Plenarprotokoll 12/171

Deutscher

Stenographischer Bericht

171. Sitzung

Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Inhalt:

Glückwünsche zu den Geburtstagen der c) Erste Beratung des von der Bundesre- Abgeordneten Rolf Koltzsch und Dr. Hans gierung eingebrachten Entwurfs eines Stercken 14683 A Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- Verzicht der Abgeordneten Dr. Harald tumsprogramms — 1. SKWPG — Schreiber, Wolfgang Roth und Gerhard (Drucksache 12/5502) O. Pfeffermann auf die Mitgliedschaft im d) Erste Beratung des von der Bundesre- Deutschen Bundestag 14683 B gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Eintritt der Abgeordneten Walter Schell, Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- Kurt Palis, Christa Lörcher und Wolfgang tumsprogramms — 2. SKWPG — Erler (Waldbrunn) in den Deutschen Bun- (Drucksache 12/5510) destag 14683 B in Verbindung mit Benennung des Abgeordneten Dr. Uwe Jens als ordentliches Mitglied im Infra- Zusatztagesordnungspunkt: strukturrat beim Bundesminister für Post Erste Beratung des von den Fraktionen und Telekommunikation 14683 B der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- Benennung des Abgeordneten Dietrich fung des Mißbrauchs und zur Bereini- Austermann zum Mitglied im Verwaltungs- gung des Steuerrechts (Mißbrauchsbe- rat der Deutschen Ausgleichsbank . . 14683 C kämpfungs- und Steuerbereinigungs- gesetz) (Drucksache 12/5630) Erweiterung der Tagesordnung 14683 D Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 14684 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 14694 D Tagesordnungspunkt 1: a) Erste Beratung des von der Bundesre- Adolf Roth (Gießen) CDU/CSU 14702 A gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 14707 B Gesetzes über die Feststellung des Bun- deshaushaltsplans für das Haushaltsjahr Ingrid Matthäus-Maier SPD . 14708A, 14718B 1994 (Haushaltsgesetz 1994) (Drucksa- Dr. BÜNDNIS 90/DIE che 12/5500) GRÜNEN 14708C, 14720B b) Beratung der Unterrichtung durch die Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . . 14712B Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1993 bis 1997 (Drucksache (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE 12/5501) GRÜNEN 14715 A

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Hans Peter Schmitz (Baesweiler) CDU/ Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE CSU 14716D GRÜNEN 14730B Joachim Poß SPD 14721 A Georg Gallus F.D P 14730 D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 14731 B Hans H. Gattermann F.D.P. . 14722C, 14728 D Hermann Rind F.D.P. 14724 A Nächste Sitzung 14732 C Joachim Poß SPD 14724B, 14726C Berichtigung 14732 Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/CSU 14726 A Anlage Detlev von Larcher SPD 14726D Liste der entschuldigten Abgeordneten . 14733* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14683

171. Sitzung

Bonn, den 7. September 1993

Beginn: 14.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und der Kollege Dr. Uwe Jens als ordentliches Mitglied im Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie zur Infrastrukturrat beim Bundesminister für Post und ersten Sitzung nach der Sommerpause ganz herzlich Telekommunikation benannt. noch einmal im alten Plenarsaal. Nach dem Ausscheiden des Kollegen Bernhard Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich Jagoda ist es erforderlich, einen Nachfolger für die noch einige Mitteilungen zu machen. Mitgliedschaft im Verwaltungsrat der Deutschen Aus- Zunächst möchte ich den Kollegen, die in der gleichsbank zu benennen. Die Fraktion der CDU/CSU Sommerpause runde Geburtstage feierten, nachträg schlägt hierfür den Abgeordneten Dietrich Auster- lich gratulieren. Es sind dies der Kollege Rolf Koltzsch, mann vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre der am 16. Juli 65 Jahre alt wurde, und der Kollege keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Dietrich Dr. Hans Stercken, der am 2. September seinen Austermann in den Verwaltungsrat der Deutschen 70. Geburtstag feierte. Ich spreche Ihnen die besten Ausgleichsbank entsandt. Wünsche des Hauses aus. Schließlich möchte ich Ihnen noch mitteilen, daß der Stenographische Dienst in das Haus IV umgezogen ist (Beifall) und somit der Stenographische Bericht wieder, wie Der Kollege Dr. Harald Schreiber hat am 30. Juni gewohnt, am nächsten Tag erscheint. 1993 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundes- (Beifall im ganzen Hause) tag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete - Walter Schell am 22. Juli 1993 die Mitgliedschaft im Deshalb gilt ab sofort wieder die in der Geschäftsord- Deutschen Bundestag erworben. nung vorgesehene Korrekturfrist von zwei Stunden. Für den verstorbenen Kollegen Günther Tietjen hat Meine Damen und Herren, nun kommen wir zur der Abgeordnete Kurt Palis am 12. Juli 1993 die Tagesordnung. Nach einer interfraktionellen Verein- Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. barung soll in verbundener Aussprache mit Tagesord- nungspunkt 1 der Entwurf eines Gesetzes der Fraktio- Der Kollege Wolfgang Roth hat am 2. September nen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Bekämpfung des ebenfalls auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun- Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts, destag verzichtet. Als seine Nachfolgerin hat die Drucksache 12/5630, beraten werden. Insoweit soll Abgeordnete Christa Lörcher am 3. September 1993 die Tagesordnung erweitert und von der Frist für den die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erwor- Beginn der Beratung abgewichen werden. Sind Sie ben. damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Wegen seiner Ernennung zum Staatssekretär hat Es ist so beschlossen. der Kollege Gerhard Pfeffermann auf seine Mitglied- schaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Sein Nach- folger, der Abgeordnete (Waldbrunn), Wolfgang Erler Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 und den soeben hat am 6. September die Mitgliedschaft im Deutschen aufgesetzten Tagesordnungspunkt auf: Bundestag erworben. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ich begrüße die neue Kollegin und die neuen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Kollegen sehr herzlich und wünsche gute Zusammen- die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für arbeit. das Hauhaltsjahr 1994 (Haushaltsgesetz (Beifall im ganzen Hause) 1994) Der ehemalige Abgeordnete Wolfgang Roth ist auch — Drucksache 12/5500 — als Mitglied des Infrastrukturrates beim Bundesmini- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- ster für Post und Telekommunikation ausgeschieden. regierung Die Fraktion der SPD benennt als Nachfolger den Abgeordneten Dr. Uwe Jens. Sind Sie damit einver- Der Finanzplan des Bundes 1993 bis 1997 standen? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist — Drucksache 12/5501 — 14684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth c) Erste Beratung des von der Bundesregierung Der Entwurf des Bundeshaushalts ist kein Doku- eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes ment der Ankündigungen und Versprechungen, es sei zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- denn, der Ankündigung, die notwendigen Anpassun- und Wachstumsprogramms — 1. SKWPG — gen zu vollziehen, und des Versprechens, alles für Wachstum und Beschäftigung zu tun. Der Bundes- Drucksache 12/5502 — — haushalt ist auch kein Wahlhaushalt, aber er macht Überweisungsvorschlag: deutlich: Wir haben keine andere Wahl, als Verzicht Haushaltsausschuß (federführend) zu üben und dem Investitionsstandort Deutschland Rechtsausschuß Vorrang zu geben. Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft (Zuruf von der SPD: Wirklich nicht?) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren — Wenn Sie sagen: Wirklich nicht?, dann ist das ein Ausschuß für Frauen und Jugend großes Kompliment. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Denn wenn Sie vor Wahlen standen, haben Sie andere d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Haushalte vorgelegt. rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Kon- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — solidierungs- und Wachstumsprogramms Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Diese — 2. SKWPG — rhetorische Frage hat keiner gehört!) — Sie hören die Zwischenrufe, die hinter Ihnen sind, — Drucksache 12/5510 — nicht, Herr Kollege Wieczorek. Auf Sie komme ich Überweisungsvorschlag: noch lobend zu sprechen; Haushaltsausschuß (federführend) Rechtsausschuß (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ausschuß für Wirtschaft — Ingrid Matthäus-Maier [SPD): Verdäch- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung tig!) Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend aber ich fürchte, das tut Ihnen nicht gut. Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Dieser Bundeshaushalt ist nach den Daten und ZP1 Erste Beratung des von den Fraktionen der Fakten ein Spar- und Konsolidierungshaushalt, aber CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs er spart nicht zu Lasten der Konjunktur. eines Gesetzes zur Bekämpfung des Miß- brauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (Zuruf von der SPD: Doch!) (Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerberei- Der Entwurf dieses Bundeshaushalts und die Gesamt- nigungsgesetz — StMBG) heit der Konsolidierungs- und Wachstumsbeschlüsse — Drucksache 12/5630 — der letzten Monate beruhen auf der Zusammenarbeit vieler Mitstreiter in den Ministerien, im Parlament, in Überweisungsvorschlag: der Presse und in der Öffentlichkeit. Diesen Mitstrei- Finanzausschuß (federführend) tern möchte ich heute herzlich danken; denn es ist Rechtsausschuß leider sehr viel schwerer, unpopuläre Sachentschei- Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten dungen mitzutragen, als sich vermeintlich publikums- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung wirksam gegen solche Beschlüsse in Position zu set- Ausschuß für Familie und Senioren zen. Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Selbstverständlich nehme ich jede kritische Anmer- kung zu unseren finanzpolitischen Entscheidungen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ernst. Wir werden jede Anregung und jeden Verbes- die heutige Aussprache, nach der Einbringungsrede serungsvorschlag sorgfältig prüfen. des Bundesministers der Finanzen, drei Stunden vor- gesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann (Joachim Poß [SPD]: Wie in der Vergangen- ist es so beschlossen. heit!) Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der Aber eine Gefährdung der Gesamtkonzeption unserer Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Waigel. Finanz- und Steuerpolitik durch gezielte Angriffe auf einzelne Elemente, durch alternativloses Blockieren und durch Schüren von Ängsten können und werden wir nicht hinnehmen. Es bleibt bei dem vereinbarten Sparvolumen. Es bleibt bei den Wachstumsbeschlüs- Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: sen, und wir halten an Solidität und an Stabilität Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- fest. legen! Der Entwurf des Bundeshaushalts 1994 und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Finanzplan bis 1997 bilanzieren einen großen Teil der Konsolidierungs- und Wachstumsanstrengungen, die Wir haben den Mut, zu sagen, was finanzpolitisch wir in den letzten Monaten vorbereitet und beschlos- geht und was nicht geht. Zum Sparen gibt es keine sen haben. Alternative, und am Verzicht führt kein Weg vorbei; Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14685

Bundesminister Dr. Theodor Waigel denn wir sparen und wir verzichten für Deutschlands Das heute als erster Satz des Kommentars in der Einheit und für seine Zukunft. FAZ!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Man muß auch den Wirtschaftsteil der FAZ lesen, Frau- Dieser Bundeshaushalt ist ein Dokument der klaren Aussage und der Kontinuität. Kollegin Matthäus-Maier; man wird nicht dümmer davon. (Lachen des Abg. Peter Conradi [SPD]) Wenn von dem ganzen Gerede von damals heute Er setzt fort, was an Konsolidierungsanstrengungen keine Rede mehr ist, wenn die Deutsche Mark gegen- seit 1990 vor dem Hintergrund der Wiedervereini- über den EWS-Währungen und zuletzt auch gegen- gungsaufgaben bereits unternommen wurde. Wir über dem US-Dollar teilweise kräftig aufgewertet hat, haben im Bundeshaushalt allein zwischen 1990 und so beruht das vor allem auf der Finanz- und Geldpoli- 1993 dauerhaft 40 Milliarden DM an echten Ausga- tik in Deutschland, die — jeweils in eigener Verant- beneinsparungen erwirtschaftet und bei der Kreditfi- wortung — gemeinsamen Stabilitätszielen verpflich- nanzierung die im Herbst 1990 selbstgesteckte Ober- tet bleiben. grenze von 70 Milliarden DM jeweils deutlich unter- Nur auf der Grundlage der einschneidenden Spar- schritten. Im Frühjahr wurden im Rahmen des Föde- beschlüsse konnten wir auch beim Weltwirtschafts- ralen Konsolidierungsprogramms Haushaltseinspa- gipfel in Tokio bestehen und auf gesicherter Basis rungen von 10 Milliarden DM vereinbart. Jetzt sollen unsere eigenen politischen Vorstellungen und Emp- und müssen noch einmal über 20 Milliarden DM durch fehlungen vertreten. Wir müssen Rücksicht auf die das Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm aus Befürchtungen unserer Wi rtschaftspartner in aller den Ausgabenpositionen herausgenommen werden. Welt nehmen, und diese Befürchtungen wären drama- tisch eskaliert, wenn die Kreditaufnahme im Bundes- Die Konsolidierungsbeschlüsse zeigen bereits posi- haushalt, wie es ohne unsere Einsparungsbeschlüsse tive Wirkung. Die Beschlüsse der letzten Monate der Fall gewesen wäre, nahe an die 100-Milliarden waren rechtzeitig, sie waren richtig bemessen, und sie DM-Grenze herangerückt wäre. waren richtungsweisend. Unsere finanzpolitische Botschaft lautet: Deutsch- Mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm land steht zu seiner internationalen Mitverantwor- haben wir innerhalb weniger Monate, auch unter tung für Konjunktur und Beschäftigung, für Stabilität, Inkaufnahme weitreichender Kompromisse, einen für die Öffnung der Handelsgrenzen und für den möglicherweise lang schwelenden Finanzkonflikt Aufbau sozial orientierter Marktwirtschaften in allen zwischen Bund und Ländern verhindert und so den Teilen dieser Welt. mittelfristigen Aufbau Ost erst ermöglicht. Wir sind unserem Vorhaben treu geblieben, im Jahre 1993, Nach den warnenden Ereignissen von Juli und eineinhalb Jahre vor dem Zeitpunkt, wo es rechtlich August braucht man nicht viel Phantasie, um sich notwendig ist, die notwendigen Entscheidungen zu vorzustellen, was passiert, wenn auf Grund unzurei- treffen und eine so wichtige Entscheidung aus den chender Anpassungsanstrengungen in Deutschland Wahlauseinandersetzungen des Jahres 1994 heraus- und in anderen Ländern die Zusammenarbeit und das zuhalten. gegenseitige Vertrauen zerstört würden, die Finanz- und Kreditmärkte kollabierten und an den Grenzen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Handelsbarrieren unter dem Druck nationaler Not wieder errichtet würden. Wer leichtfertig über die Mit dem jetzt im Entwurf vorliegenden Konsolidie- negativen Konsequenzen angeblicher Brüningscher rungs- und Wachstumspaket setzen wir auf die Stabi- Sparpolitik spekuliert, sollte auch diese konkreten lität der Deutschen Mark, auf niedrigere Zinsen, mehr Gefahren berücksichtigen, die im ausgehenden Som- Investitionen und auf das internationale Ansehen der mer sehr viel näher lagen als die vielbeschworene deutschen Volkswirtschaft. Deflation. Wenn man in einem Haushalt ein Defizit von fast 70 Milliarden DM hinnimmt, um damit die Was im Rahmen der parlamentarischen Behand- Konjunktur zu stabilisieren, um damit die Nachfrage lung in den nächsten Monaten erst noch gesetzlich zu stärken, dann ist es schon ökonomischer Unfug, in fixiert werden muß, hat bereits entscheidende positive diesem Zusammenhang von Brüningscher Politik zu Wirkungen entfaltet. Ohne die Konsolidierungs- und sprechen. Wachstumsbeschlüsse wären wir weder im nationalen noch im internationalen Maßstab handlungsfähig (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) geblieben. Noch im Juni dieses Jahres stand „Die Der große weltweite Konkurrenzkampf findet heute D-Mark auf dem Prüfstand" — so die FAZ vom 23. Juni nicht auf dem Feld der globalen Nachfrage, sondern 1993. Frau Kollegin Matthäus-Maier urteilte am glei- beim Investitionskapital statt. Mit welchem Recht chen Tage schnell, aber leider vorschnell, wie mei- können wir die Konsolidierung verschieben oder stens: „Deutschland als Weichwährungsland." Der verweigern, solange in Osteuropa und in den Ent- Öffentlichkeit früher weitgehend unbekannte Wäh- wicklungsländern jede Mark, jeder Franc und jeder rungsspekulanten drohten die D-Mark auszuhebeln. Dollar dringend benötigt werden, um Existenzsiche- Die FAZ heute: rung und mehr Beschäftigung zu ermöglichen? Wie können wir in sturer Anspruchshaltung verharren und Die D-Mark ist wieder die stärkste Währung der gleichzeitig von allen Nachbarn und Partnern Ver- Welt. zicht und Anpassungsbereitschaft fordern? Wir wer- 14686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Bundesminister Dr. Theodor Waigel den die Konsolidierung der Bundesfinanzen in den 400 Milliarden DM, rund 13 % des Sozialprodukts, kommenden Jahren konsequent fortsetzen. entfallen auf die Erblasten des Sozialismus. Der Bundeshaushalt 1994 steigt bei einem Volumen (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört! — von 478,4 Milliarden DM gegenüber dem Vorjahr um Widerspruch bei der SPD) weniger als 3 %, wenn der einmalige Sondereffekt auf — Wollen Sie das vielleicht bestreiten? Ich nehme Grund der Durchleitung der Mittel für die Bahnreform doch an, daß Sie mit Ihrem Namen mit der Erblast unberücksichtigt bleibt. Trotz erheblicher konjunk- dieses Sozialismus nichts zu tun haben wollen, tureller Mehrbelastungen und zusätzlicher Leistun- oder? gen an die jungen Länder verharrt die Kreditauf- nahme im nächsten Jahr mit 67,5 Milliarden DM (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- knapp unterhalb des für dieses Jahr eingeplanten ordneten der F.D.P.) Volumens. In das staatliche Schuldenkonto gehen im übrigen Für den gesamten Zeitraum der mittelfristigen auch die Kredite ein, die Länder und Gemeinden für Finanzplanung beträgt der durchschnittliche Ausga- sich in Anspruch nehmen. benanstieg 2,3 %. So können wir die Kreditaufnahme „Die Bundesrepublik Deutschland im Rausch nega- bis 1997 wieder auf 38 Milliarden DM zurückführen. tiver Zahlen", so überschrieb Renate Merklein einen Die Kreditbegrenzung setzt erneutes Wachstum ab Artikel im „Handelsblatt" im letzten Dezember. Sie 1994 voraus. Das Wachstum machen nicht wir, son- wies dann Punkt für Punkt nach: Die Dramatik des dern die Wirtschaft. Jede Defizitprognose ist deshalb Schuldenanstiegs war in den 70er Jahren weitaus eine bedingte Vorausschätzung. Aber wir fördern das größer als heute. Wachstum durch Ausgabenbeschränkung und Struk- turanpassung, damit wir unsere Ziele erreichen. Es ist (Lachen und Widerspruch bei der SPD) jedenfalls ein positives Zeichen, wenn sich jetzt her- — Das wollen Sie nicht mehr hören. — Allein 1974/75, ausstellt, daß im zweiten Quartal dieses Jahres erst- wo die deutsche Einheit bekanntlich nicht stattfand, mals ein gewisser Zuwachs des Bruttoinlandsproduk- gab es einen Zuwachs von 33 %, meine Damen und tes gegenüber dem ersten Quartal erzielt wurde. Wir Herren. hoffen und wir setzen alles daran, daß sich dieser Prozeß fortsetzt, der genau in dem Bereich liegt, wie (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eine Ölpreis- der Kollege Rexrodt und ich die Konjunktur bisher krise!) sehr vorsichtig, aber realistisch eingeschätzt haben. Wir stehen für die Schulden ein, die mit der deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einheit zusammenhängen. Auf diese Schulden kön- nen wir durchaus stolz sein. Die brauchen wir uns von Bei gleichbleibender Kreditaufnahme im Haushalt Ihnen und von niemandem vorhalten lassen. 1994 verkraften wir rund 10 Milliarden DM für die Bundesanstalt für Arbeit und Steuerausfälle von über (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei 20 Milliarden DM. Das ist nur durch einen drastischen Abgeordneten der SPD) Abbau des strukturellen Defizits möglich. Nach den Ich habe lieber unvermeidbare Schulden durch die Kennziffern der OECD geht in Deutschland die struk- Wiedervereinigung als weniger Schulden in einem turelle, konjunkturunabhängige Deckungslücke im geteilten Deutschland, meine sehr verehrten Damen Zeitraum von 1992 bis 1994 um 2,5 % des Bruttoin- und Herren. landsprodukts zurück. Das ist weit mehr als im Durch- schnitt der G-7-Länder, die nur 0,5 % Defizitabbau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erreichen. Im übrigen zeugt es nicht gerade von tiefergehen- Fast alle Ausgabenbereiche im Bundeshaushalt der Einsicht, wenn sich die Diskussion immer nur um gehen real zurück, viele sogar nominal. Soweit über- die Passiva der Wiedervereinigungsbilanz dreht und haupt Steigerungen zu verzeichnen sind, gehen sie die entscheidenden Aktiva völlig außer acht bleiben. fast ausschließlich auf das Konto von Rechtsverpflich- Tatsächlich investieren wir in das größte deutsche tungen. Die Mehrbelastungen bei den Zinsen aus der Wachstumsprojekt seit Kriegsende. Altschuldenhilfe für die Wohnungswirtschaft in den Wenn es gelingt, bis Ende der 90er Jahre in den neuen Ländern, aus den Zuschüssen an die Träger der jungen Bundesländern 80 % der Wirtschaftskraft gesetzlichen Rentenversicherung und nicht zuletzt Westdeutschlands zu erreichen, so läßt sich die Ren- aus den Zuschüssen an den Fonds Deutsche Einheit dite der heutigen Aufwendungen mit jährlich rund machen zusammen fast 30 Milliarden DM aus und 300 Milliarden Mark an zusätzlichem Sozialprodukt übertreffen damit für sich genommen den Anstieg der beziffern. Bundesausgaben bei weitem. Ich bitte wirklich einmal Über diesen materiellen Aspekt hinaus muß auch zu berücksichtigen, daß wir bei dieser bescheidenen immer wieder an den Gewinn für die Menschen Steigerung von nur etwas mehr als 2 % 30 Milliarden erinnert werden. Wieviel hätten die Deutschen der DM zusätzlich verkraften, die vor allen Dingen mit der dafür gegeben, wenn ihnen lange deutschen Einheit und anderen Rechtsverpflichtun- Nachkriegszeit gen zusammenhängen. Jahre der Teilung und der militärischen Bedrohung erspart geblieben wären! Trotz aller Konsolidierungsanstrengungen werden die Schulden im Verhältnis zum Sozialprodukt bis (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 1995 noch auf rund 60 % ansteigen. Aber das sind Franz Josef Strauß hat in seinem Buch „Entwurf für nicht allein die Schulden des Finanzministers. Allein Europa" im Jahre 1966 darüber nachgedacht, ob die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14687

Bundesminister Dr. Theodor Waigel frühere Sowjetunion für einen Preis von 100 bis chen Frage stellen: Ist es moralisch zu rechtfertigen, 120 Milliarden DM — nach heutiger Rechnung über zugunsten der Erhaltung einzelner Arbeitsplätze 300 Milliarden DM — wohl bereit gewesen wäre, der (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Mil damaligen Sowjetzone wenigstens einen Österreich lionen!) Status zuzubilligen. - gesamtwirtschaftliche und ordnungspolitische Fehl- (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Das steuerungen in Kauf zu nehmen? war die DDR, mein Herr!) In der verkürzten öffentlichen Diskussion hat immer Sicherlich wären auch Konrad Adenauer, Theodor der einen Vorsprung, der fordert: Wir müssen hier Heuss oder Kurt Schumacher zu einem solchen oder einspringen, dort Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen noch größeren Opfer bereit gewesen. zusätzlich installieren und dort den Konkurs eines Unternehmens verhindern. Aber wer in der SPD oder Im Überleitungsvertrag haben wir 15 Milliarden in Teilen der Gewerkschaften hat den Mut zu sagen: DM dafür aufgewendet, um fünf Jahrzehnte, nachdem Wenn ihr unseren Vorschlägen folgt, dann retten wir der erste Sowjetsoldat deutschen Boden betreten hat, zwar das Unternehmen X oder das Unternehmen Y, zu erreichen, daß der letzte russische Soldat deut- vielleicht für einen beschränkten Zeitraum; wir müs- schen Boden wieder verläßt. Für 15 Milliarden DM, sen dafür aber an anderer Stelle den Verlust von meine Damen und Herren, haben wir das erreicht. Das Zehntausenden oder Hunderttausenden Arbeitsplät- ist, glaube ich, ein großer Vorteil, den man auch zen in Kauf nehmen, weil die Finanzierung der jenseits von Angebot und Nachfrage einmal quantifi- Erhaltungssubventionen die gesunden Betriebe und zieren und beziffern muß. die bisher zukunftssicheren Arbeitsplätze gefähr- det? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) 1 % Zinssteigerung bei höherer Staatsverschuldung kostet die deutsche Wirtschaft 7 Milliarden DM. Das Nur, Politiker wie Kurt Schumacher gibt es heute in sind die Kosten von rund 35 000 Arbeitsplätzen. Diese der ersten Reihe der SPD nicht mehr. Statt dessen Rechnung sollten die Gewerkschaften und alle einmal beherrschen seit 1989 die Wiedervereinigungsbuch- aufmachen, bevor sie von konsolidierungsbedingtem halter von Oskar Lafontaine bis zu Frau Matthäus- Arbeitsplatzabbau sprechen. Entscheidend sind nicht Maier die Szene, die beim Stichwort deutsche Einheit vollmundige Sozialbekenntnisse, sondern Taten und an nichts anderes denken können als an Schulden und faktische Ergebnisse. Kreditaufnahme. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ( [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie Deshalb geht der größte Teil der Diskussion über die Buchhalter beleidigt!) eine angebliche soziale Schieflage oder eine angebli- che Gerechtigkeitslücke an den wirklichen Kern- Statt beim Thema Schulden verantwortungslos problemen des wiedervereinigten Deutschlands vor- Panik zu machen und den Menschen Angst einzuflö- bei. Natürlich müssen die Lasten so gerecht wie ßen, sollte die SPD einmal die internationalen Statisti- möglich auf alle Bevölkerungsgruppen verteilt wer- ken anschauen. Zur Zeit weist Deutschland unter den den; natürlich müssen die mehr beitragen, die mehr sieben großen Industriestaaten mit Großbritannien leisten können; und natürlich darf das Soziale in die geringste Verschuldung auf. Viele von diesen unserer Marktwirtschaft nicht unter die Räder kom- Ländern wären froh, wenn sie ohne Wiedervereini- men. Aber wenn wir den Empfehlungen der Opposi- gungsaufgaben so dastünden wie wir. tion folgen würden, dann hätten wir vordergründige Wir kürzen und streichen. Aber wir sind weit davon Gerechtigkeit im Elend, und der Sozialstaat ginge in entfernt, unökonomisch auf die Sparbremse zu treten Konkurs. und den gesamtwirtschaftlichen Rahmen aus dem (Lachen bei der SPD) Auge zu verlieren. Eine Kreditaufnahme von fast 70 Milliarden DM in den drei aufeinanderfolgenden — Sie werden doch nicht behaupten, daß bei einem Jahren 1993, 1994 und 1995 kann überhaupt nicht Sozialbudget von 1 Billion DM, 1 000 Milliarden restriktiv wirken. Die in diesem Jahr massiv angestie- DM, genen Ausgaben für den Arbeitsmarkt und die zusätz- ( [Köln] [SPD]: Nehmen Sie ein lichen Aufbaumittel für die jungen Länder wirken wie mal Nachhilfe bei Norbe rt Blüm!) ein mittelfristiges Konjunkturprogrammm, das den Abschwung dämpft und den Wiederaufschwung vor- eine Kürzung von 15 Milliarden DM an die Grenze des bereitet. Sozialstaats ginge oder ein Kahlschlag sei. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Im Zusammenhang mit den gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen unserer Finanzpolitik und ihren Fol- Bei den Leistungen für Arbeitslose liegen wir in gen für die Beschäftigung, vor allem vor dem Hinter- Europa hinter Dänemark und Belgien an dritter Stelle. grund der aktuellen Gerechtigkeitsdiskussion, Im EG-Vergleich der Zahlungen bei Krankheit, möchte ich eines unmißverständlich klarstellen: Wir Arbeitsunfall und Mutterschaft erreichen wir den lassen uns von niemandem mangelnde Verantwor- zweiten Rang. Die Bundesregierung hat seit 1982 die tung für die Arbeitslosen in Deutschland vorwerfen. Leistungen für die Familienpolitik mehr als verdop- Wer Konsolidierung und Privatisierung mit Beschäfti- pelt. Wir haben schon vor dem Urteil des Bundesver- gungsabbau gleichsetzt, muß sich der grundsätzli- fassungsgerichts den Kinderfreibetrag schrittweise 14688 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 171. Sitzung. 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Bundesminister Dr. Theodor Waigel erhöht und so mehr Gerechtigkeit für Familien Meine Damen und Herren, die von mir genannten erreicht. Finanzminister der SPD mußten zur Sicherung der Bundesfinanzen von 1975 bis 1982 in das BAföG Seit Anfang der 80er Jahre stiegen die Regelsätze in einschneiden, Wohngeld, Kindergeld, Arbeitslosen- der um 60 %, während Löhne und Gehälter Sozialhilfe hilfe und manches andere mehr kürzen. Ich sage- netto im gleichen Zeitraum deutlich weniger, um Ihnen das nur, damit Sie das nicht völlig aus der 37 %, zunahmen. Sie werden doch nicht behaupten Erinnerung verdrängen. Und dies alles ohne deutsche wollen, daß zu Ihrer Zeit der Stand der Sozialhilfe ein Einheit, ohne einen Transfer von fünf Prozent pro völlig unbefriedigender gewesen wäre, was stimmen Jahr. würde, wenn der Vorwurf zuträfe, daß durch unsere Kürzungen nun das Ende der Sozialhilfe oder des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sozialstaats erreicht sei. ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Jetzt kommen Sie dran, Herr Wieczorek. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: No Nach der Wiedervereinigung hat diese Bundesre- bel!) gierung das auf ein viel höheres Wohlstandsniveau zugeschnittene System der sozialen Sicherung weit- —Nobel, aber natürlich, wie es einem Haushälter gehend unverände rt auf die jungen Länder übertra- gebührt. In der „Frankfurter Rundschau" vom 26. Au- gen. Das Rentenniveau in Ostdeutschland liegt heute, gust 1993 wird aus einem internen Positionspapier des drei Jahre nach dem 3. Oktober 1990, schon bei 73 % Haushaltsexperten der SPD-Fraktion, Helmut Wiec- des Westniveaus. Das bedeutet gegenüber dem Jahr zorek, zittiert. In diesem Papier heißt es nach der der Wiedervereinigung praktisch eine Verdoppelung „Frankfurter Rundschau": der durchschnittlichen Rentenbezüge. Wenn man sich Möglichkeiten für kompensatorische Kürzungen in den neuen Bundesländern gerade mit den Rentnern zum Sparpaket der Bundesregierung sind fak- unterhält, strömt einem unendlich viel Dankbarkeit tisch nicht vorhanden. dafür entgegen. Das ist etwas, was in der publizierten Meinung Deutschlands leider überhaupt nicht zum Ich hoffe, daß dies sauber und richtig zitiert ist. Ausdruck kommt. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber auf der Ausgabenseite, Herr Kollege! Das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben die Journalisten vergessen!) Wenn die Opposition unsere Konsolidierungs- und — Ja, gut, auf der Ausgabenseite; das ist ganz inter- Kürzungsmaßnahmen angreift, dann tut sie es wider essant. besseres Wissen; denn jeder Sozialdemokrat, der sich länger als eine Stunde mit der Finanzpolitik beschäf- Zu der immer wieder erhobenen Forderung nach tigt hat, weiß: Wenn es um ernsthafte Einsparungen stärkeren Einschnitten bei den Verteidigungsausga- im Bundeshaushalt geht, kann der Sozialbereich nicht ben steht weiter geschrieben: ausgespart werden. Wer diese Stunde Zeit nicht Dieser Weg scheint für die Zukunft nicht weiter erübrigen mag, sollte zum Telefonhörer greifen und gangbar, es sei denn, er erschöpft sich im rein vielleicht , Hans Matthöfer oder Helmut politischen Deklamationscharakter. Schmidt anrufen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Lachen der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) Wenn dem so ist, dann nehmen Sie doch endlich Frau — Das werde ich sagen: daß Sie bei Matthäus-Maier ihr „Jagdtrauma" wegen des Jä- dieser Passage gelacht haben. Das mag er nämlich gers 90, für dessen Produktion noch nicht eine Mark überhaupt nicht. aufgewendet wurde. Aber sie tigert von Veranstal- tung zu Veranstaltung, von Fernsehshow zu Fernseh- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. show und verunsichert damit nur die Menschen, im — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Lesen Sie sein Bewußtsein der Tatsache, daß das, was sie sagt, Buch, Herr Kollege!) schlichtweg nicht stimmt. — Frau Kollegin, vielleicht erinnern Sie sich noch des (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der Satzes, ich nehme an — Sie standen ja immer an seiner F.D.P.) Seite —, daß Sie ihm applaudiert haben, als er 1981 Die vorgesehenen Kürzungen im Transferbereich sagte: Wer mehr tun will für beschäftigungswirksame — Bund und Bundesanstalt für Arbeit — belaufen sich Maßnahmen, muß tief, viel tiefer ins soziale Netz auf rund 16 Milliarden DM. Das sind rund eineinhalb hineinschneiden. Gilt der Satz, oder gilt er nicht? Galt Prozent aller Sozialausgaben. Durch möglichst breite er damals, und gilt er heute nicht vielleicht auch? Streuung der Kürzungen wird diese Einsparungslast (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Lesen Sie einmal auf viele Schultern verteilt. sein neues Buch, Herr Kollege! Das wäre viel Im wesentlichen geht es nicht um Kürzungen, hilfreicher!) sondern um die Begrenzung des Zuwachses oder um — Lesen Sie die alten und die neuen Bücher. Ich habe das vorübergehende Einfrieren von Leistungen. sogar das Ihrige gelesen; Sie haben es mir ja mit Damit wird der Prozeß der Anpassung an die gesun- Widmung zugesandt. Es lohnt sich in Teilen zu kene durchschnittliche Wirtschaftskraft im wiederver- lesen. einigten Deutschland vollzogen, der sich auch im Bereich der Löhne und Gehälter vollzieht und noch (Heiterkeit) stärker vollziehen muß. Wenn sich alles anpaßt, kann Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14689

Bundesminister Dr. Theodor Waigel der Umverteilungskuchen nicht unverändert blei- schulklassen, beim Landeserziehungsgeld und beim ben. Landesblindengeld.

