Erschienen in: Deutschland Archiv Jg. 33 (2000) Nr. 5, S. 807-813.

Eine Legende geht zu Ende Sechsundzwanzig Jahre Conway-Symposien zur DDR-Forschung Manfred W. Hellmann, Mannheim, und Dieter Rink, Leise Wehmut färbte die Stimmung der Teil- Rückblick nehmer des 26. und letzten Symposiums, das vom 21. bis 28. Juni 2000 wie immer im World Einem Kern amerikanischer Germanisten, die Fellowship Center bei Conway/New Hampshire sich für Literatur und Gesellschaft der DDR (USA) stattfand. Es stand unter dem Thema interessierten, gesellten sich seit Ende der sieb- »Forty Years GDR - Ten Years New Länder. ziger Jahre zunehmend Sozial- und Politikwis- before and since the Wende«. senschaftler hinzu und je nach Themenschwer- Dass es die letzte dieser legendären Tagungen punkt Spezialisten für Wirtschaft, Medien, Kul- auf amerikanischem Boden, in rustikaler Umge- tur, Architektur. Städtebau, Sozialpsychologie, bung, inmitten einer urwüchsigen Naturland- Kirchenfragen und Linguistik. Die Tagungen schaft, sein sollte, hat vordergründig personelle wurden interdisziplinärer und internationaler. In Gründe: Margy Gerber, Germanistin an der den achtziger Jahren wuchs die Gruppe der Bowling Green State University Ohio und seit Westdeutschen; in der zweiten Hälfte der acht- 25 Jahren Koordinatorin dieser Treffen, ist eme- ziger Jahre gelang es den Veranstaltern, auch ritiert; Ersatz ist nicht in Sicht für sie, die mit DDR-Bürger nach Conway zu holen, teils hoch- sanfter Beharrlichkeit die Tagungen vorbereitet karätige Reisekader, teils Bürger mit internatio- und geleitet, Tagungsbände bearbeitet und her- nalem Pass. Die Berichterstatter haben 1984 ausgegeben (»Studies in GDR Culture and So- bzw. 1988 in Conway die Professoren/-innen ciety«. Bd. I 11981] bis Bd. 14/15 [1996], Uni- Manfred Lötsch, Irene Dölling, Ludwig Elm versity Press of America, Lanham-New York- (Gesellschaftswissenschaft), Knut Richter London), Wogen geglättet und für ein anerkann- (Wirtschaftswissenschaft), Irene Runge (Sozi- tes wissenschaftliches Niveau gesorgt hat. Auch alwissenschaft und jüdische Kultur), Silvia das Ehepaar Christoph und Kathryn Schmauch, Schlenstedt (Literaturwissenschaft) und Man- das seit Jahrzehnten als Gastgeber fungierte und fred Bierwisch (Linguistik) erlebt, die Schrift- mit einem meist sehr jungen Stab für die Betreu- steller/-innen Monika Maron und Otto Emersle- ung der Teilnehmer sorgte, zieht sich zurück; ben, den Regisseur Heinz Uwe Haus, und zwar auch ihnen, christlich-friedensbewegt und im- in offizieller Funktion wie auch, oft mit deutli- mer um Brückenschläge über Gräben hinweg chem code switching, in geselliger Runde. Und bemüht, gebührt großes Verdienst um diese daneben ehemalige DDR-Bürger: geflohene, Tagungen. Anders als in Deutschland, wo sol- freigekaufte, exilierte. Wo anders als in Conway che Tagungsserien ohne institutioneile Veran- war das damals möglich? kerung und öffentliche Zuschüsse kaum denk- Die ersten Treffen nach der »Wende« brachten bar wären, waren diese Symposien ausschließ- teilweise leidenschaftliche Debatten zwischen lich vom Engagement einzelner Personen getra- Vertretern des alten Systems und denen opposi- gen; Zuschüsse kamen nach der »Wende« eini- tioneller Gruppen, die nun erstmals in größerer ge Male von einer amerikanischen Stiftung und Zahl nach Conway kamen. Etwa ab 1994 über- dem Goethe-Institut Boston, die deutschen Teil- wogen ostdeutsche Wissenschaftler, die ihre nehmer erhielten von der DFG oder ihren Uni- Perspektive auf DDR-spezifische bzw. ostdeut- versitäten Zuschüsse zu den Reisekosten. sche Probleme in die Tagungsthemen