00_201301_U1-U4.indd 1 Jetzt bestellen: www.blaetter.de/weihnachtsaktion »Blätter«-Paket bestellt – und Sie? Geschafft!

Blätter 1’13 Im Abo 6,15/4,70 € Im Abo6,15/4,70 Einzelheft 9,50 Europa in der Falle Gibt es einen Sinn der Geschichte? € Ernst Engelberg Claus Offe internationale deutsche und Blätter für Politik Susanne Baer Susanne ein Geschlecht? Grundgesetz Hat das Daniel Leisegang Reinhard Blomert, Das Zeitungssterben große Engartner Siegfried Tim und Broß Die RenaissancederKommune Franz Segbers derPolitikDie Armut Florian Bernhardt die Alawiten auf Hass der Bürgerkrieg und Der syrische Micha Brumlik Was wäre eine Religion? gute 1’13 11.12.12 13:02 Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 58. Jahrgang Heft 1/2013

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH

201301_Blätter.indb 1 12.12.12 10:51 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE

1’13 5 Schwarz-Grün: Die zweite Wende Albrecht von Lucke

9 Rettet die Universalbank! Hermannus Pfeiffer

13 Billige Kleidung – und ihr Preis Gisela Burckhardt

17 Von Kairo bis Jerusalem: Nahöstliche Eskalationen Heiko Flottau

21 Kongo: Die ferngesteuerte Rebellion? Patrick Hönig

25 Mali: Das Kartenhaus der Demokratie Charlotte Wiedemann REDAKTION Anne Britt Arps DEBATTE Daniel Leisegang Albrecht von Lucke 29 Der Hunger aus dem Tank Annett Mängel Guido Speckmann

BESTELLSERVICE Kolumne Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] 33 Tod in Galway Naomi Wolf ANZEIGEN Tel: 030 / 3088 - 3646 AUFGESPIESST E-Mail: [email protected] 66 Christliche WEBSITE Homophobie www.blaetter.de Uli Gellermann

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 2 12.12.12 10:51 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

37 Gibt es einen Sinn der Geschichte? Ernst Engelberg

51 Was wäre eine gute Religion? Pluralistisches Glaubensverständnis und säkularer Staat Micha Brumlik

59 »Diese dreckige, ungläubige kleine Sekte« Der syrische Bürgerkrieg und der Hass auf die Alawiten Florian Bernhardt

67 Europa in der Falle Claus Offe

81 Die Armut der Politik Das Menschenrecht auf Nahrung – und der Irrweg der Tafelbewegung Franz Segbers

90 Vom Wasser bis zur Müllabfuhr: Die Renaissance der Kommune Buch des Monats Siegfried Broß und Tim Engartner 119 Krummes Holz und Das große Zeitungssterben aufrechter Gang Wieland Elfferding 97 Die gefährdete Demokratie Reinhard Blomert EXTRAS 100 Die Rückkehr des Journalismus Daniel Leisegang 35 Kurzgefasst 104 Qualitätsheulsusen 124 Dokumente Jan Kursko 125 Chronik des Monats November 2012 107 Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? 128 Zurückgeblättert Gender und Verfassungsrecht 128 Impressum und Susanne Baer Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 3 12.12.12 10:51 201301_Blätter.indb 4