Bei einer nur einigermaßen fairen Beurteilung der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie weiß, sozialen Ausgewogenheiten der jüngsten Spar- und warum!) - Konsolidierungsbeschlüsse muß im übrigen auch das zuvor beschlossene Föderale Konsolidierungspro- Es wird doch langsam zu einem lächerlichen Ritual: gramm mit einbezogen werden. Durch steuerliche im eigenen Bereich wird konsolidiert, im kleinen Kreis Maßnahmen in einer Größenordnung von rund gibt man zu, es ist unabdingbar notwendig, es müßte 33 Milliarden DM — 7,5 %iger Solidaritätszuschlag, mehr passieren. Sobald man aber vor der Fernsehka- Anhebung der Versicherungsteuer und die Verdop- mera steht, prügelt man auf den Bundesfinanzminister pelung der privaten Vermögensteuer — wird insbe- und auf die Koalition ein — ein lächerliches Ritual. sondere den Leistungsfähigeren eine spürbare Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) satzbelastung auferlegt. Dagegen bleiben Familien mit Einkommen von weniger als 40 000 DM pro Jahr Es ist eine schlimme Entwicklung, wenn Ihr neuer vom Solidaritätszuschlag völlig unbelastet. Vorsitzender und mußmaßlicher Kanzlerkandidat — Seit der Steuerreform 1990 haben wir vorrangig zu Lasten der höheren Einkommensgruppen Steuerver- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das „mutmaßli günstigungen und steuerliche Sonderregelungen in che" lassen Sie mal weg! — Dr. Wolfgang einer Größenordnung von knapp 38 Milliarden DM Schäuble [CDU/CSU]: Vorsicht! Es sieht abgebaut. nicht so aus!) Auch im jetzigen Sparpaket wird die Steuer ihren — Ich weiß es nicht. Beitrag leisten. So wird durch den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es sieht Bereinigung des Steuerrechts eine Vielzahl von Steu- nicht so aus!) ergestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt. — Es sieht nicht so aus? Herr Kollege Schäuble hat Wir sollten uns wirklich langsam fragen, wieviel gute Beziehungen zur SPD-Fraktion. Zeit und Energie wir noch für eine völlig unsinnige (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Guk und am Kern der Dinge vorbeigehende Gerechtig- ken Sie sich das Theater doch an!) keitsdiskussion aufbringen wollen. Weltweit werden unter dem Vorzeichen überhöhter Transferausgaben — Wie auch immer, Kollege Schäuble, wir fürchten und dringend benötigter Investitionsmittel staatliche niemanden. Leistungen begrenzt und auch liebgewordene Ver- günstigungen zusammengestrichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Vom ehemals proklamierten „Volksheim" Schwe- den über Frankreich, Kanada und Italien werden Aber es ist schon eine üble und geschmacklose Leistungsansätze zurückgenommen, werden Selbst- politische Tat, die Ministerpräsidenten, auch die beteiligungen in der Krankenversicherung eingeführt CDU-Ministerpräsidenten und vor allen Dingen die und Leistungssteigerungen verzögert. Schweden hat Ost-Ministerpräsidenten, dazu aufzufordern, im Bun- in mehreren Konsolidierungsschritten Haushaltsein- desrat Blockade zu üben, obwohl wir das gerade für sparungen in Höhe von 11 % des Bruttosozialproduk- die Menschen in den jungen Bundesländern tun, um tes vollzogen oder vorbereitet. damit den Aufbau in Deutschland zu bewerkstelli- gen. Nicht die Bundesregierung, sondern die deutsche Opposition ist in dieser Frage international isoliert. Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Widerstand richtet sich gegen die Empfehlungen fast Ich bin sicher, die Länder wissen sehr wohl, wo ihre aller internationaler Organisationen und Kommissio- wirklichen Interessen liegen. Ohne die Konsolidie- nen, vom Währungsfonds über die EG-Kommission rungsanstrengungen des Bundes wären weder die bis zur OECD. Wenn es allein nach den Ratschlägen 57 Milliarden DM Transferleistungen für die jungen dieser Organisationen ginge, müßten wir nicht weni- Bundesländer ab 1995 noch die Entschuldung für ger, sondern wesentlich mehr in Transferleistungen Bremen und das Saarland ab 1994 finanzierbar. hineinschneiden. Wo waren denn die sozialdemokratischen Minister- Auch innerhalb Deutschlands weiß doch jeder, der präsidenten in ihrer Solidarität, als es um die Behe- in politischer Verantwortung steht, um die unaus- bung der Haushaltsnotstände im Saarland und in weichlichen Konsolidierungszwänge. Mein Kollege Bremen ging? Die Bundesregierung, der Bund, leistet Schleußer aus Nordrhein-Westfalen hat sich Anfang das in überzeugender Art und Weise, nicht die SPD Juni für neue Prioritäten auch in der Sozialpolitik Länder, die eigentlich von ihrem Namen her zur ausgesprochen. Kenner der Haushaltsrealitäten wie Solidarität auch unter den Ländern verpflichtet gewe- der Kollege Struck oder die Frau Ministerpräsidentin sen wären. Simonis haben ganz vorsichtig zu sagen gewagt: Ohne Sozialkürzungen geht es nicht. Frau Simonis (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. streicht in ihrem eigenen Landeshaushalt bei Vor sowie der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) 14690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Bundesminister Dr. Theodor Waigel — Der Beifall ehrt Sie. Ich hätte aber wenigstens wenn die Länder entsprechend dem Verfassungsauf- erwartet, daß die Kollegen aus dem Saarland und aus trag — Art. 109 des Grundgesetzes — ebenfalls den Bremen in Ihren Beifall eingestimmt hätten. „Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleich- gewichts Rechnung tragen" . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und - der F.D.P. — Zuruf von der SPD) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr — Sie sind von da hinten so schwer zu verstehen. richtig!) Wenn Sie die Zeitung weglegen, dann geht es besser. Große gemeinsame Aufgaben stehen vor allem Das ist kein Vorwurf, nur ein Hinweis. noch im Bereich des Subventionsabbaus und der Entgegen falschen Behauptungen konsolidiert sich Privatisierung auf der Tagesordnung. Der Bund ist der Bund nicht zu Lasten der Länder und Gemeinden. beim Subventionsabbau im Westen bereits einen Zwar führen die Absenkungen der Lohnersatzleistun- großen Schritt vorangekommen. gen und anderer Maßnahmen im Bereich der Bundes- Ich hätte mir wirklich gewünscht, daß bei der anstalt für Arbeit für sich genommen zu Folgekosten Diskussion um den Subventionsbericht der Bundesre- bei den Gemeinden. Aber bereits im Föderalen Kon- gierung diese Dinge und diese Fakten etwas differen- solidierungsprogramm sind Maßnahmen zum Sub- zierter zur Kenntnis genommen worden wären. ventionsabbau, im Personalbereich und bei der Sozi- alhilfe enthalten, die zu einer Entlastung der Länder Daß wir bei den Subventionen im Westen einen und Gemeinden von rund 5 Milliarden DM führen. entscheidenden Abbau erreicht haben und daß der Hinzu kommen weitere Einsparungen durch das Kon- Anstieg allein auf die Investitionshilfen und die Unter- solidierungs- und Wachstumspaket in Höhe von 4 Mil- stützungen für die jungen Bundesländer zurückgeht liarden DM ab 1994, insbesondere die Nullrunde bei — das verdient, wie ich meine, schon eine differen- Beamten, die Korrekturen bei der Sozialhilfe und die zierte und nicht nur eine allgemeine Beurteilung. steuerlichen Maßnahmen. Entlastungen ergeben sich schließlich auch aus der neuen Asylregelung und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einführung der Pflegeversicherung ab 1996. Wenn Im Westen gingen in den letzten drei Jahren die die SPD schon früher einer vernünftigen Asylregelung Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes zugestimmt hätte, hätten wir uns in den letzten Jahren um fast ein Viertel, das sind 6,5 Milliarden DM, Milliardenausgaben erspart. zurück. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Bei Parallel wurden für die ostdeutschen Länder erheb- fall bei der F.D.P.) liche Zusatzmittel bereitgestellt. Der Anteil der Wirt- — Herr Kollege Solms, Sie haben gemerkt, daß ich nur schaftsförderung in Ostdeutschland an den gesamten von der SPD gesprochen habe. Bundessubventionen erreicht inzwischen 42 %. Pro (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ja, ja!) Kopf gerechnet entfallen auf den Osten dreimal so viel an Subventionsleistungen wie auf den Westen, und Ich verhalte mich auch in der Geschichte absolut das ist auch notwendig und gerechtfertigt. koalitionstreu. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Rich (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das war nicht ganz tig!) ehrlich!) — Gut, der Beifall hat sich in Ihren Kreisen etwas in Ebenso wie beim Subventionsabbau hat der Bund Grenzen gehalten. Vor allem hat mir Graf Lambsdorff bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen die vorher zugesichert, daß er regelmäßig Beifall klat- Vorreiterrolle übernommen, und das nicht erst jetzt. schen wolle; aber seit er nicht mehr Bundesvorsitzen- Bereits mein Vorgänger Stoltenberg hat das mit aller der ist, sucht er in dem Handbuch nach, wer alles Entschiedenheit eingeleitet und verwirklicht. Mitglied seiner Fraktion ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. [F.D.P.]) Ich komme zum Thema zurück. Bund und Länder Erst allmählich beginnen die Länder nachzuziehen. haben beim Föderalen Konsolidierungsprogramm, Hier sind noch größere Anstrengungen unbedingt bei der Verabschiedung des steuerlichen Standortsi- erforderlich, wenn wir den Standort Deutschland über cherungsgesetzes und bei anderen wichtigen Ent- dieses Jahrtausend hinweg in der Spitze der Industrie- scheidungen immer wieder eine Basis der Gemein- länder halten wollen. samkeit und des Kompromisses gefunden. Der Bund ist immer wieder auf die Länder zugegangen, zuletzt Wir wollen in den kommenden Jahren — nach der bei der unentgeltlichen Übertragung von ehemals weitgehend abgeschlossenen Veräußerung des indu- russischen Liegenschaften. striellen Bundesbesitzes — die Privatisierung vor allem im Telekommunikations- und Verkehrsbereich Bei dieser föderalen Gemeinsamkeit muß es auch fortsetzen. Ich warne allerdings davor, die Privatisie- künftig bleiben, denn der Bund trägt die Verantwor- rung als Instrument zur Sanierung der Staatsfinanzen tung nur für rund 40 % des öffentlichen Ausgabenvo- zu betrachten. Es geht allenfalls um zweistellige lumens. Er hat zuletzt im Rahmen des Föderalen Milliardenbeträge. Da sollte sich niemand gesund Konsolidierungsprogramms bei der Mehrwertsteuer rechnen und ungedeckte Schecks herausreichen. auf sieben Anteilspunkte zugunsten der Länder ver- zichtet. Er kann deshalb seiner gesamtstaatlichen und Privatisierung ist Wachstumsförderung — vor allem internationalen Verantwortung nur gerecht werden, in Ostdeutschland. Wer die Privatisierung stört, stellt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14691

Bundesminister Dr. Theodor Waigel sich gegen Investitionen und Beschäftigung und Zusammenhang mit dieser Privatisierung 180 Milliar- damit letztlich gegen die Interessen der Menschen. den DM an Investitionen zugesagt und 1,5 Millionen Arbeitsplätze garantiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Selbst in schwierigen Industriebranchen wie der Meine Damen und Herren, ich habe gelesen, daß - Mineralölverarbeitung, der Großchemie, bei den die SPD einen Untersuchungsausschuß in Sachen Werften und in der Stahl- und Elektroindustrie konn- Treuhandanstalt installieren will. ten beträchtliche Privatisierungs- und Sanierungser- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Gegen folge erzielt werden. Wenn man sich einmal vorstellt, alle Zusagen!) daß wir für die Sanierung und Privatisierung der Sie haben heuer angekündigt, gegen mich einen Werften etwa 3,5 Milliarden DM ausgeben, um damit Moksel-Untersuchungsausschuß, einen Lapas-Unter- industrielle Kerne zu erhalten, dann wird doch nie- suchungsausschuß und einen Strato-Untersuchungs- mand behaupten können, wir würden leichtfertig an ausschuß zu machen. Von allem haben Sie sehr den Menschen in Ostdeutschland vorübergehen. schnell, nachdem Sie die Fakten einigermaßen ken- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge nengelernt haben, Abstand genommen. Zunächst ordneten der F.D.P.) allerdings immer nach dem Motto „semper aliquid Meine Damen und Herren, bisher ist kein einziges haeret" , nach dem Motto: Wenn etwas daran ist, dann plausibles Sanierungskonzept allein aus finanziellen muß er zurücktreten, damit über das Wochenende die Gründen gescheitert. Wer da leichtfertig oder böswil- Schlagzeile da ist. Aber später die Entschuldigung, die lig vom Plattmachen oder von industriellem Kahl- ist bei Ihnen weitgehend ausgeblieben — mit Aus- schlag redet, der hat von den Realitäten in Ost- nahme des Kollegen Struck; das will ich hier auch deutschland wenig Ahnung und stellt die Tatsachen einmal in aller Klarheit sagen. auf den Kopf. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Ich meine: Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Liste]) Aber wir hätten eigentlich Wichtigeres zu tun, als uns — Die Menschen sind dann verunsichert, wenn sie in einem unnötigen und überflüssigen Treuhand von der politischen Klasse so informiert werden, wie Untersuchungsausschuß mit dieser Vergangenheit zu Sie es in Ostdeutschland tun. Das ist das Problem. beschäftigen; ganz abgesehen davon, daß dies natür- lich für die Investoren in aller Welt nicht gerade (Beifall bei der CDU/CSU) förderlich wäre und ein Teil der Arbeit in der Treu- Seit der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli handanstalt, die wir bezahlen müssen, nicht mehr 1990 hat die Treuhandanstalt fast 50 Milliarden DM stattfände, sondern für Untersuchungsausschüsse und für Unternehmen in Ostdeutschland ausgegeben. für die Teilnahme an Sitzungen in Anspruch genom- Darüber hinaus unterstützt sie ihre Betriebe mit men würde, anstatt diese Manpower effizient einzu- umfangreichen Bürgschaften und Altkreditentschul- setzen. dungen. Die gesamten Sanierungshilfen summieren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sich so auf einen dreistelligen Milliardenbetrag. Natürlich gibt es in einer Mammutbehörde wie der Um verstärkt industrielle Kerne zu erneuern und Treuhandanstalt auch menschliches Versagen. Wo ökologische Altlasten zu beseitigen, ist der Kreditrah- gegen Gesetze verstoßen wurde, werden Staatsan- men der Treuhandanstalt in diesem Jahr auf 37 Milli- wälte und Gerichte Gerechtigkeit einfordern. Aber arden DM erweitert worden. Wir werden eine entspre- wer glaubt, aus dem Nachweis einzelner Fehltritte bei chende Aufstockung auch für das nächste Jahr einpla- dem Privatisierungspotential von etwa 20 000 Verträ- nen. gen, die in den letzten drei Jahren abgeschlossen Wir gehen auch bei den Exportbürgschaften für wurden, billige Wahlkampfmunition gegen die Koali- ostdeutsche Betriebe bis hart an die Grenze des tion zu gewinnen, der hat wenig Ahnung von den Vertretbaren. Allein für das Waggonbauwerk in Fragen, die die Deutschen in Ostdeutschland wirklich Ammendorf haben wir einschließlich der jetzt zuge- interessieren. sagten 110 Millionen DM 610 Millionen DM an Insofern sollten Sie noch einmal darüber nachden- Bürgschaften für Lieferungen an Staaten der früheren ken, ob Sie damit auch dem Vermächtnis und der Sowjetunion bereitgestellt. Arbeit von Detlev Karsten Rohwedder, Klaus von Aber es gibt Vertretbarkeitsgrenzen dort, wo die Dohnanyi, Hans Apel und vielen anderen gerecht Bürgschaft bei objektiver Analyse der Umstände zum werden, die sich hier engagiert haben. Zuschuß wird. Und wir können auch nicht den Bürg- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schaftsrahmen für einige wenige Betriebe reservie- ren, während andere Produzenten vor vergleichbaren Ich will hier auch als der zuständige Minister Absatzproblemen stehen und ebenfalls Hilfe erwar- meinen Dank und meine Anerkennung an die tüch- ten. tige und tapfere Frau Breuel und viele andere in der Treuhandanstalt aussprechen, die unglaublich viel Bis Ende 1994 wird die bei der Treuhandanstalt Positives in den letzten Jahren bewirkt haben. aufgelaufene finanzielle Erblast nach heutiger Erkenntnis bei etwa 275 Milliarden DM liegen. Schon (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diese Größenordnung zeigt: Wir haben alle finanziel- 90 % der früheren Staatsbetriebe wurden inzwischen len Spielräume für die Restrukturierung der Industrie privatisiert. Käufer aus dem In- und Ausland haben im in den östlichen Ländern ausgenutzt. 14692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Wer noch mehr will und wer sich auf reine Erhal- — Nein, fünf Mark werden nicht angestrebt. tungssubventionen versteift, handelt nicht anders als (Dr. Peter Struck [SPD]: Na, na, na!) ein Landwirt, der sein Saatgut verfüttert. Erhaltungs- subventionen gehen zu Lasten der Finanzierungs- — Ja, Peter, bei euch bin ich da nicht so sicher. Bei uns - möglichkeiten unseres Mittelstandes oder zu Lasten haben wir das im Griff. des Ausbaus der Infrastruktur. Das sind die wirklichen (Dr. Peter Struck [SPD]: Na, na!) Alternativen, vor denen niemand die Augen ver- schließen kann. — Doch, doch. Da bin ich mir mit dem Kanzler ziemlich einig. Alles, was wir im Bereich der Treuhandanstalt, in (Lachen bei der SPD) der Steuer- und Finanzpolitik und in der Wirtschafts- politik in den kommenden Monaten und Jahren - „Ziemlich" heißt auf schwäbisch „fast vollstän entscheiden, muß sich der zentralen Aufgabe unter- dig". ordnen, den Investitions- und Beschäftigungsstand- (Heiterkeit) ort Deutschland konkurrenzfähig zu halten. Denn nur wenn wir im Wettbewerb um produktive Arbeits- Ein wichtiges Element der Bahnreform ist die plätze international auch in Zukunft mithalten, lassen geplante Übertragung des regionalen Schienenver- sich soziale Leistungen, lassen sich Familienpolitik, kehrs auf Länder und Gemeinden. Die Aufgabenum- Ausbildung und Infrastruktur überhaupt finanzie- schichtung, die wesentlich mehr Spielraum für den ren. Regionalverkehr eröffnet, darf den Finanzkorridor im Bereich der Bahnen allerdings nicht weiter öffnen. Bezogen auf die Finanzpolitik heißt Standortsiche- Wer hier unannehmbare Forderungen stellt, gefähr- rung: konsolidieren, um Preise und Zinsen zu stabili- det die Bahnreform. sieren; restrukturieren, um einen möglichst großen Investitionsbeitrag des Staates zu erreichen. Unter Einbeziehung des ab 1995 erhobenen Solida- ritätszuschlags auf die Lohn-, Einkommen- und Kör- Innerhalb des engen Haushaltsrahmens schaffen perschaftsteuer und vor dem Hintergrund der schon wir durch Umschichtungen und neue Prioritäten hohen Abgabenlast im Sozialversicherungsbereich ist zusätzliche Wachstumsimpulse. mit der Mineralölsteueranhebung der Spielraum des Den Schwerpunkt des Bundeshaushalts mit einem Zumutbaren praktisch ausgeschöpft. 1995 wird die Anteil von fast 25 % — das sind rund 110 Milliarden Abgabenquote auf einen Höchststand von über 44 % DM — bilden wiederum die Ausgaben für die jungen ansteigen. Das ist allenfalls kurzfristig, für wenige Länder. Zunehmend konzentrieren sich jetzt die vom Jahre, und angesichts der Sondersituation durch die Bund bereitgestellten Mittel auf substantielle langfri- deutsche Wiedervereinigung vertretbar. Ein Dauer- stige Strukturverbesserungen, nachdem in den ersten zustand darf es auf keinen Fall bleiben. Jahren zwangsläufig die Sozialtransfers im Mittel- (Beifall bei der CDU/CSU) punkt standen. Darum muß auch eines klar sein: Sobald wir wieder Bezeichnend für diese Entwicklung sind der deutli- Spielraum haben, kann es nicht darum gehen, neue che Anstieg der Mittel für Bahn und Straße und des soziale Leistungen zu beschließen, sondern die Verfügungsrahmens für die Gemeinschaftsaufgabe Steuer- und Abgabenlast der Bürger und der Wirt- „Regionale Wirtschaftsförderung". Die Konditionen schaft wieder zu reduzieren. Das muß die Priorität beim Eigenkapitalhilfeprogramm wurden deutlich sein. verbessert. Insgesamt werden 1994 rund 27 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) DM für investive Zwecke in den neuen Ländern aufgewendet. Die Verabschiedung des Standortsicherungsgeset- zes war ein wichtiges Signal für die Fortsetzung Über den Bereich der neuen Länder hinaus wird der unserer wachstumsfördernden Steuerpolitik. Weitere Bundeshaushalt 1994 durch verkehrspolitische Lang- Verbesserungen der steuerlichen Rahmenbedingun- fristentscheidungen geprägt. Im Mittelpunkt steht die gen bleiben mittelfristig auf der Tagesordnung. Wenn Strukturreform der Eisenbahnen. Sie werden in eine es um die Steuerpolitik der nächsten Legislaturpe- privatrechtlich organisierte Deutsche Eisenbahn AG riode geht, steht neben der Rückführung des Solida- überführt und von wesentlichen Lasten, insbesondere ritätszuschlags vor allem die Gewerbesteuer im Mit- von ihren Altschulden, befreit. Wir schaffen damit die telpunkt. Vorrangig sind die Abschaffung der Ge- Voraussetzung für einen leistungsfähigen Schienen- werbekapitalsteuer und die Einschränkung der Ge- verkehr, der Landstraßen und Autobahnen entlastet werbeertragsteuerbelastung. Das schließt selbstver- und damit zugleich ein Stück Umweltschutz verwirk- ständlich einen finanziellen Ausgleich für die licht. Gemeinden ein. Die Tilgung der vom Bund zu übernehmenden Auch der Familienlastenausgleich steht in der Altschulden der Bahnen ist ohne Zusatzfinanzierung nächsten Legislaturperiode erneut auf der Tagesord- nicht zu verwirklichen. Wir werden deshalb die Mine- nung. Grundkonzeption sollte sein, das Existenzmini- ralölsteuer ab 1994 um bis zu 16 Pfennig erhöhen. mum für Kinder künftig vollständig über den Kinder- Angesichts der zuletzt mäßigen Benzinpreisentwick- freibetrag abzudecken und das Kindergeld auf die lung und der Priorität des Verkehrsausbaus in Ost und Familien mit geringerem Einkommen zu konzentrie- West ist diese zusätzliche Belastung unumgänglich ren, die diese zusätzliche Unterstützung wirklich und vertretbar. brauchen. (Zuruf von der SPD: Fünf Mark!) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14693

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Meine Damen und Herren, wir setzen auf nationale Mitentscheidend für diesen Anpassungsprozeß Standortsicherung und internationale Kooperation. wird die Glaubwürdigkeit künftiger Geldpolitik sein. Wir werden deshalb den Vertrag von Maastricht nach Glaubwürdigkeit erwächst auch aus Traditionen und Geist und Inhalt erfüllen und unsere Beziehungen zu Überzeugungen. Wir brauchen deshalb eine rasche den übrigen Industriestaaten, zu Osteuropa und zu Entscheidung über den Sitz der Europäischen Zentral-- den Entwicklungsländern noch weiter ausbauen. bank, die in Frankreich ihren richtigen Platz finden Die letzten Währungsturbulenzen im EWS haben wird. die Entscheidungen zur Wirtschafts- und Währungs- (Lachen und Zurufe von der SPD — Dr. union nicht in Frage gestellt. Deutschland hat seine Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Man kann Währungsverpflichtungen erfüllt. sich doch mal versprechen!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Na!) Entschuldigung, in Frankfurt. — Dazu, meine Damen — Wenn man in einem solchen Zusammenhang im und Herren, bedarf es keiner lauten Töne, sondern letzten Jahr und auch in diesem Jahr jeweils etwa klarer Worte. Ich meine, daß wir alle Anspruchsvor- 50 Milliarden DM aufwendet, um einer Währung, aussetzungen erfüllen und der Finanzplatz Frankfurt deren Fundamentals in Ordnung sind, beizustehen, wirklich die optimale Voraussetzung bringt für den wird uns niemand mangelnde internationale oder Sitz der Europäischen Zentralbank. europäische Verantwortung vorwerfen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sowie bei Abgeordneten der SPD) ordneten der F.D.P.) Nichts kommt in dem Zusammenhang von allein. Wir haben in einer dramatischen Nachtsitzung in Wir müssen hier um alles kämpfen: um den Sitz der Brüssel alles getan, um das EWS fortzusetzen und den Europäischen Notenbank in Frankfurt, um die euro- Weg zur Währungsunion offenzuhalten. Die Kombi- päische Integration, um Investitionen und Arbeits- nation aus unveränderten Leitkursen und erweiterten plätze, um soziale Sicherheit und gesellschaftlichen Bandbreiten hat sich in den letzten Wochen als Frieden. erfolgreich erwiesen. Wir haben in der Finanzpolitik gekämpft und in (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Rich schwierigsten Zeiten seit 1990 die richtigen und tig!) notwendigen Ziele durchgesetzt: Wir haben 1990 über Nach anfänglich stärkeren Ausschlägen haben sich die deutsche Währungsunion und das Überleitungs- die meisten Währungen wieder den ursprünglichen abkommen mit der früheren Sowjetunion strategi- Schwankungsbreiten angenähert. Damit ist zunächst sche, finanzpolitische Entscheidungen getroffen, auch die Gefahr von Agrarpreissenkungen gebannt, ohne die der 3. Oktober nicht möglich geworden denen wir uns auf jeden Fall widersetzt hätten. wäre. Meine Damen und Herren, die Währungsturbulen- Wir haben die wohl größte Finanzumschichtung zen des Sommers haben erneut unterstrichen: Im Kern und Finanzausgleichsoperation Deutschlands zugun- geht es im Vertrag von Maastricht nicht um das sten der jungen Länder Anfang dieses Jahres verwirk- Zusammenlegen von Währungen, sondern um das licht. Zusammenwachsen des europäischen Wirtschafts- raums. Nur wenn wir bei Löhnen, Gehältern, Preisen Wir haben die Bundesfinanzen seit 1989 praktisch und Zinsen in Europa in eine Richtung marschieren, völlig umstrukturiert und auf neue Herausforderun- kann das Währungsdach halten und können wir die gen eingestellt. vollen Vorteile der Integration wirklich nutzen. Wir haben in der Finanz- und Steuerpolitik trotz Das Entscheidende dieser Wirtschafts- und Wäh- aller Finanzierungsaufgaben unverändert auf Wachs- rungsunion besteht doch darin, daß sich ganz Europa tum und Beschäftigung gesetzt, damit Deutschland — die Zwölf und auch andere — auf den Weg der auch im nächsten Jahrtausend im internationalen Stabilität gemacht hat, um Europa zu einer Stabilitäts- Standortwettbewerb noch mithalten kann. zone zu machen. Das ist doch der große Erfolg dieser Schließlich haben wir das soziale Netz in ganz Politik, die unbedingt fortgesetzt werden muß. Da Deutschland ausgespannt und gegen alle Anspan- spielt es dann keine Rolle, ob die Währungsunion nungen gesichert. Wie vor der Wiedervereinigung letztlich ein oder zwei Jahre früher oder später kommt. fällt bei uns niemand ins Bodenlose. Aber Verzicht auf Entscheidend ist, daß die Konvergenzziele auch wei- Zuwachs ist hier wie überall unumgänglich. terhin gelten, nicht zur Disposition stehen und unse- ren Zielsetzungen entsprechen. Die Ergebnisse unserer Anstrengungen können sich sehen lassen: Trotz deutlicher Rezession in die- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sem Jahr hat das reale Sozialprodukt in Deutschland 1994 wird zunächst die zweite Stufe der Wirt- mit insgesamt 9 % zwischen 1990 und 1993 um rund schafts- und Währungsunion in Kraft treten. In dieser die Hälfte stärker zugenommen als im Durchschnitt Vorbereitungsphase, in der die geldpolitische Souve- der sieben größten Industriestaaten. ränität nicht eingeschränkt ist, entscheiden die tat- Die D-Mark ist hart wie eh und je. sächlich meßbaren Konvergenzfortschritte, wann wir die dritte Stufe, also die gemeinsame Währung, Auf der Grundlage niedriger Zinsen und umfassen- erreichen. Denn die europäische Währung entsteht der Förderung wächst das Wohnungsangebot mit nicht am Verhandlungstisch in Brüssel, sondern in den zweistelliger Zuwachsrate. Der Bau von über einer europäischen Volkswirtschaften. halben Million Wohnungen wird dieses Jahr vor- 14694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Bundesminister Dr. Theodor Waigel aussichtlich in Angriff genommen — mehr als in jedem Ich glaube, wir Deutschen haben trotz aller irritie- Jahr seit Anfang der 70er Jahre. render öffentlicher Diskussion die Fähigkeit nicht verloren, uns aufzuraffen und das große Gemein- Der Aufbau in Ostdeutschland kommt voran. Im schaftswerk der deutschen Wiedervereinigung zu Zeitraum 1992/93 wird der Zuwachs des Sozialpro- vollenden. Von dieser Fähigkeit zeugen die vielen dukts dort insgesamt real rund 12 % betragen. Ange- Hunderttausenden neugegründeten mittelständi- sichts eines Investitionsvolumens von rund 130 Milli- schen Unternehmen in den jungen Ländern. Auch arden DM in diesem Jahr — das ist pro Kopf gerechnet Umfrageergebnisse des Infas-Instituts, nach denen fast doppelt so viel wie im Westen — ist der Aufhol- die Mehrheit der Westdeutschen bereit wäre, für die prozeß auch für die kommenden Jahre praktisch Zukunftssicherung zur 40-Stunden-Woche zurückzu- gesichert. kehren, sprechen gegen Dekadenz und Trägkeit. Durch die erfolgreiche Arbeit der Treuhandanstalt Überzeugend ist schließlich der Einsatz junger Deut- steht das wohl größte Privatisierungsprojekt in der scher jenseits der Grenzen, die im Sinne der Friedens- Geschichte der Industriestaaten kurz vor seiner Voll- ziele ihren Dienst in Kambodscha und Somalia leisten endung. oder geleistet haben. Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) doppelt belastet: Unverändert große Wiedervereini- Die Finanzpolitik mag manchem als kaltes Zahlen- gungsaufgaben treffen zusammen mit der weltweiten werk erscheinen. Aber sie spiegelt wider, ob wir zur Konjunkturflaute, die jenseits unserer Grenzen zu Anpassung und Solidarität letztlich in der Lage sind. noch viel tieferen Einbrüchen und stärkerem Arbeits- Indem wir unsere volkswirtschaftlichen Kräfte auf die platzverlust geführt hat. hervorragenden Prioritäten in Ostdeutschland, auf die Aber wir gehen nicht in die Knie. Deutschland ist Schaffung von Arbeitsplätzen und auf internationale und bleibt eine starke Industrienation. Pro Kopf Friedenssicherung und Zusammenarbeit lenken, stel- verfügen wir über mehr Auslandsvermögen als jedes len wir uns gegen die „Vertreibung der Solidarität", andere Land, einschließlich Japan. Von den interna- die Hans Barbier vor einigen Monaten in einem tionalen Kreditbewertungsagenturen werden wir un- bemerkenswerten Kommentar als Gefahr an die verändert mit dem begehrten „Triple A" ausgezeich- Wand gemalt hat. net. Das heißt uneingeschränkte Bonität und gering- Meine Damen und Herren, dieser Bundeshaushalt ste Zinsen für deutsche Schuldner — für öffentliche hilft Grenzen überwinden. Dieser Bundeshaushalt und private. Alles, was in der nationalen und interna- schafft Grundlagen für künftiges Wachstum und mehr tionalen Diskussion über den Niedergang Deutsch- Beschäftigung. Dieser Bundeshaushalt dient allen lands formuliert wird, hält den Fakten und Daten nicht Deutschen und erfordert deshalb breite Zustimmung. stand. Darum bitte ich Sie sehr herzlich. Wir tragen allerdings eine gehörige Portion Mitver- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und antwortung an der Entstehung eines verzerrten der F.D.P.) Deutschlandbildes. Unzufriedenheit und Nörglertum beherrschen einen zu großen Teil der öffentlichen Diskussion. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich eröffne die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aussprache. Das Wort erhält die Abgeordnete Ingrid der F.D.P.) Matthäus-Maier. Politikverdrossenheit ist zur alles erklärenden Ent- schuldigung für verbreitete Passivität und Pessimis- mus geworden, obwohl durch Politikverdrossenheit Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Frau Präsidentin! nicht ein einziges Problem gelöst wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach elf Jahren Kohl-Regierung steht die Stabilität der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) desrepublik Deutschland auf dem Spiel: Die Arbeits- Niemand hat das Recht, leichtfertig über die losigkeit ist so hoch wie nie zuvor, jeden Tag werden begründeten Sorgen vieler Menschen im Westen und ca. 2 000 Arbeitsplätze abgebaut, die Staatsverschul- Osten Deutschlands hinwegzugehen, die von indivi- dung explodiert, in der Finanzpolitik herrscht das duellen Schicksalsschlägen oder von wirtschaftlichen Chaos, Schwierigkeiten betroffen sind. Aber die eigentliche (Widerspruch bei der CDU/CSU) gesellschaftliche Fehlentwicklung findet bei den die Inflation schwächt die Mark, die Realeinkommen anderen statt, die in Sicherheit und relativem Wohl- von Arbeitnehmern und Rentnern sinken, stand leben und dennoch mit der Gegenwart nicht zurechtkommen und alles auf den Staat schieben. (Zuruf von der CDU/CSU: Das glaubt doch niemand!) Frau Professor Noelle-Neumann schrieb kürzlich im „ Rheinischen Merkur": die Armut in Deutschland nimmt zu, immer mehr Menschen werden Opfer der Wohnungsnot, die Kri- Glück wird gefunden im Entwickeln der Anlagen minalität steigt und steigt, der rechtsradikale Mob und Fähigkeiten durch Überwinden von Hinder- wird immer dreister, und schließlich: Die Politikver- nissen, Schwierigkeiten und Durststrecken. drossenheit nimmt täglich zu. In der Anstrengung, dieses Glück zu erreichen, liegt (Beifall bei der SPD — [CDU/ der Schlüssel zur Lösung der deutschen Aufgaben. CSU]: Die SPD wird immer einfallsloser!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14695

