______

2

“SWR 2 Musikstunde, 21. November 2012

"Mein Herz ist zerrissen" – Musik aus Momenten tiefster Trauer (3)

Der Dichter Friedrich Rückert verliert innerhalb von drei Wochen auf leidvolle Weise seine beiden jüngsten Kinder an Scharlach. Die vierjährige Tochter Luise haucht an Silvester 1833 ihr Leben aus. Seinem Vater teilt Rückert nach dem Tod der Tochter die inständige Bitte mit: „Gott verschone uns mit mehr Leid“ – mitnichten. Zwei Wochen später stirbt auch der Sohn Ernst, mit nur fünf Jahren.

Rückert dichtet:

„Über alle Gräber wächst zuletzt das Gras / alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist das / wohl der schlechteste, den man dir kann erteilen / Armes Herz, du willst nicht, dass die Wunden heilen / Etwas hast du, solang es schmerzlich brennt / Das verschmerzte nur ist todt und abgetrennt.“ (0’45)

Musik 1 ; Nachtwache bearbeitet für 2 Violinen, 2 Violen und 2 Violoncelli Wiener Streichsextett

M0016042 009 2‘50

2

3

„Nachtwache“, ein Rückert- von Johannes Brahms, das Wiener Streichsextett spielte diese Bearbeitung.

Um geht heute in der SWR 2 Musikstunde.

Friedrich Rückert hat über 400 Klagelieder nach dem Tod seiner beiden jüngsten Kinder geschrieben, Verse, die in unerschöpflichen Variationen um den Verlust kreisen, die klagen, weinen, zweifeln, die nach Erklärung suchen, die aber auch trösten, Rückert selbst nennt sie Trostlieder.

Nach diesem gewaltigen Schicksalsschlag zieht sich Rückert monatelang aus der Öffentlichkeit zurück, vergräbt sich in seinem Zimmer, dichtet bis zu vier Kindertotenlieder am Tag, er verarbeitet die bittersten Momente eines Lebens.

An einen Freund schreibt Rückert zehn Monate nach dem tragischen Unglück. „Inzwischen ist es mir hier heidenschlecht ergangen. Ich habe um die vorige Jahreswende meine zwei liebsten und schönsten, jüngsten Kinder, Mädchen, das einzige und Knäbchen von 4 und 6 Jahren am Scharlachfieber verloren und nichts zum Troste dafür als eine unsägliche Masse von Todtenliedern.“

Rückert zögert, ob er die Lieder veröffentlichen soll. Sie sind aus dem Herzen entstanden. Er will damit keine Lorbeeren ernten, sondern bestenfalls Tränen erhoffen. Doch vielleicht wird ihm das Weiterleben seiner Kinder in fremden Munde Trost spenden, so glaubt Rückert in seinem Widmungssonett zur ersten Ausgabe von 5 Liedern im Jahr 1835.

3

4

Zwölf weitere folgen wenige Jahre später im Deutschen Musen- almanach, erstmals unter dem Titel Kindertotenlieder. Die übrigen Lieder hat Rückerts Sohn Heinrich erst nach dem Tod des Vaters veröffentlicht. Bisher sind 446 Gedichte aus der Sammlung Kindertotenlieder bekannt. Der Schriftsteller und Historiker Hans Wollschläger bezeichnet sie in der neusten kritischen Ausgabe als größte Totenklagen der Weltliteratur, als eine Verlustmeldung und Todesanzeige von gewaltiger Dimension.

„In fremden Munde“ sind bis heute vor allem fünf dieser Kindertotenlieder geblieben durch die Vertonung von Gustav . (2’20)

Musik 2 : „Wenn dein Mütterlein“ und

M0011215 003 4‘32

Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein“ - Christian Gerhaher und Gerold Huber mit diesem Kindertotenlied von Gustav Mahler.

Durch ihn, durch Gustav Mahler gelangen Rückerts Kindertotenlieder zu Ruhm und Verbreitung. Diesen Trost erleben Friedrich und Luise Rückert nicht mehr. Längst sind sie ihnen gefolgt, ihren Kindern, wie Rückert es in seinen Liedern dichtet: „Sie sind uns nur vorausgegangen / Und werden nicht hier nach Haus verlangen / Wir holen sie ein auf jenen Höhn / Im Sonnenschein, der Tag ist schön“.