Anzeigen Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013 eugudFriedenspolitik. und wegung Friedensbe- Friedensforschung, für schrift W&F E-Mail: [email protected] ·Homepage:www.wissenschaft-und-frieden.de alsAuslandsabo) Probeexemplare/Bestellungen: € alsFörderabo, 35 € fürStudentInnen,Arbeitsloseetc.,60 € (20 Wissenschaft &Frieden i nbägg Vierteljahreszeit- unabhängige die 2012. 316 Seiten, Seiten, 316 2012. zerstört? selbst sich es verhindern, dass Israel kann Wie lautet: Frage drängende steht. Die heute Israel Herausforderungen zeigt, welchen vor Gorenberg Gershom Historiker – renommierte der Besatzungsmacht repressiven einer Realität Staates der und freien eines Illusion der Fanatismus, und Idealen religiösem demokratischen seinen zwischen Gespalten Hintergründe? alle ich Kenne wissen es die alle, Für rcen irejhlc i ie magvn8-0 etnudkse mJheao3 € erscheint vierteljährlichmiteinemUmfangvon 80-100SeitenundkostetimJahresabo 30 gebunden. gebunden. & eigt.1 31 on•Telefon 2156346 (0170) • Beringstr. 14·53115Bonn • W&F wollen. € € 19,99 o enadMlmn,JrySme,Seo T. Siemon Sommer, Jerry Wulf Herbert Wezeman, Moltmann, Bernhard von Rüstungsexporte Dossier: Bundes- • Inneren. Chimäre? im wehreinsatz gefährliche Zivilisatori- oder Fortschritt Neu: – scher S. Alexander Schutzverantwortung« • Sudan »Internationale gegen EU u.a.: der Matthysen fenembargo Waf- das Ken und Renault – • Zivilfahrzeuge« »Militarisierbare Cyber-Sicherheit? Nils oder Cyber- Ruhmann: Krieg und Ingo • Südafrika in Grebe und Rüstungsindustrie Indien Jan Brasilien, – Staaten • Aufstrebende Schaede: Rüstungsindustrie der Der Zivil- Boom Sköns: Töpfer: Elisabeth Eric • • Sicherheitsforschung Demokratie militärische geteilte der Der Ende – das Sharing und und Krieg Pooling Haydt: der Claudia in • und EU Deutschland in Rüstungslobbyismus und – Rüstungskonzerne Politik Lühmann: Malte Europäi- • der Union MIK schen Der Oikonomou: Iraklis • Rüstungstransfer- kontrollen? für Chance zweite Eine John: Mathias von: Beiträgen Mit F W & 12.12.12 10:51 kommentare und berichte

Albrecht von Lucke Schwarz-Grün: Die zweite Wende

Drei Kanzler der Union1 haben diese auch unter Kohl gab es stets ernsthaf- Republik maßgeblich geprägt: Konrad te Rivalen in der Union. „Kohls Mäd- Adenauer, Helmut Kohl und Angela chen“ ist dagegen völlig unangefoch- Merkel. Doch von allen Dreien ist der ten. Angela Merkel ist die CDU und die Erfolg Angela Merkels mit Sicherheit CDU ist Angela Merkel – eine schier der außergewöhnlichste. Denn anders ungeheuerliche Erfolgsgeschichte, al- als Adenauer und Kohl stammt Merkel lerdings mit erheblichen Risiken und nicht aus dem Herzen der Partei, aus Nebenwirkungen. Denn was wäre ihrer katholisch-westdeutschen Mit- die Union, so man sich Angela Merkel te, sondern als Kind der DDR förmlich wegdächte? Die Partei stünde ohne je- aus der Diaspora, nämlich tief aus dem den ebenbürtigen Nachfolger da. protestantischen Osten. Das begrün- dete von Anfang an ihre Fremdheit in der Partei und ihr Fremdeln mit dieser. Merkels Blässlinge Doch, und das ist das Außerordentli- che: Nach inzwischen zwölf Jahren an Diese personelle Leere wird beson- der Parteispitze und sieben als Kanz- ders deutlich durch den neuen, nun lerin ist Angela Merkel alternativloser fünfköpfigen Parteivorstand: Anstelle als es Konrad Adenauer und Helmut des abgestürzten Hoffnungsträgers Kohl je waren. Norbert Röttgen durfte der blasse Ar- Wie der Nominierungsparteitag An- min Laschet aus Nordrhein-Westfalen fang Dezember demonstrierte, hat An- nachrücken, außerdem der noch blas- gela Merkel ganz im Stile Adenauers sere Thomas Strobl aus dem derangier- ihre Partei zum bloßen Kanzlerinnen- ten Baden-Württemberger Landes- wahlverein degradiert – inklusive verband. Daneben firmiert als letzte eines „kubanischen Wahlergebnisses“ Bastion, aber eher als Türmchen der (Horst Seehofer) von 97,94 Prozent. Konservativen, Volker Bouffier, der Doch als Adenauer im zwölften Jahr Ministerpräsident aus Hessen, und seines CDU-Vorsitzes stand, drängten schließlich als neue junge Hoffnungs- große Teile der Partei auf seine Ablö- trägerin Julia Klöckner, die Opposi- sung (nämlich vor der dann doch noch tionsführerin in Rheinland-Pfalz. Als von ihm bestrittenen und gewonne- einzige potentielle Merkel-Nachfolge- nen Bundestagswahl 1961). Und im rin sticht Ursula von der Leyen hervor, Falle Helmut Kohls war es nur der Fall die aber für ihre Ego-Touren prompt der Berliner Mauer, der ihn vor dem mit dem schlechtesten Ergebnis abge- eigenen schnellen Fall bewahrte und straft wurde. ihm eine dritte und sogar vierte Legis- Der neue Parteivorstand besteht so- laturperiode bescherte. Hier aber zeigt mit fortan aus „Merkels Blässlingen“.2 sich der entscheidende Unterschied Und auch in der Riege der Ministerprä- zu Merkel: Sowohl unter Adenauer als sidenten wird nur David McAllister als potentieller Merkel-Nachfolger gehan- 1 Und drei der SPD: Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. 2 So die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 20.8.2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 5 12.12.12 10:51 6 Kommentare und Berichte