Ingrid Matthäus-Maier Gerade in dieser Situation bräuchten wie eine das nicht gerne hören: Schuldenmachen ist zum starke Regierung. Markenzeichen dieser Bundesregierung geworden. (Zuruf von der CDU/CSU: Die wir haben!) (Beifall bei der SPD) Unsere Bürger wissen, daß wir die Ärmel aufkrempeln In der Finanzpolitik herrscht das blanke Chaos. Alle- müssen und daß es nichts zu verteilen gibt. Sie wissen, wesentlichen Finanzzahlen dieser Bundesregierung daß Opfer gebracht werden müssen. Sie sind dazu haben sich als falsch und meilenweit entfernt von der auch bereit. Wirklichkeit erwiesen. Ein ganzes Jahr lang haben Sie Stein und Bein geschworen, daß 1993 die Ausgaben Aber statt diese Bereitschaft der Bürger zu nutzen, höchstens um 2 1 /2% steigen. Und das Ergebnis: Statt statt die Kräfte der Gesellschaft zu bündeln, um in 2 1 /2% sind es jetzt 7,2 %, also fast dreimal soviel. Und einer gemeinsamen Kraftanstrengung die Krise zu die Neuverschuldung für 1993? Bei seiner Einbrin- überwinden, verfährt diese Bundesregierung nach gungsrede hier vor einem Jahr sprach der Finanzmi- dem Motto: aussitzen, täuschen, über die Runden nister noch von 38 Milliarden DM. Im November kommen. Schon 20 Minister sind mittlerweile zurück- sprach er dann von 43 Milliarden; im Januar waren es getreten. Diese Regierung ist abgewirtschaftet. 48 Milliarden, im April 53 Milliarden, im Juli schließ- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf lich 67,5 Milliarden DM. Und aus dem Finanzministe- gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ rium ist zu hören, daß es auch noch mehr werden NEN]) könnten. Die Bundesregierung spielt die Menschen gegen- Ich sage Ihnen: Wer als Finanzminister mit seinen einander aus: die Arbeitgeber gegen die Arbeitneh- Zahlen so danebenliegt, der kann entweder nicht mer, die Arbeitsplatzbesitzer gegen die Arbeitslosen, rechnen, oder er hat ganz bewußt Parlament und die Ostdeutschen gegen die Westdeutschen, die Nied- Öffentlichkeit getäuscht. Ich fürchte, Herr Waigel, bei rigverdiener gegen die Sozialhilfeempfänger. Herr Ihnen kommt beides zusammen, und das eine ist so Bundeskanzler, Sie führen die Kräfte nicht zusammen, schlimm wie das andere! Sie spalten unsere Gesellschaft! Ein Bundeskanzler, (Beifall bei der SPD) der spaltet, den kann sich dieses Land nicht leisten. Die Folge dieser Schuldenexplosion sind explodie- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf rende Zinsbelastungen. Schon heute zahlt der Staat gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ auf die Staatsschulden 134 Milliarden DM Zinsen. NEN]) 1997 werden es nach Ihren eigenen Zahlen über Vor elf Jahren hat den damaligen 180 Milliarden DM sein. Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Anspruch (Dr. [CDU/CSU]: Und Oskar auf geistig-moralische Erneuerung gestürzt. Der ist auch dabei!) Anspruch war groß, das Versagen noch größer. Hel- mut Schmidt hat solche hochtrabenden Worte nie Jede fünfte Steuermark wird dann allein für das geliebt. Aber ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler: Bezahlen von Zinsen draufgehen. Wer so maßlos den Wenn Sie nur einen Bruchteil der Führungsqualitäten, Weg in die Staatsverschuldung geht, handelt unver- der nüchternen Offenheit, des Verantwortungsbe- antwortlich gegenüber unseren Kindern und En- wußtseins für das Gemeinwohl, wenn Sie vor allem keln. nur einen Bruchteil der wirtschaftspolitischen Kom- (Zuruf von der CDU/CSU: Aufhören!) petenz von Helmut Schmidt hätten, dann würden wir heute mit den Problemen dieses Landes besser fer- Was durch Zinszahlungen aufgefressen wird, fehlt tig. für andere notwendige Staatsaufgaben: Es fehlen fünf Millionen Arbeitsplätze in Deutschland — Sie aber (Beifall bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers kürzen die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik in Ihrer [CDU/CSU]: Deshalb habt ihr den ge Finanzplanung um 57 %. Es herrscht Wohnungsnot in stürzt!) Deutschland — Sie aber kürzen den Verpflichtungs- rahmen für den sozialen Wohnungsbau um 30 %. Die Finanzkrise des Staates hat bedrohliche Aus- maße angenommen. Ein öffentlicher Schuldenberg Immer mehr Menschen können die steigenden Mie- von insgesamt 1,8 Billionen DM, eine Neuverschul- ten nicht mehr bezahlen — Sie aber kürzen das dung allein in diesem Jahr von 224 Milliarden DM und Wohngeld um 26 %. Wir haben einen Pflegenotstand — Sie aber kürzen die Mittel für den Zivildienst um Zinsausgaben allein in diesem Jahr von 134 Milliar- den DM — das ist das Ergebnis einer unverantwortli- 20 %. Unsere Hochschulen platzen aus allen Nähten chen Finanzpolitik. Die Bundesrepublik Deutschland — Sie aber kürzen die Mittel für den Hochschulbau erfüllt damit im Moment nicht einmal die Stabilitäts- um 17 %. Wir müssen Energie einsparen — Sie aber voraussetzungen der Europäischen Währungsunion. kürzen die Mittel für erneuerbare Energien und rationelle Energieverwendung um insgesamt 8,5 %. Obwohl der Staat in jeder Minute 1,4 Millionen Mark Steuern einnimmt, macht er zusätzlich in jeder (Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie nun Minute 426 000 Mark neue Schulden und zahlt für sparen oder nicht?) Schulden in jeder Minute 255 000 Mark Zinsen. Jede Wir brauchen mehr Investitionen — die Investitions- Minute neue Staatsschulden in Höhe eines Eigen- ausgaben des Bundes aber gehen bis 1997 zurück. heims! Dieser Finanzminister hat in den vier Jahren Schließlich, meine Damen und Herren: Wir waren uns seiner Amtszeit mehr Schulden gemacht als alle seiner beim Asylkompromiß doch einig, daß die Bekämp- 13 Vorgänger in 40 Jahren zusammen. Auch wenn Sie fung der Fluchtursachen mindestens genauso wichtig 14696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Ingrid Matthäus-Maier ist, um die Zuwanderung zu begrenzen. Da können Europäischen Gemeinschaft längst auf die Hinter- Sie doch jetzt nicht die Entwicklungshilfe einfrie- bank gerutscht sind. Das gilt auch für die hohen ren! Leitzinsen der Bundesbank und die faktische Ausset- Schuld (Beifall bei der SPD) zung des Europäischen Währungssystems. „ an der Krise des EWS sind die Schulden, die Theo- Auch wirtschaftspolitisch hat die Schuldenpolitik Waigel macht", schrieb die „Süddeutsche Zeitung". der Bundesregierung unseren Staat handlungsunfä- Damit hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen, meine hig gemacht. Angesichts von fünf Millionen Arbeits- Damen und Herren. platzsuchenden wäre ein Gegensteuern durch zusätz- liche kreditfinanzierte Ausgaben ja durchaus erwä- (Beifall bei der SPD) genswert. Konjunkturpolitisch dringend geboten wäre eine (Zuruf von der CDU/CSU: Also mehr Schul weitere Leitzinssenkung durch die Bundesbank. den!) Diese sieht sich aber durch die hohe Inflationsrate und die Schuldenpolitik der Bundesregierung daran Aber wer so etwas jetzt fordert, der übersieht, daß die gehindert. Daß hier ein Dauerkonflikt zwischen Bun- öffentliche Hand sich 1993 ohnehin schon in Höhe desregierung und Bundesbank auf dem Rücken von von 224 Milliarden DM verschuldet und damit schon Bürgern und Wirtschaft ausgetragen wird, darf so fast die gesamte private Ersparnis in Anspruch nicht weitergehen, meine Damen und Herren. nimmt. — Deshalb: Sparen muß sein. Aber auch Sparen muß (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was wollen man mit Sinn und Verstand. Sie sparen leider am Sie, mehr oder weniger?) falschen Ende. Ihr Kürzungspaket ist sozial ungerecht Dies ist bereits ein Super-Keynes, leider im überwie- und ökonomisch unvernünftig. genden Maß für Konsum und nicht für Investitionen (Beifall bei der SPD) ausgegeben. — (Beifall bei Abgeordneten der SPD) „Den Schwachen ans Leder, die Starken geschont", sagte ein Kommentator. Und der Vorsitzende der Der übersieht leider auch, daß die Bundesregierung in CDU-Sozialausschüsse hat es sogar einen „Brandsatz der guten Weltkonjunktur der 80er Jahre trotz über für den sozialen Frieden" genannt. 100 Milliarden DM Bundesbankgewinne die Staats- verschuldung dramatisch weiter erhöht und keine Herr Finanzminister, Sie versuchen immer wieder, Vorsorge für schlechte Zeiten getroffen hat. Deutsch- zu widerlegen, daß auch Ihr neues Kürzungspaket land sitzt in einer hausgemachten Schuldenfalle, sozial ungerecht ist. Damit gehen Sie aber auf Dum- meine Damen und Herren. menfang. Wie sind die Zahlen? Sie sagen z. B. in der „Süddeutschen Zeitung": (Beifall bei der SPD) Die 25 % der sogenannten Besserverdienenden Was 1974, nach der ersten Ölpreiskrise, unter Bun- unter den Steuerzahlern finanzieren über 50 % deskanzler Helmut Schmidt bei einem Stand der dessen, was geleistet werden muß. gesamten öffentlichen Verschuldung von — hören Sie bitte zu! — 212 Milliarden DM, inklusive Bahn und Sie verschweigen allerdings dabei, daß diese oberen Post, noch möglich war, ist jetzt bei einem fast zehn- 25 % auch mehr als 50 % aller Einkommen beziehen. mal so hohen Schuldenstand von beinahe 2 Billionen Diese vollständigen Zahlen bestätigen die Gerechtig- DM verbaut. Diese Regierung steht vor dem finanz- keitslücke und widerlegen Sie, Herr Waigel. und wirtschaftspolitischen Offenbarungseid. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Außerdem, Herr Waigel, unterschlagen Sie, daß Wer die konjunkturpolitische Handlungsfähigkeit Ihre Steuer- und Abgabenerhöhungen bei der Mine- des Staates wiederherstellen will, muß jetzt endlich ralölsteuer, der Heizölsteuer, der Erdgassteuer, der mit der Konsolidierung beginnen. Tabaksteuer, der Telefonsteuer, der Versicherungs- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was heißt steuer, der Mehrwertsteuer, den Arbeitslosenversi- das?) cherungsbeiträgen und nächstes Jahr bei den Renten- versicherungsbeiträgen die niedrigen Einkommen Die Mentalität „Sparen erst im nächsten Jahr, viel- relativ viel stärker treffen als die hohen — übrigens leicht auch erst in zwei Jahren, auf jeden Fall erst nach alles Steuer- und Abgabenerhöhungen, von denen Sie der nächsten Wahl, am besten überlassen wir das vor der Wahl behauptet haben, sie würden nie und Sparen unseren Kindern" muß durchbrochen werden. nimmer stattfinden, meine Damen und Herren. Es kann nicht länger nach dem Motto gehandelt werden: Wenn Geld da ist, wird es ausgegeben; wenn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keines da ist, werden eben Schulden gemacht. — Nur des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wer bereit ist, den handlungsunfähigen Staat in Kauf Wie Sie Ihre Zahlen auch drehen und wenden, Herr zu nehmen, oder wer ihn sogar will, kann die Schul- Waigel, der ganz normale, gesunde Menschenver- denlawine unbegrenzt weiterlaufen lassen. stand sagt einem doch: Ein Kürzungspaket, zu dem Übrigens, mit ihrer Schuldenpolitik ist die Bundes- jemand wie der Bundeskanzler, der Finanzminister regierung auch zum Problemverstärker Nummer eins oder auch ich selbst mit meinem Einkommen nicht geworden. Das gilt für die Inflation, die sich hartnäk- eine einzige Mark beisteuern muß, das aber Arbeits- kig über 4 % hält und bei der wir innerhalb der lose, Familien mit Kindern und Sozialhilfeempfänger Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14697

Ingrid Matthäus-Maier zur Kasse bittet, kann doch nicht sozial gerecht Das gleiche gilt für die Sozialhilfe. Bei einer Infla- sein. tionsrate von über 4 % und einem durchschnittlichen Regelsatz von 515 DM im Monat bedeuten die Kür- (Beifall bei der SPD und der Abg. Dr. Barbara zungsmaßnahmen bei der Sozialhilfe einen Realein- Höll [PDS/Linke Liste]) kommensverlust von 12 DM in diesem Jahr und noch Völlig unverständlich ist auch, daß diese Regierung einmal 22 DM im nächsten Jahr. Da möchte ich die angesichts einer Arbeitslosigkeit von Millionen Men- Kollegen von der Union an ein Schreiben des Kollegen schen so tut, als sei hier ein Heer von Faulpelzen, das Geißler vom Januar dieses Jahres erinnern, in dem er man durch Leistungskürzungen zur Arbeit treiben sagte: müsse. 5 Millionen Arbeitssuchende bei nur 290 000 Einer alten Frau, die zusätzlich zu ihrer kleinen gemeldeten offenen Stellen — an diesen beiden Rente noch einen Sozialhilfeanspruch hat, 15 Zahlen zeigt sich doch in aller Deutlichkeit, wie oder 20 DM wegzunehmen, das wäre eine abwegig Ihre Unterstellung ist. Alle diejenigen, die Schande. — oft verzweifelt — Arbeit suchen und keine finden können, durch Kürzung des Arbeitslosengeldes zu Meine Damen und Herren, Herr Geißler hat recht. bestrafen, für das sie ja schließlich Beiträge gezahlt Und deswegen fordern wir Sozialdemokraten aus- haben, ist wirklich blanker Zynismus, meine Damen drücklich zusammen mit Herrn Scharping die unions- und Herren! geführten Länder auf, Ihrem unsozialen Kürzungspa- ket eben nicht zuzustimmen. (Beifall bei der SPD und der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]) (Beifall bei der SPD) Mißbrauch muß selbstverständlich verhindert wer- Ist Ihnen überhaupt bewußt, daß auch rund 800 000 den, auch im sozialen Bereich. Darauf haben die Kinder von der Sozialhilfe leben müssen, in Großstäd- ehrlichen Steuer- und Abgabenzahler ein Recht. ten bereits jedes elfte Kind? Kennen Sie denn nicht die Fälle, daß Kinder nicht an der Klassenfahrt teilnehmen (Zuruf von der CDU/CSU: Und nichts ande- können, weil dafür die Sozialhilfe nicht reicht? Wir res tun wir!) wissen doch alle von dem Teufelskreis aus Arbeitslo- Aber sie haben ebenso ein Recht darauf, meine sigkeit und Armut der Eltern und späterer Armut und Damen und Herren, daß diese Bundesregierung end- Arbeitslosigkeit der Kinder. Diesen Kindern den Start lich entschlossen gegen Steuerhinterzieher und Sub- ins Leben nun noch schwerer zu machen, das ist doch ventionsbetrüger vorgeht, zumal die Summen, um die wirklich eine erbärmliche Politik. es da geht, eine Vielfaches der Summen beim sozialen Mißbrauch ausmachen. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Können Sie endlich aufhören, zu ver (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten allgemeinern?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie begründen die Kürzungen der Sozialhilfe mit Nicht zu übersehen ist auch, daß dieses Kürzungs- dem sogenannten Abstandsgebot zwischen Arbeits- paket überwiegend zu Lasten der Frauen geht; denn einkommen und Sozialhilfe. Aber der Grund dafür ist sie sind es, die ganz besonders von Arbeitslosigkeit doch nicht, daß die Sozialhilfe verschwenderisch betroffen und am stärksten auf Sozialhilfe angewiesen - üppig ist. Der Grund liegt zum einen darin, daß in sind, vor allem in Ostdeutschland. Dort stellen Frauen diesem Land teilweise noch beschämend niedrige fast zwei Drittel der Arbeitslosen und rund 60 % der Löhne und Gehälter gezahlt werden, zum anderen Sozialhilfeempfänger. Nein, meine Damen und Her- aber darin, daß die Bundesregierung durch den nach ren, nach der Klage der CDU/CSU in Karlsruhe gegen wie vor zu niedrigen Grundfreibetrag bei der Steuer die Fristenregelung beim § 218 und gegen die Über- von nicht einmal 1 000 DM im Monat den Menschen nahme der Kosten durch die Krankenkassen jetzt auch auch noch das Existenzminimum wegsteuert. Dreimal das noch! Ich sage Ihnen: So lassen die Frauen nicht hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen mittlerweile länger mit sich umspringen! bescheinigt, daß Sie die Bürger und dabei vor allem die Familien mit Kindern verfassungswidrig zu hoch (Beifall bei der SPD) besteuern. Ich sage Ihnen: Eine Bundesregierung, die Ihr Kürzungspaket ist nicht nur sozial ungerecht, es Arbeitseinkommen so sehr mit Steuern und Abgaben ist auch ökonomisch unvernünftig. Die Arbeitslosen- belastet, daß diese bis nahe an die Sozialhilfe heran unterstützung muß doch in den meisten Fällen voll- rutschen, hat wirklich kein Recht, den geringen ständig für den Lebensunterhalt ausgegeben werden. Abstand zwischen Sozialhilfe und niedrigen Löhnen Das Arbeitslosengeld im Westen beträgt im Durch- zu beklagen. Das ist doch pure Heuchelei! schnitt 1 362 DM im Monat; Sie kürzen es um 80 DM. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Bar Im Osten liegt es bei 884 DM; Sie kürzen es um 52 DM. bara Höll [PDS/Linke Liste]) Wenn ein Arbeitsloser beim Kaufmann um die Ecke für 50 oder 80 DM weniger einkaufen kann, dann fehlt Warum fordern wir denn immer die ökologische das an konjunkturwirksamer Nachfrage. Das sum- Steuerreform, mit der die Arbeitseinkommen steuer- miert sich zu Milliarden. „Gift für die Konjunktur" hat lich entlastet würden und der Energieverbrauch höher der Einzelhandelsverband Ihr Paket genannt. Die belastet würde? Einzelhändler haben recht! Ihr Kürzungspaket ist auch wirtschaftspolitisch ein Rohrkrepierer! (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie sind doch gegen Steuersenkungen! So ein (Beifall bei der SPD) erbärmliches Zeug!) 14698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Ingrid Matthäus-Maier Wären Sie unseren Vorschlägen gefolgt, dann wären chen Familien an, während kinderlose Familien mit die Nettolöhne höher Bleichhohen Einkommen ungeschoren bleiben. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Noch hö- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Verfas her? Wo wollen Sie denn hin?) sungsgerichtsurteil lesen!) und gäbe es dieses Problem des fehlenden Abstands Jetzt wollen Sie den kinderreichen Familien auch zur Sozialhilfe nicht. noch die Ermäßigung bei der Bundesbahn streichen, den sogenannten Der Bundeskanz- Statt dessen haben Sie uns jahrelang beschimpft, Wuermeling-Paß. ler rudert ja schon gerade zurück. Aber ich frage Sie, gleichzeitig aber die Mineralölsteuer um sage und meine Damen und Herren: Wo sind eigentlich Ihre schreibe 55 Pfennig je Liter erhöht, ohne damit die Familien- und Ihre Jugendministerinnen? Die müßten Lohn- und Einkommensteuer zu senken, wie wir es sich doch schon längst schützend vor die Familien mit vorhatten. Das ist doch keine sinnvolle Reformpolitik; Kindern gestellt haben. das ist Abkassieren zum Stopfen von Haushaltslö- chern! (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Unser Vorschlag lautet — ich wiederhole ihn —: 250 DM Kindergeld im Monat vom ersten Kind an für Jetzt haben nicht nur die Umweltverbände, sondern jedes Kind. Das ist ohne zusätzliche finanzielle Bela- auch der Bundesverband Junger Unternehmer eine stung für die Haushalte zu finanzieren, wenn der ökologische Steuerreform gefordert. Ich finde das gut. ungerechte steuerliche Kinderfreibetrag ersetzt und Und wenn Sie heute hundertmal nein sagen — die außerdem das ökologische Steuerreform wird kommen; denn sie ist Ehegattensplittung für hohe Einkom- begrenzt wird. notwendig. men Da das Ihnen so weh tut, wiederhole ich es. Sie Der häufig geringe Abstand zwischen Sozialhilfe wissen doch, daß ein Spitzenverdienerehepaar, auch und niedrigen Arbeitseinkommen ist vor allem ein wenn es keine Kinder hat, einen Splittingvorteil von Problem von Familien mit Kindern, in denen oft das bis zu 22 842 DM im Jahr hat, daß aber eine Niedrig- Arbeitseinkommen nicht ausreicht, um die Familie zu verdienerfamilie mit einem Kind 14 Jahre braucht, um ernähren. Es ist schlimm genug, daß bei uns viele über Kinderfreibetrag und Kindergeld diese Familien dadurch in Armut geraten, daß sie Kinder 22 842 DM zu erhalten, die das Spitzenverdienerehe- bekommen. Aber geradezu aberwitzig ist es doch, paar ohne Kinder Jahr für Jahr für Jahr erhält. Das deshalb dann auch noch den anderen Familien mit können wir doch wirklich nicht rechtfertigen. Ändern Kindern die Sozialhilfe zu kürzen. Daß bei uns Fami- Sie das doch mit uns! lien mit jedem Kind ärmer werden, ist doch nicht zuletzt das Ergebnis des kinderfeindlichen Familien- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Bar lastenausgleichs, den diese Bundesregierung zu ver- bara Höll [PDS/Linke Liste]) antworten hat. Auch beim Wohnungsbau sind Reformen möglich, (Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung die nicht an knappen Kassen scheitern müssen, z. B. [CDU/CSU]: Wie sieht es denn in der übrigen die steuerliche Förderung des Eigenheimbaus, bei Welt aus?) der Bezieher höherer Einkommen, die doch eigentlich auf die Förderung gar nicht angewiesen sind, weil sie Wer kann denn eigentlich verstehen, daß über den - ohnehin bauen würden, steuerlichen Kinderfreibetrag hinaus Eltern mit nied- rigen Einkommen für ihr Kind nur eine Entlastung von (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wieso wür 65 DM im Monat erhalten, Eltern mit Spitzeneinkom- den die ohnehin bauen?) men dagegen eine Entlastung von 181 DM im Monat, ungefähr doppelt so viel an Förderung erhalten als also fast dreimal soviel? Spitzenverdiener erhalten Otto Normalverbraucher, der die Förderung doch also für ihr Kind im Monat 116 DM mehr Entlastung als ganz besonders braucht. Das ist wohnungspolitisch Niedrigverdiener. Dieser Unterschied soll nach den der blanke Unsinn. Plänen von Herrn Waigel, die er hier soeben vorge- tragen hat, sogar auf mehr als 200 DM steigen. Werfen Sie endlich Ihre ideologischen Blockaden über Bord und greifen Sie unseren Vorschlag eines (Zuruf von der SPD: Unerhört!) einheitlichen Förderbetrags für alle Häuslebauer auf! 200 DM mehr im Monat als Niedrigverdiener würde Die kleinen und mittleren würden dann mehr bekom- der Spitzenverdiener für sein Kind als Entlastung men, und die großen würden weniger erhalten. Das erhalten. So treiben Sie doch die Ungerechtigkeit alles läßt sich ohne zusätzliches Geld aufkommens- wirklich auf die Spitze. neutral finanzieren. Das ist nicht nur gerechter, son- dern es würden zusätzlich Zehntausende von Woh- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Bar- nungen gebaut, die dieses Land ja wohl dringend bara Höll [PDS/Linke Liste]) braucht. Sie weisen darauf hin, daß Sie bei Höherverdienen- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner den jetzt das Kindergeld kürzen wollen. Das ist doch Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ein Ablenkungsmanöver. Denn an die eigentliche NEN]) soziale Ungerechtigkeit, nämlich die ungerechten Kinderfreibeträge, gehen Sie nicht heran, weil Sie An Umschichten und Sparen kommt keiner vorbei. hoffen, daß die Menschen die Ungerechtigkeit hinter Wenn der Finanzminister aber jetzt bei seinem Kür- dem komplizierten Steuerwirrwarr nicht erkennen. zungspaket sagt, man müsse beim größten Ausgaben Ihre Kürzungen setzen statt dessen bei den kinderrei- block ansetzen, und das sei nun einmal der Sozialetat Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14699

Ingrid Matthäus-Maier mit insgesamt 1 Billion DM, dann macht er es sich Arbeitslosen, Familien mit Kindern und Sozialhil- wirklich zu einfach. Das meiste davon ist doch durch feempfängern in die Tasche greifen müssen? eigene Beiträge finanziert. Da ist die gesamte Kran- (Beifall bei der SPD) kenversicherung drin. Und der größte Posten sind die Renten. Außerdem: Was der Finanzminister Sparen nennt, ist zum erheblichen Teil wieder nur ein Verschiebe- Wenn Sie den Eindruck erwecken, als wäre da ein bahnhof. frei verfügbares Sozialvolumen von 1 Billion DM, dann fragt man sich: Haben Sie es vielleicht doch auf (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Sehr richtig!) die Renten abgesehen? Sie leugnen das zwar jetzt. Sie sparen nicht nur zu Lasten der Schwachen, son- Aber wer so viele Steuerlügen hinter sich hat, der dern auch auf Kosten der Kommunen. Sie schieben bricht auch andere Versprechen. doch durch die Kürzungen beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe mindestens 4 Milliarden DM (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar Belastungen einfach aus dem Bundeshaushalt auf die Kansy [CDU/CSU]: Sie sind die bundesweit Städte und Gemeinden. Erst recht wird nicht gespart, anerkannte Inkarnation der Wahrheit!) wenn der Finanzminister das Schlechtwettergeld Wie wäre es, wenn Sie beim Sparen endlich ver- streicht nünftig vorgingen? Greifen Sie doch unsere Vor- (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist wahr!) schläge auf! und dann das Doppelte davon als Arbeitslosengeld an Herr Waigel, Sie haben Herrn Wieczorek schlicht arbeitslose Bauarbeiter zahlen muß. und einfach falsch zitiert. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU) CSU) Wer so handelt, bekommt die Arbeitslosigkeit nicht Herr Wiezorek hat gesagt, 20 bis 30 Milliarden DM in den Griff, setzt den sozialen Frieden aufs Spiel und könnte man auf der Ausgabenseite des Haushalts erweist dem Wirtschaftsstandort Deutschland einen nicht sparen. Das ist selbstverständlich. Deswegen Bärendienst. haben wir Ihnen ein Paket mit einer Mischung von Nach dem neuesten Standortbericht der Bundesre- Ausgabenkürzung, Abbau von Steuersubventionen gierung muß der Wirtschaftsstandort Deutschland ja und Bekämpfung der Steuerhinterziehung vorge- in einem schlimmen Zustand sein. Da muß ich doch legt. einmal fragen: Wer hat denn dieses Land seit elf Sie sagen, Sie hätten kein Geld. Aber Sie geben Jahren regiert und wirtschafts- und finanzpolitisch in doch Geld für alles mögliche aus, was nicht sein muß. diese schwere Krise geführt? Das ist doch Ihr Offen- Sie haben Geld für 55 Staatssekretäre. Sie haben Geld barungseid. in Höhe von 500 Millionen DM für Öffentlichkeitsar- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ beit und neue Hochglanzbroschüren. Sie haben Geld CSU und der F.D.P.) für die Raumfahrt: 122 Millionen DM mehr, als der Forschungsminister selbst beantragt hat. Sie haben Leider hat die Bundesregierung in ihrem Standort- Geld für Tierversuche. Sie haben Geld für den Kauf bericht wieder eine Chance vertan. Was Sie hier neuer Munition in Höhe von 1,3 Milliarden DM allein vorlegen, ist eher ein Warenhauskatalog, bei dem die im nächsten Jahr. Sie haben Geld für den Bau neuer Arbeitgeber alles bestellen können und die Arbeit- Kampfhubschrauber, obwohl die von der NVA über- nehmer alles bezahlen müssen. Können Sie uns z. B. nommenen völlig ausreichen. Sie haben Milliarden erklären, wie Sie die dort angekündigten milliarden- für Steuersubventionen, für die Absetzbarkeit von schweren Steuersenkungen zugunsten von Unterneh- Bewirtungsspesen, von Luxus-Pkw und, sage und men angesichts einer Staatsschuld von 1,8 Billionen schreibe, von Schmiergeldern. Sie haben Geld für DM finanzieren wollen, ganz abgesehen von der milliardenschwere neue Vermögensteuersubventio- sozialen Schlagseite? nen. Und Sie haben Geld in Höhe von mehreren Man wird das Gefühl nicht los, daß die Bundesre- Millionen Mark für die steuerliche Absetzbarkeit von gierung die Rezession als Vorwand benutzt, um Hausgehilfinnen für wohlhabende Familien mit zwei Umverteilung von unten nach oben zu betreiben und Kindern unter zehn Jahren, obwohl Otto Normalver- Arbeitnehmerrechte zu beschneiden. braucher nicht einmal seine mittlerweile hohen Kin- (Beifall bei der SPD) dergartenbeiträge von der Steuer absetzen kann. Wie kann man denn sonst auf die Schnapsidee kom- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner men, bei der Pflegeversicherung die Kranken durch Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Karenztage für die pflegebedürftigen alten Menschen NEN]) zahlen zu lassen? Wir Sozialdemokraten wollen eine Und dann haben Sie auch noch so viel Geld, daß Sie Pflegeversicherung. Wir werden darüber mit Ihnen den Solidaritätszuschlag für höhere Einkommen aber erst dann verhandeln, wenn Ihr unsozialer Vor- haben auslaufen lassen. Allein dadurch fehlen 30 bis schlag der Einführung von Karenztagen vom Tisch 40 Milliarden DM. Milliarden für den Jäger 90, den Sie ist. doch bestellen wollen, wollen Sie auch noch geben. (Beifall bei der SPD) Für all das haben Sie Geld. Wie können Sie es dann Weil Sie beim Stichwort Standort so gern auf Japan wagen, zu sagen, das Geld sei so knapp, daß Sie verweisen: Nachdem in Deutschland viele Manager- 14700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Ingrid Matthäus-Maier Behälter im Vorjahr zum Teil kräftig angehoben geht, legen Sie immer noch Geld drauf. Die Menschen worden sind, schreibt „Die Zeit": im Osten kommen sich da zu Recht verlassen und Kein japanisches Unternehmen würde auch nur verschaukelt vor. erwägen, die Vorstandsgehälter ( . . .) um zwei- (Beifall bei der SPD — Bundesminister stellige Prozentsätze zu erhöhen, wenn das Dr. Theodor Waigel: Eine Unverschämt Unternehmen gleichzeitig Mitarbeiter entlassen heit!) muß. Wir Sozialdemokraten haben gestern beschlossen, (Zuruf von der CDU/CSU) die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses Wie lange müssen wir eigentlich noch warten, bis „Treuhandanstalt" zu beantragen. diese Bundesregierung nicht immer nur einseitig die (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Gegen Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften zum Maßhal- alle Absprachen! Verantwortungslos bis zum ten auffordert, sondern endlich auch einmal die deut- Gehtnichtmehr!) schen Manager? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner Dieser Untersuchungsausschuß soll prüfen, ob und Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] inwieweit durch Fehler der Bundesregierung oder der — Zurufe von der CDU/CSU: Neue Heimat! Treuhandanstalt Arbeitsplätze in Ostdeutschland ver- — Lappas!) nichtet worden sind, obwohl sie hätten gerettet wer- den können. Meine Damen und Herren, was haben Wir brauchen endlich eine Bundesregierung, die Sie eigentlich dagegen? Wenn Sie so sicher sind, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, den Aufbau im nichts war, dann müßten Sie mit uns zusammen für Osten und die Zukunftssicherung des Wirtschafts- diesen Untersuchungsausschuß sein. standorts Deutschland in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt: (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Verantwortungslos Erstens. Die GATT-Verhandlungen zur Sicherung bis zum Gehtnichtmehr!) eines freien Welthandels müssen erfolgreich abge- schlossen werden. Ich warne die Bundesregierung Außerdem: Kümmern Sie sich weiter um den Wag- aber davor, den Franzosen jetzt neue Gelder zu gonbau in Ammendorf! Wie Sie das notwendige versprechen, um damit deren Zustimmung zum Finanzierungsinstrument nennen, ist mir egal. Aber GATT-Abschluß zu erkaufen. Das können wir uns bei daß wir für die nach Aussage der Treuhandanstalt aller Freundschaft mit Frankreich nicht leisten. modernste Waggonfabrik Europas Zeit kaufen müs- (Beifall bei der SPD) sen, bis sie auf eigenen Beinen stehen kann, muß doch selbstverständlich sein. Zweitens. Wir brauchen für unsere exportorientierte Wirtschaft wieder ein stabiles europäisches Wäh- (Beifall bei der SPD) rungssytem, wie es von Helmut Schmidt und Giscard Überhaupt scheint es der Bundesregierung ganz d'Estaing geschaffen worden ist. Hören Sie endlich recht zu sein, wenn die Treuhand Blitzableiter für die auf, mit Ihrer Schuldenpolitik der Störenfried in Fehler der Bundesregierung ist. Europa zu sein, und machen Sie das EWS rasch wieder funktionsfähig! - (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So ist es!) (Beifall bei der SPD) Drittens. Wir brauchen ein Zukunftsinvestitions- Nehmen Sie doch nur Bischofferode: Wenn es Herr programm für den Aufbau der Infrastruktur in Ost- Waigel als Fach- und Rechtsaufsicht der Treuhand nur deutschland, und zwar schon ab 1994, versehen mit gewollt hätte, könnte doch der Kali-Fusionsvertrag einer kommunalen Investitionspauschale, die sich in mit seiner umstrittenen Konkurrenzausschlußklausel der Vergangenheit, wie wir wissen, bewährt hat. längst dem Treuhandausschuß offengelegt worden sein. Wer das nicht tut, der sät Mißtrauen. Wir Sozial- Wir brauchen, viertens, endlich das längst überfäl- demokraten haben deshalb eine Sondersitzung des lige Entschädigungsgesetz. Die unselige Eigentums- Treuhandausschusses beantragt. Wir werden da nicht regelung ist schon das Investitionshindernis Nummer lockerlassen. eins in Ostdeutschland. Es darf nicht sein, daß durch die Unfähigkeit der Bundesregierung, sich auf eine (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar Entschädigungsregelung zu einigen, auf die falsche Kansy [CDU/CSU]: Sie reden wie die Eigentumsregelung ein zusätzliches Investitionshin- Gewerkschaft! Sie machen hier eine Kund dernis draufgepackt wird. gebung!) Fünftens. Wir brauchen endlich den klaren Sanie- Sechstens. Wir müssen in Bildung und Ausbildung rungsauftrag für die Treuhandanstalt. mehr investieren. Einer unserer wichtigsten Standort- (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] faktoren ist die Qualifikation und Motivation unserer [SPD]) Menschen. Dazu gehört, daß alle Jugendlichen in Ostdeutschland einen Ausbildungsplatz erhalten. Die im Solidarpakt vereinbarten 10,5 Milliarden DM Herr Bundeskanzler, Sie stehen da im Wort. Wir ab 1995 zum Erhalt der industriellen Kerne in Ost- werden nicht lockerlassen. Es darf nicht sein, daß die deutschland müssen wirklich bereitgestellt werden. In erste Erfahrung von Jugendlichen mit der Arbeitswelt Ihrer Finanzplanung fehlen dazu aber bisher noch die Arbeitslosigkeit ist. 3 Milliarden DM, Herr Waigel. Wenn es um Aufträge für die bayerische Rüstungs- und Raumfahrtindustrie (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14701

Ingrid Matthäus-Maier Notwendig ist auch, daß junge Menschen wieder Zehntens. Wir müssen Arbeitslosigkeit und dürfen verstärkt in Handwerksberufen eine Chance sehen. nicht die Arbeitslosen bekämpfen. Dazu brauchen wir Damit läßt sich aber nicht vereinbaren, daß diese für längere Zeit einen zweiten Arbeitsmarkt. Bundesregierung die Aufstiegsfortbildung im Hand- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) werk streicht. Kürzen Sie daher nicht ständig bei den Maßnahmen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) für Arbeitsbeschaffung, Qualifizierung und Wieder- Siebtens. Wir brauchen mehr Investitionen in eingliederung von Langzeitarbeitslosen. Zukunftstechnologien und eine grundlegende Mo- dernisierung unserer Wirtschaft. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Trost- los!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist doch ein Treppenwitz unserer Industriegesell- Wir müssen deutlich mehr für Forschung und Techno- schaft, daß Millionen Menschen arbeitslos sind und logie tun, z. B. für neue Umwelttechniken, für Ener- gleichzeitig Arbeit in Fülle unerledigt bleibt. gieeinsparung und erneuerbare Energien, für Infor- mations- und Kommunikationstechnologien und für Dabei wird oft vergessen: Sinnvolle Arbeit kostet neue Werkstoffe. kaum mehr als Arbeitslosigkeit. Nimmt man hinzu, daß vor allem Langzeitarbeitslosigkeit ein schweres (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Und wie persönliches Schicksal ist und daß Massenarbeitslo- macht ihr das?) sigkeit nicht zuletzt ein gefährlicher Nährboden für Es ist deshalb ein Fehler, daß die Bundesregierung Rechtsradikalismus, wachsende Gewaltbereitschaft den Forschungshaushalt kürzt. und Ausländerfeindlichkeit ist, dann wird klar: Das Finanzieren von Massenarbeitslosigkeit statt sinnvol- Wenn Sie schon nicht auf uns hören, dann hören Sie ler Arbeit ist doch die gefährlichste und unsinnigste wenigstens auf den Ministerpräsidenten von Baden- volkswirtschaftliche Verschwendung, die man sich Württemberg, der Ihre Politik wörtlich als forschungs- überhaupt vorstellen kann. politische Bankrotterklärung bezeichnet hat. Wo Herr Teufel recht hat, da hat er recht. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Elftens. Wir brauchen wieder Wachstumsraten in der Wirtschaft statt Wachstumsraten bei der Krimina- Achtens. Die Debatte über die Länge der Arbeits- lität. zeit muß endlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Angesichts von fünf Millionen Arbeitsuchen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den ist es doch völlig abwegig, eine allgemeine Verlängerung der Wochenarbeitszeit zu fordern. Die Wir müssen endlich die öffentliche Sicherheit in Arbeitslosigkeit würde doch nur noch steigen. Deutschland wiederherstellen, die während Ihrer Regierungszeit, Herr Bundeskanzler, verlorengegan- Was wir statt dessen brauchen, sind längere gen ist. Der Bundesinnenminister selbst hat doch erst Maschinenlaufzeiten, damit sich kapitalintensive neulich vor einer Gefährdung des Wirtschaftsstandor- Investitionen besser rentieren. Ich frage mich aller- tes Deutschland durch Kriminalität und Extremismus dings, warum die Unternehmen die kurzen Maschi- gewarnt. nenlaufzeiten beklagen, wenn sie gleichzeitig die vorhandenen tarifvertraglichen Flexibilisierungs- Wir müssen dafür sorgen, daß die organisierte möglichkeiten nicht ausreichend nutzen. Kriminalität unser Gemeinwesen nicht korrumpiert. Im Moment ist die Bundesrepublik Deutschland der (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Hans Hauptanziehungspunkt für internationales Drogen- Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist der ent- geld, weil die Bundesregierung die längst überfällige scheidende Punkt!) Umsetzung der EG-Richtlinie gegen Geldwäsche ver- Neuntens. Wir müssen es endlich fertigbringen, daß schleppt. Es muß Schluß damit sein, daß dieser Bun- Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die an einer desregierung die Geschäftsinteressen von Banken Stelle überflüssig geworden sind, nach Umschulung und Anwälten wichtiger sind als der Schutz unserer und entsprechender Qualifizierung an anderer Stelle Kinder vor der Drogenmafia. weiterbeschäftigt werden. (Beifall bei der SPD) Es fehlen Zehntausende von Menschen bei der Zwölftens. Wir müssen den sozialen Frieden in Polizei, bei der Finanzverwaltung, bei den sozialen unserem Lande bewahren. Er war stets ein entschei- Diensten und bei der Jugendarbeit. Da ist es doch dender Standortvorteil Deutschlands. Die einseitige absurd, in immer neuen Wellen öffentlich Bedienstete Belastung der kleinen Leute bei der Finanzierung der auf Kosten der Steuerzahler, vielleicht noch mit einem deutschen Einheit, die Kürzung bei der Arbeitslosen- „goldenen Handschlag", wie Sie es bei der Bundes- unterstützung, die Verarmung von Familien mit Kin- wehr gemacht haben, in den vorzeitigen Ruhestand zu dern, Ihr ständiges Fummeln an Karenztagen und schicken. beitragsbezogener Rente, das alles verhärtet das (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Was hätten soziale Klima nicht nur in der Politik, sondern bis in die Sie denn anders gemacht? — Dr. Jürgen Gesellschaft und in die Betriebe hinein. Rüttgers [CDU/CSU]: Heiße Luft!) Herr Bundeskanzler, Sie sollten doch der Bundes- — Wir können gerne darüber sprechen. Stellen Sie kanzler aller Bürger und nicht einzelner Interessen- eine Zwischenfrage! gruppen sein! 14702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Ingrid Matthäus-Maier In der Politik der Bundesregierung muß endlich gen in dieser Generalaussprache vorzutragen haben. sichtbar werden, was der Ausdruck der friedlichen Sie haben ja kaum zum Bundeshaushalt geredet. Revolution vom Herbst 1989 war: Wir sind ein Volk! (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es! Sie Bei uns wird nicht der eine gegen den anderen hat ihn gar nicht gelesen! — Ingrid Matthäus ausgespielt, sondern wir alle zusammen versuchen, Maier [SPD]: Doch!) solidarisch gemeinsam die Krise zu überwinden. Ich bin sehr gespannt, ob sich die Fachpolitiker ihrer (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Ausgerechnet Fraktionen — und Kollege Wieczorek wurde ja aus Sie müssen das sagen!) höchstem Munde hier lobend hervorgehoben — in Dann werden wir auch die Politikverdrossenheit über- dieser vorgegebenen politischen Linie überhaupt, winden. und sei es nur in Rudimenten, wiederfinden können. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nicht Das wäre doch zumindest der Ansatzpunkt für eine mit Ihnen!) konstruktive Aussprache gewesen. Gewiß kann die Politik nicht alles. Aber sie kann Dies war mit Blick auf die Rede von der mehr, als diese Bundesregierung bringt. klassische Fall einer politischen Unterforderung. Er hat Ihnen die Antwort gegeben, bevor Sie überhaupt Deswegen brauchen wir einen Neuanfang. geredet hatten. Ich denke, damit ist auch aus unserer (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall Sicht des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS (Detlev von Larcher [SPD]: Das glauben Sie 90/DIE GRÜNEN] — Zuruf von der CDU/ doch selber nicht!) CSU: Das war eine Zumutung!) wiederum die Linie politisch eindeutig begradigt. Die Zeiten haben sich geändert. Sie werden bei aller Schwierigkeit der Probleme den Bundesfinanzmini- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht ster mit dem, was Sie hier vorzubringen haben, nicht der Kollege Adolf Roth. aus der Fassung bringen und ihn erst recht nicht (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Jetzt politisch aus dem Amt treiben. Sie sind vielleicht beginnt die Aussprache über den Bundes- darüber frustriert, daß Sie nicht hier oben auf der haushalt!) Regierungsbank sitzen dürfen, aber ich bin nicht ganz sicher, ob Sie überhaupt von Ihrer eigenen Partei dazu eine Chance bekommen werden.

Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Mach Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß dir doch nicht unsere Sorgen!) nicht, wie es Ihnen geht; ich jedenfalls hatte den Die Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik in Eindruck, der Bundesfinanzminister hätte eine fun- Deutschland befindet sich derzeit in ihrer kritischsten diertere und bessere Antwort auf seine bemerkens- Phase seit langem. Eine Gemengelage von Rezession, werte Einbringungsrede verdient vereinigungsbedingtem Finanzbedarf und strukturel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. - len Belastungen und Herausforderungen des Stand- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]) orts Deutschland zwingt uns alle — und das ist eine parlamentarische Gesamtverantwortung — zur als das, was die Kollegin Matthäus-Maier hier abge- durchgreifenden Entscheidung bis November. liefert hat. (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Heiße Luft nenberg) war das alles!) Der Bundeshaushalt 1994 ist dabei der Kern eines Sie haben zwölf Punkte in einem gemischten Kata- weitreichenden, in sich schlüssigen, aufeinander log mit Ihrer bekannten Verve agitatorisch hier vor- abgestimmten Gesetzgebungspakets, das die klare gebracht. Worauf wir alle gewartet hatten — denn wir Handschrift des Bundesfinanzministers Theo Waigel haben heute früh die Zeitung gelesen —, das waren trägt, aber auch den klaren politischen Willen zeigt, die 17 Thesen der SPD für die Konjunktur, das neue gemeinsam in den Koalitionsfraktionen und den Wirtschaftskonzept der SPD, der Abschied vom Kurs beteiligten Gruppen den Weg zu einer konjunkturpo- der siebziger Jahre. Darauf sind Sie uns jede Antwort litischen Wende, zu einer Politik für mehr Auf- schuldig geblieben. Wir haben nur Wiederholungen schwung und mehr Wachstum in Deutschland einzu- gehört. schlagen. Dies ist ein Haushaltswerk der stabilitätspo- (Beifall bei der CDU/CSU — Siegfried Hor litischen Verantwortung und ein Spar- und Konsoli- nung [CDU/CSU]: Die alte Leier!) dierungsprogramm für Wachstum und Arbeits- Wir würden Ihnen ja abnehmen, Frau Kollegin plätze. Matthäus-Maier, daß Sie vieles politisch geändert Der eingeschlagene Weg ist sicher nicht bequem, wissen wollen. Sie müßten uns bloß sagen, wie Sie das aber es gibt zu ihm keine vernünftige Alternative. machen wollen, mit welcher Zielrichtung, mit wel- Deshalb unterstützen wir ihn. chem Gesamtkonzept, und mit welchem Geld das Mit seinem eng begrenzten Ausgabenanstieg auf Ganze bezahlt werden soll. 478 Milliarden DM und der ehrgeizigen Eindämmung Ich bin sehr gespannt darauf, was die Haushaltfach der strukturellen Haushaltsdefizite um über 21 Milli- politiker Ihrer Fraktion hier im Plenum an Anregun- arden DM stärkt der Bundeshaushalt 1994 den durch Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14703

Adolf Roth (Gießen) alle fundierten Prognosen gestützten realen Wachs- Die Entwicklung an den internationalen Devisen- tumsspielraum von 1 bis 2 % im nächsten Jahr. Dies ist märkten unterstreicht im übrigen das grundlegende das eigentliche Kernanliegen unserer Politik. Wir Vertrauen in die Deutsche Mark und die deutsche wollen durch Konsolidierung und über strikte Ausga- Finanzpolitik. Die Anleger trauen Deutschland einen benbegrenzung Vertrauen festigen und neue Lei- konjunkturellen Aufschwung bei sinkenden Preisstei- stung mobilisieren. Das beste Konjunkturprogramm gerungsraten zu. Dieses Vertrauen ist auch wichtig für — das sollte eigentlich auch die SPD mittlerweile eine weitere Absenkung der nationalen Zinsen, und begriffen haben — demzufolge brauchen wir die aufeinander abge- stimmte Geld- und Finanzpolitik, denn sie eröffnet der (Zuruf von der CDU/CSU: Das begreift sie Bundesbank die Zinssenkungsspielräume, die sie seit nie!) Juli auch mit Erfolg nutzt. ist politische Verläßlichkeit, ist marktwirtschaftliche Zuverlässigkeit und ist Zielklarheit in der Politik. Dem An die Haushaltspolitiker des Parlaments richten dient dieses Gesamtpaket, das heute hier zur Diskus- sich in dieser Situation naturgemäß große Erwartun- sion steht. gen. Die wichtigste ist, ob es uns gelingt, den Ausga- benanstieg von 1994 bis 1997 auf durchschnittlich 3 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge zu begrenzen, weil wir nur so unser ehrgeiziges Ziel ordneten der F.D.P.) erreichen können, das Finanzierungsdefizit des Bun- deshaushalts wieder auf die angestrebte Zielmarke Die Reduzierung von Staatsdefiziten behindert unter 40 Milliarden DM — das ist dann, gemessen am nicht wirtschaftliches Wachstum, sondern im Gegen- Bruttoinlandsprodukt, 1 % — herunterzudrücken. teil: Diese Reduzierung von Defiziten fördert den wirtschaftlichen Aufschwung. Meine Damen und Herren, es ist der politische Wille (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) von CDU/CSU und F.D.P., diese Politik zum Erfolg zu bringen, und deshalb unterstützen wir das Spar - und Wir haben dies auch in den 80er Jahren nachhaltig Wachstumsprogramm. Wir werden es über die parla- empirisch unter Beweis gestellt. mentarischen Hürden bringen. Qualitative Verbesse- rungen im Einzelfall sind möglich. Sie unterliegen der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung. Es Die Konsolidierungspolitik verstärkt nicht die darf aber nicht zu irgendeiner quantitativen Ein- Nachfrageschwäche der Wirtschaft, sondern sie führt schränkung dieses Pakets kommen. ganz im Gegenteil zu positiven Vertrauenseffekten. Die Deutsche Bundesbank argumentiert wiederholt in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und diesem Jahr genau in diese Richtung, und ich denke, der F.D.P.) sie liegt mit dieser Einschätzung in der Sache auch richtig. Nachfrageschwäche ist vor allem eine Folge Wir werden darüber hinaus im Haushaltsverfahren von Unsicherheit. Der Aufschwung beginnt im Kopf sämtliche Ansätze überprüfen und jeden sich bieten- der wirtschaftlichen Akteure, und er hat sehr viel mit den Spielraum für zusätzliche Einsparungen bei den stabilen wirtschaftlichen Erwartungen zu tun. Diese Ressorts selbstverständlich nutzen, wie dies unser Erwartungen zu stärken ist Ziel einer soliden Haus-- Auftrag als Parlament ist. Das mag im Einzelfall weh haltspolitik. tun; wir wissen das. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes erwarten aber mit Recht, daß in Zeiten (Detlev von Larcher [SPD]: So, wie Sie sie der um sich greifenden Finanzknappheit der Staats- machen?) verbrauch im engeren Sinne besonders scharf unter die Lupe genommen wird. — Ja, genau in diese Richtung. Ich bedanke mich für die freundliche Bestätigung. Daß dies kein leeres Wort ist, beweist schon der (Detlev von Larcher [SPD]: Deswegen ist die Regierungsentwurf; denn das Kapitel Verwaltungs- Situation so schlecht!) ausgaben weist für 1994 keinerlei Steigerungsraten auf. Ganz im Gegenteil: Sein Anteil am Gesamthaus- Die jüngst ausgesprochene Mahnung der Deut- halt sinkt sogar deutlich auf 5,9 %. Dies ist vor allem schen Bundesbank, nun auch in den Beratungswo- die logische Konsequenz einer strikten Politik chen im Deutschen Bundestag den Einsparschwer- begrenzter Personalausgabensteigerungen. Hierzu punkt auf der Ausgabenseite des Bundeshaushalts gehört die angekündigte Besoldungs - Nullrunde für nicht aufzuweichen, muß ernstgenommen werden. Es den öffentlichen Dienst und natürlich auch die wie- hat ja im Frühjahr einige Kritik daran gegeben, daß derum 1 %ige Absenkung des Personalbestandes des wir 10 Milliarden DM eingespart haben, aber mit Blick Bundes, so wie wir uns im Solidarpakt gegenüber den auf 1995 und die Neuordnung des bundesstaatlichen anderen Gebietskörperschaften politisch festgelegt Finanzausgleichs auch gezwungen waren, Einnah- haben. Wir werden in den drei Jahren 1994, 1995 und meverbesserungen in Form von Steuererhöhungen zu 1996 über 11 000 Stellen im Bundeshaushalt einspa- beschließen. Dies war kein Konjunkturimpuls im ren. Wir fordern die Länder und die Gemeinden dazu klassischen Sinne. Um so wichtiger ist es, daß jetzt auf, eine gleichwertige Einsparung durch angemes- durch dieses Spar- und Konsolidierungs- und Wachs- sene personalwirtschaftliche Maßnahmen herbeizu- tumsprogramm eine wichtige und notwendige Ergän- führen, wie das vom Bund vorexerziert wird. zung erfolgt. Es gibt keinen anderen Weg. Höhere Steuern und eine noch stärkere Verschuldung würden (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, nicht nur uns in die Sackgasse führen. herumzujammern!) 14704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Adolf Roth (Gießen) Dazu haben sich Länder und Gemeinden auch ver- Ziel dieser Maßnahmen ist es, in Zeiten einer pflichtet. ungünstigen Entwicklung des Arbeitsmarktes die Arbeitsförderung funktionsfähig zu erhalten, sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf die besonderen arbeitsmarktpolitischen Be- Diese Zusage muß natürlich in Besonderheit auch in dürfnisse auszurichten und den Grundsätzen der den neuen Bundesländern eingehalten werden. Denn Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit besondere es kann nicht hingenommen werden, daß die Perso- Rechnung zu tragen. naldichte der neuen Bundesländer im Vergleich zu Und an anderer Stelle: den westlichen Bundesländern heute weit überpro- portional ist. Wir müssen dort zu einer deutlichen Bei dieser Operation sind Eingriffe in Leistungs- Reduzierung kommen. Andernfalls können die gesetze unvermeidbar. Anpassungsgeschwindigkeiten in der Einkommens- Das war 1982, Helmut Schmidt und Hans Matthö- und Besoldungspolitik in den neuen Bundesländern fer. und ihren Gemeinden so nicht eingehalten werden. Ich fordere Sie ernstlich auf, Ihre Argumentationsli- Meine Damen und Herren, die Rotstiftpolitik des nie wirklich im Sinne politischer Glaubwürdigkeit zu Bundes bringt 1993 über globale Sperren und Kürzun- überprüfen gen neben den anderen beschlossenen Sparmaßnah- men eine Zusatzeinsparung von 1,8 Milliarden DM. (Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen sie Wir wollen in den Ausschußberatungen die Möglich- doch gar nicht!) keiten ausschöpfen, auch für 1994 ein entsprechendes und sich mit Sachverstand in die Diskussion, in die Sparresultat zu erzielen, und zwar durch gezielte Ausschußberatungen der nächsten Wochen einzu- Einzelkürzungen, weil diese allemal sinnvoller sind schalten. als globale Sparmaßnahmen über Haushaltssperren. Sämtliche Ausgabepositionen müssen demgemäß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) scharf unter die Lupe genommen und überprüft wer- Was damals möglich war, geschah lange vor der den. Wiedervereinigung. Wir müssen über den Bundes- Unsere Konsolidierungsmaßnahmen dienen dem haushalt im nächsten Jahr 119 Milliarden DM für die Ziel, den Staatsaufwand soweit abzuspecken, daß sich Finanzierung in den neuen Bundesländern aufwen- die rezessionsbedingten überhöhten Staatsdefizite den. Wir stehen als Koalition zu den Sparbeschlüssen, nicht in der Phase der gesamtwirtschaftlichen Wieder- so schmerzlich sie sind, weil eine nachhaltige Haus- belebung verfestigen können. haltsentlastung ohne Ausgabekürzungen im wachs- tumsdynamischsten Bereich — das sind nun einmal Wir wissen, daß vor allem die Sozialeinsparungen die sozialen Transferleistungen — in der Sache nicht beim Bund und bei der Bundesanstalt für Arbeit in möglich ist. Höhe von immerhin 16 Milliarden DM — verglichen mit dem heute noch geltenden Recht — am schwie- Trotz dieser Eingriffe behalten die Sozialausgaben rigsten durchzusetzen sind. Sie stehen im Zentrum der im Bundeshaushalt 1994 ihre traditionelle Spitzenpo- innenpolitischen Diskussion. Ich habe mich über Ihre sition, wo sie mit einem Anstieg auf 168 Milliarden DM oberflächliche Betrachtungsweise gewundert, Frau — immerhin eine Gesamtquote von rund 35 % — die Kollegin Matthäus-Maier; - absolute Spitzenstellung einnehmen. Bezogen auf das Jahr 1982 hat sich das deutsche (Zuruf von der CDU/CSU: Die ist immer Sozialbudget auf mittlerweile über 1 000 Milliarden so!) DM mehr als verdoppelt. Dies ist eine Spitzenstellung Sie telefonieren jetzt auch wieder. Denn, meine in der gesamten Welt, 1,5 % davon beträgt nun das Damen und Herren von der Opposition, das war 1982 Gesamtausmaß der leistungsgesetzlichen Einschrän- beim 13-Milliarden-Sparpaket der SPD-Regierung kungen. Ich sage das nicht zum Schönreden und von Helmut Schmidt, den Sie so hervorgehoben Schönrechnen, sondern einfach, um die Proportionen haben, richtigzustellen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Den hätten Ich möchte an dieser Stelle einmal Gerhard Henne Sie auch gern!) mann von der „Süddeutschen Zeitung" zitieren, der überhaupt nicht anders. 13 Milliarden DM Einspa- am 12. August dieses Jahres treffend kommentiert rung, davon 7 Milliarden DM allein bei der Bundes- hat: anstalt für Arbeit, Absenkung des Unterhalts- und Wer ... behauptet, daß mit den im internationa- Übergangsgeldes bei der beruflichen Bildung, Ein- len Vergleich relativ geringfügigen Abstrichen schränkung der ABM-Förderung, Kürzung des Kin- an verschiedenen Lohnersatzleistungen bereits dergeldes ohne Berücksichtigung von Einkommens- für große Gruppen der Gesellschaft der Weg in grenzen, Erhöhung der Arbeitslosenversicherungs- ein menschenunwürdiges Dasein eingeschlagen beiträge. Ich könnte die Liste fortsetzen. 35 Einzel- werde, der ist ein Sozialromantiker und legt maßnahmen für insgesamt 13 Milliarden DM Ausga- keinen Wert darauf, auch als Finanzpolitiker bensenkungen und 3 Milliarden DM Einnahmever- ernst genommen zu werden. besserungen! Ich frage mich bei Ihren Reden ernst- Dem habe ich nichts hinzuzufügen. haft, ob Ihnen das alles eigentlich noch bewußt und in Erinnerung ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Im Finanzbericht 1982 von Finanzminister Hans Ich möchte die sozialdemokratischen Kollegen Frau Matthöfer hieß es damals lapidar zur Begründung: Matthäus-Maier und Joachim Poß bei ihrer aktuellen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14705

Adolf Roth (Gießen) Oppositionspolemik eigentlich darum bitten, dies ein- auch einmal für etwas mehr Vernunft in der deutschen mal mit in Betracht zu ziehen, denn vor genau drei Finanzpolitik loben. Monaten, am 8. Juni, haben sie in einer Presseerklä- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das rung noch verlangt: versteht keiner!) Wer die konjunkturpolitische Handlungsfähig- Weil der Minister aus der „Frankfurter Rundschau" keit des Staates wiederherstellen will, muß jetzt zitiert hat, sollte ich Ihnen nicht vorenthalten, wie die mit der Konsolidierung beginnen. Überschrift dieses schönen Artikels gewesen ist: (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sage ich „Wenn Lafontaine mit dem Hut die Sparideen der SPD doch!) einsammelt" . Im Text heißt es dann sehr knapp: „Die Ausbeute war leider mager. " Um so mehr warten wir Es ist klar, daß es bei der Haushaltssanierung nun gespannt auf das Feuerwerk von Ideen, das keine Tabus geben darf. morgen der neue Parteivorsitzende der SPD, der sich ja eine angemessene Redezeit hat reservieren lassen, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ist doch vor dem Hohen Haus ausbreitet. Ich hoffe, es werden gut!) nicht nur schön verglühende Raketen sein, sondern Wenn Sie solche wohlklingenden Botschaften und ernsthafte, tragfähige Ideen, mit denen wir etwas Ankündigungen bringen, dann hätte ich erwartet, daß anfangen können. Sie heute auch einen strikten Katalog Ihrer eigenen (Detlev von Larcher [SPD]: Es liegen Ihnen Vorstellungen dem Hohen Haus vorgelegt hätten. doch schriftlich Vorschläge vor!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Meine Damen und Herren, auch beim Stichwort ordneten der F.D.P. — Joachim Hörster Subventionsabbau argumentiert die Opposition an [CDU/CSU]: Sie hat gerade telefoniert! — den Tatsachen vorbei. Die Entwicklung der Finanzhil- Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Den habe ich fen des Bundes wird durch den deutlichen Subven- doch vorgelegt!) tionsabbau — im Westen immerhin 11 % in diesem Bei dem propagandistischen Tremolo Ihrer Agitation Jahr — und durch zusätzliche Ausgaben, allerdings haben Sie heute zum allererstenmal seit zehn Jahren für die neuen Bundesländer, geprägt. 1994 geht die den Jäger 90 weggelassen. Hälfte der Finanzhilfen in die neuen Länder, während es bisher nur 38 % — oder immerhin 38 % gewesen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein, der war sind. drin!) Ohne den zusätzlichen Bundesanteil von 2,35 Mil- — Der war drin? Ich habe nur die Hubschrauber und liarden DM für die Wohnungsbaualtschulden wären die Munitionsbeschaffung aufgenommen. 1994 die öffentlichen Finanzhilfen des Bundes um 1 Milliarde DM zurückgegangen. Diesen Sonderfak- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie beleidi- tor muß man sehen und sollte ihn nicht verschwei- gen mich!) gen. Ich sage Ihnen: Mit dieser Argumentationslinie über- Mittelfristig sieht der Finanzplan bis 1997 einen zeugen Sie nicht einmal mehr Ihre eigenen Kollegen deutlichen Abbau der Finanzhilfen vor. Wir wollen im und Fachpolitiker in der Fraktion. Westen die Subventionen auf 8,4 Milliarden DM (Zuruf von der SPD: Doch, doch!) abbauen. Wenn die notwendige Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft abgeschlossen sein wird, Denn der Verteidigungshaushalt wird 1994 deutlich müssen auch dort die hohen Übergangssubventionen auf 48,6 Milliarden DM nach 52,2 Milliarden im Jahr zurückgeführt werden. 1992 abgesenkt. Subventionsabbau bleibt gerade für diese Koalition (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: 1,6 Milliar- eine politische Daueraufgabe. Sie ist nicht vorrangig den!) am Ziel der kurzfristigen Haushaltsentlastung orien- tiert, sondern hat ordnungspolitisch qualitativ eine Sie wissen, daß er in Ihrer Regierungszeit knapp 20 % ganz andere Dimension. des Haushalts ausgemacht hat. Im nächsten Jahr werden es genau 10 % des Bundeshaushalts sein. Das Das gleiche gilt natürlich auch für die Steuerver- ist schon ein sichtbarer Unterschied. günstigungen des Bundes. Wir haben immer gesagt: Lieber niedrige Steuertarife ohne viele Ausnahmetat- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- bestände als überhöhte Steuertarife mit vielen ordneten der F.D.P. — Ingrid Matthäus- Schlupflöchern! 38 Milliarden DM sind seit 1990 Maier [SPD]: Da war der Kalte Krieg!) bereits im steuerlichen Subventionsabbau eingespart Im übrigen ist der Haushaltsobmann der SPD ange- worden. Durch Eindämmung von Mißbräuchen, messen gewürdigt worden. Wir loben uns untereinan- durch die Einführung von Einkommensgrenzen für der immer, wenn sich irgendeine Möglichkeit dazu bestimmte Sozialtransfers — ich nenne das Kinder- bietet, und das kommt auch vor. geld und das Erziehungsgeld — werden wir auf diesem politischen Weg auch konsequent fortfah- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Es lobt Sie ja ren. sonst niemand!) Das Konsolidierungspaket beschränkt sich nicht auf Da gibt es für uns auch keine Schranke zur Opposition. die Haushaltssicherung. Daneben ist beschlossen, Ich wünschte, wir könnten Sie bei Ihren Vorschlägen eine ganze Reihe von Maßnahmen dem Ziel eines 14706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Adolf Roth (Gießen) verstärkten Wachstums und einer Beschäftigungsför- eingerechnet wird. Dahinter — das muß man offen derung zuzuordnen. ansprechen — verbergen sich keinerlei operative Möglichkeiten für neue politische Maßnahmen. Wir (Detlev von Larcher [SPD]: Ich denke, das soll müssen mit Minizuwachsraten zurechtkommen, ins- erst beschlossen werden!) besondere weil wir im nächsten Jahr die 11 Milliarden Neben dem Standortsicherungsgesetz und dem DM höhere Zuweisung an den Fonds Deutsche Ein- neuen Arbeitszeitgesetz mit seinen neuen Flexibili- heit und den gestiegenen Zinsaufwand verkraften sierungsmöglichkeiten möchte ich hier nur beispiel- müssen. haft erwähnen, daß der Bund seine produktiven Investitionen in wichtigen Bereichen im kommenden Meine Damen und Herren, trotz dieser ehrgeizigen Jahr verstärken wird. Auch hier geht der Löwenanteil Sparpolitik bleibt die Nettokreditaufnahme des Bun- von etwa 50 % in die neuen Bundesländer. Darüber des im kommenden Jahr auf der für uns nach wie vor hinaus werden die Investitionsausgaben des Bundes zu hohen Marke von rund 67,5 Milliarden DM stehen. 1994 auch bewußt auf die erste Jahreshälfte vorgezo- Das heißt, wir werden in etwa auf dem Niveau des gen. Wir werden die Planungsverfahren beschleuni- laufenden Jahres verharren. Niemand kann schon gen, und wir werden den Weg freimachen für eine heute verbindlich voraussagen, ob nicht weitere kon- Erleichterung der Aufbauinvestitionen in Deutsch- junkturelle Risiken dieses Bild im Ergebnis noch land. beeinflussen werden. Allerdings werden konjunktur- bedingte Mehreinnahmen nicht für zusätzliche Aus- Wir fordern, daß aber auch die Gebietskörperschaf- gaben angesetzt, sondern sie dienen der Reduzierung ten diesem Beispiel des Bundes Rechnung tragen und der Bundeskreditaufnahme. in ihren Verantwortungsbereichen Gleiches tun. (Detlev von Larcher [SPD]: Na, das werden (Detlev von Larcher [SPD]: Ich hoffe, besser wir dann sehen!) als die Bundesregierung!) Soweit die Kredite über die Linie der Investitions- Meine Damen und Herren, ohne zu handeln hätten ausgaben hinausgreifen — dies ist ein Betrag von zur wir beim Bund bald Defizite im dreistelligen Milliar- Zeit 2,7 Milliarden DM —, bedeutet dies aber keine denbereich. Nach den bereits beschlossenen Steuer- Verletzung des Art. 115 des Grundgesetzes. Eine erhöhungen von immerhin, auf 1995 gerechnet, Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts 65 Milliarden DM seit 1990 und den absehbaren läßt sich nicht bestreiten. Die erhöhte Nettokreditauf- zusätzlichen Abgabebelastungen von etwa 50 Milliar- nahme ist in dieser schwierigen wirtschaftlichen den DM wird alles zusammen 1995 zu einer drama- Situation nicht nur ökonomisch, sondern auch verfas- tisch hohen staatlichen Abgabequote von 44,5 % sungsrechtlich in Ordnung und zu rechtfertigen. führen. Neben diesen Maßnahmen muß deshalb der ein- (Detlev von Larcher [SPD]: Aber zu der deutige Schwerpunkt unserer Politik jetzt und in den Störung gehört auch die Arbeitslosigkeit!) kommenden Haushaltsjahren eindeutig bei den Aus- Unbeschadet dessen ist es unsere erklärte Absicht, gabekürzungen liegen. Sie machen im vorliegenden durch strikte Ausgabenkontrolle die Nettokreditauf- Haushaltsentwurf einschließlich des Spar- und nahme des Bundes so niedrig wie möglich zu halten, Wachstumspaketes vom 13. Juli 1993 bereits 90 % aus. auch im kommenden Jahr. Das von der Koalition und Sie entlasten damit die öffentlichen Haushalte in den vom Bundeskabinett beschlossene Ausgabenmorato- Jahren bis 1996 um rund 100 Milliarden DM. rium behält weiter seine unbefristete Gültigkeit. Eine Dieser Sparkurs manifestiert sich auch in der Ent- Ausweitung der Nettokreditaufnahme durch parla- wicklung der Einzelpläne der Ministerien. Die mei- mentarische Ausgabenbeschlüsse darf es demzufolge sten von Ihnen — der Finanzminister hat darauf 1994 nicht geben. hingewiesen — haben im kommenden Jahr real eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und negative Steigerungsrate. Andere wichtige Einzel- der F.D.P.) pläne schrumpfen sogar nominal. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß wir Wo es dennoch bestimmte Steigerungsraten gibt, bei einer beharrlichen Umsetzung unserer politischen die ins Gewicht fallen, stecken dahinter ausschließlich Beschlüsse die richtigen Signale setzen. Seit dem Sonderfaktoren. Ich nenne die Bahnreform mit Kabinettsbeschluß im Juli hat die Bundesbank die 8,5 Milliarden DM, die den Plafonds des Verkehrs- Leitzinsen gesenkt. Von Schwäche der D-Mark redet haushaltes ausweitet. Ich nenne die Altschuldenhilfe niemand mehr. Ganz im Gegenteil: Die Deutsche für den Wohnungsbau Ost, die sich im Etat des Mark gehört jetzt wieder zu den stärksten Währungen Wohnungsbauministers niederschlägt. weltweit. Größter Einzelplan bleibt mit 122 Milliarden DM Mittlerweile gibt es sogar erste Anzeichen dafür, und einer neuerlichen Steigerung von fast 2 % aber daß die Konjunktur nicht mehr weiter zurückgeht. der Haushalt des Arbeits - und Sozialministers. Ich Das Geschäftsklima bessert sich. Der Auftragsein- denke, damit werden wir gerade in dieser schwierigen gang und die Produktion beginnen sich in vielen Situation unserer sozialpolitischen Verantwortung Bereichen zu stabilisieren. Wir haben durchaus die gerecht, insbesondere auch im Zusammenhang mit Chance, wieder an die Beschäftigungs- und Wachs- den hohen gesetzlichen Rentenzuschüssen, die aus tumsdynamik der 80er Jahre heranzukommen, wenn dem Bundeshaushalt erbracht werden müssen. wir uns politisch durch Selbstbeschränkung und Dis- Der Aufwuchs des Gesamthaushaltes ist knapp ziplin aus dieser Talsohle schrittweise herausarbei- genug: 2,6 % netto, 4,4 %, wenn die Bahnreform mit ten. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14707

Adolf Roth (Gießen) Dann allerdings — hier unterstütze ich nachdrück- che Gefühl, daß der Schuldengipfel nicht erreicht und lich das, was der Bundesfinanzminister gesagt hat — überschritten ist, sondern immer höher wird. werden die Absenkungen der staatlichen Neuver- schuldung, der Staatsquote am Bruttoinlandsprodukt (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Es ist so!) und der Abgabenquote wieder mit gleicher Dringlich- keit auf der politischen Tagesordnung stehen wie in Was aber die wachsenden Schulden für künftige den Jahren zwischen 1983 und 1989. Das vor der Jahre an Einschränkung öffentlicher Handlungsfähig- Wiedervereinigung erreichte Niveau von 45 % der keit bedeuten, kann man sich leicht vorstellen. Die Staatsquote am Bruttosozialprodukt wird dabei neuer- Handlungsspielräume werden bei vielen feststehen- lich unsere politische Richtschnur sein. den Kosten, bei vielen wachsenden Kosten und stän- dig wachsenden Zinslasten, die wir berücksichtigen Mit diesem Konzept der finanzpolitischen Solidität müssen, von Jahr zu Jahr geringer. und monetären Stabilität werden wir das vereinigte Deutschland voranbringen Ein Haushalt des Umbruchs liegt ganz sicherlich (Detlev von Larcher [SPD]: Das höre ich seit vor, weil sich Koalition und Kabinett zu einem in drei Jahren!) dieser Form nie dagewesenen Sparkonzept durchge- und allen Bürgerinnen und Bürgern in unserer Gesell- rungen haben. Das Programm zur Stärkung des schaft Chancen für einen erfolgreichen Zukunftsent- Wachstums, zur Sicherung des Standorts Deutsch- das wurf liefern. land und zur Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Koalitionsfraktionen am 30. Juni im Vorfeld der (Detelv von Larcher [SPD]: Seit drei Jahren Entscheidungen des Kabinetts über den Haushalt höre ich das!) beschlossen haben, war bittere Notwendigkeit. Wir als Koalition von CDU/CSU und F.D.P. wissen um unsere gemeinsame politische Erfolgshaftung. Die einfache Fortentwicklung früherer Planung Der Bundeshaushalt 1994 und alle dazugehörigen unter Berücksichtigung der Steuerausfälle und der Begleitgesetze sind für diese Koalition ein wichtiger zusätzlichen vom Bund zu leistenden Ausgaben hätte politischer Prüfstein. Ich denke, wir können es pak- die Nettoneuverschuldung auf über 100 Milliarden ken. DM für das kommende Jahr anwachsen lassen, wenn wir nicht die bekannte spürbare Kürzung im konsum- Herzlichen Dank. tiven Ausgabenbereich beschlossen hätten. Bei allem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Erschrecken über die jetzt erforderlichen Zahlen der Neuverschuldung für die kommenden Jahre: In einem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile solchen Fall wäre Entsetzen angebracht gewesen. nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng das Deswegen sind auch die Stimmen aus dem politischen Wort. Raum wie von sogenannten Sachverständigen sehr leise geworden, die eine höhere Verschuldung von uns gefordert haben. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Prä- sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der (Zustimmung der Abg. [F.D.P.]) Bundeshaushalt für das Jahr 1994 ist ein Haushalt des Umbruchs. Er stellt in vieler Hinsicht einen Neube- International betrachtet hat die Aktion sofort wieder ginn dar, aber er läßt auch Fragen offen. Deshalb ist es einen Bonus gebracht: Die Deutsche Mark hat sich naheliegend, daß man als Parlamentarier an den stabilisiert; die Stabilität erscheint gesichert. Regierungsentwurf mit gemischten Gefühlen heran- geht. Die Frage, ob die Politik die Dinge im Griff hat, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Frage, ob sie sie wieder in den Griff bekommt, stellt sich mit großem Ernst. Natürlich sind diese Kürzungsbeschlüsse erwar- tungsgemäß heftig kritisiert worden. Das alte Schema Im Haushalt, im sogenannten Hauptbuch der — öffentliche Sparsamkeit wird angemahnt, aber Nation, treffen jetzt negative Effekte von verschiede- wenn sie stattfindet, wird sie kritisiert — ist auch hier nen Seiten aufeinander. „Spare in der Zeit, so hast du wieder zum Tragen gekommen. Die K ritiker — wir in der Not." Leider hilft uns im Moment dieser gute Rat haben es auch heute hier wieder gehört — verfahren nichts; denn jetzt ist die Not groß. nach dem einfachen Motto: Die Öffentlichkeit hat (Gudrun Weyel [SPD]: Sie haben vorher nicht keinen Gesamtüberblick. Deswegen läßt heftige gespart! Das ist es!) Schelte an Einzelmaßnahmen den eigenen Weizen Wir haben in der Zeit zwar gespart, aber es zeigt sich, blühen. Sachliche Auseinandersetzungen, vor allem wir haben nicht genügend gespart. konkrete und wirklich machbare eigene Vorschläge, spart man sich. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zur Abwehr eines wirtschaftlichen Ungleichge- Detlev von Larcher [SPD]: Das stimmt nicht, wichts darf der Bund seine Verschuldung ausnahms- Herr Weng! — Gegenruf von der CDU/CSU: weise über die im Art. 115 des Grundgesetzes vorge- Doch!) gebene Grenze anheben. Hiervon macht die Bundes- regierung in ihrem Entwurf Gebrauch. Aber dies muß — Wir haben ein Musterbeispiel solchen Verhaltens wirklich die Ausnahme bleiben; denn manchmal vorhin eine dreiviertel Stunde lang genießen dürfen. beschleicht einen entgegen aller Finanzplanung bei Daß Frau Matthäus-Maier sogar noch die ihres Erach- wieder steigender Nettoverschuldung das unheimli- tens zu hohen Gehälter der deutschen Manager uns 14708 Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) angelastet hat, zeigt das Debattenniveau der Opposi- Sachverständigen zu verlassen. Das haben wir in der tion. Vergangenheit getan. Auf diesen Prognosen fußen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dummes unsere eigenen Voraussagen. Zeug! Sie haben nicht zugehört!) Zum zweiten glaube ich nicht, daß irgend jemand in Seien Sie sicher, Frau Matthäus-Maier: Dieses jäm- der Lage ist, die internationale Wirtschaftsentwick- merliche Rollenspiel täuscht die Öffentlichkeit lung sicher vorauszusagen. Diese hat natürlich für nicht. eine große Exportnation, für eine Nation, die in ihrer Wirtschaft ganz wesentlich auf funktionierenden (Zuruf von der CDU/CSU: Sie meinte Stein- Export angewiesen ist, entscheidende Auswirkun- kühler! — Detlev von Larcher [SPD]: Aber gen. das ist sehr sachlich, was Sie jetzt machen!) Die schwache internationale Wirtschaftsentwick- lung ist nicht neu. Sie ist in der Bundesrepublik — Ja, das ist angemessen, Herr Kollege. einigungsbedingt zwei Jahre später angekommen, weil im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr und der Wiedervereinigung, vor allem durch den Dr. Weng, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage in Umtausch der Ostmark in Westmark, nationale Son- diesem Zusammenhang zu beantworten? derfaktoren zum Tragen kamen. Davon haben wir alle damals profitiert. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Ja, bitte,

Frau Matthäus-Maier. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Dr. Weng, Herr Abgeordneter Dr. Ullmann

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Bitte möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie schön, Frau Matthäus-Maier. zu beantworten?

