1. Die Tageszeitung der deutschen Emigration in Frankreich

1.1. Zum Verhältnis von Presse und Öffentlichkeit in der Weimarer Republik

Wir leben in einer Zeit, die so eminent mit Politik erfüllt ist, dass ihre Auswirkungen sich für jeden Menschen spürbar machen und ihn zu einer Stellungnahme zwingen. [...] Der Kampf um die politische Umgestaltung hat dazu geführt, dass gewisse Grundrechte des deutschen Volkes in Frage gestellt, wenn nicht schon nahezu beseitigt sind. Es handelt sich um Grund- rechte, für die die besten demokratischen Kräfte gerade des deutschen Bürgertums schon vor hundert Jahren kämpfend eingetreten sind. Diese Grundrechte sind: Pressefreiheit Versammlungsfreiheit Rede- und Lehrfreiheit'

So lautete ein Aufruf von Albert Einstein, Heinrich Mann und Rudolf Olden, dem nach Schätzungen der preussischen Polizei rund 500 Personen gefolgt waren, um sich am 19.2.1933 in der Berliner Krolloper zum Kongress Das Freie Wort zu versammeln. Präsent waren u. a. Mitglieder der Deutschen Liga für Menschen- rechte und des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, Revolutionäre Pazifisten, Freidenker und Freiberufler (Juristen, Journalisten, Künstler) nebst zahlreichen organisierten Sozialdemokraten und Sozialisten (Kommunisten, wiewohl am Zustandekommen des Kongresses beteiligt, traten nicht öffentlich in Erschei- nung2). Einmütig forderten die Versammelten die Einhaltung der verfassungs- mässigen demokratischen Grundrechte. Doch der vorzeitige Abbruch des Kon- gresses durch die preussische Polizei war der schlagende Beweis dafür, wie es um diese Rechte bereits bestellt war. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 markierte den Be- ginn der systematischen Ausschaltung der parlamentarischen wie der ausserparla- mentarischen Opposition und der Unterordnung aller öffentlichen und privaten Lebensbereiche unter die nationalsozialistische Ideologie. Ein Bereich, in dem sich die Abschaffung demokratischer Grundrechte besonders frühzeitig bemerkbar machte, war das Pressewesen. Dort hatte die Hitler-Regierung am 4. Februar 1933 — rechtzeitig für die Reichstagswahlen am 5. März - mit der Notverordnung Zum Schutze des deutschen Volkes eine Handhabe zum Verbot der gesamten Opposi-

1 Undat. Aufruf zum Kongress »Das Freie Wort«, Bundesarchiv Koblenz (BÄK) R 58/391; zit. n. Klaus Briegleb u. Walter Uka, Zwanzig Jahre nach unserer Abreise ..., in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 1 (1983), S. 203-244, hier S.219. 2 Zur organisatorischen Initiative von Willi Münzenberg s. ebd., S. 21 Off.

9 tionspresse geschaffen.3 Doch begnügten sich die Nationalsozialisten nicht mit dieser Massnahme.4 Am 28. Februar 1933, am Morgen nach dem Reichstags- brand, holten sie in einer Verhaftungswelle zum Generalschlag gegen die politi- sche Opposition aus und hoben mit der Notverordnung Zum Schutz von Volk und Staat zugleich die in Artikel 118/1 der Weimarer Verfassung garantierte Presse- freiheit auf. Am 13. März 1933 folgte die Gründung des sog. Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, dessen Abteilung IV, die Presseabteilung der Reichsregierung, fortan den Informationsfluss offiziell regelte.5 Neustrukturie- rung des Pressewesens und »Säuberungen« im Personalbereich gingen nun Hand in Hand. Die Mitgliedschaft in der Reichspressekammer (ihr Präsident war Ex- Feldwebel Max Amann) wurde zur Voraussetzung für jede weitere Ausübung journalistischer Berufe und war »Nicht-Ariern« nur in Ausnahmefällen gestattet. Mit dem Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 wurde neben den Bildenden Künsten, Musik, Theater, Literatur, Film und Rundfunk auch die Presse einer ständischen Organisation und politischen Gleichschaltung unterwor- fen.6 Waren in der Reichspressekammer fortan alle im Pressewesen tätigen Ver- bände (Zeitungsverleger, Nachrichtenbüros etc.) zusammengeschlossen, so betraf das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 (in Kraft getreten am 1.1.1934) allein die Journalisten. »Arische« Abstammung und »nationaler Geist« waren nun die Berufsanforderungen an jene Journalisten der neuen Art:

Das neue Schriftleitergcsetz kennzeichnet die totale Wendung in den Grundbegriffen aller Zeitungsarbeit. Es ist eine Wendung um 180 Grad. So wie der nationale Staat den liberalen in allem durchdringt und überwindet, so lässt dieses Schriftleitergesetz alle liberalistischen Auffassungen der Pressefreiheit weit hinter sich. Diese Auffassungen bestanden theoretisch im Glauben an die absolute Natur dieser Freiheit. Das führte, zumal in Deutschland, zu einer wüsten inneren Zerrissenheit des Meinungskampfes. Die Zeitungen wurden Führungsmittel einzelner Gruppen im Kampfe um den Staat. [...] Heute ist dieser Kampf der Gruppen um die Staatsmacht zu Ende. Die Zeitung soll Führungsmittel der Staatsmacht werden.7

3 Abschnitt II, § 7 Abs. I der Notverordnung bestimmte: »Druckschriften, deren Inhalt geeignet ist, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu gefährden, können polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden.« Reichsgesetzblatt N° 8 v. 6.2.1933, zit. n.: Weimarer Republik. Hg. v. Kunstamt Kreuzberg u. v. Institut für Theaterwissenschaften der Universität Köln, 3., verb. Auflage, 1977, S. 382. 4 »Zu meinem Bedauern habe ich feststellen müssen, dass die Handhaben der Verordnung des Herrn Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 gegen Ausschreitungen der Presse nicht mit der Strenge angewandt werden, wie es angesichts der sich täglich steigernden Hetze in periodischen Druckschriften, Flugblättern und Plakaten der regierungsfeindlichen Parteien und Verbände erforderlich wäre.« Aus einem Erlass Hermann Görings, Deutsche Allgemeine Zeitung vom 25.2.1933; zit. nach loseph Wulf, Presse und Funk im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, S. 19. 5 Vgl. Kurt Koszyk, Deutsche Presse 1914-1945. Geschichte der deutschen Presse, Teil III, Berlin 1972, S. 363f. 6 S. dazu insbesondere Dietrich Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich. 2., verb. Aufl., Bonn 1963, S. 21-35. 7 Emil Dovifat, Das neue Zeitungsgrundgesetz, in: Münsterischer Anzeiger v. 4.10.1933, zit. n. Joseph Wulf, Presse und Funk im Dritten Reich, a. a. O., S. 77f.

10 Die Presse wurde — sogar mit Billigung namhafter Publizisten von einem Mittel der Meinungsäusserung und Meinungsbildung zu einem Instrument der Massen- lenkung im Sinne des nationalsozialistischen Staates umfunktioniert. Indessen soll der hier skizzierte Gegensatz von liberaler Publizistik und nationalsozialistischer Propaganda nicht den Blick auf die (politisch-ökonomischen) Schranken freier Meinungsäusserung verstellen, an denen sich bereits die Presse der Weimarer Republik stiess. Denn die Presse als das fortgeschrittenste Medium der Weimarer Republik war nicht erst im Januar 1933 unter den Einfluss der Politik geraten. Die lange Geschichte des Kampfes für Pressfreiheit und gegen die Zensur8 lässt die Grund- funktion liberaler Publizistik zutage treten: In der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft war die Presse die wichtigste Institution bürgerlicher Öffentlichkeit, wie sie J. Habermas in einer wegweisenden Untersuchung beschrieben hat.9 Neben der kommunikativen Funktion der Nachrichtenübermittlung (also der Publikmachung einer Sache) diente sie der kritischen Diskussion (dem Räsonne- ment nach Habermas) und der Herausbildung einer öffentlichen Meinung. Diese öffentliche Meinung folgte Habermas' Analyse bürgerlicher Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts zufolge dem Gesetz der ratio, vor der sich die öffentliche Gewalt zu legitimieren hatte. Idealiter war sie das Instrument der Herrschafts- kontrolle in der frühbürgerlichen Gesellschaft und die »zum Publikum zusam- mentretenden Privatleute« das historische Subjekt der Öffentlichkeit. Als Träger der öffentlichen Meinung charakterisierte sich dieses »räsonierende Publikum« durch die Egalität der in ihm versammelten Privatleute als hommes (»die Parität des »bloss Menschlichen«*10), unter Absehung ihres Status als citoyens bzw. merkantile Eigentümer. Doch die zunehmende Legalisierung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit sowie die Konkurrenzsituation der Privatleute in ihrer Eigenschaft als Eigentümer auf dem Markt führten Habermas zufolge zu einem Umschlag von der räsonierenden Gesinnungspresse zu einer kommerziellen Presse. Mit ihrer Kommerzialisierung wurde die Presse, »bis dahin Institution der Privatleute als Publikum, zur Institution bestimmter Publikumsteilnehmer als Privatleuten — nämlich zum Einfallstor privilegierter Privatinteressen in die Öffentlichkeit«". Pressegeschichtlich machte die Rollenteilung zwischen Redak- teur und Verleger sowie die technische Trennung des redaktionellen Teils vom Annoncenteil diese historische Aufspaltung von kommerzieller und kritisch- informativer Funktion sichtbar. Der Verleger wurde von »einem Verkäufer neuer

8 Vgl. hierzu u. a. Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidel- berg 1982; Klaus Petersen, Literatur und Justiz in der Weimarer Republik, Bonn 1988. 9 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt u. Neuwied "1980 ('1961). "' »Les hommes, private gentlemen, die Privatleute bilden das Publikum nicht nur in dem Sinne, dass Macht und Ansehen der öffentlichen Ämter ausser Kraft gesetzt sind; auch wirtschaftli- che Abhängigkeiten dürfen im Prinzip nicht wirksam sein; Gesetze des Marktes sind ebenso suspendiert wie die des Staates.« Ebd., S. 52. " Ebd., S. 222.

11 Nachrichten zu einem Händler mit öffentlicher Meinung«'2. So hatte sich Ha- bermas zufolge die Rolle der bürgerlichen Massenpresse um die letzte Jahr- hundertwende entscheidend verändert: »Während die Presse früher das Räsonne- ment der zum Publikum versammelten Privatleute bloss vermitteln und verstärken konnte, wird dieses nun umgekehrt durch die Massenmedien erst geprägt.«13 In der von kommerziellen Interessen regierten Presse sah er den wichtigsten Faktor für den Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit und die Transformation eines Publi- kums, das nicht mehr räsoniert, sondern zunehmend konsumiert und Publizität mit publicity übersetzt. Die jüngere Forschung korrigierte Habermas' Theorie der Öffentlichkeit, indem sie deren idealistische Grundzüge blosslegte und die für die frühbürgerli- che Gesellschaft angenommene Antinomie von öffentlichem und privatem Inter- esse, von Ratio und Kommerz zurückwies.14 Sie machte geltend, dass eine philosophisch-literarische Vernunftkritik einerseits und die Entwicklung des literarischen Marktes und der Lesegesellschaften andererseits im Grunde bereits im 18. Jahrhundert gegenaufklärerische Tendenzen hervorgebracht und das »Geschäft der Aufklärung [zu einem] Geschäft mit der Aufklärung«15 gemacht hatten. Diese Revision der Habermas'sehen Theorie konnte nicht ohne Folgen für die Untersuchung der modernen Presse, insbesondere für die Analyse ihres Status in der Öffentlichkeit bleiben. So kam eine der ersten kritischen Untersuchungen der deutschen Presse des 20. Jahrhunderts, die ihr Verhältnis zu Markt und Öffentlichkeit mitreflektierte, zu dem Schluss:

In der Mitte des 18. Jahrhunderts (...] begann der Prozess, der schliesslich dazu führte, dass Zeitungen nicht mehr hauptsächlich vom Leser, das heisst von den Vertriebseinnahmen, sondern vom Aufkommen aus den Anzeigeneinnahmen abhängig wurden."

Nicht ein qualitativer Umschlag von »räsonierender« zu »kommerzieller« Presse, sondern eine Verlagerung der ökonomischen Basis der Presseorgane vom Lese-

12 Ebd., S. 218. " Ebd., S. 225. 14 S. u. a. Oskar Negt u. Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisations- analyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main 1972; Christa Bürger, Peter Bürger u. Jochen Schulte-Sasse (Hg.), Aufklärung und literarische Öffentlich- keit, Frankfurt/M. 1980; Peter Uwe Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalis- mus (1830-1870), a. a. 0., S. 55ff. 15 Klaus L. Berghahn, Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806, in: Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980), a. a. O., S. 10-75, hier S. 19. - Weiter zum Thema: Otto Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerli- che Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981; Lutz Winckler, Autor - Markt - Publikum. Zur Geschichte der Literaturproduktion in Deutschland, Berlin 1986; Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991. 16 Kurt Koszyk, Thesen zur deutschen Pressegeschichte, in: ders., Deutsche Presse 1914-1945, a. a. O., S. 444-453, hier S. 447. - Weniger strukturell als an Einzeldarstellungen orientiert ist dagegen Heinz-Dietrich Fischer (Hg.), Deutsche Zeitungen des 17.-20. Jahrhunderts, Pullach 1972; ders., Deutsche Zeitschriften des 17.-20. Jahrhunderts, Pullach 1973; ders., Deutsche Presseverleger des 18.-20. Jahrhunderts, Pullach 1975.

12 publikum hin zu finanzkräftigen Gruppen der Wirtschaft oder Politik charak- terisierte die Entwicklung zur modernen Massenpresse. Darüber hinaus erforder- ten die technischen Innovationen im Pressewesen - Offsetdruck, Rotationspresse etc., die eine wesentliche Steigerung der Druckkapazitäten und Auflagenzahlen erlaubten — grosse Kapitalinvestitionen, die den ökonomischen Konzentrations- prozess beschleunigten. So absorbierten um die Jahrhundertwende die noch als Familienunternehmen gegründeten Zeitungsverlage Ullstein, Mosse und Scherl viele ihrer Konkurrenten und entwickelten sich zu den ersten Presseimperien der »Zeitungsstadt Berlin«17. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stieg die Aufla- genzahl mancher Blätter dieser Konzerne in die Hunderttausende. Zwar erreichte — numerisch gesehen - das Pressewesen Ende 1928 seinen Höchststand, als das deutsche Reichsgebiet insgesamt 3356 politische Tageszeitungen (davon 147 allein in Berlin) verzeichnete, die das gesamte politische Spektrum der Weimarer Republik, von der KPD bis zur NSDAP, repräsentierten.18 Doch lässt diese Titelvielfalt nicht erkennen, auf welch schwacher ökonomischer Basis der Presse- sektor seit den 20er Jahren insgesamt stand. Im Herbst 1932 meldete Rudolf Mosse19 Konkurs an, während August Scherl20 bereits 1913 Teile seines Unter- nehmens an den deutschnationalen Industriellen Alfred Hugenberg verkauft hatte. Der Zwang zu ökonomischer Konzentration und - als Folgeerscheinung - zur Kapitalverflechtung mit politischen Parteien oder grossen Wirtschaftskonzernen stellte sicher die grösste Bedrohung für einen unabhängigen öffentlichen Mei- nungsbildungsprozess in der Weimarer Republik dar. Vorläufig ungeklärt bleibt zwar die Frage einer (Minderheits-)Beteiligung der IG Farben an der Frankfurter Zeitung.21 Doch der Fall der Deutschen Allgemeinen Zeitung22 z. B. belegt, wie diese nach ihrer Übernahme durch Hugo Stinnes im Jahre 1920 für die Interessen seines »Vertikal-Trusts« instrumentalisiert wurde. Noch gravierender für die politische Öffentlichkeit der Weimarer Republik waren die Konsequenzen einer republikweiten Unterhöhlung der liberalen (Provinz-)Presse durch die Monopoli-

11 Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Überarb. u. erw. Aufl., Frankfurt/M., Berlin, Wien 1982. - S. auch: Walter G. Oschilewski, Zeitungen in Berlin. Im Spiegel der Jahrhunderte, Berlin 1975. '* Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 369fr. " Ebd., S. 401. 20 Vgl. ebd., S. 234-248 und Hans Ermann, August Scherl. Dämonie und Erfolg in Wilhelmini- scher Zeit, Berlin 1954, S. 276f. 21 Den vorläufigen Stand der Kenntnisse resümiert Hans Bohrmann (Hg.), NS-Presseanweisun- gen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, bearb. v. Gabriele Toepser-Ziegert, Bd. 1, München u. a. 1984, S. 90, Anm. 331. Vgl. dazu auch Wolfgang Schivelbusch, Die Frankfur- ter Zeitung, in: ders., Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt 1982, S. 42-61 und die spärlichen Äusserungen bei Günther Gillessen, Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Frankfurt/M. 1986, bes. S. 35-90. Vgl. auch die Kritik von Uwe Pralle, Eine Titanic des bürgerlichen Geistes. Ansichten der Frankfurter Zeitung, in: Frankfurter Rundschau v. 20.1.1990, S. 3 (Beilage Zeit im Bild). 22 Vgl. Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 269-301 und Kurt Koszyk, Deutsche Presse Bd. 3, a. a. O., S. 135-159.

