischof“, der einen Krieges: In etlichen Ländern konnten sie ge Geld machen. Schusswechsel mit der Polizei hatte, sowie im neu eingeführten kommerziellen Rund- „Keine andere Branche verzeichnet gegen eine „Prophetin“, die ein elfjähriges funk und Fernsehen für sich werben. Ihre ähnlich hohe Zuwachsraten“, fand der Mädchen gegen Hexerei behandelte und Sekten wurden wie Parteien registriert. Ethnologe Johannes Harnisch- feger bei seiner Untersuchung charismatischer Gemeinden in Nigeria. Propheten müssen nicht studiert haben; sie brauchen kaum Startkapital, wenn sie ihre Sekte gründen; die Behörden registrieren neue Kirchen wie Privatfirmen. So reden denn die Leute in Westafrika ganz selbstverständlich vom „Besitzer“ einer Kirche. Die lebt von Spenden ihrer Mit- glieder. Arme geben den Heils- verkündern ihre letzten Groschen; Reiche wollen sich mit ihrem Obulus einen Platz im Himmel erkaufen. Einige Propheten erweisen sich als begnadete Geschäftsleute. Sie erwirtschaften – etwa als Trans- portunternehmer und Schallplat-

ten-Produzenten in Nigeria – Ge- AP winne und bieten ihrer Gemeinde Ausheben des Massengrabs für verbrannte Sektenmitglieder in Uganda: Neue Art von Barbarei Errungenschaften, die der Staat nicht mehr bereitstellen kann: Elektrizität, ihm dabei mit Kerzen die Hände ver- Ugandas Regierung hatte der „Bewegung funktionierende Schulen und Kranken- brannte. In Uganda stürmte die Polizei das für die Wiedereinsetzung der Zehn Gebo- häuser. Anwesen der „Kirche der letzten Warnung te Gottes“ den Status einer gemeinnützi- Häufiger anzutreffen ist freilich jener an die Welt“; ihre 1000 Mitglieder waren gen Organisation gewährt. Sektengründer, der auf Kosten seiner An- einem Betrüger und angeblichen Kinder- Nach der Katastrophe von Kanungu sol- hänger lebt und die Gefolgschaft mit allen schänder auf den Leim gegangen. len solche Sekten verboten werden, und möglichen himmlischen Verheißungen und Als Betrüger oder Rebellen wurden jene Ministerin Matembe grämt sich schon über Zaubertricks an sich bindet. Solche Got- afrikanischen Christen verdächtigt, die sich voraussichtliche westliche Reaktionen: tesmänner sind Teil der afrikanischen Fol- schon in der Kolonialzeit von den „Mut- „Wenn wir jetzt die Religionsfreiheit ab- klore. Der nigerianische Nobelpreisträger terkirchen“ abnabeln wollten. Der Kongo- schaffen, hacken wieder die Menschen- Wole Soyinka widmete seinem „Bruder lese Simon Kimbangu gründete 1921 seinen rechtsgruppen auf uns ein.“ Jero“ zwei Dramen. Soyinkas ermordeter eigenen christlichen Kult und wurde des- Die Religionsfreiheit gilt ohnehin nicht Kollege Ken Saro-Wiwa vom Ogoni-Volk halb von den Belgiern verfolgt. Heute hat für Gruppen wie die „Heilig-Geist-Bewe- ließ selbst ernannte Propheten in einer die Kirche der Kimbanguisten 6,5 Millio- gung“ der Alice Lakwena. Die Prophetin populären TV-Serie und in Kurzgeschich- nen Mitglieder. Im britisch beherrschten hatte in den achtziger Jahren tausende Re- ten auftreten. Ostafrika unterstützte Kenias Unabhän- bellen um sich geschart und Ugandas gigkeitsheld und erster Präsident Jomo Armee in ernste Bedrängnis gebracht. Kenyatta afrikanische Kirchen, die Stam- Lächelnd schickte sie ihre Anhänger in den mestänze und Polygamie zuließen. Tod, weil die ihr glaubten, dass feindliche In der Regel aber standen Afrikas Füh- Kugeln ihnen nichts anhaben könnten, rer zu den anerkannten Kirchen, zumal wenn sie sich nur mit Öl einrieben. die sich rasch auf den historischen Wan- Die korpulente Lakwena lebt derzeit in del einstellten: Nach der Unabhängigkeit einem Flüchtlingslager in Kenia. Ihren Auf- ersetzten sie die weißen Kirchenfürsten stand im Grenzgebiet von Nord-Uganda durch schwarze. Die römisch-katholischen und dem Sudan führt ihr Neffe Joseph und protestantischen Hierarchien wur- Kony weiter. Seine terroristische „Wider- den Teil des Establishments der neuen standsarmee des Herrn“ hat 8000 Mann Staaten. unter Waffen. Nachschub und Rückzugs- Afrikanische Sekten und Kleinkirchen möglichkeiten bietet Kony die islamistische bekamen erst Massenzulauf, als sich die Regierung des Sudan. Erwartungen vom besseren Leben für alle Nun will auch die Tante wieder eingrei-

ZDF nicht erfüllten, als Hungersnöte ausbra- fen. Alice Lakwena erklärte Kameraleuten Sektenführerin Lakwena chen, als Militärputschisten und Rebellen in Kenia: „Gott sagt, ich muss zurück nach Unverwundbar durch Einreiben mit Öl die Bevölkerung drangsalierten. Geplagt Hause.“ Hans Hielscher, Christoph Plate

198 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

Fred für einen hervorragenden Schü- 1907 ließ Indiana als erster Bundesstaat USA ler hielten, bescheinigten ihm die An- eugenische Sterilisationen zu. Mehr als staltsärzte: 30 weitere Staaten folgten. Unterdessen Raserei im „Fred Aslin ist schwachsinnig. Von ihm schrieben Professoren der Universitäten gezeugte Kinder werden erblich zur Yale, Harvard und Columbia systematische Schwachsinnigkeit neigen. Er würde nie Abhandlungen gegen die Bedrohung durch Namen Darwins für seine Kinder sorgen können. Zu sei- so genannte Untermenschen. ner eigenen Wohlfahrt und zur Wohlfahrt Das war Wasser auf die Mühlen der Ein- Ein Prozess wirft der Gemeinde sollte er operiert werden, wanderungsgegner. Sie sahen den ameri- Licht auf ein düsteres Kapitel um seine Zeugungsunfähigkeit herbei- kanischen Genpool ohnehin durch Ita- zuführen.“ liener und Juden geistig und moralisch amerikanischer Geschichte: Fred wehrte sich, so gut er konnte, als verseucht. Per Gesetz wurde die Flut Zwangssterilisierungen in den USA er der Operation zustimmen sollte. „Ich schließlich eingedämmt. Der Biologe Harry dienten Hitler als Vorbild. habe Nein gesagt“, erinnert er sich. „Ich Laughlin, der radikalste Befürworter der Zwangssterilisationen, gehörte zu den trei- benden Kräften hinter diesem Gesetz. Am liebsten hätte er gleich „das wertloseste Zehntel unserer gegenwärtigen Bevölke- rung“ kastriert. Er zählte auch zu den Verfassern des Sterilisierungsstatuts von Virginia, das Hit- ler als Vorlage für sein „Gesetz zur Verhü- tung erbkranken Nachwuchses“ diente. Dankbar verschafften die Nazis Laughlin 1936 einen medizinischen Ehrendoktorhut der Universität Heidelberg. Bald sollten die Lehrlinge den Meister jedoch übertreffen. Allein im deutschen Altreich wurden schätzungsweise 200000 bis 350000 Menschen sterilisiert, weitere Rentner Aslin in Indiana 60000 in Österreich. Gegen seinen Willen sterilisiert US-Gesetze sahen zwar nur die Zwangs- sterilisierung von „Schwachsinnigen“ vor. wollte nicht, dass jemand an mir herum- Tatsächlich aber traf der chirurgische Ein- schneidet.“ griff in zahllosen Fällen Menschen ohne Nach einer kurzen Verhandlung vor dem geistigen Defekt: Außenseiter, die als Vormundschaftsgericht, an der Fred nicht „White trash“ verleumdete weiße Unter- teilnehmen durfte, schloss sich der Richter klasse, wohlfahrtsabhängige Teenager, den Medizinern an. Fred Aslin wurde ge- arme, ledige Mütter „nach der Geburt des gen seinen Willen sterilisiert. Er war einer zweiten illegitimen Kindes“ und vielfach von tausenden. indianische Frauen. 60000 bis 100000 Menschen wurden in Bis in die fünfziger Jahre regte sich ge- den USA bis in die sechziger Jahre, in Vir- gen die Zwangssterilisierung selten öffent- ginia sogar bis 1979, zwangssterilisiert. In lich Widerstand. Sie stieß vielmehr auf Lapeer allein waren es 2339. Ihren Höhe- breite Zustimmung. Der Cornflakes-König punkt erlebte die eugenische Raserei in W. K. Kellogg, First Lady Eleanor Roose-

FOTOS: AP FOTOS: den dreißiger Jahren. velt und nicht zuletzt die Geburtenreglerin Schüler Aslin in Lapeer (1937) Die Vorgeschichte der Opfer ist in Margaret Sanger, Gründerin der Organi- Als angeblich geisteskrank weggesperrt Gerichtsakten dokumentiert. Eine junge sation Planned Parenthood, gehörten zu Frau masturbierte; eine andere hatte ihrer den Befürwortern. utter Aslin schrie und tobte, doch Tante Milch und Briefmarken gestohlen; Ob Fred Aslin, 73, seinen Peinigern ver- die Vertreter der Gesundheits- eine Dritte litt angeblich an „schweren se- geben kann, weiß er nicht. Erst 1948, vier Mbehörde des Staates Michigan xuellen Problemen“, tatsächlich jedoch an Jahre nach seiner Vasektomie, verschaffte zeigten sich unbeeindruckt. Nach Ansicht Epilepsie; die Mutter eines jungen Mannes ihm ein Anwalt die Freiheit. Danach dien- der Behörden konnte die allein stehende war – vermutlich – Prostituierte. Sie alle te er im Koreakrieg und wurde durch einen Mutter ihre Kinder nicht versorgen. wurden sterilisiert. Lungenschuss schwer verwundet. Ihr Mann war 1936 an Lungenentzün- Gestützt auf die Lehre Darwins, gewann Nach seiner Genesung verdiente er mit dung verstorben. Kurz darauf erschienen die Eugenikbewegung um die Jahrhun- Erfolg seinen Lebensunterhalt als Farmer. die staatlichen Gesundheitshüter und ver- dertwende in Amerika rasch an Boden. Sie Vor zwei Jahren hat er den Staat Michigan frachteten sieben ihrer neun Kinder in die beruhte auf der Vorstellung, durch die Aus- auf Schadensersatz verklagt. Jetzt wies das Irrenanstalt von Lapeer. schaltung ungünstiger und die Bevorzu- Gericht die Klage als verjährt ab. Wahr- Das Gemäuer aus düsterem grauem gung erwünschter Gene die „Rasse“ ver- scheinlich werden Aslin und seine Anwäl- Stein nannte sich offiziell Lapeer State bessern zu können. tin gegen das Urteil Berufung einlegen. Home. Doch der harmlose Name täuschte. Die Aussicht, eine genetische Lösung für Doch wie immer das Verfahren ausgehen Sobald die Kinder das 18. Lebensjahr er- gesellschaftliche Missstände zu finden, war mag, eines hat der Staat Michigan nicht er- reichten, wurden sie – eines nach dem an- zu verlockend. Plötzlich erschien kein Mit- reicht: Fred Aslin, der sich doch angeblich deren – zwangssterilisiert. tel gegen Kriminalität, Alkoholismus, Ar- nicht zur Vaterschaft eignete, ist nicht kin- Fred Aslin kam 1944 an die Reihe. Ob- mut und Unmoral wirksamer als das chir- derlos geblieben. Sein Sohn heißt Frank. wohl seine Lehrer den heranwachsenden urgische Skalpell. Fred hat ihn adoptiert. Axel Frohn

200 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland FOTOS: AFP / DPA FOTOS: Indische Trägerrakete für Atomsprengköpfe, Staatsgast Clinton*: „Amerikas Seele vollführt den Tanz ums Goldene Kalb“

SÜDASIEN Musik nach dem Massaker Bill Clintons Reise zu den verfeindeten Atommächten Indien und Pakistan wurde überschattet durch ein Blutbad in Kaschmir. Es bestärkte den US-Präsidenten darin, eine „strategische Partnerschaft“ mit Neu-Delhi zu suchen und die Generäle in Islamabad zu züchtigen.

er Poet, der eine Milliarde Inder zu dann auf Englisch, „denn unser Ziel liegt dringend geboten erscheint, deutete der regieren versucht, hat vor seinem dort, wohin kein Schiffer je sich vor- US-Präsident selbst an: Dhohen Gast kein Gedicht aus eige- gewagt.“ Gleich zweimal hatte Clinton, noch be- ner Produktion aufsagen wollen. Vielleicht, Auf diese Einladung zum Betreten poli- vor er nach Südasien aufbrach, zum Ärger weil Atal Behari Vajpayee nur auf Hindi tischen Neulands sprang Clinton protokoll- seiner Gastgeber den indischen Subkonti- schreibt und Bill Clinton seine Verse kaum widrig vom Sessel und reichte dem nent als „gefährlichste Region der Welt“ verstanden hätte. Also ließ Indiens Pre- schmächtigen Brahmanen die Hand. „End- bezeichnet. Nicht bloß, weil Indien wie mier lieber einen amerikanischen Dichter- lich einmal ist der Präsident hier von je- auch Pakistan seit bald zwei Jahren über Kollegen zu Wort kommen, einen gewissen mandem verstanden worden“, seufzte hin- selbst gebaute Atomwaffen verfügt: Es hat Walt Whitman, und griff damit seinem Be- terher ein US-Diplomat erleichtert. sich auch erwiesen, dass dies keineswegs – sucher ans Herz. Tatsächlich scheint in der indischen wie während des Kalten Krieges zwischen Es war am dritten Tag nach der Lan- Führung nur langsam die Erkenntnis zu den Supermächten – zu einer „Sicherheits- dung der Air Force One in Delhi – und das reifen, welche Chancen sich ihrem dar- partnerschaft“ der atomaren Neulinge führ- erste Mal, dass der US-Präsident in Ge- benden und doch dynamischen Riesenland te, zum Verzicht auf Provokationen und genwart indischer Würdenträger ein strah- bei einer Korrektur der amerikanischen militärische Abenteuer. lendes, freudig gerötetes Gesicht bekam. Asien-Politik eröffnen könnten. Und war- Ganz im Gegenteil: Pakistan ging zur „Segle weiter, steure nur den tiefen Ge- um eine solche Korrektur in Washington verschärften Aggression über und schmug- wässern zu“, deklamierte Indiens wort- gelte Kampftruppen in den indisch besetz- verliebter Regierungschef erst in Hindi, * Vergangene Woche im Bundesstaat Rajasthan. ten Teil des einstigen Himalaja-Fürsten-

202 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

Die so schwer zu befriedigen- den Inder hinter sich, wollte der US-Präsident am vergangenen Samstag während eines nur fünf- stündigen Besuchs beim Militär- regime in Islamabad dem dorti- gen Putschgeneral die Leviten lesen: „Grenzüberschreitender Terrorismus“ heißt Clintons Vor- wurf gegen die Pakistaner, den er sich in Indien zu Eigen ge- macht hat. Da nützt es dem re- gierenden General Pervez Mus- harraf auch nichts, wenn er un- mittelbar vor Clintons Anflug zum Dezember Kommunalwah- len verspricht. „Aber Vorsicht“,

AP warnt Shekhar Gupta, Chefre- Terroropfer in Kaschmir: Grausige Begrüßung dakteur des „Indian Express“ in Delhi: „Ein freundliches Wort, tums Kaschmir. Es hat Indiens Streitkräfte auch nur ein etwas zu breites Lächeln des hohe Verluste gekostet, bis die Eindring- Amerikaners in Islamabad, und schon ist linge endlich aus ihren „Adlernestern“ das Zutrauen der Inder wieder im Eimer.“ über der strategisch lebenswichtigen Pass- Dabei lautete das ausdrückliche Haupt- straße bei Kargil vertrieben waren. ziel von Bill Clintons Indien-Fahrt, der ers- An der Demarkationslinie von Kaschmir ten eines US-Präsidenten seit der irrele- liefern Inder und Pakistaner sich fast täg- vanten Tour Jimmy Carters von 1978: eine lich Artillerie-Duelle; durch pakistanisches „strategische Partnerschaft“ zwischen der Gebiet strömen ungestört muslimische mächtigsten und der volkreichsten Demo- Freischärler und Terroristen, die Indien kratie der Erde zu schmieden. Wenn von zwingen, eine halbe Million Soldaten in starken Worten Washingtons etwas zu hal- Kaschmir zu konzentrieren. Könnte an die- ten ist, wird ein solches Projekt ernsthaft ser über 50 Jahre alten Front die Zünd- zum ersten Mal anvisiert, seit Indien 1947 flamme der Apokalypse hochschießen – seine Unabhängigkeit erlangt hat. einen atomaren „Schlagabtausch“ einlei- Eine Partnerschaft mit Indien, die das tend, der Millionenstädte wie Kalkutta und Prädikat „strategisch“ verdient, würde Karatschi in verstrahlte Leichenfelder ver- nicht nur den Bruch der Amerikaner mit wandeln würde? ihrem alten Verbündeten Pakistan bedeu- „Ich bin nicht hier, um zu vermitteln“, ten, Indiens traditionellem Erzfeind. Es rief Clinton Indiens politischer Elite mehr- hieße auch, dass Washingtons wirtschaftli- mals zu, und die nahm es erst skeptisch, che Fixierung auf China etwas nachlassen dann wie erlöst zur Kenntnis. Das ist Mu- müsste zu Gunsten des Zukunftsmarktes, sik in den Ohren der Inder. Im Kaschmir- den Indiens Menschenmilliarde bietet. Konflikt, wo Neu-Delhis Position völker- Genau dies hat Clinton vor beiden Häu- rechtlich mehr als anfechtbar ist, will das sern des Parlaments in Neu-Delhi mit rhe- Land sich von niemandem dreinreden las- torischem Schliff, aber verklausuliert in sen. Aber Clinton will ja nicht vermitteln, Aussicht gestellt – als er die Inder wegen ih- sondern Partei ergreifen: für Indien, gegen res demokratischen Systems zur Ausnahme Amerikas alten Verbündeten Pakistan. erklärte, die „umringt ist von Ländern, de- ren Regierungen die Demokratie ablehnen“. Damit bezog der Prä- sident sich unverblümt auf die unmittelbaren Nachbarn, die Isla- mische Republik Pakistan und die Volksrepublik China. Zu keiner dieser beiden Atommächte ver- fügt die Atommacht Indien im Himalaja-Massiv über gesicher- te, unumstrittene, beiderseitig an- erkannte Grenzen. Das sind schwelende Krisenherde seit eh und je. Welche Alpträume eine Gren- ze in Flammen bewirkt, wur- de am Dienstag vergangener Wo- che in Kaschmir von 35 brennen- den Scheiterhaufen bezeugt. Ein AP Anti-Clinton-Demonstration*: „Zutrauen im Eimer“ * In Neu-Delhi.

204 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland wahrscheinlich muslimisches York verkündet stolz: „Wir sind Exekutionskommando hatte sich Amerikas nächste Juden.“ eines Dorfs bemächtigt und den Sollte die terroristische Bluttat Männern befohlen, mit ihren zumindest den Nebenzweck ver- Ausweisen aus den Häusern zu folgt haben, Bill Clinton die In- treten. Darauf wurde vor der dien-Fahrt zu verderben, so ist Gurdwara, dem Sikh-Tempel, un- das Ziel partout nicht erreicht ter den Augen der erschütterten worden. Im Gegenteil: Als wäre Familien auf die Männer ge- die begreifliche Abgestumpftheit schossen, bis keiner sich mehr seiner Gastgeber gegenüber Ka- rührte. Bei einem Terrorakt 35 tastrophen aller Art auf ihn Hingemordete – selbst für übergesprungen, handelte Clin- Kaschmir ein blutiger Rekord. ton in seiner indischen Woche In seiner Pünktlichkeit wirkte nach dem Broadway-Motto „The das Massaker wie bestellt: als show must go on“. grausiges Begrüßungszeremo- POTUS kam diesmal ohne niell für den Präsidenten der FLOTUS. In der Kürzelsprache Vereinigten Staaten von Ameri- der Reisemarschälle und Leib- ka. An der entsprechend lang- wächter des Weißen Hauses for- fristigen, gründlichen Vorberei- men die Initialen von „President tung des Massenmords ist kein Of The US“ und „First Lady Of Zweifel. Die Bande mit Khaki- The US“ diese nicht unkomi- hemden und Kalaschnikows hat- schen Wortgebilde für den in- te das Dorf Chitisinghpura, süd- ternen Gebrauch. Da FLOTUS lich von Srinagar, mehrmals be- sich derzeit im amerikanischen sucht. Für den vorwiegend von Wahlkampf um den Sitz des Sikhs bewohnten Ort waren das Staates New York im US-Senat alte Bekannte: muslimische Frei- bewirbt, reist POTUS in Beglei- schärler, die letzthin öfter auf- tung einer gut herausgewachse- getaucht waren, um Milchtee nen jungen Dame, die auf dem oder Fladenbrot zu erbitten. Fahrplan des Weißen Hauses Von den Kriegern Allahs schlicht „Chelsea“ heißt. glaubten sich die Sikhs einiger- „Agra–Jaipur–Khajuraho“ lau-

maßen verschont. Die hatten AP tet die obligate Tour aller Besu- sich bislang ja damit begnügt, Besucher Clinton, Tochter Chelsea*: POTUS kam ohne FLOTUS cher, die Indien auf die Schnel- im mehrheitlich muslimischen le absolvieren. Nach Agra flog Kaschmir die indische Staatsmacht zu dira eine sozialistische Gesellschaft aufzu- der Präsident, um sich, wie Millionen Tou- bekämpfen und die verhasste, dramatisch bauen suchte, von den Sowjetführern um- risten vor ihm, auf der Steinbank vor dem schrumpfende Hindu-Minderheit zu terro- armt, die Amerikaner verstörend. Taj Mahal abbilden zu lassen – als stolzer risieren. Als religiöse Außenseiter fühlten Oder liegen die Ursachen für die Ent- Vater Händchen haltend mit Chelsea. Ein die 100000 Sikhs von Kaschmir sich vom fremdung zwischen Indern und Amerika- Exkurs über die Umweltvergiftung in der generellen Gemetzel leidlich freigestellt. nern nicht tiefer, im Spirituellen gar? Ma- Dritten Welt, die das Pracht-Grabmal des Welch ein Irrtum. Nun, da die Leichna- hatma Gandhi reagierte 1931 in London Mogulherrschers Shah Jahan für seine Frau me auf den Scheiterhaufen am Dorfrand auf eine Einladung amerikanischer Sym- Mumtaz mit „Marmorkrebs“ behaftete, von Chitisinghpura eingeäschert und die pathisanten zum US-Besuch mit einem versteht sich für Staatsmann Clinton an Blutlachen im Lehm versickert sind, planen schroffen Nein. Später erklärte er: „Ame- dieser Stelle von selbst. viele der bärtigen Turbanträger, ähnlich rikas Seele ist mir nicht zugänglich, sie voll- Auch Jaipur in der Wüste von Rajasthan wie bisher die Hindus, ihre Abwanderung führt den Tanz ums Goldene Kalb. Das ist gehörte zur Reiseroute des US-Präsidenten, aus dem weltberühmt schönen Kaschmir- ein Volk von Mammon-Anbetern.“ der im Luxusmilieu eines der großen Ma- Tal – am liebsten in den Punjab, die Korn- Dabei ist der Drang zum Gelde auch haradscha-Geschlechter Indiens auf bemal- kammer Indiens, wo die Sikhs in Amritsar den Indern nicht gerade fremd. Am besten te Elefanten traf und im Schutzgebiet Ran- ihren Goldenen Tempel unterhalten. bezeugen das die enormen Erfolge der in- thambhore zwei Tiger sah. Vor fast 40 Jah- „Ethnische Säuberung“ zu Gunsten der dischen Minderheit in den Vereinigten ren, als ein Maharadscha noch etwas zu Muslime, erklärte Premier Vajpayee dem Staaten. Weniger auffällig als die der Chi- sagen hatte, durften die Königin Elizabeth Gast Clinton, veranstaltet vom „grenz- nesen oder der Koreaner, gilt die Ge- von Großbritannien und ihr Prinzgemahl überschreitenden Terrorismus“ aus Pakis- meinschaft der US-Bürger mit indischen Philip einen Tiger nicht bloß sehen, son- tan: Mehr brauchte der US-Präsident nicht Wurzeln – meist aus dem Mittelstand mit dern schießen (oder schießen lassen): ein zu hören, um sich vor Ort bestärkt zu seinen elitären Privatschulen – als die aka- Prachtexemplar von über drei Meter Länge. fühlen in seinem intensiven Werben um demisch und wirtschaftlich erfolgreichste Khajuraho jedoch, die dritte Station je- die Inder. unter den neuen Einwandererschichten des eiligen Indien-Touristen, hat Clinton Was nur hatte den beiden großen De- der USA. glatt übersprungen. Womöglich interes- mokratien eine so „lange Zeit der Ent- Ihr Einfluss auf dem Kapitolshügel ist sierten ihn die weltberühmten Liebestem- fremdung“ beschert?, fragte Clinton rhe- überproportional, die Indien-Lobby im Re- pel mit ihren ausschweifenden erotischen torisch vor Indiens politischer Klasse, ohne präsentantenhaus hat 117 Mitglieder – und Skulpturen nicht, die der Fleischeslust in eine Antwort zu geben. „Jahrzehnte, die sehr viel beigetragen zu Clintons Indien- jeder nur denkbaren Form huldigen. Mag von den Ratten gefressen wurden“, nann- Wende. Wirtschaftsprofessor Jagdish Bhag- auch sein, dass der Präsident dafür zu prü- te Vajpayees Außenminister Jaswant Singh wati an der in New de ist und nicht recht wusste, wie er sich an all die Zeit, in der Indien unter der Kon- solchem Ort verhalten solle – mit Chelsea gresspartei Nehrus und seiner Tochter In- * Vor dem Taj Mahal. an seiner Seite. Carlos Widmann

206 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Und um das Bild des serbischen Un- menschen abzurunden, brachte die bosni- sche Kriegsseite die Version in Umlauf, Belgrads Mordbrennerbanden schlitzten schwangeren Frauen die Bäuche auf und nagelten die Föten an Bäume – eine selbst von seriösen Westmedien übernommene Horrorgeschichte. Sieben Jahre später steht das Uno-Tri- bunal vor der fast unlösbaren Aufgabe, aus all der Propaganda, den Schreckensbe- richten und Übertreibungen die Wahrheit herauszufiltern. Im Fall der Sex-Folterer aus Fo‡a glauben die Ankläger ausreichend Beweismaterial zu besitzen, um die Exis-

KAISER / G.A.F.F. tenz des Vergewaltigungslagers in der zen- Missbrauchte bosnische Frauen und Mädchen: Für 200 Mark an Soldaten verkauft tralbosnischen Stadt nachweisen zu kön- nen. Staatsanwalt Dirk Ryneveld nennt den 50 Einzelfällen wird ihnen Folter, Verge- Prozess gegen die drei Fo‡a-Serben „den KRIEGSVERBRECHEN waltigung und Versklavung vorgeworfen. umfassendsten Fall von systematischer Werden die aus Fo‡a stammenden Ange- Massenvergewaltigung in Bosnien“. Frauen als Beute klagten schuldig gesprochen, droht ihnen In nüchternen Zahlen: Einen Monat Haft auf Lebenszeit. lang, etwa vom 13. Juli bis 13. August 1992, Erstmals wird vor einem Der Prozess ist ein Novum in der Rechts- wurden in der örtlichen Sporthalle „Par- geschichte und ein gewagtes Unternehmen. tizan“ mindestens 72 Frauen wie Skla- Uno-Tribunal Gewalt gegen Frauen Denn bislang war sexuelle Gewalt aus vinnen gehalten. Sie lebten in ständiger als Verbrechen gegen politischen Motiven kein Tatbestand des Todesangst und wurden von ihren Schän- die Menschlichkeit verhandelt. Völkerrechts und somit auch nicht als Ver- dern erniedrigt, „bis sie serbische Babys brechen gegen die Menschlichkeit zu ahn- gebären würden“. uch im Internierungslager achteten den. Frauen als Beute und Vergewaltigung Andere wurden an Soldaten weiterver- die Bewacher auf strikte hierarchi- als Waffe war bei den Vereinten Nationen kauft. Darunter war laut Ryneveld auch Asche Ordnung in den eigenen Rei- lange nicht einmal ein Thema. Erst im ein zwölfjähriges Mädchen, für das der An- hen: Die Vorgesetzten nahmen sich jeden Winter 1992 definierte die Uno-Menschen- geklagte Kova‡ 200 Mark verlangt habe. Abend die ganz jungen bosnischen Mäd- rechtskommission organisierte Gewalt Danach sei das Kind verschwunden. chen, 12 bis 15 Jahre alt. gegen Frauen als Kriegsverbrechen – auf- Die Beschuldigten lieferten dem Uno- Ihre Untergebenen hatten ihnen die Ge- geschreckt durch die täglichen Horror- Aufklärer zufolge zwei Opfer für je 500 fangenen über Tag herbeigeschafft – „zum berichte aus Bosnien. Mark nach Montenegro, wo sie nach Mo- Durchdrehen“, wie es im Jargon der Ser- Es war die ungewöhnliche Publizität und naten Geiselhaft schließlich fliehen konn- ben hieß. Für die Lieferung des Nach- Politisierung durch die internationalen Me- schubs durften sich die niederen Ränge dien, die in diesem Krieg den weiblichen dann an älteren Frauen vergreifen, an Müt- Opfern zugute kam. Notwendig war aber tern, Kriegswitwen und Schwangeren. auch die Zivilcourage der gedemütigten Ein richtiges Zwangsbordell richteten Frauen, die ihre eigene Scham überwanden serbische Milizionäre 1992 im bosnischen und über das Geschehen sprachen – nicht Städtchen Fo‡a ein, wo sie muslimische erst Jahrzehnte später. Dass diese Offen- Frauen als Sex-Sklavinnen misshandelten. heit mit den Tücken der Kriegspropagan- Nun müssen sich drei der Anführer vor da kollidierte, war unausweichlich.

So schätzte im Februar 1993 eine Ar- REUTERS beitsgruppe der Europäischen Gemein- Mutmaßlicher Kriegsverbrecher Vukoviƒ schaft die Zahl der vergewaltigten Bos- Frauen in ständiger Todesangst gehalten nierinnen auf 20000. Viele von ihnen sei- en in Bordelle und Lager verschleppt und ten. Eine der beiden Frauen soll im Zeu- zwangsgeschwängert worden. Die Serben genstand aussagen, zu ihrem persönlichen hätten einige dieser Opfer, so die Brüsse- Schutz hinter einer Milchglasscheibe und ler Experten, so lange gefangen gehalten, mit verzerrter Stimme.

REUTERS bis eine Abtreibung unmöglich geworden Allem Anschein nach kann sich das Angeklagte Folterer Kunarac, Kova‡ sei. Das Kalkül: Mit dieser sadistischen Tribunal in Den Haag bislang nur auf Systematisch Vergewaltigungen geplant Demütigung sollten die Frauen aus ihren Zeugenaussagen der Opfer stützen, die ihre Familien verstoßen und mit einer Schwan- Peiniger wieder erkannt haben. Das Ge- Gericht verantworten – im ersten Verfah- gerschaft gebrandmarkt werden. ständnis eines beteiligten Soldaten, der als ren, in dem das Uno-Kriegsverbrechertri- Kurz nach dieser Veröffentlichung nutz- Kronzeuge auftreten könnte, gibt es nicht. bunal in Den Haag über Massenvergewal- te das bosnische Innenministerium die anti- Die Angeklagten hatten schon im Vor- tigung als einem gezielten Mittel der Krieg- serbischen Ressentiments im Westen mit feld des Prozesses alle auf unschuldig plä- führung urteilen will. eigener Zahlenakrobatik aus. Sarajevo diert. Ein serbischer Verteidiger höhnte öf- Laut Anklageschrift mit dem Aktenzei- sprach plötzlich von 60 000 Vergewalti- fentlich: „Ein Vergewaltigungslager in der chen IT-96-23 sollen die Beschuldigten Dra- gungsopfern, von denen 30000 sogar als Sporthalle von Fo‡a? Das sind doch CIA- goljub Kunarac, 39, Radomir Kova‡, 38, „Gebärmaschinen“ zur Vermehrung des Märchen; dort haben meine Mandanten und Zoran Vukoviƒ, 34, die Gräuel in Fo‡a Serben-Volks in „Konzentrationslagern“ die ganze Zeit über nur Basketball ge- systematisch geplant haben. In mindestens eingesperrt seien. spielt.“ Roland Schleicher

208 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

Am Ende zogen sich die praktisch be- siegten Japaner in Felshöhlen an der Küste zurück. Dort zwangen fanatische Offiziere zehntausende Greise, Frauen und Kinder aus Treue zum Tenno Massen- selbstmord zu begehen. Insgesamt star- ben bei der Schlacht um Okinawa mehr als 250 000 Menschen, darunter 12 000 Amerikaner.

