Interview „Viele unvergessene Momente“ Nach 502 Bundesligaspielen beendete Stefan Reuter im Mai seine aktive Karriere und arbeitet nun als Team-Manager und Assistent der Geschäftsführung in Dortmund. Stadionwelt sprach mit ihm über unvergessliche Momente, heiße Derbys und unterschiedliche Wahrnehmungen der Atmosphäre im Stadion.

sich eigentlich Ihre Wahrnehmung der sich natürlich auch auf die Spieler. Wenn Atmosphäre als Spieler und als Mana- du am Mittwoch schon beim Tanken ger? oder beim Bäcker auf das Spiel ange- Reuter: Sie haben Recht, es gibt Unter- sprochen wirst, in einer Häu gkeit wie schiede. Ich nehme diese großartige sonst nie, ist das kein normales Duell. Atmosphäre jetzt noch besser wahr. Stadionwelt: Wie Bayern gegen 1860 Als Spieler ist man unglaublich konzen- oder Nürnberg gegen Bayern, was Ihnen triert, wenn man den Platz betritt, und als gebürtiger Franke sicherlich ähnlich bekommt vielleicht gar nicht so viel mit. wichtig war? Jetzt fange ich vor und nach dem Spiel Reuter: 1860 gegen Bayern ist sicher ähn- noch mehr Reaktionen ein. lich wie Dortmund gegen Schalke. Eine Stadionwelt: Was geht denn in Spielern schöne Brisanz. Nürnberg gegen die vor, wenn Sie einlaufen und vor einer Bayern war für mich immer ein beson- solchen Kulisse spielen? deres Spiel, auch wenn die Bayern na- Reuter: Das ist etwas ganz Besonderes, türlich in den vergangenen Jahren und vor dieser Kulisse zu spielen. Und zwar Jahrzehnten sehr dominant waren. jedes Mal wieder. Die Atmosphäre ist Stadionwelt: Und wie war es für Sie in traumhaft! Italien? Stadionwelt: Was genau nimmt man ei- Reuter: Als ich bei Juve war, spielte ja gentlich auf von der Atmosphäre? Ge- der AC noch in der . Wir sänge, einzelne Zwischenrufe? wurden Zweiter, unser Lokalrivale Drit- Reuter: Sicher, man sieht das alles, be- ter. Diese Duelle sind am ehesten zu Zwölf Jahre als Spieler beim BVB Foto: Stadionwelt kommt das mit, ist begeistert. Aber die vergleichen mit den Münchner Stadt- Stimmung vorher und nachher, wie sie derbys. Juve hat in Italien die meisten Stadionwelt: Hallo Stefan Reuter, gut ein- sich vielleicht verändert – da bekommt Fans und lockt die meisten Zuschauer gelebt im neuen Job? man wirklich mehr mit, wenn man nicht ins Stadion. Der AC hat in Turin selbst Reuter: Ja, es ist wunderbar, macht sehr Spieler ist. Es ist etwas anderes! sehr viele Anhänger, insofern ist das wie viel Spaß. Ein absoluter Traumjob! Es ist Stadionwelt: Schaut man sich beim Bayern gegen 1860. immer toll, wenn man sein Hobby zum Warm- bzw. Einlaufen überhaupt die Stadionwelt: Wie erlebten Sie damals die Beruf machen kann. Ich habe als Team- Choreographien auf den Rängen an? Atmosphäre in Italien? Manager immer noch eng mit dem Fuß- Reuter: Ja. Unsere Fans sind da sehr Reuter: Als ich 1991 nach Turin wech- ball zu tun, bin im Metier geblieben. einfallsreich und kreativ. Das puscht selte, war die Begeisterung unglaublich! Stadionwelt: Fehlt es Ihnen dennoch, nicht die Mannschaft ungemein. Allein wie Durch die Weltmeisterschaft in Italien mehr selbst auf dem Rasen stehen? man begrüßt und jeder einzelne gefeiert 1990 herrschte eine unglaubliche Eu- Reuter: Nein, überhaupt nicht. Ich bereite wird, das ist etwas ganz Besonderes. phorie. Die Liga hat geboomt ohne mich ja nach wie vor auf die Spiele vor, Stadionwelt: Vergleichen Sie doch bitte Ende. Die großen Klubs hatten die wenn jetzt auch in etwas anderer Form. mal die Arenen der beiden Erzfeinde Topausländer unter Vertrag, die Serie Und ich trainiere ja manchmal noch mit, aus dem Pott: das Dortmunder Westfa- A besaß damals einen enormen Stellen- das ist auch ein Vorteil, wichtig auch für lenstadion und die Arena AufSchalke. wert. die eigene Zufriedenheit... Reuter: Wir haben mit dem Westfalen- Stadionwelt: Gibt es eine Partie, die Ih- Stadionwelt: …und hilft über den ersten stadion das Nonplusultra! Es hat Flair nen aufgrund der Atmosphäre beson- „Trennungsschmerz“ hinweg. und Tradition, ist einfach ein optimales ders in Erinnerung geblieben ist? Reuter: Genau. So ist es besser, als von 100 Fußballstadion. Wir haben einen Fuß- Reuter: Da gibt es unzählige Spiele mit auf Null zu gehen, ich trainiere langsam balltempel, AufSchalke ist eine Multi- unglaublich vielen schönen Momenten. ab. Ich war in der glücklichen Lage, sehr, funktions-Arena. sehr lange Pro -Fußball spielen zu dür- Stadionwelt: Apropos Schalke: Schwarz- fen, konnte mich also jahrelang auf das Gelb gegen Königsblau ist mehr als ein Karriere-Ende vorbereiten und wusste, Fußballspiel. Sind diese Lokalderbys dass altersbedingt irgendwann Schluss nach wie vor etwas Besonderes für Sie? ist. Jetzt kommt ein neuer Bereich, den Reuter: Diese Duelle sind etwas Beson- ich mit viel Spaß und Motivation angehe, deres, auch wenn früher sicherlich noch habe genaue Vorstellungen, wohin sich mehr Emotionen im Spiel waren. Schon das entwickeln soll. unter der Woche wird über dieses Spiel Stadionwelt: Das ist gesprochen, und auch die Nachwirkun- ein Fußballtempel. Wie unterscheidet gen sind anders als sonst. Das überträgt Der Dank der Fans