13 sierung der Zulieferindustrie, die der Hugenberg-Konzern erfolgreich betrieb.23 Dem Konzern gehörten neben der Scherl-Presse u. a. die Nachrichtenagentur Telegraphen-Union (die in Konkurrenz zum offiziösen Telegraphischen Bureau Wolff stand), die Maternkorrespondenz der Wirtschaftsstelle Provinzpresse (Wipro) und die Allgemeine Anzeigen G. m. b. H. (ALA) an. Gegen den Mei- nungsdruck dieses Konzerns konnte auch der (legendäre) »rote Hugenberg« Willi Münzenberg, der mehrere Presseorgane (u. a. die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), Berlin am Morgen, Die Welt am Abend), Buchverlage und Filmgesell- schaften zu einem beachtlichen, über die Parteibasis der KPD hinausreichenden linken Medienverbund zusammengeschlossen hatte, nur schwerlich ein publizisti- sches Gegengewicht schaffen.24 So war das Pressewesen am Ende der Weimarer Republik zwei gegenläufigen Tendenzen unterworfen - einer zunehmenden technischen Ausdifferenzierung des Produktionsprozesses einerseits, einem ökonomischen Zusammenschluss der Zulieferindustrie nach Sektoren andererseits -, die sich zwangsläufig auf die publizistischen Inhalte niederschlagen mussten. Die folgenden Zahlen geben einen Eindruck davon:

Laut Angabc im Handbuch der Weltpresse 1931 gibt es in Deutschland 3353 Zeitungen. Für diese sind 800 Korrespondenzbüros tätig, die die Redaktionen mit einem täglich sich füllen- den und entleerenden Artikelrcservoir ernähren. Mindestens 1400 Zeitungen bestehen daneben in ihren Hauptteilen aus Matern. Einzelne Korrespondenzen sind Grossbetriebe für sich. Das Wolff-Büro hat 41 Filialen, in denen Uber 750 Angestellte für Uber 3000 Abnehmer tätig sind. Weitere Aufzählung verdienen die 12000 in Deutschland vorhandenen Zeitschriften, für die zahlreiche freie Schriftsteller arbeiten. Darüber hinaus sind im Anzeigenwesen grosse Sonder- betriebe entstanden. Mosse hat 89 selbständige Zweigniederlassungen und 174 Agenturen im In- und Auslande. Die ALA-Anzcigen-AG besitzt 28 Zweigstellen und 97 Agenturen.25

Die Wirtschaftskrise 1929/30 schliesslich traf die Presse hart; sie verzeichnete einen rapiden Rückgang der Leser sowie des Anzeigengeschäfts. Die ökonomisch gespannte Lage und ein politischer Rechtsruck nach dem Sturz der Reichsregie- rung Müller, der sich auf die Presse in verschärfter Zensur26 oder schleichender

23 Eine minutiöse Dokumentation für die regionale Münchner Presse liefert Paul Hoser, Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe der Münchner Tagespresse zwischen 1914 und 1934: Methoden der Pressebeeinflussung, Frankfurt u.a. 1990 (= Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Bd. 447). Eine Bilanz für das gesamte Reichsgebiet steht allerdings noch aus. S. vorläufig Kurt Koszyk, Deutsche Presse Bd. 3, a. a. O., S. 219 239. (Auf Hugcnbergs Bestrebungen in der Filmbranche bzw. auf das Gesamtkonzept seines Medienkonzerns kann hier nicht eingegangen werden.) 24 S. dazu Babette Gross, Willi Münzcnberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1968, bes. S. 162 168 u. S. 174 188; Rolf Surmann, Die Münzenberg-Lcgcnde. Zur Publizistik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1921 1933, Köln 1983. 25 Christian Silberhell, Presse und Wirtschaft, in: Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse N° 325 v. 1.5.1932, S. 2; zit. nach: Weimarer Republik, a. a. O., S. 372. 26 Zwei Zensurgesetze, das Zum Schutz der Republik (23.7.1922) und das Gegen Schmutz und Schund (10.12.1926), hatten das Reichsgesetz über die Presse vom 7.5.1874 bereits vor 1930 erheblich verschärft. Ab 1930 häuften sich Notverordnungen (u. a. zählte die Notverordnung

14 Selbstzensur27 niederschlug, führten ab 1930 zur offenen Krise der liberalen Presse.28 Die liberale Publizistik verlor ihre Rolle einer öffentlichen Fürspreche- rin der Demokratie.29 Bezeichnend war das Schicksal des Berliner Tageblatts, das beim Mosse-Konkurs 1932 an eine G.m.b.H. überging, die ein Gewährs- mann Hitlers leitete.30 Was die Nationalsozialisten vor 1933 verdeckt begannen, führten sie nach 1933 offen mittels drakonischer Massnahmen (Publikationsver- bot, Enteignung jüdischer Verleger etc.) durch. Ihr Bestreben, die Presse zum »Führungsmittel der Staatsmacht«31 zu machen, Hess sich nun an nüchternen Zahlenbeispielen ablesen: Am 30. Januar 1933 »besassen die nationalsozialisti- sche Partei und ihr Parteiverlag Franz Eher Nachf. in München knapp 2,5 Prozent aller deutschen Zeitungen. Zehn Jahre später besassen sie 82,5 Prozent«32. Die Presse unterm Nationalsozialismus war in der Folge »einheitlich in ihrer politi- schen Tendenz, vielgestaltig im Ausdruck dieser Tendenz und monopolistisch in ihrer wirtschaftlichen Struktur«33.

1.2. Gründung und Redaktionsgeschichte von PTB und PTZ

Dem Aufruf zum Kongress Das Freie Wort, der von Willi Münzenberg initiiert und von Rechtsanwalt Rudolf Olden und dem Sekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, Kurt R. Grossmann, vorbereitet wurde14, war auch Georg Bern-

vom 6.10.1931 (§ 86a StGb) Druckmaschinen zu den Gegenständen, die dem Hochverrat dienen können) und teils mehrmonatige Verbote sozialdemokratischer und vor allem kom- munistischer Presseorgane (vgl. K. Kos/.yk, Deutsche Presse Bd. 3, a. a. O., S. 328). 27 Aufsehen erregte u. a. die Entlassung des Kommunisten Franz Höllering, Chefredakteur bei der Ullstein-Zeitung B. Z. am Mittag, die Carl von Ossietzky als »skandalöseste Kapitulation vor dem Nationalsozialismus« und »Verbrechen an der deutschen Pressefreiheit« anprangerte (Der Fall Franz Höllering, in: Die Weltbühne Jg. 28 N° 1 v. 5.1.1932, S. 1-6). 28 S. Michael Bosch, Liberale Presse in der Krise. Die Innenpolitik der Jahre 1930 bis 1933 im Spiegel des Berliner Tageblatts, der Frankfurter Zeitung und der Vossischen Zeitung, Bern, Frankfurt/M. u. München 1976, S.58f. 29 Vgl. auch: Modris Eksteins, The Limits of Reason: The German Democratic Press and the Collapse of Weimar Democracy, Oxford 1975; Bernd Sösemann, Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer Publizisten. Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild, Berlin 1976. 3(1 Zum Verkauf an die »Cautio G. m. b. H.« von Max Winkler s. Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 398ff. und Margret Boveri, Wir lügen alle. Eine Hauptstadt- zeitung unter Hitler, Ölten u. Freiburg 1965, S. 214-244. 31 Emil Dovifat, Das neue Zeitungsgrundgesetz, a. a. O., S. 78. 32 Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 390. 33 Ebd., S. 392. - Auf Aspekte der NS-Publizistik kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Zum Thema s. u. a. Karl-Dietrich Abel, Presselenkung im NS-Staat, Berlin 1968; Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970; Fritz Sänger, Politik der Täuschungen. Missbrauch der Presse im Dritten Reich. Weisungen, Informationen, Notizen 1933-1939, Wien 1975; NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumenta- tion, hrsg. v. Hans Bohrmann, bearb. v. Gabriele Toepser-Ziegert. 3 Bde., a. a. O. 34 K. Briegleb u. W. Uka, Zwanzig Jahre nach unserer Abreise, a. a. O.

15 hard gefolgt. Obgleich er wegen des Polizeieinsatzes seine angekündigte Schluss- rede nicht mehr halten konnte, hatte er zu den frühesten Anregern des Kongresses gezählt.35 In der damaligen Öffentlichkeit war Bernhard gleichermassen als Publizist und als Politiker bekannt. Der gelernte Bankkaufmann hatte 1904-1925 die wirtschaftspolitische Zeitschrift Plutus (so auch sein Pseudonym) herausgege- ben, in der er sich als Wirtschaftsexperte profilierte. Seit 1916 war er Dozent, ab 1928 Honorarprofessor für Bank-, Börsen- und Geldwesen an der Berliner Handelshochschule sowie Mitglied des Reichswirtschaftsrates. Eine kurze Mit- gliedschaft in der SPD (1901—1906), vor allem aber eine Führungsrolle in der DDP - Bernhard war seit 1927 Vorstandsmitglied - trugen ihm unerlässliche politische Beziehungen und ein Reichstagsmandat (1928-1930) ein. Doch parallel dazu hatte Georg Bernhard eine glänzende publizistische Karrie- re gemacht. Unter Hermann Bachmann war er stellvertretender Chefredakteur der Vossischen Zeitung (1914-1920), nach dessen Tod übernahm er selbst die Chefre- daktion (1920-1930). Diese älteste Berliner Zeitung befand sich seit 1914 im Be- sitz der Familie Ullstein und war, obwohl vergleichsweise auflagenschwach36, geradezu ein Prestigeobjekt liberaler Publizistik.37 Unter Bernhards Chefredak- tion und in politischer Affinität zur DDP entwickelte sich die Vossische Zeitung zu einer der führenden Tageszeitungen der Weimarer Republik38, die mit dem Berliner Tageblatt von Theodor Wolff39, Bernhards grossem Rivalen, konkur- rierte. Für die Belange seines Berufes engagiert, war Bernhard zeitweilig auch Vorsitzender des Reichsverbandes der deutschen Presse und der Fédération inter- nationale des journalistes; als Vorstandsmitglied des Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) trat er für die Integration der Israeliten in Deutschland ein. In Bernhards Selbstverständnis waren denn auch Journalismus und Politik eng miteinander verbunden. Dem Andenken Lessings in der Vossischen Zeitung ver- pflichtet, betonte er die didaktisch-aufklärerische, ja geradezu erzieherische Rolle der Presse. Vom alltäglichen Ereignis ausgehend, sollte der Journalist Bernhard

35 Vgl. ebd., S. 209, Anm. 27. Brieglcb/Uka berichten von der Gründung eines Komitees Das Freie Wort im August 1932, nach Papens Staatsstreich gegen Preussen. Der Gründungsver- sammlung bei Georg Bernhard wohnten u. a. Heinrich Mann, Rudolf Olden, Kurt Grossmann und Willi Münzenberg bei. 36 Zwischen April und Juni 1929 betrug die Auflage durchschnittlich 70 960 Exemplare, bei Einstellung des Blattes im März 1934 noch 41 500 Expl. (s. Klaus Bender, Vossische Zeitung, Berlin (1617-1934), in: Heinz-Dietrich Fischer, Deutsche Zeitungen vom 17. bis 20. Jahrhun- dert, a. a. O., S. 39). 37 Im Volksmund nach einem ihrer Verleger, dem Buchhändler Christian Friedrich Voss, benannt, war die Zeitung ab 1617 unter wechselnden Namen erschienen. Von 1779 bis 1911 befand sie sich im Besitz der Familie Lessing; von 1752 bis 1755 war Gotthold Ephraim Lessing Redakteur des damals Berlinische privilegierte Staats- und gelehrte Zeitung genann- ten Blattes gewesen. 38 Vgl. Werner Becker, Demokratie des sozialen Rechts. Die politische Haltung der Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung und des Berliner Tageblatts 1918-1924, Göttingen u.a. 1971. 3' Vgl. Gotthart Schwarz, Theodor Wolff und das Berliner Tageblatt. Eine liberale Stimme in der deutschen Politik 1906- 1933, Tübingen 1968.

16 zufolge dem Leser eine organisierende Perspektive und eine spezifische Anschau- ung politischer Vorgänge vermitteln. Diese ausdrückliche Vermittlerrolle zwi- schen öffentlicher Meinung und praktischer Politik liess in Bernhards Denken den Journalisten neben den Politiker treten; pragmatisch betrachtete er beide als notwendige Korrelate im politischen Entscheidungsprozess.40 Dass Bernhard dabei stets im Sinne liberal-demokratischer Politik handelte und argumentierte, bewies nicht zuletzt der »Ullstein-Skandal« im Jahre 1930, mit dem seine Chefre- daktion ein abruptes Ende fand.4' Um redaktionelle Eingriffe der ultrarechten Verleger-Gattin Rosie Gräfenberg-Ullstein abzuwehren, hatte Bernhard deren geheimdienstliche Tätigkeit ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Franz Ullstein konterte daraufhin in Leopold Schwarzschilds Tage-Buch und bezichtigte Bern- hard der Verbindung zu einem rheinischen Separatisten. Bernhards damalige Analyse des »Ullstein-Skandals« belegt, dass er diesen nicht nur als persönlichen Diskreditierungsversuch interpretierte (tatsächlich war er stets für eine deutsch- französische Verständigungspolitik eingetreten), sondern auch als ein Manöver, um die redaktionelle Linie der Vossischen Zeitung zu revidieren.42 Im Jahre 1933 war Georg Bernhard also eine publizistisch und politisch profilierte Persönlichkeit. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand war er, wie zahlreiche andere Hitlergegner, nach Frankreich geflüchtet und hatte sich in Paris sogleich ein neues politisch-publizistisches Betätigungsfeld gesucht.43 Seinem journalistischen Prestige verdankte er dort die Verpflichtung als Chefredakteur einer deutschsprachigen Tageszeitung, die der russische Verleger Wladimir Poliakov44 zu gründen gedachte. Poliakov war nach der Oktoberrevolution45

40 S. Walter F. Peterson, Das Dilemma linksliberaler deutscher Journalisten im Exil. Der Fall des Pariser Tageblatts, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 32 (1984) H. 2, S. 269-299, bes. S. 276. 41 S. dazu Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 29ff. 42 Bernhard hatte befürchtet, Rosie Gräfenberg-Ullstein wolle an seiner Stelle Hans Zehrer oder Friedrich Sieburg zum Chefredakteur berufen (s. G. B., Verlegertragödie, in: Weltbühne Jg. 26 N° 29 v. 15.7.1930, S. 82-85). Zu Hans Zehrers Absichten s. Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1978, S. 277f.; zur Verbindung Zehrer-Sieburg s. Margot Taureck, Friedrich Sieburg in Frankreich, Heidelberg 1987, S. 57. - Bernhards Nachfolger wurde sein bisheriger Stellvertreter, Julius Elbau. 41 Im Sommer 1933 leitete Bernhard kurzzeitig die deutsche Emigrantenzeitung die aktion (s. dazu Kap. 2.2.) und wurde Mitglied zahlreicher deutscher oder französischer Komitees und Vereine, die für die Emigranten wirkten. Er war u. a. Vorsitzender des Verbands deutscher Journalisten in der Emigration, Mitglied des deutschen Volksfront-Ausschusses und des Comité Consultatif für Emigrantenfragen beim französischen Innenministerium; er vertrat die Fédération des Emigrés d'Allemagne en France und die Zentralvereinigung der deutschen Emigranten beim Flüchtlingshochkommissar des Völkerbunds. Ab 1938 war er vorwiegend für den Jüdischen Weltkongress und den American Jewish Congress tätig. 44 Auch: Vladimir Poliakoff/Poljakoff. Ich folge der Namensschreibung seines Sohnes Léon Poliakov, die auch W. F. Peterson übernommen hat. 45 Über Poliakovs verlegerische Aktivitäten in Russland vor der Oktoberrevolution gibt ein Briefkopf Aufschluss: »Ancien éditeur de Notre Vie, Courrier de la Capitale, Parole Contem- poraine à Petrograd, Nouvelles d'Odessa, Parole Contemporaine à Odessa, Voix du Nord-

17 nach Paris emigriert, verlegte dort mehrere Zeitungen46 und war Mitbesitzer der Anzeigenagentur Publicité Metzl47, die auf das Inseratengeschäft in der fremd- sprachigen Pariser Presse48 spezialisiert war. Die Herausgabe einer Tageszeitung der deutschen Emigration stellte für den politisch eher gemässigten Poliakov zunächst eine Erweiterung seiner verlegerischen Aktivitäten dar, die sich ange- sichts des ständig anschwellenden Flüchtlingsstroms allerdings als Schliessung einer regelrechten Marktlücke erweisen sollte.49 Dank Poliakovs Verlagsunternehmen konnte sich das am 12.12.1933 erstmals erschienene PTB auf einen technischen und administrativen Apparat stützen, der zu seiner erfolgreichen Lancierung beitrug. Doch gleichzeitig mit den technischen Vorbereitungen, mit der Absicherung von Druck und Vertrieb, waren die Voraus- setzungen für eine effektive journalistische Arbeit zu schaffen, von der Ein- stellung eines Mitarbeiterstabes bis zur Abonnierung bei Nachrichtendiensten. Die publizistischen Anfänge spiegelten die Originalität — und auch die Schwierigkeit — des ganzen Unternehmens.™ Drei grosse Abteilungen teilten sich die Herstellung der Zeitung: die Poliakov unterstehende Administration51 und die Inseratenabteilung52, in denen über-