CHINA NORDKOREA JAPAN SÜDKOREA Tokio Schanghai OKINAWA OKINAWA TAIWAN Nago Kadena PHILIPPINEN Luftwaffen- Pazifik stützpunkt Kadena Naha Okinawa Stadt US-Militär- 20 km stützpunkte AP Amerikanischer Luftwaffenstützpunkt Kadena: „Unsinkbarer Flugzeugträger“ Das war im Juni 1945. Die kaiserliche Armee opferte Okinawa damals gezielt als JAPAN Prellbock, um eine Landung der Alliierten auf Nippons Hauptinseln so lange wie möglich hinauszuzögern. Und als eine Art Begehrter Prellbock Prellbock gegenüber den Amerikanern dient die subtropische Inselkette dem ja- Auf Okinawa wächst der Protest gegen die kostspielige panischen Mutterland auch heute noch: Denn in der Präfektur Okinawa, die 0,6 Bürde der US-Militärbasen. Prozent der Landesfläche umfasst, liegen 75 Prozent aller US-Militärbasen in Japan. evor Generalleutnant Mitsuru Ushi- Über 80 Tage zuvor waren die feindli- Allein auf der Hauptinsel Okinawa neh- jima mit einem Samurai-Schwert chen US-Truppen auf Japans südlichster men die US-Stützpunkte ein Fünftel der BHarakiri beging, funkte er eine letz- Inselkette gelandet. Aber statt sich den weit Inselfläche in Beschlag. Wie gigantische te patriotische Botschaft von Okinawa zum überlegenen Gegnern zu ergeben, lieferten Käfige zertrennen die hoch umzäunten US- Kaiserlichen Hauptquartier in Tokio: „Wir Japans Militärs den Eroberern blutigen Wi- Basen Städte und Dörfer. können uns gratulieren. Die 32. Armee hat derstand um jeden Quadratzentimeter Die Lasten, die Japan im Rahmen des ihren Auftrag erfolgreich ausgeführt.“ Inselfläche. US-japanischen Sicherheitspakts über- nommen hat, sorgen seit Jahren für Streit zwischen der Insel-Präfektur und der Re- gierung in Tokio. Und diesen Ärger möch- te sich Premier Keizo Obuchi mit einer großen Party vom Hals schaffen – dem Gipfel der wichtigsten Staats- und Regie- rungschefs der Welt im Juli auf Okinawa. Die japanischen Gastgeber fiebern dem jährlichen G-8-Routinetreffen entgegen, als handele es sich um eine Olympiade. Noch über hundert Tage, so verkündet die elek- tronische Anzeigetafel am Sitz des Gou- verneurs von Okinawa, dann werden „die Augen der Welt auf Okinawa blicken“. An den Straßenkreuzungen wehen schon die Fahnen der acht Teilnehmer- staaten. Vor dem Tagungshotel in der In- selstadt Nago werden Palmen angepflanzt und ein künstlicher Tropenstrand aufge- schüttet. Damit ja nichts schief geht, über- wacht Gipfel-Wirt Obuchi die Vorberei- tungen höchstselbst. Er wollte am vergan- genen Wochenende zur Probe in Nago nächtigen. Die prächtige Kulisse des Gipfels soll

AFP /DPA eines vergessen machen: Japans ärmste US-Soldaten in Okinawa-Stadt: Sauf- und Sexhölle für GIs Präfektur verdankt die Ehre, die Staats-

212 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

Gegen den Tauschhandel hatten sich die von der wilden Vergangenheit. Die US-Sol- Bürger von Nago lange gewehrt. In einer daten amüsieren sich jetzt meist in den Rot- Volksbefragung lehnten sie die Basis 1997 lichtvierteln größerer Städte wie Okinawa- ab. Doch mit Blick auf den Gipfel setzte die Stadt. Immer häufiger bleiben GIs aber Regierung die Lokalpolitiker unter Druck. auch auf ihren Basen, weil sie die Drinks in Zugleich versprach sie der armen Stadt – japanischen Bars wegen des hohen Yen- dort sind doppelt so viele Menschen ohne Umtauschkurses kaum bezahlen können. Arbeit wie im übrigen Japan – üppige Fi- Dennoch fürchten die Einheimischen in nanzhilfen. Nago, dass mit dem Heliport wieder Lärm Mit dem Versuch, den G-8-Gipfel vor und Vergewaltigungen ihren Alltag stören allem innenpolitisch auszubeuten, spielt könnten. „Okinawa will endlich in Frieden Tokio ein gewagtes Spiel. Denn in Nago leben“, schimpft Zenko Nakamura von der wollen die Basen-Gegner den Bau des lokalen Widerstandsgruppe gegen die US- Heliports auf keinen Fall zulassen. An den Stützpunkte. Den G-8-Gipfel will Naka- Laternenmasten der Stadt fordern sie mit mura zwar nicht sabotieren, „aber wir wer- handgemalten Schildern „Frieden“ von den die Welt lauthals über die Unter- den US-Basen. Mit der Parole „Keine Stadt drückung Okinawas aufklären“. hat es je durch Militärbasen zu Wohlstand Als Unterdrücker sieht Nakamura vor gebracht“ widersprechen die Gegner örtli- allem den japanischen Staat. Im fernen To- chen Bauunternehmern, die sich von den kio bestimmt die Regierung über eine In- Basen Profit erhoffen. selkette, die geografisch viel näher an Heftig regt sich der Widerstand in Nagos Schanghai liegt. Hier sind die Menschen

AP Ortsteil Henoko, wo der Heliport gebaut stolz darauf, dass sie anders aussehen, ei- Anti-USA-Demonstration (1997) werden soll. In den Küstengewässern lebt nen anderen Dialekt sprechen und ihren Gegen die Unterdrückung Okinawas der gefährdete Dugong, eine Seekuh-Art; Tofu anders zubereiten – eben nicht wie in am Strand legen seltene Schildkröten ihre Japan, sondern wie in China. und Regierungschefs der führenden In- Eier. Mehr als um die Naturidylle sorgen Einst war die heutige Präfektur Okina- dustrieländer beherbergen zu dürfen, sich die Leute von Nago aber um ihre ei- wa das Königreich Ryukyu. Von der Insel- einem innenpolitischen Schachzug der gene Sicherheit. hauptstadt Naha schickten die Könige Tri- Regierung. In einer Blechhütte am Hafen hocken butmissionen sowohl nach China als auch Denn als Gegenleistung musste Okina- die Basen-Gegner auf Tatami-Matten und nach Japan – dadurch sicherten sie sich wa dem Plan zum Bau einer amerikani- schmieden Widerstandspläne. Rentnerin Handelsrechte und Unabhängigkeit. Doch schen Hubschrauberbasis in Nago zustim- Haeko Shimabukuro erzählt vom Vietnam- 1879 unterwarf das Kaiserreich Japan die men. Die USA hatten die Verlegung des krieg. Damals diente Okinawa als Nach- Inseln, setzte den König ab und ver- Stützpunkts innerhalb Japans zur Bedin- schubbasis. Hunderte Bars verwandelten schleppte ihn nach Tokio. gung für die Schließung einer anderen, Henoko in eine Sauf- und Sexhölle für GIs Mit eiserner Hand befestigten die Japa- größeren Basis auf Okinawa gemacht. vom benachbarten US-Stützpunkt Camp ner die eroberten Inseln und machten sie Doch war keine Kommune bereit, neue Schwab. zum Sprungbrett für die militärische Ex- US-Truppen aufzunehmen. Also musste In Henokos „Welcome Bar Street“ zeu- pansion nach Taiwan und Südostasien. Okinawa ein weiteres Opfer für die Nation gen heute nur noch verblichene Schriftzüge Nach der Eroberung von Okinawa 1945 bringen. wie „Flamingo Bar“ oder „Hotel Friend“ bauten die USA die Insel als „unsinkbaren Flugzeugträger“ aus. Tausende Ein- wohner mussten ihre Grundstücke zwangsweise an die Besatzer ver- pachten. Von Okinawa zogen US- Truppen in den Koreakrieg, den Vietnamkrieg und später den Golf- krieg. Zwar gaben die USA das besetzte Okinawa 1972 an Japan zurück, aber ihre Militärbasen be- hielten sie. Über die Rückkehr zum Mutter- land jubelten die Einheimischen nur kurz: Nach der Rückgabe bauten japanische Unternehmen zwar Straßen und protzige Touris- tenressorts an Okinawas Küsten. Sonst aber tat das reiche Indu- strieland wenig, um sein Armen- haus im Süden für die Bürde der US-Basen zu entschädigen. Zwar gelang es den Japanern, die Zahl der ungeliebten US-Ba- sen im Mutterland von über tau- send in den fünfziger Jahren auf 91 Stützpunkte zu reduzieren. Aber als Ersatz bauten die USA

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Okinawa zur größten Militärbasis US-Soldaten auf Okinawa (1945): Blutiger Widerstand um jeden Quadratzentimeter außerhalb des eigenen Lands aus:

214 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland

Tropische Strände betonierten sie mit Bun- kern zu; mit gefährlichen Manövern und Tiefflügen, bei denen Kampfflugzeuge mit- unter auf Wohngebiete stürzten, hielten sie die Inseln quasi im Kriegszustand. Die US-Truppen führten sich auf Okina- wa wie Besatzer auf. Doch als 1995 drei amerikanische Soldaten eine zwölfjährige Schülerin brutal vergewaltigten, hatte die Geduld der Einheimischen ein Ende: Rund 80 000 Insulaner protestierten gegen die amerikanische Truppenpräsenz. Der da- malige Gouverneur Masahide Ota legte sich offen mit der eigenen Regierung an: Die Nation lasse Okinawa im Stich. Da sah sich Japan erstmals genötigt, mit den USA ernsthaft über eine Verringerung der Basen auf Okinawa zu verhandeln. Einen spürbaren Abbau ihrer Präsenz lehn- ten die Amerikaner indes ab. Sie verweisen auf die Bedrohung durch das unberechen- bare stalinistische Regime in Nordkorea und die Spannungen zwischen China und Taiwan. Seit die USA 1992 ihre Stütz- punkte auf den Philippinen schließen mussten, ist Okinawa für sie als Asien-Ba- sis strategisch wichtiger als je zuvor. Das weiß natürlich auch Premier Obu- chi. Aber der Japaner, der seine Absichten ungern in offener Debatte, sondern am liebsten in symbolischen Gesten mitteilt, setzt auf die harmoniestiftende Wirkung des Gipfels. Obuchi will den USA – ähnlich wie den eingeschüchterten Stadtvätern von Nago – im Vorfeld des Gipfels offenbar Zu- geständnisse abhandeln. So soll die Clin- ton-Regierung zusagen, den geplanten Heliport in Nago nach 15 Jahren wieder zurückzugeben – und damit ein Verlangen der Präfektur Okinawa erfüllen. Gleichzeitig drängt die Obuchi-Regie- rung die Amerikaner, Japans finanziellen Beitrag zum Unterhalt der US-Basen deut- lich zu senken. Bislang zahlen die Japaner dafür an Washington jährlich rund 13 Mil- liarden Mark. Doch angesichts der Wirt- schaftsflaute wird dem hoch verschuldeten japanischen Staat diese Ausgabe zu teuer. Wenn schon, dann möchte Tokio lieber mehr Geld in die Aufrüstung der eigenen Armee stecken. Das Feilschen ums Geld schürt den la- tenten Anti-Amerikanismus der Japaner gegenüber ihrer einstigen Besatzungs- macht: Die sonst als liberal geltende Zei- tung „Asahi Shimbun“ kritisiert das „Auf- trumpfen“ der Geld fordernden Amerika- ner. Wenn die US-Truppen ihre Präsenz in Japan reduzierten, so „Asahi“, wären Nip- pons Selbstverteidigungsstreitkräfte durch- aus in der Lage, das Land zu schützen. Vor einem militärisch wieder erstarkten Japan aber fürchten sich asiatische Nach- barn wie Südkorea. Sie wünschen den Ver- bleib der US-Truppen auf Okinawa. Die Erinnerung an Nippons Kriegsgräuel im Zweiten Weltkrieg ist in der Region wach; die Furcht vor einem militärischen Come- back der Japaner sitzt tief.

216 der spiegel 13/2000 Die großzügige finanzielle Unterstüt- zung durch Japan macht Okinawas Basen für die USA zusätzlich attraktiv. Während die Weltmacht seit Ende des Kalten Kriegs die Verteidigungsausgaben kürzte und ihre militärische Präsenz in Europa stark redu- zierte, baute sie ihre Schlagkraft auf Okina- wa noch aus. US-Strategen, die verstärkt auf schnel- les Eingreifen in regionale Konflikte zielen, schätzen das sub- tropische Okinawa als ideales Trainings- areal. Das gilt vor allem für die Elite- einheiten der rund 19000 Marines – die über zwei Drittel der amerikanischen Truppen auf Okina- wa stellen. In den nördlichen Dschun- gelgebieten robben die US-Soldaten durch Schlamm- kuhlen und Bam- bussträucher – wie im Vietnamkrieg. An Holzhüttenat-

REUTERS trappen – dem so Premier Obuchi genannten Dritte- Welt-Dorf – üben sie Angriffe auf Waffen- und Drogenfabriken in Südostasien oder Südamerika. In drei Jahren wollen die Amerikaner zwar die Hälfte des Dschungel-Areals an Japan zurückgeben. Zugleich rüsten sie ihre verbleibenden Trainingsanlagen aber so stark auf, dass dort jetzt fünfmal so vie- le Soldaten trainieren können wie zuvor. Auf einen Abzug der USA aus Okinawa können die Einheimischen daher lange warten. Aber zumindest eines haben die Proteste von 1995 erreicht: Die US-Truppen bemühen sich neuerdings, als „good neigh- bors“ mit der Bevölkerung auszukommen. Die Offiziere achten darauf, dass ihre Sol- daten nicht zu viel Alkohol trinken. Re- gelmäßig öffnen die Kasernen ihre Tore für Besichtigungen. Und noch ein Trost: Auch bei den Rodeos, auf denen GIs sonn- tags japanische Ochsen zureiten, dürfen Einheimische zugucken. Dadurch lassen sich die Stützpunktgeg- ner freilich keinesfalls besänftigen. Wäh- rend des G-8-Gipfels wollen sie die Basis Kadena – den größten amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Ostasien – mit ei- ner Menschenkette abriegeln. Um gewalt- tätige Proteste im Keim zu ersticken, schickt Tokio über 10000 Polizisten nach Okinawa. Ein Fiasko wie beim WTO-Gip- fel in Seattle will Obuchi verhindern. Aber vorsorglich bereiten sich Obuchis Beamte für den Fall vor, dass der G-8-Gip- fel doch in Tokio stattfinden muss. Falls plötzlich ein Taifun über Okinawa aufzie- he – so die offizielle Begründung –, sei To- kio gerüstet. Wieland Wagner der spiegel 13/2000 217 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland FOTOS: AFP / DPA (li.); REUTERS (re.) (li.); REUTERS AFP / DPA FOTOS: Wahlsieger Chen und Lu, Demonstranten der unterlegenen Kuomintang: Lieber heute als morgen unabhängig

ihrer 50-jährigen Alleinherrschaft. Zum und korrupte Organisation, die sowenig TAIWAN ersten Mal werden die 22 Millionen Tai- nach Taiwan gehörte wie ein Fisch auf waner auch von Politikern regiert werden, einen Baum. „Sie haben uns, unsere Kul- Fisch im Baum die den – wenn auch noch so fernen – tur und unsere Sprache als minderwertig Traum von einem vereinigten großen empfunden“, sagt Frau Chen. Nach seinem Wahlsieg steuert China nicht träumen. Jahrelang durften die Taiwaner ihren lo- Wie Pekings Kommunisten, die Taiwan kalen Dialekt nicht sprechen, selbst die tai- der frisch gewählte Präsident Chen als Provinz betrachten, strebte auch die wanische Nationalhymne ist ein altes KMT- auf die Unabhängigkeit zu – KMT die Wiedervereinigung an – seit Kampflied. Die taiwanische Gesellschaft China droht mit Militäraktionen. einigen Jahren freilich unter demokrati- gestalteten die neuen Herren ganz nach schen Vorzeichen. Doch Taipehs früherer ihrer alten Heimat. Sie benannten Taipehs it einem taiwanischen Fähnchen in Bürgermeister Chen und seine Anhänger Straßen nach den Städten und Provinzen der Hand steht Mao Hong-fu vor gehören zu einer neuen Generation von des Festlands. In der KMT-Zentrale hängt Mder Stacheldrahtbarriere am wuch- Politikern, die keine emotionalen Bindun- noch heute kein einziges Rollbild mit einer tigen Hauptquartier der Kuomintang („Na- gen zum Festland haben. Für sie ist die Landschaft Taiwans. tionale Volkspartei“) in Taipeh und ist den Insel ein „souveräner und unabhängiger Die Kinder lernen mehr über die Terra- Tränen nahe. „Wie soll es nur weiterge- Staat“, ein Zusammenschluss mit der kotta-Armee bei Xian als über die Vergan- hen?“, klagt der Parteiveteran und zieht Volksrepublik erscheint ihnen absurd. genheit ihrer Insel. Der Rockmusiker und ein zerknittertes grünes Heftchen aus der Was für den ehemaligen Soldaten Mao Wirtschaftsstudent Freddy Lin: „Wir ken- Tasche. Es weist ihn als Mitglied Nr. 208628 eine Tragödie ist, bedeutet für die Histori- nen die Längen- und Breitengrade von Pe- der Kuomintang (KMT) aus, aufgenommen kerin Chen einen „neuen Anfang“. Sie ar- king, lernen aber nicht, dass unsere Stadt im Jahr 1944. Fünf Jahre da- Taitung südlich von Hualien liegt.“ nach floh er mit den Trup- Der neu gewählte Präsident hat Taiwa- pen der Nationalisten auf nern wie Frau Chen und Lin einen großen die Insel Taiwan, später Teil seines Erfolgs zu verdanken. Es ist vor schob er als Soldat auf der allem die Jugend, die sich von Chen er- Insel Matsu Wache. hofft, er werde Taiwan zu mehr Eigen- Jetzt fühlt sich Mao von ständigkeit und seinen Bürgern zu mehr seinen Genossen betrogen. Nationalbewusstsein verhelfen. „Die Men- Leichtfertig hätten sie schen unterstützen uns, weil wir Taiwaner durch interne Querelen den sind“, sagt die designierte Vizepräsidentin Sieg verspielt: „Ich habe Annette Lu. ihnen vertraut. Parteichef Meinungsumfragen zeigen, dass sich die

Lee Teng-hui ist an unserer REUTERS Mehrheit der Bürger unter 35 Jahren vor Niederlage schuld. Er muss Chinesische Kriegsschiffe: „Verteidigung der Einheit“ allem als Taiwaner und erst dann als Chi- sofort zurücktreten.“ nesen verstehen. „In meinen Traditionen Trauer, Wut, Angst vor der Zukunft – für beitet nur unweit von der Kuomintang- bin ich Chinesin“, sagt zum Beispiel die ergraute Kämpen wie Mao, die letzte Wo- Zentrale im „Museum des 28. Februar“, Wirtschaftsexpertin Lai Xin-yuan. „Ich che den Platz vor dem Osttor belagerten, das an eine der dunkelsten Episoden der folge der Lehre von Konfuzius, beuge ist mit der bitteren Niederlage der Kuo- KMT-Herrschaft erinnert: 1947 hatten na- mich auch dem Willen meines Vaters. mintang (23 Prozent) bei den Präsident- tionalistische Soldaten zehntausende von Aber politisch bin ich Taiwanerin, ich ha- schaftswahlen am 18. März eine Welt Taiwanern niedergemetzelt. be mit dem Festland nicht das Geringste zusammengebrochen. Der Sieg Chen Shui- Für die ehemalige Geschichtslehrerin, zu tun.“ bians, 49, von der Demokratischen Fort- die heute Besucher durch das Museum Musiker Lin findet deshalb, Chen solle schrittspartei besiegelt nicht nur das Ende führt, war die KMT stets eine autoritäre die Unabhängigkeit der Insel lieber heute

220 der spiegel 13/2000 als morgen erklären. Doch der übte sich letzte Woche in Konzilianz. Um nicht die Pekinger Genossen zu noch lauterem Sä- belgerassel als vor den Wahlen zu provo- zieren, schlug er einen „Friedensgipfel“ mit dem Festland vor. Zudem kündigte er an, die Taiwaner dürften bald direkt mit dem Festland handeln, was die KMT bis- lang verboten hatte. Schiffe sollen fortan nicht mehr in Macau oder Hongkong teu- re Zwischenstopps machen, Kaufleute und Touristen auf dem Weg nach China nicht mehr umsteigen müssen. Um China nicht herauszufordern, ver- mied Chen sowohl die von dem scheiden- den Präsidenten Lee Teng-hui geprägte Formel von den „besonderen Staat-zu- Staat-Beziehungen“ als auch das heikle Wort „Unabhängigkeit“. „Chen braucht gar nicht von Unabhän- gigkeit zu reden“, sagt Antonio Chiang, Herausgeber der englischsprachigen „Tai- pei Times“. „Die Realitäten sprechen für sich selbst. Wir sind doch längst ein unab- hängiger Staat.“ Chen weiß, dass er sich auf schwierige Zeiten einrichten muss: Vor den Wahlen hatte die KP mit militärischen Aktionen gedroht, falls sich die Insulaner weiterhin weigerten, über die Wiedervereinigung zu verhandeln. Letzte Woche wiederholte KP- Chef Jiang Zemin Pekings Vorbedingung für Gespräche: Chen müsse die von Deng Xiaoping geprägte Formel „Ein Land, zwei Systeme“ anerkennen. Das ist für ihn eine inakzeptable Forde- rung. „Damit würden wir ja hinnehmen, dass wir nur eine Provinz der Volksrepu- blik sind“, sagt Publizist Chiang. „Sie stel- len uns eine Falle und sagen: ,Bitte tappt hinein‘.“ Für radikalere Chinesen war die Wahl des „Separatisten“ Chen bereits Grund ge- nug, sich zum Gefecht zu rüsten. In Chong- qing demonstrierten Studenten mit Paro- len wie „Kämpfen wir auf Taiwan!“ für die „Verteidigung der Einheit unseres Mutterlandes“. Der Chef des unabhängigen Chinesi- schen Rates für Fortgeschrittene Poli- tikstudien in Taipeh, Andrew Yang, hält die Wahl Chens deshalb für „gefährlich“. Wenn er sich nicht bald deutlich vom Prin- zip eines unabhängigen Taiwan absetze, sei das Risiko eines militärischen Konflikts groß, meint er. Nur ein paar präzise Rake- tenschläge gegen Flughäfen, Kasernen und Radaranlagen würden „Chaos und Panik“ auslösen und Taipeh an den Verhand- lungstisch zwingen. Doch das werde niemals geschehen, glaubt Heavy-Metal-Rocker Freddy: „Je mehr Druck, desto mehr entfernen wir uns vom Festland.“ Aus Protest gegen die Drohgebärden des „faschistischen“ China organisierte er jüngst im Restau- rant „Zeitgeist“ in Taipeh ein Konzert. Motto: „Wir lassen uns von China nicht schlucken.“ Andreas Lorenz der spiegel 13/2000 221 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite G. TILLIM Junge Rebellen in einem Demobilisierungscamp bei der Rückgabe ihrer Waffen: Im Gegenzug Amnestie zugesichert

SIERRA LEONE Ein Knirps als Scharfrichter Bürgerkrieg mit tausenden von Kindersoldaten: das Schicksal eines Jungen, der sich als Werkzeug von Freischärlern in einen mordenden Zombie verwandelte

ara Sahrkumba* war knapp sechs Jah- Drei Buchstaben prangen auf Saras re alt, als seine Mutter ihn in einen der Brust, als er nach sechs Jahren abgema- Süberfüllten Minitransporter setzte, die gert und fiebrig bei Port Loko, hunderte Ki- zwischen den Marktflecken Sierra Leones lometer von seinem Heimatdorf entfernt, verkehren. Er war das sechste von zehn wieder auftaucht: „R U F“. Die Insignien Kindern und ihr Lieblingssohn. Doch nun stehen für „Revolutionäre Vereinigte schickte sie ihn fort, seinen Lebensunterhalt Front“, eine barbarische Rebellenbewe- selbst zu verdienen. Er sollte den Groß- gung, die acht Jahre lang die eigene Be- eltern im Diamantengürtel von Kono beim völkerung terrorisierte, bevor sie im ver- Schürfen nach Edelsteinen helfen. gangenen Juli einen brüchigen Frieden mit Eingeklemmt zwischen schwitzenden der Regierung in Freetown schloss. Leibern und staubigen Kassawasäcken, er- Tausende Kinder und Jugendliche ha- haschte Sara einen letzten flüchtigen Blick ben die Freischärler im Verlauf des Bür- auf die Mutter, bevor sich der Laster in Be- gerkriegs in ihre Gewalt gebracht. Sie ha- wegung setzte. Klein und gedrungen wirk- ben sie zu Lastenträgern, Informanten und te ihre Gestalt am Straßenrand; aufmun- Killern abgerichtet. Und damit sie nicht ternd ihr Lächeln. Keiner der beiden ahn- entkommen konnten, schnitzten sie ihnen te, dass sie einander nicht wieder sehen ihr Logo gut sichtbar in die Haut. würden. Doch Saras Kindheit nahm ein Sara kam dabei noch glimpflich davon. abruptes Ende: Aufständische besetzten Die Markierung wurde mit einer Rasier- die Diamantenminen von Kono, und ein klinge eingeschnitten; sie ist gut vernarbt. Trupp bewaffneter Männer entführte den Anderen dagegen ritzten Kameraden das

G. TILLIM Jungen in den Busch. Schandmal mit stumpfen Messern oder Ehemaliger Kindersoldat Sara Metallspitzen in die Brust. Danach streuten Wie ein Weidmann Opfer gehäutet * Name von der Redaktion geändert. sie heiße Asche in die blutende Wun-

224 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Ausland „Weshalb sollte ein Mann weinen?“ Rebellenführer verheizen 300000 Minderjährige als Kanonenfutter.

rmee Gottes“ nennt sich eine in die Luft sprengen. Im ersten Golf- des 20. Jahrhunderts auf neun gefallene bizarre Guerrilla-Truppe in Bur- krieg marschierten iranische Jungen, ge- oder verwundete Soldaten nur ein Zivil- Ama. Sie besteht aus Angehörigen schmückt mit dem Stirnband der Märty- opfer, so hatte sich das Verhältnis zum der Karen-Minderheit und kämpft für rer, lachend ins Feuer ihrer irakischen Ende des Jahrhunderts umgekehrt. Und einen eigenen Staat. Weltbekannt wurden Feinde. Die Kindersoldaten glaubten, di- der Anteil der Kinder unter den zivilen die asiatischen Buschkrieger wegen ihrer rekt ins Paradies einzugehen. wie militärischen Opfern ist deshalb ge- Führer: Kinder melden sich freiwillig zu Him- stiegen, weil die meisten Konflikte in der Die Zwillinge Luther und Johnny Htoo melfahrtskommandos, weil sie sich der Dritten Welt toben, wo die Hälfte der Be- sind gerade zwölf Jahre alt und Analpha- eigenen Sterblichkeit nicht bewusst sind, völkerung jünger als 18 ist. beten. Ihre Anhänger verehren die bei- resümiert ein Uno-Fachmann. Erwachse- In der ferneren Vergangenheit hatten den als Heilbringer und Wundertäter. An- ne können die Minderjährigen physisch Kinder in Konflikten zumeist nur Hand- geblich prallen Kugeln von den Jungen ab; sie selbst sollen massenhaft Feinde getötet haben. „Ich habe noch nie ge- heult. Weshalb sollte ein Mann weinen?“, erzählte Luther westlichen Reportern. Die Htoo-Zwillinge sind die bekann- testen von rund 300000 Kindersoldaten in aller Welt – vielleicht die einzigen, die Erwachsenen Befehle geben, statt An- ordnungen auszuführen. In drei dutzend Staaten – von Angola bis nach Afgha- nistan, von Sri Lanka bis Peru – dienen Minderjährige in Armeen und bewaffne- ten Oppositionsgruppen; manche Kämp- fer sind nicht älter als sieben Jahre. Regierungssoldaten und Rebellen set- zen Kinder als Meldegänger, Kundschaf- ter und Wachposten ein. Die Männer las-

sen sich von Mädchen Speisen kochen (re.) (li.); REUTERS AFP / DPA und missbrauchen sie als Sexsklavinnen. Kindersoldaten in Burma, Bürgerkriegsopfer in Liberia: „Die effizientesten und skrupellosesten Bei Kampfhandlungen werden oft gerade die Jungkrieger an die vorderste Linie ge- und emotional einschüchtern. Zudem langerdienste geleistet. Trommel-Jungen schickt: „Children to the front.“ Vor allem sind Kinder für ihre Kriegsherren billi- führten die Soldaten in die Schlacht. Kna- in Afrika, wo die meisten Kindersoldaten ger als Volljährige; sie essen weniger und ben schleppten das Pulver für die Kano- leben, schätzungsweise 120000. verlangen meist keinen Sold. Kurz: Kin- nen in den engen Räumen der Schlacht- Die Regierungen Äthiopiens und Eri- dersoldaten sind der Traum von Rebel- schiffe von Napoleon und Admiral Nel- treas verheizen Minderjährige zu tausen- lenführern. son. Doch beim Kampf Mann gegen den in einem sinnlosen Grenzkonflikt. Im Deshalb lässt der Chef einer obskuren Mann war der Kindersoldat weitgehend Kongo rekrutieren die Truppen des Prä- „Widerstandsarmee des Herrn“ im Nor- wertlos. „Er wäre nach dem ersten sidenten Kabila Jungen und Mädchen – den Ugandas tausende von Jungen und Schwertstreich eines Erwachsenen zu Bo- so wie auf der anderen Seite die Bewe- Mädchen entführen und missbraucht den gegangen“, schreibt der britische gung gegen den Mobutu-Nachfolger Ka- sie in seinem Feldzug gegen die Regie- Militärhistoriker John Keagan. bila. In Sierra Leones Rebellenarmee rungstruppen. Die können ihre Reihen Heute dagegen kann ein Dreikäsehoch kämpften bis zu 10000 Kinder. nur mittels Zwangsrekrutierung auffüllen lernen, wie man mit automatischen Waf- „Kinder sind die effizientesten und und fangen Schuljungen von Fußball- fen umgeht: mit russischen AK-47-, ame- skrupellosesten Soldaten“, sagt Olara plätzen weg. rikanischen M-16- und deutschen G-3- Otunnu, ehemaliger Außenminister von Für das Uno-Kinderhilfswerk Unicef Sturmgewehren oder israelischen Uzzi- Uganda und seit 1997 Uno-Sonderbeauf- zog der Beauftragte Otunnu eine Bilanz: Maschinenpistolen. Mit solchen Mord- tragter für Kinder in bewaffneten Kon- In den vergangenen zehn Jahren kamen instrumenten überschwemmen Waffen- flikten. Kinder sind zwar nicht brutaler zwei Millionen Kinder in Kriegen ums händler die Dritte Welt, vor allem Länder, als Erwachsene, aber viel leichter zu Leben. Sechs Millionen wurden zu Krüp- in denen schon über Jahrzehnte Bürger- manipulieren. peln. Eine Million verloren die Eltern. kriegszustände herrschen – etwa den Su- Die Welt kennt Beispiele schlimmster Zehn Millionen Kinder erlitten schwere dan, Afghanistan oder auch Kolumbien. Gehirnwäsche: In Sri Lanka opfern sich psychische Schäden. Bei den Sicherheitskräften des von junge Mädchen für die Separatisten-Be- Ein Trend lässt sich klar ablesen: Weil Drogenkriegen heimgesuchten latein- wegung der Tamilen, indem sie sich heute viel mehr Bürgerkriege ausbrechen amerikanischen Staates marschieren Sprengstoff um den Leib binden und in- als Kriege zwischen Staaten, steigt der 15 000 Kinder. Weitere Jungen und mitten von Soldaten als lebende Bomben Anteil der zivilen Opfer. Kam zu Beginn Mädchen gehören zu Kolumbiens rechten

226 der spiegel 13/2000 de. Mit zwölf Jahren hat Sara durchlebt, deren einzige noch verbliebene Lebens- was Gleichaltrige im Westen allenfalls aus ader ab. Milizen und linken Rebellengruppen. „Rambo“-Filmen kennen: Er hat gebrand- Ihr Führer, ein in Libyen zum „Revolu- Die Milizen nennen die Kinder in schatzt und geplündert, Feldzüge angeführt tionär“ ausgebildeter Fotograf namens Fo- ihren Reihen „Glöckchen“, denn sie zie- und selbst Kinder entführt. Er exekutierte day Sankoh, nahm all das für sich in An- hen als Vorkommandos das Feuer auf vermeintliche Kollaborateure und Verrä- spruch, was der Staatsführung fehlte zu sich und warnen die Folgenden. Die Re- ter. Denn sein Kommandeur, der landes- ihrem Machterhalt: eine straff geführte bellen feiern ihre Kleinen als „Bienchen“, weit gefürchtete „Colonel Superman“, hat- Truppe, Untergebene, die ihn wie eine weil sie dem Feind unerwartete Stiche te ihn zu seinem Scharfrichter ernannt. Kultfigur verehrten oder bis zur Selbstauf- beibringen. Nichts wünscht sich Sara heute mehr gabe fürchteten, und unerschöpfliche Geld- Geraten die Bienchen in Gefangen- zurück als die verlorene Unschuld. Er rin- mittel aus dem Schmuggel von Diamanten. schaft der kolumbianischen Regierungs- ge darum, wieder „der Mann“ zu sein, der Selbst das moralische Recht zum Wider- truppen, müssen sie oft Minenfelder räu- er einst war, sagt er, im Busch altklug ge- stand proklamierte er für sich. Die Politi- men. Kinderkämpfer, die sich absetzen, worden. Doch selbst wenn es gelingen soll- ker, so ließ er verlauten, hätten sich als werden von den Kommandeuren oft als te, das Kainsmal auf seiner Brust abzu- „unfähig, unverantwortlich und korrupt“ Fahnenflüchtige zum Tode verurteilt. Zu- schleifen, wird der Junge zeitlebens von erwiesen. Doch während er sich als der weilen müssen Gleichaltrige 12- und 13- diesem Krieg gezeichnet sein. Rächer der Entrechteten aufspielte, plün- jährige Jungen und Mädchen hinrichten Der Krieg hat das kleine Land an der derten seine Truppen jeden Flecken Land, und das Blut der Getöteten trinken. Westküste Afrikas derart ausgeblutet, dass den sie besetzten.

Kinder-Soldaten Tschetschenien Länder, in denen derzeit Tadschikistan Kinder und Jugendliche Algerien Libanon Afghanistan kämpfen Israel (besetzte Gebiete) Sudan Burma Kolumbien Eritrea Philippinen Sierra Leone Äthiopien Sri Lanka Somalia Rep. Kongo Uganda Dem. Rep. Kongo Ruanda Angola Burundi

Kämpfer“

Rebellen und Offiziere regulärer Trup- es heute als eines der ärmsten der Erde In den acht Jahren ihres Feldzugs gegen pen zwingen Kinder und Jugendliche be- gilt: 100000 Menschen starben, 500000 flo- „kriminelle Politiker und militärische wusst zu Grausamkeiten an Menschen, hen ins Ausland, an die 10000 Bauern sind Abenteurer“ gruben Sankohs Buschkämp- die ihnen nahe stehen: Wer Freunde, Ver- Invaliden; Kinder wie Sara hackten ihnen fer ganze Straßenzüge und Felder in den wandte und Nachbarn foltert oder um- mit Äxten und Macheten Hände, Arme, Ostprovinzen des Landes um. Über 30 Mil- bringt, bricht mit seinem bisherigen Le- Ohren ab. Grund für die Gräuel war die lionen Karat Diamanten wurden zwischen ben. Für ihn soll es kein Zurück geben. weltweite Gier nach Sierra Leones lupen- 1994 und 1998 über Liberia und die Elfen- „Mein Vater wurde bei unserem Ab- reinen Diamanten. Und so wurde der ein- beinküste ins belgische Antwerpen ge- schlusstest als lebendiges Ziel benutzt“, zige Reichtum des Landes zu seinem Fluch. schmuggelt. Für den Erlös kaufte Sankoh berichtet ein Kindersoldat aus Mosambik Als Sara Mitte 1994 nach Kono aufbrach, Waffen aus ehemaligen Sowjetbeständen. über seine Ausbildung. hielten die Rebellen längst weite Teile der Hätten die jungen Putschisten nicht eine In Europa mag es so extreme Fälle von edelsteinreichen Gebiete im Osten des südafrikanische Söldnerfirma zu Hilfe ge- Kindesmissbrauch nicht geben – aber Landes besetzt. Der Zustand der Regie- rufen, das Land wäre bereits vor sechs Jah- auch hier beteiligten sich tausende Jung- rungsarmee war desolat. Denn in den mehr ren in totale Anarchie versunken. kämpfer an Bürgerkriegen, besonders in als 30 Jahren, in denen die ehemalige bri- Als Sankohs Guerrilla im Oktober 1994 Nordirland und auf dem Balkan. Anfang tische Kolonie für befreite Sklaven unab- das Dorf attackierte, in dem Sara mit den des Jahres wurde von einer Uno-Ar- hängig war, hatten ihre Machthaber sich Großeltern lebte, stand der Junge bis zu beitsgruppe vereinbart, dass künftig Sol- vor allem selbst bereichert. Nicht nur die den Knien in Sumpfgras. Er hatte gerade daten erst ab 18 kämpfen dürfen. Exporterlöse für Diamanten flossen auf pri- eine Fuhre Geröllmassen zum Fluss ge- Aber Pläne, bereits die Rekrutierung vate Konten ranghoher Militärs und Büro- schleppt, um das edelsteinhaltige Gestein von Soldaten unter 18 Jahren weltweit kraten, selbst die für die Landesverteidi- herauszuwaschen, da sah er sie: etwa zwei abzuschaffen, sind bislang gescheitert, gung veranschlagten Gelder kamen nie bei dutzend uniformierte Männer, die Schnell- weil auch westliche Demokratien jün- der Truppe an. Das Heer wurde weder be- feuerwaffen im Anschlag. Lautlos wie gere Bewerber in ihre Armeen auf- zahlt noch aufgerüstet. Raubkatzen hatten sie sich angeschlichen. nehmen. So dienen in Großbritannien Auch der Putsch junger, frustrierter Jeder Fluchtversuch war aussichtslos. Das 16-jährige und in den USA 17-jährige Re- Offiziere im April 1992 hatte das Blatt Gras war messerscharf und zu hoch für sei- kruten. Hans Hielscher nicht mehr wenden können. Trotz massiver ne kleinen Beine, um davonzulaufen. Rekrutierung neuer Soldaten schnitten „Du kannst dich hier zur Ruhe legen“, die Rebellen den Statthaltern in Freetown meinte einer der Rebellen und machte ein

der spiegel 13/2000 227 Ausland

blutüberströmt zusammenbrach. „Ich wusste, dass ich Schreckliches getan hatte“, sagt er. Aber die kalte Gewehrmündung an seiner Schläfe war Furcht erregender als die Angst davor abzudrücken. „Du oder er“, brüllte Superman ihn an. Sara schoss, dreimal in die Lenden, wie man ihm be- fohlen hatte, und einmal in den Kopf – weil er den Anblick qualvollen Sterbens nicht ertragen konnte. In den Reihen der Rebel- len galt er fortan als gestandener Mann. „Kill man, no blood“, nannten sie den klei- nen Killer, der kein Blut sehen mochte, von jenem Tag an. Ähnliche Bewährungsproben hatten die meisten der entführten Kinder zu beste- hen. Nicht selten nötigten die Komman- deure ihre jugendlichen Geiseln gar, den ei- genen Bruder umzubringen, andere muss- ten Nachbarn verstümmeln. Wer nicht pa- rierte, starb. Wer gehorchte, würde nie mehr in sein Dorf zurückkehren können.