Ingrid Matthäus - Maier (SPD): Darf ich Sie darauf Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Ja, bitte hinweisen, daß ich die Erhöhung der Managergehäl- sehr, Herr Präsident. ter nicht der Bundesregierung angelastet habe, son- dern daß ich sie gefragt habe, warum von seiten der Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesregierung, nachdem „Die Zeit" und übrigens NEN): Herr Kollege, stimmen Sie mir darin zu, daß auch Herr Stihl diese Anhebung der Managergehälter doch aber absolut vorhersehbar war, was in der kritisiert haben, immer nur von Arbeitnehmern und ehemaligen DDR nach der Währungsunion am 1. Juli ihren Gewerkschaften Maßhalten gefordert wird, 1990 passieren würde, nämlich das, was wir jetzt aber z. B. nie Manager zum Maßhalten aufgefordert erleben? werden. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Nein, Herr Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Kollege Ullmann, da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Matthäus-Maier, ich habe Ihnen wirklich gut zuge- Wenn das vorhersehbar gewesen wäre, hätten wir in hört. Sie haben das nach meiner Erinnerung anders einer Reihe von Dingen sicher politisch anders gehan- - gesagt, als Sie es jetzt hier darstellen. delt, als wir es getan haben. Hinterher zu sagen, es sei (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein, nein! vorauszusehen gewesen, ist relativ einfach. Sie finden Wörtlich so!) in der Politik wie in den Medien natürlich immer welche, die es vorausgesagt haben. Das ist aber genau — Das wird sich durch einfaches Nachlesen im Proto- der Typ Kassandra: Wer Schlechtes voraussagt, hat koll klären lassen. irgendwann einfach recht. Im Grundsatz konnte eine Wenn Sie hier Ihre Reden halten, fällt mir — wie solche Voraussage, wie Sie sie hier anmahnen, damals vielen anderen auch — immer Kassandra ein. Kassan- nicht gemacht werden. dra war schlimm. Sie hat die Zukunft schlimmer (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne vorausgesagt und schwärzer gesehen, als sie wurde. ten der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Dr. Uwe Sie sind schlimmer. Sie stellen die Gegenwart schwär- Jens Heuer [PDS/Linke Liste]) zer dar, als sie ist. Die Schulden des Bundes steigen im vorgelegten (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie haben die Etat 1994 bedrohlich. Deswegen können auch aus- Unwahrheit gesagt!) bleibende Steuereinnahmen nicht beliebig durch — Ich habe hier keine Unwahrheit gesagt, sondern Sie höhere Verschuldung ausgeglichen werden. haben in Ihrer Zwischenfrage Dinge abgeändert, die Es stellen sich aus heutiger Sicht zwei Fragen. Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Erstens. Springt die Wirtschaft tatsächlich in der (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein!) zweiten Jahreshälfte spürbar an, ist die Talsohle — Dieses Spiel kennen wir von Ihnen, auch Ihr überwunden? Ich hoffe sehr, daß sich das angekün- Geschick in bestimmten Dingen. Trotzdem bleibt, daß digte Licht am Ende des Tunnels nicht als Glühwürm- Sie hier solche Eindrücke erweckt haben. chen mitten im Tunnel entpuppt. Die Haushaltspro- Die Entwicklungserwartungen im Bundeshaushalt bleme würden dann eklatant größer. waren nach der Wiedervereinigung sicherlich zu Zweitens. Es bleibt die Frage, ob es uns gelingt, den positiv. Wir haben die wirtschaftliche Entwicklung Standort Bundesrepublik so auszugestalten, daß falsch eingeschätzt. Aber wir können ja wirklich möglichst schnell und auf längere Sicht wieder nichts anderes tun, als uns auf die Prognosen der Wachstum in Zukunftsbranchen stattfindet, daß neue Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14709

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Arbeitsplätze in moderner industrieller Fertigung ent- sind, z. B. die Frage der Zuwanderung. Jeder weiß, stehen können und daß damit auch die Basis für den daß Lebensarbeitszeit und Bevölkerungsentwick- weiteren Ausbau im Dienstleistungsbereich geschaf- lung, daß vor allem aber die Zahl der Arbeitsplätze fen wird. Im anderen Fall wird das Wohlstandsniveau und natürlich die Beitragshöhe in direktem Bezug unserer Bürger nicht zu halten sein. Dieser Herausfor- zum zukünftigen Rentenniveau stehen. Dies bedarf derung müssen wir uns stellen. keiner Erläuterung. Jeder weiß auch — und hierfür stehen erklärtermaßen alle politischen Parteien in der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bundesrepublik —, daß die Menschen in Zukunft Es ist gut, daß in dieser Situation die Bundesregie- sicher sein können, eine gerechte Altersversorgung rung auf Vorlage des Bundeswirtschaftsministers ein zu erhalten. Frau Matthäus-Maier, was Sie heute Papier zur Zukunftssicherung des Standortes erneut versucht haben, ist schäbig, nämlich Zweifel Deutschland vorgelegt hat. Es ist schade, daß im und Angst hieran zu säen. Kabinett einige der genannten und notwendigen Maßnahmen verbessert und ein wenig auf der Zeit- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) achse hinausgeschoben worden sind. Ich nenne nur Bei dem Stichwort Standortsicherung aus Haushäl- als Beispiel das immer wieder beliebte Thema des tersicht stellen sich für die Zukunft Fragen, die die Subventionsabbaus. Für die Zukunft ist hier eine Politik in den kommenden Jahren wird beantworten ganze Menge versprochen. Im Augenblick gibt es müssen. Dabei geht es auch um das Bild Deutsch- offene Wünsche. lands, um das deutsche Ansehen in der Welt. Die Im Bereich Subventionsabbau gibt es auch interes- Bundeshauptstadt Berlin hat sich um die Ausrichtung sante Einzelheiten. Unser Kollege Carl-Ludwig Thiele der olympischen Spiele im Jahre 2000 beworben. Wir hat entdeckt, daß entgegen dem erklärten politischen hoffen, daß dieses internationale Fest der Jugend Willen des Bundestages ein Teil der sogenannten tatsächlich in Berlin stattfinden kann. Das wird aber Zonenrandförderung immer noch weiterläuft. Im Jahr bedeuten, daß der Bund helfen muß. Und das wird 1991 ist seinerzeit beschlossen worden, die Zonen- dann heißen: Einsparungen in Bereichen, in denen sie randförderung auslaufen zu lassen. Eine geschickte bisher nicht vorgesehen sind. Regie hat hier erreicht, daß steuermindernde Rückla- gen von 50 % von beabsichtigten Investitionen gebil- Nach der Entscheidung über den Austragungsort det werden dürften, auch wenn diese Investitionen der Olympiade müssen dann die Überlegungen erst bis zum Jahre 1997 getätigt werden. Die dem bezüglich des Umzugs von Bundestag und Bundesre- Staat entstehenden Einnahmeverluste hieraus wer- gierung nach Berlin ausgestaltet werden. Das heißt, es den auf weit über 1 Milliarde DM geschätzt. Kein muß dann auch der Öffentlichkeit klargemacht wer- Zweifel, daß es für die Betroffenen, im wesentlichen den, wann, in welchem Zeitraum und zu welchen wohl in Bayern, angenehm ist, aber es geht an dem, Kosten dieser Umzug stattfinden soll. was wir hier erklärt und gewollt haben, vorbei. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Der ten der CDU/CSU) Mann hilft mir im Wahlkampf!) Die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover – Der Zwischenruf des Herrn Bundesfinanzministers, hat sich mit Unterstützung der Bundesregierung vor ich helfe ihm damit im Wahlkampf, läßt mich schlie- - der Wiedervereinigung um die Ausrichtung der EXPO ßen, daß man hier die richtige Sache angetippt hat und 2000 bemüht. Sie hat den Zuschlag erhalten. Nach der wir diese noch mit Sorgfalt nachverfolgen müssen. Wiedervereinigung ließe sich dieses Projekt als Meine Damen und Herren, die Vorlage aus dem Schaufenster deutscher Leistungskraft für die ganze Bundeswirtschaftsministerium ist in weiten Teilen von Welt unter Einbeziehung neuer Bundesländer noch allen Sachverständigen für richtig erachtet worden, besser gestalten. Natürlich müssen das Land Nieder- vor allem auch von den Sachkundigen aus der Wirt- sachsen und die Stadt Hannover den notwendigen schaft selbst. Daß parteipolitisch motivierte Kritik Anteil an Vorleistungen erbringen und vor allem auch sofort aufkam, als die Springer-Presse einen einzelnen politisch uneingeschränkt hinter dieser EXPO stehen. Punkt, nämlich das Stichwort Renten, thematisierte, Es kommt nicht in Frage, daß die Landesregierung mit war zu erwarten. Nun kann man trefflich darüber gespaltener Zunge spricht, die GRÜNEN gegen das diskutieren, ob es im Augenblick der richtige Zeit- Projekt agieren und dann, wenn der Bund finanziell punkt war, über die mögliche Rentensituation des zur Hilfe aufgefordert wird, sich der Ministerpräsident Jahres 2010 zu spekulieren. Ich hoffe sehr, daß nicht in dem sonnt, was der Bund unterstützt. Aber es wäre größere Zahlen von Mitarbeitern im Bundeswirt- nach meinem Erachten peinlich, wenn die wichtige schaftsministerium derzeit mit Fragen der Renten- Wirtschafts- und Exportnation Deutschland eine sol- höhe im Jahre 3000 beschäftigt sind. Aber wenn das che Chance der weltweiten Selbstdarstellung nicht Thema Renten schon angesprochen war, dann kann nutzen würde; denn der Standort Deutschland wird man es konsequenterweise ehrlich diskutieren und ganz wesentlich durch das internationale Ansehen, sollte es nicht mit der Hoffnung auf kurzfristigen durch die internationale Wettbewerbsfähigkeit unse- Wahlkamfspeck mit einem Tabu belegen. rer exportierenden Wirtschaft bestimmt. Auch hier ist neuer Anschub notwendig. Das Standortpapier macht hierzu Aussagen; sie sind nicht ganz so klar. Die Frage bleibt im Raum, wie das Lassen Sie mich hierzu einige einleuchtende Bei- System künftig verändert werden muß, um den Gene- spiele der jüngeren Vergangenheit nennen, die direkt rationenvertrag zu erhalten. Dabei gibt es eine Reihe oder indirekt mit dem Bundeshaushalt zu tun von Größen, die heute nicht abschließend bekannt haben. 14710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Zum Beispiel die Magnetbahn Transrapid. Wir Bewältigung sehr aufmerksam, und da ist es sicherlich haben die Entwicklung dieser Magnetschwebebahn nicht gut, wenn Negativ-Darstellungen überwiegen. mit enormen Summen aus dem Bundeshaushalt finan- ziert, und jetzt gilt der Transrapid als einsatzbereit. Es (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) ist allgemeine Auffassung, daß eine Referenzstrecke in Deutschland erforderlich ist, weil dieses Hochtech- Es beeindruckt in anderen Ländern auch nicht, nologieprodukt sonst schwer oder gar nicht zu expor- wenn eine große Zahl deutscher Ministerpräsidenten tieren sein dürfte, und es besteht die Gefahr, daß die und halbe Landtage anreisen, um den staunenden Firma ihr mit der Unterstützung aus dem Bundeshaus- Gastgebern deutsche parlamentarische Streitkultur halt erworbenes Know-how abgibt. vorzuführen. Und wenn ein früherer Bundeskanzler ins ferne Korea reist, um den Menschen dort zu Ich weiß, daß in der Vergangenheit aus der Wirt- erzählen, wie schlimm es in der Bundesrepublik schaft bezüglich der Verwirklichung sehr vollmun- aussieht, nicht ohne den peinlichen Hinweis, daß, dige Versprechungen gemacht worden sind, die wenn er noch Kanzler wäre, natürlich a lles besser sicherlich so nicht eingehalten werden. Ich weiß aber ginge, dann bringt das das Bild Deutschlands und auch, daß es keine Referenzstrecke geben wird, wenn damit auch den Standort Deutschland nicht voran. hierzu nicht der politische Wille vorhanden ist, wenn sich nicht die Politik, z. B. der Bundesverkehrsmini- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ster, an die Spitze dieser Bewegung setzt. Mit Dampf- ten der CDU/CSU) lokomotiven, meine Damen und Herren, wird die Die Außendarstellung der Bundesrepublik deutsche Exportindustrie keine Exportmärkte er- Deutschland sollte zuallererst durch die Bundesregie- obern. rung stattfinden, die Außenpolitik durch den Herrn (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Bundesaußenminister; der macht das auch am ten der CDU/CSU und der SPD) besten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zum Beispiel der Intercity - Express. Wir alle hören mit Freude, daß es in den Vereinigten Staaten großes Wenn sich Herr Kinkel, wie in seinem Interview in Interesse an diesem Zug gibt, der vermutlich das Beste dieser Woche angekündigt, künftig im Ausland etwas ist, was derzeit auf dem Weltmarkt als Hochgeschwin- stärker für deutsche Wirtschaftsbelange einsetzen digkeitszug angeboten wird. Ich habe auch mit Inter- will, ist dies kein Fehler. esse gelesen, daß sich Taiwan sehr stark für diesen Zug interessiert. Ein tatsächlicher Exporterfolg wäre (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ein wichtiges Signal. Aber das uns befreundete und Die Reisediplomatie von Kommunal- und Landespoli- sehr eng verbundene Südkorea hat sich zunächst für tikern dagegen bringt die Bundesrepublik nicht das französische Konkurrenzmodell entschieden. voran. Diese Entscheidung bedeutet gerade auch aus der Sicht asiatischer Mentalität eine bittere Niederlage für Auch nach der erneuten Absenkung der Ausgaben Deutschland. Vielleicht hätten frühzeitige politische bleibt der Haushalt des Verteidigungsministeriums Signale von höherer Ebene dem deutschen Angebot einer der großen Einzeletats. Ich möchte an dieser noch mehr Gewicht gegeben. Besonders in Asien- Stelle erneut den jetzigen und früheren Angehörigen achtet man auf solche Signale. der Bundeswehr den ausdrücklichen Dank der F.D.P. aussprechen. Wer sich vor Augen hält, in welcher (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Weise die neue Situation der äußeren Sicherheit in Mitteleuropa eine große Zahl von Menschen persön- Wir haben durchaus weiterhin Grund, selbstbewußt lich belastet hat, ihre Lebensplanung verändert hat, aufzutreten, aber gerade weil wir diesen Grund der muß voller Hochachtung für diese Bereitschaft haben, müssen wir auch asiatischen Freunden klar- sein, solche Lasten zu tragen. machen, daß es im Handel keine totalen Einbahnstra- ßen geben darf. Vor allem Japan, aber auch Korea und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne andere Länder schotten ihre Märkte partiell ab, sind ten der CDU/CSU) dafür aber teilweise mit Dumping-Methoden mit ihren Ich weiß nicht, ob es in der Geschichte ein einziges Produkten auf anderen Märkten vorhanden. Dies Beispiel gibt, daß eine Armee auf Grund politischer dürfen wir bei aller Freundschaft nicht auf Dauer Vorgaben so radikal — und im Effekt bei uns: so hinnehmen. problemlos — verkleinert wurde, wie das in Deutsch-

Zum Stichwort „selbstbewußtes Auftreten" erlau- land infolge der Zwei - plus - Vier - Vereinbarung im ben Sie mit noch ein Wort zur deutschen Selbstdar- Zusammenhang mit der Wiedervereinigung erforder- stellung im Ausland: Immer nur Negativ-Darstellun- lich war. gen verstärken natürlich das Gefühl, daß in Deutsch- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Lei land eine Art Weltuntergang herrsche — ein Gefühl, stung des Bundeskanzlers!) das sich weltweit tatsächlich ausbreitet. Dabei läßt sich doch trotz aller Schwierigkeiten und trotz aller Verteidigungsbereitschaft, aber auch zukünftige Probleme für viele Menschen in unserem Land die Aufgaben der Bundeswehr in einer veränderten Welt bisherige Bewältigung der deutschen Einheit in haben weiterhin ihren Preis. Wir Abgeordneten haben schwieriger weltpolitischer Lage durchaus positiv mit Blick auf die Haushaltssituation immer wieder die darstellen. Ich sage Ihnen: Gerade in einem anderen Frage vor uns — wir bekommen sie immer wieder geteilten Land, in Koera, beobachtet man diese gestellt —, warum wir uns z. B. die Einsätze der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14711

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Bundeswehr in anderen Ländern leisten, wenn doch besondere das verabschiedete Sparpaket der richtige überall gespart werden muß. Weg ist. (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Die Kürzungen im Sozialbereich innerhalb dieses Ja!) Pakets sind erwartungsgemäß heftig kritisiert worden. Ich glaube, daß das Kürzungsvolumen bei einem Ich bin der Überzeugung — und das entspricht auch Gesamtumfang von Sozialleistungen in der Bundesre- der Beschlußlage der F.D.P. —, daß die deutsche publik von über 1 000 Milliarden DM im Jahr 1992 Politik in der Lage sein muß, alle möglichen Plfichten trotzdem noch erträglich ist. der Vereinten Nationen zu erfüllen. Bei den anste- (Widerspruch des Abg. henden Hilfeleistungen dürfen wir dann auch nicht [SPD]) hintanstehen. Leicht fallen uns diese Ausgaben aus Haushaltssicht nicht. Aber wir können doch sicher Die Ausgaben im Bundeshaushalt steigen ja sogar nicht solche Leistungen von anderen, viel ärmeren weiter an, nur ist der Umfang dieser Steigerung Ländern in der Welt verlangen, ohne selbst mitzuhel- verringert worden. fen, wenn es z. B. in Somalia darum geht, Tausende Natürlich werden weitere finanzpolitische Anstren- von Menschen vor dem Verhungern zu retten. gungen erforderlich sein. Und natürlich hoffen wir auch, daß uns weitere Zinssenkungsschritte durch die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutsche Bundesbank helfen. Die Kritik, die von do rt In Zeiten knappen Haushalts muß die Situation der Zinssubventionen aus dem Bundeshaushalt an den nationalen Rüstungsindustrie neu definiert werden. kommt, nehmen wir ernst. Die Bundesregierung ist Diejenigen, die sich mit dem Etat befassen, wissen, aufgefordert, es in diesem Bereich jetzt genug sein zu daß die Beschaffungen gegenüber dem, was früher lassen. Der Geldmarkt kommt sonst zusätzlich in war, extrem verringert worden sind. In anderen Län- Unordnung. dern führt eine vergleichbare Situation, wie man (Zuruf von der CDU/CSU: Es muß allgemein ständig der Presse entnehmen kann, zu einer massi- gestrichen werden!) ven Ausweitung des Rüstungsexports. Dies wollen wir für Deutschland nicht. Aber dann muß eine Schwer- Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung bein- punktbildung stattfinden. Ich glaube, sie muß im haltet Risiken. Meine Damen und Herren, ein Risiko Bereich Forschung liegen. Dies ist ebenso wichtig wie betrifft natürlich die Politiker selbst innerhalb wie die Tatsache, daß die industriellen Pa rtner Anspruch außerhalb der Regierung. Wir wissen, welche Einspa- auf langfristige Planung und auf ehrliche Partner- rungen im Regierungsentwurf am schwersten gefal- schaft haben. Der Verteidigungsetat in seinem ver- len sind. Wir wissen, welche Forderungen nach Mehr- kleinerten Umfang wird künftig stärker als in der ausgaben am populärsten sind. Die Frage wird sein, Vergangenheit auch industriepolitische Überlegun- ob die Koalition ihrem selbstgesteckten Ziel treu gen über längere Zeiträume berücksichtigen müs- bleibt, nämlich keine Ausweitung der Ausgaben ohne sen. Finanzierung zuzulassen. Dies hat das Bundeskabi- nett beschlossen. Dies haben die Koalitionsfraktionen Meine Damen und Herren, die Haushaltspolitik der beschlossen und mehrfach bekräftigt und verstärkt. F.D.P.-Fraktion hat sich in der Vergangenheit immer Hieran müssen wir uns dann messen lassen, wenn sehr stark an den Aussagen der Deutschen Bundes- unsere Beratungen zu Ende sind. bank orientiert. Für die Stabilitätspolitik der Deut- Dies betrifft im Haushaltsverfahren auch die bisher schen Bundesbank gibt es für uns keine Alternative. als Einsparung vorgeschlagenen Positionen Schlecht- Eine Inflationspolitik, wie sie Helmut Schmidt einmal wettergeld, Arbeitnehmersparzulage, Zuschüsse für propagiert hat, kommt für uns nicht in Frage. Eine den Erhalt von Kulturgütern in Ostdeutschland und solche Politik zerstört nämlich nicht nur das Vertrauen anderes mehr. im In- und Ausland, sie zerstört auch das Vermögen der Menschen, die im Vertrauen auf den Staat Kon- Die Forderung allein nach Mehrausgaben ist wohl- sumverzicht geleistet und ihr Geld gespart haben. Daß feil, egal wie gut sie begründet ist. Ich will auf die stabile Deutsche Mark in der Übergangsphase Gegenargumente in der Sache in diesem Zusammen- nach der deutschen Einheit auch den Zufluß auslän- hang verzichten, weil ich nicht den Eindruck erwek- dischen Kapitals nach Deutschland erleichtert, ist ken will, als stelle sich die F.D.P. inhaltlich grundsätz- naheliegend. Wir hoffen, daß dieser Zufluß bald nicht lich gegen solche Forderungen. Im Gegenteil, Sie mehr in gleichem Umfang notwendig ist. Im Augen- wissen, sie sind teilweise von meinen Kollegen erho- blick aber brauchen wir ihn und sind dankbar ben worden. dafür. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es richtig!) Die Deutsche Bundesbank hat die Politik der Bun- Aber wenn wir alle geforderten, notwendigen und desregierung in den vergangenen Jahren natürlich wünschenwerten Dinge zusätzlich nur als Ausgaben auch kritisiert. Manche der kritischen Äußerungen in den Bundeshaushalt aufnehmen würden, ohne sie stellen sich im nachhinein als berechtigt dar. Auch der durch Kürzungen an anderer Stelle auszugleichen, damalige Umtauschkurs der Ost-Mark erweist sich dann hieße dies weiteres rapides Anwachsen der jetzt in vieler Hinsicht als zu hoch. Daß die Bundes- Nettoneuverschuldung. Die Signalwirkung hieraus bank aber trotzdem ihre Zinspolitik jetzt verändert, wäre negativ, und da Haushaltskonsolidierung ja daß sie ihren Zinskurz ein wenig gelockert hat, zeigt auch ein Teil Standortsicherung ist, würden wir unse- uns, daß die jetzt eingeleitete Wende, daß die von uns ren eigenen erklärten politischen Zielen entgegen- beschlossenen Maßnahmen richtig sind und daß ins- handeln. 14712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Dies ist auch ein Appell an die Kolleginnen und cherung, Sparsamkeit auf allen Gebieten, auch Kollegen aus dem Deutschen Bundestag in den Fach- an den Gehältern, Vereinfachung des behördli- ausschüssen: Schlagen Sie uns für unsere Beratungen chen Apparates, insbesondere auf dem Gebiet im Haushaltsausschuß bitte keine Mehrausgaben vor, der Steuerverwaltung, eine Steuerpolitik, die den ohne im Bereich Ihrer eigenen Etats hierfür auch Produktionsprozeß nicht unerträglich belastet, Kürzungsvorschläge mitzuliefern! vielmehr die Kapitalbildung ... fördert. Ein letzter Satz an den Herrn Bundesfinanzminister. In dieser Rede forderte der Kanzler unter anderem, Sie haben, Herr Bundesfinanzminister, signalisiert, daß nach den Steuererhöhungen bei der Mineralöl- daß eine gewisse Beweglichkeit in die Gehälter steuer und dem Solidaritätszuschlag, den die F.D.P., und Löhne gebracht werde. Die Aufgabe, die zu hohen Preise für deutsche Produkte den Preisen wie Sie wissen, gerne bef ristet hätte, die Steuer- auf dem Weltmarkt anzugleichen, sei für unsere schraube für die nächsten Jahre aus Ihrer Sicht nicht weiter angezogen werden darf. wirtschaftliche Gesundung so wichtig, daß sie selbst dann durchgeführt werden müsse, wenn (Zuruf von der SPD) alle Bevölkerungsschichten unbequeme Opfer Diese Aussage ist notwendig, sie ist wichtig. Sie ist tragen müßten. Sozialpolitik um ihrer selbst wil- auch aus unserer Sicht richtig. len sei ein Gebilde im luftleeren Raum. Sollten aber, was ich nicht hoffen will, die erwarte- Es war jedoch nicht der Kanzler Helmut Kohl, der dies ten Einnahmen hinter den heutigen Steuerschätzun- forderte, sondern der Kanzler Heinrich Brüning, der gen zurückbleiben, so müßte nach unserer Überzeu- im Oktober 1930 vor dem Reichstag mit diesen Worten gung zur Sicherung des Haushalts erneut über wei- seine erste Notverordnung, der weitere folgten, ver- tere Einsparungen geredet werden. Insofern hoffen teidigte. wir sehr, gemeinsam mit den Kollegen von der Union, daß eine positive wirtschaftliche Entwicklung uns vor (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn wir nur auf dieser Last bewahrt . ihn gehört hätten, wäre uns viel erspart geblieben!) Die F.D.P.-Bundestagsfraktion und in ihrem Auftrag die Abgeordneten der F.D.P. im Haushaltsausschuß In einer Denkschrift mit dem Titel „Aufstieg oder werden zusammen mit der Union die Detailberatun- Niedergang" heißt es: gen am Bundeshaushalt 1994 mit großer Sorgfalt Ausgangspunkt für alle Maßnahmen der Wirt- aufnehmen. Wir wissen, daß wir von der Opposition schafts-, Finanz- und Steuerpolitik ist unter den hier keine Hilfe in der Arbeit erwarten können. Bisher für die deutsche Wirtschaft gegebenen Umstän- aber hat die Mehrheit der Koalition im Haushaltsaus- den die Förderung der Kapitalbildung. Sie ist die schuß nach 1982 noch jede Regierungsvorlage deut- Voraussetzung für die Steigerung der Produktion lich verbessert. und liegt daher im Interesse aller Schichten des Hieran wollen wir erneut mitwirken. Hierfür wollen deutschen Volkes. Die deutsche Wirtschaft muß wir und hierfür werden wir sorgen. Dies soll auch für von allen unwirtschaftlichen Hemmungen befreit den Bundeshaushalt 1994 erneut so werden. werden. Vielen Dank. Diese am 2. Dezember 1929 vom Reichsverband der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) - Deutschen Industrie veröffentlichte Denkschrift würde auch in Ton und Diktion in die grundlegend veränderte politische Landschaft im Jahre 3 des grö-

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort ßer gewordenen Deutschlands passen. Unverkennbar hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Barbara sind die ideologischen Parallelen zwischen 1929 und Höll. 1993. Es war zwar nicht der Reichsverband der Deutschen Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Industrie, sondern dessen bundesdeutsche Variante, Meine Damen und Herren! Diese Haushalts- und die am vergangenen Montag die Entwurfsfassung des Finanzdebatte soll nach dem Willen der Bundesregie- Standortberichtes der Bundesregierung als nicht aus- rung und der Koalition ganz im Zeichen der Ausein- reichend kritisierte, aber die Motive, die hinter sol- andersetzung über die Zukunft des angeblich stark chen Denkschriften und Erklärungen stecken, sind gefährdeten Standorts Deutschland stehen. Da auch die gleichen wie 1929. Der Anteil der Sozialausgaben die SPD-Bundestagsfraktion eine Arbeitsgruppe und der Staatsschulden am Bruttosozialprodukt soll „Standort Deutschland" eingerichtet hat, scheint die gesenkt werden, damit der Staat den Unternehmern Lage sehr ernst zu sein. zwecks Profiterzielung zusätzliche Subventionen, steuerliche Vergünstigungen und zinsgünstige Kre- (Zuruf von der CDU/CSU: Nur deswegen?) dite finanzieren kann. — Scheint! — So aktuell diese Debatte auch sein mag, Der von der Bundesregierung vorgelegte Haus- so ist sie Ouvertüre nur zur Neuinszenierung eines haltsentwurf 1994 und das zweiteilige Sparpaket alten Stücks. stehen in der Traditionslinie der Brüningschen Not- Ich möchte meinen Beitrag zu dieser Debatte mit verordnungen. Damals wie heute gipfelt die haus- einem etwas längeren Zitat beginnen: haltspolitische Regierungskunst in Kürzungen bei Die Grundlinien des Reformplans der Regierung Leistungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. sind ein vollkommen ausgeglichener Haushalts- Damals wie heute werden Unternehmer mit Steuerge- plan, Selbständigmachen der Arbeitslosenversi schenken überhäuft. Die Sparbeschlüsse der Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14713

Dr. Barbara Höll regierung bedeuten eine Kürzung der real verfügba- die Lohnstückkosten stärker gestiegen als im Durch- ren Einkommen der privaten Haushalte. Sie werden schnitt der 18 wichtigsten Industrieländer. Die in ihrer im kommenden Jahr zu einem Rückgang des privaten Wettbewerbsfähigkeit angeblich so gefährdete west- Verbrauchs und zu einem Wachstumsverlust von deutsche Wirtschaft hat immerhin den ostdeutschen einem Prozentpunkt des Bruttoinlandsprodukts füh- Markt erobert. ren. Durch die Kürzungen bei den Lohnersatzleistun- gen sowie das Einfrieren der Sozialhilferegelsätze Da die Haushalts- und Finanzpolitik dieser Bundes- werden immer mehr Menschen der Armut preisgege- regierung darauf ausgerichtet ist, die Interessen und ben. Durch den Rückzug des Staates aus der aktiven Wünsche der Unternehmer zu befriedigen, und zu Arbeitsmarktpolitik wächst die Zahl der Arbeitslosen. diesem Zwecke lediglich die Kampfbegriffe wechselt, Der von der Bundesregierung durch Leistungskürzun- die die Angriffe auf sozialstaatliche Errungenschaften gen über den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit legitimieren sollen, würde eine Debatte über Haus- erhoffte Spareffekt von 10 Milliarden DM wird nicht haltstitel und Einzelpläne mehr vernebeln als erklä- erzielt. Weitere noch gnadenlosere Sparbeschlüsse zu ren. Lasten der abhängig Beschäftigten und der Sozialhil- feempfänger werden folgen, wie Herr Waigel heute Welche Ideologie hinter den Aussagen der Bundes- ankündigte. Der Preis der Ware Arbeitskraft soll regierung zum gesamtwirtschaftlichen und finanzpo- weiter gedrückt, sprich: die Löhne sollen gekürzt und litischen Rahmen ihrer Haushalts- und Finanzpolitik Arbeitszeitbeschränkungen sollen rückgängig ge- steckt, ist den einzelnen Formulierungen ihres macht werden. Durch Kürzung von Arbeitlosengeld Finanzberichts zu entnehmen. Eine Folge des Zusam- und Arbeitslosenhilfe sowie durch Sozialhilfezahlun- menbruchs der realsozialistischen Staaten ist nach gen unterhalb des Bedarfs soll der Druck auf die Aussage der Bundesregierung, daß die weltwirt- Beschäftigten erhöht werden, sich hierbei den ver- schaftliche Arbeitsteilung langfristig neu strukturiert schärften Arbeitsbedingungen willig zu unterwerfen. wird. In den osteuropäischen Ländern fürchtet sie Menschen ohne Arbeit werden als Schmarotzer — so wörtlich — „neue Konkurrenten im weltwirt- gebrandmarkt, gegen die gar nicht hart genug vorge- schaftlichen Wettbewerb " um die erfolgverspre- gangen werden kann. chendsten Kapitalverwendungen. Die Unterordnung und Disziplinierung der Men- Es geht also um die Neuaufteilung der Reviere für schen wird sowohl durch ökonomischen Druck als die Profitjäger. Es geht um den verschärften, gnaden- auch durch eine ideologische Umerziehung bewirkt, losen Konkurrenzkampf im Weltmaßstab, dessen Ver- die leider bereits Früchte zeigt. Umfragen signalisie- lierer und Opfer schon nicht mehr interessieren. Diese ren eine verstärkte Opferbereitschaft der Menschen Konkurrenz umfaßt auch Kapitalverwertungsbedin- zugunsten von Maßnahmen für eine Stärkung des gungen. Das Kapital, dieses scheue Reh, darf nicht Standorts Deutschland. Auch Reichskanzler Brüning verschreckt werden. Damit es sich weiterhin lohnt, hatte 1932 angesichts einer von ihm diagnostizierten überschüssiges Kapital in der Bundesrepublik und weltweiten Strukturkrise an die Opferbereitschaft der nicht im Ausland möglichst gewinnträchtig anzule- — so wörtlich — „kleinen Existenzen" appelliert. gen, gewährt die Bundesregierung deshalb Unterneh- mern Steuererleichterungen und verschont alle Gut- Das Deutsche Institut für Wirtschaftsförderung hat verdienenden mit höheren Steuern, einer Arbeits- Anfang Juli die neuen Konturen der wirtschaftspoliti- markt- oder Ergänzungsabgabe, die deren Einkom- schen Diskussion in Deutschland umrissen und eine men mindern würde. vermeintliche Struktur- und Kostenkrise in West- deutschland ausgemacht. Unbestritten ist hierbei Während diese Bundesregierung die Sozialleistun- auch aus Sicht der PDS, daß die bundesdeutsche gen kürzt, unternimmt sie nichts, um die steuerlichen Wirtschaft vor strukturelle und konjunkturelle Pro- Vorteile aus dem Ehegattensplitting, die sich für 1993 bleme gestellt ist. auf etwa 40 Milliarden DM beziffern lassen, abzu- Es gehört allerdings unserer Meinung nach schon bauen. Sie unternimmt nichts, um gegen die Steuer- ein gehöriges Maß an professioneller Blindheit dazu, hinterziehung von Unternehmern wirksam vorzuge- um zu übersehen, daß die wirtschaftliche Situation in hen. Würde die steuerliche Erfassungsquote nur um Ostdeutschland ganz andere Ursachen hat als die in einen Prozentpunkt steigen, könnten Mehreinnah- Westdeutschland. Im Osten bestehen die Probleme men von 2,5 Milliarden DM realisiert werden. Die auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft. Dort geht sogenannte Schattenwirtschaft führt zu jährlichen es um die Frage der Wettbewerbsfähigkeit der Indu- Steuerausfällen in einer Größenordnung von bis zu strie. In Westdeutschland dominiert dagegen eine 130 Milliarden DM. Doch wenn, wie geschehen, der Nachfrageschwäche, die aus einem Konflikt von Bundeskanzler seinen Freunden aus Industrie und Geld- und Lohnpolitik resultiert. Wirtschaft aus guter Kameradschaft versprochen hat, daß er zum eisernen Sparen entschlossen ist, dann Ich zitiere aus dem Bericht: heißt das für die Besitzenden in diesem Lande Entwar- Die Wirtschaftspolitik ist in Gefahr, auf der Basis nung. einer falschen Diagnose zu handeln und damit Nichts spricht stärker für diese These als ein Blick in Therapien anzuwenden, deren Wirkungen die die drei Gesetzentwürfe, die der Deutsche Bundestag Konstitution einer im Prinzip gesunden Volks- in dieser Woche beraten soll. Nur die wenigsten der im wirtschaft erheblich schwächen können. Juli von der Bundesregierung beschlossenen Spar- Es gibt in Westdeutschland auch keine Kostenkrise; maßnahmen gehen überhaupt zu Lasten der Bezieher denn nur zweimal in den vergangenen 25 Jahren sind höherer Einkommen. 14714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Dr. Barbara Höll Ein Subventionsabbau in nennenswertem Umfang tigen, obwohl das Sündenregister der ebenfalls kon- erfolgt nicht. Sämtliche Kürzungen sozialer Leistun- trollierten 12 500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- gen, die über die Bundesanstalt für Arbeit abgewik- mer ergab, daß nur 145 Bezieher von Arbeitslosengeld kelt werden, sowie die Streichungen beim Kinder- oder Arbeitslosenhilfe illegal arbeiteten. Das heißt, und Erziehungsgeld bedürfen überdies nicht der ganze 1,16% gehören zu dieser angeblichen Katego- Zustimmung der Länderkammer. rie der Schmarotzer.