einbrach- 808 ten. »Spiegel«-Autor Henryk M. Broder miss- Reviews verstand dies (H. 28/1997) grob als nostalgi- sches Wundenlecken einiger Spätkommunisten. In drei großen Referaten wurde - dem Charakter Nein, die Conway-Tagungen passten nicht in einer abschliessenden Veranstaltung entspre- dieses, sie passten in überhaupt kein Klischee, chend - Bilanz der angloamerikanischen DDR- sie waren eine Klasse für sich. Forschung bzw. der »German Studies« im All- Es wurde konzentriert gearbeitet: Bis zu 40 gemeinen gezogen. John Sandford (Reading / Referate mit Diskussionen, zwei Panels und UK) referierte über »The Development of GDR mehrere Abendveranstaltungen (Filme und Vi- Studies in the UK«, Laurence McFalls (Montre- deos aus Ostdeutschland oder Lesungen von al) über »Review of North American GDR / Autoren) in sechs Tagen verlangten viel Diszi- East German Scholarship in the Social Sci- plin. Diskutiert wurde kritisch, aber durchweg ences« und Patricia Herminghouse (Rochester/ fair; die Prestigekämpfe prominenter Instituts- USA) über »Contexts of American GDR Stu- leiter, die sonst oft bundesdeutsche Fachtagun- dies: The Feminist Factor«. gen prägen, hielten sich in Grenzen, zumal die Alle drei kamen zu eher pessimistischen Ergeb- anwesenden Amerikaner dafür wenig Verständ- nissen. Ostdeutsche Probleme würden als For- nis hatten; die Interdisziplinarität zwang alle, schungsgegenstand immer stärker marginali- sich verständlich auszudrücken und erbrachte siert; es werde immer schwieriger, Stellen zu andererseits immer neue, überraschende Aspek- sichern und Projekte zu bekommen. Germani- te aus der Sicht anderer Fachgebiete. Neben stik als eigenständiges Fach gehe weitgehend in dem offenen, legeren, sachorientierten Diskus- den German Studies auf und habe dort einen sionsklima war es wohl vor allem diese Interdis- schweren Stand. Die German Studies ihrerseits ziplinarität, die die deutschen Teilnehmer so würden durch »European Studies« überlagert. faszinierte. Patricia Herminghouse machte darüber hinaus deutlich, wie stark die frühere Beschäftigung amerikanischer Germanistinnen mit der (Frau- Überblick en-)Literatur der DDR mit Fragen der amerika- nischen Frauenbewegung verknüpft war: Man Die diesjährige Tagung vereinigte etwa 55 Teil- sah in der DDR eine Gesellschaft, in der schon nehmer, davon 23 aus den USA, fünf aus Groß- verwirklicht sei, worum amerikanische Frauen britannien, weitere aus Dänemark, Irland, Kana- noch kämpften. da, Polen; etwa 20 Teilnehmer kamen aus Auch die »Bilanz der deutschen Transformati- Deutschland, wobei eine Zuordnung nach Ost onsforschung« von Michael Hofmann (Dres- oder West heute z.T. schon schwierig ist. Die den) fiel ernüchternd aus. Zwar sei in den groß große Mehrzahl war schon mehrfach in Conway angelegten Forschungsprogrammen der Deut- gewesen; die Veranstalter hatten ausdrücklich schen Forschungsgemeinschaft und der eigens alle ehemaligen »Conwayaner« zur letzten Ta- geschaffenen Kommission zu Erforschung des gung eingeladen. sozialen und politischen Wandels in den fünf Diesmal waren es »nur« 32 Referate, verteilt auf neuen Bundesländern (KSPW) ein immenses fünf Sektionen: Political Themes (Moderation: empirisches Datenmaterial zusammengetragen Wolfgang Bergern), Cultural Topics (Nancy worden, dies harre jedoch einer tieferen Aus- Lauckner und Christiane Zehl Romero), Review wertung und Interpretation. Der größte Ertrag of GDR and East German Studies (Dieter Se- der Transformationsforschung liege eher in der vin), Social Topics (Gerd Antos), Special Panel retrospektiven Aufarbeitung der DDR als in der on Generation