P. ROBERT / CORBIS SYGMA ROBERT P. So waren die Kinder ihren Befehlshabern Misshandlung einer Frau in Freetown*: Plündern, was das Herz begehrt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sara überlebte, weil er lernte, ebenso unerbittlich gegen sich selbst wie gegen an- dere zu sein. Mit der Zeit sei ihm das Tö- ten immer leichter gefallen, sagt er. Mit ro- boterhafter Beflissenheit führte er Befehle aus, die er weder guthieß noch verstand. Er zündete Dörflern die Strohdächer über den Köpfen an, gab Feuerschutz, während an- dere wie im Blutrausch Hände und Ohren abhackten; er bohrte Schnappschlösser durch die Lippen vermeintlicher Verräter, um ihnen für immer den Mund zu versie- geln, und er plünderte, was sein Herz be- gehrte: Transistorradios und Kassettenre- corder für die wilden Partys nach geschla- gener Schlacht, Schuhe, Fernseher und sei- DPA AFP / DPA ne Uniform. Die hatte einem erwachsenen Rebellenführer Sankoh, Putschist Koroma: Diamanten für die Machthaber Regierungssoldaten gehört, der bei einem Feuergefecht umgekommen war. Sara unmissverständliches Handkantenzeichen litärische Ausbildung neuen Kanonenfut- musste sie im Bund und an den Fesseln in der Höhe seines Adamsapfels, „oder ters für den Gegenschlag. mit Kordel festschnüren, damit sie ihm du kannst mitkommen.“ Sara, der fürch- Fünf Monate ist Sara durch die Hölle nicht von den schmalen Hüften rutschte. tete, sie könnten auch noch die im gegangen. Der Knirps musste sich unter Seine Waffe verlieh ihm Allmachtsge- Busch kauernden Großeltern entdecken, scharfem Beschuss unter Stacheldraht fühle. Er war gefürchtet und geachtet. fügte sich. Die Milizen hatten bereits das hindurchrobben, über Gräben voller Glas- Denn je mehr einer tötete, desto größer halbe Dorf in ihre Gewalt gebracht. Die scherben springen, Lasten tragen, die war sein Ansehen. Bauern waren gezwungen, ihr eigenes, von schwerer waren als er selbst, Sara wurde schließlich einer den Rebellen beschlagnahmtes Hab und und ein Schnellfeuergewehr be- jener „small boys units“ zuge- Gut davonzuschleppen. Wer jammerte dienen, das ihm bis zum Bauch- Je mehr ein teilt, die weitgehend auf sich oder unter der Last zusammenbrach, dem nabel reichte. Von mehr als Kindersoldat selbst gestellt Dörfer räumten wurde die Kehle durchschnitten oder der hundert Kindern, die so zu Sol- tötet, und Jagd auf frische Rekruten Bauch aufgeschlitzt. Sara brauchte nicht daten abgerichtet wurden, über- desto größer machten. Seine Einheit war fast lange, um zu begreifen: Nur wer von Nut- lebten knapp zwei Drittel das wird sein ständig auf den Beinen. Erst zen war, hatte überhaupt eine Überlebens- Training. Sara war einer der machten die südafrikanischen chance. besten Neuzugänge. Am Ende Ansehen Söldner ihnen die Gebietsge- Acht Tage dauerte der Gewaltmarsch konnte er die 30 Schuss seiner winne streitig. Später hielten nach Kailahun, dem Hauptquartier der Re- italienischen Beretta binnen weniger nigerianische Eingreiftruppen sie im Auf- bellen an der Grenze zu Liberia. Nicht eine Sekunden abfeuern, ohne sich auch nur trag der Westafrikanischen Wirtschaftsge- Nacht wurde Halt gemacht. Dank der einmal die Finger am Abzug zu verbren- meinschaft in Schach. Schlagkraft der südafrikanischen Söldner- nen. Er war ein guter Schütze. Des- Unterdessen herrschten in Freetown von truppe mussten die Aufständischen in der halb machte ihn Superman, der Komman- Jahr zu Jahr andere Regenten. Eine Zeit folgenden Zeit wichtige Diamantenminen deur, schließlich zum Vollstrecker seiner lang wähnten sich gar die Rebellen an der räumen. Umso dringlicher wurde die mi- Willkür. Macht: Nach einem Staatsstreich im Mai Das erste Mal weinte Sara noch, als der 1997 bot ihnen Putschistenführer Jonny * Durch Soldaten der nigerianischen Eingreiftruppe. Mann, den man ihn hinzurichten zwang, Paul Koroma die Regierungsbeteiligung

228 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite dem Motorrad eines Rebellenführers durch die Hauptstadt fuhr, wähnte er sich in Dis- neyland. Nie hatte er solch schnittige Autos gesehen oder in Flaschen abgefülltes Was- ser. Am faszinierendsten waren die Spiel- zeugläden und ihre Vitrinen voller Modell- autos. Er plünderte sie mit kindlicher Be- gierde und war zum ersten Mal, seit er die Mutter verlassen hatte, wieder selig vor Glück. Wie die Vertreibung aus dem Paradies empfand er den Rückzug in den Busch. Statt frischen Fischen und Schalentieren gab es wieder nur Reis. Und wie immer, wenn die Truppe von ihren Versorgungs- linien abgeschnitten war und die Geldmit- tel knapp wurden, mussten die Kinder mit Rindfleisch vermischtes Menschenfleisch auf den Märkten der Umgebung feilbieten. Mit der Sachlichkeit eines Weidmanns

G. TILLIM beschreibt Sara, wie die Opfer gehäutet Demobilisierte Kindersoldaten*: Selbstbewusstsein ohne Waffe im Anschlag wurden. Doch seine Stimme klingt tonlos dabei, und sein Blick ist in weite Ferne die Aufständischen in eine alles vernich- gerückt. Es gibt Dinge, die er in diesem tende Offensive. barbarischen Krieg mit ansehen musste, an Tausend Mann hatte Superman, Saras die selbst er, der kühle Killer, sich lieber Kommandeur, für den Endkampf zusam- nicht erinnert. mengezogen. Binnen weniger Wochen hat- Seit Monaten bemühen sich Sozialarbei- ten sie die kriegsmüden Nigerianer weit ter der Caritas in Port Loko um seine Wie- zurückgedrängt und die Vororte Freetowns dereingliederung in eine menschlichere Ge- eingenommen. sellschaft. Mit einer Spielzeugpistole war er Immer standen bei solchen Feldzügen eines Tages in ihrem Zentrum für demobi- die Kindersoldaten an vorderster Front. lisierte Kindersoldaten aufgetaucht. Die Be- Sie schossen als Erste, wenn ein Muni- retta hatte sein Kommandeur einkassiert, tionsdepot auszunehmen war oder Panzer bevor er den Jungen in die Freiheit entließ. angegriffen werden sollten. Vollgepumpt 3000 Kinder entführten die Rebellen nach mit euphorisierenden Drogen und angst- Schätzungen des Uno-Kinderhilfswerks al- mindernden Psychopharmaka, stürzten sie lein für ihren Freetown-Feldzug. Gerade sich in die Schlacht, als sei der Krieg ein mal 800 sind aus dem Busch aufgetaucht, virtuelles Videospiel. Wunderheiler sugge- seit sie mit der Regierung einen Frieden rierten ihnen, dass sie unverwundbar sei- schlossen, der die Entwaffnung aller am en. Wer trotzdem starb, hatte sich nicht an Bürgerkrieg beteiligten Gruppen vorsieht ihre Anweisungen gehalten. und den Gewalttätern im Gegenzug Am- Auch Sara hatte einen solchen „Juju“- nestie zusichert. Rebellenchef Sankoh und Mann besucht. Der rieb ihn von Kopf bis seine RUF wurden gar in die Regierung in- Fuß mit Kräutern ein und wies ihn an, sich tegriert. Dennoch ist bisher keiner der Kin- zehn Tage lang nicht zu waschen und kei- dersoldaten mit einer Waffe zurückgekehrt.

G. TILLIM ne Bananen, Orangen oder Kassawa mehr Die halten die Kommandeure offensichtlich Ehemaliger RUF-Rebell* zu essen. Dass er den Kampf um Freetown für den Fall zurück, dass das Friedensab- Rückkehr aus dem Busch überlebte, schreibt Sara heute der Magie kommen scheitern sollte. der Kräuter und der Tatsache zu, Die Spielzeugpistole – das an. Sara konnte ein wenig verschnaufen. dass er sich im Busch fast nur Geschenk eines nigerianischen Und endlich gab es genug zu essen sowie von Reis, Erdnüssen und erbeu- Die Kinder Hauptmanns – amüsierte Sara. Medikamente für die Kranken. teten Keksen ernährte. verkauften Statt Kugeln abzufeuern, gab sie Doch die Nigerianer machten diesem Unzählige Kameraden musste mit Rind- ein eher lächerliches Geräusch Zwischenspiel ein Ende: Sie stürzten die er auf dem Vormarsch auf Free- fleisch ab. Sara vermisst sein Schnell- Junta und setzten den 1996 zum Staatschef town begraben oder mit einer vermischtes feuergewehr. Ein halbes Leben gewählten Rechtsanwalt Ahmed Tejan Kugel im Bauch am Wegrand lang zur Unterwerfung gezwun- Kabbah wieder ein. Koroma und sein „Re- zurücklassen. Um die Gefalle- Menschen- gen, war es sein einziges Mittel volutionsrat der Streitkräfte“ (AFRC) flo- nen zu ersetzen, wurden neue fleisch zur Selbstbehauptung. Selbst- hen in den Busch und schlossen sich San- Kinder entführt und in Schnell- bewusstsein ohne Waffe im kohs Truppen an. Der Rebellenführer kursen unterrichtet, mit einer Waffe um- Anschlag wird er erst noch erlernen selbst befand sich da längst in nigeriani- zugehen. Dennoch waren sie nur noch 19, müssen. scher Haft. Der Bürgerkrieg wütete schlim- als sie Ende Januar vergangenen Jahres Zur Jahreswende hat ihn ein Caritas- mer als je zuvor. Und als Sankoh schließ- nach überstürztem Rückzug wieder in Mitarbeiter mit nach Rom genommen. lich im Oktober 1998 von Sierra Leones ihren Basiscamps ankamen. Dort erteilte ihm der Papst persönlich die Justiz zum Tode verurteilt wurde, gingen Trotzdem zählt der Freetown-Feldzug Absolution. Hinterher, sagt Sara, habe er zu den denkwürdigsten Momenten in Sa- sich zum ersten Mal auch ohne sein Ge- * Im Wiedereingliederungslager Port Loko. ras Buschkarriere. Als er am 6. Januar auf wehr „großartig“ gefühlt. Birgit Schwarz

230 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Sport

TEAM 2 Präsident Niebaum, Dortmunder Profis*: „Die Niederlage ist nicht seine Welt“

FUSSBALL Das Ende der Patriarchen und der VfB Stuttgart sind die Enttäuschungen der Saison. Beide Clubs werden von Präsidenten geführt, die zu einsamen Entscheidungen und zur Kumpanei mit den Stars neigen. Doch Alleinherrscher und

A. RENTZ / BONGARTS Mäzene alten Schlages halten im Bundesliga-Geschäft nicht mehr Schritt.

eil er im Westfalenstadion jeden seinem Domizil in Dortmund-Brünning- cher Einsicht. Kritikern begegnen sie mit Fluchtweg kennt, konnte Gerd hausen dann unverhofft ein Schlupfloch – nostalgiegetränktem Ehrgefühl. WNiebaum der Meute noch einmal die Bundesligatabelle. Sie bietet ihm die Dabei legt die sportliche Talfahrt ihrer entkommen. Unter weiträumiger Umwan- Gelegenheit, in den Abstiegskampf zu Vereine einen Schluss nahe: Die Ära der derung des Medientraktes gelangte der flüchten. Im Prinzip, hob er scheinbar Patriarchen neigt sich dem Ende zu. Auto- Steueranwalt und Notar nach Borussia bußfertig an, wäre er „gern bereit“, sich kratische Würdenträger und einsame Ent- Dortmunds jüngster Heimblamage unbe- „der Kritik zu stellen“. Nur könne er sich scheidungen sind im modernen Profifuß- helligt zum Parkplatz. leider mit der „ganzen Art von Vergan- ball ebenso passé wie die Herrschaft der Die Spuren des Club-Präsidenten, der zu genheitsbewältigung“ derzeit nicht aufhal- Gönner – jener Clubchefs, die aus ihrem besseren Zeiten seiner Regentschaft kaum ten – „jetzt geht es nur um den Erhalt der Mäzenatentum das Recht ableiten, ihre einer laufenden Kamera auswich, haben Klasse“. Fußballunternehmen zu führen wie einst sich dieser Tage nahezu verloren – die Lo- Das Versteckspiel des koketten Präsi- Schlotbarone ihre Fabriken. kalpresse wähnt Niebaum seit Wochen „auf denten wirkt wie ein bekannter Reflex. Mit Diese Leute, sagt Wolfgang Holzhäu- Tauchstation“. Die Niederlage nämlich, Kohlscher Halsstarrigkeit verweigern sich ser, Finanzgeschäftsführer beim Meister- bemerkte der Amtskollege eines Klassen- Niebaum in Dortmund oder Gerhard schaftsaspiranten Bayer Leverkusen, „ster- rivalen mokant, „ist nicht seine Welt“. Mayer-Vorfelder beim VfB Stuttgart jegli- ben aus“. Oder sie sehen, wie die scheinbar Zu Beginn der vergangenen Woche, auf unvergänglichen Zweitliga-Patrone Jean dem vorläufigen Höhepunkt der sport- * Miroslav Stevic, Stefan Reuter, Jürgen Kohler, Lars Löring („dä Schäng“) bei Fortuna Köln und lichen Krise, erspähte Niebaum, 51, aus Ricken. Heinz Weisener („Papa Heinz“) beim FC

234 der spiegel 13/2000 St. Pauli, dem Sturz ihrer Vereine in die Profis zur öffentlichen Be- Amateurklasse entgegen. Beim Karlsruher schwerde und Mitbestim- SC, dem ebenfalls Abstieg und Finanzkol- mung. Doch wenn der neue laps drohen, kündigte der allgewaltige Übungsleiter darüber räso- Roland Schmider jetzt nach 26 Jahren sei- niert, was alles bei Borussia nen Rücktritt vom Präsidentenamt an. „eingerissen“ und „ver- Der Niedergang von Borussia Dortmund schlampt worden“ sei, hört begann schleichend – noch bevor der Club der Clubchef angestrengt mit dem Gewinn der Champions League weg. Stattdessen fühlt sich 1997 seinen Gipfel erreicht hatte. Niebaum Niebaum „ein bisschen be- hatte den Vertrag mit dem angejahrten Mit- stätigt“ darin, „dass ich per- telfeldspieler Michael Zorc verlängert – per sönlich von Trainerwechseln Handschlag, ohne Rücksprache mit Trainer nichts halte“. . Der Drang des Präsiden- Auch andere Profis erfreuten sich präsi- ten ins operative Tagesge- dialer Fürsorge. Spieler wie Stefan Reuter schäft – deutliches Merkmal und Steffen Freund, der treue Famulus des patriarchischen Führungs- Hitzfeld-Kritikers , durf- stils – brachte in Dortmund, ten sich in örtlichen Restaurants über Tak- neben wirtschaftlichen Re- tik und Aufstellung „regelmäßig auswei- kordbilanzen, manche Skur-

nen“, wie sich Beobachter erinnern. BAUMANN rilität auf den Weg. Die Ver- Menschlich ist das zu verstehen. Wer Stuttgarts Präsident Mayer-Vorfelder: „Deine Zeit ist um“ pflichtung Thomas Häßlers, säße nicht gern mit leibhaftigen Europa- der in Trainer Skibbes Kon- meistern über die feinen Verästelungen des zept passte wie Petersilie Profifußballs zu Rate? Wie viel Licht fällt zum Pudding, fädelte Bo- im Vergleich dazu in ein Notariat? russias Führung wohl aus Amtstechnisch wirkte die Einflussnahme gekränkter Eitelkeit ein – ins Sportliche fatal. „Wenn Spieler beim Prä- nämlich exakt zu der Zeit, sidenten ihr Leid klagen dürfen“, sagt der da es landläufig hieß, dem Frankfurter Fußball-Lehrer , Club sei das Geld ausgegan- „hast du als Trainer keine Chance mehr.“ gen. Da, erinnerte sich spä- In Dortmund konnten die Profis so ihren ter Manager Michael Meier, Erfolgstrainer demontieren. Hitzfeld hatte wollte man schlicht „das angekündigt, mehrere Stars auszutauschen: Gegenteil beweisen“. Die Hierarchie sollte durchmischt, Er- Der neue Star kassierte folgshunger neu geweckt werden. Etliche schnell kolportierte 4,7 Mil- Spieler fürchteten um ihre Pfründen – und lionen Mark Gehalt und bearbeiteten Niebaum. wechselte nach nur einem Einen weiteren Anstoß, den langjährigen Jahr zu 1860 München. Das Coach auf ein Abstellgleis mit dem Titel weckte auch bei ande- Sportdirektor zu schieben, bekam der ren Begehrlichkeiten – die Clubchef nach Erzählungen eines mit- Westfalentruppe gilt inzwi- hörenden Münchner Taxifahrers noch in schen als teuerstes En- der Nacht des Champions-League-Finales semble der Liga. Übertrie- auf dem Weg zum Bankett im Bogenhau- benes Kostenmanagement sener Hotel. Da soll sich im Fond Präsi- gehört nicht zu den Vorlie- dentensohn Nico beim Papa beklagt ha- ben der Club-Oberen. Nach ben, dass sein Freund Lars Ricken im End- Kenntnis eines Spielerver-

spiel so spät zum Einsatz kam. BAUMANN mittlers können Bundesli- Die Ironie dieser Mobbing-Geschichte VfB-Trainer Rangnick, Star Balakow: Sparkurs durchgesetzt gaprofis bei einem Wechsel weitet sich für Niebaum nun zum Trauma nach Dortmund ihr Ein- aus: Dass Hitzfeld beim FC Bayern derzeit feld den Direktorenposten 1998 freige- kommen schon mal „verfünffachen – weil so autonom wie erfolgreich arbeiten kann, macht, beförderte Niebaum seinen Liebling sie sonst nicht in deren Gehaltsge- ist die eigentliche Niederlage der Borussia. Zorc auf den Posten des Sportmanagers. füge passen“. Der Münchner Vorzeigeclub hat sich Seitdem wurden in zwei Jahren für rund 75 Solche Burlesken spielen nicht nur im schon 1979 seines letzten Diktators auf dem Millionen Mark 18 Spieler gekauft – eine Ruhrgebiet. Auch am Neckar, wo der ehe- Präsidentenstuhl entledigt. Wilhelm Neu- Ansammlung, so die „Süddeutsche Zei- malige baden-württembergische Finanz- decker warf nach einer von Paul Breitner tung“, „aus mittelmäßigen Schaumschlä- minister Mayer-Vorfelder seit 25 Jahren angeführten Spieler-Rebellion das Hand- gern und verunsicherten Einzelkämpfern“. dem VfB Stuttgart vorsteht, führte höfi- tuch. Die heutigen Bayern-Bosse, Franz Auch Niebaums Personalentscheidungen sches Gebaren in die Krise; nur dass sich Beckenbauer, Karl-Heinz Rummenigge für die Trainerbank gerieten zu Flops. Erst der Zar schon hämische Liedvorträge von und Uli Hoeneß, haben es nicht nötig, versuchte er es mit dem renommierten Ita- den Stadionbesuchern anhören muss: sich im geborgten Glanz zu sonnen. Sie liener , dann mit dem unerfah- „Gerhard, deine Zeit ist um.“ waren bereits vor ihrem Wechsel ins Funk- renen Jugendcoach . Neuerdings hat er sich sogar der wach- tionärswesen berühmt. Eine Chance hatten beide nicht. „So senden Macht seiner Kontrolleure und Den Dortmunder Chef hingegen brach- große Schuhe“, zürnt Bernd Krauss, der vor Subalternen zu beugen. So musste er in te erst die Nähe zu Sammer, Möller, Ried- sieben Wochen Skibbe ablöste, „kann man der vergangenen Woche der Öffentlichkeit le ins Fernsehen – ein Irrtum, daraus Fach- gar nicht haben, um hier alle Brände auszu- eine radikale Umkehr der Vereinspolitik kompetenz abzuleiten. Kaum hatte Hitz- treten.“ Besonders empört ihn der Hang der erläutern. Sparen war dem ehrgeizigen

der spiegel 13/2000 235 Sport

„MV“ („Ich lasse mir aus meinem VfB kein schwerden seiner kickenden Hätschelkin- zehnte rund 30 Millionen Mark in die Unterhaching machen“) bislang stets su- der immer so bereitwillig entgegennahm Clubkasse legte, kann heutzutage keinen spekt gewesen, doch nun hat sich die Op- wie Niebaum die seiner Dortmunder Pro- Machtanspruch mehr begründen. In Zei- position eine gezügeltere Investitionspla- tegés, beschäftigte der VfB in den letzten ten, da Bundesligaclubs dreistellige Mil- nung auferlegt. Aufsichtsratschef Heinz fünf Jahren acht verschiedene Cheftrainer. lionenbeträge umsetzen, reichen private Bandke sieht „nicht mehr die Möglichkeit, Im Gegenzug waren die Stars in ent- Zuwendungen von Mäzenen aus der Bau- am großen Rad zu drehen“. scheidenden Momenten zur Stelle. So oder Gebäudereinigungsbranche gerade Geschickt hatten die Kontrolleure im musste die Mannschaft zum 65. Geburtstag mal aus, eine Regionalligamannschaft vor Verbund mit den Club-Direktoren Hansi des Präsidenten vor zwei Jahren komplett dem Abstieg zu retten. Müller und Karlheinz Förster Meldungen in der Stuttgarter MV-Villa antreten – gegen Auch der Hamburger Architekt und Im- lanciert, wonach der lange allein herr- den Willen des damaligen Trainers Joa- mobilienkaufmann Heinz Weisener er- schende Chef das Geld verprasst habe. chim Löw. Denn obwohl am nächsten Mor- wartet für die mehr als 20 Millionen Mark, Derart zur öffentlichen Stellungnahme ge- gen der Abflug zur Europacup-Partie in die er nach eigenen Angaben seit 1990 in zwungen, wirkte der CDU-Mann wie vor- Prag auf dem Plan stand, hatte der Ver- den FC St. Pauli gesteckt hat, vor allem geführt – und war „erschüttert“. einsboss den Spielern Ausgang bis Mitter- eines: keine Widerrede. Die beinahe zwanghafte Neigung, ho- nacht gestattet. Lange wird sich Mayer-Vor- Bei genauem Hinsehen relativieren sich fierende Stars um sich zu scharen und ih- felder nicht mehr halten können. Vermut- indes die Mildtaten des Oberhauptes. Seit 1995 ist Weisener als Gesellschafter von St. Paulis Marketing GmbH bis Ende 2005 im Besitz der Vermark- tungsrechte. Der Vertrag zwischen Club und Gesellschaft, in der Prä- sidentensohn Götz Weisener als Geschäftsführer firmiert, garantiert dem Boss drei Viertel der Netto- umsatzerlöse. Von Fußball, urteilt ein Insider, verstehe Chef Weisener „so viel wie der Papst von der Wahl der Miss Universum“. Renitenten Auf- sichtsräten schickte Weisener Brie- fe in drohender Diktion: Bei Ab- lehnung seiner Pläne lasse sich „eine Katastrophe für unseren FC St. Pauli nicht abwenden“. Jetzt, da der Club ohne Hauptsponsor und Ausrüster vor dem sportlichen Abstieg steht, scheint sie trotzdem einzutreten. Ähnliche Finanzsorgen plagen Schmiders Karlsruher Sport-Club, der vor gut zwei Jahren noch auf der internationalen Bühne des Uefa- Cup unterwegs war. Der autoritäre

M. BRANDT / BONGARTS M. BRANDT Vereinsboss, seit 1974 im Amt, ver- Hamburger Fanproteste: „Katastrophe für unseren FC St. Pauli“ sorgte nach dem Abstieg in den letzten zwei Jahren 29 Spieler und nen jeden Gehaltswunsch von den Augen lich wechselt er auf den Chefposten beim 4 Trainer mit Verträgen wie aus dem Wun- abzulesen, hat den Fußball-Duodezfürsten nationalen Verband DFB. Letzte Woche derland. So kassiert , zu jetzt in die Defensive getrieben. Als der bezeichnete er diese Perspektive bereits Beginn dieser Saison vom Libero zum Sport- VfB-Präsident, der sich nach Spielschluss als „eine große Herausforderung“. direktor befördert, 800000 Mark im Jahr. gern mit brennender Roth-Händle und Widerspruch sind die Autokraten des Solche personalpolitischen Alleingänge geöffneter Pilsflasche zu den verschwitzten Profifußballs nicht gewohnt. Beim Kölner von Vereinsfürsten mögen seltener wer- Profis in der Kabine gesellt, seine Günst- Zweitligaclub SC Fortuna rühmte sich der den, je mehr Bundesligaclubs sich eine zeit- linge noch im Ministerbüro im Gartenflü- ewige Boss Löring noch vor kurzem, seit gemäße Struktur verordnen und in Kapi- gel des Neuen Schlosses zum Kaffee emp- 1966 außer Zustimmung nur „zwei Enthal- talgesellschaften umwandeln. In Dortmund fangen durfte, kehrte der Bulgare Krassimir tungen“ bei Vorstandswahlen kassiert zu hat man derlei Pläne allerdings vorerst Balakow einmal von einer solchen Unter- haben. Er vergaß freilich zu erwähnen, dass zurückgestellt – „weil die Kleinwetterlage“ redung mit einer Gehaltserhöhung auf er zwischen 1986 und 1996 gar keine Mit- ungünstig sei, wie Niebaum erklärt. sechs Millionen Mark per annum zurück. gliederversammlungen einberufen hatte. Die Borussia wollte in diesem Frühjahr Vergangene Woche musste MV jedoch ver- Die Vereinsgeschäfte werden in der obe- als erster deutscher Profiverein an die Bör- kraften, dass sein Lieblingsspieler vom ren Etage seiner Unternehmenszentrale se gehen. In sportlichen Krisenzeiten, ahnt Trainer als Kapitän abgesetzt wurde. zwischen Ölgemälden und Antiquitäten der Präsident, sollte jedoch eher verhalten Die Köpfe aus besseren Zeiten hängen geführt. Und wenn er einen der 26 Trainer über Kommerz und Kapital geredet wer- gerahmt an der Wand hinter dem Schreib- seiner Amtszeit entließ, wollte er angeblich den. Nicht, weil der Traditionsclub Scha- tisch im Präsidentenzimmer: Balakow ne- immer nur „Schaden von meinem Club den nehmen könnte, sondern dessen Chef. ben den abtrünnigen Giovane Elber und abwenden“ – der Gebrauch des Besitzpro- Niebaum: „Man sollte Positionen meiden, Fredi Bobic – das einstige „magische Drei- nomens ist durchaus kein Versprecher. wo man angreifbar wird.“ eck“. Nicht zuletzt, weil MV die Be- Dass der gelernte Elektriker über die Jahr- Jörg Kramer, Michael Wulzinger

236 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Sport

s geht um Bruchteile von Sekunden. EISKUNSTLAUFEN Und um die Frage, wie lange ein EMensch der Anziehungskraft des Erdballs trotzen kann. Stefan Lindemann beschleunigt auf Kreisel auf Kufen Tempo 20. Dann dreht er die Schlittschu- he gegen die Laufrichtung, fährt einen Bo- gen, als wolle er eine Drei aufs Eis pinseln, Der Erfurter Stefan Lindemann steht vor dem Sprung sticht mit dem linken Fuß ein, springt beid- in die Weltklasse. Ein Computer in Leipzig unterstützt ihn dabei. beinig ab, wirbelt 0,7 Sekunden plus ein paar Hundertstel durch die Luft und landet auf dem rechten Fuß. Zwischendurch hat er seinen 162 Zentimeter großen Körper dreimal gegen den Uhr- zeigersinn um die eigene Achse gedreht. Der Rechner Ein dreifacher Toe- soll helfen, loop. Traumwandlerisch die knappe Zeit sicher gestanden, aber zu in der Luft wenig. „Probier ihn jetzt für einen Vier- vierfach“, ruft die Trai- nerin. Und Lindemann fachsprung nimmt neu Anlauf. Vier- zu nutzen fach oder dreifach. Im in- ternationalen Eiskunstlaufen der Männer ist das derzeit der Frontverlauf zwischen Medaillenchance und „ferner liefen“. Stefan Lindemann, 19, hat sich deshalb in die Obhut des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig be- geben. Seitdem ist ein Computer sein Co-Trainer. Da sich die Flugphase kaum noch verlängern lässt, soll der Rechner hel- fen, die knappe Zeit besser zu nutzen. Es gilt, in der Luft schnellstmöglich und zu- gleich kontrolliert zu drehen. Die Arbeit trägt Früchte. Der Gymna- siast aus Erfurt wurde dieses Jahr Deut- scher Meister, holte sich Anfang März den Junioren-Weltmeistertitel und will diese Woche bei den Weltmeisterschaften in Nizza in die Top Ten springen. Im sonst eher maroden deutschen Eiskunstlauf gilt der schmächtige Thüringer als möglicher Nachfolger von Norbert Schramm, der An- fang der achtziger Jahre die Bundesbürger mit sechs internationalen Medaillen in Wal- lung brachte. „Lindemann hat das Poten- zial zu einem Großen“, glaubt Schramm. Mit den kindlichen Gesichtszügen und den feuerroten Wangen wirkt der ange- hende Abiturient wie die Idealbesetzung für einen Sanostol-Werbespot. Auf dem Eis

DPA jedoch wird er zum Mann, pumpt den Brustkorb auf, glänzt Junioren-Weltmeister Lindemann: „Der will sich schinden“

Der richtige Dreh Wie der Computer einen 2. Drehung 3. Drehung vierfachen Toeloop 1. Drehung seziert 4.3. Drehung Abflug Landung

Stefan Lindemann in eine schematische Darstellung um. Sie er- Der Computer des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft in laubt, die Körperhaltungen im Detail zu studieren und zu vergleichen. Leipzig setzt die mit einer 3-D-Kamera aufgenommenen Sprünge von Es gilt, schnellstmöglich zu drehen, ohne ins Trudeln zu geraten.

240 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Sport mit Explosivität und guten Nerven. Sechs Der Rechner hingegen vermag sogar zu Dreifachsprünge zählen bereits zu seinem ermitteln, ob der Flug überhaupt zum Erfolg Repertoire. Am vierfachen Toeloop bos- führen konnte – oder, etwa durch Feinhei- selt er mit den IAT-Wissenschaftlern seit ten wie das übermäßige Beugen des Knies, vergangenem November. zum Scheitern verurteilt war. In der Spra- Theoretisch hat er die Höchstschwierig- che der Wissenschaftler: ob beim Athleten keit, die weltweit nur ein knappes dutzend die Richtung des Drehimpulses und die Kör- Herren wagt, in den Beinen. Die Leipziger perlängsachse übereingestimmt haben. Hilfstruppen haben ermittelt, dass Linde- Der Drehimpuls hat seinen Ursprung in mann mit seinen kurzen Hebeln mehr als der Kraft, mit der sich der Springer in Dre- 60 Zentimeter hoch springt und eine 360- hung versetzt. Wie bei einem rotierenden Grad-Drehung in 18 Hundertstelsekunden Kreisel zeigt er im Idealfall senkrecht nach zu Stande bringt. „Absolute Weltklasse- oben. Ist der Impuls zur Seite geneigt oder werte“, urteilt Karin Knoll, Eiskunstlauf- weicht die Körperlängsachse des Sportlers koordinatorin am IAT. zu weit von ihm ab, kommt die Drehbe- An Knolls Bürowand hängt ein Poster wegung ins Trudeln. „Das zieht den Läu- der jungen Katarina Witt, der sie 1988 zum fer wie ein Strudel in den Sturz“, sagt Ka- dreifachen Rittberger verholfen hat; zwi- rin Knoll. Ein schiefer Absprung etwa schen Computern und Datenblättern tüf- bringt den Athleten unweigerlich ins Tau- telt die Biomechanikerin akribisch an meln. „Ein ziemlich blödes Gefühl“, sagt Winkelgeschwindigkeiten und Körper- Lindemann, denn Nachsteuern während haltungen. der Drehungen ist praktisch unmöglich. Stefan Lindemann vertraut der Wissenschaftlerin, seit er sich als 16-Jähriger mit dem Dreifach-Axel plagte, dem un- verzichtbaren Königssprung der Zunft. „Sie hat am Ab- druck und am Armeinsatz rumgemacht und gesagt: In zwei Wochen kannst du ihn“, erzählt er, „und ich konnte ihn nach zwei Wochen.“ Andere deutsche Spitzen- läufer sind da skeptischer. Alle Kaderathleten dürfen bei Ka- rin Knoll Rat suchen, aber nur wenige halten so engen Kon- takt. „Nicht jeder verträgt es, haarklein die Fehler aufge- deckt zu bekommen“, sagt die

IAT-Fachfrau, so mancher H. RAUCHENSTEINER Trainer vertraue lieber seiner Vorgänger Schramm*: „Potenzial zu einem Großen“ Erfahrung. Ein so systemati- scher Arbeiter wie Lindemann sei in dieser Die Feinarbeit mit dem Computer ist Branche der Eitelkeiten die Ausnahme: freilich nur umzusetzen, wenn die Physis „Stefan will alles genau wissen; der will mitgeschult wird. Nach der Eislaufsaison sich schinden.“ geht Lindemann für Wochen in den Kraft- Hunderte Male stürzte er beim vierfa- raum, in der Turnhalle trainiert er sein Be- chen Toeloop – landete auf dem Hinterteil, wegungsgefühl auf dem Trampolin. Ilona auf den Knien, schlug der Länge nach aufs Schindler, die ihn seit zwölf Jahren betreut Eis. Nach drei Monaten stand er ihn zwei- und längst auch als Managerin, Stilberate- mal im Training. „Es ist eine Sisyphusar- rin und Zweitmutter dient, ist die Trai- beit“, seufzt Trainerin Ilona Schindler, 41. ningswut ihres „kleinen Knubbels“ zuwei- Als gelernt gilt ein Sprung, wenn der Läu- len sogar zu viel: „Manchmal muss man fer ihn 50-mal steht – pro Woche. ihn etwas bremsen.“ Jeder Versuch, per Digitalkamera auf- So auch bei der Weltmeisterschaft. In gezeichnet, wird am Computer ausgewer- Nizza, darüber hat sich das Gespann ver- tet und als Strichmännchen nachgestellt ständigt, wird Lindemann den vierfachen (siehe Grafik). Diese schematische Um- Toeloop aus taktischen Gründen wohl setzung hilft, den optimalen Bewegungs- noch nicht riskieren. Der Meister des ablauf für jeden Eiskunstläufer heraus- Fachs, Jewgenij Pluschenko, ist vorläufig zufinden. Denn selbst wenn ein Sprung sowieso unerreichbar. geglückt war, wusste man früher oft nicht, Unlängst schockte der Russe die Kon- warum. „Diese Nuancen sieht kein kurrenten mit einer Vierfach-dreifach- Mensch mit bloßem Auge“, sagt Karin zweifach-Sprungkombination. Lindemann Knoll. ist beeindruckt: „Dafür muss man Raketen in den Beinen haben.“ Rüdiger Barth, Ansgar Mertin * Bei der Europameisterschaft 1984 in Budapest.

242 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

OPER Berlins neuer Zampano anz schön auf dem Quivive und im GGeschäft, dieser smarte Maestro aus Italien: Kaum hat der 1959 geborene Fabio Luisi beim Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester und beim Orche- stre de la Suisse Romande gekündigt, als Chefdirigent beim Mitteldeutschen Rundfunk angeheuert, in Wien und München brillante Opernaufführungen geleitet und bei den New Yorker Phil- harmonikern „einen triumphalen Ein-

DPA stand“ (Wiener „Presse“) gegeben, da Verlagsleiter Hansen hat ihn auch schon der quirlige Udo Zimmermann am Frackschoß gepackt: BUCHMARKT gert. Beinahe noch einmal so viel sollen Von Herbst 2001 an, wenn der Leipziger das Haus (Verlust 1999: fast zehn Mil- Opernchef Zimmermann als Intendant lionen Mark) verlassen. Verhandlungen Rowohlts über Abfindungen sind im Gange, Vor- ruhestandsregelungen werden ange- strebt. Ungewiss ist das Schicksal der rote Zahlen Leiterin der weitgehend eigenständigen Dependance Rowohlt Berlin, Ingke ie Krise im Reinbeker Verlagshaus Brodersen, 50, die wenig Lust zeigt, die DRowohlt, einer Tochter des Holtz- Konzern-Vorstellung eines neuen Profils brinck-Konzerns, war auch auf der („jünger, schneller, großstädtischer“) zu Leipziger Buchmesse am vergangenen erfüllen. „Bücher sind nicht wie Mar-

Wochenende Thema. Nach dem Selbst- kenartikel zu produzieren“, ist ihr MDR mord des allseits beliebten Pressechefs Credo. Bei Rowohlt sollen nun die ein- Luisi Frank Scheffter, nach Zeitungsmeldun- zelnen Bereiche – dazu zählen auch gen über rote Zahlen, bevorstehende Kindler, Wunderlich und die Taschen- an die Deutsche Oper Berlin wechselt, Entlassungen und Programmänderun- buchverlage – in sich profitabel werden, wird Luisi dort neuer Generalmusik- gen, bemüht sich Nikolaus Hansen, 48, ohne die Quersubventionierung schwa- direktor. Der international begehrte einer der beiden verlegerischen Ge- cher Abteilungen durch stärkere. Wag- Star tritt damit die Nachfolge von Chris- schäftsführer, den Image-Schaden zu nisse mit einzelnen Titeln wird es nach tian Thielemann an, der eine Zusam- begrenzen. „Scheffter war nicht von Hansens Aussage auch weiterhin geben, menarbeit mit Zimmermann brüsk ab- Entlassung bedroht“, sagt er. Es solle „freilich nicht unbedingt mit Gedicht- gelehnt hatte. An Luisis Seite will Zim- möglichst auch künftig keine Härten ge- bänden“. Und neue Autoren? „Ge- mermann den Darmstädter General- ben. Die Zahl der Mitarbeiter habe sich wiss“, so Hansen, „sonst können wir ja musikdirektor Marc Albrecht und den schon in den vergangenen zwei Jahren gleich sagen: Wir bauen jetzt ab und Stabführer Kwamé Ryan positionieren, um 30 Personen auf rund 170 verrin- machen das Licht aus!“ derzeit Musikchef am Freiburger Stadt- theater.