Die SPD tönt zwar laut, sie wolle den Sozialabbau Der Bundesarbeitsminister bescheinigte demge- nicht mitmachen, und verweist dabei auf ihre Mehr- genüber in einem Brief an den Präsidenten des heit im Bundesrat. Diese Bundesratsmehrheit würde Deutschen Groß- und Außenhandelsverbandes „einer allerdings bestenfalls Sozialkürzungen in Höhe von Reihe von Arbeitgebern ... ein großes Maß an krimi- 685 Millionen DM verhindern können, denen Kürzun- neller Energie, um die Solidargemeinschaft zu betrü- gen in Höhe von rund 22,7 Milliarden DM entgegen- gen". Aber Konsequenzen zu Lasten dieser Unterneh- stehen, die der Bund ohne Zustimmung der Länder im men finden sich in den uns vorliegenden Gesetzent- Bundestag beschließen lassen kann. würfen nicht. Die beiden uns vorliegenden Gesetzentwürfe zur Umsetzung des Sparpakets enthalten ein Haushalts- Das Mißbrauchs- und Steuerbereinigungsgesetz, volumen von insgesamt rund 23,4 Milliarden DM im das uns am Montag auf den Tisch flatterte, soll Jahre 1994, steigend auf 27,9 Milliarden DM bis 1997. Konsequenzen in dieser Richtung nur vortäuschen. Von dieser Summe könnte der Bundesrat einen Anteil Diese Gesellschaft steht vor der größten Zäsur der zwischen 2,9 % und maximal 5,6 % durch sein Abstim- westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Solange die mungsverhalten beeinflussen. Er könnte! DDR und die anderen sozialistischen Staaten existier- Grausamer kann jedoch meines Erachtens die Bun- ten, war die Bundesrepublik, sowohl materiell als desregierung hierbei ihre Lieblingsopposition SPD auch ideologisch unterstützt durch die USA, verpflich- nicht blamieren als dadurch, daß sie exakt die Sozial- tet, sich gegenüber Ostdeutschland als Schaufenster kürzungen durch die Koalitionsmehrheit im Bundes- zu präsentieren. Es gab zwar keine gerechte Vermö- tag beschließen läßt, deren Verhinderung die Sozial- gensverteilung, aber den westdeutschen Arbeitneh- demokraten als Ergebnis ihres segensreichen Mitwir- merinnen und Arbeitnehmern wurde über Lohnzu- kens beim Solidarpakt bejubelten. wächse und verbesserte Sozialgesetzgebung vorge- Daß angesichts der wachsenden Zahl Arbeitsloser gaukelt, sie könnten an dem durch ihre Arbeit geschaffenen Reichtum der kapitalistischen Gesell- 1994 Kürzungen der arbeitsmarktpolitischen Ausga- ben in einem Umfang von 13,7 Milliarden DM wirk- schaft teilhaben. sam werden sollen, beweist den totalen Angriff der (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: So Bundesregierung auf die Bezahlung der menschli- ein Quatsch!) chen Arbeit. Es hat keinen Zweck, hier ausschließlich seiner Jetzt steht dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssy- moralischen Empörung Luft zu verschaffen. Die Bun- stem nahezu konkurrenzlos da. Westdeutsche Unter- desregierung handelt nicht etwa wider besseres Wis- nehmen können nun für die Kosten eines deutschen sen, wenn sie Lohnersatzleistungen zusammen- Arbeitnehmers zwei Ostdeutsche, zehn Ungarn, streicht, sondern in treuer Pflichterfüllung gegenüber 17 Tschechen, 18 Polen, 38 Bulgaren oder 70 Russen den Interessen der bundesdeutschen Wirtschaft. Die beschäftigen. Die Folgen sind bekannt. die auf angewiesen sind, Arbeitslosen, Sozialhilfe Die Haushalts- und Finanzpolitik der Bundesregie- werden unter das Existenzminimum gedrückt — übri- rung, der sie tragenden Koalition und der ihr in gens auch hier mit Unterstützung der SPD. Grundfragen nicht widersprechenden SPD führt dazu, Unterversorgung der Menschen ohne Arbeit und daß diese Gesellschaft in einen Zustand momentaner der Menschen, die als Flüchtlinge den Weg in dieses Barbarei zurückversetzt wird. Ostdeutschland wird reiche Land gefunden haben — das ist das Programm eine Industriebrache, in ganz Deutschland verlieren dieser Bundesregierung, dem die SPD nur in Nuancen Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze, und diejeni- widerspricht. Deutsche Stammtische jubeln, wenn gen, die noch Arbeit haben, haben die Freiheit, sich — auch hier hat die SPD den Weg freigemacht — zwischen den immer schlechter werdenden Arbeits- Flüchtlinge die Sozialhilfe nicht mehr bar, sondern in bedingungen und einem Leben unterhalb des Exi- Form von Sachleistungen erhalten. stenzminimums zu entscheiden.

Mit dem im Solidarpakt bereits angekündigten Wer nicht spurt, dem drohen Zwangsdienste, die Kampf gegen den angeblichen Mißbrauch sozialer zunächst noch „zweiter Arbeitsmarkt" genannt wer- Leistungen blies die Koalition zur Offensive gegen den, damit die SPD zustimmen kann. Anpassung, angebliche Schmarotzer und Sozialbetrüger. Verzicht, Unterordnung — so wird den Menschen „Schmarotzer" — damit ist nicht jenes Drittel der eingetrichtert — zahlen sich aus, sichern den Arbeits- Mitte Juni von der Bundesanstalt für Arbeit geprüften platz und stärken die deutsche Nation, an die inbrün- Unternehmen gemeint, bei dem es Rechtsverstöße wie stig jeder glauben soll, wer sich in dieser Gesellschaft Lohndumping zu Lasten von ausländischen Arbeit- nicht mehr zurechtfindet. Für die Anpassung und nehmerinnen und Arbeitnehmern sowie illegale Leih- Ohnmacht entschädigt die Härte, mit der „die da arbeit gab. „Sozialbetrüger" — das sind nicht jene oben" endlich mit allen aufräumen, die nicht mitma- Unternehmen, deren Baustellen nur auf dem Papier chen wollen, und das mittlerweile weltweit — siehe standen. Nein, der Angriff gilt den abhängig Beschäf- Somalia. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14715

Dr. Barbara Höll Ich möchte abschließen. Der Haushalt 1994 und die Erst jetzt wird der vermeintliche Solidarpakt deut- ihn begleitenden Gesetze lenken den Generalangriff lich. Ein Konsolidierungsprogramm jagt das nächste. auf den Sozialstaat. „Wir müssen die Krise nutzen, Das Regierungsprogramm ist ein einzigartiger Kon- denn jetzt sind die Menschen reif ", sagte der Präsident sol. des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Dage- (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Was ist gen werden wir Widerstand leisten! das?) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) — Das ist ein Staatsschuldschein, — wenn Sie das nicht wissen sollten.

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort Das föderale Konsolidierungsprogramm hat die hat nunmehr der Abgeordnete Werner Schulz. Finanzmisere nicht beendet. Im Gegenteil: Die Staats- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Werner, rede jetzt verschuldung steigt, der Handlungsspielraum des aber richtig!) Staates verengt sich. Bereits heute zahlt der Finanz- minister jede achte Steuermark an seine Gläubiger. In den nächsten Jahren wird die gesamte Neuverschul- dung für die Zinsen alter Schulden draufgehen. Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt schließt sich der Teufelskreis einer schwindel- Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise der Nach- erregenden Finanzpolitik. Der Anfangsbetrug „deut- kriegszeit steht die Bundesregierung vor einer para- sche Einheit auf Pump und auf Kosten der Sozialver- doxen Situation. Sie muß den Haushalt konsolidieren sicherung" hat eine finanzielle Kettenreaktion ausge- und gleichzeitig die Konjunktur ankurbeln. Mit dem löst. Der einzige Trumpf, der dieser Regierung noch vorgelegten Haushaltsentwurf und seinen Begleitge- bleibt, ist die Hoffnung auf Konjunkturbelebung. Nun setzen wird sie beiden Zielen nicht gerecht, sondern mag ja der Glaube manches bewegen, nur Schulden- verfehlt diese gründlich. berge hat er bisher noch nicht versetzt. Nun sollen die Schwächsten der Gesellschaft das Der Entwurf des Bundeshaushalts 1994 ist das bezahlen, was die Stärksten bisher schuldig geblieben verheerende Zwischenergebnis einer finanzpoliti- sind. Ihr Beitrag wurde zwar häufig beschworen, doch schen Mißwirtschaft. Er ist sozial unausgewogen, bisher nicht im mindesten eingefordert. Die Finanzpo- verschärft die Rezession und wälzt die Kosten auf die litik folgt einem Dreisatz aus Irrtum, Illusion und Kommunen ab. Was hier vorliegt, ist kein Haushalts- Schwindel. sicherungsgesetz, sondern ein Gesetz, das auf dem Noch im März hat der Bundeskanzler erklärt, daß Rücken der am Boden Liegenden ausgetragen wird. mit dem Solidarpaktergebnis die Finanzgrundla- Drei Jahre nach der Währungsunion beginnt der gen für die vor uns liegenden Jahre bis 1995 und Kanzler zu ahnen, daß die Einheit die zuvor bestan- darüber gesichert sind. denen Strukturschwächen der Wirtschaft nur ver- Der Haushaltsentwurf beweist hingegen: Die öffentli- deckt hat. Nach dem dolce vita einer liederlichen chen Finanzen sind weiterhin zerrüttet. Zwar hat der Schuldenpolitik folgen nun die Verzweifelungsakte Solidarpakt — eine Wortschöpfung ohne Grundsub- hektischer Betriebsamkeit. stanz — die Finanzverteilung zwischen Bund und (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr gut!) Ländern neu geregelt, doch haben die alten Bundes- länder vor allem ihre Eigeninteressen verteidigt. Die Arbeitslosigkeit hat katastrophale Ausmaße erreicht. Sie ist, allen Ablenkungsversuchen zum Die SPD war der Auffassung, daß sie mit ihrer Trotz, das Problem Nummer eins, an dem viele andere Vorleistung zur großen Koalition die Verschlechte- Probleme hängen. rung von sozialpolitischen Ansprüchen ausgeschlos- sen hätte. Ihr ach so geschickter Verhandlungsführer Aber was kümmert das diese Regierung in ihrer Scharping selbstverschuldeten Finanzklemme? Sie kürzt die Arbeitslosenunterstützung, befristet das Arbeitslosen- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nur kein geld und bekämpft damit die Arbeitslosen anstatt die Neid, Herr Kollege!) Arbeitslosigkeit. ist noch nicht einmal auf den pfiffigen Gedanken Geplant ist die indem der gekommen, sich genau das von der Bundesregierung statistische Bereinigung, wachsende Sockel der in die garantieren zu lassen. Dauerarbeitslosigkeit Sozialhilfe umgesetzt wird. Die gleichzeitige Be- Jetzt erfolgt der unsoziale Nachschlag, der damals schneidung der Sozialhilfeleistungen aber vertieft die schon als „Solidarpakt II" im Gespräch war. Wer das Spaltung der Gesellschaft — eine wohl dauerhaft beklagt, sollte zumindest sagen, daß er über den Tisch bleibende historische Leistung der Regierung Kohl. gezogen worden ist — eine Art bayerischer Kampf- Hier winkt schon der Kanzler Brüning oder läßt sport, der sich nach der Vereinigung ausgebreitet hat grüßen. Ich denke, das ist schon vergleichbar. und in dem der Finanzminister, der nicht mehr — Für die Pflegeversicherung sollen die Kranken auf- kommen. Die Löcher im Haushalt sollen die Arbeits- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Fingerhakeln losen und Sozialhilfeempfänger stopfen. Gleichzeitig heißt das!) werden von Bundesregierung und SPD-regierten — Fingerhakeln heißt das, jawohl, und in dieser Ländern Steuersenkungen für Unternehmen be- Disziplin ist, glaube ich, Theo Waigel Träger des schlossen, getreu dem barmherzigen Motto der christ- schwarzen Gürtels. lich-liberalen Koalition: Wer reich ist, dem wird gege- 14716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Werner Schulz (Berlin) ben; wer wenig hat, dem wird auch das noch genom- Die zukunftsbestimmenden Etats Forschung und men. Entwicklungshilfe kommen ebenfalls an die kurze Leine des Finanzministers. Was nützt da die Feststel- Kein Bluff wird ausgelassen. Jetzt wird mit einem lung von der verschlafenen Innovation oder die faulen Trick die unsoziale Sparpolitik am Bundesrat Beteuerung, daß die Fluchtursachen bekämpft wer- vorbeigeschlenzt. Es führt offenbar nichts daran vor- den müssen? Wer Forschungsmittel einfriert, muß sich bei: Im zustimmungspflichtigen Teil werden die Län- nicht über die geistige Schockfrostung wundern. Wer der vor die Wahl gestellt, die Sozialhilfekürzungen zu den Geldfluß in die Zwei-Drittel-Welt drosselt, erhöht akzeptieren oder den ohnehin bedürftigen Kommu- den Einwanderungsdruck in die Bundesrepublik. nen große Finanzlasten aufzubürden. Die mehrfach versprochene Subventionskürzung Nach wie vor werden die Haushaltsrisiken ver- findet wieder nicht statt. Die Befristung von Subven- harmlost oder ausgeblendet. Das für 1993 angenom- tionen bleibt ebenfalls eine unverbindliche Absichts- mene Bruttoinlandsprodukt nähert sich mehr einem erklärung. Nach wie vor gilt: Die einzige Wirtschaft, Wunschtraum als der Wirklichkeit. Die nächste Kor- die unter dieser Regierung Konjunktur hat, ist die rektur der Steuereinnahmen ist vorhersehbar. Der Cliquenwirtschaft. Diese Regierung findet keine Ein- ministeriöse Erblastfonds, die außenwirtschaftlichen sparmöglichkeiten, weil sie auf sozialen Abwegen ist. Gewährleistungen mit Ausfallrisiko, die Defizite von Dabei gäbe es im eigenen Verantwortungsbereich Bundesbahn und Reichsbahn, die steigenden Lasten genügend. Allein das „Journal für Deutschland", neu der Bundesanstalt für Arbeit und die schwebenden herausgegeben, kostet 3,2 Millionen DM: Eine glanz- Verfahren „Konzernhaftung Treuhand", „Rentenaus- lose Politik auf Hochglanzpapier wird hier teuer gleichszahlung" und „Lufthansa-Privatisierung" bil- verkauft. den ein explosives Gemisch für den vom Rotstift Nach drei Jahren Bundestag ist mir bewußt, daß die gezeichneten Bundeshaushalt. Opposition Forderungen stellen kann, die nichts, aber Da ich gerade von Unterschlagungen rede: Der auch gar nichts bewirken. Unsere Forderungen liegen Sammelsuriumsbericht zum Standort Deutschland seit den Sozialpaktgesprächen auf dem Tisch: Öko- verschweigt, daß auch die Finanz- und Steuerpolitik steuern, Arbeitsmarktabgabe, Investitionshilfeab- zu einer Schwächung der Standortbedingungen gabe, Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Eintrei- geführt hat. Seit Jahren werden zur Verschleierung bung von Steuerrückständen, EG-weite Regelung der der finanziellen Notlage die Sozialversicherungen für Zinssteuer, Einsparungen im Rüstungsetat, Wegfall die Alimentierung Ostdeutschlands zweckentfrem- von Subventionen und Steuervergünstigungen, ver- det. Allein 1993 werden 50 Milliarden DM aus den kehrswertgerechte Vermögensbewertung, Abschöp- Kassen der Arbeitslosen- und Rentenversicherung für fung von Bodenspekulationsgewinnen usw. Damit die Transfers aufgebracht. Da liegt der Grund für den könnten ein solider Haushalt ohne Sozialkürzungen, Anstieg der Lohnnebenkosten. Auch da hat die Bun- der Aufbau Ost, ein zukunftsträchtiges Energie- und desregierung die Probleme, die sie heute beklagt, Infrastrukturprogramm und ein zweiter Arbeitsmarkt selbst mitverursacht. finanziert werden. Doch Kooperation ist in diesem Parlament nicht gefragt. Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ist mit der deutschen Einheit aus den Fugen geraten. Jetzt wak- Was wir tun können, ist, Klarheit zu vermitteln, daß kelt der soziale Friede; ein von Regierung und Unter- die Lebenslüge über die Kosten der deutschen Ein- nehmern allzuoft unterschätzter Standortvorteil. Am heit, der unterbliebene Lastenausgleich die meisten Rande dieser Gesellschaft rumort es. Die Benachtei- teuer zu stehen kommt. Die Gewinner der deutschen ligten stemmen sich gegen die Endgültigkeit ihres Einheit bleiben unberührt. Sie haben den mühelosen Schicksals. Auch rücksichtslose Ausgrenzung, Per- Reibach längst auf der hohen Kante liegen oder spektivlosigkeit und Lebensentwertung schlagen profitabel im Ausland investiert. gewaltsam zurück. Andererseits fehlt es nicht an Vor annähernd 20 Jahren hat die CDU die „neue Willen, Fleiß und Ideen. Die Menschen in den neuen soziale Frage" entdeckt. Die Regierung Kohl hat sie Bundesländern, das Gros der Arbeitslosen in Ost und nun übersichtlich und einseitig entsorgt. Wenn diese West, die sind bereit, die Ärmel aufzukrempeln, falls Regierung nach Leistung bezahlt werden sollte, dann ihnen die Regierung Kohl nicht vorher das letzte müßte sie ab heute Schlechtwettergeld bekommen. Hemd ausgezogen hat. Denn seit dem eitlen Sonnenschein der Wiederverei- nigungsfeier steht sie im Regen, und das ist wahrlich Kein Zweifel: In Anbetracht der strapazierten Kas- kein goldener. sen und der enormen Anforderungen für den Aufbau Ost gilt strikte Sparsamkeit. Doch diese Regierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, spart zuwenig und zudem am falschen Fleck. bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Während die Haushalte der Arbeitslosen und der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Sozialhilfeempfänger schrumpfen, wachsen der hat nunmehr der Abgeordnete Hans Peter Schmitz. Haushalt von Bundespräsidialamt, Bundeskanzleramt und Bundestag. Justiz, Innenpolitik und Gesundheit erhalten zwar in allen Staatsreden mehr Bedeutung Hans Peter Schmitz (Baesweiler) (CDU/CSU): Herr — wir werden das morgen hören —, aber demnächst Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr auch weniger Geld. Auch Bildung und Wissenschaft Schulz, ich habe bei Ihrer Rede gedacht: Wo mag der verlieren an Gewicht. Innerhalb der OECD liegen wir Herr wohl leben? — Jedenfalls nicht in Deutsch- mit diesen richtungsweisenden Ausgaben bereits an land. 22. Stelle. (Zurufe von der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14717

Hans Peter Schmitz (Baesweiler) Ein zweiter Punkt, der mir aufgefallen ist: Wenn Sie Ohne die Realisierung dieses Konzepts würde die sich wirklich sachlich, inhaltlich mit der Geschichte Nettokreditaufnahme im Jahr 1994 nicht auf dem beschäftigt hätten, würden Sie diesen Vergleich mit diesjährigen Niveau gehalten werden können. Sie der Brüningschen Politik mit Sicherheit so nicht zie- würde mit Sicherheit steigen. hen. Ich halte ihn historisch für falsch. Sachlich ist er Wer, meine Damen und Herren von der Opposition eh falsch. — wir haben das heute wieder festgestellt —, so Meine Damen und Herren, klar ist — und daran geht vehement gegen die heute eingebrachten Gesetzent- überhaupt kein Weg vorbei —: Wir müssen feststellen, würfe herzieht, der sollte sich nicht immer darauf daß die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im letzten beschränken, zu sagen, wogegen er ist, sondern er halben Jahr erheblich schwächer verlaufen ist, als wir sollte klipp und klar erklären, wie seine eigenen dies zu Anfang des Jahres noch erwarten konnten. Alternativen aussehen. Trotz der ersten Anzeichen einer Stabilisierung der (Detlev von Larcher [SPD]: Haben wir Wirtschaftslage ist derzeit noch nicht absehbar, inwie- gemacht!) weit die Konjunkturkrise, in der wir uns zweifellos befinden, zurückgeht. Darüber hinaus hat der Kon- Jedenfalls — Frau Matthäus-Maier, ich werde mir den junktureinbruch die vorhandenen strukturellen Defi- Katalog noch einmal zu Gemüte führen — in der zite — das kommt eigentlich zuwenig zum Aus- ersten Durchsicht habe ich keine sehr ernst zu neh- druck — deutlich sichtbar werden lassen. Sie müssen menden Vorschläge bei Ihnen gefunden. gerade jetzt entschlossen angepackt werden. Darauf (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Haben wir werde ich in meinen Ausführungen noch eingehen. Ihnen doch alles schriftlich vorgelegt! 20 Mil Diesen veränderten Rahmenbedingungen tragen -li arden!) der vom Bundesfinanzminister heute eingebrachte — Das ist sehr nett. Das werden wir dann prüfen. Entwurf des Bundeshaushalts 1994 sowie das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm der Bun- (Detlev von Larcher [SPD]: Das hätten Sie desregierung und die entsprechenden Gesetzent- schon längst prüfen können!) würfe Rechnung. Im Gegenteil, was in den letzten Tagen und Wochen (Detlev von Larcher [SPD]: Im Nehmen seid und auch heute aus Ihren Reihen zu hören war, hat ihr immer gut!) nichts mit Einsparen zu tun, aber viel mit zum Teil sehr unnützen Mehrausgaben, z. B. die wiederholte Forde- Der konjunkturelle Einbruch hat zu einem deutli- rung nach Beschäftigungsprogrammen. Die haben chen Anstieg der Arbeitslosigkeit und somit zu einer Sie schon während Ihrer Regierungszeit soundso oft erheblichen Steuermindereinnahme bei einem angekündigt und vorgelegt. Sie haben nichts anderes gleichzeitig entsprechend höheren Zuschußbedarf gebracht, als Geld gekostet, und nichts Nennenswer- der Bundesanstalt für Arbeit geführt. Im laufenden tes bewirkt. Diese Programme sind verpufft. Sie waren Haushalt haben wir über 25 Milliarden DM Anstieg heiße Luft, mehr nicht. der Nettokreditaufnahme auf 67 Milliarden DM hin- nehmen müssen. Für das laufende Jahr hat es keine Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein, andere Alternative gegeben, als die konjunkturbe- finde ich, bemerkenswertes Zitat aus der „Frankfurter dingte Deckungslücke durch eine entsprechende Rundschau", die Ihnen bekanntlich nähersteht als Erhöhung der Nettokreditaufnahme zu finanzieren. uns, vom 26. August dieses Jahres vortragen: Ich denke, das ist völlig unstreitig. Ebenso unstreitig An den Vorschlägen, wie und wofür der Staat muß es aber auch sein, daß die jährliche Nettokredit- mehr Geld ausgeben sollte, hat es noch nie aufnahme in dieser Größenordnung auf Dauer gese- gefehlt. Wenige Tage vor dem Start der Haus- hen nicht vertretbar ist. Da sind sich wohl alle Seiten halts- und Spardebatten in Bundestag und Bun- des Hauses einig. desrat mangelt es denn auch nicht an Wünschen (Beifall bei der CDU/CSU) aus den Reihen der SPD, wo überall Bonn nicht Insofern ist es nicht nur konsequent, sondern auch kürzen oder zusätzlich draufsatteln sollte. zwingend geboten gewesen, daß die Bundesregie- An dieser Feststellung hat sich nichts geändert, auch rung neben dem Entwurf des Haushalts 1994 zum heute in der Debatte nicht. Dein habe ich nichts Abbau struktureller Defizite auch ihr Spar-, Konsoli- hinzuzufügen. mit einem dierungs- und Wachstumsprogramm Ent- (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist der Fehler, für den Bund bei den Einnahmen lastungsvolumen daß Sie da aufhören! Lesen Sie doch weiter und bei den Ausgaben von 21 Milliarden DM für das vor!) Jahr 1994, das auf 28 Milliarden DM ansteigt, und das für die öffentlichen Gesamthaushalte ein Entlastungs- Das öffentliche Erscheinungsbild in den letzten volumen von jährlich 25 bis 35 Milliarden DM Wochen entspricht dem auch. In den letzten Monaten erbringt, vorgelegt hat. und Wochen sind sie auch in der Haushalts- und Finanzpolitik einfach konzeptlos gewesen. Der Kol- Damit werden die Voraussetzungen für eine konti- lege Dreßler und andere aus Ihren Reihen äußern die nuierliche Rückführung der Nettokreditaufnahme Befürchtung, wir würden uns da — so wörtlich — geschaffen, wie dies im Finanzplan vorgesehen ist. totsparen. Wem in der jetzigen Situation aber nichts Wir haben das ehrgeizige Ziel, die Nettokreditauf- anderes einfällt, als die vorhandenen strukturellen nahme bis 1997 auf 38 Milliarden DM zurückzufüh- Defizite durch immer weitere Ausdehnung des öffent- ren. Ich halte dies für wichtig und erstrebenswert. lichen Korridors oder, wenn sie so wollen, der Netto- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kreditaufnahme zu finanzieren, der muß sehr genau 14718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Hans Peter Schmitz (Baesweiler) wissen, daß dies nicht nur den Spielraum für dringend daß Schmiergelder nicht absetzbar sind, oder dage- benötigte private Investitionen einschränkt. Er provo- gen. ziert vielmehr, daß er eine höhere Zinsquote, höhere (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist Leitzinsen, eine höhere Inflationsrate bekommt und die Strafe der Höflichkeit!) den Handlungsspielraum der Bundesbank entschei- dend einschränkt. Damit würde im Grunde genom- abge- men jedwede konjunkturelle Entwicklung Hans Peter Schmitz (Baesweiler) (CDU/CSU): Jetzt würgt werden. weiß ich nicht, ob ich diese Frage so qualifizieren soll, (Detlev von Larcher [SPD]: Sie reden gezielt wie ich das innerlich tue. an unseren Vorschlägen vorbei!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Beantworten — Wenn man Ihre Vorschläge einmal genau prüft, Sie sie!) stellt man fest, daß genau das drin ist, was ich eben — Ja, das kann ich gleich. — Aber Frau Kollegin gesagt habe: Konjunkturprogramm noch und noch, Matthäus-Maier, sollte Ihnen entgangen sein, daß wir Vorschläge zur Ausgabenpolitik. Aber wenn man mit im steuerlichen Bereich — das hat der Kollege Waigel Ihnen einmal über die Vorschläge für Einsparungen hier deutlich gemacht, und ich glaube, der Kollege zur Stabilisierung unserer wirtschaftlichen und finan- Roth auch; ich antworte seriös — 38 Milliarden DM an ziellen Verhältnisse reden will, ist nichts vorhanden. Subventionen bereits abgebaut haben? Sollte Ihnen Insofern bleibe ich bei der Feststellung, die ich eben das entgangen sein, dann weiß ich nicht, warum Sie getroffen habe. mir diese Frage mit dem Schmiergeld stellen. Ich halte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sie nicht für sehr seriös; ich halte Schmiergelder Detlev von Larcher [SPD]: Das ist falsch! Da überhaupt nicht für seriös. hilft auch das Klatschen nicht!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wieso sind sie Auch an weiteren Vorschlägen — ich bin gespannt, dann absetzbar?) was nachher Kollege Poß hier verkünden wird — über Wenn das allerdings Ihr Vorschlag ist, kann ich Ihnen das hinaus, was geplant worden ist, haben Sie aus aber auch als Haushälter sagen: Das bringt den Saft Ihren Reihen nichts anderes als Steuererhöhungen nicht zusammen, mit dem wir den Motor schmieren gefordert. Das ist Gift — das wissen Sie selber — für sollen. Also, ich halte diese Frage für nicht sehr seriös. die Konjunktur. Es ist nicht vertretbar. Insofern möchte ich in meinen Ausführungen fortfah- Auch die Abgabenquote — das ist schon mehrfach ren. ausgeführt worden; der Finanzminister hat das dan- kenswerterweise noch einmal festgeklopft — und die (Detlev von Larcher [SPD]: Soll ich gleich das nächste fragen?) Staatsquote sind uns zu hoch. Ich sage deshalb mit aller Entschiedenheit, noch einmal bezogen auf die Abgabenquote: Die Grenze Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr Ab- der Belastbarkeit ist sowohl beim Steuerzahler als geordneter Schmitz, entschuldigen Sie, wenn ich auch für die Wirtschaft erreicht. Wir müssen deshalb unterbreche. Die Abgeordnete Frau Matthäus -Maier alles daransetzen, die hohe Steuerlast mittelfristig würde gern eine Zwischenfrage stellen. wieder abzusenken und die Privatinitiative zu för- dern. Hans Peter Schmitz (Baesweiler) (CDU/CSU): Wie (Beifall bei der CDU/CSU) könnte ich das ablehnen! Allein aus Höflichkeit lasse Nur so lassen sich im übrigen auch die Finanzie- ich die Frage zu. rungsgrundlagen unseres Sozialsystems langfristig sichern. Das hängt sehr eng zusammen, das läßt sich nicht voneinander trennen. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Bitte schön, Frau Abgeordnete. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie Bundesregierung hat mit ihrer Entschlossenheit, die kommt mit ihren Einsparvorschlägen!) öffentlichen Finanzen zu konsolidieren, den richtigen Weg beschritten. Namhafte Experten im In- und Ausland unterstreichen das. Das zeigt sich allein

Ingrid Matthäus - Maier (SPD): Herr Schmitz, weil ich dadurch, daß das Vertrauen der Finanzmärkte in die aus den Reihen der Koalition schon oft gehört habe, D - Mark zurückgekehrt ist. Ich gehöre nicht zu denen, Steuersubventionen dürfe man nicht abbauen, weil die sagen, die D-Mark sei in der Sommerpause stark nachher die Steuer sei und das dann eine Steuererhö- verunsichert gewesen. Allerdings: Die ersten Anzei- hung sei, frage ich Sie: Wenn in diesem Land z. B. chen waren da. Das Vertrauen der Finanzmärkte in Schmiergelder steuerlich absetzbar sind, was unstrei- die D-Mark ist nicht nur zurückgekehrt, die D-Mark tig ist, ist härter denn je. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Die Bundesbank hat mit den Zinssenkungsbe- Aber nicht alle!) schlüssen umgehend positiv auf die Eckwerte zum und ich den politischen Willen habe, das abzuschaf- Spar- und Wachstumspaket reagiert. fen, weil ich das schlicht und einfach für verkehrt halte Darum möchte ich hier auch einiges unterstreichen. — das fordern wir —, dann lehnen Sie das ab, weil das Unabhängig davon, ob in den parlamentarischen im Endergebnis eine Steuererhöhung ist, oder wie Beratungen noch das eine oder andere Detail modifi- kann ich Sie verstehen? Sie sind doch entweder dafür, ziert wird oder auch die angestrebte Einsparsumme Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14719

Hans Peter Schmitz (Baesweiler) jetzt noch entsprechend reduziert wird: Das Ergebnis zwischen seinem Gehalt und dem Sozialhilfesatz sehr muß es bringen, meine Damen und Herren. Über die gering ist, muß doch auf die Idee kommen, sich zu Einsparungssumme lassen wir mit uns nicht reden, fragen, warum er für so wenig Abstand noch arbeiten und an diesem Ergebnis lassen wir nicht rütteln. Das geht. Wer die Augen davor nicht verschließt und sich muß erreicht werden. unters Volk mischt, der sieht jeden Tag neue Bei- (Beifall bei der CDU/CSU) spiele. Verschließen wir doch nicht die Augen davor! Wir kommen aber auch an der nüchternen Feststel- lung nicht vorbei, daß wir in der Vergangenheit über (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — unsere Verhältnisse gelebt haben. Tun wir doch nicht Detlev von Larcher [SPD]: Wem erzählen Sie so, als ob die Bevölkerung das nicht begriffen hätte. das?) Wenn Umfrageergebnisse zeigen, daß 70 % unserer — „Wem erzählen Sie das?" Ich bin gespannt auf Ihre Bevölkerung anerkennen, daß wir teilweise über Ausführungen. unsere Verhältnisse gelebt haben, meine Damen und Im übrigen ist eine prozentual stärkere Steuerbela- Herren, stung von Beziehern höherer Einkommen unserem (Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE Steuersystem sowieso immanent. GRÜNEN]: Wer?) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Natürlich! dann ist die Politik nicht nur gezwungen, dann tut sie Steht doch in der Progression!) gut daran, darauf zu reagieren. Denn mehr als sonst ist — Sie sagen „natürlich". nicht das Wünschenswerte in den Vordergrund zu stellen, sondern das, was machbar ist, ist in den (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was haben Vordergrund zu stellen, sowohl in der Finanz-, in der Sie denn dagegen?) Wirtschafts- wie auch in der Sozialpolitik. — Ich habe nichts dagegen. Warten Sie doch ab. Lassen Sie mich noch ein Wo rt zu dem strapazierten Knapp 30 % der Steuerpflichtigen, die mit einem Begri ff der sozialen Gerechtigkeit sagen. Manchmal Jahreseinkommen von über 60 000 DM, tragen über drängt sich mir der Eindruck auf, als gebe es in der 70 % der Lohn- und Einkommensteuerlast. Wer immer politischen, aber auch in der publizistischen Argu- wieder nur den Abbau von Steuervergünstigungen mentation zwei Grundströmungen: Die einen widmen fordert , dem sei gesagt, daß seit der Steuerreform 1990 sich der sogenannten „gerechten" Verteilung des — ich habe das eben schon einmal betont; ich wieder- Wohlstandes; die anderen fühlen sich vor allen Din- hole es — Steuervergünstigungen und steuerliche gen dem Ziel verpflichtet, den Wohlstand zu meh- Sonderregelungen, Frau Matthäus-Maier, von fast ren. 38 Milliarden DM abgebaut worden sind. Sie sollten Während die ersteren — die Reden werden es in das einmal zur Kenntnis nehmen und keine dummen dieser Woche wieder zeigen — soziale Sensibilität und Zwischenfragen stellen. Warmherzigkeit für sich beanspruchen, unterstellen (Detlev von Larcher [SPD]: Also, das ist ja die sie gleichzeitig den anderen soziale Kälte. Ich finde, so Höhe! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/ einfach kann man es sich nicht machen. Wohlstand ist CSU]: Die Rede war noch schlimmer als die keine Selbstverständlichkeit. Alles, was verteilt wird, Zwischenfrage! Erbärmlich war sie!) meine Damen und Herren, muß zunächst ha rt erarbei- tet werden. Daran geht kein Weg vorbei. — Ich fand sie nicht sehr qualifiziert. Ich will das hier einmal ganz offen sagen. Ich habe gedacht, man wäre (Beifall bei der CDU/CSU — Eduard Oswald in einen vernünftigen Dialog eingetreten; aber das ist [CDU/CSU]: Das kann man gar nicht oft ja nicht möglich. genug sagen!) (Ing Deshalb können wir in der jetzigen Situation, in der rid Matthäus-Maier [SPD]: Hochmut die Realeinkommen rückläufig sind, nicht nur die kommt vor dem Fall, Herr Kollege!) Steuer- und Beitragszahler — das wird viel zu sehr — Ja, gut. übersehen —, sondern müssen auch die Bezieher In Zukunft muß dem Lohnabstandsgebot wieder staatlicher Leistungen zu einem Beitrag zur konjunk- stärker Rechnung getragen werden. Auch der in turellen Wiederbelebung heranziehen. Beide sind unteren Lohngruppen Beschäftigte muß Gewißheit gefordert: sowohl diejenigen, die Steuern und Bei- haben, daß sich seine Leistung lohnt. Das ist heute, träge leisten, wie auch gleichzeitig diejenigen, die wie jeder weiß, nicht immer der Fall. Das verfügbare empfangen. Beide sitzen nämlich in einem Boot. Nettoeinkommen eines Arbeitnehmers muß deswe- Das sage ich nicht zuletzt vor dem Hintergrund, daß gen in einem vernünftigen Verhältnis zur Lohnersatz- beispielsweise die Sozialhilfesätze in den letzten leistung stehen. Auch das müssen wir offen ausspre- Jahren erheblich stärker angestiegen sind als die chen; es geht kein Weg daran vorbei. Nettolöhne. Während nämlich die Nettolöhne zwi- Aber auch der Aufbau in den neuen Bundesländern schen 1982 und 1992 nominal um 37 % gestiegen sind, hat seinen Tribut gefordert. Wir haben in den letzten betrug der nominale Zuwachs der Sozialhilfesätze in Jahren die Erfahrung machen müssen, daß das der gleichen Zeit 60 %. Zusammenwachsen unseres Vaterlandes nach vier Machen wir uns doch nichts vor! Derjenige, der in Jahrzehnten der gewaltsamen und unnatürlichen einer Leichtlohngruppe — entweder im öffentlichen Trennung schwierig gewesen ist. Deswegen hat Theo Dienst oder im industriellen bzw. gewerblichen Waigel, wenn man die Debatte über die Verschuldung Bereich — beschäftigt ist und sieht, daß der Abstand führt, recht, daß er die sozialistische Erblast hier 14720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Hans Peter Schmitz (Baesweiler) anführt. Man kann doch nicht über Verschuldung Bundesländern können sich darauf verlassen, daß wir reden und sagen: Das alles schieben wir beiseite. Die das machen. 400 Milliarden DM, mit denen wir es hier zu tun (Gudrun Weyel [SPD]: Aber wie?) haben, sind aus heiterem Himmel gekommen. — Es ist in der Tat die sozialistische Erblast. Man kann dies Der Umfang der sozialistischen Erblast hat sicher- nicht, wie es von seiten der SPD des öfteren gemacht lich unsere Vorstellungen überstiegen. Wenn wir uns wird, ausschließlich Theo Waigel ans Bein binden. Ich hier die unrühmliche Rolle der SPD-Opposition ein- finde das unredlich. Wir sollten uns zur Bewältigung mal vor Augen halten — ich habe das eben schon dieser Dinge bekennen. Dann haben wir auch die getan; ich denke, daß wir morgen noch ein Stückchen Chance, dies dem Bürger deutlich und klar zu davon erleben werden —, dann möchte ich daran machen. erinnern, wie sich die sozialdemokratisch geführten Länder verhalten haben, als der Bundesfinanzmini- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ster ankündigte, er wolle ein föderales Konsolidie- Gudrun Weyel [SPD]: Aber Sie wollen doch rungskonzept auf den Tisch des Hauses legen. Ich nicht bestreiten, daß das in die Zeit Ihrer habe einzig und allein gehört: Nein, so nicht, das nicht Regierung fällt!) und jenes nicht. — Ach, wissen Sie, ich habe mir das, was wir in dieser Regierungszeit erreicht haben, angesehen. Ich finde, Als das Ende erreicht war, hat sich der eine oder wir können eine tolle Bilanz vorlegen bis zu dem andere sogar gerühmt — ich gebe zu, da waren auch unsere Leute nicht ganz unbeteiligt —, er habe Zeitpunkt, zu dem wir die große Aufgabe der Wieder- gedacht, er wäre schwerer über die Hürde gekommen vereinigung finanzieren mußten. Es gab keine Alter- und hätte mehr zahlen müssen. Ich meine, die Finanz- native dazu. minister der SPD-geführten Bundesländer haben sich In Zeiten der SPD-Regierung betrug die durch- nicht gerade mit Ruhm bekleckert, als es darum ging, schnittliche Steigerungsrate des Haushaltes 9 %; Sie gemeinsame Aufgaben für unser gemeinsames Vater- hatten sogar einen Ausreißer von 17 % — ohne Wie- land mit zu übernehmen. Ich bin sehr gespannt darauf, dervereinigung. Wenn wir unter Einbeziehung der wie das weitergehen wird. Finanzierung der Bahnreform nominal mit einer Stei- gerungsrate von 4,4 % auskommen und angesichts In der Regierungszeit der Sozialdemokraten — das der Bilanz der Jahre vorher, dann, finde ich, hat Theo habe ich eben schon gesagt — wurde mit Haushalts- Waigel ein Lob verdient, ein großes Lob, auch von der steigerungen gearbeitet, die mit Sicherheit wesentlich Opposition. über dem lagen, was heute von Theo Waigel vorgelegt worden ist. Ich bin sicher, daß wir in Zukunft noch mit (Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von weiteren Herausforderungen konfrontiert werden. Larcher [SPD]: Die Ausgangsposition ist eine Ich nenne z. B. den internationalen Wettbewerb. Das andere!) Thema Arbeitsplätze hat hier schon eine Rolle gespielt. Die Bundesregierung hat ein entsprechen- des Programm vorgelegt. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Trotzdem muß ich Sie einmal unterbrechen, weil der Herr Ich bin gespannt, ob die Sozialdemokraten, die ein Abgeordnete Dr. Ullmann gerne eine Zwischenfrage ähnliches Programm hier vorgelegt haben, dann, stellen möchte. wenn es darum geht, bei konkreten Gesetzesvorlagen ihre Zustimmung oder ihre konstruktive Arbeit einzu- bringen, noch zu dem stehen. Wir werden sie jeden- Hans Peter Schmitz (Baesweiler) (CDU/CSU): Aber falls ganz konkret daran festhalten. gerne. Wir können diesen Herausforderungen eigentlich nur wirksam begegnen, wenn wir umdenken, wenn Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir uns rechtzeitig auf die veränderten Rahmenbedin- NEN): Herr Kollege, stimmen Sie mir darin zu, daß gungen einstellen. Das kann aber nicht alleine eine unsere Debatte vielleicht an Sachlichkeit gewönne, Aufgabe des Bundes sein. Alle Gebietskörperschaften wenn wir uns darüber einig sein könnten, daß hier müssen daran mitarbeiten, sowohl der Bund, als auch nicht die Qualität der SED-geführten Wirtschaft zur die Länder und Gemeinden. Das kann aber auch nicht Debatte steht, sondern der Umgang mit deren Hinter- Aufgabe des Staates und der Politik alleine sein, lassenschaft? sondern es richtet sich vielmehr an alle gesellschaftli- chen Gruppen. Insbesondere die Tarifpartner müssen den volkswirtschaftlichen Realitäten Rechnung tra- Hans Peter Schmitz (Baesweiler) (CDU/CSU): Ich gen. denke, Herr Kollege, ich habe nichts anderes gesagt. Ich habe gesagt: Das, was hinterlassen worden ist, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und müssen wir bewältigen. Wenn Sie hier beim Umgang der F.D.P.) differenzieren, kann ich nur sagen: Nein, nein, Sie Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden auch in kommen nicht daran vorbei, auch die Tatsachen und Zukunft das finanzpolitisch Erforderliche entschlos- Fakten zu nennen. Die Bewältigung dieser Riesenlast sen anpacken. Nicht mit Kleinmut, mit Wehleidigkeit ist eben in Mark und Pfennig ausgedrückt. Dieses werden wir die Zukunft erfolgreich gestalten, sondern Geld müssen wir alle aufbringen, damit wir diese Last nur mit Mut, mit Augenmaß und Zuversicht. bewältigen können. Sie ist faktisch vorhanden. Sie (Ina Albwotz [F.D.P.]: Und uns!) muß bewältigt werden, sie muß auch finanziert wer- den, und dies tun wir. Auch die Bürger in den neuen — Und der F.D.P., selbstverständlich. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14721