54 Stadionwelt 09/2004

s54-55_Spielerinterview.indd 54 27.08.2004 08:17:23 Interview

Der Moment, als wir 1990 Weltmeister geworden sind, wird sicherlich im- Stefan Reuter mer ein ganz besonderer bleiben. Das Halb nale 1996 im tollen Londoner Persönliche Daten Wembleystadion wird mir ewig in Er- Name: Reuter innerung bleiben. Ebenso das Champi- Vorname: Stefan ons-League-Finale 1997 gegen Juventus Geburtsdatum: 16.10.1966 Turin in München. Und die deutschen Geburtsort: Dinkelsbühl Meistertitel. Das alles vergisst man als Nationalität: deutsch Spieler nie. Größe: 1,81 m Stadionwelt: Beschimpfungen von Gewicht: 75 kg Mannschaft und Vorstand durch die Schuhgröße: 42 Fans sowie Busblockaden sind heute Familienstand: Verheiratet mit Birgit, an der Tagesordnung. Wie stehen Sie 3 Kinder (Jessica, 11, Jennifer, 9, und dazu? Stefan, 4) Reuter: Das ist eine Tendenz, die mich Ausbildung: Mittlere Reife; Abitur wegen beunruhigt. Man muss jede Gelegen- Profi karriere abgebrochen heit nutzen, um ihr entgegenzusteu- ern. Durch Gespräche und Verhaltens- Laufbahn: Team-Manager Reuter Foto: Krebs weisen, Körpersprache und Auftreten Vereine: TSV 1860 Dinkelsbühl, 1. FC – auch außerhalb des Platzes – indem Nürnberg, Bayern München, Juventus Tu- bar verbunden sind für mich. Stimmungs- man sich gut präsentiert. Die Fans müs- rin, Borussia Dortmund (insgesamt 502 voll waren alle Stadien der Klubs, wo ich sen einfach stolz sein auf ihre Truppe! Bundesligaspiele/25 Tore) gespielt habe. Auch das Münchner Olym- Man muss sich stellen und auch mal sa- 1972 – 1982 TSV 1860 Dinkelsbühl piastadion und das Stadio delle Alpi. Die gen: „Tut uns Leid, das war ein schlech- 1982 – 1988 1. FC Nürnberg (100 Erstliga- Stimmung in Turin war topp, wenn auch tes Spiel.“ Das ist menschlich, man kann spiele/10 Tore; 25 Zweitligaspiele/3Tore) nicht zu vergleichen mit der im Westfa- nicht immer 100 Prozent abrufen. 1988 – 1991 Bayern München (95 Bun- lenstadion. Damals waren in Turin die Stadionwelt: Das funktioniert jedoch desligaspiele/4 Tore) Zuschauerzahlen noch höher als heute. nicht immer... 1991/1992 Juventus Turin (28 Serie-A- Inzwischen sind die Eintrittskarten teurer Reuter: Es ist wichtig, dass die Fans Spiele/kein Tor) geworden, vielleicht liegt es daran. Außer- erkennen, dass die Mannschaft alles 1992 – 2004 Borussia Dortmund (307 dem kommen viele Fans von weiter weg gibt. Aber man muss den Leuten auch Bundesligaspiele/11 Tore) und es gibt mit dem AC Turin einen zwei- klar machen, dass man nicht immer Nationalmannschaft: 69 Spiele (2 Tore) ten Klub, der eine gewisse Anhängerschaft erfolgreich sein kann. Es gibt Ups und Seit Juni 2004: BVB-Team-Manager und innerhalb der Stadt hat. Downs, aber man muss versuchen, das Assistent der Geschäftsführung Beste aus der jeweiligen Situation zu Stefans unangenehmste Stadien: machen und in schwierigen Phasen