Ouest à Volno, Jar-Ptitza à Berlin« (Poliakov an den Jüdischen Wcitkongress, 28.2.1938; Deutsche Bibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933 1945, Frankfurt/Main (künftig: DBF), Sammlung (künftig: Slg.) Paul Dreyfus, EB autogr. 395, N° 34). 46 U. a. die russische Emigrantenzeitung Poslednie Novosti und die jiddische Tageszeitung Pariser Haint. 47 Die Anzeigenagentur Metzl (Mitinhaber war bis Juni 1934 Isaac Grodzenski) und die von Chefredakteur Paul Milioukov geleitete russische Emigrantenzeitung Poslednie Novosti (Les Dernières Nouvelles) hatten dieselbe Adresse (51, rue de Turbigo, Paris 3C) und beschäftigten vornehmlich russische Emigranten. Das PTB kam Ende 1933 als jüngstes Poliakov-Unter- nehmen hinzu. 48 Die Publicité Metzl verwaltete u. a. auch den Inseratenteil der an Auslandsdeutsche gerichte- ten Pariser Zeitung (1925-1934) von Hubert Delestre, mit der das PTB ab 1933 ökonomisch und politisch in Konkurrenz trat. 49 Von einem anfänglich vielleicht bestehenden Solidaritätsgefühl zwischen russisch- und deutsch-jüdischen Emigranten ist in Leon Poliakovs Verteidigungsschrift für seinen Vater nicht mehr die Rede. Über die Gründungsumstände schreibt er lediglich: »In 1933, the coming to Paris of numerous German émigrés raised the question of a daily newspaper in the in France. Some few newspapers in that language were of little authority, and quickly disappeared into the oblivion from which they had come. It occured to Mr. Poliakoff, an experienced émigré publisher living in Paris, to create a serious daily for the new and rapidly growing German emigration, dispersed all over the world.« The Pariser Tageblatt affair, Documentation collected by L.[éon] P.[oliakov], Paris 1938, S. 9. Zur Redaktionsgeschichte von PTB und PTZ s. bereits Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. Die nachfolgenden Ausführungen wollen nur einen Abriss geben und neue Informationen nachtragen. Wichtigste Quelle hierfür war das auch von Peterson benutzte - umfangreiche Redaktionsarchiv der PTZ im ehemaligen Zentralen Staatsarchiv der DDR (heutiges Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam). Akten des Redaktionsarchivs werden im folgenden zitiert als: BAP, (Bestand) PTZ, Aktennr., Blatt. 51 Geschäftsführer des PTB war bis 1936 der russische Emigrant Arthur Grave, der die Tochter von Alexander Metzl, Olga, geheiratet hatte. Olga Grave verfasste unter dem Pseudonym Gill Feuilletonbeiträge fürs PTB. Buchhalter bei PTB und PTZ war der deutsche Emigrant Josef

18 wiegend russische Emigranten tätig waren, sowie die mehrheitlich mit emigrier- ten deutschen Journalisten besetzte Redaktion unter Bernhards Leitung. Die Atmosphäre des auf ein personelles und materielles Minimum beschränkten Redaktionsbüros in der Rue de Turbigo" schilderte ein Mitarbeiter der ersten Stunde:

Wir sasscn in zwei kleinen Zimmern. Bernhard schrieb seine Artikel zu Hause, wir hielten ihn telefonisch über wichtige Nachrichten auf dem laufenden. Wir besassen nur eine Schreibma- schine und schrieben die meisten Skripte mit der Hand. Es gab sprachliche Schwierigkeiten, die sich technisch auswirkten. Alle Nachrichten aus deutscher Quelle mussten aus dem Französischen zurückübersetzt werden, da wir keine direkte deutsche Nachrichtenquelle besassen. So konnten wir deutsche Zitate nur selten genau wiedergeben. Unsere Setzer kannten nur Jiddisch; es war eine Sisyphusarbeit, Korrektur 7.u lesen.54

Im Laufe der Monate verbesserten sich die personellen und technischen Arbeits- bedingungen: Die Zeitung verfügte nun über einen eingespielten technischen Fabrikationsstab (Druckerei55, Korrektoren56, Botenjungen57 etc.), über eine An-

Böhm; als Sekretär arbeitete Max Israel dort. - In der PTZ setzten die jeweiligen Geldgeber bzw. Hauptgläubiger den Geschäftsführer ein. Als solche nachweisbar sind u. a. Rechtsanwalt Kuhn und Alexander Bloch, ein Neffe Hugo Simons. 52 Der Inseratenteil des PTB war an Poliakovs Anzeigenagentur Publicité Metzl verpachtet. Seine Nutzungsrechte waren nach Redaktionsmeinung mit monatlich 12.500-15.000 Francs unterbezahlt, was in der Folge zu Spannungen zwischen Poliakov und der Redaktion führte (s. dazu unten). Andererseits scheint auch nach der Trennung von Poliakov keine wirklich befriedigende Lösung der kommerziellen Nutzung der PTZ existiert zu haben. Die Verschuldung der Zeitung bei einer eher zwielichtigen Figur der deutschen Emigration wie Frank Arnau, dem zur Abgeltung kurzzeitig das Inseratengeschäft überlassen wurde, führte im November 1936 zu einer Finanzkrise. (Hinweise auf seine Verbindung zur PTZ, wo er gelegentlich auch Kriminalgeschichten veröffentlichte, sucht man vergeblich in seinen Memoiren: F. A., Gelebt - Geliebt - Gehasst. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München 1972.) - Vom 22.10.1937 bis Ende Januar 1938 wurde der Anzeigenteil mitsamt den Akquisiteuren der PTZ an die französische Inseratenagentur S. E. T. S. (Société d'édition touristique et sportive, 13, rue du Faubourg Montmartre, Paris 9e, Inhaber de Dardel) verpachtet, wegen Unrentabilität jedoch wieder an die Zeitung zurückgegeben. Ab 1.2.1939 weisen die Re- daktionsakten den tschechoslowakischen Emigranten Karl Spann als Chef der Werbeabteilung aus, der im Dezember 1938 über den Kauf der Zeitung verhandelt haben soll (weiter dazu Kapitel 1.3.). 53 Die Adresse von Redaktion und Verlag lautete vom 12.12.1933-19.1.1936 51, rue de Turbi- go, Paris 3C. (Im selben Gebäude war auch die Redaktion der russischen Emigrantenzeitung Poslednie Novosti untergebracht.) Vom 20.1.-11.6.1936 lautete die Adresse 5, rue de la Boëtie Paris 8e, vom 12.-21.6.1936 übergangsweise 41, rue Cardinet Paris 17e (d.i. die Privatadresse G. Bernhards). Schliesslich installierte sich die PTZ im traditionellen Pariser Zeitungsviertel im 9. Arrondissement: 16, rue de la Grange Batelière (22.6.1936-15.10.1937) und 20, rue Laffitte (15.10.1937-18.2.1940). 54 Hans Jacob, Kind meiner Zeit. Lebenserinnerungen, Köln u. Berlin 1962, S. 185. 55 Die Druckerei des PTB (N° 1-678) war die E. I. R. P. (Edition et Imprimerie Rapide de la Presse; 4-5, rue Saulnier, Paris 9C) von Otto Zeluk, wo u. a. auch der Pariser Haint, Poslednie Novosti und das zweite grosse Pariser Exilorgan, Leopold Schwarzschilds Neues Tage-Buch, gedruckt wurden. Allerdings sprachen die dortigen Setzer nur jiddisch, was Satz und Korrekur der Druckfahnen erschwerte. Danach (PTB N° 679-912 und PTZ) übernahm die

19 zeigenabteilung und Akquisiteure58, die den Kontakt zu der zumeist französisch- jüdischen Klientel herstellten, und zeitweilig über einen speziellen Abonnenten- service, zu dem ein Reisebüro59 und eine juristische Beratungsstelle60 gehörten. Den Vertrieb in- und ausserhalb Frankreichs besorgte die französische Firma Hachette.61 Die redaktionelle Arbeit stützte ein Netz von Zulieferdiensten zur Informationsbeschaffung und -Verarbeitung (insbesondere Nachrichten- und Manuskriptendienste62 sowie Korrespondenten63). Der relative Erfolg des Blat- tes schlug sich allerdings nur zögernd auf die Arbeitsbedingungen nieder. Der Umzug in die Rue de la Boetie im Januar 1936 war ein Ereignis, das die langjäh- rige Redaktionssekretärin Gerda Ascher zu honorieren wusste:

... wir sind grossartig umgezogen, haben drei Räume für uns, wovon das Sekretariat ein sehr grosses schönes Zimmer ist, Caro-Chefzimmer [Bernhard arbeitete stets in seiner Privatwoh- nung; M. E.] kleiner und das dritte für die anderen eine Küche, die aber bis jetzt noch nicht

J. E. P. (Imprimerie pour Journaux, Editions, Périodiques; 7, rue Cadet, Paris 9e) des Elsässers Marcel Schwitzguebel den Druck. Die graphische Gestaltung der PTZ besorgte der emigrierte österreichische Graphiker und Bühnenbildner Heinrich Sussmann (BAP, PTZ, N° 73, Bl. 191). 56 Festangestellte Korrektoren waren u. a. Hermann Ebeling von 1936-1940 (er veröffentlichte in der PTZ auch unter dem Pseudonym Hermann Linde) und Richard Eiling (von 1938-1940); der Redakteur Erich Kaiser arbeitete 1937/38 zeitweilig als Korrektor; als Aushilfskraft arbeitete u. a. Bernhard Förster (BAP, PTZ, N° 5/1 ). 57 Die Personalakten verzeichnen u. a. Norbert Grave, Willi Kaiser, Marek Muszkatblatt und Peter Gingold als zeitweilige Boten (BAP, PTZ, N° 5/1). Zu P. Gingold s. auch das Interview in: Gilbert Badia u. a. (Hg.), Exilés en France. Souvenirs d'antifascistes allemands émigrés (1933-1945), Paris 1982, S. 262-278. 58 Das Anzeigengeschäft ist im Nachlass der PTZ noch sehr gut dokumentiert (BAP, PTZ, N° 361 -376). Als Anzeigenakquisiteure der PTZ arbeiteten u. a. Alexander Landa, Paul Zagiel und Adolf Küchler, dem ich an dieser Stelle für Hinweise zur internen Organisation von PTB und PTZ danke (Interview Paris, 3.2.1989). 39 Das Reisebüro verwaltete jahrelang der aus Berlin emigrierte Hans-Joachim Klath. "' Die juristische Sprechstunde der Zeitung führte der emigrierte Berliner Rechtsanwalt Dr. Theodor Tichauer. 61 Die Messageries Hachette hatten damals eine Monopolstellung für die Pressediffusion; 1936 vertrieben sie 136 Tageszeitungen und 807 Periodika (s. Raymond Manevy, La Presse de la Troisième République, Paris 1955, S. 185). 62 Das Redaktionsarchiv belegt eine mehr oder minder langfristige Verbindung zur französischen offiziösen Nachrichtenagentur Havas, bei der die Zeitung häufig verschuldet war (BAP, PTZ, N° 2), zur Jüdischen Nachrichtenagentur von Fanny und Michel Wurmbrand (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 93ff.), zur Nachrichtenagentur Inpress von Kurt Rosenfeld und Sandor Radö (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 75). Ferner zu Korrespondenzbüros wie Coopération von Dr. I. Révész (zu dessen Leitung Bernhard bereits in Berlin gehört hatte; BAP, PTZ, N° 64, Bl. 207-217) und zu Informationsdiensten und Zeitungsausschnittbüros wie dem Unabhängigen Zeitungsdienst (UZD) von Berthold Jacob (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 71-79), dem Bureau International de Documentation von Walter Fabian (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 182ff.) oder Lit Tout (BAP, PTZ, N° 72, Bl. 111 f.) Das Foto auf der Titelseite wurde zumeist von französischen Bilderdiensten wie L'Actualité illustrée (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 10-20) und Images du Jour (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 57) bezogen. Hinzu kamen Abonnements deutscher oder französischer Blätter (Deutsche Informationen, BAP, PTZ, N° 64, Bl. 224-228 und N° 67, Bl. 29ff; frz. Presse- nachweise in BAP, PTZ, N° 497 u. 582) oder auch gelegentliche Austauschabonnements. 63 S. unten.

20 bewohnbar [sie] da ihr Heizung und noch manches andere mangelt und so sitzen die drei Knaben [i. e. die drei Redakteure; M. E.] eingepresst an kleinen Tischen in dem kleinen Zimmer und schimpfen gelegentlich, dass die Sekretärinnen so gut sitzen [...] denn nach ehernen Gesetzen war natürlich die Küche für uns bestimmt.64

Es liegt auf der Hand, dass die Arbeits- und Herstellungsbedingungen dieses Exilorgans mit den grosszügigeren Verhältnissen der führenden Berliner Zeitun- gen, aus denen seine Mitarbeiter zumeist stammten, nicht zu vergleichen sind. Geradezu bezeichnend für den bescheidenen Aufwand der PTZ war es, dass die Redaktion am 19.5.1939 (also nach immerhin 5 1/2 Jahren regelmässigen Er- scheinens) die 1000. Nummer bei »schlechtem Kaffee und furchtbar vielen und wunderschönen Pfannkuchen«65 feierte. Und doch war die Zeitung der Berliner Presse in mehrerlei Hinsicht verbunden. Trotz der Umstellung auf das grössere französische Format (Folioformat, 6- spaltiger Druck in romanischen Satztypen) erinnerte bereits der in Fraktur-Schrift gesetzte Titel des PTB optisch an Berliner Vorbilder.66 Zudem präsentierte sich das PTB in seinem Untertitel anfangs als Deutsche Zeitung in Paris61. Auch in seiner Struktur stand das PTB in der Tradition der Weimarer Tagespresse. Die tägliche Ausgäbe von vier Seiten, gegliedert nach den Ressorts Politik (Seite 1 und 2), Lokales, Wirtschaft, Sport (Seite 3), Kultur und Annoncen (Seite 4), wurde sonntags durch den Einschub einer Kulturbeilage (»Sonntagsbeilage«)68 auf sechs Seiten erhöht. Zeitweilig erschien das Blatt auch wochentags mit sechs Seiten Umfang, so von Oktober 1936 bis Mai 1937 in der Mittwochs-, von Mai 1937 bis Januar 1938 in der Freitagsausgabe. Dadurch wurde Raum geschaffen für eine Sonderseite zur Buch- und Filmkritik, für eine Frauenseite und eine spezielle Emigrationsseite unter dem Titel »Wohin auswandern?« (später »Palästi- na«-Seite). Feste Rubriken und damit Bestandteile des journalistischen Konzeptes von PTB wie von PTZ waren im politischen Teil der Leitartikel und der Kommentar (S. 1), die Glosse (S. 2), eine Presseschau (»Die Meinung der Welt«, S. 2), Nachrichten aus NS-Deutschland (»Blick ins Dritte Reich«, S. 2). Auf der dritten Seite befanden sich der Lokalbericht (»Paris gestern und heute«/»Links und rechts der Seine«), der Wirtschaftsbericht (»Wirtschaft und Finanzen«) und die

64 G. Ascher an Manfred Georg, 18.2.1936; Deutsches Literaturarchiv im Schiller-Nationalmu- seum Marbach/Neckar (fortan DLA), Nachlass (künftig: NL) M. Georg, N° 75.2122/3. 65 G. Ascher an Manfred Georg, 20.5.1939; DLA, NL M. Georg, N° 75.2122/15. 66 Das (»französische«) Originalformat des PTB betrug 43x57,5 cm bei einer Spaltenbreite von 6,5 cm. Zum Vergleich hatte das Berliner Tageblatt ein Format von 30x45 cm, es war 3- spaltig und auch in den 30er Jahren noch teilweise in Fraktur gesetzt (z. B. für Leitartikel). Der tägliche Umfang von PTB und PTZ lag mit vier bis scchs Seiten allerdings erheblich unter dem der Berliner Tageszeitungen, die zudem häufig zwei bis drei Ausgaben täglich hatten. 67 Der Untertitel des PTB lautete Quotidien en langue allemande bzw. Le quotidien de Paris en langite allemande. In der Seitenzählung von PTB/PTZ erschien die Sonntagsbeilage also auf den Seiten 3 und 4.