delt. Dafür aber muss er zunächst ein- bliebenen konservativen Kräfte, die mal seine Landtagswahl am kommen- regelmäßig erfolglos aufzubegehren den 20. Januar gewinnen. versuchen. Merkels Strategie ist da- In der Regierung schließlich gelten gegen die der totalen Anpassung. Poli- neben von der Leyen lediglich Tho- tik à la Merkel – das ist die Politik der mas de Maizière und, für den Ernstfall, normativen Kraft des Faktischen. Mer- Wolfgang Schäuble als kanzlertaug- kel macht keine Sachpolitik aus Über- lich. Alle anderen, Merkel nicht abso- zeugung, sondern bloße Machtpolitik. lut ergebenen politischen Großkaliber, Sie marschiert nicht, wie von Strauß von Friedrich Merz bis Roland Koch, einst gefordert, an der Spitze des Fort- wurden sukzessive verdrängt. Anders schritts. Angela Merkel führt von hin- als etwa Helmut Kohl duldet Merkel ten. Sie beobachtet die gesellschaft- keine starke Figuren neben sich. lichen Kräfteverhältnisse und ent- Aber: Angela Merkel hat die Par- scheidet nach Lage der Dinge. Eigene tei nicht nur personell, sondern auch Wertsetzung? Fehlanzeige! Aus Sein inhaltlich entleert und entkernt – wird Sollen, aus Faktizität Geltung. und damit in gewisser Weise den An- Für Merkel gibt es nur ein Prinzip: Die schluss an den Zeitgeist verpasst, ob- CDU, sprich: ich, muss so stark werden, wohl sie diesen Anschluss gerade her- dass keiner gegen mich regieren kann, stellen wollte. Allerdings nicht an den aber alle mit mir regieren wollen. In intellektuellen Zeitgeist, über den die keinem Politikfeld bestimmt die Kanz- Union ohnehin meist nicht verfügte, lerin offensiv die Marschroute – mit sondern an die Stimmung der breiten einer Ausnahme: Europa und die Euro- Mitte, der einfachen Leute im Lande. krise. Seit Beginn der Republik 1949 ver- körperte die Union den gesellschaft- lichen Status quo stets weit mehr als Partei ohne geistigen Schatten die SPD. Konrad Adenauer und Hel- mut Kohl standen für die in der alten Von dem konservativen Publizisten Bundesrepublik fast naturwüchsig do- Rüdiger Altmann stammt der Vorwurf minante rechte Mitte. Die Stärke der an Konrad Adenauer, die Bundesrepu- Union – als Sammlungsbewegung und blik sei unter seiner Ägide „ein Staat Volkspartei – bestand gerade darin, ohne geistigen Schatten“, ohne Tiefe den verschiedenen Milieus eine geis- und Werthaltigkeit, geworden.3 Heute tige politische Heimat zu bieten. Da- ist die einstige Staatspartei CDU zwei- durch ruhte die Partei in sich. fellos eine Partei ohne geistigen Schat- Dass diese tiefe mentale Veror- ten. Doch der Vorwurf prallt an Angela tung heute fehlt, ist der Grund für die Merkel völlig ab. Denn ihr Projekt be- gegenwärtige Labilität der Union, trotz steht nicht darin, einen geistig-politi- der enormen Machtfülle Angela Mer- schen Horizont zu eröffnen, sondern kels. Auch wenn sich heute 65 Pro- in der Herstellung von Anschlussfä- zent der Deutschen laut ARD-Deutsch- higkeit. Und die Wähler, so scheint es, landtrend „bei der jetzigen Regierung danken ihr diese Enthaltsamkeit – was in guten Händen fühlen“, verkörpert vor allem an der fehlenden inhaltli- Merkel anders als Kohl und Adenauer chen Regierungsalternative auf der nicht länger einen gewachsenen Zu- Linken liegt.4 Noch immer kann, trotz sammenhang, sind die alten tragen- der ausnahmsweise gelungenen Par- den Milieus und Lager weitgehend teitagsinthronisation Peer Steinbrücks, erodiert. Was der Union damit ersicht- lich fehlt, ist die inhaltlich, ja weltan- 3 Rüdiger Altmann, Das Erbe Adenauers. Eine Bi- lanz, München 1963, S. 23. schaulich verbindende Komponente. 4 Vgl. Albrecht von Lucke, Peer Steinbrück und Das genau spüren jene wenigen ver- die Nulloption, in: „Blätter“, 11/2012, S. 5-10.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 6 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 7