ZEITGESCHICHTE Landser auf dem Donnerbalken eunzehn Millionen deutsche Männer kämpften für Hitlers Größenwahn zwischen NLeningrad und El-Alamein. Viele von ihnen hatten eine Kamera dabei, und die Bil- der, die sie schossen, erregten in den letzten Jahren die Bundesrepublik. Das Hamburger Institut für Sozialforschung hatte 1995 eine Auswahl für seine umstrittene Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ zusammengestellt. Die Fotos zeigten gehängte Partisanen, erschossene Juden und zerstörte Dörfer. Von Don- nerstag dieser Woche an ist nun im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst eine Art Gegenausstellung zu sehen: „Foto-Feldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939 bis 1945“. Im Gegensatz zu den Hamburger Ausstellungsmachern will man hier einen reprä- sentativen Ausschnitt deutscher Landserfotos zeigen; 120 Fotoalben mit 18000 Bildern haben die Ausstellungsmacher dafür gesichtet. Ihr Ergebnis sagt wenig aus über den Krieg, aber viel über die Verdrängungsleistung der Soldaten. So fotografierten diese mit Vorliebe Kameraden auf dem Donnerbalken, die Türme von Notre-Dame und eroberte Panzer. Verbrechen und Gewalt wurden dagegen meistens ausgeblendet. „Es sieht aus“, urteilt Museumsdirektor Peter Jahn, „wie ein Pfadfinderausflug“ (bis 12. Juni). „Foto-Feldpost“-Aufnahme

der spiegel 13/2000 245 Szene

LITERATUR KRITIKER Mamets Hiob Urlaub vor dem Entsetzen enn es einen Gott gibt, so denkt WFrank, kann das, was mir zugesto- ßen ist, kein Zufall sein. Frank denkt zu viel. Und zeugt es nicht von bedenkli- chem Hochmut, sich selbst zum Angel- punkt eines Gottesbeweises zu machen? Auch das fragt Frank sich selbst. Ande- rerseits kann die Ausrede nicht gelten, Gott habe anderswo alle Hände voll zu tun gehabt, denn Gott ist allmächtig. Frank, der zu skrupulöser Selbsterfor- schung neigt, hat schon immer wegen seiner Anflüge von Hochmut mit sich gehadert; nun aber, von einem Tag auf den andern, ist er aus den Höhen von Wohlstand, Erfolg und Ansehen hinab- gestürzt ins tiefste Elend – aus einem einzigen Grund: weil er Jude ist. Leo Frank aus Brooklyn, 29, Manager Badegast Reich (r.) in Swinemünde (1936) einer Bleistiftfabrik in der alten Südstaa- ten-Metropole Atlanta, wurde 1913 – in junger Mann beim Bade: die Jahre verlassen – über die entsetzliche nach einem höchst zweifelhaften Pro- ENähe der Mädchen suchend. Aber Zeit im Warschauer Ghetto hat der zess, dessen rassistisches Hetzklima die die Idylle täuscht. Marcel Reich heißt heutige Literaturkritiker und TV-Star Hearst-Presse und der Ku-Klux-Klan be- der bebrillte Knabe von knapp 16 Jah- Reich-Ranicki in seiner Autobiografie stimmten – als Mörder einer jungen Fa- ren. Geboren wurde er in Polen, seit „Mein Leben“, seit Monaten auf Platz 1 brikarbeiterin zum Tode verurteilt, je- sieben Jahren lebt er in Berlin und fühlt der SPIEGEL-Bestsellerliste, ergreifend doch vom Gouverneur sich hier daheim. Doch im Strandbad berichtet. Nun kommt zwar noch nicht von Georgia (der nicht Wannsee – es ist das Jahr 1936 – hängen der Film zum Buch, aber immerhin der an seine Schuld glaub- Schilder mit der Aufschrift „Juden un- Fotoband – mit einem überraschend rei- te und nicht den Ponti- erwünscht“, also verbringt der Halb- chen Schatz an Bilddokumenten („Mar- us Pilatus spielen woll- wüchsige lieber mit Gleichaltrigen Ur- cel Reich-Ranicki. Sein Leben in Bil- te) begnadigt, worauf laub in einem jüdisches Ferienlager in dern“, herausgegeben von Frank Schirr- Fanatiker Frank mit Swinemünde. Zwei Jahre später muss macher; DVA, Stuttgart; 49,80 Mark; Gewalt aus dem Ge- der junge Mann Deutschland für viele von Mitte April an im Handel). fängnis holten und an einem Baum aufhäng- ten. Das Lynch-Spek- takel hatte mehrere tausend Zuschauer; keiner der Rädels- Kino in Kürze führer kam je vor Gericht. Der berühmte Kriminalfall hat Bücher, „Siam Sunset“. Ein junger Mann ver- Dramen und Filme inspiriert, zuletzt liert seine geliebte Frau, weil ihr ein auch ein Broadway-Musical und einen Kühlschrank auf den Kopf fällt, der ge- Roman des Dramatikers und Filmregis- rade aus einem Flugzeug gestürzt ist. seurs David Mamet, 52, „The Old Reli- Das ist tragisch für den Mann (Linus

gion“. Auf Deutsch ist dieser nun in Roache), aber die Zuschauer können FOX 20TH CENTURY einer haarscharfen Übersetzung, doch (mit schlechtem Gewissen, versteht Sarandon, Portman in „Überall …“ unter dem irreführenden Titel „Der Fall sich) ein Kichern nicht unterdrücken, Leo Frank“ erschienen, der eine doku- zumal mit der Kühlschrank-Katastro- verrotten. Deshalb stopft sie ihre un- mentarische Darstellung erwarten lässt. phe das Pech des Helden erst anfängt: willige Tochter Ann (Natalie Portman) Mamet jedoch setzt das Faktische als Er gewinnt eine Bustour durch den aus- in den neuen Gebraucht-Mercedes und bekannt voraus und konzentriert sich tralischen Busch, bei der mehr schief steuert Beverly Hills und ihren Traum mit bohrender Energie ganz auf den geht, als sich selbst die Elchtest-Erfinder vom wunderbaren Leben an – den inneren Gewissensprozess, den Frank ausdenken könnten. Ein Übermaß an träumt sie für ihr Kind gleich mit. Doch allein gegen sich selbst, seine jüdische Feinfühligkeit kann man Filmemacher Ann ist schon mit 14 sehr viel heller Identität und seinen Gott führt. Das ist John Polson bei seinem Debüt nicht als die panische Adele und wehrt sich erzählerisch brillant und für den, der vorwerfen, doch macht er damit der kräftig. Wayne Wangs anekdotischer es wissen will, eine dichte, düstere, tief australischen Humor-Tradition alle Ehre. Gefühlsaufguss nach dem Bestseller von beunruhigende Lektüre. Mona Simpson erfrischt weniger durch „Überall, nur nicht hier“. Adele (Susan neue Einblicke in die Selbstsuche von Sarandon), frustriert und überspannt, Müttern und Töchtern als durch zwei David Mamet: „Der Fall Leo Frank“. Aus dem Ameri- kanischen von Bernd Samland. Hoffmann und Campe, will nicht in ihrer Heimat Wisconsin famose Hauptdarstellerinnen. Hamburg; 192 Seiten; 29,90 Mark.

246 der spiegel 13/2000 Kultur

mit unverschämter Elo- quenz die Europäische Am Rande Union auf, jetzt kommt auch noch der „Anton aus Tirol“, der mit Lernen von Zlatko Haider zumindest den elig sind die Armen im Geiste, Größenwahn gemein- Sverballhornt der Volksmund die sam hat: „Ich bin so Bibel und hat damit mal wieder schön, ich bin so toll – Recht. Denn wer in langen, entbeh- ich bin der Anton aus rungsreichen Studienjahren detail- Tirol“, dröhnt das Lied liertes Fachwissen anhäuft, muss des- aus Alpentälern, in halb nicht erfolgreicher sein als die Fußballarenen und an Unwissenden. 360 Passanten wurden, allen Orten, an denen so erfuhren SPIEGEL-Leser vorige Alkohol ausgeschenkt Woche, in München und Chicago wird. Aufgepeppt nach ihnen geläufigen Aktiengesell- mit einem Technobeat schaften befragt; aus den häufigsten hat das Volkslied vom Nennungen schnürten Berliner For- Anton der gelernte scher ein schönes Aktienpaket. Die- Koch und Mallorca- ses auf rein willkürlichen Angaben Plattenaufleger Gerry der Fußgänger basierende Depot war Friedle, 29, Kampfname deutlich ertragreicher als Vergleichs- Friedle, Begleiterin „DJ Ötzi“. Erschienen pakete ausgebuffter Börsenprofis. ist sein Mitgrölhit be- „Ignoranz zahlt sich aus“, lautet POP reits im Sommer letzten Jahres, doch denn auch das griffige Ergebnis erst jetzt breitet er sich über Skiurlau- der Straßen-Studie. Ötzis Eigenlob ber europaweit aus und steht zum Früh- Und vielfältig sind die Belege lingsanfang auch in Deutschland be- aus dem alltäglichen Leben. Da eit Monaten sorgt Österreich weit reits auf dem fünften Platz der Hitpara- gibt es einen gewissen Zlatko, Süber seine Grenzen hinaus für Auf- de. O-Ton Anton: „I bin so stoak und Halbmazedonier von Geburt regung: Erst mischte der umstrittene auch so wild, ich treib es heiß und eis- und beidseitiger Ohr- FPÖ-Politiker Jörg Haider aus Kärnten gekühlt.“ ringträger aus Neigung. Noch nie, so bekannte er, habe er ein Buch in die Hand genommen. Und Shake- LITERATURGESCHICHTE Schriftstellers, Malers und Übersetzers speare, wer ist das denn? Rolf Schott (1891 bis 1977). Jahrzehnte- Fragt das Kreuzworträtsel „Rutschender Berg“ lang lagerten die umfangreichen Korre- nach einem englischen Adelstitel, spondenzen des kommunikativen und trägt Zlatko bedenkenlos „Miss“ ein. as Brieftelegramm aus dem hollän- vielseitigen, aber heute fast vergesse- Was hat ihm die konsequente Bil- Ddischen Haus Doorn trägt neben nen Autors unbeachtet im Haus seines dungsabstinenz eingebracht? Bun- dem Datum des 30. Juni 1934 das Siegel Schwiegersohns. Dieser, der römische desweiten Ruhm. Zlatko ist der ju- „Ihrer Majestät der Kaiserin und Köni- Bankangestellte Gianfranco Uva, sichte- gendliche Naive aus „Big Brother“, gin“. Wilhelm II. musste zwar schon 16 te erst nach seiner Pensionierung die dem täglichen Menschenstadl von Jahre zuvor abdanken, aber Hermine, Hinterlassenschaft des Schwiegerva- RTL 2. Dort profiliert sich der geistig seine zweite Frau, betätigte sich in der ters; der NDR-„Kulturreport“ machte sparsam ausgestattete TV-Kommu- niederländischen Emigration unverdros- nun den Fund bekannt. Unter einigen narde zu einer Art von männlicher sen als Freundin der schönen Künste. tausend Briefen stammen etliche von Verona Feldbusch. Die Erhebung des Insbesondere dem deutschen Autor und Thomas Mann und dessen Kindern Helden in den Kultstatus steht un- Maler Rolf Schott – seinerseits im Jahr Klaus und Monika Mann, andere von mittelbar bevor. zuvor, beim Machtantritt der Nazis, Hugo von Hofmannsthal und Carl Und auch der Gegenbeweis stützt nach Rom emigriert – war sie eine Gön- Zuckmayer. Besonders in den 50 Brie- die These von den erfolgreichen Ig- nerin; etliche von Schotts Gemälden fen von Hermann Hesse finden sich an- noranten. Denn im ewigen Rom, schmückten das wilhel- rührende Zeilen wie die quasi im Schatten des Heiligen minische Exil. Die mate- des 62-jährigen Autors Stuhls, ließ sich eine illegale Prosti- rielle Hilfe, die Hermine an den 48-jährigen tuierte erwischen. Die 21-jährige dem mittellosen Lands- Schott vom 26. Dezem- Schöne aus Sarajevo verkürzte sich mann diesmal in Aus- ber 1939: „Das Alter ist die Wartezeit auf den nächsten Frei- sicht stellte, beschränkte kein Feind, den man be- er mit der Lektüre von Schriften des sich freilich auf beschei- kämpfen oder gar be- Philosophen Immanuel Kant. Die dene 500 Lire („auch schämen könnte, es ist Bildungsbeflissene übersah natürlich meine Mittel sind außer- ein rutschender Berg, die nahende Polizei. Boh ey, Zlatko, ordentlich begrenzt“). der uns zudeckt, ein es ist das alte Lied: Wissen macht Das kuriose Dokument langsam kriechendes untüchtig, und selig sind am Ende entstammt dem erst Gas, das uns erstickt.“ die, die nicht wissen und doch (an jetzt aufgetauchten sich) glauben.

Nachlass des deutschen K. DETTNER Hesse (1938)

der spiegel 13/2000 247 Kultur W. BELLWINKEL W. Historistisches Hotel Adlon in Berlin: Mit Stimmungsarchitektur die Regeln der Zunft verraten?

ARCHITEKTUR Sehnsucht nach Säulen Historistische Neubauten werden immer beliebter. Doch Fachleute spotten über die „röhrenden Hirsche“ aus Stein, an der Uni kommt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu kurz. So entstehen allerorten verspielte, halbherzig traditionelle Hotels und Villen, die nur eines verbindet: Sie wenden sich ab von der Bauhaus-Kiste, und sie sind gut verkäuflich.

in Interview? Bloß nicht. „Am bes- Ganz in der Nähe der Nobelabsteige im ben Stelle schon einmal ein Grandhotel ten“, so lautet der Rat am Telefon, Bezirk Mitte entstanden in den vergange- Adlon gegeben hat, einen wilhelminischen E„Sie beachten uns gar nicht.“ War- nen Jahren drei weitere Patzschke-Bauten. Prachtbau, zu DDR-Zeiten abgerissen, sein um? Sie seien beschimpft worden, jahre- Ihre Auftragslage ist prächtig, ihr Ruf Standort, unmittelbar am Brandenburger lang, ein bisschen habe sich das gebessert, bei den Fachleuten allerdings könnte Tor, lag im Sperrgebiet. das wolle er nicht gefährden, „bitte, ver- schlechter nicht sein. Als er nach der Wende wieder erstehen stehen Sie doch“. Patzschkes seien von ihren Kollegen zu sollte, war für denkmalpflegerische Re- Rüdiger Patzschke, der Mann am Tele- „Verrätern“ gestempelt worden, stellt die konstruktion weder Geld noch handwerk- fon, hat nicht wirklich etwas zu verbergen. „Berliner Morgenpost“ fest, die „Berliner liches Vermögen vorhanden, einen mo- Er ist kein Sittenstrolch, kein Kapitalver- Zeitung“ zitiert eine ganze Liste von Ver- dernen Bau lehnten die Investoren ab. brecher, er ist Architekt. Gemeinsam mit balinjurien: „Architektur der röhrenden Sie entschieden sich für einen Neubau seinem Zwillingsbruder Jürgen baut er lieb- Hirsche“, „geschmacklos und primitiv“, im alten Stil, der mit dem Original-Adlon liche Häuser, historistische Hotels auf der „subalterne und banale Kopien“. die Anmutung, sonst aber nicht viel zu tun ganzen Welt mit Gesimsen und Erkern, Ba- Vor allem das Adlon können die Fach- hat. Er ist doppelt so lang wie das Vorbild, lustraden und Säulen. Das Grandhotel Ad- leute den Patzschkes nicht verzeihen. hat bei gleicher Höhe ein Geschoss mehr, lon in Berlin ist ihr berühmtester Bau*. „Stimmungsarchitektur“ („Neue Zürcher somit in den einzelnen Stockwerken nied- Zeitung“) lautet der Hauptvorwurf, und rigere Wände – und doch tut der 300-Mil- * Geplant gemeinsam mit Klotz & Partner / AIC. der geht darauf zurück, dass es an dersel- lionen-Mark-Bau so, als sei er schon einmal

248 der spiegel 13/2000 M. R. MENGES / ACTION PRESS (li.); H. GACKSTATTER (re.) PRESS (li.); H. GACKSTATTER M. R. MENGES / ACTION Hightech-Architektur am Potsdamer Platz, klassizistischer Neubau in Dahlem: Statt rationaler Raster heimelige Formen da gewesen, als hätte es den Abriss, all die durchwirkten Fassade, mit einem säulen- einer rückwärts gewandten Bewegung, von Schmerzen der Geschichte nicht gegeben. umstandenen Innenhof und einem Kupfer- der auch die Protagonisten einer seriöse- Für Architekturpuristen war dies der Sün- dach wie ein hundert Jahre alter Edel- ren, zeitgemäßeren Baukunst nicht ver- denfall im Aufbau des so genannten Neu- kasten wirkt – stehen passable moderne schont werden. en Berlin. Neubauten. Und die sind so gut wie leer. Mit Blick auf die Hauptstadt juxt die Knapp drei Jahre nach der Eröffnung Mit ihrem Erfolg bei Taxifahrern, Ge- „Frankfurter Allgemeine“: „Auch das alte des Hotels hat sich die Stimmung gewan- schäftsleuten und solventen Mietern gel- Wien war einmal neu, aber nie so alt wie delt. Kleinlaut müssen die Fachleute mal ten Patzschkes inzwischen als Extremisten das neue Berlin.“ Publizist Wolf Jobst Sied- wieder registrieren, dass Kritik, und ler fordert in der „Berliner Morgenpost“: sei sie noch so dezidiert, nicht un- „Zurück zur bürgerlichen Stadt“. Und der bedingt etwas ausrichtet. Inzwischen Journalist Rainer Haubrich entdeckt in sei- gibt es bei Touristen und Berlinern nem kürzlich erschienenen Buch „Unzeit- eine große Gemeinde von Adlon- gemäß“ lauter „traditionelle Architektur Fans, die sich von der Intellektuel- in Berlin“. Er unterfüttert diesen Eindruck len-Mäkelei nicht beirren lassen. mit Kolumnen in der „Welt“, in denen Trotz modernistischer Bemühun- er prognostiziert, Berlin stehe „nach der gen in unmittelbarer Nachbarschaft jüngsten Jahrhundertwende eine Phase des des Hotels (nebenan steht ein Frank- Klassizismus bevor, wie sie die Stadt seit Gehry-Bau mit sachlicher Fassade) langem nicht mehr gekannt hat“. „schwärmt der berühmte Berliner Auch wenn diese These angesichts der Taxifahrer, seit jeher als Sprachrohr Hightech-Seligkeit des Potsdamer Platzes von Volkes Stimme lizenziert, für und der geplanten Hochhaustürme für den die Marzipanschlossfassade des neo- Alexanderplatz etwas gewagt ist – völlig da- historistischen Adlon“, heißt es ver- neben liegt Haubrich nicht. Die Geschich- zweifelt in der März-Ausgabe der te kehrt sichtlich zurück, überall in Berlin. „Deutschen Bauzeitung“. Die Chancen, dass das Stadtschloss doch Die Patzschke-Bauten sind nicht noch rekonstruiert wird, stehen so gut wie nur populär, sie sind auch wirt- nie zuvor. Erstaunlich hieran: Rechte wie schaftlich erfolgreich. Die drei neue- Linke, Bürgermeister Diepgen wie Kanzler ren Berlin-Mitte-Palais, die die Archi- Schröder, sind dafür. Auch das Komman- tekten entwarfen (das Dom- und das dantenhaus Unter den Linden soll im Stil Charlottenpalais in der Charlotten- der Neo-Renaissance wieder erstehen. Und straße, das Kronenpalais in der Kro- der Verein für die Rekonstruktion der nenstraße), waren, trotz saftiger Mie- Schinkelschen Bauakademie müht sich ten, bereits vor ihrer Fertigstellung weiterhin tapfer und mit immer besseren zu 90 Prozent ausgebucht. Keine Aussichten – eine Ecke davon wird zur Selbstverständlichkeit in dieser Lage. Zeit, als Schinkel-Mahnmal, am originalen

In der Nähe des Kronenpalais BELLWINKEL W. Standort hochgemauert. etwa – einem Gebäude, das mit ei- Adlon-Architekten Jürgen, Rüdiger Patzschke Nach einigen Jahren Pause ist wieder ner von Gesimsen und Pilastern „Kampf gegen die Kälte in den Städten“ Hans Stimmann Senatsbaudirektor, ein

der spiegel 13/2000 249 Kultur

Mann, der gern von dem „historischen rigen Grunewalder Villa, erzählt – durch- In der Tat: In England führt Prince Stadtgrundriss“ Berlins spricht, den es wie- aus in bester Laune –, wie schwer sie es Charles bereits seit zehn Jahren gemeinsam der herzustellen gelte. hätten, auch nur einen Wettbewerb in Ber- mit dem luxemburgischen Architekten Léon Der Architekt Hans Kollhoff, Liebling der lin zu gewinnen. Wären da nicht die Inves- Krier einen klassizistischen Kreuzzug. Sei- Berliner Baubestimmer, hat vis-à-vis vom toren, die Patzschke wollten und nur ne Hoheit, angewidert von modernen „Fu- Adlon ein Büro- und Wohnhaus hingestellt, Patzschke und ihnen Direktauftrag an runkeln“, ließ im Südwesten Englands auf das zwar nicht traditionell genannt werden Direktauftrag gäben – es wäre alles ganz seinem eigenen Grund und Boden die Stadt kann, das allerdings ganz von Ferne und furchtbar. Poundbury gründen, in der, wenn sie fertig sehr abstrahiert einem klassizistischen Ide- Dabei, so pflichtet Bruder Jürgen mit ist, zehntausend Bürger leben sollen. al entsprungen zu sein scheint. Außen: Ba- treuem Blick bei, möchten sie doch nur Untertanen können dort ein Stück Land lustraden in Rhombenform. Innen: Trep- „Städte“ bauen, „die den Menschen gefal- kaufen und von einem Architekten ihrer penhäuser mit marmornen Handläufen und len und nicht den Modernisten“– als seien Wahl ein Haus bauen lassen. Bedingung: Terrazzoböden. Hier wagt einer den ver- Modernisten keine Menschen. Es soll aussehen wie aus alter Zeit. PA / DPA PA Architekturfan Prince Charles (l.) bei der Besichtigung Poundburys: Nostalgie-Kleinstadt auf hoheitlichem Grund und Boden stohlenen Blick zurück, zitiert zaghaft Ge- Andauernd fallen sich die 61-Jährigen Natürlich ist der Prinz bei der Planung schichte, ganz ohne postmoderne Ironie. gegenseitig ins Wort, scheinen sich das aber dieses Projekts verspottet worden. Den- Dennoch: Die Freunde der vorsichtigen nicht übel zu nehmen – in den entschei- noch: Seitdem die ersten Häuser stehen, Rekonstruktion, die Befürworter der al- denden Punkten sind sie ohnehin einer gibt es auch anerkennende Worte – und ten Berliner Umrisse und Maße, die Star- Meinung. Ihr ganzes Berufsleben haben Nachahmer. Bei Portsmouth soll jetzt eine Architekten, die verhalten und schwer in- sie gemeinsam in einem Büro gesessen und fünfmal größere Stadt als Poundbury nach tellektuell historische Anklänge wagen, sie von dort aus ihren „einsamen Kampf gegen denselben Vorgaben entstehen. alle wollen ganz sicher eines nicht: dass die architektonische Kälte in den Städten“ Im Wolkenkratzerland USA gibt es ei- ein Zusammenhang zwischen ihren An- ausgefochten. ne echte Gründungswelle traditionell sichten und dem schamlosen Wirken der „Wenn man einen Zwilling hat“, formu- gebauter Städte. Ein paar von ihnen hat Patzschkes hergestellt wird. liert Rüdiger Patzschke seine Liebeser- wieder Léon Krier miterfunden: das Mil- „Architektonisch auch nur die kleinste klärung an den Bruder, „hat man seinen lionärsstädtchen Seaside etwa und auch Parallele zu uns aufzuzeigen, so sehr krän- Psychiater immer bei sich.“ Der eine un- Windsor, beide in Florida. Familien mit ken darf man niemanden“, sagt Rüdiger terstütze den anderen, nur so hätten sie normalem Einkommen sollen demnächst Patzschke freundlich-ironisch beim Inter- die Häme der vergangenen Jahre verkraf- ebenfalls hinter Säulen und Erkern woh- view, zu dem er unter eher kokettem Pro- tet. Natürlich, auch sie nähmen hier zu nen dürfen, 50 traditionelle Kleinstädte testgeheul dann doch bereit war. Lande Anzeichen einer Rückbesinnung sind geplant. Er sitzt neben seinem Bruder im Chef- wahr – doch im Ausland, da seien die Kol- Architekturtheoretiker formulieren ge- büro, in der Beletage ihrer hundertjäh- legen schon viel weiter. gen diesen amerikanischen Traum ähnli-

250 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur P. AARON / ESTO P. Nostalgie-Siedlung Seaside in Florida: Gefälliges Dekor für wahllose Kulturkonsumenten che Vorbehalte wie einst gegen das Adlon: Hans Kollhoff unterstellt seinen Kolle- schlicht. Viele andere private Bauherren, Hier werde Geschichte „fiktionalisiert und gen eine regelrechte „Angst davor, kein die sich ein klassizistisches Heim wün- simuliert“, so sagt etwa der Architektur- moderner Architekt zu sein“. Die Berliner schen, möchten auch ein solches Dach, soziologe Werner Sewing von der Techni- Baumeisterin Petra Kahlfeldt, die gemein- aber aufwendiger, am liebsten aufge- schen Universität Berlin. sam mit ihrem Mann eine gelungene schnitten für eine Terrasse. „Sie haben kein Befördert werde die Nostalgiewelle von klassizistische Villa in Berlin-Dahlem Gefühl dafür, dass sie damit die Propor- einem neuen Typus Kulturkonsument, gebaut hat, kann das bestätigen: Sie erin- tionen stören.“ dem „Omnivore“ (Allesfresser), der ver- nert sich an eine Podiumsdiskussion, bei Die Banalisierung der Vorbilder, das ist stärkt in der amerikanischen Mittelschicht der es zwischen Anhängern traditionel- nicht nur ein Problem der traditionellen anzutreffen sei. Für den sei „Kultur nicht ler Architektur und deren Gegnern zum Architektur, es war auch das große Ver- mehr Distinktionsgewinn, sondern kumu- Eklat kam. hängnis der Nachkriegsmoderne. Eine Be- lativer Konsum“. Sprich: Der Globalisie- Es war anlässlich einer Ausstellung im tonkiste macht noch lange keinen Mies van rungsritter hört genauso gern Elvis wie Berliner Stadthaus, bei der die von Prince der Rohe, ebenso wie ein paar Säulen kei- Mahler, Country wie Mozart, hat aber Charles ins Leben gerufene Gruppe „A Vi- nen Schinkel machen. keinerlei Bedürfnis, sich über Ursprung sion of Europe“ ihre neueren Modelle zeig- Doch die Anhänger der Bauhaus-Mo- und Sinn des jeweiligen Musikgenres den te. „Zum Schluss haben sich alle nur noch derne haben einen Vorteil. Die Beschäfti- Kopf zu zerbrechen. Er pickt sich das Ge- angeschrien, eine Diskussion war gar nicht gung mit ihrer Stilrichtung ist immer noch fällige aus, nach dem Motto: Gut ist, was möglich“, so Kahlfeldt. „Am eindrücklichs- beherrschendes Thema an den Hochschu- der Seele wohl tut. ten waren für mich Leute aus dem Publi- len, traditionelle Architektur hingegen wird Nostalgiebedürfnis hier, kulturkritische kum, die verzweifelt sagten, sie fühlten sich an den Unis allenfalls im bauhistorischen Bedenken dort, die Fronten sind verhärtet einfach nicht wohl in den neuen Teilen der Seminar gestreift. – besonders in Deutschland. Städte, sie wünschten sie sich heimeliger – Doch Totschweigen hilft nichts, es macht Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg egal, wie.“ alles nur schlimmer. Der Immobilienteil sind hier zu Lande Architektur und Mo- Keine Lösung in Sicht? der „Welt“ pries vor wenigen Tagen eine ral unverbrüchlich miteinander verbun- „Doch“, sagt Petra Kahlfeldt, „aber Villenanlage in Berlin-Grunewald an, „für den. Die Nazis mochten ihre Gebäude ohne eine intellektuelle und vor allem gehobene Ansprüche“, mit „klassischer traditionell-monumental, Hitler und sei- handwerkliche Anstrengung geht es nicht.“ Architektur“. Erker, Bänder, angeschrägtes ne Helfer jagten die Väter der Moderne Als sie die Dahlemer Villa für einen Dach, alles da. Kosten für die 140 bis 200 außer Landes. Nach dem Krieg dann Kunstsammler plante, vertiefte sie sich Quadratmeter großen Wohnungen: 1,7 bis galt der Rückgriff auf die Formenspra- monatelang in alte Bücher, studierte Pro- 2,4 Millionen Mark. che des Bauhauses im Westen wie im portionen, Nutzen und Sinn von Dekors, Mit echten Altbauten hat diese Luxus- Osten als Ausweg aus Schuld und Ver- um zu lernen, wie man zu Zeiten des Anlage so viel zu tun wie Disneys Mär- strickung. preußischen Klassizismus dachte und chenschloss mit einer mittelalterlichen Auch wenn seit langem ein Konsens dar- baute. Burg. Das Dach ist oben abgeflacht, um über zu herrschen scheint, dass die mo- „Jedes Detail von der Leiste bis zum darauf einen Glaswürfel zu platzieren, eine dernistische Massenarchitektur der sech- Fenstergriff haben wir den Handwerkern Fassade wird durch den Eingang einer Tief- ziger und siebziger Jahre die Leute vorgezeichnet“ – in Zeiten industrieller garage angeschnitten. schreckt, wagen Baumeister höchstens ei- Fertigung fehlt oftmals das Wissen, wie mit Wie die Zeichen stehen, werden in Ber- nen ironischen oder extrem abstrahierten individuellen Formen umzugehen ist, nicht lin in Zukunft etliche solcher planlos ver- Umgang mit traditionellen Formen. Denn nur bei Handwerkern, sondern vor allem hübschten Häuser entstehen, denn sie sind den Ruf, einer „faschistoiden Architektur“ bei Auftraggebern. begehrt. Höchste Zeit, dass auch die avan- (ein Schlagwort im jüngsten Berliner Ar- Bei der Dahlemer Villa hatte Kahlfeldt cierten Architekten sich ernsthaft, nicht chitekturstreit) zu frönen, den will sich Glück mit einem kunstsinnigen Bauher- bloß abwehrend-polemisch, der Geschich- keiner anhängen lassen. ren. Der wollte ein Walmdach, ganz te stellen. Susanne Beyer

252 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur

gen. Und dann krachen sie zusammen auf die Bretter, in diesem beschissenen Club, FILM vor all den Gangstern und Flittchen und Banausen. Nebbich. Das Unglück ist auch bloß ein Bühnenfall, ein Operetten-Absturz. Der Zweitbeste Emmet Ray und die Frauen. Hattie, die Wäscherin aus New Jersey, liebt ihn ganz Woody Allens jüngster Film „Sweet and Lowdown“, die Biografie doll. Das sieht man ihr an, das muss man in ihren Augen lesen. Denn Hattie ist eines fabulösen Jazz-Gitarristen, huldigt dem Sound stumm. Wenn Emmet sie abschleppt (die und der Sentimentalität der dreißiger Jahre. Von Bernd Wilms alte Nummer: „Komm mit, ich spiel dir

Wilms, 59, ist Intendant des Ma- xim Gorki Theaters in Berlin.

s gibt nicht viel zu ergrün- den, und das ist angenehm. EMan sieht es gern und hört es gern und hat es schnell ver- gessen. Ja, es war schön im Kino. Kein Grübeln über die neues- ten Stadtneurosen; nicht Hölle und Teufel und Mythologie; kei- ne mächtige Aphrodite und über- haupt, sagt der Meister lakonisch, „sehr wenig Sex“. Also kein Stoff für Exegesen und Kunstdebatten. Zitate müssen nicht belegt wer- den, und ob dies mehr auf Felli- ni verweist und jenes auf Ingmar Bergman, ist dem Film ganz egal. Er kennt nur ein Idol: Django Reinhardt, das europäische Gi- tarren-Genie. 1934 gründete der

das „Quintette du Hot Club de ARTHAUS FOTOS: France“, und in den Dreißigern Morton, Penn in „Sweet and Lowdown“: „Ich puste immer Seifenblasen“ spielt Woody Allens Film. Sein Held rühmt sich verzwei- die zum mondänen Star was vor“), dann folgt sie erwartungsfroh, felt (und mit nimmermüder Ei- schlecht passen – es und das Lied danach ist ein ganz besonde- telkeit), er sei der „zweitbeste sei denn, man wünscht res Liebeslied. Nun liegt er allein mit der Gitarrist der Welt“. Zweimal ist ihn sich exzentrisch –, Gitarre im Bett und zupft für sich, für Hat- er Django begegnet, und zwei- will Emmet Ray mit tie: „I’m Forever Blowing Bubbles“. Am mal ist er in Ohnmacht gefallen den Geliebten teilen: Ende des Films erklingt dieses Stück noch – so die Legende, die er selbst Er guckt so gern den einmal. Da schlägt er wütend sein Instru- verbreitet. Auch auf der Lein- Güterzügen zu, aber ment entzwei. wand erscheint uns Django, wie von Fernweh und Me- „Ich puste immer Seifenblasen in die er dem Helden erscheint, aber lancholie will keine et- Luft, und sie entschwinden und sterben auch da kann man ahnen, dass es was wissen. Zweitens wie meine Träume.“ Sagt der Text, den gelogen ist. schießt er mit seiner man nicht hört, aber doch mitdenken, mit- Dieser Emmet Ray ist ein Rei- 45er so schrecklich gern summen soll, und der zerbrochene Mond sender in Jazz, ein unruhiger auf Ratten – die Damen ist wieder zur Stelle, als wär’s ein Stück von Mensch, kurzbeinig, nervös und grausen sich. Roncalli. Man weiß ja, dass Woody Allen unerhört sympathisch. Gelegen- Er brauche die Frau- gnadenlos romantisch ist, und ebenso, dass heitszuhälter und notorisch er- Allen-Star Thurman en nicht, sagt Ray, für „Kitsch“, unübersetzbar, zum amerikani- folgloser Kleptomane, nie zu- sein Gefühl sei die Gi- schen Wortschatz gehört wie „Rucksack“ verlässig, nie ganz nüchtern, nie gut bei tarre da. Falsch, antworten die Frauen, oder „Kindergarten“. Kasse. Liebhaber glänzender Autos (die er wenn er nicht so gefühllos wäre, dann wäre Die schönste Rolle in einem Film über die sich trotzdem leistet) und dito herrlicher er tatsächlich ein großer Künstler und eben Musik ist eine stumme Rolle. Diesen raffi- Frauen. Weißer Anzug unterm schwarzen nicht der zweitbeste. niert-sentimentalen Trick nutzt Allen mit Bärtchen und der wilden hohen schwar- Emmet Ray bestellt sich einen Mond, großer Konsequenz. Hattie ist die Einzige, zen Tolle. Der Friseur als Genius. Der ver- eine gewaltige gelb leuchtende Sichel. Die die ihn, Emmet Ray, hört und versteht, und wegene Charme des armen Würstchens. soll mit ihm vom Himmel auf die Bühne sie kann es nicht sagen. Das sehr junge Ge- Der Taugenichts. schweben zum schier überirdischen Auf- sicht von Samantha Morton spiegelt in je- Sean Penn spielt ihn mit wunderbarem tritt. So zart, so zärtlich ist Ray in keiner dem Augenblick, was Glück bedeutet – und Ernst, immer ein bisschen unberechenbar, Szene sonst: Er schickt sie alle weg und Trauer und Angst, wenn er sie verlässt –, und wenn er zur Gitarre greift, dann kriegt ist, andächtig still, für diesen Augenblick und man denkt erleichtert, dass Kitsch und er einen merkwürdig irren Blick, der keinen „alone with the moon“. Natürlich geht die Poesie so weit nicht auseinander sind. Zweifel daran duldet, dass Größenwahn ein Sache schief. Denn der Künstler ist viel zu Die Nächste heißt Blanche, und die ist echter Wahnsinn ist. Zwei Leidenschaften, besoffen, um Frau Luna richtig zu bestei- gar nicht herzerweichend. Uma Thurman

254 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur parodiert eine Möchtegern-Intellektuelle, bloß erstklassig. Sein Quintett („Das Quin- also eine, die alles weiß und sagen kann, tett!“, ruft Emmet, wenn er Hattie an- eine verständnisinnige Nervensäge. Sie be- quatscht) ist allerdings mit einer Klarinet- trügt ihn mit einem Leibwächter – wir sind te besetzt, nicht mit der Geige wie ur- ja bei Gangsters –, und Emmet kompo- sprünglich im „Hot Club“. niert, gewissermaßen als Vermächtnis, eine Es heißt, Sean Penn habe vier Monate Ballade namens „Unfaithful Woman“. lang Gitarre gelernt. Perfekt. Er und sein Emmet Ray hat es nie gegeben. Er ist „solo guitar instructor“ bringen es fertig, der Held einer fiktiven Biografie, die Al- dass man tatsächlich glaubt: Der Mann len aus mehreren Biografien stückelt, mon- spielt alles selber. Dabei guckt ihm die Ka- tiert, zusammenbastelt – eher aus Anek- mera erbarmungslos auf die Finger, gedul- doten, wie überhaupt der Film wie eine dig mit ihm und der Musik, für die sie da ist. bunte Anekdote der Jazzgeschichte wirkt. „Sweet and Lowdown“ versteht sich Je fiktiver, desto notwendiger die Fiktion auch als eine Hommage ans unstete Le- des Realen. Woody Allen tut so, als hätte ben. Django, das Idol, der Außenseiter, ist er einen Dokumentarfilm gedreht, und ist anekdotisch einmontiert. Als er 1946 end- sofort erklärend im Bild – als „er selbst“; lich in die USA kam, um mit dem großen dann kommen der Jazzkritiker Nat Hen- Duke Ellington aufzutreten, hat man ihn toff und noch ein paar echte und falsche Exper- ten, die sich an Ray erin- nern, als hieße er Charlie Parker. Drei Zeugen berichten von einem Bonnie-und- Clyde-artigen Überfall, in den Hattie und Emmet verwickelt sind, und je- der erzählt es anders, weil’s anders lustiger ist. Man sieht die drei Ver- sionen, und es wird ei- nem klar, was von Zeu- gen zu halten ist, von Zeugen und von wahren Geschichten. Erfinde dir deine Wirklichkeit, damit sie unwirklich bleibt. Dass „Sweet and Lowdown“-Star Penn: Erfinde deine Wirklichkeit der Film irgendwo zwi- schen Depression und einem drohenden gar nicht angekündigt, weil man befürch- Weltkrieg spielt, kommt einem ernsthaft tete, er würde sowieso nicht erscheinen, nie in den Sinn. Die Kamera schwelgt in ge- und als die New Yorker Carnegie Hall end- dämpften, erlesenen Farben, und noch die lich erreicht war, kam er nicht vor elf Uhr weißesten Gardinen schimmern goldgelb. abends. Da war der Duke eigentlich schon Der Autor nennt sein Opus ungeniert einen fertig. „Kostümfilm“; kein Stäubchen darf das Der Song, von dem der Titel stammt, süße Märchen stören. kommt im Film gar nicht vor: „Blow that Hätte er richtig Talent gehabt, bekennt Sweet and Lowdown!“ Es ist eine Gersh- Woody Allen, der dilettierende Klarinet- win-Nummer aus dem Jahr 1925, und Ira tenspieler, dann wäre er Berufsmusiker Gershwin, der Dichter und Silbenfanati- geworden. Es sollte nicht sein. Nun muss ker, hat sich das so zurechtgedacht, dass es er solche Filme machen. „Sweet and nicht einfach süß und leise klingt, sondern Lowdown“ ist eine Liebeserklärung an auch ordinär, schmutzig, zweideutig. Ira den Jazz und, Gott sei Dank, nicht an verdanken wir die fabelhafteste Schlager- den uralt-zickigen, den Allen gern bevor- Poetik, „Lyrics for Several Occasions“, zugt, sondern an den Swing von Django, und darin ist nachzulesen, wie jenes dem Zigeuner. Gleich das erste Stück, „lowdown“ direkt zu Lewis Carroll führt, „When Day is Done“ von 1937, ist eine ins Wunderland der Wörter. Und in den Originalaufnahme, und sie klingt so klar Slang. Die Lady mit der „lowdown voice“ und frisch und elegant, als wäre sie eben hat eine hundsgemeine Stimme. Fein und eingespielt. gemein. Das sind die meisten Stücke auch – Der Film ist eher fein und freundlich sehr bekannte Standards wie „Out of No- und ganz gewiss ein Nebenwerk. Aber viel- where“, „Sweet Georgia Brown“ oder leicht besteht das ganze unendliche Werk „Limehouse Blues“ –, und der Gitarrist, des Woody Allen aus lauter hübschen Ne- der für Emmet Ray den Soundtrack macht, benwerken, und nur diejenigen, die sich tut das streng im Geiste Djangos. Howard als Hauptwerke aufspielen, sind so schwer Alden will nicht originell sein, sondern zu ertragen. ™