Gap (Rolf Geserick); dazu vier Analyse der Transformation. Theoretische In- Abendveranstaltungen: Lesungen der Schrift- novationen seien mit der Erforschung des »Ex- steller Steffen Mensching und Otto Emersleben, periments Vereinigung« jedenfalls nicht ver- der Film »Sonnenallee«, die Plenardiskussion bunden gewesen, vielmehr sei es zu einer Neu- über (East) German Studies in den USA und für auflage der Modernisierungstheorie gekom- Unentwegte weitere Videos mit ostdeutschen men, deren Unzulänglichkeit für die Untersu- Themen. chung von Transformationsprozessen schon in 809

den siebziger Jahren einer fundamentalen Kritik Sicherheit, höherem kulturellen Gleichstel- unterzogen worden sei. lungsniveau, weiterer Verbreitung von Grund- Der angekündigte Vortrag von Volker Gransow qualifikationen und fortgeschrittener De-Insti- zur bundesdeutschen DDR-Forschung musste tutionalisierung von Ehe und Familie aus. Das leider wegen Verhinderung des Referenten aus- provozierte heftige Kritik: Die Modernisie- fallen. rungstheorie sei zu Recht schon länger in der Versenkung verschwunden; die Auswahl der Transfonnationsprozesse in Ostdeutschland Vergleichsparameter sei problematisch; Moder- nisierung sei im Übrigen ein wertender Begriff, Michael Hofmann (Dresden) gelang in seinem der ein Wertsystem als Folie voraussetze, vor zweiten Vortrag (»Die innere Zweiheit - Ergeb- der ein Zustand bzw. eine Tendenz als mehr nisse und Probleme des deutschen Vereini- oder weniger modern beurteilt werden könne. gungsprozesses vor dem Hintergrund unter- Den gegenwärtigen Zustand der Bundesrepu- schiedlicher sozialer Geschichten und Gesell- blik als Folie zu verwenden, um Modernisie- schaftserfahrungen«) eine sehr kompakte Dar- rungsrückstände oder -Vorsprünge festzustellen, stellung einer komplizierten Materie. Mit der sei schon deshalb problematisch, weil diese »Wende« sei die industrielle Epoche in Ost- Zustände bzw. Trends in der Bundesrepublik deutschland zu Ende gegangen. Die erste Phase selbst - z. T. schon seit vielen Jahren - als der Transformation sei zwar durch hohe Fluk- bedenklich oder gar selbstzerstörerisch kritisiert tuation und Mobilität gekennzeichnet gewesen würden. - trotzdem habe es keine soziale Umwälzung Dörte Stollberg (Southampton / UK) skizzierte gegeben. Grundlegendes werde sich nach Ab- in »The Transformation Process in the City of schluss der ersten Phase nicht ändern: die Insti- Leipzig and its Impact on People’s Perception« tutionen sind gebildet, die Milieus geformt, die die widerspruchsvolle Entwicklung Leipzigs Handlungsräume weitgehend (wieder) ge- nach der Vereinigung: Teilweise gelungene schlossen. Hoffnung gebe es wohl nur als Stadtsanierung, modernisierte Wohnungen und »Selbstveränderung, die sich nicht auf Hilfe von Infrastruktur stünden neben Misslungenem, außen verlässt«. Die Diskussion klärte den Un- etwa der Unterwerfung unter ökonomische terschied zwischen einer politikwissenschaftli- Prioritäten und überbordendem Verkehr. Dieses chen und einer sozialwissenschaftlichen Seh- Bild konfrontierte Stollberg mit umfragege- weise. Was die politischen Machtstrukturen be- stützten Einschätzungen der Bevölkerung zu trifft, hat die DDR eine Revolution erlebt: den bekannten Gebäuden der Stadt, aber auch zu völligen Zusammenbruch der Staats- und Par- ihrer individuellen Situation. Die große Mehr- teimacht samt der sie tragenden Elite. Soziolo- heit findet es - trotz aller Kritik - attraktiver, in gisch blieben die Schichten im Wesentlichen Leipzig bzw. in den »neuen« Bundesländern zu unverändert; die rund 3000 abgestürzten Macht- leben als in den »alten«. haber spielen sozial strukturell keine Rolle. Harald Michel () fragte in seinem Vortrag Rainer Geissler (Siegen) begab sich mit seinem »Die Entwicklung von Familienorientierungen Referat über »Nachholende Modernisierung mit ostdeutscher Jugendlicher seit Anfang der 90er Widersprüchen. Eine Vereinigungsbilanz aus Jahre« nach transformationsbedingten Wand- modernisierungstheoretischer Sicht« auf ver- lungen in Familienbildungsprozessen. Seinen mintes Gelände. »Modernisierungsrückstände« empirischen Befunden zufolge besitzen Partner- im Vergleich zur Bundesrepublik sah Geissler schaft, Familie (nicht Ehe!) und Kinder nach in der früheren übermäßigen Machtkonzentrati- wie vor einen hohen Stellenwert in der Lebens- on, im Mangel an Effizienz und Tertiärisierung planung Jugendlicher. In der zeitlichen Einord- (zu wenig Mittelstand, zu wenig Dienstleistun- nung der Erstelternschaft sei eine - wenn auch gen), in übermäßiger Nivellierung und relativer nicht durchgängige - allmähliche Anpassung an sozialer Erstarrung, im Abwanderungsdruck, in das westdeutsche Muster zu beobachten. niedrigerer Lebenserwartung und höherer eth- Nach Rosalind Pritchard(Ulster/ UK) (»ChiId- nischer Homogenität. »Modernisierungsvor- care before and after Unification: Social Impli- sprünge« machte er in einem Mehr an sozialer cations«) ermöglichten stark subventionierte 810

und überall verfügbare Kinderkrippen den sche Logik. In der Gegenwart habe sie aber DDR-Frauen eine außerordentlich hohe Be- wohl »ihren Zenit erreicht«. schäftigungsquote. Weil nach der »Wende« Asta Heller (Pleasantville, N.Y. / USA) machte sehr viele Frauen arbeitslos wurden und ihre mit dem unerwarteten Phänomen vertraut, dass Kinder zu Hause behielten, zumal die staatli- insbesondere russische Juden in größerer Zahl chen Subventionen stark gekürzt und viele (z. Zt. etwa 100 000) nach Deutschland übersie- Krippen geschlossen wurden, verloren auch vie- delten oder übersiedeln wollen (»Heimkehr le Erzieherinnen ihren Job. Inzwischen wurde oder Immigration? Integration jüdischer Famili- aber im vereinigten Deutschland das Recht je- en aus Russland in den Neuen Bundesländern«), der Mutter auf einen Kindergartenplatz aner- Gründe für die starke Präferenz von Deutsch- kannt und gesetzlich geregelt. Die Chancen auf land seien vor allem die geographische und Vereinbarkeit von Beruf und Kindern sind ge- kulturelle Nähe, die Immigrationsrestriktionen wachsen. In dieser Hinsicht gebe es, so das in den USA und die Erwartung eines angst- Resümee, eine Konvergenz: West hat von Ost freien Lebens mit der Aussicht auf Berufs- gelernt. möglichkeiten. Bildung. Religionsfreiheit und Wolfgang Bergern (Wuppertal) fragte nach »In- soziale Sicherheit. Die jüdischen Gemeinden stitutionellem Transfer, politischer Akkulturati- in Deutschland, deren Struktur sich durch on und systemischer Transformation im verei- den Zuzug der (meist areligiösen) neuen Mit- nigten Deutschland«. Er kam zu dem Befund, glieder zunehmend wandele, aber auch die dass der Wandel im Westen in den neunziger deutsche Gesellschaft allgemein stünden mit Jahren deutlicher ausgefallen sei als in den Jahr- dieser Zuwanderung vor ganz speziellen Auf- zehnten zuvor, es jedoch erstmals Furcht vor gaben. dem Wandel gegeben habe. Die westdeutsche Anthony Glees (Brunei / UK) (»The Kritik an der ostdeutschen »Ostalgie« finde in State«) und Brian Plane (North Carolina) dieser Form von «Westalgie« ihre ironische (»Computopia - Robert Havemann and the Pointe. Battle over Cybernetics at Humboldt Universi- Dieter Rink (Leipzig) spannte in seinem Vortrag ty«) überraschten mit wenig bekannten Details: »Die Umweltbewegung in Ostdeutschland - ersterer zu den Maßnahmen der Staatssicherheit von der Opposition zu einer neuen Lebensre- gegen oppositionelle Bürger und zur Rolle des form-Bewegung?