von Wechselstimmung im Lande keine historischen Figur: Mit drei verschie- Re sein. Mehr noch: Verglichen mit denen Parteien zu koalieren, das hat der kalten, machohaften Schnoddrig- nicht einmal der Großmeister der Fle- keitde des SPD-Kandidaten erscheint xibilität namens Hans-Dietrich Gen- sogar die kühl analysierende Physike- scher vollbracht. rin Merkel wie eine wärmespendende Für Angela Merkel dürfte Schwarz- Kümmererin. Grün auch noch aus einem anderen In einem Prozess der sanften An- Grund die reizvollere Herausforderung ähnelung an ihre politischen Geg- sein. Dass die Union heute über keine ner übernimmt Merkel deren Stand- kulturelle Hegemonie mehr im Lande punkte: vom Atomausstieg bis zur So- verfügt, und speziell nicht in den Groß- lidarrente, von der Energiewende bis städten, liegt weniger an der Sozialde- zum Mindestlohn. Diese Strategie der mokratie. Diese hat seit dem Ende der feindlichen Übernahme hat zweier- Ära Schröder mit sich selbst genug zu lei Konsequenz: erstens die faktische tun. Dagegen reklamieren die Grünen Aufweichung alles Konservativen in heute jenen wertkonservativen Cha- der CDU, deren konservativer Marken- rakter für sich, den die Merkel-Union kern bis zur Unkenntlichkeit verwäs- aufgegeben hat. Der gewaltige Res- sert wird – und zweitens, ganz im Sin- pekt der Union vor der grünen Kon- ne Merkels, die Aufweichung der eins- kurrenz zeigte sich vor allem in den tigen Lagergrenzen. wüsten Attacken von Fraktionschef Volker Kauder nach der Nominierung von Katrin Göring-Eckardt.6 Tatsäch- Die Aufweichung der Lager lich erscheint die neue Spitzenkandi- und die grüne Herausforderung datin wie eine Angela Merkel in Grün: weiblich und ostdeutsch, kühl und pro- Denn genau das verlangt nach Mer- testantisch, und obendrein auch nicht kels Kalkül die Lage in diesem Wahl- gerade positionsfest, sondern durchaus jahr. Zum einen dürfte angesichts der wetterwendisch – wenn man an ihr an- historischen Schwäche der FDP eine fängliches vehementes Eintreten für schwarz-gelbe Koalition ausscheiden. Hartz IV denkt, inklusive späterer Dis- Zum anderen aber spricht nach wie vor tanzierung. wenig für Rot-Grün – so es nicht durch Die Grünen, deutlich gealtert, sind den Ausgang der Niedersachsenwahl heute längst auch wieder von ihrer so- auch als politisches Projekt auf Bun- zialen Lage her eine zutiefst bürgerli- desebene eine entscheidende Revitali- che Partei – beruflich etabliert, besser sierung erfährt. Doch dafür gibt es bis- oder gar bestens verdienend, sprich: her kaum Anzeichen.5 die ökologische FDP. Kurzum: Die Grü- Daher kommen für die Bundestags- nen sind längst selbst Establishment. wahl eigentlich nur zwei Konstellatio- Wie klagte noch der unterlegene CDU- nen ernsthaft in Betracht: die Große Spitzenkandidat in Stuttgart, Sebas- Koalition oder Schwarz-Grün. tian Turner: „Wen treffe ich bei Rotary Merkel kann zweifellos mit Beidem und Lions? !“7 leben. Die SPD hat sie bereits von 2005 Dass die Grünen faktisch die neue bis 2009 in Grund und Boden regiert. Partei der Besserverdienenden sind, Und zu den Grünen hat sie mit dem zeigt sich auch daran, dass ihre Betei- Atomausstieg die erforderliche Brücke ligung an Hartz IV und der Agenda längst gebaut. Außerdem würde sie 2010 in ihren Reihen bis heute nicht an- mit Schwarz-Grün endgültig zu einer nähernd denselben Sprengstoff entfal-