Hans Peter Schmitz (Baesweiler) Vielen Dank. hinterziehung und des steuerlichen Mißbrauchs kann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) deshalb in diesem Gesetzentwurf keine Rede sein. (Beifall bei der SPD) Es ist geradezu eine Verhöhnung der ehrlichen Steu- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Joachim Poß. erzahler, wenn in der allgemeinen Begründung zum Gesetzentwurf ausgeführt wird, daß damit „die Steu- erpflichtigen, die bisher in unangemessener Weise Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen ihre Steuerbelastung minimieren konnten, zur drin- und Herren! Der letzte Beitrag des Kollegen Schmitz gend erforderlichen Konsolidierung der öffentlichen hat deutlich gemacht, daß wir spätestens im anstehen- Haushalte besonders herangezogen" werden. den Gesetzgebungsverfahren noch einige Fakten klä- Tatsächlich läßt die Bundesregierung jedenfalls mit ren müssen, z. B. wie die Lebensverhältnisse von den jetzt vorgelegten Maßnahmen die dringend not- Sozialhilfeempfängern tatsächlich aussehen und ob wendige Bekämpfung des steuerlichen Mißbrauchs das Finanzministerium in den Beispielen, die es zitiert, zur Alibifunktion verkommen. wirklich den repräsentativen Arbeiterhaushalt in Meine Damen und Herren, seit den sogenannten einen Vergleich zu den Sozialhilfebezügen gesetzt Solidarpaktverhandlungen im Frühjahr dieses Jahres hat. Ich habe hier andere Zahlen. — Ich wollte mich beteuert die Bundesregierung ständig, daß sie die mit diesem Thema hier nicht näher beschäftigen; ich Mißbrauchsbekämpfung nicht nur im Sozialbereich nehme an, daß die Sozialpolitiker auf das Thema noch vornehmen will, sondern sich auch dem Subventions- eingehen werden. — Ich habe andere Vergleichszah- betrug und der Steuerhinterziehung zuwenden wird. len. Ich wollte damit nur sagen: Wir sollten uns die Doch wenn es konkret wird, wird tatsächlich bei Zahlen wirklich sehr gründlich anschauen. denjenigen abkassiert, die ohnehin kaum noch Geld (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] in der Tasche haben. [CDU/CSU]: Dann müssen Sie die richtigen (Beifall bei der SPD) Zahlen nehmen!) — Ja, das werden wir dann feststellen. Mit den jetzt von Ihnen beschlossenen massiven Einschnitten ins soziale Netz übertreffen Sie wirklich Das gilt auch für die von Ihnen heute öfter erwähn- alles bisher Dagewesene. Sie stufen den Menschen ten 38 Milliarden DM beim Abbau steuerlicher Sub- mit ganz geringem Einkommen, den Erwerbslosen, ventionen. Wir werden sicherlich schon morgen die den Sozialhilfeempfänger, auch noch in bezug auf das Unterlage, die uns die Erläuterungen dazu gibt, anfor- herab, was ihm bisher ein bißchen Unterstützung und dern. Das werden wir uns sehr genau anschauen. Der Entlastung von existentiellen Sorgen brachte: Arbeits- Subventionsbericht wird ja wohl auch von Ihnen nicht losengeld, Kurzarbeitergeld, Kindererziehungsgeld, als endgültig aussagekräftig bezeichnet, wenn der Schlechtwettergeld, Eingliederungshilfe und Arbeits- Sparerfreibetrag plötzlich keine Subvention mehr ist losenhilfe. und einiges mehr. (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: Meine Damen und Herren von den Koalitionspar- Zahlen!) - teien, indem Sie diesen Kürzungen zugestimmt — Diese Zahl ist ja von Ihnen bisher auch nicht so ins haben, haben Sie sich endgültig vom Grundsatz der Feld geführt worden. sozialen Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft verab- Die von der Bundesregierung groß angekündigte schiedet. Bekämpfung von steuerlichem Mißbrauch bleibt in (Beifall bei der SPD — Hansgeorg Hauser völlig unzureichenden Ansätzen stecken. [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Schamlose (Zuruf von der SPD: Genau!) Übertreibung! — Eduard Oswald [CDU/ CSU]: Glauben Sie das alles selbst, was Sie Nachdem die Bundesregierung monatelang in der da sagen?) Öffentlichkeit wie ein Löwe gebrüllt hat, ist mit dem jetzt vorgelegten Entwurf eines Mißbrauchs- — Das ist noch vornehm ausgedrückt. Ich darf den bekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetzes nur bekannten Jesuitenpater und Ökonomen Professor noch ein Papiertiger in Miniformat übriggeblieben. Friedhelm Hengsbach zitieren; er bezeichnet das Die im Gesetzentwurf enthaltenen wenigen Maßnah- politische Rezept der Bundesregierung, die Armen zu men zur Bekämpfung des steuerlichen Mißbrauchs schröpfen und die Leistungsstarken zu schonen, „fast sind in ihrer Quantität insgesamt jämmerlich und mit als Regierungskriminalität". Ich war also in meiner den veranschlagten Mehreinnahmen in Höhe von Wortwahl noch zurückhaltend. 1,2 Milliarden DM für 1994 und 1,9 Milliarden DM für (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf 1995 in ihrer Quantität geradezu beschämend. gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ (Beifall bei der SPD) NEN]) Insgesamt bleiben die vorgesehenen Maßnahmen Der längst überfällige Abbau von Steuersubventio- weit hinter dem Notwendigen und dem Möglichen nen wird von der Bundesregierung erneut nicht in zurück. Nicht einmal der ausdrücklich ohne Anspruch Angriff genommen. Es ist ein Skandal, daß die Bun- auf Vollständigkeit vorgelegte Mißbrauchskatalog desregierung immer neue Opfer von denen verlangt, aus dem Geschäftsbereich des Bundesfinanzministe- die ohnehin kaum genug zum Leben haben, und daß riums wird in seinen wesentlichen Punkten abgear- sie an den bekannten Privilegien für eine kleine, beitet. Von einer ernsthaften Bekämpfung der Steuer- gutsituierte Minderheit festhält. Da ist das Dienstmäd- 14722 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Joachim Poß chenprivileg, die Absetzung von Schmiergeldern, die wand „ außer Verhältnis zum Zulagenvolumen" stehe, unbegrenzte steuerliche Berücksichtigung von be- schlicht unzutreffend. Nach voneinander unabhängi- trieblich genutzten Luxus-Pkw. gen Berechnungen von Oberfinanzdirektionen, der Deutschen Steuergewerkschaft und der p ri (Ina Albowitz [F.D.P.]: Herr Kollege, ich hatte vaten Bau- sparkassen ist der Verwaltungsaufwand minimal. Im Sie als intelligenter eingeschätzt!) Regelfall wird die Arbeitnehmersparzulage bei der Das sind nur Beispiele, die Signalcharakter haben, Einkommensteuerveranlagung oder beim Lohnsteu- weil sie den Weg Ihrer Politik beleuchten. erjahresausgleich maschinell ermittelt. Sie ist sozusa- (Beifall bei der SPD) gen ein Abfallprodukt bei der Steuerfestsetzung. Die Bundesregierung ist also nicht nur inkonse- Mit der Verlängerung des Schuldzinsenabzugs wird quent beim Abbau von Steuersubventionen, sie baut denjenigen noch etwas dazugegeben, die auf eine bestehende Steuersubventionen sogar noch aus. Zum staatliche Unterstützung gar nicht angewiesen sind. Gleichzeitig wird mit der Streichung der Arbeitneh- Beispiel soll der Schuldzinsenabzug für neue Eigen- heime in Höhe von 12 000 DM im Jahr, der bis Ende mersparzulage dort etwas genommen, wo mit staatli- 1994 befristet ist, um ein weiteres Jahr bis 1995 cher Unterstützung tatsächlich etwas bewirkt werden kann. Eine solche Politik ist nicht nur ökonomisch verlängert werden. Der Schuldzinsenabzug verschärft schon heute die krasse soziale Schlagseite der gelten- verfehlt, sie ist auch sozial unerträglich. Bundes- den steuerlichen Förderung des selbstgenutzten finanzminister Waigel fördert so die p rivate Verschul- Wohneigentums. Da der Schuldzinsenabzug mit stei- dung und behindert das private Sparen junger Men- gendem Einkommen zu wachsenden steuerlichen schen. Umgekehrt wäre es richtig: Sparförderung statt Entlastungen führt, kann er nur von Spitzenverdie- Schuldenförderung. Aber wie ist das einem Bundes- nern voll ausgenutzt werden. Er führt außerdem zu für finanzminister beizubringen, der täglich über 400 Mil- die öffentlichen Haushalte teuren Mitnahmeeffekten. lionen DM neue Schulden macht und beim Sparen Mit dem Schuldzinsenabzug pumpt die Bundesregie- immer nur die anderen meint? rung das Geld der Steuerzahler in ein ineffizientes Fördersystem nach dem Motto: Teure Steuerge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, gestat- schenke für Großverdiener, völlig unzureichende För- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gatter- derung des Durchschnittsverdieners. mann? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Joachim Poß (SPD): Ja, bitte. NEN]) Hans H. Gattermann (F.D.P.): Herr Kollege Poß, Im übrigen, Herr Kollege Gattermann, hat die können Sie den Katalog Ihrer Gründe für die Aufrecht- Bundesregierung den Schuldzinsenabzug 1991 mit erhaltung der Arbeitnehmersparzulage noch dahin- der Begründung eingeführt, er sei als Ausgleich für gehend ergänzen, daß wir hier ein Sparpotential mit die gestiegenen Kapitalmarktzinsen notwendig. nationaler Bindung haben, während ansonsten Spar- Heute sind die Zinsen mit unter 7 % so niedrig wie seit kapital, wie wir wissen, in den letzten Monaten in 1987 nicht mehr. Die Begründung ist insoweit hinfäl- erheblichem Umfang außer Landes ging? lig. Gleichzeitig will die Bundesregierung für Arbeit-- nehmer die Arbeitnehmersparzulage abschaffen. Von der Streichung betroffen sind rund zehn Millio- Joachim Poß (SPD): Ich glaube, diese Anmerkung nen meist junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- bedarf keiner Kommentierung, Herr Gattermann. mer mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja, Herr Gat- von 27 000 DM bzw. 54 000 DM. Die Arbeitnehmer- termann ist gegen das Kürzungspaket der sparzulage erfüllt nach wie vor eine wichtige Aufgabe Bundesregierung!) bei der Vermögensbildung gerade jüngerer Men- Die unverantwo rtliche soziale Schlagseite des Kür- schen und dient der Mobilisierung privaten Kapitals zungspakets wird auch dadurch keinen Deut gerin- zu Wohnungsbauinvestitionen. Rund sechs Millionen ger, daß der Bundesfinanzminister oder auch andere Bausparer erhalten die Sparzulage. ständig betonen, das Paket sei sozial ausgewogen. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Genauso falsch ist die Behauptung, vor allem die Besserverdienenden hätten die deutsche Wiederver- Insgesamt wurden mit allen vermögenswirksamen einigung finanziert. Der Realitätsverlust ist erstaun- Leistungen, die in Bausparverträgen angelegt wer- lich, denn die Fakten sind eindeutig. den, im vergangen Jahr 7 Milliarden DM angespart. Die Arbeitnehmersparzulage ist also ein ganz wichti- Die Kollegin Matthäus-Maier hat darauf hingewie- ges Instrument für untere und mittlere Einkommens- sen, daß die Steuererhöhungen — die Anhebung der schichten, um frühzeitig das notwendige Eigenkapital Mehrwertsteuer, der Mineralölsteuer, der Tabak- zu bilden, ohne das sie kaum eine Chance hätten, steuer, der Versicherungsteuer, der Kraftfahrzeug- ihren Traum vom eigenen Haus oder von einer eige- steuer — und die Erhöhung der Sozialversicherungs- nen Wohnung zu verwirklichen. beiträge die kleinen und mittleren Einkommen relativ stärker belasten. (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] Hat der Bundesfinanzminister vergessen, daß der [CDU/CSU]: Und das mit 7,80 DM!) Solidaritätszuschlag Mitte 1992 ausgelaufen ist und Im übrigen ist die Begründung der Bundesregie- die Mehrwertsteuer Anfang 1993 erhöht wurde, rung, die Abschaffung der Arbeitnehmersparzulage obwohl das Aufkommen von Solidaritätszuschlag und sei deshalb erforderlich, weil der Verwaltungsauf- Mehrwertsteuer mit jeweils rund 12 Milliarden DM Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14723

Joachim Poll etwa gleich ist? In dieser Maßnahme steckt doch eine und er bringt mit seinem Schwarzmalen hinsichtlich Umverteilungswirkung; d. h. die Bezieher kleiner und der Steuerbelastung unserem Standort mehr Schaden mittlerer Einkommen werden stärker belastet, und die als Nutzen. Sie legen es geradezu darauf an, entschei- Bezieher hoher Einkommen, z. B. wir, werden entla- dende Standortfaktoren wie den sozialen Frieden und stet. Der Solidaritätszuschlag war doch trotz des selbst die innere Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Was Mangels, daß er keine Einkommensgrenzen hatte, für bringt es denn, jetzt falsche Hoffnungen auf eine die Bezieher höherer Einkommen die einzige an der weitere Senkung der Unternehmenssteuer zu wek- Leistungsfähigkeit orientierte Belastungskompo- ken, die ja allein schon aus finanzpolitischen Gründen nente. Diese Belastungskomponente, der einzig nen- nicht zu erfüllen sind? Ihr ewiges Rufen nach Steuer- nenswerte Beitrag der Spitzenverdiener, wurde jetzt senkungen für die Wirtschaft ist deshalb gesamtwirt- auf die breite Masse der Bevölkerung umgelegt. Die schaftlich verantwortungslos. Untersuchungen des RWI, die ja seriös sind, belegen, (Beifall bei der SPD) daß bei den angenommenen Vereinigungskosten So wie die Bundesregierung in der Gesellschaft die Arbeitnehmer mit zusätzlich 4 % des Einkommens belastet werden, Selbständige dagegen nur mit Lasten auf die sozial Benachteiligten abwälzt, so wälzt sie auf staatlicher Ebene die Lasten auf die Gemein- 1,7 %. den ab. Insbesondere den strukturschwachen Städten Wer wie Bundesfinanzminister Waigel immer wie- und Gemeinden, die bereits in den letzten Jahren der behauptet, was offenkundig falsch ist, der darf sich wiederholt durch Eingriffe der Steuerpolitik der Bun- nicht wundern, wenn sich immer mehr Bürger von desregierung finanziell gebeutelt wurden, droht jetzt dieser Politik abwenden. der Kollaps als Folge einer verfehlten Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- Immer mehr Kommunen befürchten, daß sie in abseh- gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ barer Zeit nicht mehr in der Lage sein werden, ihren NEN]) gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen. Gerade die kleinen Leute fühlen sich verschaukelt. Sie kennen die Finanzsituation in den ostdeutschen (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] Kommunen; aber auch in den westdeutschen Kommu- [CDU/CSU]: Von wem? Von Ihnen?) nen muß man genau hinschauen. Die Verhältnisse sind in der Tat unterschiedlich. Das ist differenzie rt zu Deswegen ist dieser Finanzminister seit Jahren mit sehen. Aber die Kommunen leisten doch einen Beitrag seiner Politik eine der tatsächlichen Ursachen für die im Rahmen der Einigungsbemühungen. Die Finanzie- sogenannte Politikverdrossenheit. rung des Fonds Deutsche Einheit und der ab 1995 (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf geltende reformierte Finanzausgleich belasten sie gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ zusammen mit mehr als 7 Milliarden DM jährlich. NEN]) Allein durch die Reduzierung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe kommen auf die Kommunen Fragen Sie doch einmal die Bevölkerung, mit welchen nach ihren Schätzungen zusätzliche Kosten von min- Namen die Steuerlügen und der Wählerbetrug ver- destens 5 Milliarden DM zu. bunden sind! Sie werden immer wieder die Namen Es wird also hier nicht gespart, wie sich der Herr Kohl und Waigel hören. Der Herr Geißler hat doch - Bundesfinanzminister dessen rühmt, sondern die recht, wenn er forde rt: Wir brauchen den Mut, der Kosten werden lediglich auf andere verschoben. Der Wahrheit ins Auge zu sehen. Denn wenn man den Finanzminister spart gar nicht, sondern er läßt auf Kopf in den Sand steckt, bleibt doch der Hintern zu Kosten der Bürger in den Städten und Gemeinden von sehen, sagt ein afrikanisches Sprichwort. den Kämmerern und Kommunalpolitikern sparen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie des (Beifall bei der SPD) Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Die Bürger in den Kommunen müssen also ausbaden, was die Bundesregierung unter dem Vorwand einer Das gilt auch für die in dem von der Bundesregie- vermeintlichen Haushaltskonsolidierung anrichtet. rung vorgelegten Standortpapier geforderten weite- Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ren Steuerentlastungen für Unternehmen. Die im kommt in seinem letzten Bericht zu einem vernichten- Standortsicherungsgesetz beschlossenen Steuersen- den Urteil zur Finanzpolitik. kungen sind noch nicht einmal im Bundesgesetzblatt verkündet, da wird schon wieder gefordert, die ertragsabhängigen und die ertragsunabhängigen Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, ich Unternehmenssteuern weiter deutlich zurückzufüh- fürchte, Sie können kein langes Zitat mehr bringen, ren. Ihre Redezeit ist abgelaufen. (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Weil Sie eine weitergehende Joachim Poß (SPD): Die Bundesregierung handele Senkung verhindert haben!) kurzsichtig, wenn sie in einer Situation, in der sich das System der sozialen Sicherung zu bewähren habe und Wer jetzt solche Forderungen unter dem Deckman- arbeitsmarktpolitisches Gegensteuern notwendig sei, tel der Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutsch- die sozialen Leistungen beschneide und den Umfang land erhebt, der ist von allen guten Geistern verlas- von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einschränke. sen Kraft und Willen fehlen im übrigen auch bei der (Beifall bei der SPD) Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und des 14724 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Joachim Poß Mißbrauchs von Steuervergünstigungen oder dem Besteuerung beim Empfänger zugeführt werden. Sie stärkeren Eintreiben von Steuerrückständen. können sich vorstellen, in welchem Umfang Schmier- Das DIW hat recht: Es fehlt dieser Bundesregierung gelder, wenn sie denn geleistet werden, steuerlich nicht nur an Kraft, es fehlt ihr leider auch am Willen abgezogen werden, wenn der Empfänger genannt dazu. werden muß. Dieser Punkt spielt in der Praxis so gut wie überhaupt keine Rolle. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sagen Sie von der SPD das bitte so! — Ing rid Matthäus Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt dem Maier [SPD]: Die Amerikaner haben das Kollegen Hermann Rind. doch abgeschafft! Wer sich bestechen läßt, der zahlt doch keine Steuern!) Hermann Rind (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Dies aber nur als kurze Anmerkung. Damen und Herren! Verehrter Kollege Poß, würden Sie mir einen Augenblick Ihr Ohr leihen? Sie wissen genausogut wie ich, daß in den letzten Monaten, wann Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Kol- immer seitens der F.D.P. —, aber auch der CDU/ lege Rind. Ich wollte nur sagen: Der Dialog findet CSU-Kollegen von Steuersenkungen die Rede war, eigentlich zwischen dem Redner und dem Plenarsaal stets gesagt wurde, daß sie im Unternehmensbereich statt, nicht bei den Kollegen im Plenarsaal unterein- zur Standortsicherung nötig sind, sobald wir sie uns ander. aus haushaltspolitischer Sicht wieder leisten können. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist aber Damit war immer die Aufforderung verbunden, daß zwischendurch auch notwendig, Herr Präsi dann der Grundfreibetrag angepaßt werden muß. Das dent! — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] habe ich in den letzten Monaten von keinem Politiker [F.D.P.]: Nicht immer, aber immer öfter!) der Koalitionsfraktionen anders gehört. Dies ist die Perspektive, die unsere Unternehmer, aber auch unsere Bürger haben müssen. In Zeiten, in Hermann Rind (F.D.P.): Mich hat es nicht sehr denen es uns finanziell wieder besser geht, müssen gestört, Herr Präsident. wir zur Politik der Steuersenkung der 80er Jahre zurückfinden. Dazu stehen wir in der Tat. Wenn Sie Nun aber zum Mißbrauchsbekämpfungs- und dies für unseriös halten, dann verstehe ich Sie und die Steuerbereinigungsgesetz, das heute in erster Lesung Welt nicht mehr. mit beraten wird. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wenn sich der Gesetz- geber entschließt, Steuerschlupflöcher zu schließen, so muß er sich darüber im klaren sein, daß es steuer- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rind, der rechtlichen Gestaltungskünstlern immer wieder ge- Herr Kollege Poß würde gern eine Zwischenfrage lingt, in den komplexen Gesellschaftsverhältnissen, stellen. die wir nun einmal haben, Gestaltungsmöglichkeiten zu finden. Der Gesetzgeber hängt also im Prinzip Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Rind, können Sie- immer hinterher. Wir bekennen uns dazu, daß Steu- nicht bestätigen, daß es zumindest von Wirtschaftsmi- erschlupflöcher geschlossen werden. Wir haben dies nister Rexrodt aus den letzten Wochen und Monaten in der Vergangenheit getan. Wir haben seit 1990 eine mehrere Zitate gibt, in denen diese Einschränkungen, ganze Reihe von steuerlichen Maßnahmen ergriffen, die Sie jetzt gemacht haben, bei der Präsentation in die solches zum Inhalt hatten. der Tat nicht vorgekommen sind, auch nicht die Einschränkung, die der Herr Bundesfinanzminister (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) heute in seiner Rede angedeutet hat? Aber wer dies tut und sagt, der muß wissen, daß wir damit immer mehr Komplizierungen in das Steuer- Hermann Rind (F.D.P.): Herr Kollege Poß, das kann recht hineintragen. Das ist die andere Seite der ich nicht bestätigen. Auch Herr Rexrodt hat immer Medaille. erklärt, daß die Senkung der Unternehmensteuern ein Dieses Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerberei- wichtiges Ziel dieser Bundesregierung sei. Er hat nie nigungsgesetz zeigt hinsichtlich der Ergiebigkeit des- den Hinweis vermissen lassen, daß dies natürlich an sen, was wir bei der Bekämpfung von Mißbrauch die haushaltspolitischen Voraussetzungen gebunden herausholen können, daß das Tarrain weiträumig ist. Es mag sein, daß das irgendwo verkürzt wieder- abgegrast ist. Ich glaube, daß wir uns sehr wohl einmal gegeben worden ist. Aber diese Aussage habe ich von Gedanken darüber machen sollen, ob es gut ist, wenn ihm nie anders gehört. wir mit immer feineren Regelungen einen immer (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Kennen wir kleineren Nutzen in Form von Steuermehreinnahmen doch! Denken Sie an die Mehrwertsteuer!) erzielen, dadurch aber ins Steuerrecht, das eh schon Noch ein Wort zu dem, was Sie zu den Mißbrauchs- kaum mehr übersehbar ist — selbst für Fachleute fragen gesagt haben. Sie haben — ich will nur einen nicht —, immer mehr Komplizierungen hineintra- Punkt aufgreifen — die Schmiergelder erwähnt. Es gen. stimmt, daß Schmiergelder abzugsfähig sind, aber nur Wer den Entwurf dieses Mißbrauchsbekämpfungs- — und das vergessen Sie und auch Frau Matthäus- und Steuerbereinigungsgesetzes liest, gerät in Versu- Maier immer dazuzusagen —, wenn man den Emp- chung, vor dieser Materie zu kapitulieren. Dies gilt für fänger benennt, um sicherzustellen, daß sie dann der die Finanzpolitiker; wieviel mehr muß es für die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14725

Hermann Rind steuerpflichtigen Bürger und für die Sachbearbeiter in tere Mineralölsteuererhöhungen nachdenken, sei der Finanzverwaltung gelten. gesagt, daß wir Freie Demokraten uns solchen Plänen Wir werden im Herbst eine Anhörung mit Fachleu- mit hartem Widerstand entgegenstemmen werden. ten der Steuerverwaltung zum Themenbereich Ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Dann holen Sie einfachung des Steuerrechts haben. Die Präsidenten Unterstützung bei uns!) der Oberfinanzdirektionen, zuletzt bei ihrer Tagung — Das ist erfreulich. Sie sehen, die Koalition ist sich in Bad Pyrmont, richten Hilferufe an den Gesetzgeber, einig. hier nun endlich tätig zu werden und mit einem großen Schnitt endlich einmal für Steuervereinfa- Aber es kommen natürlich von der einen oder chung und Bereinigung in weiten Bereichen des anderen Seite derartige Töne, und die können wir in Steuerrechts zu sorgen. der konjunkturellen Landschaft, in der wir leben, nicht gebrauchen. Ich weiß, daß die Aufgabe der Haushaltskonsolidie- rung uns zwingt, auch die letzten Reserven an Steu- Dies gilt im übrigen auch für die Diskussion um eine ereinnahmen zu mobilisieren. Dann müssen wir aber Abgabe auf Alkohol und Tabak aus gesundheitspoli- auch so ehrlich sein und zugeben, daß wir damit einen tischen Gründen. Nachdem es so scheint, als ob Beitrag zu immer mehr Komplizierung leisten und daß höhere Krankenkassenbeiträge für Alkoholtrinker, dies auf Dauer so nicht weitergehen kann. Zigarettenraucher und Süßigkeitenesser auf den Widerstand von Politikern, Krankenkassen und Ärzte- Nun zu einigen Punkten im Gesetz. Herr Poß hat in vertretern stoßen, wird nun der Ausweg über eine seiner Rede die Sparzulage angesprochen. Es gibt Sonderabgabe propagiert. Im Klartext bedeutet dies schon verschiedene Presseerklärungen, von mir, vom eine Steuererhöhung. Kollegen Solms, vom Kollegen Hitschler, die sich auch damit befaßt haben. Wir würden, Herr Kollege Poß, Lassen Sie sich, meine Damen und Herren, von mir die Arbeitnehmersparzulage auch gerne erhalten. Wir als Finanzpolitiker sagen: Wir haben z. B. bei den sind der Meinung, daß wir bei der Sparförderung Zigaretten die Steuern so weit erhöht, daß bereits schon weggeschnitten haben, was wegzuschneiden mehr als zwei Drittel des hohen Preises für eine war, und daß die zwei Elemente der Sparförderung, Zigarette aus Steuern bestehen. Wir hätten keine die noch verblieben sind, nach Möglichkeit erhalten unabweisbaren Bedenken, die Steuer auch noch wei- bleiben sollen, zumal sie ja mittlerweile auch nur den ter zu erhöhen. Nur: Wer die Geschichte der Tabak- Beziehern geringerer Einkommen zugute kommen. steuern kennt, weiß, daß es für Zigarettenraucher wie Es hat sozialpolitische, wohnungsbaupolitische und für Alkoholtrinker eine Grenze gibt, die, wenn sie gesellschaftspolitische Gründe, daß wir dies wün- überschritten wird, zu einem Rückgang an Einnah- schen. men führt. Nur, damit dies auch klar ist: Das Ziel der Haushalts- (Gudrun Weyel [SPD]: Das ist doch sehr konsolidierung hat Vorrang vor allem anderen. Dies gesund!) bedeutet, daß, wenn die Sparzulage erhalten werden Gesundheitspolitisch mag dies erwünscht sein, nur soll, eine gleichwertige Einnahmenverbesserung ge- möge man sich von der Vorstellung freimachen, daß funden werden muß. Daran arbeiten wir zur Zeit. Wir aus einer Sonderabgabe — sprich: einer Steuerbela- werden darüber in den Arbeitsgruppen der Koalition stung — Mehreinnahmen für gesundheitspolitische und im Finanzausschuß zu reden haben. Zwecke resultieren. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr gut!) (Detlev von Larcher [SPD]: Hat das nicht der Auch wir Finanzpolitiker sind froh und stolz, daß es Wirtschaftsminister vorgeschlagen?) dem Verkehrsminister gelungen ist, den gordischen — Eines hat nicht der Wirtschaftsminister vorgeschla- Knoten bei der Besteuerung des Güterfernverkehrs gen, Herr Kollege. Ich verfolge aufmerksam, was er im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft durchzu- macht. Die Vorstellungen kommen aus einer anderen hauen. Die Senkung der Kfz-Steuer für Lkw ist eigent- Ecke. lich die froheste Botschaft, die von diesem Gesetz ausgeht. Aus bekannten Gründen ist die gleichzeitige (Detlev von Larcher [SPD]: Er will doch eine Erhöhung der Mineralölsteuer für Benzin und Diesel- Sonderabgabe für Raucher haben!) kraftstoff nicht in diesem Gesetz enthalten, wird aber Aber sie werden auch von der SPD tatkräftig unter- zeitgleich beraten werden. Hier werden Steuermehr- stützt. Das gibt es auch in der F.D.P.; das weiß ich einnahmen von 8,5 Milliarden DM zu erwarten sein. auch. Dazu kommt noch, was aus verfahrenstechnischen Meine Damen und Herren, dieses Mißbrauchsbe- Gründen in den Ermittlungen noch nicht enthalten ist, kämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz ist sicher- daß die Umsatzsteuer auf die Mineralölsteuer immer- lich in weiten Teilen unvermeidbar. Nur, es steht einer hin auch ca. 1,2 Milliarden DM beträgt. Wir von der Vereinfachung des Steuerrechts entgegen und ist nur F.D.P. sind uns bewußt, daß auch diese Steuererhö- mit Zähneknirschen in den Teilen, die Komplizierun- hungen inflationstreibend wirken. Wir tragen sie nur gen bedeuten, hinnehmbar. Wir müssen uns — dies ist mit, weil die Bahnreform ein vorrangiges Ziel ist und ein ernster Appell an alle, die sich mit der Sacharbeit zur Finanzierung dieser Reform diese Mittel benötigt in diesem Bereich befassen müssen — nach den werden. Anhörungen im Herbst und im Frühjahr zum Thema Aber all denen, die, bevor diese Steuererhöhung im Steuervereinfachung wirklich dazu entschließen, mit Bundesgesetzblatt steht oder überhaupt abschließend radikalen Schnitten, die natürlich auch nicht unpro- parlamentarisch beraten ist, schon wieder über wei- blematisch sind — wer mit der Materie beschäftigt ist, 14726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Hermann Rind weiß dies —, einzugreifen. Die Finanzverwaltung, die zustimmen. Hören Sie doch erst einmal zu, und dann Bürger und die Unternehmen sind nicht mehr in der können wir weiter darüber reden. Lage, weitere Komplizierungen hinzunehmen. Die SPD will einfach nicht wahrhaben, daß sich die Dies ist mein ernster Appell und meine Mahnung deutschen Unternehmen einem immer stärker wer- am Ende meiner Rede. Es wird ein vordringliches Ziel denden internationalen Wettbewerbsdruck ausge- für uns alle sein, uns diesem Ziel zu widmen. setzt sehen, auf den wir mit einer Verbesserung der Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. wirtschaftlichen und finanzpolitischen Rahmenbedin- gungen reagieren müssen. Statt dessen schürt die SPD (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) weiterhin die Neiddiskussion — wir haben das heute wieder ausführlich gehört —, obwohl sie ebensosehr weiß, daß es keine Verteilungsspielräume mehr Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege von Lar- cher, es war wirklich nicht der Wi rtschaftsminister. Ich gibt. darf daran erinnern, daß es im Ottomanischen Reich Die finanz- und haushaltspolitische Ausgangslage einen Sultan gab, der zu einer Zeit, als das Rauchen ist in der Tat sehr ernst. Ich gebe Ihnen zu: Da gibt es dort verboten war, nachts durch die Straßen ging und nichts zu beschönigen. Wir werden mit der Steuer- Raucher an Ort und Stelle durch Scharfrichter köpfen quote 1993 zwar noch nicht den historischen Höchst- ließ. stand von 1977 erreichen — damals hatten wir 25 % —, werden aber mit 24 % schon sehr nahe herankom- (Zuruf von der CDU/CSU: Wieviel raucht der men. Präsident?) Herr Kollege Hauser, Sie haben das Wort. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hauser, der Kollege Poß würde gern eine Zwischenfrage stellen. (Rednitzhembach) (CDU/CSU): Hansgeorg Hauser Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Bitte sehr. Damen und Herren! Der Kollege Poß hat von Kraft und Willen gesprochen und dabei das DIW zitiert. Ich muß (Zuruf von der CDU/CSU: Poß ist nachdenk ehrlich sagen: Meine Kollegen und ich haben wirklich lich geworden!) sehr viel Kraft und Willen aufbringen müssen, um diesen beiden Reden, von Ihnen und von Frau Kolle- Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Hauser, sind Sie gin Matthäus-Maier, anzuhören, in denen alles wie- wirklich der Auffassung, daß mit der Teilnahme an der aufgezählt worden ist, was schon seit Ewigkeiten einem allgemeinen Steuersenkungswettlauf, der im von Ihnen aufgezählt wird, obwohl Sie selbst wissen, übrigen international inzwischen eingestellt wurde, daß viele Dinge nicht funktionieren, die Sie machen die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik wollen, und obwohl man in aller Deutlichkeit aus Ihrer Deutschland wesentlich gestärkt werden kann und eigenen Fraktion immer wieder hört: Um Gottes daß das der zentrale Punkt bei der Standortdiskussion willen, das kann doch nicht ernsthaft alles sein, was ist? wir zu bieten haben. Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Poß, Sie sollten das wirklich- Herr Kollege Poß, wir haben uns schon sehr oft über etwas ernsthafter betreiben und einmal versuchen, dieses Thema unterhalten. Die Steuern sind sicherlich sich mit uns auseinanderzusetzen, und das, was wir nicht der einzige Faktor, aber Steuern sind ein maß- hier anbieten, dann entsprechend kritisch würdigen. geblicher und vor allem ein psychologischer Faktor. Sie werden sehen, wir werden dann gemeinsam zu einer vernünftigen Entscheidung kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Viele Unternehmensentscheidungen werden nach (Joachim Poß [SPD]: Sie gehen ja nicht dar dem Steuersatz getroffen. Wenn ich von vornherein über hinaus!) einen Steuersatz habe, der wesentlich höher liegt als Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutsch- in den anderen Ländern, dann ist die Entscheidung, land befindet sich im dritten Jahr nach der Wiederver- wenn ich sonst gleiche Bedingungen habe, schon einigung an einem Wendepunkt, an dem wichtige getroffen. Die Ame rikaner können den Wettbewerb, Weichenstellungen für die künftige Entwicklung den Sie erwähnen, leicht beenden; denn sie liegen unseres Landes getroffen werden müssen. Im Gegen- jetzt bei 35 %, und wir liegen mit unseren Steuersät- satz zur SPD, die nach wie vor nur ihre vermeintlichen zen noch wesentlich höher. Patentrezepte aus der berühmten Mottenkiste holt, hat die Bundesregierung rasch reagiert. Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege von Larcher (Lachen bei der SPD) würde auch gern fragen. Mit dem Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumspro- (Rednitzhembach) (CDU/CSU): gramm und dem Be richt zur Zukunftssicherung des Hansgeorg Hauser Standorts Deutschland wurden die Grundlagen für ein Bitte sehr. entschlossenes Handeln in der Finanz- und Wi rt -schaftspolitik gelegt. Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Hauser, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich von einem (Detlev von Larcher [SPD]: Seit drei Jahren Unternehmer aus einem bekannten Unternehmen höre ich das schon!) gesagt bekommen habe, daß das, was Sie gerade — Verehrter Herr Kollege Larcher, wenn Sie einmal gesagt haben, ein Märchen sei, daß eine Standortent- zuhören würden, dann würden Sie mir sehr wohl scheidung, die ein Unternehmer trifft, von vielen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14727