« einen Bogen von der Oppo- Secret Service bei der Unterstützung solcher sition in der DDR über die Bürgerbewegungen Gruppen, letzterer zur Verwicklung des späte- der »Wende«-Zeit zu den sozialen Bewegungen ren Dissidenten in die DDR-interne Debatte um der neunziger Jahre. Der Mobilisierungszyklus die Rolle der Kybernetik für das von Ulbricht dieser Bewegungen sei infolge der Verschie- zeitweise propagierte »Neue Ökonomische Sys- bung gesellschaftspolitischer Konfliktlinien tem der Planung und Leitung« (NÖSPL). ausgelaufen und in lebensreformerischen Be- strebungen gemündet. Iden titcit. Biog raphien Lothar Probst (Bremen) verortete »Die Stellung der PDS im deutschen Parteiensystem« als ost- und kollektives Gedächtnis deutsche Milieupartei mit fester Verankerung auf kommunaler Ebene, deren Streben nach Petra Drauschke (Göttingen) gründete ihr Refe- bundesdeutscher Ausbreitung vorerst geschei- rat »Ostdeutsche Identität im Arbeitermilieu tert sei. Im nunmehrigen deutschen Fünfpartei- Eisenhüttenstadts - ein Vergleich zwischen ensystem spiele sie die Rolle einer Außenseiter- Großeltern- und Enkelgeneration« auf zwei aus- partei. Probst würdigte die Rolle der PDS als führliche Interviews, wobei sich die Biographie Vertreterin ostdeutscher Interessen im Vereini- des Großvaters in der Selbstdarstellung (als ein gungsprozess. Sie habe außerdem das Defizit an meist »zwischen den Stühlen« sitzender Milieu- Identifikationen für Ostbürger kanalisiert und aufsteiger) als ergiebig und in ihren mehrfachen absorbiert und dadurch weiterhin Chancen als Brüchen als typisch für die Nachkriegsgenerati- Anwalt traditioneller Lebenswelten und Oppo- on (nicht nur in der DDR!) erwies. nent gegen die Unterwerfung unter ökonomi- Auch Felizitas Sagebiel (Wuppertal) stützte ihre 811

Untersuchung zu »Gender and Generation - Nazizeit - neben zahlreichen anderen, die einen Differenzen zwischen ostdeutschen Frauen« auf Abriss weit eher verdient hätten - bestehen Interviews, hier von 18 Frauen der Altersklas- bleiben? sen 30 bis 40, 41 bis 50 und 51 bis 60 Jahre, und Thomas W. Neumann (Hagen) ging der Frage zwar im Hinblick auf die Frage, wie sich der nach, ob es ein kollektives Gedächtnis in der gesellschaftliche Nach-»Wende«-Wandel in ih- ostdeutschen Bevölkerung im Hinblick auf die ren »nahen Netzwerkbeziehungen« auf ihre Be- DDR-Vergangenheit schon gebe und was seine urteilung dieser Zeit als Gewinn oder Verlust Herausbildung beeinflusse (»Erfahrung, Erin- oder beides auswirke. Das sei, so ihr Resümee, nerung, Weitergabe: Unterschiedliche Elemen- nicht nur eine Frage der Generation; sondern te eines entstehenden kollektiven Gedächtnis- auch der Internalisierung früherer systembe- ses«), Bisher, so seine These, gebe es noch sehr dingter Werte, früherer Erfolgsgeschichten, also unterschiedliche Bilder, je nachdem, in welcher inwieweit die Frauen als »staatsfern« oder Nähe jemand zum System gestanden habe. Die »staatsnah« einzuordnen seien. Zumutungen des Systems und die z.T. positiven Charlotte Kahn (New York) diskutierte als Psy- Erfahrungswerte des alltäglichen Umgangs chotherapeutin (»Ja, wir sind das Volk. Aber würden sehr unterschiedlich erinnert. Der Blick sind wir auch ein Volk? Drei Generationen von außen berücksichtige diese positiven All- erzählen«) auf der Basis mehrerer Interviews tagserfahrungen nur unzureichend. Deshalb Probleme des inneren Zusammenwachsens, die