Den Sonnenschein glaubt Rückert erst im Jenseits wiederzufinden. Als gläubiger, aber auch resignierender Mensch legt er sein Schicksal in Gottes Hand. Die Schläge seines Herzens sind nunmehr ein Puls des Schmerzens, den Kampf hat er aufgegeben, so beschreibt er es in

4

5

seinem Gedicht „Mitternacht“, das ebenfalls Gustav Mahler vertont hat. Hab' ich die Macht / In deine Hand gegeben: / Herr über Tod und Leben,/ Du hältst die Wacht / Um Mitternacht. (1’05)

Musik 3 Gustav Mahler: „Um Mitternacht“, Christa Ludwig, Berliner Philharmoniker / Herbert von Karajan

M0019100 009 5‘57

„Um Mitternacht“, Lied von Gustav Mahler nach Friedrich Rückert, aus tiefstem Herzen gesungen von Christa Ludwig. Herbert von Karajan leitete die Berliner Philharmoniker.

Gustav Mahler ist knapp 42 Jahre alt, als er die auffallend schöne und exaltierte Alma Schindler heiratet, eine gerade mal 20-jährige, junge, belesene, Kultur interessierte Frau, die schon manch einem Künstler den Kopf verdreht hat. Knapp neun Monate später, wird die Tochter Maria Anna geboren, anderthalb Jahre darauf die zweite Tochter Anna Justine.

Mahler ist vernarrt in seine beiden Kinder, vor allem die Älteste „Putzi“, herzt und liebkost der Vater nur zu gern. Während der Sommerferien am Wörthersee tanzt, scherzt und spielt er mit seinen Kindern ausgelassen herum.

Mitten in dieser unbeschwerten, glücklichen Zeit komponiert Mahler seine Kindertotenlieder. Wie passt das zusammen. versteht ihren Mann nicht:

5

6

„Ich kann es wohl begreifen, wenn man so furchtbare Texte komponiert, wenn man keine Kinder hat oder wenn man Kinder verloren hat. Schließlich hat auch Friedrich Rückert diese erschütternden Verse nicht fantasiert, sondern nach dem grausamsten Verlust seines Lebens niedergeschrieben. Ich kann es aber nicht verstehen, dass man den Tod von Kindern besingen kann, wenn man sie eine halbe Stunde vorher, heiter und gesund geherzt und geküsst hat. Ich habe damals sofort gesagt, „Um Gottes Willen, du malst den Teufel an die Wand!“-

Alma Mahler kann die inneren Beweggründe ihres Mannes nicht nachvollziehen. Tatsächlich verlebt die Familie Mahler im Sommer 1904 in Maiernigg ihre glücklichsten Wochen.

Mahler nimmt diese Diskrepanz nicht als lähmend wahr, sie spielt für ihn beim Komponieren keine Rolle, er ist in seiner Kunstwelt, er ist von den Texten Rückerts gefangen genommen, spürt den Drang, diese Kindertotenlieder vertonen zu müssen, unabhängig von seinen Lebensumständen. Ob seine eigene Kindheitsgeschichte mithineinreicht, dass sechs seiner 11 Geschwister im Kindesalter gestorben sind, dass sich sein ältester Bruder das Leben genommen hat, wir wissen es nicht.

Zur selben Zeit der Kindertotenlieder arbeitet Mahler auch an seiner 6. Sinfonie, mit dem schwungvollen Alma Thema im ersten Satz und den spielenden Kindern im 3. Satz, zumindest hat es uns Alma Mahler so überliefert. Sie schreibt: „Im 3. Satz schildert er das arhythmische Spielen der beiden Kinder, die torkelnd durch den Sand laufen.“ Beklemmend ist der Ausgang des Satzes, nochmals Alma Mahler: „Schauerlich, diese Kinderstimmen werden immer tragischer und zum Schluss wimmert ein verlöschendes Stimmchen“.

6

7

(Musik schon unterlegen) (2’45)

Musik 4 Gustav Mahler: 6. Sinfonie, 3. Satz Königliches Concertgebouw Orchester / Riccardo Chailly

M0028062 009 5‘32

Das Königliche Concertgebouw Orchester unter der Leitung von Riccardo Chailly mit dem Ausklang des 3. Satzes der 6. Sinfonie von Gustav Mahler.