Detlev von Larcher vielen Komponenten abhängig sei und daß die Steuer Ich mache den gleichen Fehler wie viele andere: dabei die unwichtigste sei? Wir reden von der deutschen Einheit immer nur unter finanziellen Aspekten. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit ist ein histori- Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): sches Geschenk. Wir von der CDU/CSU haben im Verehrter Herr Kollege von Larcher, dann sollten Sie Gegensatz zur SPD die Hoffnung auf eine Wiederver- dem Ihnen bekannten Unternehmer einmal die Unter- einigung nie aufgegeben. Die Geschichte hat uns suchungen von verschiedenen Instituten, so die recht gegeben. Untersuchungen des DIHT, auf den Tisch legen, in denen eindeutig der Steuersatz als ein wesentliches Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich muß es Entscheidungskriterium für die Standortentschei- einfach loswerden: Ich finde, es ist ein vollkommen dung genannt wird. Ich glaube, es ist müßig, darüber neues Urlaubsgefühl, wenn man irgendwo in der zu diskutieren. Man kann die Fakten nicht einfach weiten Welt unterwegs ist und plötzlich sächsische durch solche Behauptungen vom Tisch wischen. Des- oder thüringische Töne hört. Es ist eine Freude, daß wegen sollten wir dafür sorgen, daß unsere Steuer- man die Landsleute aus den neuen Bundesländern sätze niedriger werden. Das ist die beste Investitions- mittlerweile auch im Urlaub überall treffen kann. politik, die wir betreiben können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Einigung hat aber nicht nur die Reisefreiheit für Bis 1995 werden wir auf Grund der unumgängli- unsere Landsleute aus dem ehemaligen Unrechtsstaat chen Wiedereinführung des Solidaritätszuschlages DDR gebracht; sie hat dort die jahrzehntelange kom- und der Mineralölsteuererhöhung im Zusammenhang munistische Kommandowirtschaft abgeschafft und mit der Bahnreform sowie der Mehreinnahmen aus unsere bewährte Soziale Marktwirtschaft einge- dem Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereini- führt. gungsgesetz mit 25 % den SPD-Rekord leider wieder (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Sehr erreichen. Das ist allerdings in einer einmaligen bewährt!) historischen Situation geschehen, in der wir zum Aufbau der neuen Bundesländer einen öffentlichen Das führt zu schmerzlichen Strukturveränderungen, Nettotransfer von jährlich über 130 Milliarden DM ist aber langfristig die einzige Basis für Wohlstand und leisten. Gleichzeitig steigt natürlich auch unsere Wachstum. Abgabenquote auf den hohen Wert von 44 %. Auch In den neuen Bundesländern machen trotz aller das gilt es in der Zukunft wieder entsprechend abzu- Unkenrufe der SPD Wiederaufbau und Modernisie- bauen. Diese Summen kennzeichnen die enormen rung unter dem Einfluß der hohen Förderleistungen Belastungen, die alle Bürger und die Wirtschaft für aus dem Westen in weiten Bereichen spürbare Fort- den Aufbau der neuen Bundesländer erbringen. schritte. Ich kann dem Chef der Deutschen Bank, Meine Damen und Herren, dies alles war und ist Herrn Kopper, nur beipflichten, wenn er feststellt, daß möglich, weil die Koalition in den achtziger Jahren die Lage in der ehemaligen DDR besser ist als oft nach dem finanzpolitischen Desaster der SPD-geführ- dargestellt. ten Bundesregierung eine konsequente Haushalts- Die gesamtwirtschaftliche Produktion in den neuen konsolidierung und eine Steuersenkungspolitik be- Bundesländern ist im vergangenen Jahr um 7 % trieben hat, mit der die Staatsquote in Höhe von 50 % gewachsen. Die wirtschaftliche Situation ist in einzel- im Jahre 1982 auf 45 % im Jahre 1989 gesenkt werden nen Bereichen allerdings weiterhin sehr unterschied- konnte. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht lich. Deshalb müssen wir noch stärker Prioritäten für sagen, daß wir die Einheit in finanzpolitischer Hinsicht Investitionen setzen. hervorragend vorbereitet haben. Es ist nicht auszu- denken, in welchem finanzpolitischen Chaos wir uns Im vergangenen Jahr wurden gesamtwirtschaftlich befunden hätten, wenn die SPD die Regierungsver- bereits ca. 109 Milliarden DM investiert. Erfreulich ist antwortung zum Zeitpunkt der Einigung gehabt die Steigerung auf 130 Milliarden DM in diesem Jahr. hätte. Dennoch müssen wir noch etwas Geduld mit dem Aufschwung haben. Aber Geduld ist offenbar eine (Beifall bei der CDU/CSU) Eigenschaft, die nicht zu den herausragenden Eigen- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Koali- schaften von uns Deutschen gehört. tion hat unter Federführung des Bundesfinanzmini- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die sters nach der Einigung im Hinblick auf den normalen Finanzpolitik steht ganz im Zeichen von Haushalts- Mehrbedarf an finanziellen Ressourcen den Bundes- und Stärkung der Wachstumsgrund- haushalt bis 1994 um fast 70 Milliarden DM entlastet. konsolidierung Deutliche Beschränkungen öffentlicher Ausga- Seit der Steuerreform 1990 wurden Steuervergünsti- lagen. ben, auch strukturelle Veränderungen im Haushalt, gungen und steuerliche Sonderregelungen, die vor müssen noch stärkeres Gewicht erlangen. allem Höherverdienenden zugute kamen, in Höhe von 38 Milliarden DM abgebaut. Das wird oft überse- Die Koalition hat unter Federführung des Bundesfi- hen, weil natürlich sehr häufig der Abbau von Steu- nanzministers auch im Jahre 1993 wichtige Ausga- ervergünstigungen als Gegenleistung für andere bensenkungen in die Wege geleitet, die von wachs- Maßnahmen herhalten mußte. Deswegen wird so tumsbelebenden Maßnahmen begleitet wurden. Ich etwas einfach nicht richtig zur Kenntnis genommen; nenne hier nur die Ausgabensenkungen im Rahmen aber es waren in den Jahren seit 1990 38 Milliarden des Föderalen Konsolidierungsprogramms in Höhe DM. Diese Leistung ist einmalig in der Geschichte der von 10 Milliarden DM — das ist auch schon wieder in Bundesrepublik Deutschland. Vergessenheit geraten — sowie das in dieser Woche 14728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) zu beratende Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- Mit dem Standortsicherungsgesetz werden die tumsprogramm, das eine vorwiegend ausgabensei- steuerlichen Rahmenbedingungen für die Unterneh- tige Entlastung allein des Bundeshaushalts um rund men nachhaltig verbessert, denn erstmals in der 21 Milliarden DM im Jahre 1994 vorsieht, die ab 1996 Nachkriegszeit liegen die Steuersätze für die Körper- auf fast 29 Milliarden DM ansteigt. schaftsteuer und die Einkommensteuer bei gewerbli- Aus der Sicht des Finanzpolitikers ist es besonders chen Einnahmen deutlich unter 50 %. erfreulich, daß diesmal der Schwerpunkt auf der (Detlev von Larcher [SPD]: Da muß ja der Ausgabenseite liegt und somit der durchschnittliche Boom kommen!) Ausgabenanstieg 1994 bis 1997 wie in den 80er — Herr Larcher, wenn Sie die Börsenmeldungen Jahren auf knapp 2,5 % begrenzt werden kann. Damit ansehen, stellen Sie fest, daß die Gewinnerwartungen kann das Defizit des Bundes bis 1997 auf unter für die Unternehmen von allen Analysten nach oben 40 Milliarden DM zurückgeführt werden. Das sind korrigiert wurden. Das ist eine Auswirkung des Stand- deutliche vertrauensbildende Signale für den Kapital- ortsicherungsgesetzes. markt und die Zinsentwicklung. Wir haben es an Hand der Maßnahmen der Bundesbank auch ganz (Beifall bei der CDU/CSU) deutlich zu spüren bekommen. Die Börsenkurse sind deshalb auch angestiegen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und die Börsenkurse — das wissen Sie — bringen Kapital in unser Land, und das ist das Kapital, das wir Die Finanz- und Haushaltspolitik hat mit diesen dringendst brauchen. Deswegen war es eine gute Entscheidungen ihre Handlungsfähigkeit — Herr Poß, Maßnahme. das muß ich ausdrücklich unterstreichen — unter Beweis gestellt, was nicht zuletzt im Hinblick auf die (Detlev von Larcher [SPD]: Es soll nur inve Umsetzung des Maastricht-Vertrags von entscheiden- stiert werden; dann reden wir weiter!) der Bedeutung ist. Leider haben wir uns wegen des Widerstandes der SPD-geführten Bundesländer noch nicht mit unseren (Joachim Poß [SPD]: Sie wissen, daß wir die Plänen zur Senkung oder Abschaffung der Kriterien zur Zeit nicht erfüllen!) ertragsun- abhängigen Steuern durchsetzen können. Der Wider- — Das ist vollkommen richtig. Das müßte für Sie stand der SPD-geführten Länder ist mir völlig unver- eigentlich Anlaß genug sein, zu der Überzeugung zu ständlich. Sie wollen die verschärfte internationale gelangen, daß wir hier erheblich mehr sparen müssen, Wettbewerbssituation unserer Unternehmen einfach als Sie das vorhaben oder überhaupt vorschlagen nicht sehen. Was sie dabei in Kauf nehmen, ist der können. Verlust von Arbeitsplätzen. Das nehmen Sie auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht zur Kenntnis. Sie wissen, daß wir die Kriterien zur Zeit nicht (Beifall bei der CDU/CSU) erfüllen; deswegen müssen wir alle Anstrengungen Das Belastungsniveau im Wirtschaftsstando rt unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Deutschland ist im internationalen Vergleich dennoch zu hoch; wir haben das diskutiert. Zur Zeit ist das nicht (Beifall bei der CDU/CSU — Joachim Poß vermeidbar, weil die Steuerpolitik auch einen Beitrag [SPD]: Ihre Maßnahmen führen zur Destabi - zur Konsolidierung im Rahmen unserer Programme lisierung und zum Verfehlen von Maas leisten muß. tricht!) In diesem Zusammenhang ist es notwendig, unge- — Sehen Sie, wir verfolgen dabei keine Strategie des rechtfertigte Gestaltungen und Mißbräuche im Steu- Kaputtsparens, wie sie von der SPD jetzt schon wieder ersystem zu bekämpfen sowie die Steuervereinfa- propagiert wird. Dieser Ansatz war bereits in den chung weiter voranzubringen. Diesen Zielen dient der achtziger Jahren falsch. Entwurf des Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbe- Andere aus Ihrer Partei meinen dagegen, wir wür- reinigungsgesetzes, das als steuerlicher Teil des den zu wenig sparen. Das ist auch wieder ein Aus- SKWP in den nächsten Wochen beschlossen werden druck dessen, was die SPD hier offensichtlich kenn- soll. zeichnet: Sie findet kein Konzept für die Finanz- und Haushaltspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hauser, der Larcher [SPD]: Aber ihr habt doch kein Kon Kollege Gattermann möchte Sie gern etwas fragen. zept!) Wir haben uns für den richtigen Weg entschieden: Die sozial ausgewogenen Einsparungen werden mit Hans H. Gattermann (F.D.P.): Herr Kollege Hauser, Maßnahmen zur Stärkung von Wachstum und würden Sie mich dabei unterstützen, im Zuge der Beschäftigung verbunden. Ich möchte hier nur auf die Verkürzung von Gesetzestexten bereits in der Über- Verdoppelung des KfW-Wohnungsbauprogramms schrift das Wort „Mißbrauchsbekämpfung" zu strei- von 30 auf 60 Milliarden DM Investitionsvolumen und chen, weil es nämlich überhaupt keinen steuerlichen die Stärkung wachstumsfördernder Investitionen im Mißbrauch gibt, der durch ein Gesetz bekämpft wer- Bundeshaushalt sowie insbesondere auf das ab 1994 den müßte? wirksam werdende Standortsicherungsgesetz verwei- Nach unserer Abgabenordnung ist ein Mißbrauch sen, mit denen die ertragsabhängigen Steuern spür- steuerlich irrelevant. Wenn der Gesetzgeber in Funk- bar gesenkt worden sind. tion treten muß, um legale Steuergestaltungen zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14729

Hans H. Gattermann verhindern, dann hat das mit Mißbrauchsbekämpfung und Herren, sie beträgt 7,80 DM im Monat. Sie wird nichts zu tun. bar ausgezahlt. Aus meiner Erfahrung heraus habe ich (Zuruf von der SPD: Aha!) noch niemanden erlebt, der die Sparzulage zum Sparen verwendet, sondern das geht in der Regel in Mit diesem moralischen Verdikt werden z. B. hier in den Konsum. Es steht auf dem Gehaltszettel und wird diesem Gesetz die gesamten deutschen Banken dis- mit dem Gehalt ausgezahlt. kriminiert, als würden sie Mißbrauch betreiben, wäh- rend sie in Wahrheit legale steuerliche Gestaltung (Hans H. Gattermann [F.D.P.]: Einmal im betreiben. Jahr auszahlen!) Würden Sie mich unterstützen, den Titel zu verän- Das ist eigentlich nicht der entscheidende Punkt dern? dabei. Die 7,80 DM sind mit Sicherheit nicht die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — entscheidende Anregung dabei. Detlev von Larcher [SPD]: Ich wollte auch Ich persönlich würde es allerdings begrüßen, wenn einmal einen Titel verändern! Das ging aber diese Zulage beispielsweise als Initiative für solche nicht!) Personen erhalten bliebe, die erstmals sparen; insbe- sondere für solche, die erstmals in einen Beruf eintre- Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): ten. Für diesen Personenkreis könnte sie ein Anreiz Herr Kollege Gattermann, von der Sache her kann ich sein, das Sparen zu beginnen und nicht alles, was man Ihnen durchaus in einigen Punkten recht geben. als Gehalt oder Lohn bekommt, zu konsumieren. Steuerliche Gestaltungen sind, solange sie sich an das Wir haben als weitere wichtige Maßnahme in dem Gesetz halten, absolut legal. Beispiel: Der Ehegatten- Gesetz die Verschärfung der Hinzurechnungsbe- arbeitsvertrag ist eine steuerliche Gestaltung, die steuerung nach dem Außensteuergesetz, insbeson- absolut legal ist. Wenn diese Gestaltung aber nur als dere bei Verlagerung von Konzernfinanzdienstlei- Vorwand dient, ein Vertrag also nur auf dem Papier stungen in das Ausland. Aber auch hier müssen wir existiert und tatsächlich nicht durchgeführt wird, dann aufpassen, daß wir das maßvoll regeln, um nicht ist das ein Mißbrauch, der von der Verwaltung zu Wettbewerbsverzerrungen gegenüber anderen Län- verfolgen ist. Dafür brauchen wir aber kein Gesetz; dern herbeizuführen. denn im Gesetz steht ausdrücklich drin, daß so ein Einschränkung von Gestaltungen durch Vertrag zulässig ist. Nur, die mißbräuchliche Aus- Die ist ein wichtiger Bereich, ebenso übungsweise dieses Vertrages muß natürlich be- Finanzinnovationen Eindämmung bestimmter Steuersparmodelle bei kämpft werden. die Anteilsveräußerungen und -umwandlungen sowie Ansonsten muß ich Ihnen ehrlich sagen, daß ich die zeitnahe Besteuerung der sogenannten Spezial- jederzeit dafür bin, daß man den Titel eines Gesetzes fonds. Auch hier müssen wir natürlich aufpassen, daß möglichst einfach, verständlich und griffig formuliert unsere Gestaltungen, die wir hier formuliert haben, und es nicht zu Mammutsatzbildungen kommt. Dann nicht dazu führen, daß es Steuermindereinnahmen aber, Herr Kollege Gattermann, würden wir natürlich gibt, sondern daß wir auch das erreichen, was wir hier wieder im Finanzausschuß eine große Diskussion mit haben wollen. den Kollegen der SPD führen, die uns nötigen würden, auf jeden Fall den Ausdruck „Mißbrauch" in dieses Die Begrenzung der Pauschalbesteuerung von Gesetz aufzunehmen. Fahrtkostenzuschüssen auf zusätzliche Arbeitgeber- leistungen ist ebenfalls eine sehr sinnvolle Maß- (Detlev von Larcher [SPD]: Woher wissen Sie nahme. Hier wird tatsächlich nur das zusätzlich das?) gezahlte Gehalt für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle zugrunde gelegt. Es ist nicht mehr Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hauser, die Gehaltsumwandlung möglich, die bisher gang gestatten Sie noch eine Bemerkung: Auch Sprachre- und gäbe ist. gelungszwischenrufe von der Regierungsbank aus Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Mißbrauch sind nicht illegal, aber unüblich in diesem Haus. und Gestaltungsmöglichkeiten führen — isoliert (Heiterkeit — Hans H. Gattermann [F.D.P.]: betrachtet, ohne die Ausdehnung des Schuldzinsen- Zumal sie den Redner beeinflussen! — abzugs — zu fast 3,5 Milliarden DM Entlastungen für Eduard Oswald [CDU/CSU]: Aber das ist Bund, Länder und Gemeinden. Diese Summe ist eine kein Mißbrauch der Geschäftsordnung!) realistische Größenordnung. Die Vorstellung z. B. von der ÖTV, man könne über Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): die steuerliche Mißbrauchsbekämpfung weitere zig Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte Milliarden DM einfahren und damit auf Ausgaben- jetzt nicht auf alle Einzelheiten dieses neuen Gesetzes kürzungen verzichten, ist völlig unrealistisch. eingehen. Das Thema der Arbeitnehmersparzulage ist schon angesprochen worden. Die Arbeitnehmer- (Beifall bei der CDU/CSU) sparzulage wollen wir für die alten Bundesländer Selbst der Bund der Steuerzahler, der die Regierung ja streichen. In den neuen Bundesländern soll sie wei- immer wieder ganz kräftig kritisiert, hat in der Sep- terhin erhalten bleiben, weil es nach wie vor große tember-Ausgabe seiner Publikation festgestellt, daß Unterschiede zwischen der Vermögensbildung im eine Verschärfung der Betriebsprüfung nichts bringt. Westen und im Osten gibt. Das stand unter dem Stichwort „Milchmädchenrech- Es wird nun sehr viel gegen die Streichung der nung". Ich will es jetzt nicht so ausdrücken; die Arbeitnehmersparzulage polemisiert. Meine Damen Kollegin ist schon gegangen. 14730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) Meine Damen und Herren, wesentlich dabei ist des der Deutschen Industrie sagt, Kündigungsrechte auch immer, daß die Mehreinnahmen durch die seien Luxus, dann ist das, wie ich finde, Entsolidari- Betriebsprüfung ganz genau untersucht werden müs- sierung. Und wenn der neue Präsident der Landeszen- sen. Das sind ja nicht alles Mehreinnahmen, sondern tralbank des Freistaates Sachsen am Anfang seiner sehr häufig sind es Gewinnverlagerungen. Auch das Tätigkeit in einer Rede sagt, eine gehörige Portion sollte man sich einmal genau anschauen und hier Ungleichheit sei in Umbruchzeiten Normalität, das nicht immer von zig Milliarden DM zusätzlichen dürfe man nicht so verkniffen sehen, der Tüchtige Einnahmemöglichkeiten sprechen. setzte sich ja schließlich durch, dann ist das, wie ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) finde, Entsolidarisierung. Ich habe es schon erwähnt: Eine unserer wesentli- (Widerspruch bei der F.D.P.) chen zukünftigen Aufgaben ist die Fortführung der Nun muß man doch Ihren Haushaltsentwurf daran Reform der Unternehmensbesteuerung in Verbin- messen, was Sie dieser allgemeinen Entsolidarisie- dung mit einer Gemeindefinanzreform. Denn wenn rung entgegenzusetzen haben. Ich denke, das müssen wir die Gewerbesteuer abschaffen wollen, müssen wir Sie selbst mit tun. Und was setzen Sie dieser Entsoli- natürlich den Gemeinden entsprechende Einnahmen darisierung entgegen? Ein Programm der Standortsi- verschaffen, entsprechende Anteile an der Einkom- cherung durch Sozialabbau. Damit leisten Sie doch mensteuer geben oder in anderer Form eine Gestal- der Verherrlichung des wirtschaftlichen Faustrechts tung machen. Ich denke, das ist die wichtigste Auf- Unterstützung. gabe, die wir haben. Ich meine auch, daß die Finanz- und Haushaltspoli- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- tik im nächsten Jahr eines der zentralen Themen des schenfrage, Herr Dr. Ullmann? Wahlkampfes werden wird. Wir werden das den Bürgern entsprechend erklären können, und der Bür- ger hat mehr Verständnis, als hier immer wieder zum Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausdruck gebracht wird. Ich denke, daß die Opposi- NEN): Und haben Sie sich schon einmal gefragt, tion auf diesem Feld ebenso wie auf vielen anderen meine Herren, ob Sie damit nicht etwa dem Gewalt- Feldern weder handlungs- noch regierungsfähig ist. und Kriminalitätssyndrom ich— unterstelle natürlich: ohne das zu wollen — Vorschub leisten? Ich kann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Ihnen jetzt schon prophezeien, daß Sie dem dann nicht Widerspruch bei der SPD) werden abhelfen können, wenn Sie nach lauter Straf- verschärfungen und technischen Überwachungsmaß- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- nahmen rufen. ordnete Dr. Ullmann. Aber Sie wollten eine Frage stellen.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gallus, bitte NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß sehr. der Posten „Arbeit und Soziales" der größte Posten im Haushalt ist, das ist gut so, und das muß auch so sein. Die Verfassung erlegt uns das schon auf. Darum, Georg Gallus (F.D.P.): Herr Kollege Ullmann, glau- meine Herren von der Regierungskoalition, brauchen ben Sie nicht, daß in einer Gesellschaft die jeweilige Sie sich darauf auch nicht allzuviel zugute zu halten. Leistung zu einem bestimmten Teil auch auf der Der Streit geht ja auch nicht hierum. Das ist doch unter Ungleichheit beruht, weil nicht alle Menschen gleich uns allen unstrittig. Der Streit geht darum, ob Sie dem geschaffen sind? Das heißt nicht, daß nicht aus Soli- Sozialstaatsgebot im übrigen Teil Ihres Haushaltsent- darität denen geholfen wird, denen geholfen werden wurfs treu geblieben sind. Ich verstehe gar nicht, muß. warum Sie so pikiert reagieren, wenn man diese Frage stellt. Das muß zumindest die Opposition tun, wenn Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie es nicht tun. NEN): Damit erkennen Sie doch meine Fragestellung Herr Kollege Hauser, wenn Sie da gleich wieder die an. berühmte Neiddebatte anführen: Das ist nun wahrlich (Georg Gallus [F.D.P.]: Nein! Sie haben es auch ein ganz alter Hut und zeigt, daß Sie in dieser völlig anders dargelegt! Die Tatsache, daß Debatte die Interessen der Besitzenden und Privile- Sie glauben, daß alles gleich sein müsse, ist gierten vertreten. Das ist natürlich Ihr gutes Recht. völlig ausgeschlossen!) Aber Sie sollten nicht so tun, als seien das die — Ich weiß gar nicht, wo ich das gesagt hätte. Es ist Interessen aller. Das möchte ich mir ausgebeten nicht alles gleich. Aber Sie wissen doch, daß es in haben. unserer Verfassung ein Gleichheitsgebot gibt. Das ist Zum Schluß der Debatte möchte ich Ihnen wenig- doch unstrittig. stens noch einen Gesichtspunkt zur Beurteilung die- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Vor dem ser Frage anbieten, der meines Erachtens in diesem Gesetz!) Hause ebenfalls unstrittig sein müßte. Unsere Gesell- schaft ist krank an Entsolidarisierung. Wenn die Das muß sich doch auch in unserer Sozialpolitik Bürgermeisterin, in deren Dorf ein Asylantenheim auswirken. Das sehe ich so. abgebrannt worden ist, hämisch lachend sagt: „Da (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Vor dem waren wir ein Problem los", dann ist das Entsolidari- Schöpfer ist jeder gleich, aber nicht jeder sierung. Und wenn der Präsident des Bundesverban- schaut gleich aus!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14731

Dr. Wolfgang Ullmann Was, meine Damen und Herren, angesichts dieser bedeutet, weiß die Bevölkerung dieses Landes aus der Entsolidarisierung gefordert ist, ist eine Priorität der Geschichte nur allzugut. Sozialpolitik. Ich weiß nicht, wieso in der Bundesre- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ich be publik Deutschland dafür nicht ein Konsens sollte zweifle, daß Sie die Geschichte so gut ken gefunden werden können. Hier muß doch etwas nen!) geschehen angesichts der Tatsache, daß unsere Wi rt -schaft mehr und mehr dazu übergeht, den Markt mit Daß damit nach den Kriterien der Maast richter Ver- Müll zu überschwemmen, mit Waren, die Müll sind träge auch die europäische Einigung gefährdet wer- und nicht mehr wirklich vorhandene Bedürfnisse, den kann, kommt noch hinzu. sondern nur durch Werbung simulierte Bedürfnisse Im Etat ist kein Ansatz zur Behebung der struktu- befriedigen. Wenn sich dann Mitglieder der Regie- rellen Ursachen der derzeitigen Wi rtschaftskrise zu rung oder der Herr Bundeskanzler selbst hinstellen finden. Im Gegenteil, besonders zukunftsrelevante und sagen: Wir müssen umdenken, und wir müssen Etats, z. B. der Etat des BMFT, Forschung und Tech uns vom Anspruchsdenken abwenden, so kommt mir nologie, stagnieren nominal, sinken real. Ebenso der das irgendwie zynisch vor. Der Hungstreik der Kum- Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und pel in Bischofferode — ob sie sachlich recht haben Wissenschaft. Diese Bundesregierung läßt die Hoch- oder nicht, ist eine andere Frage — ist doch jedenfalls schulen, einen der Motoren einer offenen, zukunfts- kein Anspruchsdenken. orientierten, aus der Stagnation führenden Politik, Wenn Sie mir dies noch gestatten, Herr Präsident: buchstäblich verkommen. Ich bin der Meinung, Sozialpolitik kann heute nicht Die plan- und konzeptionslose Politik der Bundes- Umverteilung durch Entsolidarisierung, sondern nur regierung bei der wirtschaftlichen Wiedervereini- Umverteilung durch Selbstbeteiligung am Verteilen gung, ihr alleiniges Setzen auf die Selbstheilungs- heißen. Nicht Einschränkung, sondern Erweiterung kräfte des Marktes hat nicht nur eine Industriewüste der Tariffreiheit muß die Losung sein, so wie es im Osten geschaffen. Sie hat nicht nur Millionen mit ihren Lehrern in Brandenburg Menschen im Osten, vor allem vordem erwerbstätige praktiziert hat. Das war bejahte und aktive, nicht über Frauen, in die Massenarbeitslosigkeit und in Resigna- den Geldbeutel und die Lohntüte erzwungene Selbst- tion und Verzweiflung getrieben. Die Fehler dieser beteiligung. Ich weiß nicht, ob das nicht ein viel Bundesregierung machen auch auf unabsehbare wirksameres Mittel zum Wirtschaftsaufschwung wäre Dauer einen Finanztransfer von etwa 5 % des Brutto- als Ihre Form der Umverteilung durch Sozialabbau. sozialprodukts von West nach Ost notwendig. Das Ich teile voll die Meinung, daß die Steuern bei weitem übrigens vor allem — das kommt als Problem noch nicht das Entscheidende sind. In einem Wirtschaftsge- hinzu — für konsumtive und nur in geringem Umfang biet, in dem es so aussieht wie in den Ostländern, dagegen für investive Zwecke. würde ich als Unternehmer nicht investieren. Da braucht es ganz andere Motive. Das Geld dafür und für eine beispiellose Autowahn orgie — ebenfalls vor allen Dingen im Osten — holt (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist aber sich diese Bundesregierung nicht etwa aus den — trotz kein gutes Zeugnis für Ihre Heimat!) Krise und Massenarbeitslosigkeit — weiterhin außer- Danke schön. ordentlich gut gefüllten Kassen der Wi rtschaft, son- - (Beifall bei der SPD) dern bei den Armen und Armsten dieser Gesell- schaft. Der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung wächst zwar minimal. Er wächst aber Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt dem bei weitem nicht so, wie es durch die Explosion der Kollegen Dr. Ulrich Briefs. Massenarbeitslosigkeit — es fehlen nämlich in diesem Land inzwischen 7 Millionen Arbeitsplätze — notwen- dig geworden ist. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Trotz des ersatzlosen Wegfalls des traditionellen Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Feindes im Osten: Der Rüstungsetat ist gegenüber der Etatentwurf für 1994 verfängt sich die derzeitige Zeit des Kalten Krieges noch nicht einmal um 10 % Bundesregierung noch tiefer als zuvor in den Fallstrik- abgesenkt worden. Die fast ungeschmälerte Aufrecht- ken ihrer eigenen politischen Fehler der Vergangen- erhaltung der Hochrüstung aus der Zeit der System- heit. Es ist in diesem Etat erst recht nicht Abhilfe für konfrontation die zukünftigen gewaltigen ökonomischen und finanzpolitischen Strukturprobleme des wiederverei- (Zuruf des Abg. Georg Gallus [F.D.P.]) nigten Deutschlands abzusehen. Die Verschuldungs- — das gebe ich Ihnen ja zu — ist eine bemerkenswerte orgie wird weiter bet rieben. Gesamtstaatlich, ein- Leistung des politischen Managements dieser Bun- schließlich Schattenhaushalte, belaufen sich die desregierung Staatsschulden 1994 auf ca. 1 600 Milliarden DM. (Erneuter Zuruf des Abg. Georg Gallus 1997 werden es laut mittelfristiger Finanzplanung [F.D.P.]) sogar mehr als 2 000 Milliarden DM Staatsschulden sein. Die Staatsverschuldung erreicht ein Ausmaß, das — Herr Gallus, hören Sie mal lieber zu! —, allerdings womöglich — das ist, denke ich, eine der großen zu Lasten einer wirklichen Friedenspolitik und zu Gefahren in der Zukunft — nur noch durch Inflation Lasten der Bevölkerung und gerade auch der sozial wieder in den Griff zu bekommen ist. Was das Schwachen. 14732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993

Dr. Ulrich Briefs Wie es mit dem wirklichen politischen Willen dieser Diese Politik verschärft die Strukturprobleme, statt sie Bundesregierung und dieser Koalition aussieht, zeigt zu lösen. das reale weitere Absenken des Etats des Bundesmi- Wer zudem eine Haushaltsrunde in dieser Zeit nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu nutzt, um die soziale Kompromißlinie in dieser Gesell- Lasten der Ärmsten, vor allem im Süden dieser Erde — schaft gravierend zuungunsten der Hilfsbedürftigen und das Ganze nach den monatelangen vollmundigen und der abhängig Beschäftigten zu verschieben — das Bekundungen im Zusammenhang mit der faktischen nämlich scheint das zentrale Projekt der Finanzpolitik Beseitigung des Asylrechts, an den wirtschaftlichen dieser Bundesregierung und dieser Koalition zu Ursachen der internationalen Fluchtbewegung anset- sein —, der bedroht zusätzlich die politische Stabilität zen zu wollen. dieses Gemeinwesens. Und das in einer Zeit, in der die (Weiterer Zuruf des Abg. Georg Gallus unheilvollen Gespenster der Vergangenheit — Aus- [F.D.P.]) länderfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Chauvinismus, Nationalismus — in der Gesellschaft Statt endlich — Herr Gallus, da sollten Sie mal und in der Bevölkerung dieses Landes wieder auftau- ansetzen! — den Umbau des Steuersystems auf öko- chen und sich ausbreiten. Vor diesem Hintergrund ist logisch günstige Steuerwirkungen in Angriff zu neh- die ökonomische und die finanzpolitische Zerrüttung men, werden weiter — und noch mehr — Steuerge- dieses einst so stabilen Landes doppelt gefährlich. schenke und Finanzhilfen an die nach wie vor über- Herr Präsident, ich danke Ihnen. liquide Privatwirtschaft gegeben, damit diese wie bisher ohne ökologische Kontrollen und Auflagen expandieren kann. Zur gleichen Zeit erleidet das Weitere Wortmeldungen Paradebeispiel der Umweltpolitik dieser Bundesre- Vizepräsident Hans Klein: liegen für die heutige Sitzung nicht vor. gierung, das duale System der Müllbeseitigung, kläg- lich Schiffbruch. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Mittwoch, den 8. September Nein, diese Finanzpolitik und dieser Etat sind kein 1993, 9 Uhr ein. Schritt in die richtige Richtung. Sie sind sozial höchst ungerecht, ökologisch undurchdacht und schädlich, Die Sitzung ist geschlossen. wirtschaftspolitisch verfehlt und kontraproduktiv. (Schluß der Sitzung: 18.49 Uhr)

Berichtigung

167. Sitzung, Seite III, linke Spalte: Bei Anlage 2 ist hinter dem Namen „Bodo Seidenthal" der Name „Dr. Fritz Gautier" sowie „SPD" einzufügen. Auf Seite 14416D ist in Zeile 1 hinter dem Namen „Bodo Seidenthal" der Name „Dr. F ritz Gautier" sowie in der Klammer zusätzlich das Wo rt „beide" einzufügen. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 171. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 7. September 1993 14733*

Anlage zum Stenographischen Be richt

Anlage entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Koschnick, Hans SPD 7. 9. 93 entschuldigt bis Kretkowski, Volkmar SPD 7. 9. 93 Abgeordnete(r) einschließlich Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 7. 9. 93 Michels, Meinolf CDU/CSU 7. 9. 93* Bartsch, Holger SPD 7. 9. 93 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 7. 9. 93* Becker (Nienberge), SPD 7. 9. 93 Helmuth Opel, Manfred SPD 7. 9. 93** Pfuhl, Albert SPD 7. 9. 93 Dr. Blunk (Lübeck), F.D.P. 7. 9. 93 Michaela Reuschenbach, Peter W. SPD 7. 9. 93 Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 7. 9. 93 Dr. Riedl (München), CDU/CSU 7. 9. 93 Wolfgang Erich Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 7. 9. 93* Dr. Scheer, Hermann SPD 7. 9. 93* Seiler-Albring, Ursula F.D.P. 7. 9. 93 Clemens, Joachim CDU/CSU 7. 9. 93 Stachowa, Angela PDS/LL 7. 9. 93 Ebert, Eike SPD 7. 9. 93 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 7. 9. 93 Dr. Fischer, Ursula PDS/LL 7. 9. 93 Gert Fischer (Hamburg), Dirk CDU/CSU 7. 9. 93 Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 7. 9. 93 Dr. Gautier, Fritz SPD 7. 9. 93 *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 7. 9. 93 lung des Europarates **für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Jaunich, Horst SPD 7. 9. 93 lung