21 Sportrubrik. Die Feuilletonseite, die nachfolgend noch gesondert präsentiert wird69, enthielt neben der Literatur-, Kunst- und Filmkritik einen Pariser Ver- anstaltungskalender sowie Annoncen und den Fortsetzungsroman. Je nach Bedarf oder politischer Aktualität ergänzten kurzlebigere Rubriken (z. B. ab März 1938 eine »Österreichische Chronik«) und frei schaltbare Elemente wie der »Leser- briefkasten« die Zeitung. Gravierende Veränderungen dieses Schemas ergaben sich erst im September 1939, als die gesamte, in Frankreich noch autorisierte Presse70 auf Kriegswirt- schaft umstellen und 50 Prozent ihres Umfangs einsparen musste. Seit dem 4.9.1939 hatte die PTZ - verschärft durch die Internierung ihrer meisten Redak- teure71 — den Charakter einer Notausgabe. Die verbliebenen zwei Seiten Umfang unterlagen nun der Vorzensur der französischen Behörden und reichten kaum für den Druck der wichtigsten politischen Meldungen. Die Sonntagsbeilage wurde eingestellt72, der Lokal- und Kulturteil sowie die Annoncen entfielen. Die spora- dische Wiederkehr von Inseraten und Kulturnachrichten um die Jahreswende 1939/40 konnte fast als Zeichen einer »Normalisierung« im Ausnahmezustand gelten, als das Blatt am 18.2.1940 plötzlich sein Erscheinen wegen Geldmangels einstellte. Das abrupte Ende der Zeitung schärft erst den Blick für die prekäre Existenz, die sie zwischen 1933 und 1940 stets führte. Inwieweit diese an einzelne Perso- nen geknüpft war, soll zunächst durch eine kurze Präsentation der Redaktionsmit- glieder gezeigt werden73 (die Darstellung der Feuilletonredaktion erfolgt an späterer Stelle74). Danach sollen die ökonomischen und politischen Faktoren, die gleichzeitig die Existenz der Zeitung beeinflussten, zur Sprache kommen. Das erste Redaktionsteam des PTB war zugleich das stabilste. Neben Georg Bernhard hat sein Stellvertreter Kurt Michael Caro, ehemaliger Chefredakteur der populären Berliner Volkszeitung, das Blatt bis 1938 nachhaltig geprägt: Er leitete und koordinierte die Redaktionsarbeit vor Ort, während sich Bernhard - wie wir sahen - in seiner Privatwohnung davor abschirmte. Aus Caros Feder stammen

w Ausführliche Darstellung in Kapitel 3.1., Abschn. B. 70 Die französische wie auch die fremdsprachige in Frankreich erscheinende kommunistische Presse war bereits nach dem Hitler-Stalin-Pakt (23.8.1939) verboten worden. 71 In N° 1095 v. 7.9.1939, S. 1 teilte die PTZ ihren Lesern die Intcrnierung der meisten männ- lichen Redaktionsmitglieder mit; die Zeitung musste zunehmend improvisiert werden (s. W. F. Pcterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 239 243). 72 Sic erschien mit PTZ N° 1085 v. 27.8.1939 zum letzten Mal. 73 S. dazu bereits W. F. Petcrson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. - Nachfolgend werden biographische Hinweise zu Personen nur gegeben, sofern diese nicht oder unvoll- ständig in verfügbaren Handbüchern erfasst sind. Besonders verwiesen sei auf: Werner Röder u. Herbert A. Strauss (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, 3 Bde., München u. a. 1980; Walter Stcrnfeld u. Eva Tiedemann, Deutsche Exil- Literatur 1933 -1945, 2., verb. Aufl., Heidelberg 1970; Walter Tetzlaff, Zweitausend Kurzbio- graphien bedeutender deutscher Juden, Lindhorst 1982; Renate Heuer, Bibliographia Judaica. Verzeichnis jüdischer Autoren in deutscher Sprache, 3 Bde., Frankfurt u. New York 1988; Josef Walk, Kurzbiographie zur Geschichte der Juden 1918-1945, New York 1988. 74 S. dazu Kap. 3.1., Abschn. C. dieser Arbeit.

22 zwischen 1933 und 1939 unzählige politische Kommentare (zumeist unter den Pseudonymen Manuel Humbert oder Emmanuel Curtius), Reportagen und Rezen- sionen. Richard Dyck (Pseudonym René Dufour), vormals Redakteur des 8-Uhr- Abendblatts in Berlin, war bis April 1937 für Lokalteil und z.T. fürs Feuilleton zuständig; er teilte sich die Aufgabe mit Erich Kaiser (Pseudonym Emile Grant, Flavius), der früher als unabhängiger Reporter für Berliner Tageblatt und Berli- ner Volkszeitung gearbeitet hatte und bis Ende 1938 in der Redaktion verblieb. Als Generalsekretär75 der Redaktion war zunächst Caros Vetter Hans Jacob tätig, der vor 1933 bei Berliner Tageblatt und Vossischer Zeitung gearbeitet hatte. Seine Anstellung beim PTB dauerte indessen länger, als aus seinen Memoiren76 hervorgeht; Jacob kündigte mehrmals und nahm vermutlich sogar nach Oktober 1934 die Arbeit wieder auf. Auch der ehemalige Kunstredakteur des Berliner Tageblatts, Georg Wronkow, gehörte der Redaktion mit mehrmaliger Unter- brechung an; er redigierte zeitweilig den Lokalteil und die tägliche Presseschau, als freier Mitarbeiter belieferte er regelmässig feste Rubriken (z. B. das Kreuz- worträtsel). Im Juni 1936 erfolgte der Übergang vom PTB zur PTZ, auf dessen politische Hintergründe im folgenden Abschnitt einzugehen sein wird. Das Blatt trennte sich von Wladimir Poliakov; neuer Verleger der PTZ wurde der deutsche Emi- grant Fritz Wolff, der zuvor Geschäftsführer des Pariser Hilfskomitees Comité Allemand gewesen war und sich dabei begrenzter Popularität erfreute.77 Formal leitete Wolff die Geschäfte der PTZ bis zu ihrer Einstellung 1940; in der Realität wurden seine Verlegerambitionen von zahlreichen Ereignissen durchkreuzt.78

75 Der französische Titel secrétaire général de rédaction meint cine Koordinations- und Supcrvi- sionstätigkeit zwischen Redaktion und Druckerei. 76 Hans Jacob, Kind meiner Zeit, a. a. O., S. 192. - In der PTZ veröffentlichte er als freier Mit- arbeiter. 77 Im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration (a.a.O., Bd. 1, S. 832) unterlief eine Verwechslung zwischen dem PTZ-Verleger und dem gleichnamigen Graphiker Fritz Wolff. Der Verleger kam über die USPD 1920 zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD); zu seiner politischen Tätigkeit s.a. Kap. 1.3. - Im Exil war er Geschäftsführer des Emigrantenhilfskomitees Comité Allemand und wurde für sein Auftreten von einigen Emigranten ausserordentlich hart beurteilt: Paul Zech zählte ihn zu den »Vampy- ren der Emigration« (P. Zech an Anselm Rucst, 28.3.1938; DLA, NL P. Zech, N° 66.549/4). David Luschnat berichtete an Anselm Rucst am 21.10.1935: »An Herrn Wolff vom Comité Allemand habe ich einen gesalzenen Brief geschrieben. Die Borniertheit und die Feldwebel- Allüren dieser über alles hungernde Elendspack (wie wir in deren Augen sind) hoch erhabe- nen Büro-Baronen übersteigt alles Mass.« (BAP, TNL A. Rucst, Bl. 121). Und Joseph Roth schrieb: »Ein Herr Fritz Wolff leitet dieses Büro, er ist ein gütiger [sie] und harter Mensch, alle hassen ihn, und ich weiss, dass er nicht eine Nacht ohne Mittel schlafen kann, weil ihn sein Gewissen quält.« (J. Roth an Stefan Zweig, 7.11.1935, in: J. Roth, Briefe 1911-1939, hg. u. eingel. v. Hermann Kesten, Köln u. Berlin 1970, S. 433f.) 78 Mehrere Verhandlungen über den Verkauf der PTZ und ein folgenschwerer Streit mit Bernhard 1937 schwächten seine Verlegerposition indirekt; im Juli 1938 schliesslich wurde Wolff in Abmildcrung eines Ausweisungsbefehls (zusammen mit Kurt Caro) polizeilich ein Zwangsaufenthaltsort (résidence assignée) zugewiesen, so dass seine Frau Lieselotte nunmehr de facto die Verlagsgeschäfte führte.

23 Als politischer Redakteur arbeitete seit Juni 1936 auch Carl Misch, der schon unter Bernhard in der Vossischen Zeitung das innenpolitische Ressort bekleidet hatte.79 Neuer Generalsekretär der Redaktion wurde nun Fritz bzw. Frédéric Drach, dessen politische Rolle in den Kulissen der Zeitung bislang immer noch nicht eindeutig geklärt ist.80 Drach schied bereits Ende 1936 wieder aus. Als fester Mitarbeiter für Lokal- und Kulturberichterstattung kam schliesslich auch der Sozialdemokrat Robert Breuer81 hinzu; er hatte jedoch nur für kurze Zeit tatsächlich einen Redakteurstatus.82 Das Jahr 1938 brachte einschneidende Veränderungen. Chefredakteur Georg Bernhard schied am 12.1.193883 nach folgenschweren Auseinandersetzungen mit Wolff aus. Es folgte eine turbulente Interimsphase, in der Kurt Caro und, als dieser einen Zwangsaufenthalt (résidence assignée) befolgen musste, auch kurz- zeitig Robert Breuer die Chefredaktion führten.84 Diese fand mit dem Eintritt von Joseph Bornstein als Chefredakteur — er wechselte von Leopold Schwarz- schilds Neuem Tage-Buch zur PTZ — ein spektakuläres Ende. Denn Bornsteins

79 Er war 1921-1933 politischer Redakteur der Vossischen Zeitung gewesen und im Oktober 1934 nach Paris emigriert. - S. a. Sigrid Schneider, »Die Leute aufklären und Hitler scha- den«. Carl Misch im Exil, in: H. Roussel u. L. Winckler (Hg.), Deutsche Exilpresse und Frankreich 1933-1940, a. a. O., S. 207-226. *" »Drach, Jahrgang 1888, 1919 Spartacuskämpfer in Berlin, seit 1925 in Paris, französischer Staatsbürger, arbeitete in den dreissiger Jahren für VU und LU, war 1940 in Marseille Mitarbeiter des Deuxième Bureau und endete im Juli 1943 in Gestapohaft in Nîmes durch Freitod« (Ruth Fischer u. Arkadij Maslow, Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, hg. v. Peter Lübbe, München 1990, S. 16). - Chefredakteur der Zeitschriften VU und LU war Lucien Vogel, dessen Tochter mit Paul Vaillant-Couturier verheiratet war und der mit Münzenberg schon seit den 20er Jahren in Kontakt stand (s. Babette Gross, Willi Münzenberg, a. a. O., S. 252 u. 279). - Drachs massgebliche Beteiligung an der Intrige um PTB/PTZ im Juni 1936 behauptete bereits Maximilian Scheer (So war es in Paris, Berlin/DDR o. D. [1964], S. 138-146); bislang bekannte Details dazu bei W. F. Pe- terson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. 81 R. Breuer (eigentl. Lucien Friedländer; 1878-1943) war ehemaliger Redakteur sozialdemokra- tischer Blätter und unter Friedrich Ebert Pressechef der Reichskanzlei gewesen. Breuer war Mitbegründer des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Berlin; s. dazu Emst Fischer, Der Schutzverband deutscher Schriftsteller 1909-1933, Frankfurt 1980. Vom rechten Flügel der SPD tendierte er im Exil spürbar nach links. Vor seiner Mitarbeit in der PTZ leitete er a. 1934 ein Drei-Mann-Korrespondenzbüro Internationale Korrespondenz (InKo), von dem Fred Uhlmann Anekdotisches berichtet (Fred Uhlmann, Il fait beau à Paris aujourd'hui, Paris 1987, S. 160f). S. desweiteren: Kurt Kersten, Robert Breuers Tod und Begräbnis, in: Frankfurter Hefte, März 1953, S. 226-230. 82 Entgegen einer verbreiteten Annahme war R. Breuer nicht jahrelang Redakteur bei der PTZ. Sein Name ist auf keiner der erhaltenen Redaktionslisten aufgeführt; auch wurde er zwischen 1936 und 1938 wie alle freien Mitarbeiter pro Artikel entlohnt und scheint zumindest 1936 in einer Nachrichtenagentur (ADMO, 22, rue Notre-Dame de Nazareth, Paris 3e; BAP, PTZ, N° 72, Bl. 36) gearbeitet zu haben. Nur vom 15.9.-31.12.1938 bezog er ein festes Redak- teursgehalt von 2.500 Francs, um den unter polizeilichem Zwangsaufenthalt stehenden Chefredakteur Caro zu ersetzen (BAP, PTZ, N° 6, Bl. 11-12). S. Bernhards Kündigungsschreiben v. 11. 1. 1938 (BAP, PTZ, N° 58, Bl. 29). 84 Ebd.

24 Ankunft am 23.12.193885 nur wenige Tage vorausgegangen war die fristlose Kündigung von Kaiser und Breuer. Ebenso fristlos wurde Kurt Caro zum 15.1.1939 entlassen. Welch radikale Wende 1938/39 in der PTZ vor sich gegan- gen war (Anzeichen dafür waren u. a. der Redaktionseintritt der SPD-Funktionä- rin Anna Geyer86 sowie der von Stefan Fingal und Berthold Biermann87), lässt sich nur über die politische Geschichte des Exils erklären. Zuvor noch kurz erwähnt seien die wichtigsten freien Mitarbeiter von PTB und PTZ, die der Zeitung - teils durch regelmässige Betreuung von Rubriken, teils durch langfristige Mitarbeit - ihr Gepräge gaben. Rubriken betreuten z. T. abwechselnd Paul Bekker (Musikkritik), Harry Kahn (Theater und Film), Edgar Katz (Sportbericht), Alfred Kerr (Theaterkritik), Paul Erich Marcus (Filmkritik), Herbert Weichmann (Ps. Merkur, Finanzbericht) und Paul Westheim (Kunst- kritik). Korrespondenten der Zeitung waren u. a. Rudolf Olden (England), Erich Kuttner (Niederlande), Kurt R. Grossmann und Felix Stössinger (Tschechoslowa- kei), Wilhelm Herzog (Schweiz), Erich Gottgetreu, Schalom Ben-Chorin und Karl Loewy (Palästina), Manfred Georg (USA); Sonderkorrespondenten waren zeitweilig auch Arnold Zweig (Palästina), Arkadij Gurland, Erika und Klaus Mann sowie Alfred Kantorowicz (Spanien). Häufige Beiträge in Feuilleton und/oder politischem Teil veröffentlichten u. a. die Emigranten Bruno Altmann, Walter A. Berendsohn, Hellmut von Gerlach, Georg Wolfgang Hallgarten, Max Herrmann-Neisse, Kurt Kersten, Heinrich Mann, Klaus Mann, Siegfried Marek, Arkadij Maslow, Rudolf Olden, Joseph Roth, Hans Wilhelm von Zwehl. Franzö- sische Mitarbeiter kamen insbesondere aus dem Bereich der Politik, so u. a. Salomon Grumbach und Paul Allard.

1.3. PTB/PTZ, Organ der »antihitlerischen Gesamtopposition« in Frankreich?

Das PTB und sein Nachfolgeorgan PTZ war zwischen 1933 und 1940 die einzige von Emigranten gegründete Tageszeitung der deutschen Opposition gegen Hit- ler.88 Aus dieser Tatsache ergab sich für die Zeitung de facto eine Monopol- stellung, die dazu beitrug, manche der politisch-publizistischen Funktionen des Blattes zu verstärken:

85 Datierung laut dem Schreiben von Redaktionssekretärin Gerda Ascher an M. Georg v. 20.4.1939 (BAP, PTZ, N° 70, Bl. 167). 86 S. dazu Kap. 1.3. 87 S. dazu Kap. 3.1., Abschn. C. 88 Die von 1933 bis 1935 in Saarbrücken erscheinende Tageszeitung Deutsche Freiheit von Wilhelm Sollmann wurde von der Saar-SPD getragen und dem Verlag der Volksstimme angegliedert; die 1941 in London gegründete Die Zeitung erschien nur kurze Zeit täglich und unterstand dem britischen Foreign Office. Andere Tageszeitungen, die sich der Emigration öffneten, waren hingegen keine Exilgründungen: so das Argentinische Tageblatt (Buenos Aires, gegr. 1889) und die Deutsche Zentralzeitung (Moskau, 1925-1939).