256 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur

gestreckten Galopp zurück, auf Stöckelschuhen, ver- steht sich. Eine ähnlich re- solute und attraktive Ver- brecherjägerin verkörpert Iris Berben in den „Rosa Roth“-TV-Krimis. „Die meisten Frauen, die ich kenne, leben anders“, sagt Marklund. „Wir haben Ehemänner, Kinder, einen stressigen Job, wir arbeiten zu viel, essen zu wenig, wir wünschen uns immerzu mehr Zeit, für uns, für den Liebsten, für die Kinder, für Sex.“ Dementsprechend hetzt Reporterin Annika zwischen Kindergarten, Re- daktion und Wohnung hin und her, gebeutelt von Schuldgefühlen und oben- drein entnervt, weil sie nicht einmal Zeit findet, sich die

AFTONBLADET Haare zu waschen. Schriftstellerin Marklund: „Wir haben einen stressigen Job, arbeiten zu viel und essen zu wenig“ Realistisch sollte nicht nur ihre Heldin sein, findet Marklund, stimmen müssten überhaupt AUTOREN sämtliche Details einer Geschichte. Ob es um die Sprengstoffanschläge oder die In- trigen im Redaktionsbüro geht, die ein- Macht und tödliche Konflikte zelnen Karrierestufen in Großkonzernen oder die Aufzucht von Bio-Tomaten – Mark- Die Journalistin Liza Marklund wurde mit ihrem raffinierten lund recherchierte jedes kleinste Detail. Leser, davon ist sie überzeugt, erwarten, Krimidebüt „Olympisches Feuer“ zur neuen Kultfigur Schwedens. dass fremde Welten möglichst detailliert und farbig geschildert werden, sonst lang- s ist eine winterkalte Nacht, die Jour- teams nicht retten kann. Ihr Krimidebüt weilen sie sich. nalistin Annika Bengtzon wird um „Olympisches Feuer“ gewann zwei wichti- Viel Liebe hat sie auf Annikas Redak- E3.22 Uhr aus dem Bett geklingelt. ge Preise in Schweden und verkaufte sich tionskollegen verwendet, die nahezu alle Das Stockholmer Olympiastadion ist in die seither 550 000-mal, Übersetzungsrechte ein Problem mit ihr als weiblichem Chef Luft geflogen. Bengtzon, Reporterin und gingen unter anderem nach Deutschland, haben und gegen sie mobben und intri- Leiterin des Kriminalressorts bei Stock- Holland, Spanien und Japan*. gieren, wo sie nur können. Marklund holms größter Abendzeitung, bekommt in Mit der Journalistin Annika hat Mark- weiß, wovon sie spricht: Sie arbeitet seit kurzer Zeit heraus, dass es sich um Mord lund eine originelle, sympathische und vielen Jahren als Journalistin in verschie- handelt. Christina Furhage, Chefin des überaus irdische Heldin geschaffen. Anni- denen Redaktionen und bei verschiede- Olympischen Organisationskomitees, wur- ka ist ehrgeizig und humorvoll, schnauzt nen Fernsehsendern, und nicht selten er- de offenbar durch die Sprengladung in ihre Mitarbeiter an, wenn sie nicht spuren, regte sie als junge Frau, nachdem man ihr Stücke gerissen. Bengtzons Nachforschun- zeigt sich gleichzeitig fähig zu Mitgefühl Kompetenzen übertragen hatte, Neid und gen über die Ermordete zeichnen ein ver- und Freundschaft, ist Mutter von zwei klei- Abwehr. wirrendes Porträt der Toten: Furhage wur- nen Kindern und liebende Frau von Ehe- Aufgewachsen ist Marklund in Nord- de bewundert, geliebt, gefürchtet, gehasst, mann Thomas. schweden. Schon als Kind dachte sie sich sie lebte allein in undurchsichtigen Ver- Als begeisterte Krimileserin schätzt verwegene Geschichten aus, und immer hältnissen, agierte clever und kaltblütig im Marklund die Protagonistinnen amerika- hieß ihre Heldin Annika. Bevor sie je- Geschäftsleben, verfügte über Macht und nischer Kollegen durchaus, doch professionell zu schrei- nutzte sie gezielt gegen andere. Detektivinnen, die sich mit ben anfing, verließ sie erst ihr Macht, sagt die Schriftstellerin Liza Junk-Food, Jogging und Ge- enges Land, um sich in der Marklund, 37, interessiere sie außeror- legenheitsliebhabern in Form Welt umzusehen. Sie lebte dentlich. „Dreht sich nicht alles um halten, mit der Knarre in der eine Weile in den USA und in Macht? Wie man sie bekommt, wie man Hand schlechten Menschen Russland, verliebte sich in di- sie behält, wie man sie nutzt, wie man sie hinterherlaufen und sie ge- verse Männer, entliebte sich gegen andere verwendet. Macht spielt in konnt zur Strecke bringen. wieder, kehrte nach Stock- allen Beziehungen eine Rolle, beruflich Meistens sehen sie dabei tipp- holm zurück. und privat.“ topp gepflegt aus und legen Nach dem Besuch einer Liza Marklund sieht aus wie das Kli- Kilometer um Kilometer im Journalistenschule legte sie schee einer Schwedin: Sie ist groß, blond, los, arbeitete immer wieder schlank, eine schöne, temperamentvolle * Liza Marklund: „Olympisches Feuer“. auch beim Fernsehen – ein Aus dem Schwedischen von Dagmar Frau und neuerdings ein wenig gehetzt, Mißfeldt. Hoffmann und Campe Verlag, Medium, das, wie sie findet, weil sie sich vor Journalisten und Fernseh- Hamburg; 400 Seiten; 44,90 Mark. das Schlechteste im Menschen

260 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur T. GRABKA / ACTION PRESS / ACTION GRABKA T. Berben als Kommissarin in „Rosa Roth“: Mit der Knarre in der Hand auf Verbrecherjagd zu Tage befördere, „na ja“, schränkt sie kann. Nachdem sie mit einem Sachbuch ein, „manchmal auch das Beste“. „Die hin- bei einem großen Verleger schlechte Er- ter der Kamera wollen vor die Kamera, die fahrungen gemacht hatte, beschloss Mark- vor der Kamera wollen möglichst lange da lund, sich mit einem Freund zusammen- bleiben, und alle wollen möglichst viel zutun, der einen winzigen Verlag leitet. Sie Geld verdienen.“ konzipierte sechs Annika-Romane, ent- Das Printgeschäft sei vergleichsweise schied sich dann für den Olympia-Plot, weil harmlos. Obwohl sie manchmal bitterböse sich Stockholm im Jahr 1997 tatsächlich, Briefe erhält, wenn sie in ihren Kolumnen wenn auch erfolglos, um die Olympischen die von ihr favorisierten Themen behan- Spiele bewarb. Dann schrieb sie den Ro- delt: Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen man, immer wieder unterbrochen von Kinder, die unüberbrückbaren Schwierig- journalistischer Tätigkeit. keiten zwischen den Geschlechtern, Macht- Als der Krimi fertig war, ließ ihr Freund fragen, Abhängigkeiten, tödliche Konflikte 4000 Exemplare drucken, „obwohl wir sehr im häuslichen Bereich. Manchmal ringt der skeptisch waren, ob wir die jemals loswer- Chef die Hände und sagt, Liza, du schon den würden“. Die Buchhändler lehnten ab, wieder mit deinen Lieblingsthemen, muss das Buch in die Regale zu stellen – unbe- das sein? kannter Verlag, unbekannte Autorin, lieber „Es muss sein“, sagt sie und lacht. Und nicht. Schließlich wurden Verleger und Au- es gefällt ihr, dass nun ihr Krimi so viel torin ihre Auflage über Tankstellen los, die Furore macht, in dem diese Themen wie- in Schweden auch Hardcover anbieten. In- der vorkommen: Sie beschreibt Anzeigen- zwischen ist Marklund die neue literari- chefs, die Redaktionsleiter drangsalieren, sche Kultfigur, ihr zweiter Annika-Roman Einschüchterungen wegen einer lesbi- ist in Schweden bereits erschienen und ver- schen Liebe, Erpressung wegen eines Puff- kaufte sich bislang 440000-mal. besuchs. Ihre Familie – Mann und drei Kinder – Ihre Methode ähnelt der ihres erfolgrei- schottet die Autorin konsequent ab von chen Kollegen Henning Mankell: der Kri- dem Rummel um ihre Person; gerade hat mi als Gesellschaftsabbild. Das Buch ist sie sich ein Loft über der Altstadt Stock- voller glaubhafter Vorkommnisse, drama- holms gemietet, um dort in Ruhe schreiben turgisch gewitzt aufgebaut, und es liest sich zu können. Dort werden nun die nächsten wie eine spannende Reportage: Gebannt Krimis entstehen. verfolgt der Leser, wie Annika bei minus Nur einen kleinen sentimentalen Aus- zehn Grad in Stockholm herumstapft, eine rutscher hat sich Marklund erlaubt: Annikas melancholisch-moralische Heldin mit ei- Chefredakteur ist eher Wunschphantasie nem großen Herzen, die schließlich in die als realer Mann – konfliktfähig, tolerant, Nähe des Mörders und dadurch selbst in voller Anerkennung für die Leistung seiner Gefahr gerät. Mitarbeiter, motivierend. „Ich weiß“, sagt Marklunds Erfolg in Schweden zeigt, die Erfinderin dieses wunderbaren Geschöp- dass auch eine unbekannte Autorin ohne fes, „aber wenn ich ihn nur lange genug be- einen großen Verlag und aufwendige PR- schwöre, existiert er vielleicht irgendwann Maßnahmen die Bestsellerlisten stürmen wirklich.“ Angela Gatterburg

262 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur

AUTOREN „Das hatte biblische Ausmaße“ Walter Kempowski dokumentiert in seinem einzigartigen Zitatwerk „Echolot“ fremde Stimmen mit Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg – der dritte Teil ist in Vorbereitung. Bisher hat der Schriftsteller über eigene Erlebnisse im Bombenhagel nur zögerlich Auskunft gegeben.

mir ohne weiteres den Hals durchge- schnitten. SPIEGEL: Wie sah es am nächsten Tag aus? Kempowski: Ein absolutes Tohuwabohu. Kein Mensch wusste, wo er helfen sollte. Häuser brannten, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Hausrat wurde raus- und reingetragen. SPIEGEL: Angedeutet haben Sie diese Vor- gänge 1971 in Ihrem berühmten und später auch verfilmten Roman „Tadellöser & Wolff“ – eher nebenbei, leicht unterkühlt. Kempowski: Das stimmt. Ich lese heute die- se Passagen nicht gern. Ich habe den Ein- druck, dass ich mich damals fast etwas über meine eigenen Gefühle lustig ge- macht habe. Vielleicht erklärt es sich dar- aus, dass ich den Roman Ende der sechzi- ger Jahre geschrieben habe, da waren die Eindrücke noch so frisch, und man woll- te eigentlich die Selbstbetrauerung, das Selbstmitleid nicht hochkommen lassen.

LANDESBILDSTELLE HAMBURG LANDESBILDSTELLE Vielleicht habe ich mich auch ein bisschen Feuersturm nach Luftangriff (Hamburg 1943): „Ich spüre es noch an den Augenlidern“ lustig gemacht über die Leute, die ihr ei- genes Unglück betrauerten, ohne dass sie In der Debatte über „Luftkrieg und Lite- daran dachten, dass es ja eigentlich nur ratur“ (SPIEGEL 3/1998) wurde gefragt, die Wirkung einer Ursache gewesen war – warum die Bombardierung deutscher schließlich haben wir Deutschen den Krieg Städte im Zweiten Weltkrieg in der deut- begonnen. schen Nachkriegsliteratur so wenig Be- SPIEGEL: Sie haben später noch heftigere achtung gefunden hat. Immerhin betraf Angriffe als die auf Rostock erlebt? die alliierte Vergeltung für die deutsche Kempowski: Ja, ich habe den großen Angriff Aggression Millionen und kostete rund auf Hamburg miterlebt. Meine Mutter 600000 Zivilisten das Leben. Kempowski, meinte, mich in die Sommerfrische 70, war als Jugendlicher Zeuge der An- schicken zu müssen. Und da fiel ihr, im

griffe, worüber er hier erstmals ausführ- FOCUS / AGENTUR HEGENBART T. Juli 1943, ausgerechnet Hamburg ein, wo lich spricht. Er und andere Schriftsteller „Echolot“-Autor Kempowski mein Großvater wohnte. Es flogen hun- kommen zu diesem Thema am Dienstag Kein Sammeln, ein Abrufen derte von Bombern über der Stadt. Ich in der ZDF-Sendung „Tabu Vergeltung“ sehe mich noch im Keller sitzen und habe zu Wort (22.45 Uhr). te ab, ein Drittel der Stadt. Von heute aus dieses widerwärtige Geräusch im Ohr, das gesehen glaube ich, dass damit eigentlich Pfeifen der fallenden Bomben. Am nächs- SPIEGEL: Herr Kempowski, im zweiten Teil meine Kindheit beendet war, es hat einen ten Tag geriet ich mitten in der Stadt in Ihrer Zitatsammlung „Echolot“ aus dem Schnitt gegeben. Die Flugzeuge kamen einen noch viel schlimmeren Angriff. Ich Zweiten Weltkrieg berichten Augenzeugen nachts, man hörte sie, man hörte das überlebte in einem Hochbunker. von der Bombardierung Dresdens im Fe- Schießen der Flak, alles ein furchtbares SPIEGEL: Wie fühlten Sie sich? bruar 1945. Vorher ist das in der deutschen Durcheinander. Und wir saßen in einem Kempowski: Zunächst merkte man da drin Literatur kaum vorgekommen. Haben Sie nicht abgestützten Keller, es war ein un- nichts. Man hörte wohl das Gebumse, ge- dafür eine Erklärung? aufhörliches Gekrache, absolut neuartig. bändigt durch die dicken Mauern. Dann Kempowski: Nein. SPIEGEL: Woran erinnern Sie sich beson- wurde der Sauerstoff knapp. Die Ventila- SPIEGEL: Über eigene Erfahrungen im In- ders gut? toren arbeiteten nicht mehr, es kam heiße ferno schweigen Sie. Haben Sie selbst kei- Kempowski: Als ich an einer bestimmten Luft herein. Die Leute fingen an, unruhig ne Luftangriffe erlebt? Stelle saß, sagte meine Mutter zu mir: zu werden. Kinder und Frauen schrien, Kempowski: Doch. Rostock, wo ich geboren „Junge, komm mal ein bisschen hier rü- manche gebärdeten sich hysterisch, war- und aufgewachsen bin, war 1942 nach Lü- ber!“ Und genau nachdem ich den Platz fen sich auf den Boden, andere beteten beck die zweite deutsche Stadt, die zer- gewechselt hatte, fiel dorthin von draußen plötzlich, ganz sonderbar. stört wurde. Fast die ganze Altstadt brann- eine große Schaufensterscheibe, sie hätte SPIEGEL: Wie kamen Sie raus?

264 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur

Briefe, Konvolute archiviert und immer wieder durchgelesen. So kam ich darauf, dass man doch eigentlich das Kollektive dieser Ereignisse zeigen müsste. SPIEGEL: Das führte zur Idee des „Echolot“? Kempowski: Was mir dabei sehr wichtig war: Ursache und Wirkung direkt neben- einander zu stellen. Das fehlt in den frühe- ren Romanen, meiner deutschen Chronik. Die Konfrontation ereignet sich dort nicht. Im „Echolot“ aber kreuzen sich die Flücht- lingszüge aus Ostpreußen mit den langen Elendszügen der Häftlinge. Das alles wird zu einem großen Chor komponiert, der der Wirklichkeit, der damals erlebten Wirk- lichkeit nahe kommt. SPIEGEL: Wollen die Leute das noch hören? Kempowski: Ich kann gut verstehen, dass

SÜDD. VERLAG Menschen das heute vielleicht nicht lesen Luftkriegsopfer in Dresden (Februar 1945): „Verkohlte, holzstückartige Menschen“ wollen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, alles aufzuschreiben und Kempowski: Zunächst überhaupt nicht. Die tätisch, möchte man fast sagen. Als Schü- in diese Form zu bringen. In 50 Jahren, da alten Männer, die da Wache hielten, wuss- ler konnte man dem Fliegeralarm im Übri- bin ich sicher, werden diese gesammelten ten: Es geht nicht. Als die Türen kurz geöff- gen auch seine guten Seiten abgewinnen. Erlebnisse als ein großes – na, ich möchte net wurden, kam ein Gluthauch herein. Die ersten beiden Stunden fielen aus, wenn fast sagen – Epos begriffen werden. Man Also wieder zu! Nun wurde uns klar, wenn die Entwarnung nach 24 Uhr kam. wird sagen: Hier ist den Leidenden ein Fo- das hier weitergeht, dann gehen wir alle SPIEGEL: Warum war das damalige Inferno rum eröffnet worden, hier sind sie einmal drauf. Später wurden immer drei Leute unter Deutschen lange tabuisiert? zusammengeführt worden. rausgelassen, mit feuchten Decken umhüllt. Kempowski: Es ist mir ein Rätsel, warum SPIEGEL: Könnte es sich hier um die Grund- Ich spüre es fast heute noch an den Augen- dieses Thema von den Deutschen so ver- lage für einen großen Roman handeln, eine lidern, wie es mir da wehtat. Es war eine un- drängt wurde. Ich glaube, der Grund liegt Art Vorstufe? glaubliche Hitze. Manche sind in die Flee- vor allem darin, dass die end- Kempowski: Kein Film, kein Ro- te gesprungen, aber da brannte dann Öl auf losen Züge der KZ-Häftlinge man kann das leisten, was hier dem Wasser, grauenhaft. Tote lagen herum: nicht lange danach vor aller Au- der Chor der Leidenden aus- die frischen Toten und die vom Vortag. Ver- gen über die Straßen getrieben spricht. Ich kann es mir nicht kohlte, holzstückartige Menschen, mit her- wurden. Es gab das Unrechts- vorstellen. Vielleicht ein Ge- ausgequollenen, ganz roten Eingeweiden. bewusstsein. dicht wie die „Todesfuge“ von Und da stand man als Halbwüchsiger da- SPIEGEL: In der Debatte zum Celan? – Warum 6000 Seiten, zwischen. Ich bin dann nach Hause gegan- Thema „Luftkrieg und Litera- könnte man fragen, vielleicht gen, zu meinem Großvater. tur“ wurde gefragt, warum die genügen ganz wenige Zeilen. SPIEGEL: Wie war es dem ergangen? Bombardierung und ihre Folgen Und doch hängt das eine vom Kempowski: Sein Haus brannte nicht, wohl auch kaum ein literarisches anderen ab, beides ergänzt sich. aber das vom Nachbarn. Und der saß in ei- Echo gefunden haben. Ich habe im Übrigen ja noch nem Sessel vor diesem brennenden Haus Kempowski: Natürlich hat es Kempowski (1943) einen großen Teil vor mir, das und guckte sich an, wie es abbrannte. Ich mich auch bewegt, warum ei- dritte und letzte „Echolot“. lief rein – und wissen Sie, was ich gegriffen gentlich Bombenangriffe in der deutschen SPIEGEL: Sie verstehen sich nicht nur habe? Absurd. Ein billiges Schiffsmodell, Romanliteratur nicht vorkommen, von als Spurensicherer, als Sammler, sondern das habe ich ihm rausgetragen und auf sei- Ausnahmen abgesehen. Ich glaube, das ist auch als Arrangeur, als Dirigent des nen Schoß gesetzt. Das war mein Beitrag auch eine Generationsfrage. Die „Gruppe Chors? zur Rettung des Bürgertums. 47“ – das waren doch eigentlich die Sol- Kempowski: Schon das Wort „sammeln“ SPIEGEL: Blieben Sie in Hamburg? daten. Und die erzählten von Gefangen- stört mich, ich würde sagen: Es ist eigent- Kempowski: Nein, ich bin sofort zum Bahn- schaft, von der Front. Die Jüngeren hatten lich mehr ein Abrufen. Es ist ja schon ge- hof gegangen. Da war eine unübersehbare ganz andere Themen. Die haben nie ein sammelt. In jedem Kopf ist es gesammelt. Menschenmenge, merkwürdigerweise ging Gewehr in der Hand gehabt, die trugen Das zweite „Echolot“, die „Fuga furiosa“, niemand hinein. Ich bin ganz einfach nach das Erlebnis der Bombardierung in sich. beginnt mit der Offensive der Roten Armee Lübeck gefahren und war eine Stunde spä- Vielleicht aber liegen die Ursachen auch gegen das Dritte Reich, die die große ter in Sicherheit. Und dort, stellen Sie sich ganz woanders: Es war vielleicht eine Art Flüchtlingswelle auslöste. Es endet mit dem vor, waren halbverbrannte Bücher vom Scham, die schwer zu definieren ist. Angriff auf Dresden. Wir müssen auch das Himmel herabgefallen, Bücher aus Ham- SPIEGEL: Lange nachdem Ihre erfolgreichen erzählen dürfen. burg. Sie lagen in den Gärten: Das habe ich Romane erschienen waren, haben Sie da- SPIEGEL: Es heißt oft, dass Soldaten auf Hei- selbst gesehen. mit begonnen, den Zweiten Weltkrieg in maturlaub lieber zurück an die Front woll- SPIEGEL: Welchen Eindruck hat das alles Form der Montage aus authentischen Stim- ten, als noch einen Tag länger im Luft- auf Sie gemacht? men darzustellen. Warum? schutzkeller zu sitzen. Kempowski: Einen sehr gemischten. Es gab Kempowski: Die Romane schrieb ich aus Kempowski: Das hatte ja auch biblische Aus- dieses oft beschriebene Erlebnis, dass man subjektiver Sicht. Später schien mir dieses maße. Mein Vater, der einen Bombenan- hunderte von Bombern sah, alle ganz ge- Erlebnis vor allem ein kollektives zu sein. griff miterlebte, hatte – als Offizier! – große ordnet, in großer Höhe. Und die blinkten Dafür eine Form zu finden, war zunächst Angst vor den Bomben. Und ein Jahr spä- in der Sonne, ohne sich überhaupt stören sehr schwierig. Ich habe sehr viele Tage- ter wurde er von einer Bombe getroffen zu lassen, vollkommen unbeirrt. Majes- bücher aus der Kriegszeit gesammelt, auch und getötet. Interview: Volker Hage

266 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur

LITERATUR Pirat im Meer der Harmlosigkeit Haruki Murakami ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Japans und ein Held der jüngeren Generation. Sein neuer Roman „Gefährliche Geliebte“ verherrlicht, gegen die Tradition des Landes, das Glück des Individuums.

eden Morgen um sie- nem Kater, seiner Frau, sich hen japanischen Literaturpreisen ausge- ben rennt der Japaner selbst und der Lösung des zeichnet. JHaruki Murakami wie Rätsels, was eigentlich der Dabei hat Murakami viele Feinde, weil um sein Leben. „Laufen große Sinn des Hier und er sich von der steifen, feinziselierten ja- gibt mir die Kraft, mich Jetzt und Morgen und Ges- panischen Literaturtradition verabschiedet aufs Schreiben zu konzen- tern ist. Dabei begegnet er und zu einer neuen, schnelleren und ame- trieren“, sagt er, „und ich lauter seltsamen Menschen: rikanischeren Sprache gefunden hat. Ver- habe dabei immer die bes- rätselhaften Frauen, die in rat, rufen seine Kritiker, Populärliteratur! ten Einfälle.“ die Zukunft sehen kön- Für seine Leser ist Murakami gerade des- Und so sind seine Roma- nen, einem pubertierenden halb ein Held. Und auf jeden Fall gilt er, ne ein Marathonlauf durch Mädchen, das Perücken neben Banana Yoshimoto, als der wichtigs- eine Welt, die ihm täglich knüpft, einer Mutter und te moderne Autor seines Landes. befremdlicher vorkommt. ihrem Sohn, die undurch- Während der Arbeit an „Mister Auf- „Mister Aufziehvogel“ schaubare, geheime Thera- ziehvogel“ nahm er ein Kapitel aus dem heißt Murakamis vor zwei piesitzungen für reiche Ja- Roman heraus und arbeitete es zu einem Jahren in Deutschland er- paner abhalten; und zum eigenständigen Buch um. „Ich hatte das schienenes Hauptwerk, Nachdenken klettert er in Gefühl, dass es nicht passte“, sagt Mura-

„mein bisheriges“, sagt M. WELLERSHOFF einen Brunnen hinab. kami. Und tatsächlich ist „Gefährliche Murakami, er ist schließ- Autor Murakami An den 680 Seiten hat Geliebte“, der nun in deutscher Überset- lich erst 51 Jahre alt. Ein Murakami vier Jahre lang zung erschienene Roman, bei aller Leich- chaotischer, poetischer und immer wie- geschrieben. 300 000-mal wurde der Ro- tigkeit viel zielstrebiger konstruiert und der gewalttätiger Roman, dessen Sprache man in Japan verkauft – was viel sei für ein kommt ohne jene Fantasy-Elemente aus, dahinströmt wie die Gedanken beim Buch dieses Umfangs, sagt der Autor, aber die Murakamis Werke oft ins Skurrile Laufen. wenig im Vergleich mit den Millionenauf- ziehen. Erzählt wird die Geschichte eines 30- lagen seiner anderen Werke. Und es wur- „Gefährliche Geliebte“ ist die Ge- Jährigen, der auf der Suche ist – nach sei- de, wie die meisten seiner Bücher, mit ho- schichte eines Einzelgängers, der zerrissen ist zwischen dem Versuch, die normierte japanische Biografie nachzuleben, und seinem Wunsch nach indi- viduellem Glück: Der Ro- man beginnt damit, dass Hajime sich als Zwölf- jähriger mit seiner Schul- kameradin Shimamoto an- freundet, weil beide Ein- zelkinder in einer Zwei- Kind-Gesellschaft sind. Sie hören die Schallplatten von Shimamotos Vater, eine Ouvertüre von Rossini, ein Klavierkonzert von Liszt, Weihnachtslieder von Bing Crosby. Und Nat King Coles „South of the Bor- der, West of the Sun“, was auch der Originaltitel des Romans ist. Als Shimamoto auf eine andere Schule wechselt, versandet die Freundschaft. Hajime findet jedoch seine erste Freundin wieder und betrügt sie ausgerechnet

J.-P. BÖNING / ZENIT J.-P. mit deren Cousine. Diese Rushhour in der Tokioter U-Bahn: Die Arbeitsameisen halten ihr Leben für natürlich Schuld trägt er durch die

268 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Kultur

Jahre. Erst als er eine andere Frau kennen unabhängig sein, aber sie haben auch lernt, heiratet und Vater zweier Töchter Angst davor.“ wird, als er seinen tristen Job in einem Doch nicht nur die jüngere Generation, Schulbuchverlag aufgibt und mit finanziel- sondern ganz Japan befinde sich in einer ler Hilfe seines Schwiegervaters einen Jazz- Identitätskrise, sagt Murakami. Das Land club aufmacht, fällt diese Schwere von ihm habe seinen Bewohnern heute keine Ge- ab. Jetzt lebt er so, wie alle es von ihm er- schichten mehr zu bieten, an die sie glau- wartet haben: geordnet und erfolgreich. Bis eines Abends Shimamoto an der Bar sitzt und ihn tief in ihr inneres, unerklär- Bestseller tes Drama hineinzieht und herauszerrt aus der perfekt scheinenden Welt, die Hajime Belletristik dem Vorbild der japanischen Zwei-Kind- 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter Musterfamilie nachkonstruiert hat. Am Ende kehrt Hajime zurück in seine Ehe. und der Stein der Weisen Carlsen; 26 Mark Aber er wird für immer ein Fremder in seinem eigenen Leben sein. 2 (2) Henning Mankell Mittsommermord Und darin gleicht Hajime allen ande- Zsolnay; 45 Mark ren Hauptfiguren in den Romanen oder Kurzgeschichten Murakamis: Sie sind Ein- 3 (3) Bernhard Schlink Liebesfluchten zelgänger, die vom individuellen Glück Diogenes; 39,90 Mark träumen und den Idealen der großen ja- panischen Gemeinschaft misstrauen. Wie 4 (7) Joanne K. Rowling Harry Potter zum Beispiel der kleine Angestellte in und die Kammer des Schreckens der Erzählung „Der Elefant verschwin- Carlsen; 26 Mark det“, der in der Werbeabteilung eines Küchengeräteherstellers seine Alltage ab- 5 (5) Isabel Allende Fortunas Tochter arbeitet und sich in eine Welt davon- Suhrkamp; 49,80 Mark wünscht, in der nichts und niemand an seiner Effizienz und Nützlichkeit gemessen 6 (6) John Grisham wird. Oder wie die Hausfrau aus einer Das Testament Kurzgeschichte, die ein verliebtes männli- Heyne; 46 Mark ches Monster, das auf dem Sofa sitzt und ihr so nett einen Heiratsantrag macht, bes- tialisch erschlägt – Piraten im Meer des Konformismus und der lächelnden Harm- Eine losigkeit. Erbengemeinschaft Wer in Japan nicht dazugehört, zu einer reibt sich – verfrüht – Firma, zu einem Verein, zu einer Sekte, sei die Hände gesellschaftlich nicht existent, sagt Mura- kami, „das ist hart“. Natürlich spricht er 7 (4) Noah Gordon Der Medicus aus eigener Erfahrung: Der Schriftsteller von Saragossa Blessing; 48 Mark wuchs selbst als Einzelkind auf. Er hat sich von Anfang an für die Abweichung ent- 8 (10) Stephen King Das Mädchen schieden: Seine Eltern waren Lehrer für japanische Literatur, er aber las nur US- Schneekluth; 38 Mark Autoren, Truman Capote und F. Scott Fitz- 9 (9) Doris Dörrie Was machen wir jetzt? gerald am liebsten. Die Mitschüler mach- ten Mannschaftssport, er ging schwimmen. Diogenes; 39,90 Mark Die Kommilitonen an der Filmhochschule 10 (11) Joanne K. Rowling Harry Potter wurden Regisseure und Dramaturgen, er zog nach dem Abschluss einen Job im Plat- und der Gefangene von Askaban tenladen vor. Als er 29 Jahre alt war, be- Carlsen; 28 Mark gann Murakami, nachts am Küchentisch einen Roman zu verfassen. Er hieß in der 11 (8) Thomas Harris Hannibal englischen Übersetzung „Hear the Wind Hoffmann und Campe, 49,90 Mark Sing“, erschien 1979 und war auf Anhieb ein Erfolg. 12 (12) Frank McCourt Ein rundherum Das mal störrische, mal deprimierte tolles Land Luchterhand; 48 Mark Anderssein von Murakamis Helden ist es, das ihn auch außerhalb Japans zum 13 (13) Sándor Márai Die Glut Lieblingsautor der 20- bis 30-Jährigen Piper; 36 Mark macht. Denn die sind in der Phase der Identitätsfindung und müssen darüber ent- 14 (15) Ken Follett Die Kinder von Eden scheiden, wer sie sein wollen: sie selbst Lübbe; 46 Mark oder Herr und Frau Mustermann. „Die meisten meiner Leser hassen ihre Arbeit 15 (–) Paulo Coelho Veronika beschließt und die Zwangsidentifikation mit der Fir- zu sterben Diogenes; 34,90 Mark ma“, sagt Murakami, „sie wollen frei und

270 der spiegel 13/2000 ben könnten. Vor dem Zweiten Weltkrieg müssen“, sagt Murakami, „aber wir haben gab es den Mythos vom Gottkaiser und versagt. Die Sektengurus hatten bessere von seinem Volk der Gotteskinder, danach Geschichten.“ das Wirtschaftswunder und sein fleißiges Wie der Aum-Chef Asahara zum Bei- Volk. Doch seit der Rezession und den spiel, dessen Anhänger 1995 einen Giftgas- Bankenpleiten herrsche ein Identitätsva- Anschlag in der Tokioter U-Bahn verübten. kuum. „Wir Schriftsteller hätten es füllen Sie glaubten an die Reinkarnation und wollten die Fahrgäste aus ihrem traurigen Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich er- kleinen Leben befreien, das pro Woche mittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ zehn Stunden gequetschter Enge in den U- Bahn-Waggons vorsieht. Sachbücher Dieser Anschlag und das schwere Erd- beben von Kobe, bei dem 6430 Menschen 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben starben, haben Murakami bewogen, wie- DVA; 49,80 Mark der nach Tokio zurückzukehren – nach fünf Jahren in den USA, wo er „Mister 2 (2) Bodo Schäfer Der Weg zur Aufziehvogel“ und „Gefährliche Gelieb- finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark te“ geschrieben hatte. „Ich wollte meine Pflicht für mein Land erfüllen“, sagt er, 3 (4) Sigrid Damm Christiane und „ich hatte das Gefühl, dies sei ein Wende- Goethe Insel; 49,80 Mark punkt für Japan.“ Über das Erdbeben verfasste Murakami 4 (3) Dietrich Schwanitz Bildung Kurzgeschichten, über die Aum-Sekte und Eichborn; 49,80 Mark ihre Opfer ein Sachbuch, für das er 12 Sek- tenmitglieder und 65 Opfer interviewte; in 5 (5) Hans J. Massaquoi Japan ist es schon erschienen, im Herbst Neger, Neger, Schornsteinfeger! soll es in den USA herauskommen. Aus sei- Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark nen Recherchen folgert Murakami: Die ja- panischen Arbeitsameisen halten ihr Le- 6 (6) Joschka Fischer Mein langer Lauf ben nicht für unglücklich, sondern für na- zu mir selbst Kiepenheuer & Witsch; 29,90 Mark türlich und gegeben. „Ich denke trotzdem, die Leute sollten anders leben“, sagt er. 7 (7) Dale Carnegie Sorge dich Für ihn war das Angestelltenleben so- nicht, lebe! Scherz; 46 Mark wieso nie ein möglicher Lebensentwurf. Bevor er sein erstes Buch schrieb, besaß er 8 (8) Malika Oufkir/Michèle Fitoussi wie Hajime, der Protagonist aus „Gefähr- Die Gefangene liche Geliebte“, jahrelang einen Jazzclub Marion von Schröder; 39,90 Mark in Tokio. Erst einen kleinen, schäbigen, wo arme Musiker für wenig Geld auftra- 9 (–) André Kostolany ten. Dann einen größeren, in dem alle Die Kunst über etwas mehr verdienten. Nachdem er seinen Geld nachzudenken zweiten Roman veröffentlicht hatte, gab er den Club auf. Econ; 39,90 Mark Bei einem Aufenthalt in Stockholm hat er unlängst drei Tage in einem Second- Hand-Plattenladen verbracht. „60 Platten Die Bilanz eines habe ich gekauft“, sagt er, „war ziemlich langen und erfolgreichen Börsenlebens schweres Gepäck.“ Im Moment verstellen zwölf Umzugskartons das Musikzimmer im zweiten Stock seines Arbeitshauses, das 10 (9) Ulrich Wickert im teuer-schicken Tokioter Viertel Aoyama Vom Glück, Franzose zu sein liegt; in nur wenigen Tagen wird er in sein Hoffmann und Campe; 36 Mark neues Eigenheim am Stadtrand umziehen. 6000 Schallplatten hat er in den Kisten ver- 11 (11) Oskar Lafontaine packt, Jazz meistens. Stan Getz hört er Das Herz schlägt links Econ; 39,90 Mark am liebsten. „Musik ist essenzieller Teil meines Le- 12 (13) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist bens“, sagt Murakami. Joggen, schreiben, ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark Platten hören sind die Säulen seines Da- seins, und sie lassen sich, zum Glück, kom- 13 (12) Peter Kelder binieren: beim Joggen Musik hören und Die Fünf „Tibeter“ Scherz; 22 Mark übers Schreiben nachdenken, zum Bei- spiel, oder aber beim Schreiben Musik 14 (10) Ruth Picardie Es wird mir hören – allerdings nur, wenn er an Essays fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark oder Rezensionen arbeitet. „Für meine Romane brauche ich Stille“, erklärt Mura- 15 (–) Klaus Bednarz kami. Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark Stille, wie sie ihn selber umgibt. Marianne Wellershoff

der spiegel 13/2000 271 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur

„Es ist eine lausige Zeit, um Popmusik zu machen, die nicht für Teenager bestimmt POP ist“, konstatierte letzten Sommer das „New York Times Magazine“. So kommt es, dass Aimee Manns neues Club der Betrogenen Album „Bachelor No. 2“ auf dem eigenen Label erschienen und bisher nur im Inter- Kritiker-Hymnen, Karriere-Tiefschläge und nun net, dem Reservat der einsamen Künstler, zu kaufen ist. Oder an der Konzertgarde- eine Oscar-Nominierung: Aimee Mann und Michael Penn sind robe wie jüngst bei der knapp eine Woche Amerikas brillantestes -Ehepaar. langen „Acoustic Vaudeville“-Auftrittsserie

hre gemeinsame Show nennen sie alt- modisch „Acoustic Vaudeville“, ihre IBühne ist eine kleine, immerhin sehr angesagte New Yorker Bar namens „Joe’s Pub“, und ihre Lieder sind feine, bittere Balladen über das Glück und die Qualen des Scheiterns. Mitunter sieht es so aus, als hätten sich der Sänger und Musiker Michael Penn und seine Ehefrau, die Sän- gerin und Songschreiberin Aimee Mann, sehr bequem eingerichtet in der Rolle der ewigen Verlierer. Penn ist so schüchtern, dass er bei Kon- zerten die Ansagen seiner Songs gern be- freundeten Berufskomikern überlässt. Und wenn er doch zwischen den Liedern das Wort ans Publikum richtet, dann klagt er: „Kennen Sie die alte TV-Serie ,The Priso- ner‘, wo ein Mann ohne ersichtlichen Grund von einer geheimnisvollen Organi- sation gequält und gefangen gehalten wird? Genauso ergeht es mir seit Jahren!“ Dabei haben Mann, 39, und Penn, 41, derzeit durchaus Grund zur Freude. Aimee Manns Song „Save Me“ ist für einen Oscar nominiert. Das Stück stammt aus dem hoch gelobten Hollywood-Film „Magnolia“, der im April in Deutschland startet. Ehegatte Musiker Penn (1990): „Wunderbare Lektion für eine Idiotenindustrie“ Michael Penn war an ihren „Magnolia“- Songs als Musiker beteiligt. den sein – doch die Experten in Für Penn aber ist der Nominierungs- den großen Plattenfirmen halten ruhm aus Hollywood zunächst mal Anlass die Musik von Aimee Mann und für einen Wutanfall: „Das ist eine wun- Michael Penn für kommerziell derbare Lektion für die Idiotenindustrie“, uninteressant. zetert er, „für all die Leute, die uns immer Pop in Beatles-Manier, wie ihn klarmachen wollen, dass für unsere Musik Mann und Penn in Perfektion kein großes Publikum zu begeistern sei.“ darbieten, trieb in den sechziger Der Sänger spricht aus trüber Erfahrung. Jahren weltweit Teenager zur Von der Kritik wird seine Musik seit Jah- Raserei. Heute begeistern sich ren zwar ebenso einmütig gefeiert wie die für diese Musik überwiegend meist völlig eigenständig entstandene Lie- Männer mit dünnem Haar jen- derproduktion seiner Ehefrau. seits des 30. Lebensjahrs – und Das US-Magazin „Rolling Stone“ etwa die sind im großen Musikgeschäft bejubelte Penns Musik als „kunstvollen, allenfalls ein zu vernachlässigen- intelligenten, romantischen Folk-Pop“, des Sparten-Publikum. dem „New York Times Magazine“ gilt Große Umsätze und - Mann als eine der „besten Songwriterinnen Platzierungen werden den Mu- ihrer Generation“. sikfirmen nur von den Teenagern Auch der britische Schriftsteller Nick beschert. Und die lieben nun mal Hornby schwärmte von ihr: „Aimee Mann Britney Spears und Christina schreibt Songs wie einst die Beatles. Das Aguilera, die Backstreet Boys Problem ist nur, dass das anscheinend heut- oder die Bloodhound Gang – zutage niemanden mehr interessiert.“ und nicht stille Melancholiker Genau so ist es, zumindest in der Musik- um die 40.