5 Der SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil ist 6 „Die Grünen verströmen kleinbürgerlichen in seiner zurückhaltenden Art auch eher das Mief“, in: SZ, 1.12.2012. Gegenteil des hochfahrenden Peer Steinbrück. 7 Vgl. SZ, 26.10.2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 7 12.12.12 10:51 8 Kommentare und Berichte

ten wie in der SPD. Insofern hat es stets SPD unter Helmut Schmidt zurück an auch etwas Unehrliches, sich in Ab- die Seite der CDU unter Helmut Kohl. grenzung von der Union als die besse- Die Folge war die Spaltung der Libera- ren, die sozialeren Bürger zu gerieren. len. Der einst bedeutende linkslibera- Im Gegenteil, um mit Willy Brandt zu le Flügel, von Ingrid Matthäus-Maier sprechen: Mit Schwarz-Grün wächst bis Günter Verheugen, ging zur SPD, zusammen, was materiell längst zu- und die Jungdemokraten als bisheri- sammengehört. Und dank der Entlee- ge FDP-Jugendorganisation machten rung Angela Merkels verfügen Grüne sich selbstständig. Die Partei übernah- und Schwarze heute über erhebliche men die Möllemanns, Gerhardts und Schnittmengen. Einerseits politisch, Brüderles, und in den neugegründe- siehe Energiewende, andererseits – ten Jungliberalen begann der Durch- und vor allem – habituell. Seit Jahren marsch des Guido Westerwelle. wird daher bereits über das schwarz- Schwarz-Grün – das wäre die Ber- grüne Experiment gesprochen; spe- liner Wende. Sie zöge mit Sicherheit ziell die ökolibertären Grünen im Sü- Abspaltungen innerhalb der Grünen den des Landes plädieren schon lange nach sich. Denn in Teilen der Parteiba- dafür – vom „Ernst Teufel der Grünen“, sis wie auch der Wählerschaft gilt die , bis zum „ana- Union immer noch als politischer Beel- tolischen Schwaben“, Cem Özdemir. zebub. Die Parteispitze dagegen sehnt Und all jene, die jetzt mit großer ab- sich schon lange nach einem Ausweg wehrender Geste „Grün oder Merkel“ aus der babylonischen Gefangen- rufen, wie etwa Göring-Eckardt und schaft durch die SPD – mit Hilfe einer Renate Künast, sind seit Jahren Pro- schwarz-grünen Koalitionsoption. pagandistinnen einer neuen schwarz- Das Land ginge dadurch gewiss grünen Bürgerlichkeit. nicht unter. Ob Schwarz-Grün oder Tatsächlich war das schwarz-grüne Große Koalition: Womit wir es in bei- Experiment längst geplant – allerdings den Fällen zu tun bekämen, sind bloß erst für die Zeit nach 2013. Dann woll- verschiedene Variationen einer Politik ten die Neo-Bürgerlichen um den Tü- der Mitte. Die schwarz-grüne Koali- binger Bürgermeister das tion hätte immerhin zwei entscheiden- Ruder von der rot-grünen Fraktion um de Vorteile: Sie nähme die Grünen in Jürgen Trittin und über- die Pflicht, ein Stück ökologische Be- nehmen. Der Wechsel hin zu Schwarz- wegung in Merkels Status-quo-Politik Grün wäre bloß eine Frage der Zeit ge- zu bringen. Und in der Opposition gä- wesen. Doch nun kam ihnen die über- be es mit SPD und Linkspartei mit Si- raschende Wahl Göring-Eckardts, wie cherheit ein starkes linkes Korrektiv, auch die desolate Lage der SPD, zu- das die Grünen vor allzu großer sozia- vor. Jetzt aber zieren sich die schwar- ler Vergesslichkeit bewahren würde. zen Grünen – aus Angst vor der eige- Das aber ist heute mehr denn je erfor- nen Courage. Denn tatsächlich gibt es derlich. Denn die bürgerliche Mitte ist für das Zögern einen entscheidenden heute viel zu sehr mit den eigenen Ab- Grund: Mit Schwarz-Grün stehen die stiegsängsten beschäftigt, als dass sie Grünen vor der zweiten „Wende“ in sich noch allzu solidarisch verhielte. der Geschichte der Bundesrepublik – Deshalb, liebe Grüne, macht Euch und der ersten in Berlin. ehrlich – und schenkt dem Wähler Die erste Wende8, wie es alsbald schon vor der Wahl reinen Wein ein. hieß, vollzog vor dreißig Jahren die Denn nach der Wahl, so es nicht zu Rot- FDP, nämlich aus der Koalition mit der Grün reicht, kommt die Debatte sowie- so. Dafür, soviel steht fest, werden die 8 Im Oktober 1989 wurde der Begriff der Wende auch vom letzten SED-Chef Krenz verwandt, um starken schwarz-grünen Sympathisan- die friedliche Revolution staatlich einzuhegen. ten in den Medien schon sorgen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 8 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 9