25 1. Die Zeitung hatte wesentlichen Anteil an der Konstitutierung eines öffentli- chen Diskussionsraumes der Hitlergegner im Ausland, insbesondere in Frank- reich. Als Organ der Hitler-Opposition war sie Teil einer Gegenöffentlichkeit gegen den Propagandaapparat des Dritten Reiches; sie wollte das Ausland über den wahren Charakter des nationalsozialistischen Regimes aufklären und ein zukünftiges, demokratisches Deutschland entwerfen helfen.89 Als publizistisches Medium der Emigration diente die Zeitung aber auch der Information (besonders der Nachrichtenübermittlung in deutscher Sprache) und der öffentlichen Selbst- verständigung der Hitlergegner untereinander. In dieser Eigenschaft war sie Teil der politischen wie auch der literarisch-kulturellen Öffentlichkeit des deutschen Exils und muss deshalb neben andere wichtige Organe des Exils gestellt werden, so u. a. die im Exil fortgesetzten Berliner Zeitschriften Das Neue Tage-Buch von Leopold Schwarzschild (Paris, 1933—1940) und - allerdings ohne Carl von Ossietzky - Die Neue Weltbühne (Prag, 1933-1938 und Paris, 1938/39) sowie Exilgründungen wie Willi Münzenbergs Zukunft (Paris, 1938-1940) und Kultur- zeitschriften wie Die Sammlung (Amsterdam, 1933-1935), Neue Deutsche Blätter (Prag, 1933-1935), Das Wort (Moskau, 1936-1939).90 2. Die Zeitung hatte - wie manche andere Exilorgane auch - den Anspruch, im Namen der Gesamtemigration zu sprechen und deren öffentliche Meinung zu repräsentieren. Diesem öffentlichen Vertretungsanspruch korrespondierte umge- kehrt ein Legitimationszwang der »Zeitungsmacher« vor dem Publikum. Da Gesamtöffentlichkeit des Exils und Lesepublikum der Zeitung jedoch nicht identisch waren, war die Zeitung gezwungen, beide Faktoren im redaktionellen Konzept zu berücksichtigen - was verschiedentlich Quelle von Widersprüchen und Konflikten war.91 So wollte das PTB zwar antihitlerisch, aber nicht auf die deutsche Emigration beschränkt sein. »In diesen Spalten wird Politik mit Blick auf die Welt, nicht Kirchtumspolitik getrieben. Die deutsche Emigration ist nicht der Nabel der Welt«92, hiess es in Bernhards Kommentar der ersten Ausgabe des PTB. Spätere Jahre zeigten eine Änderung dieser Haltung. Ebenso global war anfangs auch die Frage der jüdischen Emigration behandelt worden. Obwohl die Mehrzahl der Redakteure selbst jüdischer Herkunft war, suchten sie zumeist das Phänomen des Antisemitismus der politischen Analyse unterzuordnen. Richtung- weisend hierfür war Georg Bernhard gewesen, der »in seinen Kommentaren die Notwendigkeit [betonte], das Schicksal der Juden in Deutschland als einen Teil von Hitlers Politik zu sehen, bekämpfbar nur in Solidarität mit allen anderen

89 Gegenentwürfe und Projektionen eines Deutschland nach Hitler nahmen, etwa im Zusammen- hang mit der deutschen Volksfront, einen breiten Raum in der politischen Diskussion der Zeitung ein. Auch die im Sommer 1939 in französischen Blättern und der Pariser Exilpresse geführte Debatte über das »Andere Deutschland« schlug sich in der PTZ nieder. 911 Zu diesen sowie zu zahlreichen hier ungenannten Exilperiodika s. die Einzeldarstellungen bei Lieselotte Maas, Handbuch der deutschen Exilpresse, 4 Bde., a. a. O., und Hans-Albcrt Walter, Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 4 Exilpresse, a. a. O. 91 Dass das Lesepublikum der Zeitung die Kreise der Emigration effektiv überschritt, wird in Kapitel 2 dargelegt, das ganz dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Publikum gewidmet ist. 92 Georg Bernhard, Die Aufgabe, in: PTB Jg. 1 N° 1 v. 12.12.1933, S. 1.

26 Opfern des Nationalsozialismus«93. Spätere Jahre zeigten auch hier eine Ent- wicklung.94 Ein zusätzliches Problem betraf schliesslich die Stellung der Zeitung in der politischen Öffentlichkeit. Obwohl sie als parteilich unabhängiges Organ und als »Tribüne«95 aller politischen Strömungen des Exils intendiert war - in ihren Spalten artikulierten sich die verschiedensten politischen Tendenzen des deut- schen Exils: linksliberale, pazifistische, sozialistische, gelegentlich auch kom- munistische und konservative Autoren -, war sie in Wirklichkeit stets mit parti- kularen Gruppeninteressen der politischen Emigration konfrontiert. Zurückzufüh- ren war dies einerseits auf das politische Engagement der Redakteure selbst — und besonders des Chefredakteurs Georg Bernhard, der auch in der Emigration eine führende politische Rolle zu spielen gedachte. Die Zeitung geriet so in Gefahr, zum publizistischen Echo ihres Chefredakteurs zu werden und redaktionelle Meinung mit »öffentlicher Meinung« zu identifizieren.96 Zum anderen aber war die Zeitung auch ausserredaktionellen politischen Einflüssen unterworfen, die eine enge Verzahnung von Redaktionsgeschichte und politischer Geschichte der Emigration in Frankreich erkennen lassen (s. dazu untenstehend). 3. Die Zeitung hatte eine entscheidende kulturelle Funktion, und zwar in doppel- ter Perspektive: Für die Masse der deutschen Emigranten, die sich in Frankreich, aber auch in anderen (ausser-)europäischen Ländern aufhielten, fungierte sie als Verbindungs- und Fortsetzungselement deutscher Kultur in ihren demokratischen, republikanischen und liberalen Traditionen. Diese Funktion kam insbesondere im Kulturteil (Feuilleton), aber auch in kulturkritischen Artikeln innerhalb des politischen Teils der Zeitung zum Ausdruck. Zum zweiten hatte sie eine ver- mittelnde — akkulturierende - Funktion gegenüber der Kultur des französischen Gastlandes. Auch diese Funktion schlug sich im Feuilleton und seinen verschie- denen Textgattungen nieder.97 Daneben übernahmen jedoch auch andere Sparten des politischen oder lokalen Teils eine akkulturierende Funktion, so z. B. bei der Vermittlung politisch-institutionellen Wissens über das Gastland, bei der Informa- tion über Arbeits- und Aufenthaltsrecht oder bei der Einführung in die französi- sche Alltagskultur (von den faits divers der Justizchronik, Kino- und Theater- programmen bis zum Kochrezept für die traditionelle Bouillabaisse). Gerade auf dem Gebiet der Akkulturation konnten PTB und PTZ - letztlich dank ihrer Konzeption als Tageszeitung — ihrem Publikum eine kontinuierliche Hilfestellung

95 Lieselotte Maas, Kurfürstendamm auf den Champs-Elysees?, a. a. O., S. 110. 94 Während Poliakov für das Problem der jüdischen Emigration sicherlich sensibel war, brachte PTZ-Verleger Wolff wenig Verständnis dafür auf. Das Zeitungsarchiv überliefert 1938 anhaltende Differenzen zwischen der Redaktion und Wolff, der laut einer Redaktionsbe- schwerde zählte, »wie oft das Wort >Jude< in dem Blatt oder gar in den Überschriften vorkomm(e)« (Intern, »Memorandum« v. 12.12.1938; BAP, PTZ, N°61, Bl. 87). 95 Georg Bernhard, Die Aufgabe, a. a. O. 96 Deshalb auch die stark auf Georg Bernhard konzentrierte politische Analyse bei Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. 97 Zur Diskussion der Akkulturationsfunktion speziell in der Literaturkritik s. Kapitel 5.2. dieser Arbeit.

27 bieten, wie sie in dieser Art und in diesem Umfang kein anderes Exilperiodikum aufwies. 4. Gleichzeitig mit den eben genannten kommunikativen Funktionen hatte das PTB bzw. die PTZ eine kommerzielle Funktion zu erfüllen. Denn die Zeitung war den Gesetzen unternehmerischer Rentabilität unterworfen und gehalten, sich über Verkauf und Werbung zu tragen. Auch enthob sie ihre Monopolstellung als Tageszeitung keinesfalls der ökonomischen Konkurrenz mit anderen - wöchent- lich oder monatlich erscheinenden - Periodika der Emigration (in erster Linie mit dem ebenfalls in Paris erscheinenden Neuen Tage-Buch (fortan: NTB) Leopold Schwarzschilds98). Auch konnte die Zeitung, im Unterschied etwa zu den Parteiblättern des Exils, a priori nicht auf externe Finanzierungsmittel zählen. Nicht zuletzt deshalb hatte sie trotz eines relativen publizistischen Erfolges häufig Mühe, ihr Budget auszugleichen. Denn Verleger Poliakov hatte der Zeitung 1933 ein Startkapital von 250.000 Francs — 100.000 Francs in bar, 150.000 Francs als Kredit" zur Verfügung gestellt, das er alsbald um ein Fünftel reduzierte.'00 Das Monatsbudget der Zeitung (inkl. Herstellungskosten) belief sich auf 70-90.000 Francs und konnte durch Verkauf (Strassen- und Kioskverkauf, Abonnement)101 sowie Werbeinse- rate102 nur 1935103 ausgeglichen werden. Ab 1936 folgten chronische finanziel- le Engpässe, die Verleger und Redaktion veranlassten, getrennt nach neuen Geld- quellen zu suchen.104 Diese Finanzkrisen sowie die insbesondere von Bernhard verfochtene Auffassung eines »geistige(n) Mitbesitzrecht(s) der Redakteure«105

98 Wohlgemerkt differierte das publizistische Konzept und vermutlich auch das Lesepublikum dieser beiden Presseorgane. Doch war das NTB die einzige Wochenzeitschrift des deutschen Exils in Frankreich, die eine ähnliche Kontinuität wie PTB und PTZ vorweisen konnte, ja diese um einige Monate überdauerte: Das NTB erschien in Paris vom 1.7.1933 bis 1.5.1940. Zu den weiteren Exilorganen in Frankreich, die mit PTB und PTZ konkurrierten, s. Kapitel 2.2. und 3.2. zur Öffentlichkeit bzw. zum literarischen Markt der deutschen Emigration in Frankreich. 99 Bericht der Minderheit der Untersuchungskommission in der Streitsache Bernhard-Caro einer- seits, Schwarzschild andererseits für die Association des journalistes allemands émigrés, [Verf. Berthold Jacob und Paul Dreyfus] Paris, 16.2.1937 (DBF, Slg. P. Dreyfus, EB autogr. 395, N° 23, S. 10). 100 Bereits 1934 zog Poliakov Kapital vom PTB zugunsten des Pariser Haint ab, um dort von seinem Partner Isaac Grodzenski unterschlagene Gelder zu begleichen. Die Summe bezifferte Bernhard in einem Schreiben an Fritz Naphtali v. 2.2.1935 auf 50.000 Francs (DBF, BW G. Bemhard/F. Naphtali, EB autogr. 399). "" Zu Auflagenzahl und Publikum s. Kap. 2.1. 102 Die zunächst an die Société Metzl vergebenen Nutzungsrechte des Inseratenteils brachten der Zeitung monatlich 12.500-15.000 Francs und waren nach Redaktionsmeinung zu niedrig kalkuliert (Minderheitsbericht, a. a. O., S. 10). 103 Das PTB verzeichnete im ersten Geschäftsjahr (1934) noch ein Defizit von 135.000 Francs, 1935 hingegen einen Überschuss von 108.000 Francs (ebd.). 104 Über finanzielle Stützungsaktionen durch jüdische Organisationen wie den American Jewish Congress und politische Kreise der Emigration berichtete bereits W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. 11)5 Bernhard sah sich von Anbeginn journalistisch und moralisch für das Blatt verantwortlich (Die Aufgabe, PTB Jg. 1 N° 1 v. 12.12.1933, S. 1). Daher bestritt er Poliakovs Auffassung,

28 an der Zeitung standen am Ursprung eines strukturellen Konflikts106, der Re- daktion und Verleger 1936 in die Konfrontation führte. Zugleich bedrohten sie die redaktionelle Unabhängigkeit des Blattes und machten es für politische Einflussnahmen anfällig. Denn parallel zur finanziellen Situation der Zeitung hatte sich auch deren politisches Umfeld verändert und Hess nun unterschwellige Spannungen auf- brechen. Kristallisiert hatten sich diese erneut an Verleger Poliakov, der als Israelit zweifellos ein aufrichtiger Hitlergegner, doch kein militanter Antifaschist war. Diesen Weg indessen beschritten ab 1934/35 Kreise der deutschen Hitler- Opposition, die in Frankreich Asyl gefunden hatten und in die sich die zumeist dem politischen Milieu107 des Liberalismus entstammenden Journalisten der Zeitung zunehmend involviert fanden. Begünstigt wurde diese Entwicklung zunächst durch einen politischen Linksruck in der französischen Öffentlichkeit. Dort hatte ein Putschversuch rechtsextremer Ligen am 6. Februar 1934 die erste einheitliche Demonstration der Linksparteien seit ihrer 1920 erfolgten Spaltung und einen eintägigen Generalstreik ausgelöst. Der nachfolgende Pacte d'unité d'action vom 24. Juli 1935 zwischen der kommunistischen (PCF) und sozialisti- schen (SFIO) Partei Frankreichs bahnte Léon Blums Regierung des Front popu- laire vom Juni 1936 an.108 Zum anderen hatte die deutsche Exilöffentlichkeit im Saargebiet ihren ersten (regional begrenzten) Einigungsversuch erlebt: Die Saar-SPD unter Max Braun und die Bezirksleitung der KPD hatten sich zu einer politischen Einheitsfront zusammengeschlossen. Zwar war die Allianz bei der Saar-Abstimmung im Januar 1935 unterlegen und das Saargebiet dem Dritten Reich eingegliedert worden. Doch hatte dieses regionale Bündnis den Weg für einen politischen Zusammenschluss der Hitler-Gegner auf breiterer Basis geebnet. Im Oktober 1935 optierte die KPD - in Ausführung der Beschlüsse des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (KOMINTERN) vom

»der Verleger eines Emigrationsblattes sei [...] berechtigt, auch über den geistigen Inhalt seines Blattes zu verfügen und dessen Gesinnung zum Gegenstand kaufmännischer Trans- aktionen zu machen. [...] Denn ich bin der Meinung, dass an jeder Zeitung ein bestimmtes Mass von geistigem Mitbesitzrecht der Redakteure besteht, erst rech [sie] aber bei einem Blatt, das die Interessen einer im Kampf gegen ein despotisches Regime stehenden Emigra- tion zu verfechten hat.« (Eine vereitelte Intrige, Nachdruck eines Briefes von Bernhard an Paul Milioukov v. 18.11.1936, PTZ Jg. 1 N° 203 v. 31.12.1936, S. 3. - Der französisch- sprachige Originaltext befindet sich in BAP, PTZ, N° 52, Bl. 2). "*' S. dazu Hélène Roussel und Lutz Winckler, Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung: Geschei- tertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?, a. a. O., S. 123f. 11,7 S. dazu Rainer M. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokrati- sierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. Lepsius definiert dort (S. 67f.) das »Milieu« als soziokulturelles Gebilde, das mehrere für einen spezifischen Bevölkerungsteil gültige Strukturdimensionen - Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung - vorweist. '"* Ausführliche Darstellung bei Georges Lefranc, Histoire du Front populaire, 2., verb. Aufl., Paris 1974 ('1965); Jacques Droz, Histoire de I'Antifascisme en Europe, Paris 1987.

29 Juli/August 1935109 - auf der sog. »Brüsseler Konferenz« für ein breites antifa- schistisches Bündnis, das Gruppen und Parteien des kommunistischen und sozialistischen Spektrums umfassen sollte. Der Grundstein für eine deutsche Volksfront war gelegt.110 Die deutsche Volksfront sollte den Sturz Hitlers herbeiführen. Ihre Anfänge reichten zurück in den Juli 1935, als sich auf Initiative des KPD-Abgeordneten Wilhelm Koenen und des Chefredakteurs der Saar-Zeitung Westland, August Stern, Vertreter der traditionellen Arbeiterparteien sowie bürgerliche Vertreter - zumeist Schriftsteller und Publizisten - versammelten und einen »(Vorläufigen) Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront« gründeten.1" Kurz darauf kehrte Willi Münzenberg, damals noch Mitglied des Zentralkomitees der KPD, mit dem Auftrag des KOMINTERN-Sekretärs Dimitroff nach Paris zurück, die Einigung der deutschen Opposition gemäss dem neuen politischen Kurs voranzutreiben.112 Münzenberg-Kreis und Vorläufiger Ausschuss arbeiteten zunächst parallel, bis sie auf ihrer ersten gemeinsamen Versammlung im Pariser Hotel Lutetia am 26.9.1935 durch die Wahl eines Exekutivkomitees (»Lutetia- Comite«) fusionierten."1 Heinrich Mann wurde zum Vorsitzenden gewählt; fT.ß-Chefredakteur Georg Bernhard"4, ATTß-Herausgeber Leopold Schwarz- schild"5 und der frühere preussische Finanzminister Otto Klepper (Deutsche Staatspartei; DSP) wurden als bürgerliche Vertreter, Münzenberg als KPD-Ver- treter nominiert. Am 2.2.1936 versammelte das Lutetia-Comite ca. 120 Vertreter der deutschen Opposition"6, die die Schaffung eines sog. »Volksfront-Aus- schusses« beschlossen, den wiederum Heinrich Mann präsidierte. Das Jahr 1936 erlebte somit den Höhepunkt der deutschen Volksfront-Bewegung.

109 »Dimitroff verkündete die neue Linie [...]: Einheitsfront von oben, Aktionseinheit mit den sozialistischen Parteien, Beteiligung und Unterstützung bei der Bildung von Regierungen der Einheitsfront oder der antifaschistischen Volksfront. Es war eine Absage an die Kominternpo- litik der vergangenen sieben Jahre, wie sie radikaler nicht gedacht werden konnte.« (Babette Gross, Willi Münzenberg, a. a. 0„ S. 288). 110 S. dazu ausführlich Ursula Langkau-Alcx, Volksfront für Deutschland? Bd. 1: Vorgeschichtc und Gründung des »Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront« (1933-1936), Frankfurt/M. 1977; Willi Jasper, Hotel Lutetia. Ein deutsches Exil in Paris, München u. a. 1994. 111 S. Ursula Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 80f. Babette Gross, Willi Münzenberg, a. a. O., S. 289. 113 S. Ursula Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 79-90. 1,4 Bernhard gehörte dem Vorläufigen Ausschuss mindestens seit August 1935 an (s. ebd., S. 81). Ebenfalls dort (S. 265, Anm. 13) zitiert ist eine Gestapa-Aufzeichnung, nach der »1 Jude (Redakteur vom >Pariser Tageblatt<)« bereits an der Sitzung vom 22./23.7.1935 teilgenommen haben soll. Bernhards Aufruf »Emigranten erwachet« (PTB Jg. 2 N° 607 v. 11.8.1935, S. 1) ist Ausdruck dieser neuen Orientierung des PTB auf die Volksfront hin. 115 L. Schwarzschild war gleichfalls Mitglied des Vorläufigen Ausschusses gewesen. Die Ver- fassungsentwürfe für ein »Deutschland nach Hitler« (Schwarzschild) bzw. für ein »Viertes Reich« (Bernhard), dokumentiert bei Ursula Langkau-Alcx (ebd., S. 183-201), sind bezeich- nend für die politische Rolle, die sich beide Publizisten im Exil beimassen. 116 Zur Zusammensetzung der Versammlung s. U. Langkau-Alcx, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 153f.