Alma Mahlers Ausführungen zu dieser Sinfonie haben dazu beigetragen, dass die 6. gern als prophetisch bezeichnet wird, in der Mahler den Tod seines Kindes, das Scheitern an der Wiener Hofoper sowie sein eigenes Herzleiden vorwegnahm. Mahler selbst soll den Inhalt der Sinfonie folgendermaßen beschrieben haben „Der Held, der drei Schicksalsschläge bekommt. Von denen ihn der 3. fällt, wie ein Baum“.

Dunkle Vorausahnungen? 1907 gibt Mahler nach leidigen Querelen und Anfeindungen seine Stellung als Hofoperndirektor auf, während der Sommerferien in Maiernigg erkrankt die älteste Tochter an Scharlach und Diphterie, hoffnungslos. Maria Anna stirbt - noch nicht einmal 5 Jahre alt - am 12. Juli 1907. Beide Eltern stürzen in eine tiefe Depression. Alma leidet an Herzkrämpfen und muss ärztlich behandelt werden und auch Gustav lässt sich untersuchen. Dabei diagnostiziert der Arzt einen doppelseitigen angeborenen Herzklappenfehler.

Fluchtartig verlassen die Mahlers die Ferienvilla in Maiernigg. Mahler ist wie ausgebremst, wagt keine Anstrengung mehr, kein Radfahren, kein Bergsteigen, am liebsten liest er in der Gedichtsammlung „Die

7

8

chinesische Nachtigall“. Darin das Trinklied vom Jammer der Erde mit dem wiederkehrenden Reim. „Dunkel ist das Leben, ist der Tod.“

Ist es ein Requiem für seine Tochter? Tragen all seine letzten Werke, , die neunte und unvollendete 10. Sinfonie diese tiefe Erschütterung in sich? Mahler quält sich mit seinen letzten Werken, von denen er keines mehr zur Uraufführung bringt.

Den Tod vor Augen wünscht sich Mahler am Ende nichts sehnlicher als neben seiner Tochter auf dem Dorffriedhof von Grinzing beerdigt zu werden, dieser Wunsch wird ihm erfüllt. (2’10)

Musik 5 Gustav Mahler: Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen Cornelia Kallisch SWR SO / Michael Gielen M0004868 004 3‘22

„Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen“ – Kindertotenlied von Gustav Mahler mit Cornelia Kallisch und dem SWR Sinfonieorchester unter der Leitung von Michael Gielen.

1907 verliert Alma Mahler ihre älteste Tochter, 1911 ihren Mann Gustav Mahler, derweil hat sie bereits ein Verhältnis mit dem vier Jahre jüngeren Architekten . Der Todestag Mahlers ist zugleich der 28. Geburtstag von Gropius, für Alma ein zukunftsweisendes Zeichen, vier Jahre später heiratet sie Gropius. Die beiden bekommen ein Kind, Manon. Nach kurzer Zeit scheitert die Ehe.

8

9

Manon Gropius wächst - mit ihrer Halbschwester - bei der Mutter auf, Walter Gropius darf sein Kind nur selten sehen. Alma lebt inzwischen mit dem Schriftsteller zusammen.

Während einer Italienreise erkrankt die 17-jährige an Kinderlähmung, ist bald an den Rollstuhl gefesselt, wird von zahlreichen Ärzten behandelt. Sie erträgt ihr Schicksal mit großer Geduld.

Von Almas absurden Aktivitäten Manon im Rollstuhl noch zu verloben, um sie dadurch gesunden zu sehen, wollen wir hier nicht weiter sprechen.

Manon Gropius stirbt am Ostermontag des Jahres 1935. Die Beerdigung findet ohne den Vater statt. Alma macht keinen Hehl daraus, dass Manon ihr liebstes Kind war. „Das Furchtbare ist geschehen, heute ist mir mein schönstes, holdseligstes Kind entrissen worden“. Ganz Wien nimmt Anteil an dem Trauerzug. Alma meint „Sie wurde wie eine Königin beerdigt, denn als eine solche hat sie ja auch gelebt“.