industrie der USA. Das Paar mag mit Burt PHOTOS / GLOBE BARRETT F. Bacharach und Carole King, mit Randy * Bei der Filmpremiere von „Boogie Nights“ Komponistenpaar Penn, Mann in Los Angeles* Newman und Joni Mitchell verglichen wor- 1997. Stilvoller Erwachsenen-Pop in Zeiten des Jugendwahns

274 der spiegel 13/2000 im jedem Abend ausverkauften „Joe’s Pub“ in New York. Michael Penn hat zwar eine Plattenfir- ma. Doch seiner Meinung nach kümmern sich die Leute von Epic, einer Subfirma des Sony-Konzerns, um die unlängst er- schienene neue Penn-CD „MP4 (Days Since a Lost Time Accident)“ viel zu we- nig: „Die erfüllen ihren Job nicht, also muss ich es selber tun“, sagt er. In Los Angeles, wo er und Aimee Mann leben, tritt das Paar häufig dienstags mit an- deren übergangenen und betrogenen Musikern wie Robyn Hitchcock (und auch mal Stars wie Joni Mitchell) in dem Club „Largo“ auf. Selbst die Oscar-Nominierung ha- ben Mann und Penn nicht der Hilfe von Musikprofis zu verdanken, son- dern allein dem guten Geschmack des 30-jährigen Regisseurs Paul Tho- mas Anderson. Der hatte Penn schon für die Musik seiner beiden ersten Kinofilme „Hard Eight“ und „Boogie Nights“ verpflichtet und hat nun Manns Balladen ähnlich hingebungs- voll in die turbulente „Magnolia“- Handlung geschnitten, wie es einst der Regisseur Mike Nichols in seiner „Reifeprüfung“ mit den Songs des Duos Simon and Garfunkel tat. Nur gilt die Hingabe diesmal einer Musik, für die die Chefs der Unterhaltungs- konzerne null Verwertungspotenzial sehen. Dabei hätte es Michael Penn, Sohn der Schauspielerin Eileen Ryan und des Fernsehregisseurs Leo Penn

PELHAM / ALPHA / GLOBE PHOTOS / GLOBE / ALPHA PELHAM sowie ältester Bruder der Holly- wood-Stars Christopher und Sean Penn, Anfang der neunziger Jahre beinahe zu großem Hitparaden-Ruhm gebracht. Nach seiner Debüt-Single „No Myth“ wurde er vom Musiksender MTV sogar zum „Best New Artist“ gekürt. Doch dann wechselte die Geschäftsführung seiner Plattenfirma – und die neuen Herren be- fanden den damals 31-Jährigen als zu alt für die Rolle des strahlenden Newcomers. Für Michael Penn interessierte sich im Konzern auf einen Schlag nicht mal mehr der Pförtner. Seither erscheinen seine hervorragenden Gitarren-Pop-Alben fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit und sind nur in gut sor- tierten Grabbelkisten zu entdecken. Weil auch die Leute von Epic daran nichts än- derten, wollte Penn den Vertrag annullieren – doch die Chefs der Firma verwiesen ach- selzuckend aufs Kleingedruckte, das ihn zu fünf weiteren Alben verpflichtet. „Ich gehöre denen“, sagt er resigniert. Er verstehe jetzt, wie sich der Popstar, der früher unter dem Namen Prince berühmt war, während eines ähnlichen Konflikts mit der Firma Warner verhielt: „Er hat sich einfach das Wort ,Sklave‘ auf die Stirn ge- malt.“ Christoph Dallach der spiegel 13/2000 275 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur

neren Schrecknissen. „Gier“ ist ein auf vier Stimmen verteiltes Drama aus den Tiefen THEATER einer ruhelosen, zum Leiden verdammten Seele. Die Personen des Stücks, zwei Männer Chorprobe im Leichenkabinett und zwei Frauen, sind nur mit Buchstaben bezeichnet. Wer will, kann A, B, C und M Ein Jahr nach dem Selbstmord der Autorin Sarah Kane präsentiert als „Author“, „Brother“, „Child“ und „Mother“ lesen (oder A, B, C als Neben- die Berliner Schaubühne das Kane-Stück „Gier“ erstmals auf rollen, wogegen M dann als „Me“ oder Deutsch – einen todessüchtigen Klagegesang. Von Wolfgang Höbel Zentral-Ich gelten dürfte) – für die Wir- kung des Textes ist das alles unerheblich. rinnen im Theater gab’s eineinvier- den Mangel zu verwalten. Schauspieler, „Gier“ ist eine wunderbare, befremdliche tel Stunden lang kein Mucken, kein Regisseure und allerhand andere Kultur- Sprachkomposition aus Zustandsbeschrei- DTuscheln, kein Husten: Beklommen, prominente jubelten über einen „konse- bungen („Ich spüre nichts“), Lebensregeln erstarrt, wie von einem bösen Zauber ver- quenten, mutigen Schritt“. Den schönsten („Gib, habe Mitleid, beherrsche“), Story- hext (manche allerdings wohl auch nur an- Satz aber sprach Thomas Langhoff, der Fetzen (etwa ein Kindsmissbrauch im geödet von einem, wie es ihnen schien, dunk- Chef des Deutschen Theaters. Er trauerte Auto), aus Liebesverlangen und Liebesekel len Gemunkel), lauschten die Zuschauer um den Abgang einer Frau, die „eine und Todessehnsucht. einem vierstimmigen Gesang von Schmerz, Weltdame unter Zwergen“ gewesen sei. Das Stück, das erkennbar an Becketts Folter und der Nutzlosigkeit zu leben. Nun ist es einerseits immer schön, wenn späten Dramen geschult ist und unter an- Draußen im Foyer aber brach sofort im Theater großes Bohai losbricht. Und derem T. S. Eliot zitiert, wirkt zunächst nach dem Ende der Vorstellung der Kra- doch darf man andererseits bedauern, dass wie ein auf vier Sprecher verteilter Mo- M. LIEBERENZ I. FREESE / DRAMA I. FREESE / DRAMA Schaubühnen-Aufführung „Gier“, Dramatikerin Kane (1998): Kühle Verneigung vor einer Heiligen des Gegenwartstheaters wall los. Doch nicht den packenden, be- die „Gier“-Premiere derart von den Berli- nolog. Und doch gibt es Rudimente eines drohlich glitzernden (und manchmal auch ner Politikscharmützeln überlärmt wurde. Beziehungs-Doppels im Quartett: Der äl- nur glitzernd verpackten) Verzweiflungs- Denn zu bestaunen war in der Schaubühne tere Mann A verzehrt sich nach dem kunststücken der Dramatikerin Sarah Kane die kluge, imponierenderweise auf allen jungen Mädchen C (an dem er sich offen- galt die Aufregung und nicht der Regiearbeit Nachruf-Kitsch verzichtende Inszenierung bar in früheren Jahren vergriffen hat), sie des neuen Schaubühnen-Co-Chefs Thomas eines Textes, der noch einmal vorführt, dass reagiert angewidert. Der junge Mann B Ostermeier: Auslöser des Aufruhrs nach der die britische Dramatikerin Sarah Kane eine verlangt nach der Liebe der alternden Frau Premiere des Kane-Stücks „Gier“ am ver- Königin unter Zwergen war. M, die aber will ihn nur benutzen zum gangenen Donnerstag war die Nachricht Vor etwas mehr als einem Jahr, im Fe- Zweck der Begattung: „Ich brauche ein vom Rücktritt der Berliner Kultursenatorin bruar 1999, brachte sich die Autorin um – Kind.“ Christa Thoben – und die nutzten die rou- im Alter von 28 Jahren. Sie hatte in Natürlich ist dieser Text bei aller Musi- tinierten Großmucker der hauptstädtischen Stücken wie „Zerbombt“ und „Gereinigt“ kalität eine Zumutung. Eine Litanei voller Theaterwelt sogleich zum Spektakel. gezeigt, wie Menschen einander quälen, sauber gesetzter rhythmischer Wiederho- Claus Peymann, Intendant des Berliner vergewaltigen und verstümmeln, und sich lungen, eine Theaterverweigerung ohne Ensembles und schon äußerlich dem Fuß- damit den Ruf einer Schock-Dramatikerin jede Aktion, ein einziger Sprachschwall in balltrainer immer ähnlicher eingehandelt. In „Gier“, das im Original Vergeh-Dur mit ganz seltenen komischen werdend, dribbelte beherzt vor die aufge- „Crave“ heißt und im August 1998 beim Zwischentönen: „Es gibt einen Unterschied bauten Fernsehkameras und sprach von Edinburgh Festival uraufgeführt wurde, er- zwischen der Fähigkeit, sich auszudrücken, der Nutzlosigkeit, in Berlins Kulturleben zählt sie weniger von äußeren als von in- und Intelligenz“, sagt einer der Mitspieler.

278 der spiegel 13/2000 „Ich kann den Unterschied nicht aus- drücken, aber es gibt einen.“ Zu befürchten war nun, dass der Selbst- mord der Dramatikerin jede „Gier“-Auf- führung in ein Weihespiel verwandeln wür- de, eine ergriffene Huldigung an eine Hei- lige des Theaters der neunziger Jahre (die die hoch begabte, störrische, poetische Au- torin Sarah Kane durchaus war). Thomas Ostermeier aber zeigt „Gier“ als kühles, klares Kunst-Spiel. In einem von Neonröhren nur spärlich beleuchteten Raum, der aussieht wie die Leichenkammer eines medizinischen In- stituts, balanciert jeder der vier Schau- spieler auf einem schwarzglasigen Vitri- nenblock mal stehend, mal sitzend vor einem Mikrofon. Manchmal hört man Maschinenhämmern, mal ein paar Geigen- töne oder von fern das Freizeichen eines Telefons, das niemand abhebt. Zwischen- durch glimmt in den Glasblöcken des Büh- nenbildners Rufus Didwiszus Licht auf, und man glaubt, grässlich entstellte Tote (oder vielleicht doch zappelnde Gespens- ter) in Formalin schwimmen zu sehen. Alle Schauspieler sprechen frontal zum Publikum, sind Verbannte in luftiger Höhe, was auf die Egomanie ihrer Verzweif- lungsreden verweist – und auf die Tatsache, dass manche Texte klingen wie Protokolle aus jenen Kliniken für Seelenkranke, in denen Kane Patientin war. Gnadenlos ich- süchtig und schon deshalb ohne jede Hoff- nung wirkt in diesem Raum selbst der ein- zige lange Monolog des Stücks, in dem der ältere Mann A von der Erlösung durch Lie- be träumt: „… in der Stadt herumirren und denken, sie ist leer ohne dich … und den- ken, ich verliere mich, selbst aber wissen, dass ich in Sicherheit bin bei dir …“ Es ist eine schwer erträgliche und be- drückend exakt intonierte Geisterstunde, zu der Ostermeier da lädt, ein chorischer Abgesang ohne Wut und Wehmut, aber mit analytischer Schärfe. Die Lust und das Elend der Liebe ist so etwas wie das Frühlingsthema der Schau- bühne. Vor zwei Wochen hatte dort „Vor langer Zeit im Mai“ Premiere, eine leicht- händige Skizze des Hausdramatikers Ro- land Schimmelpfennig. Darin geht es um das Wiedersehen eines Paars, das einmal glücklich war. Die Regisseurin Barbara Frey lässt Fahrradfahrer und Frauen in Abendroben durchs Bild purzeln und führt mit melancholischer Grazie vor, wie den Ex-Liebenden der süße Schmerz einer alltäglichen Affäre die Sprache verschla- gen hat: Aber was soll’s, das Leben geht weiter. „Gier“ nun ist das schroffe Gegenbild zu dieser Frühjahrskomödie. Hier ist ein nagender, alles vergiftender Schmerz am Werk, der niemals abebbt – und in dem doch die Sprache für den Augenblick Er- leichterung verschafft und Schönheit her- vorbringt im Sehnen nach der letzten, ein- zigen Erlösung, dem Tod. ™ der spiegel 13/2000 279 Werbeseite

Werbeseite Prisma Wissenschaft · Technik

TIERE Blitzkrieg gegen Laufvögel er Riesenlaufvogel Moa, einst mit

Dmehreren Arten in Neuseeland / ARGUS H. SCHWARZBACH heimisch, ist in viel kürzerer Zeit von Maori in Neuseeland Menschen ausgerottet worden als bislang angenommen. Einer jetzt im Wissen- de in der Nähe früher menschlicher schaftsmagazin „Science“ veröffentlich- Siedlungen zeigen, dass die Maoris ten Studie zufolge brauchten die im 13. die Tiere schnell als Leckerbissen Jahrhundert nach Neuseeland einge- zu schätzen wussten. Bereits ein wanderten Maori höchstens 160 Jahre, Grundstock von nur 100 Siedlern um die Moa-Population von geschätzten reichte nach den Modellrechnun- 158000 Tieren auszulöschen. In einer Art gen der Forscher aus, um die bis zu „Blitzkrieg“ hätten die Menschen die dreieinhalb Meter großen Tiere in Vögel vernichtet, so das Fazit der Auto- weniger als zwei Menschengenera- ren Richard Holdaway und Chris Jacomb tionen auszurotten. Dabei gingen aus dem neuseeländischen Christchurch. Holdaway und Jacomb noch zu- Bislang ging man davon aus, dass die rückhaltend davon aus, dass die Moas nach Eintreffen der menschlichen Maori-Bevölkerung nur um ein Siedler immerhin noch 600 Jahre über- Prozent pro Jahr wuchs und 20 lebten. Holdaway und Jacomb simulier- Menschen ein Moa-Weibchen in ten den Niedergang der flugunfähigen der Woche verspeisten. Bei größe-

Giganten auf der Basis neuer archäolo- rem Appetit der Kolonisten und / WILDLIFE RYAN P. gischer Funde und biologischer Erkennt- Berücksichtigung der Zerstörung Riesenlaufvogel Moa (Rekonstruktion) nisse über die Populationsdynamik gro- des Moa-Lebensraums kommen die ßer Laufvögel. Elf Moa-Arten mit einem Forscher sogar nur auf eine Überlebens- fingen die Weibchen überhaupt an zu Gewicht zwischen 20 und 250 Kilogramm zeit von 50 Jahren für die Riesenvö- brüten – viel zu spät, glauben die For- lebten in Neuseeland, bevor die Inseln gel. Zum Verhängnis wurde dem impo- scher. Holdaway: „Nur wenige Moas er- von den polynesischen Kolonisten be- santen Federvieh dabei auch seine träge reichten überhaupt ein Alter von fünf siedelt wurden. Zahlreiche Knochenfun- Biologie: Erst im Alter von fünf Jahren Jahren.“

MEDIZIN dem Taschencomputer Palm Pilot und einem tragbaren Sa- Hilfe für Pollenopfer telliten-Navigationssystem (GPS) in 27 Städten der Welt önnen Heuschnupfen-Kranke zu den „top bars“ (Heineken) Kaufatmen? Der Münchner Che- führt. Die BarTrek genannte miker Siegfried Rochler hat eine Software (Slogan: „Where Creme aus hoch gereinigten Paraffi- would you like to drink to- nen entwickelt, die den Kontakt day?“) ermittelt via GPS die von Pollen mit der Nasenschleim- Position des ortsunkundigen haut und damit Heuschnupfen-An- Trinkers und zeigt ihm dann fälle verhindern soll. Rochler, selbst auf einem Stadtplan, der auf

Pollenopfer, erdachte das Prinzip F. WILDE dem Mini-Bildschirm einge- schon 1995 und nutzt es seitdem „Dax Bierbörse“ in Hannover blendet wird, den Weg zur nach eigenem Bekunden erfolg- nächsten Kneipe an. So haben reich. Seit Februar hat seine Pollen- ELEKTRONIK BarTrek-Besitzer anderen Reisenden bei- schutz-Creme Simaroline die Zulas- spielsweise voraus, dass sie in New York sung der Gesundheitsbehörden und Kneipenbummel vollautomatisch zu „Jake’s Dilemma“ fin- mittlerweile auch den Segen von den oder in Hannover die „Dax Bierbör- Ärzten des „Arbeitskreises Immu- per Satellit se“ auch ohne Mithilfe der Eingeborenen nologie“. Die Pollen blockierende ansteuern können. Zusätzlich liefert die Schutzcreme zieht nicht in die ute Nachrichten für Globetrotter mit Software zu jeder Kneipe eine kurze Be- Schleimhaut ein und macht die Be- Gnotorisch ausgetrockneter Kehle: Die schreibung, die vor allem eines klarstellt: handlung mit den üblichen, nicht erste tragbare Bar-Suchmaschine ist da. Die „top bars“ dieser Welt werden alle- nebenwirkungsfreien Histamin- Die Bierfirma Heineken hat eine Soft- samt von einem Bierbrauer aus dem Nie- Präparaten überflüssig. ware entwickelt, die in Kombination mit derländischen beliefert.

der spiegel 13/2000 281 Prisma Wissenschaft · Technik

THERAPIE Schwanger durch Reden ruppentherapie verdoppelt die Chance von ungewollt Gkinderlosen Frauen, doch noch schwanger zu werden. Das hat ein Team der Harvard Medical School in Boston erst- mals wissenschaftlich nachgewiesen. Die Forscher um die Psychologin Alice Domar schickten 184 Frauen, die bereits seit ein bis zwei Jahren versuchten, ein Kind zu empfangen, für zehn Wochen zur Therapie. Eine Gruppe der Frauen unter- hielt sich zwei Stunden pro Woche mit anderen Betroffenen über ihre Probleme mit der Unfruchtbarkeit. Eine andere Gruppe wurde mit Techniken vertraut gemacht, Stress und Verbitterung über den unerfüllten Kinderwunsch besser zu verarbeiten. Innerhalb eines Jahres wurden daraufhin über 50 Prozent der Probandinnen beider Gruppen schwanger – in ei- ner Kontrollgruppe waren es im selben Zeitraum nur 20 Pro- zent. „Für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch ist die so- ziale Isolation ein sehr großes Problem“, sagt Domar. „Da

schafft es große Erleichterung, endlich mit Menschen zusam- / BILDERBERG POPPERFOTO men zu sein, die ähnliche Probleme haben.“ Schwangere Frau

TELEKOMMUNIKATION KATASTROPHEN hing“, sagt Lawrence. „In Wirklichkeit lag jedoch ein meteorologisches Phäno- Protest „Titanic“ am Wetter men vor.“ Die Häufigkeit der Sonnen- flecken, dunkler Bereiche auf der Son- gegen Wucherpreise gescheitert? nenoberfläche, schwankt mit einer Pe- riode von elf Jahren und erreichte 1913 – ür viele ist das Handy eine Art Rei- um Untergang der „Titanic“ am 15. ein Jahr nach dem Untergang der „Tita- Fseschreibmaschine: Über 650 Millio- ZApril 1912 hat möglicherweise eine nic“ – ein Minimum. Lawrence Ergeb- nen Kurzmitteilungen, so genannte SMS ungewöhnliche Wetterlage beigetragen. nisse deuten nun darauf hin, dass mit (Short Message Service), werden jeden Der britische Meteorologe Edward Law- der geringen Zahl der Flecken eine be- Monat von Handy zu Handy geschickt. rence hat eine niedrige Anzahl von Son- sonders niedrige Wassertemperatur ein- Dass jedoch jede der Nachrichten bis zu nenflecken im Unglücksjahr mit verän- hergegangen sein könnte. Ungewöhn- 59 Pfennig kostet, wollen einige der derten Wetterbedingungen über dem lich viele Eisberge seien durch den rund 25 Millionen Nordatlantik und dem Auftreten von be- Ozean gedriftet, glaubt Lawrence – mit deutschen Handy- sonders vielen Eisbergen in Verbindung fatalen Folgen für die Atlantik-Reisen- Kunden jetzt nicht gebracht. „Das Wetter war herrlich. den. Einer der weißen Riesen streifte länger hinnehmen. Deshalb hatte bislang niemand die Idee, den Luxusliner und brachte 1500 Men- Sie dokumentieren dass es mit der Katastrophe zusammen- schen den Tod. ihren Unmut im In- ternet (www.sms

M. WITT protest.de). Mehr SMS-Nachricht als 1200 Unter- schriften wurden dort bereits gesammelt. Während die Preise für mobiles Telefonieren von fast zwei Mark pro Minute auf nun 15 Pfen- nig purzelten, sind SMS-Botschaften kaum billiger geworden. Wie wenig die stille Elektropost kosten könnte, zeigen Beispiele aus anderen Ländern. Das Versenden von SMS aus dem Ausland nach Deutschland ist teilweise sogar kos- tenlos, so etwa beim Netzbetreiber Vo- dafone in Australien oder bei einzelnen Netzen in Griechenland und Island. Auswandern nach Australien würde sich da fast lohnen – nach rund 6000 Kurz-

mitteilungen an die Lieben daheim wäre AP das Flugticket wieder eingespart. Wrack der „Titanic“

282 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Hunde verschiedener Rassen: Bei gemeinsamen Jagdausflügen in das Herz des zweibeinigen Gruppenführers eingeschlichen

TIERE Geniestreich der Kläffer Ist der beste Freund des Menschen nur ein Sozialschmarotzer? Genforscher haben rekonstruiert, wie der Hund auf den Menschen kam. Bei der Entschlüsselung des Hunde-Erbguts fahnden die Biologen zudem nach den genetischen Ursachen von Krankheiten – zum Wohle der Menschen.

ouis Dobermann hatte ein Händchen „Wir geben den Tieren etwas zu essen, gnots Mitarbeiter Marcel Hungs. „In den für scharfe Köter. Genervt von Die- und sie kollabieren vor unseren Augen“, nächsten zehn Jahren rechnen wir mit Lben und pöbelnden Nachtschwär- freut sich Emmanuel Mignot, Psychiater riesigen Fortschritten für die Patienten.“ mern beschloss der Steuereintreiber und an der Stanford University. „Für etwa 30 Der Erfolg der kalifornischen Wissen- Nachtwächter aus dem thüringischen Sekunden sind sie paralysiert.“ schaftler ist nur ein Beispiel für eine tieri- Apolda, einen Hund zu züchten, der näch- Mignots Dobermänner haben krankhaf- sche Karriere, die derzeit Genforscher tens Schutz bieten und tagsüber säumige te Schlafanfälle. Durch geschickte Kreu- weltweit in Entzücken versetzt: Die Wis- Steuerzahler das Fürchten lehren sollte. zung ist es dem Forscher und seinen Kol- senschaftler sind auf den Hund gekom- Der Plan, ausgeheckt im späten 19. Jahr- legen gelungen, Hunde zu züchten, die men. Vereint unter dem Dach des so ge- hundert, hatte Erfolg. „Ausdruck von durchweg unter jenem neurologischen De- nannten „Dog Genome“-Projekts versu- Entschlossenheit“ und „stolze Haltung“ fekt leiden, der auch jeden 2000. Menschen chen sie, das Erbgut der Vierbeiner zu ent- bescheinigen Züchter heute dem Dober- mitunter urplötzlich in den Schlaf reißt. schlüsseln. mann. Nicht im Sinne des Erfinders dürf- Der Lohn der konsequenten Inzucht: Das Hunde-Genom, so glauben die Wis- te allerdings ein Wesenszug sein, der 25 Erst kürzlich konnte das Team das für die senschaftler, birgt nicht nur die Chance, Dobermännern im kalifornischen Stanford Schlafanfälle verantwortliche Gen im Hun- einer Reihe von Erbkranheiten und sogar eigen ist: Schon bei der kleinsten Auf- de-Erbgut dingfest machen. „Damit rückt den genetischen Ursprüngen von Verhalten regung fallen die tapferen Rassehunde auch eine Therapie für betroffene Men- auf die Spur zu kommen. Auch uralte Fra- unvermittelt in seligen Schlaf. schen in greifbare Nähe“, schwärmt Mi- gen um Hund und Herrchen rücken neu ins

284 der spiegel 13/2000 Wissenschaft

Jahren zusammenfanden. Zu dieser Zeit immer die frühen Hunde vor 100000 Jahren hüllte sich der Mensch noch in Felle, stand in der Nähe von Hominiden gemacht haben aber bereits kurz davor, sesshaft zu werden – sie haben es damals nicht mit vollständig und Ackerbau zu betreiben. domestizierten Menschen zu tun gehabt.“ Der Hund als Partner kam da gerade Weil der Mensch damals noch gar nicht recht. Flugs ans Lagerfeuer gelockt, konn- über die intellektuellen Fähigkeiten ver- te er die Familie bewachen und war auch fügte, den Hund zu zähmen, so Acland, sonst als allzeit treuer Kumpan zu gebrau- muss der Hund das gleichsam im Allein- chen. Seither haftet jeder Töle das Prädikat gang selbst erledigt haben: „Der frühe „bester Freund des Menschen“ an. Hund hat sich selbst domestiziert und in Archäologische Ausgrabungen schienen der Nähe des Menschen eine neue ökolo- diese Theorie bislang zu bestätigen. Ein- gische Nische gefunden.“ deutig identifizierbare Hundeknochen fin- Bei gemeinsamen Jagdausflügen habe er den sich erst in Funden aus den letzten sich in das Herz des zweibeinigen Grup- 14000 Jahren. Einer der ältesten von ihnen, penführers eingeschlichen – und stets fiel ein Hunde-Unterkiefer, wurde 1914 aus ei- von der Beute auch etwas für ihn ab. ner paläolithischen Grabstätte in Oberkas- Ist der Hund also kaum mehr als ein sel geborgen. Doch gestützt auf neue gene- brillanter Sozialschmarotzer? Aus biologi- tische Studien, zweifelt eine wachsende scher Sicht jedenfalls hat das Tier eine be- Schar von Biologen inzwischen an der spä- eindruckende Karriere hinter sich. Einigen ten Domestikation des Hundes. Ins Wanken hundert Millionen Hunden weltweit ste- brachte das Gedankenmodell eine Unter- hen heute nur noch geschätzte 130000 Wöl- suchung, die US-Forscher um den Zoologen fe gegenüber. Der Aufwand, den Menschen Robert Wayne von der University of Cali- für ihre struppigen Lieblinge betreiben, ist fornia in Los Angeles vorgelegt haben. zudem immens. Etwa 1,6 Milliarden Mark Wayne und sein Team verglichen das pro Jahr geben die Deutschen allein für Erbgut von Wölfen, Schakalen, Kojoten die Ernährung von Bonzo und Hasso aus. und Hunden verschiedenster Rassen mit- Hunde bestimmen, wann Herrchen zu einander. Eindeutig konnten sie nachwei- Bett geht und wann der neue Tag beginnt. sen, dass tatsächlich alle Hunde vom Wolf Sie beeinflussen, wohin es in den Ferien abstammen. Noch überraschender aber geht, wer zur Cocktailparty eingeladen war ein anderes Ergebnis der Erbgut-Stu- wird und welche Möbel in der Wohnung die: Schon vor mehr als 100000 Jahren hat stehen. Kurzum: Der Mensch ist dem Hund demnach das Verhältnis zwischen Wolf und gründlich auf den Leim gegangen. „Kein

KUPKA / MAURITIUS Mensch begonnen. Tier hat es je geschafft, sich so perfekt des Dem neuen Szenario zu Folge hat Menschen zu bedienen wie der Hund“, der Mensch den Wolf aufgegabelt, glaubt Gregory Acland. als er von Afrika in den nahen Kann die gemeinsame Evolution von Osten wanderte. „Damals hat sich Hund und Mensch also rundum als Genie- der Mensch sehr verändert“, sagt streich der Kläffer gedeutet werden? Wayne. „Er bekam ein größeres Ge- Nicht ganz. Denn der schwanzwedelnde hirn und musste mit einer neuen Profiteur hat an Herrchens Seite oft wenig Umgebung klar kommen. Vielleicht zu lachen. Ob Schäferhunde mit Hüftge- ist dies der Zeitpunkt, als der Wolf lenkproblemen, epileptische Pudel, herz- zum Hund wurde.“ kranke Boxer oder Scottish Terrier mit Äußerlich habe sich der Vierbei- Hang zu Muskelkrämpfen – über 360 erb- ner zunächst kaum gewandelt, ver- lich bedingte Krankheiten sind heute beim mutet Wayne. So sei es auch zu er- Hund bekannt. klären, dass Archäologen keine Schuld ist der Hang der Züchter zur rei- Hundeknochen aus dieser Zeit fin- nen Rasse. Nur konsequentes Ausmendeln den. Erst als der Mensch sesshaft über Generationen konnte den Kraftprotz wurde und neue Anforderungen an Wolf in so etwas wie einen handtaschen- seinen Allzweckkameraden stellte, großen Chinesischen Schopfhund oder so der Forscher, wurde die Gestalt eine bulimische Windhunddame verwan- des Hundes auf züchterischem deln. Die äußere Gestalt der zottigen Le- Wege gezielt verändert. bensabschnittspartner wird dabei nur von Andere Experten drehen Waynes wenigen Genen gesteuert, die jedoch große Ergebnisse inzwischen noch weiter. Wirkung entfalten.