30 Doch mitten in diese politische Aktivität platzte am 11.6.1936 die PTB- Meldung, Verleger Poliakov habe das Blatt an die Nazis verkaufen wollen.117 Politische Tageslosungen übernehmend, rief die Redaktion zur »Einheitsfront gegen den Verrat«"8 auf und lancierte anderntags unter dem Namen Pariser Tageszeitung ein neues Organ, das nach zwei Notausgaben des PTB vom 12. und 13.6.1936119 jenes ablöste. Die neue PTZ erntete Zuspruch und Solidaritäts- adressen für die geglückte Abwehr eines »nationalsozialistischen Anschlags«120, Poliakov die Missbilligung der gesamten Exilöffentlichkeit. Allein an der Meldung war nichts Wahres.121 Jahrelange Gerichtsprozesse und Untersuchungsausschüsse122 konnten nicht eindeutig klären, wer das Ge- rücht über Poliakovs Verkaufsabsichten ausgestreut hatte.123 Fest steht nur, dass

117 Redaktionell, Erklärung, PTB Jg. 4 N° 911 v. 11.6.1936, S. 1. "" Redaktionell, Einheitsfront gegen den Verrat! Wir klagen an!, PTZ Jg. 1 N° 1 v. 12.6.1936, S. 1. "lJ Poliakov hatte vergeblich im PTB gegen die Anschuldigungen protestiert, s. seine beiden Stellungnahmen: Erklärung des Verlegers (PTB Jg. 4 N°912 v. 12.6.36, S. 1), An unsere Leser (PTB Jg. 4 N° 913 v. 14.6.36, S. 1). 1211 Das PTB hatte bereits in der Vergangenheit über vereitelte nationalsozialistische Anschläge gegen die Redaktionsräume berichtet (PTB Jg. 2 N° 307 v. 15.10.1934, S. 1). Auch drängte sich den Zeitungslcsern die Parallele zum »Fall Westland« auf: Im November 1934 hatte der Verleger Siegfried Thalheimer die Wochcnzeitung Westland unwissentlich an einen Mittels- mann Hitlers verkauft (s. dazu die PTB-Berichte in N°351 und 353 v. 28. u. 30.11.1934, jeweils S. 1). 121 Erwiesen ist allerdings, dass Poliakov bereits in den Jahren 1934-1936 wiederholt über eine finanzielle Beteiligung (so 1934 mit Frank Arnau) bzw. über einen Verkauf des Blattes verhandelt hatte (der Russe Konstantin Leites hatte im Juni 1934 und April 1936 zwei Kaufangebote gemacht und auf einen Wechsel der Chefredaktion gedrungen). Die Verhand- lungen kamen jedoch aufgrund des Drucks der Redaktion nicht zum Abschluss (s. Min- derheitsbericht, a. a. O., S. 1 lff.). 122 Ein jüdisches Ehrengericht befand im Juli 1936 auf Poliakovs Unschuld; ein von der PTZ gefordertes Emigrantcntribunal kam nicht zustande. Auch Berufsorganisationen befassten sich 1936/37 mit dem Fall, so die Association de la Presse Etrangère en France und der Verband deutscher Journalisten in der Emigration. Dieser legte den hier bereits zitierten, kritischen Minderheitsbericht von Berthold Jacob und Paul Dreyfus sowie einen - für die PTZ gün- stigeren - Mehrheitsbericht von Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Robert Breuer vor. Der ordentliche Gerichtsprozess vor dem Tribunal de Paris dauerte von Juni 1936 bis August 1938 und endete mit Bernhards Verurteilung zu 10.000 Francs Schadenersatz. Ausführliche Darstellung s. Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 164-175. 12:1 Selbst in der Forschung ist die Frage noch ungeklärt. U. Langkau-Alex (Deutsche Emigra- tionspresse, a. a. O., S. 180, Anm. 3) zitiert den Minderheitsbericht der Untersuchungskom- mission des deutschen Journalistenverbandes, wonach Münzenberg die Information von Frédéric Drach und Antonina Vallentin, Gattin des am Quai d'Orsay tätigen Diplomaten Julien Luchaire, erhalten habe. Drach war schon von Maximilian Scheer (So war es in Paris, a. a. O., S. 139ff.) als Drahtzieher bezeichnet worden. Er soll u. a. 1936 Waffenlieferungen nach Spanien organisiert und schon vor dem Krieg für die französische Spionageabwehr gearbeitet haben (s. Diethart Kerbs, »Revolutionär, Hochstapler, Gegenspion«, in: die ta- geszeitung v. 28.10.1988, S. 14f.). Gleichzeitig vermerkt der Minderheitsbericht (a.a.O., S. 22), dass am Anfang der Affäre eine anonyme Anzeige gestanden habe, deren Eingang der Redaktion durch einen Polizeiinspektor und den sozialistischen Abgeordneten Salomon Grumbach bestätigt wurde. Bis heute ist weder eine politische Manipulation aus Emigrations-

31 Poliakov Opfer eines politischen Manövers geworden war, das der Redaktion erlaubte, das jahrelange Tauziehen um materielle und geistige Eigentümer- schaft124 der Zeitung (vorläufig) für sich zu entscheiden und sich des auf politi- sche Mässigung bedachten Verlegers zu entledigen. Das politische Engagement für die Volksfront-Bewegung, das die PTZ nun (entschiedener als das alte PTB) demonstrierte, zwingt, die Vorgänge um die Zeitung vor diesem politischen Hintergrund zu betrachten - um so mehr, als einige führende Personen des Volksfront-Ausschusses schon ab dem 4.6.1936 in eine bevorstehende »Aktion« von Wolff und Caro eingeweiht waren.125 Refe- riert wurde bereits Willi Münzenbergs KOMINTERN-Auftrag, in Paris die deutsche Volksfront zu organisieren. Wenn sich auch deren politische Strukturen wie dargelegt 1935/36 etablierten, so fehlte der Bewegung ein Presseorgan, das in einer breiten Öffentlichkeit - und das hiess: über die Parteiblätter hinaus126 - als ihr publizistisches Sprachrohr gelten konnte. Im Zusammenhang mit Mün- zenbergs im Volksfront-Ausschuss geäusserter Idee, ein Zentralorgan der deut- schen Volksfront-Bewegung zu schaffen127, muss deshalb das Kaufangebot gesehen werden, das er im Frühjahr 1936'28 vorlegte. Doch bereits damals trat der spätere PTZ-Verleger Fritz Wolff als Vertreter eines »Konsortiums«129 auf, das 200.000 Francs zur Sanierung des PTB geboten haben soll.130 Ferner ist

kreisen, noch eine gezielte Desinformation durch NS-Stellen auszuschliessen (s. a. W. F. Pe- terson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 159). 124 Vgl. nochmals das Schreiben Bernhards an Paul Milioukov vom 18.11.1936, a. a. O. 125 Minderheitsbericht, a. a. O., S. 38: »Von der Redaktion des >Pariser Tageblatt< wurde Schwarzschild, wie auch andere, von denen die Herren Greszinski, Breitscheid, Münzenberg, Rheinstrom, Hugo Simon, Heinrich Mann und Rudolf Leonhard namentlich genannt wurden, am 4. Juni oder in den nächsten Tagen in Kenntnis über das gesetzt, was man vorhatte.« Münzenberg dementierte in einem Brief an Hugo Simon, Georg Bernhard u. [Raymond] Bernheim v. 10.1.1937 [1938!]: »Als einziger Mann [...] wurde [...] Herr Schwarzschild rein privat [...] informiert. Wir, d. h. der Volksfrontausschuss, dessen Sekretär ich damals war, erhielt erst nach der vollzogenen Tatsache Kenntnis von den Vorgängen und die KPD, die ich damals im Volksfrontausschuss vertrat, erhielt nur durch den Umstand davon Kenntnis, dass Herr Wolff den Genossen Wilhelm Pieck und mich zufällig im Café Mabillon traf und zwar einige Stunden, bevor die Sache platzte.« (BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 25-30; Teilnach- druck des Briefes bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 262-266). Neuen Quellen zufolge (s. unten) erscheint Münzenbergs Dementi zumindest fragwürdig! ,2,i Zwar fungierten die Deutschen Informationen, bis zur Spaltung der Redaktion von 1936 bis 1938 von Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam herausgegeben, als Nachrichten- blatt der Volksfront; weitere Publikationen (Gegen-Angriff, Deutsche Volkszeitung, Deutsche Freiheit u. a.) repräsentierten jedoch verschiedene Parteien und Fraktionen. I2' Minderheitsbericht, a. a. O., S. 38. 118 Ebd., S. 41 heisst es: »Unter den Kombinationen mit dem >Pariser Tageblatt< war (nach dem Dossier) ein Angebot Münzenbergers [sie] von 300.000.- Francs, dem Bernhard geneigt war, das aber Wolff ablehnte.« 129 Ebd., S. 11. - Dort ist auch erwähnt, dass Wolff bereits dem PTB Summen zugeführt hatte, die nicht über die Verlagsbuchhaltung - also Poliakov - liefen. "" Vgl. dazu auch Kurt R. Grossmann: »Im April 1936 trat ein Mann auf die Bühne, von dem alle Eingeweihten wussten, dass er Beziehungen zu den Kommunisten habe. Sein Name war Fritz Wolff, bei Freund und Feind als >der schöne Wolff< bekannt. Er repräsentierte, so sagte

32 belegt, dass Wolff nach der erfolgten /TZ-Gründung, die ihn zum juristischen Eigentümer der Zeitung avancierte, ein erneutes Kaufangebot Münzenbergs ablehnte.13' Wessen Interessen vertrat also Wolff? Und welche Stellung bezog er in dem sich 1936/37 entwickelnden Konflikt zwischen Münzenberg und der KPD? Denn - so viel wurde bereits deutlich132 - die zunehmende Opposition zwischen ihm und der Partei hatte Rückwirkungen auf die Geschicke der PTZ. Ruth Fischer zufolge hatte Wolff in den zwanziger Jahren im illegalen Appa- rat der KPD gearbeitet'33; im Exil stand er jedoch 1935/36 - auch KPD-Quel- len zufolge - der SAP134 nahe, die als einzige Partei neben den Kommunisten offizielle Parteivertreter im Volksfront-Ausschuss135 besass. Wolffs persönliche Verbindungen weisen hin auf ehemalige Spartakisten, die in den 30er Jahren zur sozialistischen oder trotzkistischen Opposition der KPD zählten.'36

er, eine >anonyme Gruppe<, die bereit sei, das >Pariser Tageblatt< finanziell zu unterstützen. Die Summe, die er nannte, war 200.000 Francs; aber für diese Investierung verlangte er Einspruchsrechte und Kontrolle.« (Kurt R. Grossmann, Emigration. Geschichte der Hitler- Flüchtlinge 1933-1945. Frankfurt/M. 1969, S. 100). Möglicherweise irrte Grossmann in seiner politischen Einschätzung Wolffs, denn in KPD-Quellen wird dieser 1936 der SAP zugerech- net. 131 Münzenberg an Hugo Simon, Georg Bernhard u. [Raymond] Bernheim, 10.1.1937 [1938!]; BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 25-30; Teilnachdruck des Briefes bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. 0., S. 262ff). 132 So formulierte Peterson bereits; »In essence, the participants in the scramble for control over the paper were the KPD and the dissident Communist Willi Münzenberg.« (Walter F. Peter- son, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 201). 133 Ruth Fischer, die 1923-1925 mit Arkadij Maslow die KPD geleitet und sich 1934-1936 Trotzki angeschlossen hatte, bezeichnete Wolff als »ehemaliges Mitglied der KPD« und als »alte(n) Fachmann für illegale Angelegenheiten« (Ruth Fischer u. Arkadij Maslow, Abtrünnig widerWillen, a. a. O., S. 436). Auch sagte sie ihm (ebd.) »Verbindungen mit Frankreich, [...] und zum englischen Nachrichtendienst« nach. Ihre Anschuldigung, Wolff habe »sicherlich jahrelang für die GPU gearbeitet und m(ü)ss(e) in Washington als Agent bekannt gewesen sein« (ebd.), erscheint allerdings unglaubhaft, denn weshalb hätte dann Maslow noch unter Wolff an der PTZ mitgearbeitet? 134 Zumindest zwei SAP-Mitglieder waren an der neugegründeten PTZ tätig: ein aus Dessau stammender Rechtsanwalt namens Kuhn als Geschäftsführer bis Ende 1936, und Hermann Ebeling als Korrektor bis 1939 (er publizierte dort auch unter dem Pseudonym Hermann Linde). 135 Da sich der nach Prag emigrierte sozialdemokratische Parteivorstand (SOPADE) der Pariser Volksfront-Politik widersetzte, gehörten SPD-Mitglieder dem Ausschuss nur als Privatleute, nicht als Parteivertreter an (so u. a. Max Braun und Rudolf Breitscheid). Weitere sozialisti- sche, kommunistische oder trotzkistische (Splitter-)Gruppen waren nicht offiziell im Aus- schuss vertreten (s. U. Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 162). 136 Eine Schlüsselfigur ist vermutlich Karl Retzlaw, der - wie Wolff - als Spartakist zur KPD gekommen war und bis 1924 den illegalen Apparat geleitet hatte; aus dieser Phase datiert vermutlich ihre Bekanntschaft. Retzlaw hatte sich anschliessend durch KOMINTERN-Arbeit (z.T. im Münzenberg-Apparat) von der KPD-Leitung entfernt und 1933 den Trotzkisten angeschlossen. In seiner Autobiographie ist Wolff nur kurz erwähnt (s. K. Retzlaw, Spartacus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt/Main '1985, S. 363), doch arbeitete er mit Wolff im »Comité allemand« und wurde 1936 bei der PTZ unter seinem bürgerlichen Namen Karl Gröhl als Anzeigenakquisiteur geführt - dies zur Tarnung seiner politischen Aktivitäten und vertraulicher Missionen, die er auch für Wolff wiederholt aus-

33 Indessen gestatten neue Quellen'37 den Nachweis, dass sich die KPD schon vor der Umwandlung des PTB zur PTZ für das Blatt interessiert hatte. So erkun- digte sich ZK-Mitglied Herbert Wehner am 10.6.1936 (!) bei Münzenberg - damals noch KP-Vertreter im Pariser Volksfront-Ausschuss - über Möglichkeiten einer Finanzbeteiligung am PTB.m Im Dezember 1936 leistete Münzenberg im Parteiauftrag Finanzhilfe, Albert Norden wurde mit der Unternehmensprü- fung139 zwecks Verkaufsverhandlungen betraut. Am 24.1.1937 jedoch soll Mün- zenberg dem Parteisekretariat gemeldet haben, »die Sache [sei] nicht mehr so aktuell«140, er wolle den PTZ-Ankauf bei seiner nächsten Moskau-Reise bespre- chen. Bis zum Juni 1937 verhandelt Albert Norden für die KPD über den Kauf von Titel und Abonnentenliste der PTZ. Doch die Verhandlungen stocken: Der

führte (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 416-437). Vgl. z. B. ein Schreiben Retzlaws: »Lieber Fritz, ich muss Montag für einen Bekannten, der keinen Pass hat, nach London fahren. Sind dazu bestimmte Dinge nötig? Einladung etc? Ich habe einen ordentlichen Pass. 3 Tage werde ich bleiben. Eventuell gib mir einen Ausweis von der Par. Tageszeitung?« (Karl Gröhl [Retzlaw] an F. Wolff, 25.6.1936; BAP, PTZ, N° 64, B1.437; Hervorh. i. Orig.). Retzlaws Londoner Verbindungen, über die Wolff offensichtlich Bescheid wusste, weisen auf Karl Otten und Otto Lehmann-Russbueldt (s. K. Retzlaw, Spartacus, a. a. O., S. 362f.), die Verbindung zu britischen Regierungsstellen hatten, bzw. auf den britischen Geheimdienst, für den Retzlaw arbeitete. Mit Lehmann-Russbueldt hatte Wolff auch über den Vertrieb der PTZ in Gross- britannien verhandelt (BAP, PTZ N° 65, Bl. 288; 10.8.1936), und die KPD behauptete wiederholt, Wolff habe Gelder für die PTZ aus London erhalten! - Weitere Ex-Spartakisten im Umkreis Wolffs waren schliesslich auch Franz Pfemfert (der sich allerdings im Exil nurmehr als Fotograf betätigte: Wolff räumte ihm wiederholt Gratis-Annoncen für sein Photo- Studio Dorit ein; BAP, PTZ, N° 363, Bl. 5 u. 8), Frédéric Drach (der auch nach seinem offiziellen Ausscheiden aus der PTZ im Dezember 1936 weiterhin mit Wolff und Caro in Verbindung stand) sowie Jacob Walcher. Mit Walcher, der als Spartakist zur KPD (1919), nach seinem Parteiausschluss zur KPO (1928) und schliesslich zur SAP (1932) kam, verband Wolff eine mehr als zwanzigjährige Freundschaft, die Ende 1937 wegen der PTZ-Verhandlun- gen getrübt wurde. "7 Mein herzlicher Dank für Hinweise auf Aktenbestände des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs im Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin (heute: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv), gilt Herrn Wolfgang Klein, Berlin, und Frau Tania Schlie, . Die Bestände werden nachfolgend zitiert als SAPMO-BArch, ZPA. 138 [Kurt] an »Lieber Freund« [Münzenberg], 10.6.1936; SAPMO-BArch, ZPA 1 2/3/286, Bl. 380f. - Ein vom 15.6.1936 datierter vertraulicher Bericht Münzenbergs oder eines seiner Mitarbeiter verweist sogar auf zwei frühere »B. Berichte«, davon der letzte vom 1 O.Mai 1936! (SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 9Q. In derselben Akte (Bl. 16f.) ist ein Gesprächsproto- koll vom 3.7.1936 als »Bernhard-Bericht« betitelt. Möglicherweise hatte also Bernhard selbst Münzenberg noch vor dem »PTB-Skandal« über die schwierige Finanzlage unterrichtet - sie sassen schliesslich beide im Volksfront-Ausschuss -, und dieser dann seiner Partei berichtet. Dies würde auch erklären, dass die KPD Abschriften von einigen Bernhard-Briefen besass! Das Ergebnis dieser kritischen Durchleuchtung ist dokumentiert in einem mehrseitigen Bericht, der vielfältige Aufschlüsse über Budget, Auflage und Vertrieb der PTZ, über ihre Mitarbeiter etc. enthält, und deshalb im Anhang der Arbeit wiedergegeben wird. SAPMO- BArch, ZPA 1 2/3/358, Bl. 82 (Dahlem und Norden an Pieck, 21.6.1937, und Beilagen Bl. 83-95). 140 [Albert Norden?], Bericht über die Verhandlungen betr. »Pariser Tageszeitung«, o. D. [Mitte Januar 1938]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 203.