Alban Berg widmet Manon ein Violinkonzert, darin setzt er „Wesenszüge des jungen Mädchens in musikalische Charaktere um“. Es ist sein berühmtestes Werk und zugleich sein eigenes Requiem, vier Monate nach seinem Tod wird es in Barcelona uraufgeführt. „Dem Andenken eines Engels“ lautet der Untertitel – der 2. Satz beschreibt den Todeskampf und die endgültige Erlösung im Zitat des Bach-Chorals „Es ist genug“,. in sphärischer Verklärung endet das Werk. Den Text des Chorals fügt Berg der Partitur bei: Es ist genug / Herr, wenn es dir gefällt / so spanne mich doch aus! / Mein Jesu kommt: / nun gute Nacht, o Welt! / Ich fahr in’s Himmelhaus / Ich fahre sicher hin mit Frieden / mein großer Jammer bleibt darnieden / Es

9

10

ist genug. (2’40)

Musik 6 : Finale Violinkonzert, Isabelle Faust, Orchestra Mozart / Claudio Abbado M0304352 002 7‘32

Isabelle Faust war die Solistin im Finale des Violinkonzerts von Alban Berg, Manon Gropius gewidmet „Dem Andenken eines Engels“.

Alban Berg hat der zarten, lichten jungen Frau, Manon Gropius einen musikalischen Nekrolog geschrieben, der Schriftsteller Franz Werfel, der dritte Mann Alma Mahlers, hat die Trauer um seine Stieftochter Manon mehrfach literarisch geäußert, in seinem Roman „Der veruntreute Himmel“ oder in der autobiographischen Erzählung „Manon“, in der er schreibt:

„Ich war nicht Manons Vater. Und doch, Manon war mein Kind“ – Werfel charakterisiert darin das Mädchen, schildert Episoden aus seinem Leben, wie Manon in einer von Werfel erarbeiteten Kinderaufführung von Verdis „Macht des Schicksals“ zur Begeisterung der Eltern mit Talent Theater spielte, wie dann einige Jahre später die Familie auf ihrer Reise nach Venedig selbst von der Macht des Schicksals ereilt wurde. Er erzählt wie Manon an Kinderlähmung erkrankt, wie sie zum Engel Alban Bergs wurde. Werfel schreibt:

„Die überzarte Mädchengestalt saß wie immer in einem tiefen Fauteuil. Das in der Mitte gescheitelte schwarze Haar fiel über die schmalen

10

11

Schultern. Die langen Hände ruhten im Schoß. Über den Knien lag eine schöne Decke, so dass man die Beine nicht sehen konnte“. und Werfel fragt: „Warum hatte die kleine schuldlose Manon mit ihren 18 Jahren so viel mehr zu leiden als andere Menschen. Es war der strahlendste Ostermontag, an dem sie endlich erlöst wurde.“ (1’35)

Musik 7 G. Verdi: Ouvertüre zur Oper „Die Macht des Schicksals“ New Philharmonia Orchestra / M0037856 034 7‘05

Ouvertüre zu Verdis Oper „Die Macht des Schicksals“. Riccardo Muti leitete das New Philharmonia Orchestra. „Es war einer jener Tode, angesichts derer der gläubigste Mensch, daran zweifeln muss, dass die Güte eine Eigenschaft Gottes sei“, – notiert Franz Werfel nach dem Tod von Manon Gropius.

Sie alle, Franz Werfel, Alban Berg, der Vater Walter Gropius, die Mutter Alma Mahler-Werfel, sie trauern um die junge Manon Gropius. Zu einer Aussöhnung zwischen Walter Gropius und Alma Mahler-Werfel kommt es nicht mehr, im Gegenteil, in ihren Memoiren zeichnet Alma von Walter seiner Ansicht nach ein verfälschtes Bild, zieht ihre Liebesbeziehung in den Dreck, das hat ihn tief beleidigt. Für seine eigene Beerdigung lässt Walter Gropius anordnen: „Tragt kein Zeichen der Trauer. Es wäre schön, wenn alle meine Freunde aus Gegenwart und Vergangenheit nach einem Weilchen zu einem Fest zusammenkommen würden à la Bauhaus, und tränken, lachten, sich liebten. Dann werde ich bestimmt dabei sein, mehr als im Leben. Es ist fruchtbarer als die Friedhofs- kapelle. Die Liebe ist das Wesen aller Dinge“ – Walter Gropius mit Blick auf seine eigene Trauerfeier. Wechselnde Perspektiven.

11

12

Zum Schluss ein Lied aus der Sicht einer jungen Verstorbenen. Friedrich Hollaender hat dieses tragisch-komische Chanson als Teil der Lieder eines armen Mädchens geschrieben. „Wenn ich mal tot bin“. (1’30)

Musik 8 Friedrich Hollaender: „Wenn ich mal tot bin“ Annett Kuhr, Gesang und Gitarre Radiomax LC 13495 AK 0602 2‘50

12