A. FREEBERG Sie glauben nicht nur an die frühe Während Hundewelpen verschiedener Psychiater Mignot, Dobermann: Jäher Schlafanfall Domestikation des Hundes. Sie Rassen noch alle sehr ähnlich aussehen, zweifeln sogar an der Saga vom plätten sich in der Entwicklung bald darauf Rampenlicht: Wie wurde der treue Ge- Menschen, der den Wolf zähmte. Nicht der die Schnauzen oder strecken sich die Beine. fährte zu dem, was er heute ist? Warum be- Mensch kam auf den Hund, so die neue Die Vielfalt ist berauschend: In wenigen nimmt sich Kollege Kläff so merkwürdig These: Der Hund war es, der auf den Men- hundert Jahren ist es den Züchtern gelun- vertraut? Und schließlich: Wie hat die ge- schen kam. gen, die meisten der heute über 400 Hunde- meinsame Geschichte von Mensch und „Der Hund wurde domestiziert, als der rassen zu formen, deren bizarrste Vertreter Hund wirklich angefangen? Mensch noch gar kein richtiger Mensch mit dem Wolf kaum mehr gemein haben als Bislang gingen die Forscher davon aus, war“, vermutet Gregory Acland, Tierarzt den Hang zum notorischen Wasserlassen. dass Hund und Mensch vor etwa 14000 an der Cornell University in Ithaca. „Was Im selben Maße wie sich Elitemerkmale der

der spiegel 13/2000 285 Wissenschaft „Wir sind eine große Fliege“ Die Analyse des Fruchtfliegen-Erbguts hat Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Insekt aufgedeckt – eine Chance für die Medizin?

ie Fruchtfliegen des Biologen gen-, Darm- und Brustkrebs spielen Charles Zuker von der Univer- soll. Diabetes und Schilddrüsenproble- Dsity of California in San Diego me des Menschen sollen gleichfalls von erfüllen alle Merkmale totaler Versa- Genen mit verursacht werden, die auch ger: Sie sind taub, torkeln unkontrol- im Fliegenerbgut vorkommen. liert durch die Gegend und fallen stän- Mit Fruchtfliegen-Hilfe hoffen die dig auf die Mundwerkzeuge. Forscher nun darauf, die Funktion die- Berühmt sind die wirren Fliegenmu- ser Gene besser zu verstehen und mög-

tanten trotzdem. Die Insekten tragen liche Therapien zu entwickeln – bereits / BAVARIA VCL ein Gen, das wahrscheinlich auch beim mit ersten Erfolgen: Wissenschaftler Hund mit Gefährtin Menschen wirksam ist. Damit sind sie der Harvard Medical School in Boston Schwanzwedelnder Profiteur eines der ersten Beispiele dafür, wie schleusten jüngst ein mit der Parkin- die Ende vergangener Woche eupho- son-Krankheit in Verbindung gebrach- Hunde ausprägen, schwindet jedoch auch risch gefeierte Entschlüsselung des Erb- tes menschliches Gen in das Erbgut ei- die Vielfalt im Genom. Extrem gezüchte- guts die medizinische Forschung revo- ner Fruchtfliege ein. Tatsächlich hatten te Rassetiere sind genetisch fast identisch. lutionieren könnte. die Tiere anschließend Gleichge- Die Folge: Erbkrankheiten werden leichter Durch vergleichende Computerana- wichtsstörungen und zeigten auch an- an die Nachkommen weitergegeben. lyse war es einem internationalen For- dere Symptome der Nervenkrankheit. Für die Wissenschaftler des „Dog Ge- scherteam in nur 11 Tagen gelungen, „Die Fliege ist ein exzellentes Modell nome“-Projekts stellt die Hochzüchtung fast die komplette Genkarte der Frucht- für Parkinson“, erläutert der Biologe der vierbeinigen Klientel allerdings auch fliege „Drosophila melanogaster“ zu- Mel Feany. „Auf der Ebene einzelner eine Chance dar. Denn zwar ist das Erbgut sammenzusetzen. 13601 Gene des Tie- Nervenzellen sind sich Insekt und der Tiere innerhalb der jeweiligen Rassen res sind entschlüsselt, 180 Millionen Ba- Mensch erstaunlich ähnlich.“ verarmt. Es unterscheidet sich jedoch auch senpaare, die Grundbausteine des Erb- Auch bei den tollpatschigen Insekten in charakteristischer Weise von den DNS- gutes, sequenziert. an der University of California, die ge- Strängen anderer Hunderassen. Durch die- Die Studie, veröffentlicht im Wis- legentlich sogar an ihrem eigenen Essen se auf die Zucht zurückzuführende klare senschaftsmagazin „Science“, wird als kleben bleiben, glauben die Forscher Abgrenzung ist es in vielen Fällen einfa- Meilenstein der medizinischen For- an Parallelen zwischen Fliege und cher, die für Erbkrankheiten verantwortli- schung gefeiert. Zum einen gilt sie als Mensch. Biologe Zuker will neue The- chen Gene dingfest zu machen. erfolgreicher Testlauf für die Ent- rapien für Gehörlose entwickeln: Die Ein Collie lässt sich nicht nur äußerlich schlüsselung des menschli- leicht von einem Beagle unterscheiden. chen Genoms. Andererseits Auch das Erbgut der Tiere zeigt deutliche glauben die Wissenschaftler, Unterschiede und kann den jeweiligen Ras- dass sich das Mini-Insekt, seit sen sogar zugeordnet werden. Zum Lie- jeher Haustier der Gentech- besspiel animiert, produzieren ein Collie- niker, nun noch intensiver Rüde und ein Beagle-Weibchen also Wel- zum Wohle des Menschen pen, deren Erbgut aus einem Flickwerk nutzen lässt. von unterscheidbaren Beagle- und Collie- „Die Fruchtfliege wird die Genabschnitten zusammengesetzt ist. Grundlagen zukünftiger me- Wenn Papa-Collie etwa unter erblich be- dizinischer Forschung lie- dingter Netzhautdegeneration leidet, wird fern“, schwärmt Matthew dieser Defekt zwangsläufig an einen Teil Freeman vom britischen Me- seiner Kinder und Enkel weitergegeben. dical Research Council in Durchforsten die Wissenschaftler nun das Cambridge. Eines der über- Genom des Nachwuchses nach Collie-Erb-

raschendsten Ergebnisse des FOCUSEOS / AGENTUR gutschnipseln und finden sie bei allen kran- Forschungsmarathons: 60 Fruchtfliege: Symptome wie bei Nervenkranken ken Tieren an der selben Stelle, ist es wahr- Prozent der Gene des Insekts scheinlich, dass ganz in der Nähe das für haben ein Pendant im menschlichen Fruchtfliegen sind taub und orientie- die Krankheit verantwortliche Gen sitzt. Erbgut. Und: Von 289 Genen, die Me- rungslos, weil bei ihnen ein Gen ver- Mit Hilfe solcher Vergleichstechniken ge- diziner für Krankheiten beim Men- ändert wurde, das bestimmte Sinnes- lang es etwa dem Psychiater Emmanuel schen verantwortlich machen, gibt es zellen kontrolliert. Mignot aus Stanford, das für die Schlafan- 177 entsprechende Varianten bei der Dass Hören und Balancegefühl beim fälle verantwortliche Gen bei seinen Dober- Fruchtfliege. Menschen ähnliche genetische Grund- männern zu finden. Andere Forscher ver- Fliege und Mensch haben beispiels- lagen haben wie bei der Fruchtfliege, suchen derzeit, die genetischen Ursachen weise ein Gen mit dem Kürzel p53 ge- hält Zuker für mehr als wahrscheinlich: von Herzkrankheiten, Epilepsie oder Krebs mein, das beim Menschen eine Schlüs- „Im Prinzip sind wir doch nichts ande- zu ergründen. selrolle bei der Entwicklung von Lun- res als eine große Fliege.“ Bei einigen Defekten ist sogar schon eine Therapie in der Erprobungsphase. Wis- senschaftler der University of Pennsylvania

286 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft haben kürzlich erste Erfolge bei der Be- Mensch identisch sind. Insgesamt über 20 handlung der erblich bedingten Netzhaut- Hunde-Erbkrankheiten glauben die Wis- degeneration vermeldet, bei der die Seh- senschaftler schon heute bis zu den verant- fähigkeit bis zur Erblindung zurückgeht, wortlichen Gendefekten zurückverfolgt zu weil ein bestimmtes Enzym nicht funktio- haben – Krankheiten, die allesamt auch niert. Um den Defekt zu heilen, spritzte die beim Menschen auftreten können. Biologin Jean Bennett funktionsfähige Ko- Selbst die Grundlagen des Verhaltens pien des für die Enzymherstellung zustän- hoffen die Forscher per Genanalyse zu ent- digen Gens hinter die Netzhaut eines kran- schlüsseln. Weil Wesenszüge wie Bewa- ken Hundes. Tatsächlich konnte das Tier chen oder Apportieren bei den jeweiligen für einige Wochen wieder sehen. Hunderassen verschieden stark ausgeprägt Von ihren Erfolgen ermutigt, geben sich sind, glauben Hundeexperten, dass sie im die Wissenschaftler zunehmend euphorisch. Erbgut verankert sind. „Ich bin absolut si- Denn nicht nur den Hunden wird die Kar- cher, dass zum Beispiel das Hüten einer tierung ihres Genoms zugute kommen. Schafherde eine genetische Grundlage Auch die Herrchen sollen profitieren. „Min- hat“, sagt etwa Karen Overall, Tierärztin destens die Hälfte der bekannten Erb- an der University of Pennsylvania. krankheiten von Hunden ähneln bestimm- Overall beschäftigt sich seit Jahren mit ten menschlichen Defekten“, sagt Elaine auffälligen Verhaltensstörungen bei Hun- Ostrander, Genetikerin am Fred Hutchinson den, die vermutlich oft auf Gendefekte Cancer Research Center in Seattle. „Die zurückzuführen sind. Schüchterne Hus- verantwortlichen Gene beim Menschen zu kies, neurotische Cocker Spaniel und finden ist jedoch weitaus schwieriger.“ zwanghafte Bull Terrier, die stundenlang Ostrander ist eine der Pionierinnen der ihrem eigenen Schwanz nachjagen, zählen Forschung am Hundegenom. Schon 1997 zu ihrem Patientenkreis. hat sie zusammen mit Gregory Acland und Parallelen zwischen Hund und Herrchen seinem Kollegen Gustavo Aguirre eine ers- sind für Overall auch hier offensichtlich. te grobe Karte des Hunde-Erbguts veröf- „Die sozialen Systeme von Hund und fentlicht. Seither häufen sich die Erfolgs- Mensch sind sich sehr ähnlich, weil wir uns meldungen. Die Forscher schätzen, dass 90 sehr lange zusammen entwickelt haben“, bis 95 Prozent des Genoms von Hund und sagt sie. „Das gilt auch für Verhaltens- störungen.“ Schon behan- delt die Forscherin ängstli- Alte Freunde che Vierbeiner mit Psycho- Entwicklung von pharmaka, die auch beim Mensch und Hund Menschen wirken. Gleich- zeitig erhofft sie sich von der Erbgutanalyse der kran- vor 120 000 bis ken Hunde wiederum Hilfe 90 000 Jahren im Kampf gegen menschli- Früheste Fossilien- che Psycho-Leiden. „Hun- funde des modernen de vermehren sich im Ver- Homo sapiens vor 135 000 bis 60 000 Jahren gleich zu Menschen sehr Genetischen Studien zufolge wird schnell“, sagt Overall. „Wir vor 90 000 Jahren der Wolf erstmalig domestiziert Der Homo sapiens können fünf Generationen wandert erstmals dieser Tiere untersuchen von Afrika nach und auf diese Weise die ge- Vorderasien netischen Ursachen von Verhalten viel schneller er- forschen.“ Bis die erblichen Grund- lagen ganzer Charakterzü- ge entschlüsselt sind, wer- den nach Ansicht der Wis- senschaftlerin allerdings noch Jahre vergehen. Am vor 40 000 Jahren Interesse der Hunde-Fans Der Homo sapiens vor 25 000 Jahren für derartige Erkenntnisse zieht nach Europa Fährten aus der Chauvet-Höhle zweifelt sie jedoch keine zeigen den Abdruck einer Sekunde. Hundepfote vor 20 000 bis „Hundeliebhaber wollen 12 000 Jahren vor 14 000 Jahren immer, dass ihre Tiere die Höhepunkt der Älteste eindeutig identifizierbare besseren Menschen sind“, Knochenfunde von Hunden Höhlenmalerei sagt Overall. „Informatio- von 500 v. Chr. bis 500 n. Chr. nen über ein Gen für Tem- vor 10 000 Jahren Entwicklung der wichtigsten Zucht- Erster Ackerbau linien: Jagd-, Wach-, Hütehund perament oder Treue wür- den uns die Züchter aus ab dem 13. Jahrhundert Moderne Hunderassen entstehen den Händen reißen.“ Philip Bethge

der spiegel 13/2000 289 Technik

AUTOMOBILE Sensibler Riese Mit seinem intelligenten Lastwagen Actros hat Mercedes eine beispiellose Pannenserie produziert. Nun versucht sich auch Erzrivale MAN mit einer Hightech-Zugmaschine.

er Name ist sperrig wie eine Son- geboten werden. Als ersten vollelektroni- derfracht. „Trucknology Generati- sierten Laster stellte der Stuttgarter Markt- Don“ nennt der Münchner Lkw-Her- führer im Herbst 1996 sein Schwerlast-Mo- steller MAN seine neue Modellreihe. dell Actros vor – eine radikale Abkehr vom Fernfahrer und Spediteure sollen die knorrigen Nutzfahrzeug der alten Schule. schwere Zugmaschine schlicht unter dem Der archaische Schaltknüppel wich einer Kürzel „TG“ schätzen lernen, und zwar als an Nintendo-Armaturen erinnernden Tipp- das beste Fahrzeug seiner Art. „Wir streben Automatik namens Telligent. Als erster die technologische Führerschaft in allen Schwerlastwagen bekam der Actros Schei- wesentlichen Fahrzeugkriterien an“, sagt ben- statt Trommelbremsen, ein elektroni- Vorstandschef Klaus Schubert. sches Antiblockiersystem und neuerdings Mit über 1,1 Milliarden Mark Entwick- sogar einen „Spurassistenten“, der die lungskosten ist der bayerische Brummi das Fahrbahn mit der Kamera beobachtet und teuerste Projekt, das MAN je in Angriff Alarm schlägt, wenn ein übermüdeter genommen hat. Besonderen Aufwand trieb Trucker aus der Spur fährt. Mercedes-Zugmaschine Actros in der Werkstatt: der Hersteller bei der Elektronik, die „auf breiter Front“ (Schubert) in das TG-Modell Einzug hielt. Der moderne Lastenriese hat sich zum rollenden Großrechner gewandelt, ein hochsensibles Datenzentrum steuert alle wichtigen Bereiche der Bordtechnik. Der Computer merkt, wie schwer die Fuhre ist, und stimmt darauf die Luftfederung und die Schaltpunkte des automatisierten Ge- triebes ab. Zudem erkennt er, wie weit die Bremsbeläge der Zugmaschine abgefahren sind und setzt die weniger verschlissenen Bremsen stärker ein. Kein Pkw, konstatiert Schubert stolz, verfüge über solche Finessen wie der in- telligente Laster. Vor allem im Bereich der Getriebeautomatisierung und der Diesel- technik habe das Nutzfahrzeug einen „deutlichen Vorsprung“. Weniger deutlich sagt Schubert, dass fast alle Neuerungen, die MAN nun einführt, vom Erzrivalen Mercedes schon längst an- Neuer Lastwagen TG von MAN: Röchelnd nach Monaco hauslagerungen ein – und das in so großer im Markt noch nachwirkt“, wenngleich die Zahl, dass die Werkstätten oft Monate auf meisten Probleme in der Zwischenzeit ab- Ersatzteile warten mussten. gearbeitet seien: „Die neuen Autos haben Die Wagen konnten zwar weiterfahren, diese Mängel nicht mehr.“ jedoch unter fürchterlichem Gepolter. Im Rückblick hatte der Qualitätsverfall „Das war wie Fahren ohne Stoßdämpfer“, vor allem eine Ursache: Mercedes hatte, erinnert sich der Fuhrunternehmer Frank was im Nutzfahrzeugbau völlig unüblich Wiards im ostfriesischen Norden. Einer sei- ist, auf einen Schlag ein komplett neues ner Fahrer war ein volles Jahr mit klap- Fahrzeug vorgestellt. Gewöhnlich werden perndem Führerhaus unterwegs. verbesserte Komponenten schon in den Bei anderen Spediteuren häuften sich auslaufenden Serien getestet. So installiert kapitale Motorschäden. Die Gehäusewän- MAN etwa die Motoren und Getriebe der de der ersten Serien waren zu dünn ge- neuen TG-Modelle bereits seit eineinhalb gossen und rissen ein, manchmal schon Jahren in den Vorgängerfahrzeugen. Mit nach 100000 Kilometern. Im Transportge- dieser schrittweisen Einführung wichtiger werbe gelten Laufleistungen von einer Mil- Bauteile behalten die Entwicklungsabtei- lion Kilometern jedoch als Mindesterwar- lungen, die erheblich kleiner sind als bei tung. Pkw-Herstellern, besser die Kontrolle. Die Verkaufszahlen des Actros blieben Zudem leidet die Qualitätssicherung al- entsprechend weit hinter den Erwartun- ler Lastwagenanbieter unter einem rapide gen zurück. 50000 Stück, so die Planung wachsenden Kostendruck. „Astronomische des damaligen Mercedes-Chefs Helmut Rabattsätze“, beklagt MAN-Vertriebschef Werner, sollten jährlich in Westeuropa ab- Günther Dietz, plagen den Handel zuneh- gesetzt werden und der Marktanteil somit mend. Vor allem die Großkunden, die zu- von 20 auf 30 Prozent wachsen. Tatsächlich weilen pro Jahr mehrere hundert Fahr-

P. FRISCHMUTH / ARGUS FRISCHMUTH P. zeuge abnehmen, feilschen mit den Her- „Wie Fahren ohne Stoßdämpfer“ Feindliche Frachter stellern inzwischen an der Grenze der Pro- Marktanteile von Lkw-Herstellern fitabilität. Doch mit der Einführung des Actros ging in Westeuropa 1998; Angaben in Prozent Noch vor wenigen Jahren kostete eine ein Qualitätsdebakel einher, wie es die Lkw- gut ausgestattete Zugmaschine der 400- Kundschaft der Schwaben nie zuvor erlebt DaimlerChrysler Volvo PS-Klasse etwa 180000 Mark. Inzwischen hatte. Schier endlose Pannenserien haben sank der Preis je nach Verhandlungsge- den Ruf der sonst für Solidität bekannten schick und Abnahmevolumen auf 130000 Sonstige 20,5 15,2 Scania Marke untergraben und kosteten Mercedes 3,2 bis 145 000 Mark. Entsprechend geben allein im vergangenen Jahr 60 Millionen 15,1 die Hersteller den Druck an die Zulieferer 10,3 Mark für Kulanzleistungen. DAF weiter. Kaum waren die ersten Actros-Zugma- 11,0 11,8 12,9 Dass unter diesen Umständen die Qua- schinen vor die Auflieger gespannt, spiel- IvecoIveco MAN litätsstandards bröckeln, erfuhr MAN kürz- te die aufwendige Supertechnik verrückt. Renault lich auch an den Testfahrzeugen der neu- Anfangs behinderten Kleinigkeiten den en TG-Serie, die Mitte März in Monaco Speditionsalltag. Zentralverriegelungen den internationalen Lkw-Testern vorge- schlossen sich unaufgefordert auf Rasthö- stellt wurden. Auf dem Weg zur Veran- fen und sperrten die Fahrer aus. Fahrzeuge über staltung lösten sich die nachlässig produ- Zum Hohn des Mercedes-Wartungs- 15 Tonnen Gesamtgewicht zierten Schlauchverbindungen für die La- plans, der nur alle 100000 Kilometer eine deluft der Motoren. Inspektion vorsieht, erschienen manche hielt er gerade mal das Niveau von früher: Doch ohne Turbo-Druck verliert ein Actros-Modelle wöchentlich beim Händ- 40600 Actros verkaufte Mercedes im ver- Dieselmotor über die Hälfte seiner Leis- ler – mit zunehmend schwereren Gebre- gangenen Jahr. tung. Asthmatisch röchelnd kroch die chen. Der Wagen war wenige Monate auf Die Pannenserie, räumt Mercedes-Lkw- „Trucknology Generation“ auf das Fürs- dem Markt, da brachen die ersten Führer- Chef Klaus Maier ein, „ist ein Thema, das tentum zu. Christian Wüst nem Buchüber den„SündenfallderWis- Marco Finetti undArmin Himmelrath inei- tutionen gebreitet, klagen dieAutoren keit“ habesichüberdieForschungsinsti- die Daten erheben. Doktoranden, dieals„Pipettierknechte“ C-4-Professor, unten rudern zahlreiche Sklavengaleeren: AmSteuerrad steht der Moderne Großlabors funktionieren wie klausen längst zuGlaspalästen mutiert. faustischem Erkenntnisdrang. loser DienerdesFortschritts, beseeltvon Grundlagenforscher vor: einkompromiss- meyerkolben –sostellt sichderBürger den skop, dortdenbrodelnden Erlen- Pipette träufelnd, hierdasMikro- ge Weißkittel, unermüdlich mitder Zunft ihr Renommee. Alsgestren- mitNahrungsentzug.dafür Seine Glaubensbrüderstraften ihn chen Experiments später genannt. Urvater desnaturwissenschaftli- dernswerter Lehrer“) wurde der maß. „Doctor mirabilis“ („bewun- und neugierig denHimmelver- 292 R Genforschung imLabor: „Eine verhängnisvolle Unübersichtlich- In Wirklichkeit sinddiealten Denker- Solchen Heroen verdankt die Im deutschenWissenschaftsbetrieb machensichMogler und Bacon zum Astrolab griff der britischeMönchRoger und 750Jahre istesher, dass Forschungsgemeinschaft sinddenFälschern aufderSpur. Methode Münchhausen Getürkte Experimente, manipulierte Labordaten: Schönschreiber breit. Fahnder derDeutschen Ausstoß von 20000 PublikationenAusstoß am vonTag 20000 Psychiater Berger, MedizinerHerrmann: AFFÄREN Raabe-Verlag, Stuttgart; 264Seiten; 34 Mark. * Marco Finetti undArmin Himmelrath: „Der Sündenfall“. dosierte Chemotherapie beiBrustkrebs ba- Pranger, auf dessenTestreihen diehoch nesburger Onkologe Werner Bezwoda am Erlügt. der Methode Münchhausen: so scheintes,arbeitet immerhäufiger nach ger daher. Dermoderne Arbeiter derStirn, seine Wahrheiten kommen immer wolki- amTag. kationen bei20000 Weltweit liegtderAusstoß anFachpubli- 000GrüblerumErkenntnis. ringen 500 senschaft“*. AlleinindeutschenLabors Erst imletzten Monat der Johan- stand Nicht nurderBetrieb istaufgebläht, auch der spiegel

U. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL 13/2000 Arbeiter derStirn

G. BEER / VISUM eine Gasflascheauf. drehte inderGartenlaube ihrer Eltern Einejunge Floristin Bahngleis. Spat aufs Jähriger legte sichzwei Wochen nach ten sichnachderTherapie um.Ein32- Mindestens drei seinerProbanden brach- dieSeele.Washeller für ernichtmitteilte: chef seineRosskur alsschlagartigen Auf- den einnicken. eine Woche langnielänger alssiebenStun- ternacht wiederauf.Danachdürfen sie Tag um17 UhrinsBett undstehen umMit- Nacht gehen diePatienten amfolgenden Stunden beginnt: Nach einerdurchwachten einem „initialen Schlafentzug“ von 33 py“) nenntBerger seineMethode, diemit mit permanenter Müdigkeit aufmuntern. orientierten Psychiatrie. ErwillDepressive diziner giltalsVorreiter derbiologistisch Berger,somatik, Mathias 52.Deralerte Me- burger Psychiatrie undPsycho- Klinikfür zialtruppe unter anderem derChefFrei- von Labordaten“. lierte Abbildungen bishinzurFälschung von kleinenPlagiatsfällenübermanipu- die DFG-Fahnderin Cora Laforet, „reichen Vorwürfen nach.DieAnschuldigungen, so schaft (DFG) geht derzeit einerReihe von der Professor gefeuert. die Kur nichts.Am10. taugt Märzwurde aus: Bezwoda hatLabordaten gefälscht – Tortur durchgemacht. Nun stellt sichher- Frauensiert. Abertausende habendiese „Welche Patienten in dieStudieeinbezo- brachte. durchlief undsich16 Tage danachum- Person, dieeinenvollen Spat-Zyklus pondern“ sichmindestens befindet eine Kur abbrachen. Unter diesen„Non-Res- von „Drop-out-Fällen“, Patienten, die wähnt. Ausgesondert wurden eineReihe neuen Publikationwerden abernur57 er- 79Personensprünglich umfasste. Inder zeigt, dassBergers Probandengruppe ur- Ungereimheiten auf. Bergers Schlaflabor–undwiedertauchen Neuroscience“ erneut eineEloge aus In drei Fachblättern rühmte derKlinik- „Spat“ („SleepPhaseAdvance Thera- wirdÜberprüft von einerDFG-Spe- Auch dieDeutscheForschungsgemein- Berger bestreitet Vorwürfe: sämtliche Eine Liste, diedemSPIEGEL vorliegt,

T. KLINK chives for Psychiatry andClinical erschien inden„European Ar- Fall weiter zugespitzt: Ende1999 worden. treten publiziert unddahernicht allesamt indieserGruppeaufge- delt. ZufälligseiendieSuizide Anwendungsbeobachtung“ behan- tienten ineiner„freien klinischen dienkollektiv habeerweitere Pa- vorgesehenendie Publikation Stu- teidigung über. Neben demfür ging derPsychiater zurVornever- bar wurden (SPIEGEL 45/1998), Doch inzwischenhatsichder Als dietragischen Vorfälle ruch- Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft gen werden sollten, stand von vornherein nachvollziehbare Ungereimtheiten“, wie eine „Nachlässigkeit“ unterlaufen: „Der fest.“ aus DFG-Kreisen verlautet. Fehler wird demnächst als Erratum publi- Nun muss die DFG den Streit schlichten. Beanstandet wird eine Arbeit aus dem ziert.“ Drei Professoren haben mittlerweile gegen „European Journal of Immunology“, die Ursache für die Malaisen an der For- Bergers Arbeit protestiert. Ein derart locke- der Onkologe im Jahr 1996 veröffentlichte. scherfront, so vermuten Finetti und Him- rer Umgang mit dem Patientenpool, heißt Er rühmt sich dort, bestimmte Blutzellen melrath, sei „der irrwitzige Wettlauf um es in einem internen Beschwerdebrief, sei von Krebspatienten zu Gift attackierenden Forschungsgelder“. Wer heute den La- eine „flagrante Verletzung wissenschaftli- Killerzellen umgepolt zu haben. Ein- bor-Olymp besteigen will, muss wie am cher Grundsätze“. drucksvolle Diagramme unterstreichen den Fließband publizieren. Je länger der Ehrgeizige Experimentatoren, die aus- Erfolg – zumindest auf dem Papier. Wie „Citation Index“ eines Professors, desto sagekräftige Resultate vorlegen wollen, Kanz die Zellen scharf machte und im Rea- üppiger fließt die finanzielle Unterstüt- greifen gern zu einem Trick: Erst schleusen genzglas vermehrte, ist den DFG-Prüfern zung. sie hunderte von Probanden durch ihre allerdings schleierhaft. Fast im Wochenrhythmus werfen ener- Testlabors. Dann wählen sie gezielt die pas- „Von bewusster Manipulation kann kei- gisch geführte Krebszentren Fachberichte senden Fälle aus. Auf diese Weise lässt sich ne Rede sein“, setzte sich Kanz letzten aus. Die Zunft leide an „Graphoröe“, an noch das schlappste Verfahren zur Wun- Donnerstag auf Anfrage zur Wehr. Ihm sei wissenschaftlichem Schreibdurchfall, spot- derkur hochjubeln. Besonders dreist ging dabei der Kujau der Onkologen, Friedhelm Herrmann, vor. Noch Anfang 1997 galt der Tumorspezialist als „Shooting-Star in der deutschen Krebs- forschung“ („Focus“). 389 Fachberichte schrieb sich der Mann zusammen – min- destens 50 davon, so stellt sich nun heraus, waren manipuliert. Mit „eisenbeschlagenen Schuhen“ sei der Tumorchef morgens in „die Abteilung marschiert“, schreibt die „Stuttgarter Zei- tung“. Seine Laboranten habe er als „Bau- erntölpel“ tituliert. Die Lebensgefährtin Marion Brach garnierte den Skandal mit in- timen Details: „Ein Netz aus Sex, Gewalt und Intrigen“ habe sie mit ihrem Doktor- vater verbunden. Das „Beeindrucken von Kollegen“ sei Herrmanns „Lebenselixier“ gewesen. Die Schockwellen, die der Betrugs- GAU auslöste, sind bis heute nicht verebbt. Eine an der Universität Würzburg statio- nierte Task-Force unter der Leitung des Molekularbiologen Ulf Rapp versucht derzeit, den Fälschersumpf trockenzule- gen. Durch drei Universitäten ist Herrmann getingelt: Der Mediziner mauschelte in Freiburg, Berlin und Ulm – was offen- sichtlich ansteckend wirkte. Im Schlepp- netz der Fahnder zappeln jetzt auch an- dere Fische: • Mindestens zwei Habilitationen, die im Dunstkreis von Herrmann an der Uni Freiburg entstanden, wurden von exter- nen Gutachtern als nicht legitim einge- stuft. • Nahezu ein Dutzend von Herrmanns Mitarbeitern wichen, um dem Fahn- dungsdruck zu entkommen, in For- schungslabors der Industrie aus. • Roland Mertelsmann, Pionier der deut- schen Gentherapie, hat wichtige DFG- Forschungsgelder eingebüßt – er wird in über 25 Herrmann-Arbeiten als Mitautor erwähnt. Auch der C-4-Professor Lothar Kanz ist jetzt in den Strudel der Affäre geraten. Der Leiter des interdisziplinären Tumorzen- trums in Tübingen war nach einem Insi- dertipp überprüft worden: Nach dem Zu- fallsprinzip griff die Task-Force fünf Kanz- Publikationen heraus – und stieß auf „nicht

294 der spiegel 13/2000 tet der Präsident der Max-Planck-Gesell- öffentlichte Arbeit schlug wie eine Bom- erspart. Flugs meldete eine Karlsruher Fir- schaft Hubert Markl. be ein. ma ein Patent an. Doch der Euphorie folg- Mittlerweile beschäftigt das Problem Seit dem Contergan-Skandal in den te bald das blanke Entsetzen. auch die Justiz. Ein besonders vertrackter sechziger Jahren wissen die Forscher, dass Zwei Jahre lang versuchte eine von der Fall ist beim Verwaltungsgericht Köln an- die Rotation von Molekülen auch deren Uni Bonn eingesetzte Kommission, die Ex- hängig. Der einst als „nobelpreisverdäch- Wirkung verändert: Rechtsdrehende Tha- perimente nachzustellen. War Zadel selbst tig“ gehandelte Chemiker Guido Zadel lidomid-Moleküle sind effektive Schlaf- im Labor anwesend, klappte alles prima. klagt gegen die Universität Bonn. Die mittel, linksdrehende dagegen erzeugen War er nicht da, entpuppte sich die Mag- Hochschule will ihm den Doktortitel ab- schwerste Missbildungen der Embryonen. net-Apparatur als Windei. Einschätzung erkennen lassen. Seit dem Contergan-Desaster müssen der Prüfer: Die Resultate seien durch „be- Das kam so: 1994 schien der Jungfor- deshalb bei allen neuen Medikamenten sonders geschickt getarnte Manipulatio- scher einem wissenschaftlichen Coup auf die beiden Varianten gesondert getestet nen“ zu Stande gekommen. der Spur. Mit Hilfe eines Magnetfelds, werden. Zadel dagegen beteuert seine Unschuld. gab er vor, könne er die Drehrichtung Zadels Magnetfeld hätte diese aufwen- Sein Magnetkasten beruhe auf einem tech- von Molekülen beliebig verändern. Seine dige Prüfung überflüssig gemacht und der nischen Verfahren, das nicht leicht wie- im Fachblatt „Angewandte Chemie“ ver- Pharmaindustrie Kosten in Milliardenhöhe derholbar sei. Nun fordert der Bedrängte seinerseits Genugtuung. Er hat das Land Nordrhein-Westfalen, als Körperschaft der Uni Bonn, auf über eine halbe Million Mark Schadensersatz verklagt. Die Gerichtsschlacht macht deutlich, wie schwer es ist, die Gesetze der Natur mit de- nen der Justiz in Einklang zu bringen. Wo hört die Fahrlässigkeit auf, wo fängt der bewusste Betrug an? Das Problem beschäftig mittlerweile auch die obersten Verfassungsrichter. Die Juristen aus Karlsruhe müssen den Fall Wolfgang Lohmann beurteilen. Unter die- sem Namen schwelt seit Jahren ein Ver- fahren, das sich zu einem Grundsatzstreit über die im Gesetzbuch garantierte „Frei- heit der Forschung“ ausgewachsen hat. Der Gießener Biophysiker platzierte im Fachblatt „Naturwissenschaften“ eine Sen- sationsmeldung: Er habe einen Test ent- wickelt, um bösartige Melanome von gut- artigen Muttermalen zu unterscheiden. Von einer einfachen Hochdrucklampe be- strahlt, behauptete Lohmann, würden Me- lanome auf Grund ihrer charakteristischen Ränderung auffallen. Licht an, Augen auf – die Früherkennung von schwarzem Haut- krebs schien zum Kinderspiel zu werden. Kontrollversuche anderer Hautkliniken scheiterten indes. Daraufhin ging die Hoch- schule den Autor an und durchstöberte sein Labor. „Lohmanns Krankenakten wa- ren komplett verschwunden“, erzählt der Bonner Universitätskanzler Michael Breit- bach. „Nur die Daten von einem einzigen Probanden mit Lidmelanom konnten wir noch aus seinem Computer fischen.“ Schon bei diesem Patienten hatte die Früherkennung mitnichten funktioniert. In diesem speziellen Fall war der Pro- fessor zu einem Widerruf bereit. Zu einer generellen Korrektur seiner Publikation ließ er sich jedoch nicht bewegen. Der uni- versitätsinternen Untersuchungskommis- sion, so sein Argument, stehe nicht das Recht zu, ihn zu zensieren. Nun müssen die Verfassungsrichter vom Ersten Senat den leidigen Fall entscheiden. Der Vorsitzende Richter Dieter Hömig hat die Materie bereits nach guter Juristen- art vorsortiert. „Die Akte liegt ganz unten im Stapel“, sagt er, „da geh ich so schnell nicht ran.“ Matthias Schulz

der spiegel 13/2000 295 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

KÖRPERKULT Freiwillig ins Folterstudio Sie lassen sich die Zunge spalten, Hautstreifen vom Leib ziehen oder Narben ins Fleisch brennen: Anhänger der „Body Modification“ eifern mit ihren Ritualen den Naturvölkern nach. Mediziner und Psychologen streiten darüber, ob die Selbstverstümmeler psychisch Kranke sind.

zu 150 Injektionsnadeln quer unter die Haut schieben. Ebenso erträgt sie stunden- lange Häutungen, bei denen fingerbreite Hautstreifen ohne Betäubung entfernt und hässliche Narbenwülste erzeugt werden. In der jugendlichen Subkultur der USA hat das Interesse an Body Modification in den vergangenen fünf Jahren stark zuge- nommen. Über „Conventions“ und „Netz- werke“ breitet sich der Trend derzeit „bis ins letzte Kaff“ aus, berichtet der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke, der den bislang vor allem in Amerika grassierenden Verstümmelungskult wissenschaftlich zu ergründen versucht. Mit Tätowierungen und Piercings haben die planvollen Selbstverletzungen nicht mehr viel gemein. In vielen Bodmod-Stu- dios hängt der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft, weil selbst ernannte Fol- terknechte die Körper ihrer Klienten mit rot

T. EVERKE T. glühenden Eisen traktieren („Branding“). Einbrennen von Körpermustern*: „Der Schmerz ist wie das High bei einem Läufer“ Extreme Gewebedehnungen („Stret- chings“) und Genitalpiercings zeichnen ie New Yorker Soziologin ent- mittlerweile zu einer bekannten Figur in Bodmod-Anhänger bis an ihr Lebensende. schloss sich zu einer radikalen Ver- der US-Szene der „Body Modification“- Gewebeschnitte („Cuttings“), bei denen Dänderung ihres Körpers. Gegen Anhänger („Bodmods“) geworden. Unter die Wunden häufig mit Mineralpulver oder Barzahlung fand sie im Multikulti-Viertel anderem lässt sie sich bei „Sessions“ mit Meersalz eingerieben und wiederholt nach- East Village einen niedergelassenen Chir- ihren Freunden an Bauch und Rücken bis geschnitten werden, um die Narbenbildung urgen, der ihr die Zunge mit dem zu verstärken, zaubern bleibende Laser-Skalpell vier bis fünf Zen- Versehrungen auf die Haut. „Es timeter tief spaltete. Der Eingriff scheint ein Bedürfnis nach bizar- musste im Abstand von mehreren ren Körperritualen zu geben“, er- Monaten zweimal wiederholt klärt der Kriminalbiologe, „das in werden, weil die Zunge von der unserer Gesellschaft nicht gestillt Basis her immer wieder zuwuchs. wird.“ Seit der dritten, unter Lo- Vieles wird auf Video festgehal- kalanästhesie vorgenommenen ten, weil die blutigen Akte nicht be- Schneide-Prozedur gehört die liebig wiederholbar sind. Anders als New Yorkerin zum exklusiven an der amerikanischen Ostküste Kreis der Amerikaner, die mit ge- finden die Selbstverstümmelungen spaltener Zunge sprechen. Da die in den Metropolen im Westen oft beiden Organhälften vom Gehirn als rituelle „Sessions“ und „Perfor- offenbar unabhängig voneinan- mances“ vor handverlesenem Pu- der gesteuert werden, kann die blikum statt. Soziologin die Zungenspitzen ho- Die Kontrolle über den Schmerz rizontal und vertikal gegeneinan- ist den Folter-Fans wichtiger als der verschieben und mit ihnen ein möglicher sexueller Reiz. sogar einfache Greifaufgaben be- „Mit Sadomasochismus“, erläutert wältigen – etwa die Zigarette Benecke, „haben die meisten in der halten. Szene nichts am Hut.“ Mit Verstümmelungen am ei- Europäische Betrachter reagie-

genen Körper ist die 29-Jährige STONE / TONY G. PILE ren auf die Verstümmelungsprakti-

* Oben: in einem New Yorker „Body Shop“; Indianerfrau mit Körperschmuck* unten: in Venezuela. Symbole für den sozialen Stand 298 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft ken geschockt. Über ein Jahr lang hat vergangene Kulturen beschränkt. Auch der noch immer praktizierten indianischen Benecke am Rechtsmedizinischen Institut Mitglieder schlagender Verbindungen sind O-Kee-Pa-Zeremonie, malträtieren, glau- der Stadt New York gearbeitet. In seiner stolz darauf, sich durch die Mensur pracht- ben sie, wieder an Urgefühle anknöpfen Freizeit interviewte er Anhänger des Bod- volle Narben zuzufügen. Bis heute steht zu können, die in den modernen west- mod-Kults. Als er das Ergebnis seiner Re- der Schmiss in bestimmten Kreisen für lichen Gesellschaften verloren gegangen cherchen kürzlich auf einer Tagung deut- Maskulinität, Unerschrockenheit und ge- seien. scher Rechtsmediziner in Frankfurt am hobenen sozialen Status. Unter Psychologen ist die Ursache des Main präsentierte, waren selbst abgebrüh- Früher waren viele Frauen ganz wild Tobens im eigenen Fleisch umstritten. te Obduktionsexperten über die gezeigten auf die Narbenträger: „Ein Renommier- Manche von ihnen, wie der Psychiater Ar- Bilder bestürzt. Schmiss zeigte“, so der US-Historiker Ke- mando Favazza von der University of Mis- Beim Kongress anwesende forensische vin McAleer, „dass sein Träger Mut und souri, Verfasser eines einschlägigen Stan- Psychiater murmelten angesichts der Ver- Ausbildung besitzt – und damit ein guter dardwerks über den Graubereich zwischen stümmelungen ratlos von „Borderline-Per- Bräutigam ist.“ Einige der Männerbünd- Körperkunst und pathologischer Selbst- sönlichkeiten“. Sind die Selbstverstümme- ler tauchen gelegentlich noch heute bei verstümmelung, attestieren dem Treiben ler also nur psychisch Kranke? plastischen Chirurgen auf, um sich ihre der Bodmod-Jünger sogar gelegentlichen Dann müssten Persönlichkeitsstörungen Narben kunstvoll nachbessern zu lassen. therapeutischen Nutzen. Der Psychiater bei Urvölkern die Regel sein. Denn die Ge- Auch das Nipple-Piercing ist ein alter berichtet von Frauen, die nach einer Ver- wohnheit, den menschlichen Körper als Brauch, den vermutlich schon die Offizie- gewaltigung das Piercing-Studio aufgesucht Mal-, Brand- und Schneidegrund zu be- re der römischen Legionen praktizierten. haben: „Indem sie sich körperlich zeichnen ließen“, so Favazza, „reklamierten sie ihre Körper für sich zurück. Die qualvolle Prozedur vermittelte ihnen ein Gefühl der Kontrolle.“ Die britische Psychologin Dorothy Rowe hingegen hält solche kühnen Erklärungsversuche für „krank ma- chenden Mist“. Ähnlich empfindet es die Kollegin Corinne Sweet: „Wenn Schmerz zu einem Vergnü- gen wird und wir nicht vor ihm weg- laufen“, urteilt die Expertin, „dann liegt das daran, dass wir ihm in un- serem früheren Leben ausgesetzt wa- ren und lernen mussten, ihn auszu- halten.“ Die meisten Mediziner warnen vor den Zeitgeist-Folterkünsten. US-Ex-

GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA perten für plastische Chirurgie sehen „Bodmod“-Anhängerin mit gespaltener Zunge, „Branding“: „Krank machender Mist“ nach Materialimplantationen unter die Haut immer häufiger gefährliche trachten, ist fast so alt wie der Mensch Ende des 19. Jahrhunderts tauchte die Infektionen, die zum Verlust ganzer Glied- selbst. Auf ägyptischen Mumien etwa ha- delikate Mode in der mitteleuropäischen maßen führen können. Auch durch den ben Archäologen Spuren von Tätowierun- Damenwelt auf. In vielen Dekolletés wog- künstlich hinausgezögerten Heilungspro- gen, Schmucknarben und Nabelpiercings te nicht nur der Busen, sondern auch das zess beim Cutting wächst die Gefahr, dass entdeckt. Die mittelamerikanischen Mayas zwischen den Brustwarzen baumelnde Erreger in den Körper eindringen und dort durchbohrten bei rituellen Feiern Penis Kettchen. für bleibende Schäden sorgen. „Das glei- oder Zunge. Die noch weichen Schädel- Nur spekulieren lässt sich, weshalb che“, warnt der US-Dermatologe Dave Ei- knochen ihrer Säuglinge und Kleinkinder solche Bodmod-Praktiken gegenwärtig lers von der Loyola University, „gilt für wurden dem herrschenden Schönheitsideal eine Renaissance erleben. Vielen Szene- Verbrennungen.“ entsprechend verformt. Anhängern, vermutet Benecke, fehlt die „Es dürfte schwierig sein zu entschei- Nordamerikanische Indianer baumelten Nähe zum eigenen Körper. Auf dem Um- den“, meint Benecke, „ob Body Modifica- beim „Sonnentanz“, der so genannten weg über die schmerzhaften Prozeduren tion Selbsttherapie ist oder krankhaftes O-Kee-Pa-Zeremonie, an Fleischerhaken, und die bleibenden Narben versuchen sie, Verhalten.“ Zumindest einige der Bodmod- die sie sich durch Brusthaut und -muskeln die Leere zu füllen. Jünger, glaubt der Forscher, neigten auf trieben. Etliche von ihnen sind Singles. Durch Grund traumatischer Erlebnisse in der Extreme Gewebedehnungen sind noch die Zugehörigkeit zur Body-Modification Kindheit zu den schmerzhaften Körper- heute in vielen afrikanischen Kulturen weit schaffen sie sich eine Ersatzfamilie. Für an- praktiken. verbreitet. Narbenmuster auf der Haut si- dere wird der Endorphinrausch zur Droge, Selbst für die Abgebrühtesten gibt es gnalisieren Stammeszugehörigkeit, sozia- die bei stundenlangen Sessions konsumiert aber offenbar eine Ekel-Grenze. Als der len Rang, durchlaufene Lebensstadien oder werden muss: „Der Schmerz“, berichtet Kölner Experte für biologische Tatortspu- die Intaktheit des Immunsystems. „Wir alle eine amerikanische Bodmod-Anhängerin ren, ein Spezialist für Faulleichen und die machen etwas mit unserem Körper“, sagt über die angeblich bewusstseinserweitern- an ihnen schmarotzenden fetten gelblichen Enid Schildkrout, Anthropologe am Ame- de Erfahrung, „ist wie das High bei einem Maden, einige Selbstverstümmeler ins Lei- rikanischen Museum für Naturgeschichte Läufer.“ chenschauhaus der New Yorker Rechts- in New York, „um anderen zu zeigen, wer Teile der Szene verstehen sich über- medizin lud, waren selbst die coolsten un- wir sind – selbst wenn wir uns nur die Haa- dies als „moderne Primitive“. Sie sind ter ihnen auf einmal verdächtig still. re kämmen.“ auf der Suche nach verschütteten „Am Ende des Besuchs“, berichtet Verstümmelungstraditionen sind aber stammesgeschichtlichen Wurzeln. Wenn Benecke, „hielten sie mich für freakiger beileibe nicht auf entlegene Regionen und sie ihre Körper, wie beispielsweise bei als sich selbst.“ Günther Stockinger

300 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Frederik vonDänemarkmitExpeditionsteam inGrönland: 302 S Tipps. Dentist ausder Heimat hilfreiche brach – perTelefon gabihmein Gummibärchen einenZahnzer- der Männeraneinemtiefgefrorenen schon einmaldeutlich, alssicheiner Satellitenhandy wurde seinkann, lands. derzeit durch dieEiswüste Grön- kämpft sichseineKönigliche Hoheit anderenmit fünf Wagemutigen Frederik von Dänemark. Zusammen welt istwomöglich baldauchPrinz muss. die Expeditionabgebrochen werden Nun fürchtet seinBetreuerteam, dass noch regelmäßig perHandy empfängt. nen abgeschnitten sein,dieerderzeit von allenwichtigen Wetterinformatio- Wenn dasgeschieht, wird derRuderer Tagen oderWochen gekappt werde. mit, dassdieVerbindung inwenigen seiner Telefonfirma teilte ihmhöflich sein Satelliten-Handy. EinMitarbeiter wird, isthöchstungewiss. Ob erdiesesZielwiegeplant erreichen ihn vom rettenden chilenischenFestland. überqueren. Noch 5000Kilometer trennen der französische Abenteurer denPazifik weltweit Abenteurer inBedrängnis. Funkstille imEis Wie nützlichimewigen Eisein Ohne Funkkontakt mitderAußen- Denn vorige Woche klingelte plötzlich schaltet ihre Satelliten-Handys neun Meter langen Ruderbootwill 52, alleinaufhoherSee.Mitseinem eit achtWochen treibt Jo LeGuen, Die Telefonfirma Iridium ab –undbringtdamit MOBILFUNK zwar eineingenieurstech- lung zuvernetzen war fliegender Telefonvermitt- bringen undzueinerArt erdnahe Umlaufbahn zu när. 66Satelliten ineine Motorola alsHauptaktio- US-Technologiekonzern Prozent davon trägt der nichtet worden. Allein18 der Technikgeschichte ver- Flop sem spektakulärsten liarden Mark sindbeidie- noch alsBriefbeschwerer taugen. dys weltweit verstummen –undfortan nur Wochen klobigen Han- werden die50000 musste. SchonimLaufe dernächsten Iridium am17. MärzKonkurs anmelden der erste Satellitentelefondienst globale inSchwierigkeitendemnächst geraten, weil Umgerechnet zehn Mil- Weltweit rund 30Expeditionenkönnten Handy, dasaussieht,alshätte Versace 0000Kunden waren bereit, das für 50 len; dochgerade mal Telefonnetz nutzen sol- Millionen Kunden das Bodenhaftung verloren. nur leidergingdabeidie nische Meisterleistung – einen Schlagstock entworfen, anfäng- Bis 2002hätten drei nahme imNovember 1998 war der System visionär. DochbeiInbetrieb- Achtziger geplant wurde, war das früh undzuspät.AlsesEnde der hinderte denEmpfang. schon dieTakelage einesSchiffes be- ren Geräte sehrstöranfällig waren; schwerend kamhinzu,dassdieteu- sprächsgebühren pro Minute. Er- schweigen von biszu18 Mark Ge- lich 6000Mark zuzahlen–ganz Satelliten-Telefon vonMotorola der spiegel Iridium kam gleichermaßen zu gleichermaßen Iridium kam Per Satelliten-Handy Hilfe vom ZahnarztausderHeimat Technik Iridium-Handy-Nutzer 13/2000 Geld eingeplant. dieseteurenist für Flugmanöver garkein kosten wird. DochinderKonkursmasse Jahre dauern und hundertMillionenMark leute befürchten, dassdasDeorbitingzwei Himmelsfunkern nochmisslingen: Fach- verglühen. sie wieSternschnuppen überdenPolen die Erdatmosphäre gelenkt werden, dass Iridium-Satelliten deshalbderart steil auf ZurMüllvermeidungstammen. sollendie anderem von ausgebrannten Raketenstufen fährlich große Trümmerstücke, dieunter laufbahn treiben bereits mehrals8000ge- raumhygiene. Allein indererdnahen Um- zen liefern sichderzeit einenerbitterten Dutzend Anbieter von Satelliten-Net- die ganze Branche. Mehr alseinhalbes Weltgegenden diesichere Erreichbarkeit. ze Vielreisenden ermöglichte infastallen rasante Ausbau erdgebundener Handy-Net- Der angepeilte Markt fastverschwunden: Selbst dasFinale könnte den glücklosen Die Entsorgung dieWelt- istwichtig für Die Iridium-Pleite verunsichert nun

REUTERS werden („Deorbiting“). gebrachtzum Absturz nach undkontrolliert Die Satelliten-Flotte soll kosmisches Feuerwerk: der letzte Akt,eineArt einfach austauschen. ware derSatelliten nicht sich diekomplizierte Soft- tendienste; zudemlässt moderne Da- langsam für Kilobit pro istzu Sekunde tragungsrate von nur2,4 men können: Deren Über- dium-Satelliten überneh- die abgeschalteten Iri- quenzen. Raketenstarts undFre- Wettlauf umKunden, Für Iridiumbeginntnun Keiner von ihnenwird Hilmar Schmundt Hilmar

DANA PRESS Werbeseite

Werbeseite SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de ·T-Online *SPIEGEL# Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein SCHWERIN Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 5574442, Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben CHEFREDAKTEUR Stefan Aust Fax 569919 Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 STUTTGART Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 E-Mail: [email protected] STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 Nachdruckgenehmigungen DEUTSCHE POLITIK Leitung: Dr. Gerhard Spörl, Michael Schmidt- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND für Texte und Grafiken: Klingenberg (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Dietmar Hipp, BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Deutschland, Österreich, Schweiz: Dr. Hans Michael Kloth, Julia Koch, Bernd Kühnl, Joachim Mohr, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 : Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Hans-Ulrich Stoldt, Klaus Wiegrefe. Autoren, Reporter Wolfram BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, E-Mail: [email protected] Bickerich, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Joachim Noack, Hartmut Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 Palmer; Berliner Büro Leitung: Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher übriges Ausland: ISTANBUL Bernhard Zand, Be≈aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≈a, 80040 (stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, Susanne Fischer, Martina Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 New York Times Syndication Sales, Paris Hildebrandt, Jürgen Hogrefe, Horand Knaup, Dr. Paul Lersch, Chris- Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 toph Mestmacher, Alexander Neubacher, Dr. Gerd Rosenkranz, JERUSALEM Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusa- Harald Schumann, Alexander Szandar lem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax 6224540 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] DEUTSCHLAND Leitung: Jochen Bölsche, Clemens Höges, Ulrich Schwarz. Redaktion: Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Christian JOHANNESBURG Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Habbe, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Gunther SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 Latsch, Udo Ludwig, Cordula Meyer, Thilo Thielke, Andreas Ulrich. KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, E-Mail: [email protected] Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Gisela Friedrichsen, Gerhard Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Abonnenten-Service Mauz, Norbert F. Pötzl, Bruno Schrep; Berliner Büro Leitung: Heiner LONDON Michael Sontheimer, 6 Henrietta Street, London WC2E SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Schimmöller, Georg Mascolo (stellv.). Redaktion: Wolfgang Bayer, 8PS, Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599 Reise/Umzug/Ersatzheft Stefan Berg, Dr. Carolin Emcke, Susanne Koelbl, Irina Repke, Peter MOSKAU Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Telefon: (040) 411488 Wensierski, Steffen Winter Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redaktion: Fax 9400506 Auskunft zum Abonnement Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar NEW DELHI Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 E-Mail: [email protected] Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke; Berliner NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, Abonnenten-Service Schweiz: Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion: Markus Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y Dettmer, Oliver Gehrs, Christian Reiermann, Michael Sauga, Ulrich 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern Schäfer Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 PARIS Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 E-Mail: [email protected] (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, PEKING Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund Abonnement für Blinde 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 von Ilsemann, Reinhard Krumm, Claus Christian Malzahn, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene Zuber. Autoren, RIO DE JANEIRO Matthias Matussek, Jens Glüsing, Avenida São Se- E-Mail: [email protected] Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, Erich Wiedemann WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf bastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Abonnementspreise Stampf (stellv.); Jürgen Petermann. Redaktion: Philip Bethge, Jörg Fax 5426583 Inland: zwölf Monate DM 260,– Blech, Manfred Dworschak, Marco Evers, Beate Lakotta, Dr. Renate ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Studenten Inland: zwölf Monate DM 182,– Nimtz-Köster, Rainer Paul, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Dr. 6797522, Fax 6797768 Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– Jürgen Scriba, Gerald Traufetter, Christian Wüst. Autoren, Reporter: SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Europa: zwölf Monate DM 369,20 Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Außerhalb Europas: zwölf Monate DM 520,– KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, (0065) 4677120, Fax 4675012 werden anteilig berechnet. Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Hauke Goos, Lothar TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Gorris, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ans- Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 bert Kneip, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, WARSCHAU Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an den Anuschka Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer 8251045, Fax 8258474 SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach Traub, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, : WASHINGTON Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren, Reporter Ariane Barth, Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. Uwe Buse, Urs Jenny, Dirk Kurbjuweit, Dr. Jürgen Neffe, Rainer Fax 3473194 Schmidt, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) ✂ SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Maik 5331732, Fax 5331732-10 Abonnementsbestellung Großekathöfer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Dr. Walter Knips DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Dr. Britta Bugiel, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Oder per Fax: (040) 3007-2898. Stegelmann Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Heidler, Carsten Hellberg, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Chri- Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, sta von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter monatliche Programm-Magazin. Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Hefte bekomme ich zurück. BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Manuela Cramer, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Antje Klein, Matthias Krug, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Margret Pult, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Spohn, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. E-Mail: [email protected] Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Name, Vorname des neuen Abonnenten GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Andrea Schumann-Eckert, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Michael Walter Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Hans-Jürgen Vogt, Carsten LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Straße, Hausnummer Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Fens- Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt ky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schu- PLZ, Ort mann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Kirsten Wiedner, Peter Zobel TITELBILD Stefan Kiefer; Thomas Bonnie, Maria Hoffmann, KOORDINATION Katrin Klocke Ich möchte wie folgt bezahlen: Oliver Peschke, Monika Zucht LESER-SERVICE Catherine Stockinger ❑ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and informa- BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, tion GmbH & Co.) ❑ Ermächtigung zum Bankeinzug Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms Kultur und Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 von 1/4jährlich DM 65,– NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington BONN Heussallee 2–10, Pressehaus 1, 53113 Bonn, Tel. (0228) Post, New York Times, Reuters, sid, Time 26703-0, Fax 26703-20 DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Dresden, Tel. (0351) 800 10-0, Fax 800 10-20 Genehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme in elek- Bankleitzahl Konto-Nr. DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- tronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. auf CD-Rom. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Geldinstitut ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe FRANKFURT AM MAIN Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 54 vom 1. Januar 2000 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel.(069) 9712680, Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Fax 97126820 Druck: Gruner Druck, Itzehoe HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Widerrufsrecht Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, 20039 Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: [email protected]. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: 2. Unterschrift des neuen Abonnenten SP20-002 Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631.

304 der spiegel 13/2000 Chronik 18. bis 24. März SPIEGEL TV

SAMSTAG, 18. 3. MITTWOCH, 22. 3. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 WAHLSIEG In Taiwan hat Chen Shui-bian, EINIGUNG Der erste große Tarifabschluss der Kandidat der Opposition, die Präsi- dieses Jahres ist perfekt: In der westdeut- SPIEGEL TV REPORTAGE dentschaftswahlen gewonnen. Damit schen Chemie-Industrie erhalten die Be- Einstürzende Bauten – Sprengmeister stellt erstmals seit über 50 Jahren nicht schäftigten vom 1. Juni an 2,2 Prozent und die Kunst der Zerstörung mehr die nationalistische Kuomintang- mehr Geld, im nächsten Jahr steigen die Partei den Präsidenten. Entgelte um 2,0 Prozent. Der Chemie- Gewerkschaftschef Hubertus Schmoldt PARTEITAG Die Grünen lehnen es ab, wertet den Abschluss als „positiven Bei- die strikte Trennung von Amt und Man- trag für das Bündnis für Arbeit“. dat zu lockern. Mit großer Mehrheit unterstützen die Delegierten den Atom- UNGLÜCK Bei einer der weltweit schwers- ausstiegskurs von Bundesumweltminister ten Pipeline-Katastrophen sind in Ni- Jürgen Trittin. geria mindestens 50 Menschen verbrannt. Die Ölleitung explodierte, als Bewoh- SONNTAG, 19. 3. ner des Niger-Deltas versuchten, sie an- zuzapfen.

INDUSTRIEMESSE EU-Kommissionspräsi- SPIEGEL TV dent Romano Prodi und Bundeswirt- Sprengarbeiten schaftsminister Werner Müller eröffnen DONNERSTAG, 23. 3. die Hannover-Messe. Auf der weltgröß- DURCHBRUCH In der Frage der Entschädi- Wenn in Düsseldorf ein Hochhaus fällt, ten Industrieschau präsentieren sich 7250 gung für NS-Zwangsarbeiter wird der im Saarland eine Zeche explodiert oder Aussteller aus 65 Ländern. letzte Streitpunkt beseitigt: die Verteilung im Ruhrgebiet ein Schornstein kippt, der Summe von zehn Milliarden Mark. haben sie ihre Arbeit erledigt. Voraus- MONTAG, 20. 3. Noch in diesem Jahr sollen die überle- gesetzt, das Objekt fällt in die richtige Richtung. FÜHRUNGSWECHSEL CDU-Generalsekre- benden Opfer des NS-Regimes finanzielle Entschädigung bekommen. tärin Angela Merkel wird vom Parteivor- DONNERSTAG stand einstimmig zur Parteivorsitzenden EUROPA Die EU-Regierungschefs setzen 22.05 – 23.00 UHR VOX nominiert. Die rot-grüne Regierung müs- sich bei ihrem Gipfel in Lissabon zum se sich jetzt auf eine „gepfefferte Opposi- Ziel, Europa zur führenden Wirtschafts- SPIEGEL TV EXTRA tion“ gefasst machen, so Merkel. macht der Welt zu machen. Bundeskanz- Über den Wolken – PAPSTREISE Johannes Paul II. startet eine ler Gerhard Schröder strebt an, die USA mit einer Flugzeug-Crew durch Europa einwöchige Pilgerfahrt durch das Hei- auf den Gebieten Internet und neue Morgens Frankfurt, mittags Lyon, abends lige Land. Sie führt den Papst von Jorda- Technologien auf den zweiten Platz zu Helsinki. Und am nächsten Tag wieder nien über Israel in die palästinensischen verweisen. andere Städte, irgendwo in Europa. Da- Gebiete. zwischen lange Wartezeiten – und doch FREITAG, 24. 3. so gut wie keine Freizeit. Drei Tage lang beobachteten SPIEGEL-TV-Repor- DIENSTAG, 21. 3. EINIGUNG Das Spitzengespräch zwischen ter Piloten und Cockpit-Crew, nicht nur ATOM Die USA und Indien vereinbaren Deutsche-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn bei der Arbeit. beim Staatsbesuch von US-Präsident Bill und Gewerkschaftsboss Norbert Hansen Clinton eine enge Partnerschaft. Beide in Köln bringt eine Einigung – vorläufig SAMSTAG Staaten wollen im Kampf gegen die Wei- zumindest. Die Details des Sparkonzepts 22.10 – 23.15 UHR VOX terverbreitung nuklearer Waffen zusam- sollen in den kommenden zwei Monaten menarbeiten. verhandelt werden. SPIEGEL TV SPECIAL Mord ohne Leiche? – Der Künstler Bob Venables, 43, prä- Mysteriöse Todesfälle in Deutschland sentierte am Donnerstag das Werk, Hartmut C. soll seine Frau getötet haben. das er an eine Londoner Kneipen- Hinweise darauf, dass er der Täter ist, decke gemalt hat: seine Version von gibt es genug. Nur eines fehlt in diesem Michelangelos „Erschaffung Adams“. Fall, das wahrscheinlich wichtigste Be- weisstück: die Leiche. Eine Dokumenta- tion über drei ungeklärte Mordfälle, die für Ermittler und Angehörige quälende Fragen aufwerfen.

SONNTAG 22.10 – 23.00 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Zug um Zug – der verbissene Kampf um die Zukunft der Bahn; Lassie aus dem Labor – wie amerikanische Wissen- schaftler Haustiere klonen; perfekter Mord? – Der ungesühnte Gifttod der klei- nen Anna B. DPA

der spiegel 13/2000 305 Register

Gestorben mokrat setzte sich für den Auf- und Ausbau Ivo Robic, 74. Als die Beatles noch in den des Presseversorgungs- Kinderschuhen steckten und „Hits“ noch werks ein, wo er fast Schlager hießen, war der Kroate mit der 50 Jahre den Vorsitz Samtstimme der Schlagersänger Nummer des Verwaltungsrats eins. 1959 startete er in Deutschland, sym- innehatte. Die soziale bolträchtig, mit der Ballade „Morgen“; über Sicherung von Redak-

eine Million Platten gingen über die La- DPA teuren war für ihn dentische; Amerika spielte mit, Tourneen wesentliche Vorausset- folgten, die „weiche Welle“ nahm ihren zung für deren Unabhängigkeit. Dietrich Lauf. Zwei Jahre später, nun war er schon Oppenberg starb am 24. März. 35, sang er „Mit 17 fängt das Leben erst an“, und wieder gab es Eberhard Bethge, 90. Der evangelische keine Musikbox ohne Kirchenmann sah sich zeitlebens als das Kuschelorgan des Mahner und Zeitzeuge des Widerstands erfolgreichen Gastar- gegen Hitler, der Männer und Frauen des beiters. Ein „Muli- 20. Juli. Sein Freund und Mentor, der evan- Song“ und eine Ge- gelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, war tränke-Hymne („Rot im KZ ermordet worden; Bethge, nach dem ist der Wein“) hielten Attentat gleichfalls inhaftiert, entging knapp ihn weiter in den Schla- dem gleichen Schicksal. Er wurde zum pro- gerparaden, dann ka- funden Nachlassverwalter Bonhoeffers,

DPA men härtere Zeiten, edierte dessen aus dem Gefängnis ge- und die weiche Welle schmuggelten Briefe, schrieb eine monu- verebbte; Robic zog sich in seine Heimat mentale, weltweit wirkende Bonhoeffer- zurück, immer noch bei Stimme und bis Biografie und trug so dazu bei, dass der zuletzt zu Auftritten bereit. Ivo Robic starb Name seines Freundes zum Synonym für am Wochenende vor 14 Tagen in Zagreb die Ethik des Widerstands wurde. Eberhard während einer Gallenoperation. Bethge starb am 18. März in Wachtberg bei Bonn. Thomas Ferebee, 81. Er wurde älter, viel älter als die meisten seiner Opfer. Sie star- Fred Kelly, 83. Mit vier trat er zum ersten ben, nachdem der damals 26-jährige Bom- Mal auf, und einige Zeit galt er als der Ta- benschütze am 6. August 1945 genau 17 Se- lentierteste der „Five Dancing Kellys“. kunden nach 8.15 Uhr an Bord des B-29- Doch es war Gene Kelly, der es zu Welt- Fernbombers „Enola Gay“ den „Little ruhm brachte. Aber auch der kleine Bruder Boy“ ausklinkte, den ersten je im Ernstfall blieb beim Fach. Als Choreograf, Tanzleh- gezündeten Atomsprengsatz. 43 Sekunden später standen im Zentrum Hiroschimas nur noch rauchende Trümmer. Weit über 60000 Menschen starben damals in dem 300000 Grad heißen Feuerball, zerrissen von der gigantischen Druckwelle, erschla- gen von Trümmern oder durch Strahlung getötet. Zehntausende fielen dieser heim- tückischen Waffenwirkung noch Jahrzehn- te später zum Opfer. Ferebee überlebte und züchtete als Pensionär Rosen. Doch bis ins hohe Alter begleitete ihn die Erinnerung an

jenen Tag, der die Welt veränderte. Thomas ARENA IMAGES Ferebee, der an seiner Überzeugung fest- hielt, nur seine Pflicht erfüllt zu haben, rer und Regisseur machte er sich einen Na- starb am 16. März in Florida. men. Seine berühmtesten Schülerinnen wa- ren die englischen Prinzessinnen Elizabeth Dietrich Oppenberg, 82. Über 50 Jahre und Margaret, die er während seiner Zeit in lang widmete er sich der Publizistik. 1937 der US-Armee unterrichtete. Als heraus- wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ von kam, dass er ihnen außer Walzer auch den den Nazis zu 33 Monaten Zuchthaus ver- Cancan beibrachte, entging er nur knapp urteilt, schlug er sich während des Zweiten einem Hinauswurf. Einen Zipfel der Un- Weltkriegs mit verschiedenen Jobs in ei- sterblichkeit erhaschte Kelly in dem Film nem Zeitungshaus durch. 1946 war Oppen- „Deep in My Heart“. Das Duett „I Love to berg einer der ersten Deutschen, der Go Swimmin’ with Wimmen“ der Brüder eine Zeitungslizenz erhielt. Er gründete Fred (l. im Bild) und Gene gilt als eine das „Rhein-Echo“ in Düsseldorf, später der virtuosen Steppnummern der Filmge- die „Neue Ruhr Zeitung“ in seiner Hei- schichte. Fred Kelly starb am 15. März in matstadt Essen. Der überzeugte Sozialde- Tucson, Arizona.

306 der spiegel 13/2000 Werbeseite

Werbeseite Personalien

George W. Bush, 53, repu- blikanischer US-Präsident- schaftsbewerber, bedankte sich bei seinem demokrati- schen Gegenspieler Al Gore für dessen Glückwünsche zur Nominierung. „Vielen Dank für Ihre E-Mail. Ihr In- ternet ist eine wundervolle Erfindung“, schrieb der listi- ge Texaner und spielte damit auf einen peinlichen Lapsus Gores an. Der hatte am Be- ginn der Vorwahlkämpfe dem verblüfften Volk zu ver- stehen gegeben, dass eigent- lich er der Erfinder des In- ternets sei.

Cem Özdemir, 34, Bundes- tagsabgeordneter von Bünd- nis 90/Die Grünen, bekann- te sich für „eine neue Hu-

manität“ wieder einmal als FOTOS: (li.); / INTER-TOPICS STAR SHOOTING (re.) INTER-TOPICS Vegetarier. Von der Nacke- Chisholm Halliwell dei-Zeitschrift „Max“ und der Tierschutzorganisation Melanie Chisholm „Spor- gen und die Bühne durch Peta zum Protest „gegen ty Spice“, 26, Sängerin die Öffnung zwischen den Pelzmode und für die artge- der britischen Girlie-Group Gummischenkeln betre- rechte Haltung von Tieren“ Spice Girls, ist auf das ab- ten. Doch das Ganze soll- aufgerufen, wollte der Grüne trünnige Spice Girl Geri te, nach Melanies Mei- wie elf weitere Prominente, Halliwell, 27, nicht gut zu nung, nur eine umfassen- zumeist aus dem Show- und sprechen. Deren Auftritt de Unfähigkeit kaschieren: Unterhaltungsgewerbe, nicht bei den „Brit Awards“, ei- „dass sie untalentiert ist,

nein sagen. So ließ sich ner Art Oscar-Verleihung PRESS / ACTION REX FEATURES dass sie zugegebenerma- Özdemir für die neueste der britischen Unterhal- Halliwell-Auftritt bei den „Brit Awards“ ßen nicht singen und dass „Max“-Ausgabe zum blutig- tungsindustrie, sei schlicht sie auch nicht tanzen angekohlten Grill-Kotelett „vulgär“ gewesen. Tatsächlich hatte die ehema- kann“. Ansonsten hält es Hupfdohle Sporty mit grässlichen Brandwun- lige „Ginger Spice“ vor einer mit breit gespreiz- Spice, die sich als „Freundin“ von Halliwell den umschminken und die ten Beinen liegenden Puppe, ähnlich einer Niki- bezeichnet, in der Freizeit mit Altkanzler Helmut Frage in den Mund legen: de-Saint-Phalle-Schöpfung, getanzt und gesun- Kohl: „I watch my aquarium.“ „Wie hätten Sie mich denn gern: Medium? Durch? Oder noch etwas blutig?“ Na ja, wenn’s der per-Requisit aus der Silvester-Dauerwurst Prince Philip, 78, Ehemann der britischen guten Sache hilft. Appetitlicher kommt da des deutschen Fernsehens. Zwei dicke Königin, hat sich auf der Australien-Reise das Foto von Cosma Shiva Hagen, 18, Zähren rinnen über die Wangen der jun- des Königspaars vergangene Woche den daher. Die Schauspielerin legt sich – gen Dame, die mancher vielleicht zum Ehrennamen „Philip der Taktlose“ einge- nackend, versteht sich – auf ein Tigerfell Fressen gern hätte, die aber kategorisch handelt. Vergessen waren bereits die Vor- mit präpariertem Kopf ähnlich jenem Stol- erklärt: „Dinner for NO one.“ gänge vom Wochenanfang in einer Molke- rei in dem australischen Ort Waga Waga, wo sich der Adelige geweigert hatte, die Besichtigung in vorgeschriebener Hygie- nekleidung vorzunehmen. Da besichtigte Philip vergangenen Mittwoch eine Baum- wollfarm und machte auf gaga. Der Farmer führte ein Gerät zur Messung der Boden- feuchtigkeit vor, ein so genanntes Piezo- meter. „Ein Pissometer?“, fragte Seine Königliche Hoheit derb zurück. Auf einer Obstplantage, 600 Kilometer von Sydney entfernt, kommentierte Hoheit das Ver- packen und Eindosen von Obst: „Sie ma- chen das wohl, damit die Leute nichts zu essen bekommen. Man kriegt die ver- dammten Dinger nie auf.“ Und auf einem

FOTOS: H. SCHEIBE / MAX / PETA H. SCHEIBE / MAX FOTOS: nahe gelegenen Weingut zog der spaßige Tierschützer Özdemir, Hagen Herzog von Edinburgh Grimassen, als habe

308 der spiegel 13/2000 er Essig genossen. würden Sie gern spielen?“ „Den Esel“, Andererseits konnte lachte Scherf, „weil ich schon immer der die Königin mit Ehe- Längste war und alle gern auf mir rum- mann Philip durch- trampeln.“ aus mithalten: In der 3500-Seelen-Gemein- Heinz Suhr, 48, Journalist und Organi- de Bourke bekannte sator des „Internationalen Bonner Pres- die Queen nach der seballs“, einer Nostalgieveranstaltung für entsprechenden Fra- den in die Bundeshauptstadt abgewan- ge einer siebenjähri- derten Bundespresseball, hatte Schwierig-

gen Grundschülerin, DPA keiten, ein der Kanzlergattin Doris Schrö- sie sei sich nicht si- Prinz Philip der-Köpf gegebenes Versprechen einzu- cher, wie viele Zim- lösen. Eine gut zwei Zentner schwere mer der Buckingham Palace habe: „Einige schmiedeeiserne Kanzlerbüste mit Rie- Leute sagen, es seien 600 – ich weiß nicht, senzigarre, auf dem Ball im Dezember ob das stimmt.“ vergangenen Jahres vorgestellt, sollte jetzt in die Dahlemer Dienstvilla des Kanz- Michael Naumann, 58, Kulturminister lers gebracht werden. Der Transport nach im Kanzleramt, sprach in Berlin bei einer deutsch-amerikanischen Konferenz zu Handelsfragen auch die Widerstände aus Washington gegen den deutschen Ex-Kan- didaten für den Chefposten beim Inter- nationalen Währungsfonds (IWF), Caio Koch-Weser, an. Dabei sprach er in sei- nem auf Englisch gehaltenen Beitrag mehrfach vom „Ai-Dabbeljuh-Ef“, be- nutzte also die deutsche Abkürzung. Kor- rekt hätte Naumann „Ai-Em-Ef“ sagen müssen, das englische Kürzel für den „In- ternational Monetary Fund“. Nachredner nahmen Naumann wegen seines Fehlers auf die Schippe, so auch Robert Zoellick, einst stellvertretender Stabschef bei US- Präsident George Bush: Naumann habe wegen der rauen Bräuche beim Währungs- fonds womöglich von der „International Wrestling Federation“ gesprochen.

Henning Scherf, 61, Bürgermeister von Bremen, hatte zur Märchenstunde ins alt-

ehrwürdige Bremer Rathaus geladen, nicht OSSENBRINK F. Senatoren oder Ministerpräsidenten, son- Suhr, Kanzlerbüste dern 53 Kinder. Grund war die Neuauflage einer Märchenversion der „Bremer Stadt- Berlin erfolgte nachts. Und wegen der musikanten“ des Bohem Press Verlags. späten Stunde wurde die Büste in der Die las der Bürgermeister seinen kleinen Hauptstadt in der rheinischen Nostalgie- Bremern vor. „Das ist wie mit meinen En- kneipe „Ständige Vertretung“ („StäV“ im keln“, freute sich Scherf im Kreis der lau- Jargon der Berliner Bonn-Nostalgiker) schenden Kinder. Nach der Vorlesestunde zwischengelagert. Der Wirt, nicht aus- fragte die sechsjährige Lotta den 2,06 Me- reichend informiert, witterte Kunstdieb- ter großen Bürgermeister: „Welches Tier stahl. Die alarmierte Polizei brachte, acht Mann hoch, den schwergewichti- Scherf, Zuhörer gen Schröder auf das Revier 31 in Berlin-Mitte. Erst nach der Vorla- ge eines Artikels aus dem SPIEGEL (Nr. 3/2000) über die Schenkung des „Eisernen Kanzlers“ erschien Suhr mit seiner Geschichte der Po- lizei glaubwürdig. Die mochte die Rückgabe des vermeintlichen Die- besguts aber nicht unkommentiert lassen. „Da hamse aber Glück ge- habt, dat der die Zigarre so fest im Gesicht hat“, so die Revierleitung, „sonst hätten Se den nich packen

H. BLÖTHE können.“ 309 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der Fernsehseite der „Hannoverschen Zitate Allgemeinen Zeitung“: „,Guten Abend RTL‘ – Ein Elefant aus Kanada landet in Die „Süddeutsche Zeitung“ zum Hannover – Er soll die Damen im Zoo be- SPIEGEL-Bericht „Fußball – Lothar glücken.“ Matthäus zieht in eine kühle Welt“ (Nr. 10/2000):

Um das sofort einmal klarzustellen: Der SZ- Sportreporter war als Erster in New York. Lange bevor die Meute kam. Abflug Fa- schingsdienstag. Sicher, der SPIEGEL-Mann Aus der Wochenzeitung „sunny“ ist noch früher da gewesen. Allerdings: Wer erinnert sich an seine Geschichte, Ausgabe 10/00, recherchiert im Februar? Der SPIE- GEL, konnte man lernen, ist so aktuell, dass er nicht mehr aktuell ist, wenn das, worüber er berichtet, aktuell wird. Ob das die Leser wissen? Als Lothar Matthäus am vergange- nen Freitag in München abflog und acht Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zei- Stunden später auf dem New Yorker Flug- tung“ hafen Newark landete („15.04 Ortszeit, 15 Grad, bedeckt“/ „Bild am Sonntag“), hat sich das Wissen des SPIEGEL-Mannes über Aus der „Financial Times Deutschland“: Lothars neue Welt, den Fußballclub Me- „Trotzdem schlossen die Aktien nur 1,3 troStars, multipliziert. Alfred Weinzierl, Prozent fester als am Vortag. Anscheinend Sportchef des SPIEGEL, ist froh, dass er muss man die Anleger noch überzeugen, keinen seiner Redakteure nach Amerika dass sie morgen mit ihrer Margarine nicht schickte – im Flieger mit Lothar, Freundin zu tief in die Marmelade langen werden.“ Maren („Sitze G und D, zweite Reihe, First Class“/ „Bams“) sowie Krethi und Plethi, wie das in der SPIEGEL-Diktion heißt.

Die „“ zur SPIEGEL-Personalie „Reinhard Klimmt“ (Nr. 11/2000): Aus der „Sächsischen Zeitung“ Als eifriger Leser eines Nachrichtenmaga- zins sorgt sich Bundeskanzler Gerhard Ankündigung aus dem WDR-Radiopro- Schröder (SPD) um seinen Parteifreund, gramm zu einer Sendung über den Elch: den Verkehrs- und Bauminister Reinhard „Alces Alces heißt er botanisch, er hat lan- Klimmt. In der Kabinettssitzung am Mitt- ge graue Beine, ist Bartträger und kein Fa- woch kam Schröder auf einen SPIEGEL- beltier.“ Bericht zu sprechen: Klimmt klagte darin, er sei wegen des Ministeramts so selten zu Hause, dass seine beiden Hunde ihn nicht Aus der „Hunde Revue“: „Es hat sich ge- mehr erkennen. So weit dürfe die Arbeits- zeigt, dass der Geruch bei manchen Arten belastung nicht gehen, frotzelte Schröder ein Hinweis für die Weibchen hinsichtlich und fragte: „Wie kann ich dich entlasten?“ Verwandtschaft und genetischer Variabi- Vielleicht, überlegte Schröder laut, müsse er lität eines Freiers sein kann. Dies scheint je- das Verkehrs- und Bauministerium, das er denfalls zum Beispiel aus Versuchen bei 1998 zusammengelegt hatte, wieder in zwei Mäusen und Frauen hervorzugehen.“ Behörden aufteilen.

Der Schweizer Filmproduzent Arthur Cohn im„Stern“ über einen Brief von Rudolf Augstein an Axel Springer:

Obwohl wir politisch nicht immer gleicher Meinung waren, wurde Axel Springer wie Aus dem „Kölner Morgen“ ein zweiter Vater für mich. Dass er der böse und vereinsamte König der Rechten war, ist ja ein Märchen. Ich weiß, dass er nach dem Aus der „Sindelfinger Zeitung“: „Aber, Selbstmord seines Sohnes bis zuletzt einen sind wir Bürger nicht auch aufgerufen, mit Brief mit sich rumtrug, den ihm niemand an- beizutragen, dass die Brötchentüte, die derer geschrieben hat als Rudolf Augstein. Hamburger-Serviette oder Zigaretten- Ein goldiger Brief voller Intensität und inti- schachtel statt im Abfalleimer auf dem mer Herzlichkeit – als wenn der eigene Bru- Gehsteig etc. landet?“ der ihm schreiben würde.

310 der spiegel 13/2000