gebe es nicht nur große Differenzen zwischen je nach Generation sehr unterschiedlich seien. Ost und West, sondern auch bei der Weitergabe Während die Jüngeren Deutschland schon als der Erinnerungen an die junge Generation. In einen von mehreren Staaten in einem vereinig- mancher Hinsicht - auch in Bezug auf gewisse ten Europa begreifen, habe die ältere und mitt- Blockaden - gebe es Ähnlichkeiten mit der lere Generation - verletzt und verunsichert Situation nach 1945. durch massive Wandlungen in ihrem Umfeld ln zumindest einer Hinsicht ging der Beitrag und systembedingt wenig trainiert für den Um- von Mike Dennis (Wolverhampton / UK) über gang mit Stress - rigide Denkweisen entwickelt. »Ostidentität - Nostalgia or Reality?« in eine Die »Mauer im Kopf« bestehe allerdings auf ähnliche Richtung. Er hob hervor, dass sich die beiden Seiten: Ost- und Westdeutsche hätten »je Konstruktion einer Ostidentität eher aus den ihre eigenen, nicht anerkannten Tendenzen auf situativen Bedingungen der Transformation und die >anderen< projiziert und auf dieses Bild, von der Abwehr neuer Verhaltenszumutungen her- der Magischen Mauer reflektiert, reagiert«. leite und in sich keineswegs homogen bzw. Manche Verkrampfungen ließen sich durch ge- abgeschlossen sei. meinsame Therapiegruppen lockern. Dauerhaf- te Abhilfe könne geschaffen werden, wenn sich Literatur, Kultur, Medien, Sprache Ost- und Westdeutsche auf gemeinsame Ziele einigten. Cheryl Dueck (Brunswick / Canada) interpre- Andreas Glaeser (Chicago) (»The , Palace of the tierte in ihrem Referat »>Your Passport is not Republic1 and the Politics of Memory in Germa- guilty< -The Urban(e) and German(e) Poetry of ny«) griff ein vor allem in Berlin heiß diskutier- Brigitte Oleschinski« den gleichnamigen Ge- tes Thema auf: den besonders von West-Berli- dichtband der Dichterin (und Historikerin), des- nern geforderten, von Ost-Berlinern meist abge- sen Titel sich die deutsche Scheinentsprechung lehnten Abriss des Palastes der Republik und guilty/gültig zu Nutze macht: Der Satz »Ihr Pass die Wiedererrichtung des Stadtschlosses der ist unschuldig« verbinde und trenne Nationalität Hohenzollern. In einem historisch weit ge- und Schuld. Oleschinskis Gedichte seien von spannten Rahmen skizzierte er Architektur als einer spezifisch deutschen Spannung unterlegt; Identifikationssymbol: Wofür stehen die beiden speziell der zitierte Satz könne »als ein unbeab- Gebäude, inwiefern und warum wird ostdeut- sichtigt ironischer Kern Hoffnung verstanden sche, speziell Ost-Berliner Identität am Palast werden, der aus der städtischen Wildnis festgemacht, warum können West-Berliner dem wächst«. nicht folgen, während z.B. Gebäude aus der Sabine Egger (Limerick / Irland) griff in ihrem 812

nicht leicht zugänglichen Referat »Geschichte Kampfwort; der Aufbau falscher Oppositionen, als Mythos - Der Einfluss Johannes Brobowskis z. B. Unterhaltungsbedürfnis vs. elitärer Kunst- auf die DDR-Lyrik« mehrere Gedichte Brobow- anspruch, Minderheits- vs. Mehrheitsliteratur; skis auf und zeichnete seine Spuren in Texten die Verfälschung der Literaturgeschichte: Be- von Günter Kunert und Sarah Kirsch nach: Das stimmte Gruppen von Werken würden ver- lyrische Ich wird hier von der Erinnerung an schwiegen, um die Behauptung, engagierte Li- verdeckte, verwehte Verbrechen an den Juden teratur gebe es nicht (mehr), stimmig zu halten; ergriffen und verwandelt sie sich in einer my- die Vermischung von Politischem und Literari- thisch beängstigenden Natur an. schem unter dem Vorwand der Entmischung. Joanne McNally (Potsdam) (»East German Ca- Die literarische