34 Bankier Hugo Simon, der ihm als Hauptgläubiger und damit als Verhandlungs- partner designiert wurde, erhöht seine finanziellen Forderungen und Bernhard verlangt Garantien für die politische Unabhängigkeit des Blattes. Im Mai 1937 platzen abschlussreife Verhandlungen, da Bernhard der KPD plötzlich nur noch eine 50-Prozent-Beteiligung anbietet. Im Juni 1937 argwöhnt Franz Dahlem in einem Bericht ans Politbüro (Wilhelm Pieck): »Meiner Meinung nach erschwe- rend ist die Tatsache, dass ausser uns noch irgend jemand mit diesen Leuten ver- handelt und ihnen wahrscheinlich Versprechungen gemacht hat, die wir ablehnen müssen.«141 Doch erst im September 1937 wurde die KPD-Führung gewahr, wer sie bei den PTZ-Verhandlungen ausgebootet hatte: Willi Münzenberg. Denn zum 1.1.1937 hatte Wolff die Zeitung an einen Schweizer Rechtsanwalt verkauft, der als Mittelsmann Münzenbergs und seiner Verbündeten, Bernhard und Simon, fungierte. Als der Anwalt zwei Monate später das Geschäft rückgän- gig machte, wurde Wolff erneut juristischer Eigentümer der PTZ, allerdings ohne diese zu leiten: Er hatte Hausverbot. Doch das Versiegen von Münzenbergs Geldquellen brachte am 24.6.1937 faktisch das Aus für seine »Holding«142, und Wolff führte einstweilen die Zeitung dank eines Moratoriums143 auf eigene Faust weiter. Dabei hatte Münzenberg in den verstrichenen sechs Monaten der hochver- schuldeten Zeitung144 massive Finanzhilfe verschafft: Die Quellen sprechen von 600.000 Francs.145 Was rechtfertigte solche Investitionen? Wohl kaum mehr die Idee eines Zentralorgans der deutschen Volksfront, denn Münzenberg hatte sich

141 Jean [Franz Dahlem] an »Lieber Freund« [Wilhelm Pieck], 8.6.1937; SAPMO-BAreh, ZPA I 2/3/358, Bl. 81. 142 Als »Holding (W.)« taucht die Münzcnberg-Gruppe auch in einer Mitarbeiterliste auf; BAP, PTZ, N° 5, Bl. 16. 14:1 Am 25.6.1937 schloss Wolff ein Moratorium mit Drucker, Lieferanten und Mitarbeitern; es findet sich als »Stillhalteabkommen« bzw. »Stillhalteguthaben« in Redaktionskorrespondenz und Kassenbüchern der PTZ häufig wieder. 144 Die Unternehmensprüfung, die die KPD im Rahmen der Verkaufsverhandlungen vorgenom- men hatte, ergab für die PTZ. zum 31. Mai 1937 eine Verschuldung von 795 958 FF und ein monatliches Dezifit von 62 295 FF! Dcnnoch zeigte sich die KPD interessiert: »Nach Meinung von Walter [Ulbricht; M. E.] sind die Hauptschwierigkcitcn nicht geschäftlicher sondern politischer Art und es wird noch eine längere Zeit vergehen, ehe der Boden geebnet ist.« (Jean [Franz Dahlem] und Albert [Norden] an »Lieber Freund« [Pieck], 22. 6. 1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 82; vollständiges Schreiben im Anhang). 145 Der KP-Bericht enthält eine (auf Wolffs Aussagen beruhende) Aufstellung, wonach 250.000 FF von dem schwedischen Bankier Olaf Aschberg kamen (der später auch Münzen- bergs Wochenzeitung Die Zukunft mitfinanzierte), 100.000 FF aus Spanien, 40.000 FF von Hugo Simon, 15.000 FF von Albert Greszinski, 30.000 FF von der KPD (Zahlung vom Dezember 1936) sowie 165.000 FF »französische Regierungsgelder und sonstige Zuschüsse« ([A. Norden?], Bericht über die Verhandlungen betr. »Pariser Tageszeitung«, o. D. [Mitte Januar 1938]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 206f.). - Albert Norden zitiert in einem anderen Bericht Wolff, demzufolge die spanischen Gelder die »Belohnung« für Waffenliefe- rungen seien, die der frühere Berliner Polizeipräsident Greszinski (SPD) mit Münzenbergs Hilfe für die Spanische Republik organisiert habe (Albert [Norden], Mitteilungen über die weiteren Verhandlungen zum Verkauf der PTZ, 27.11.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 261).

35 hinter dem Rücken seiner Partei an der PTZ beteiligt. Die PTZ wurde dadurch zum politischen Streitobjekt, das den schwelenden Konflikt zwischen Münzen- berg und der KPD146 einerseits und zwischen kommunistischen und linksbür- gerlich-sozialistischen Vertretern im Pariser Volksfront-Ausschuss147 anderer- seits eskalieren liess. Ein neuerlicher Versuch Bernhards im Oktober 1937, Wolff auszuschal- ten148, scheint diesen seinerseits veranlasst zu haben, insgeheim mit der KPD zu

146 Zum Konflikt zwischen der KPD und Münzenberg, der zunächst noch auf politischen Rückhalt in der KOMINTERN zählen konnte, s. Tania Schlie, Le »Cas Münzenberg« d'après le dossiers du KPD et du Komintern, in: Willi Münzenberg. Un Homme contre. Actes du Colloque international du 26 au 29 mars 1992 à Aix-en-Provence organisé par la Bibliothèque Méjanes, Aix-en-Provence 1993, S. 163-171. 147 Die Beziehungen zwischen beiden Gruppen hatten sich seit der Nominierung Walter Ulb- richts, der im April 1937 Willi Münzenberg als KPD-Vertreter im Volksfront-Ausschuss ablöste, ständig verschlechtert; die KPD machte Münzenberg dafür verantwortlich. Die Überlagerung dieses Konflikts mit dem Streit um die PTZ beschleunigte Münzenbergs ZK- Ausschluss, den Ulbricht nun betrieb: »Im Volksfrontausschuss haben auf Veranlassung Münzenbergs die Sozialdemokraten weitere Zusammenarbeit abgelehnt bis zur Stellungnahme des ZK der Partei. Wir waren gezwungen, im Ausschuss nachzuweisen, dass die Sabotage der Arbeit nur der Durchsetzung persönlicher Interessen Münzenbergs dient. Sozialdemokratische Kampagne gegen KPD zwingt uns, die Parteifunktionäre Uber Fall Münzenberg zu informie- ren. [...] Schlagen Dir vor, das EKKI um Zustimmung zum Ausschluss Münzenberg [sie] zu ersuchen.« - »Verhandlungen Pariser Tageszeitung bis auf weiteres aussichtslos. Halten politisch notwendig, Deutsche Volkszeitung ab 1. November zweimal wöchentlich herauszu- geben. Monatliches Defizit anfangs mindestens 60 000 Francs.« (2 Telegramme von Eiche [Walter Ulbricht] ans Politbüro, 30.9.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 218). - Da Münzenberg zu den wiederholt angeordneten Berichten über die PTZ-Verhandlungen nicht in Moskau erschien, liess die KOMINTERN die Verkaufsverhandlungen per Order an die KPF - die Mittelsmänner gestellt hatte - stoppen: »Wegen des Ankaufs des >Pariser Tageblattes< [sie] dürfen keinerlei Verpflichtungen eingegangen werden, bis hier Aussprache erfolgt. Auch wenn dadurch der Kauf nicht zustande kommt.« (Telegramm des EKKI-Sekretariats an [Maurice] Thorez, 7.12.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 272). 148 Laut Wolffs Aussage versuchte Bernhard am 19.10.1937, den Drucker Marcel Schwitzguebel zur Fortführung der PTZ ohne Wolff zu bewegen. Dieser informierte Wolff, der daraufhin Bernhard kündigte und ihn bezichtigte, geheime Subventionen unterschlagen zu haben. Konkret handelte es sich um eine Unterstützung von 15.000 FF monatlich, die die PTZ im ersten Halbjahr 1937 von der französischen Regierung - vermutlich aus dem geheimen Pressefonds des Quai d'Orsay - erhalten hatte (SAPMO-BArch, ZPA 1 2/3/287, Bl. 261). Schlichtungsbemühungen Jacob Walchers, um den von Wolff angestrengten Gerichtsprozess zu verhindern, scheiterten; Walcher hinterbrachte Wolff Münzenbergs Drohung, dass »im Falle von eintretenden Schwierigkeiten für P. [Münzenberg] oder E. [Bernhard], A. [Wolff] binnen 24 Stunden aus O. [Frankreich] ausgewiesen würde« (Friedrich [i. e.?], Niederschrift aus dem Gedächtnis über eine Unterredung mit A. [Wolff], dem J. [Verleger], im Beisein von M. [Robert Breuer], dat. 28.10.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 118). Münzenberg soll darauf bei Wolff telefonisch dementiert und mit gerichtlichen Schritten gegen die Verbreitung von Walchers Behauptungen gedroht haben (Albert [Norden], Mitteilung über die weiteren Verhandlungen zum Kauf der PTZ, [27.11.1937]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 261). - Faktum ist, dass am 4.7.1939 gegen Wolff und Kurt Caro, der inzwischen auch gegen Bernhard und Münzenberg Partei ergriffen hatte, ein Ausweisungsbefehl der französi- schen Behörden erging (BAP, PTZ, N° 61, Bl. 83f.), der dank der Einschaltung des Star- anwaltes Henri Torrès in den bereits erwähnten, bis Anfang Juli 1939 dauernden polizeilichen

36 verhandeln, um zu verhindern, »dass die J. [PTZ] ein Kampfblatt von P. [Münzen- berg] gegen seine Partei werde«149. Die KPD leistet Zuschüsse für die PTZ; Ende November 1937 ist der Kaufvertrag abschlussreif, doch die KPD hat das Geld nicht sofort zur Verfügung und erhält deshalb ein Vorkaufsrecht bis zum 1.1.1938: »Wir müssen schnell handeln, da selbstverständlich bei den gegenwärtigen Auseinander- setzungen von entscheidender Bedeutung ist, ob Münzenberg die Zeitung hat oder wir«150, rät Walter Ulbricht, Münzenbergs entschiedenster Gegner. Um Bernhard bei der PTZ zu halten - denn die KPD wollte kein Partei-, sondern ein Tarnorgan schaffen —, zeigt sich Wolff bereit, die PTZ als Blatt der gesamten Volksfront-Grup- pen fortzuführen und in eine Aktiengemeinschaft umzuwandeln, »damit nicht mehr ein Einzelner Besitzer der einzigen Tageszeitung der deutschen Opposition ist«151. Doch Wolffs Versicherungen erscheinen heute mehr als zweifelhaft. Zum einen, weil sich neben der Abschrift seines eben zitierten, zweiseitigen Originalschreibens an Bernhard vom 7.1.1938 auch ein sechsseitiger Briefentwurf vom 4.1.1938152 in den Akten des Politbüros der KPD findet, nebst den gesammelten Abschrif- ten153 zum Rechtsstreit um Bernhards Kündigung. Zum anderen, weil Wolffs Ver- sion der KPD-Beteiligung an der PTZ durch die Partei-Akten selbst dementiert wird. So schrieb er an Rudolf Olden, die Volksfront-Gruppe der KPD habe durch den Bankier Raymond Bernheim154 der Gruppe um Bernhard eine 50-Prozent-Be- teiligung an der Zeitung angeboten; ein erhaltener Brief Ernest Jouhants155, der

Zwangsaufcnthalt abgemildert wurde (s. a. W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 2210- 149 Friedrich [i. e.?], Niederschrift aus dem Gedächtnis über eine Unterredung mit A. [Wolff], dem J. [Verleger], im Beisein von M. [Robert Breuer], dat. 28.10.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 118. 15,1 W. [alter Ulbricht] an »Lieber Freund« [Wilhelm Pieck], 27.11.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 255. 151 Fritz Wolff an Georg Bernhard, 7.1.1938; BAP, NL Bernhard, N° 50, Bl. 24. - Dieses Originalschreiben ist bereits zitiert bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. 0., S. 204. 152 Der Durchschlag des zitierten Originalschreibens Wolffs an Bernhard vom 7.1.1938 (BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 24f) findet sich in der Postablage der PTZ (BAP, PTZ, N° 58, Bl. 280, eine Abschrift davon in den KPD-Akten (SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 129f.). Dort findet sich auch ein - als Abschrift gekennzeichnetes, doch vermutlich nicht versandtes - öseitiges Schreiben Wolffs an Bernhard vom 4.1.1938 (SAPMO-BArch, ZPA 1 2/3/358, Bl. 192-197), das mit dem versandten Originalschreiben aus BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 24f. in mehreren Textpassagen identisch ist. 153 SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 120-132 enthält Abschriften der Korrespondenz zwischen Wolff und Bernhard bzw. ihren Anwälten, deren Originale sich in den Redaktionsakten der PTZ bzw. im Nachlass Bernhard befinden. Sie wurden vermutlich durch Wolff der KPD zugänglich gemacht. 154 »Bernheim ist der Vertreter der Volksfront-Gruppe der KPD, die der anderen Gruppe, nämlich Heinrich Mann/Bernhard/Max Braun/Walcher das Angebot gemacht hat, gemeinsam die Pariser Tageszeitung zu übernehmen und weiterzuführen auf der Basis 50:50.« (Fritz Wolffan Rudolf Olden, 15.2.1938; BAP, PTZ, N° 81, Bl. 64-66, hierBl. 65. - Das Schreiben ist auch zitiert bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 204). 155 »Ich war erstaunt, dass bei der letzten Besprechung Sie völlig andere Vorschläge unter- breiteten, die sich nicht vereinbaren lassen mit den bisherigen Verhandlungen. Sie schlagen