die Größte Erfolge: Weltmeister 1990, Europa- Reuter: Da gibt es genug, aber ich möchte Ärmel hochzukrempeln. Es läuft nicht meister 1996, Vize-Europameister 1992, nicht über bestimmte Stadien oder Verei- immer nach Wunsch, das ist im Leben Deutscher Meister 1989, 1990 (mit Bay- ne herziehen. Das mache ich nicht. Dass so, das ist im Sport so. Fußball ist nun ern), 1995, 1996, 2002 (mit Dortmund), Fußball in jedem Stadion Spaß macht, will mal ergebnisorientiert. In den Jahren, Champions-League-Sieger und Weltpokal- ich jedenfalls nicht unterschreiben. Es gibt in denen wir Titel gewonnen haben, hat sieger 1997 wirklich einige Stadien, in denen man sich keiner darüber diskutiert, dass wir da nicht wohl fühlt. Das liegt sowohl an der und da schlecht gespielt haben, sondern Die schönsten Stadien: Infrastruktur als auch an der Atmosphäre. sich einfach gefreut. Insofern muss man Reuter: Platz eins gehört ganz klar dem einfach das Verständnis wecken, dass Westfalenstadion. Es hat Flair und Tradi- So sieht das ideale Stadion aus: nicht alles immer rund laufen kann. Al- tion, ist einfach das Nonplusultra! Dann Reuter: Das Westfalenstadion kommt dem lerdings muss man stets das Maximale kommen das Giuseppe-Meazza-Stadion in Ideal sehe nahe. Probleme hatten wir des aus sich rausholen. Mailand, in dem ich häufi g gespielt habe. Öfteren mit dem Rasen, was aber klar ist. Stadionwelt: Wird über Fan-Anliegen ei- Old Trafford in Manchester ist toll, dort Das Stadion ist geschlossen, die Sonnen- gentlich in der Mannschaft gesprochen? habe ich sowohl mit dem Verein als auch einstrahlung kommt nicht so durch. Reuter: Ja, klar. Man bekommt die Stim- mit der Nationalmannschaft gute Erfahrun- mung grundsätzlich mit und regelmäßig gen gemacht. Natürlich das Olympiastadi- Die FIFA hat kürzlich erlaubt, Spiele gene-  nden Gespräche mit den Spielern statt. on in Rom, wegen der Größe und weil ich rell auf Kunstrasen austragen zu dürfen. ��Florian Krebs dort mit dem WM-Titel den größten Erfolg Was halten Sie davon? feierte. Und das Bernabeu-Stadion in Ma- Reuter: Ich fi nde es enorm, wie die Ent- drid, wo ich die verrückteste Geschichte wicklung voranschreitet. Mittlerweile gibt meiner Karriere erlebt habe, als das Tor es Kunstrasenplätze, wo man kaum merkt, gefallen ist und wir lange auf den Anpfi ff dass man sich auf einem befi ndet. Wenn warten mussten. die Entwicklung so weiter geht, werden wir irgendwann nur noch auf Kunstrasen oder Die stimmungsvollsten Stadien: auf einem Gemisch spielen. Allerdings darf Reuter: Die eben genannten, weil Atmo- die Verletzungsgefahr nicht höher sein als sphäre und persönliche Erinnerungen, die auf einem normalen Rasen. Die Gesund- man mit den Stadien verbindet, untrenn- heit muss immer im Vordergrund stehen. Foto: Stadionwelt

Stadionwelt 09/2004 55

s54-55_Spielerinterview.indd 55 27.08.2004 08:18:02