Praxis bestätige dies jedoch baret: Shifting Boundaries«) ging der paradoxen nicht: »Das Erzählen (. . .) ist immer auch Stel- Situation nach, dass das (Ost-)Berliner Kabarett lungnahme, also politisch. (. . .) Das muß in «Distel« anlässlich seines 50-jährigen Beste- einer Zeit, in der absichtslose Literatur gefor- hens als »das überlebt habende Kabarett eines dert wird, in der Autoren auf Einmischung ver- untergegangenen Staates« Texte der West-Ber- zichten und bereitwillig die Folgenlosigkeit ih- liner »Insulaner« - ein »untergegangenes Kaba- res Schreibens beteuern, hervorgehoben wer- rett des überlebt habenden Staates« - wiederbe- den. « lebt hat. Gerd Antos (Halle) untersuchte den (meist von Birgit Dahlke (Berlin) beschrieb in »Milchmäd- westdeutschen Beobachtern erhobenen) Vor- chens langer Weg in die Konterprovokation - wurf, ostdeutsche Gesprächspartner reagierten Berliner Zeitschriften und Verlage der >Szene< im Kontakt mit anderen in bestimmten Situatio- nach 1989« das Schicksal mehrerer Kultur- und nen mit Sprachlosigkeit (»>Sprachlosigkeit< Literaturzeitschriften und ihrer Verlage, die Ost? Anmerkungen aus linguistischer Sicht«), nach der »Wende« von Angehörigen der Prenz- Ursache sei u.a. der Umstand, dass der gemein- lauer-Berg-Szene gegründet wurden. Einige same Besitz der gleichen Sprache auch einen wurden eingestellt (»Sondeur«, »Galrev«, gemeinsamen Besitz gleicher kommunikativer »Sklaven«), andere sind etabliert (»Herzattak- Muster suggeriere, dass Ost- und Westdeutsche ke«, »Entwerter/Oder«) oder wurden neu- oder tatsächlich aber - auf Grund unterschiedlicher umgegründet (»Gegner«, der Verlag »Kon- Sozialisierung - über unterschiedliches kom- text«), Nicht nur äußere Gründe (Marktbedin- munikatives Grundwissen verfügten, darunter gungen) haben das Schicksal bestimmt, sondern auch über den angemessenen kommunikativen auch innere Spannungen. z.B. die Entlarvung Gebrauch des Schweigens. Die so genannte einiger Szene-Mitglieder als Stasi-Spitzel. Sprachlosigkeit sei nicht Ergebnis einer Analy- Helmut Peitsch (Cardiff / UK) rekonstruierte se, sondern Konstrukt der Medien und der Ak- »Strategien der Entlegitimierung in Literatur teure im Alltag. und Literaturwissenschaft« als »Vereinigungs- Rolf Geserick (Osnabrück) gab einen thesenar- folgen« vorwiegend am Beispiel der westdeut- tigen, kritischen Rückblick auf die bundesdeut- schen Literaturkritik: Sie sei sich weitgehend sche Medienforschung über die DDR: »Analyse darin einig, dass »engagierte Literatur«, die in befriedigend - Prognose mangelhaft«. Zwar den fünfziger und sechziger Jahren dominiert habe die westdeutsche Medienforschung die habe, »tot« sei, ja eigentlich nicht einmal »rich- Medienstrukturen und -inhalte angemessen ana- tige« Literatur sei. Engagement werde aus dem lysiert, aber meist am Beispiel der offiziellen Literaturbegriff ausgeschlossen, zumindest de- Organe wie »Neues Deutschland«, »Aktuelle legitimiert. Dahinter stünden »mächtige Inter- Kamera« und »Schwarzer Kanal«; andere viel essen«, so vor allem das Interesse - wie Karl gelesene Medien blieben unbeachtet. Im Blick- Heinz Bohrer als einer der wichtigsten Protago- punkt habe die marxistisch-leninistische Presse- nisten dies offen formulierte - an »Begrenzung theorie gestanden und die Folgen ihrer Durch- möglicher verheerender Folgen« der Vereini- setzung, vergleichende Medienforschung sei gung. Letzten Endes gehe es um die »Deutungs- dagegen selten. Insbesondere habe die west- macht« des westdeutschen Feuilletons. Vier deutsche Medienforschung es versäumt, die Strategien machte der Referent aus: die erfolg- Rolle