37 für die KPD als Käufer auftrat, schreibt indessen nicht nur Bernhard diese Initiative zu, sondern lehnt sie explizit ab! In demselben Brief an Olden behauptete Wolff auch, die KPD habe »im November und Dezember [1937; M. E.], gleichzeitig mit ihrem Angebot, die Zeitung gemeinsam mit den anderen Gruppen der Deutschen Volksfront zu übernehmen, der Tageszeitung ohne jede Bindung [...] einen Betrag von 102.900 Frcs [...] zur Verfügung gestellt«156. Doch zu besagtem Zeitpunkt stand Wolff, wie wir sahen, kurz vor dem Verkauf der Zeitung an die KPD und hatte ihr bereits Stellenneubesetzungen"7 zugesagt. Zur selben Zeit gaben auch Trotzkisten wie Maslow, die der KPD seit langem ein Dorn im Auge waren158, ihre Mitarbeit an der PTZ auf. Die neuen Quellen dokumentieren den Kampf, den KPD und Münzenberg in den Jahren 1936-1938 um die PTZ führten, und der selbst nach Münzenbergs ZK-Ausschluss im März 1938 bzw. nach Bernhards Niederlegung der Chefre- daktion zum 12.1.1938 andauerte.159 Ein Brief des damaligen Mitarbeiters Kurt Kersten an seinen Freund Manfred Georg illustriert die verworrene Lage:

vor, dass wir uns mit 50 % an dem Unternehmen beteiligen sollen. [...] Ich würde diesem Vorschlag zustimmen, wenn der Zeitung dadurch gedient würde. Dies ist aber nicht der Fall.« [Ernest] Jouhant an »Sehr geehrter Herr Professor« [G.Bernhard], 26.5.1937; SAPMO- BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 77f. - Dass Jouhant und Bernheim beide (evtl. von der KPF delegierte) Unterhändler für die KPD waren, ist somit erwiesen (s. dazu W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 204). 156 Fritz Wolff an Rudolf Olden, 15.2.1938; BAP, PTZ, N° 81, Bl. 65 (Hervorh. i. Orig.). 157 »W.[olff] versprach mir, dass er uns direkt nach Überreichung des Betrages für die Option das Recht einräumen wird, folgende Posten von uns besetzen zu lassen: den Abonnentenbuchhalter, die Sekretärin von W.[olff], die Nachtsekretärin der Redaktion und den Pointcur (das ist derjeni- ge, der in der Druckerei die Kontrolle über die ausgelieferten Zeitungen macht). Diese Funktio- nen, die wir besetzen würden, werden von grosser Bedeutung sein für , wo wir weiter über den Kauf der Zeitung verhandeln werden, da sie uns über alles, was dort vorgeht, unter- richten würden.« (Albert [Norden], Mitteilungen über die weiteren Verhandlungen zum Kauf der PTZ [27.11.1937]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 265). - Die Redaktionsakten belegen, dass am 18.12.1937 der Setzer Richard Eiling bei der französischen Berufsorganisation seine Zu- lassung als »Pointcur« zwecks Anstellung bei der PTZ beantragte (BAP, PTZ, N° 3, Bl. 151/1), doch bereits zum 31.1.1938 wieder gekündigt wurde (BAP, PTZ, N° 3, Bl. 152/3). Der Verkauf der Zeitung an die KPD war nicht zustande gekommen! - Die Redaktionsakten (BAP, PTZ, N° 5/1, Bl. 91 und N° 6, Bl. 85) belegen ferner, dass 1937/38 Gertrud Kahle, die Frau von Hans Kahle, der früher im Militärischen Apparat der KPD tätig gewesen war und nach Hans Bcimlers Tod die XI. Internationale Brigade in Spanien befehligte, in der Administration (Abonnentenab- teilung) der PTZ angestellt war. Möglicherweise hat sie auch der KPD als Informantin gedient. 158 Vgl. Jean [Franz Dahlem] an »Lieber Freund« [Pieck], 8.6.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 81. - Die Verbindung von Karl Gröhl (Retzlaw) zur PTZ scheint der KPD unbekannt gewesen zu sein. 159 S. den Brief Münzenbergs an »Lieber Freund« v. 24.12.1939; Archives Nationales Paris (fortan: AN), F7 15128, Dossier 3 (Nachdruck bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exilc, a. a. O., S. 267). Darin zitiert Münzcnberg Wolffs Aussage, noch »bis zum Novem- ber 1938 erhebliche Gelder aus Moskau und von den Kommunisten« unter der Bedingung erhalten zu haben, »den Einfluss von Mün/.enberg zu bekämpfen«. - Münzenbergs Konflikt mit der KPD endete mit seinem Parteiausschluss, dem er durch die öffentliche Ankündigung seiner Trennung von der KPD (Alles für die Einheit, Die Zunkunft v. 10.3.1939) zuvorgekom- men war (s. dazu auch: Tania Schlie, »Alles für die Einheit«. Zur politischen Biographic Willi Münzenbergs (1936-1940), M. A„ Universität Hamburg 1990).

38 Du möchtest also gern wissen, was mit der P. T. los ist. Das weiss kein Mensch. Der Drucker behauptet, es [sie] gehöre ihm, Bernhard erklärt, er habe nichts damit zu tun, Caro erklärt, er gehöre nicht der Redaktion an, in der er nur zu treffen ist, Wolff ist dort täglich anzutreffen und behauptet, das Blatt habe ihm nur durch Zufall gehört. Der dicke Misch sitzt und gibt beschriebenes Papier in Satz. Eine Gruppe erklärt, sie mache das Blatt weiter, wenn Bernhard Herausgeber und Chefredakteur werde. Die andere Gruppe will nicht, will einfach nicht. Details von unbeschreiblicher Delikatesse kann ich leider unmöglich schreiben, obwohl mir das Herz weh tut. - Das Ganze ist ein sog. Tohuwabohu; und das Blatt kann jeden Tag aufhören. Alles ist ein einziger Wirrwarr. Auch sonst streiten sie sich wie die Verrückten, eine solche Veitstänzerei habe ich noch nie erlebt. Im übrigen ist die Situation alle 12 Stunden anders.""

Bislang ungeklärt sind denn auch die Gründe für den politischen Kurswechsel, den die PTZ Mitte/Ende 1938 vornahm. Untrügliche Anzeichen hierfür waren u. a. der Redaktionseintritt von Anna Geyer16', die Kündigung Robert Breuers162 und Erich Kaisers163, kurz darauf auch Kurt Caros'64. Die Ankunft Joseph Born- steins165 als neuem Chefredakteur machte ihn perfekt. Dieser dezidierte Anti- kommunist entstammte ausgerechnet dem Lager Leopold Schwarzschilds, seit dem »fTß-Skandal« Bernhards persönlicher Feind und Volksfront-Gegner.166 War es wohl politischer Opportunismus oder ernster Gesinnungswandel, der Wolff nun veranlasste, sich an Bornstein zu binden?167

"" Kurt Kersten an Manfred Georg, 2.2.1938; DLA, NL M. Georg, N° 75.2986/1. 161 Anna Geyer (SPD) war die Frau des SOPADE-Mitglieds und Herausgebers des Neuen Vor- wärts, Curt Geyer, und gehörte der PTZ-Redaktion vom 27.6.1938 bis zum 31.5.1939 an (s. die Daten in BAP, PTZ, N° 6, Bl. 63 -65 und N° 8, Bl. 6, die bisherige Angaben in der Forschungsliteratur korrigieren). Sic redigierte insbesondere die Emigrationsseite »Wohin auswandern?«. - W. F. Peterson (The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 151) wies bereits darauf hin, dass Wolff schon 1920/21 mit der damals noch der VKPD angehörenden Anna Geyer zusammengearbeitet hatte. 162 Robert Breuer wurde am 23.12.1938 fristlos gekündigt (BAP, PTZ, N° 3, Bl. 177). Als Kündigungsgrund nennt W. F. Peterson (The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 224 u. 228) eine Intrige von Breuer und Kaiser gegen Caro und Wolff, die unter polizeilichem Zwangsaufcnthalt standen. Politische Gründe - der Sozialdemokrat Breuer hatte in weitgehen- der politischer Isolation von der SOPADE Wolffs Verhandlungen mit der KPD unterstützt - kamen vermutlich hinzu (s. unten). 16:1 Zusammen mit Breuer am 23.12.1938 fristlos gekündigt. 164 Zum 15.1.1939 gekündigt. 165 Amtsantritt am 23.12.1938 laut Brief von Gerda Ascher an Manfred Georg, 20.4.1939; BAP, PTZ, N° 70, Bl. 167. - Den Lesern wurde der Wechsel erst in einer redaktionellen Notiz in PTZ Jg. 4 N° 884 v. 4.1.1939, S. 1 bekanntgegeben. 166 Als Folge des »PTß-Skandals« hatte Schwarzschild, von Poliakovs Unschuld überzeugt, Ende 1936 alle Brücken zu Bernhard und dem Volksfront-Ausschuss abgebrochen. Nach seinem Austritt aus dem Schutzverband deutscher Schriftsteller in Paris sowie aus dem von Bernhard präsidierten Berufsverband deutscher Journalisten in der Emigration gründete er den »Bund Freie Presse und Literatur«, in dem sich seine Parteigänger sammelten. - Auch Bornsteins Verhältnis zu Bernhard war seit langem gespannt: Er hatte bereits 1930 im Tage-Buch Bernhard wegen des »Ullstein-Skandals« angegriffen. 161 Wie W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 231, bereits schrieb, schloss sich Wolff im Londoner Exil 1943 wiederum der kommunistischen »Bewegung Freies Deutschland in Grossbritannien« an. Seiner Charakterisierung Wolffs als »classical indepen-

39 Möglicherweise erfolgte das politische Revirement im Zusammenhang mit den Verkaufsverhandlungen, die Wolff im Dezember 1938 mit Karl Spann führte. Es ist derzeit noch unklar, für wen dieser tschechoslowakische Emigrant stand, der ab 1.2.1939 in den Redaktionsakten als Chef der Inseratenabteilung erscheint.'68 Nicht auszuschliessen ist, dass er Kontakt zur Prager SOPADE unterhielt.169 Eine weitere Vermutung wäre, dass die französische Regierung - insbesondere nach der Absetzung Pierre Comerts als Pressechef des Quai d'Orsay im Oktober 1938 - Druck auf Fritz Wolff ausgeübt hat.170 Dies legt nicht nur ein Schreiben Wolfis nahe, in dem er den Quai d'Orsay über die redaktionelle Umbesetzung informiert171, sondern auch ein weiterer Brief Kurt Kerstens an Manfred Georg:

dant socialist in search of a politica! home [who] typified the moral dilemma of the left- bourgeois Tageblatt circle« (ebd., S. 231), ist allerdings nicht zuzustimmen; vielmehr hat Wolff das Profil eines von allen Wendungen der KPD gebeutelten Alt-Kommunisten und Ex- Kaders, der im Exil - vergeblich - nach politischen Alternativen sucht. "" Die »Urlaubsliste 1939« nennt als Eintrittsdatum den 1.2.1939 (BAP, PTZ, N° 8, Bl. 6); eine Personalliste verzeichnet Karl Spann, geb. am 18.9.1897 in Teschen, tschechoslowakische Staatsangehörigkeit, als »chef de publicité« (BAP, PTZ, N° 5, Bl. 9). Demnach besass Spann zumindest die Nutzungsrechte für den Annoncenteil, das wirtschaftliche Rückgrat der Zeitung. 169 War es Zufall, dass ab Februar 1939 in der PTZ zweimal wöchentlich Werbeanzeigen für den Neuen Vorwärts erschienen? Anna Geyer gehörte zu dem Zeitpunkt der PTZ-Redaktion an! Auch berichtete Albert Norden bereits im November 1937 seiner Partei, dass Jacob Walcher »in der nächsten Zeit nach Prag fahren wird, um mit Aufhäuser und Hertz zu verhandeln, um sie für die Gruppe [Bernhard/Simon/Münzenberg; M. E.] zu gewinnen.« (Albert [Norden], Mitteilung über die weiteren Verhandlungen zum Kauf der PTZ, [27.11.1937]; SAPMO- BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 260). - Stichhaltige Beweise müssten indessen die Vermutung erhärten! 17(1 Im Zusammenhang mit der Verurteilung Wolffs und Bernhards 1938 in dem von Poliakov angestrengten Prozess zum »PTB-Skandal« notierte Albert Norden ein Gespräch mit Fritz Wolff, das dessen Version des Vorgangs wiedergibt: »W.[olff] sagte mir: >Wir bekamen damals von der Sûreté Générale die Mitteilung, dass Poliakov mit einem Herrn Schmolz von der deutschen Gesandschaft verhandle und dass die Verhandlungen die Zeitung beträfen. Darauf ging ich zum Kammerabgeordneten [Salomon] Grumbach, ein Freund von Willi M.[ünzenberg], und informierte ihn über die Mitteilung, die ich von der Sûreté Générale erhalten hatte, sowie von meiner Absicht, die Zeitung an mich zu bringen. Grumbach bestärkte mich und sagte, ich solle sofort handeln. Deshalb hat vor kurzem unser Anwalt, [Henri] Torrès, bei Grumbach interveniert und ihm gesagt, dass, falls die Verurteilung von B.[ernhard] und mir bestehen bliebe, er, Grumbach, in die Sache hineingezogen würde. Ich hoffe, dass Grumbach auf Grund dieser Intervention an zuständiger Stelle versuchen wird, die Sache aus der Welt zu schaffend« (Albert [Norden], Mitteilung über die weiteren Verhand- lungen zum Kauf der PTZ, [27. 11. 1937]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 260). Aus- serdem drohte der Prozess wegen Unterschlagung, den Wolff gegen Bernhard 1938 an- strengte, die geheimen Regierungsgelder für die PTZ an die Öffentlichkeit zu bringen. Möglicherweise intervenierten also der Quai d'Orsay oder sozialistische Kreise, um den öffentlichen Auseinandersetzungen ein Ende zu bereiten. Die konsultierten Akten Pierre Comerts im Archiv des Quai d'Orsay enthalten leider keine weiteren Hinweise. 171 Direction/W.[olff] an M. le Directeur du Bureau de Presse du Ministère des Affaires Etrangè- res, 26.12.1938; BAP, PTZ, N° 3, Bl. 63. - Wolff gibt darin bekannt, dass Bornstein die politische Leitung [sie] der PTZ übernommen habe, und zitiert Schwarzschild als Leumund. Gleichzeitig meldet er den Austritt von Breuer und Kaiser und gibt die Versicherung ab, »dass die neue Redaktion unserer Tageszeitung ihrer Pflicht eingedenk (sei), ihren gesamten

40 Die Sensation hier ist die >Pariser Tageszeitung<. Das ist nun wieder eine schöne Affaire. Wolff ist im Begriff das Blatt zu verkaufen. Reflektant ist Karl Spann, von dem Du ja wohl weisst, dass er >verschiedenes< Geld gemacht hat; er hat (zur Zeit) ein Vorkaufrecht und die Sache wird wohl in Kürze perfekt werden. Inzwischen hat man aber schon Breuer und Kaiser aus der Redaktion geworfen, und dafür Bornstein und Misch eingesetzt. Dieser Wechsel vollzog sich ganz plötzlich und nicht ganz ohne Eingreifen höherer Gewalt. Man hat bei den Behörden wieder ein Mal [sie] die Nase von den Emigranten voll, d. h. von den Deutschen, wie Du Dir ja denken kannst.172

»Schwamm drüber«, lautete denn auch die Parole Joseph Bornsteins in seinem Kommentar zur 1000. Nummer der PTZ im Mai 1939 - womit er nicht nur unliebsame Erinnerungen an den Kampf um die PTZ, sondern generell an das politische Engagement der Zeitung für die deutsche Volksfront gemeint haben dürfte. Denn wo die Zeitung im Vorjahr zumindest noch Appelle zur Einigung der deutschen Opposition veröffentlicht hatte, schienen solche in Joseph Born- steins Augen bereits überflüssig.171 Entgegen dem früheren redaktionellen Anspruch, alle »Gruppen« und »Parteiungen«174 der deutschen Opposition publizistisch zu repräsentieren (aufgrund dessen die Zeitung ja gerade in die politischen Fraktionskämpfe verstrickt worden war), vertrat Bornstein die Auf- fassung, »dass der Zwist in den Cliquen und Sekten der Emigration uns über- haupt nicht berührt«175. Dieser selbstgewählte Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit stellte die deutlichste Absage an Georg Bernhards Erwartungen dar, die PTZ zu einem führenden Organ der deutschen Emigration zu machen. Gleichzeitig aber reflektiert er auch den spürbaren Umschwung einer öffentlichen Meinung, die nach dem Scheitern der Volksfront-Bewegung in Frankreich und innerhalb der deutschen Hitler-Opposition die realen Wirkungsmöglichkeiten der Exilpresse pessimistischer als in den Anfangsjahren beurteilte.

Einfluss innerhalb der deutschen Emigration geltend zu machen, damit diese die Bedingun- gen, unter denen sie das Gastrecht in Frankreich geniesst und für die jenes die Gegenleistung ist, strikt befolge« (ebd., Übers, d. Verf.). 172 Kurt Kersten an Manfred Georg, 28.12.38; DLA, NL M. Georg, N° 75.2986/5. 173 Nochmals zu Wort kommen soll Kurt Kersten, der seine Eindrücke so schilderte: »Bornstein sitzt in der Pariser Tageszeitung, Caro sitzt, glaube ich, im Orkus. Bornstein macht das Blatt nicht uninteressant, aber natürlich in der Richtung der schwarzschildschen Politik, ohne ihre Schärfe. - Die K. P. hat ihren Leuten verboten dort zu arbeiten wie es ihnen auch verboten ist, an der >Zukunft< mitzuarbeiten; so werden den Leuten, die schon so geringe Publikations- möglichkeiten haben, noch die paar Publikationsmöglichkeiten genommen.« (Kurt Kersten an Manfred Georg, 1.3.1938 [11939]; DLA, NL M. Georg, N° 75.2986/2). 174 »Welchen Sinn haben die Parteiungen innerhalb der deutschen Opposition? Keinen! Denn nur die Einigkeit kann dem Machtlosen Macht verschaffen. Deshalb kennt die Pariser Tageszei- tung lediglich ein Ziel: die Einigung Aller - über alle Gruppen hinaus!« Mit dieser Parole warb die PTZ für die Pluralität ihrer Mitarbeiter (PTZ Jg. 3 N° 823 v. 23/24.10.1938, S. 3). 175 »Damit ergibt sich, dass der Zwist in den Cliquen und Sekten der Emigration uns überhaupt nicht berührt. Was gewesen, kommt nicht wieder. Ein Zurückleuchten hat niemand bemerkt, woraus sich wohl ergibt, dass da nichts leuchtend niederging. Schwamm drüber! Wir sind niemandem verschrieben und niemandem feind. Lasst die Toten ihre Toten begraben!« (Redaktionell [J. Bornstein], Nummer 1000, PTZ Jg. 4 N° 1000 v. 19.5.1939, S. 1).

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