der Medien im Alltag der DDR zu beach- reiche Propagierung des Schlagworts (»morali- ten; sie sei auf die Bedürfnisse der Bevölkerung sierende«) »Gesinnungsästhetik« als negatives nach der »Wende« nicht vorbereitet gewesen 813 und habe weder dafür noch für die rechtliche Diese Frage tauchte schon Anfang der neunzi- und ökonomische Gestaltung der Medienland- ger Jahre auf und wurde im letzten Jahr drän- schaft ein schlüssiges Konzept entwickelt. gend gestellt. Personell muss sie wohl mit Nein Manfred W. Hellmann (Mannheim) machte die beantwortet werden. Aber auch inhaltlich-the- westdeutsche Sicht auf die DDR zum Gegen- matisch sind Zweifel angebracht. Nicht dass stand der Reflexion (»Einstellungen und Urteile sich ostdeutsche Themen erledigt hätten; die der Westdeutschen zu Sprache und Sprachge- Frage ist, welche Probleme wirklich genuin ost- brauch in der DDR bzw. Ostdeutschland - deutsche sind. Sind Deindustrialisierung und Rückblick auf 50 Jahre westdeutsche Attitü- Arbeitslosigkeit, Wertewandel und Milieuver- den«). Er bündelte diese westdeutschen Sichten änderungen, Orientierungs- und Identitätsverlus- zu zwölf Attitüden - von der »Attitüde des te. Kommunikationsprobleme tatsächlich spezi- Sprachkriegs oder: >Die Kommunisten wollen fische Probleme der ostdeutschen Gesellschaft? unsere Sprache Zerstörern« bis zur vorläufig Oder sind sie in Ostdeutschland nur stärker letzten »Attitüde der verärgerten Abwendung spürbar? In der Tat wurden auf Grund fehlender oder: >Lasst uns zur Tagesordnung überge- Vergleiche mit westdeutschen oder europäi- hen<«. Trotz spürbar »west-kritischer« Tendenz schen Entwicklungen wiederholt Defizite er- versuchte er, in jeder Attitüde auch das jeweils kennbar. Das Ausland nimmt deutsche Proble- Produktive, Weiterführende zu zeigen, mit Be- me ohnehin stärker im europäischen Kontext zug auf die Nach-»Wende«-Zeit auch das ge- wahr. Erwogen wurde, ähnliche Tagungen mit genseitige »Aufschaukeln« negativer Einstel- neuer Zielsetzung auf deutschem Boden neu zu lungen, die sich - abgekoppelt von persönlichen etablieren, z. B. im Blick auf die kommende Erfahrungen - zu Feindbildern verfestigten. engere Einbindung südost- und ostmitteleuro- Ganz zum Schluss und doppelt retrospektiv päischer Länder in Europa und seine Institutio- nahm Patty Parmalee () mit nen. Irena Szlachcic (Wroclaw) hat in ihrem ihrem Vortrag »What was Socialism?« eines der Referat »The Polish-German Borderland - The Ursprungsmotive Conways auf. Sie gab ein lei- Culture Impact« auf solche Beziehungen hinge- denschaftliches Plädoyer für eine Analyse des wiesen. Ob sich dabei auch das unverwechsel- Sozialismus ab, um aus diesem Experiment bare Diskussionsklima Conways verpflanzen Lehren ziehen zu können und die harte Arbeit ließe, ist jedoch fraglich. und das Leiden von Millionen zu würdigen. Als Auch wenn nun erst einmal Schluss ist - viel- zentrale Frage formulierte sie, ob man eine leicht trifft man sich ja in einigen Jahren wieder Utopie demokratisch verwirklichen könne. in Conway, sei es, um den Stand der Transfor- Während dies auf der Ebene von Arbeitskollek- mation neu zu bilanzieren, oder um die Ergeb- tiven häufig Wirklichkeit gewesen sei, gebe es nisse zur DDR- und Vereinigungsforschung zu keine analogen Beispiele für die Makroebene sichten, die Fragen nach sprachlichen oder lite- der Gesellschaft. rarischen Spuren der Vereinigung neu zu stel- len, oder auch, um aus größerem historischen Ausblick Abstand das Experiment Sozialismus auf deut- schem Boden als Teil gemeinsamer deutscher Haben die Conway-Symposien eine Zukunft? Geschichte neu zu diskutieren.