Hermannus Pfeiffer Rettet die Universalbank!

Kaum ein Projekt in der Europäischen Solche Fragen werden sich die Macher Union ist derzeit so umkämpft wie die der neuen Bankenunion stellen müs- vereinbarte Bankenunion. Nach dem sen. Denn auch in den Wirtschafts- Willen der französischen Regierung wissenschaften wird die Forderung sollte sie bereits am 1. Januar 2013 in nach Trennbanken erhoben, etwa von der Eurozone formal starten; nach dem Rudolf Hickel.2 Sogar in Industriekrei- Willen der Bundesregierung wird sich sen wird die Trennung des „normalen“ der Aufbau der dafür nötigen Institutio- Bankgeschäfts vom Investmentban- nen dagegen mindestens über das gan- king gefordert, und selbst der Boss des ze Jahr 2013 hinziehen. Die Banken- weltgrößten Rückversicherers Munich union wird allerdings nur zwei der drei Re, Nikolaus von Bomhard, stimmt in von der EU-Kommission vorgeschlage- den Chor mit ein. Kurzum: Die Zer- nen Elemente enthalten: die Abwick- schlagung der Banken ist derzeit hoch lung von Pleitebanken und die einheit- populär. So verquer populär, dass so- liche Bankenaufsicht. Letzteres soll die gar (ehemalige) Chefs von Großban- Europäische Zentralbank überneh- ken wie Credit Lyonnais, Barclays oder men. Dagegen dürfte die Idee einer ge- Morgan Stanley für eine Aufspaltung meinsamen Einlagensicherung nicht in Privatkundengeschäft und Invest- verwirklicht werden. mentbanking plädieren. Offen bleibt auch, zu welchen struk- Gewiss, auf den ersten und auch turellen Reformen der Banken und des noch auf den zweiten Blick erscheint Bankensystems es kommen wird. So die Trennung von soliden Sparern hatte der frisch gekürte SPD-Kanz- und wilden Zockern vielverspre- lerkandidat Peer Steinbrück seinen chend. Doch bei genauerem Hinschau- Wahlkampf mit einer Attacke auf die en überwiegen die guten Gründe, am Großbanken gestartet. In einem 30sei- Universalbankensystem festzuhalten. tigen Positionspapier1 fordert der Ex- Finanzminister die Auflösung der Uni- versalbank. Für die Deutsche Bank Die Universalbank als wäre dies das Ende ihres Geschäfts- urdeutsches Phänomen modells. Vier Fünftel der Gewinne der Deutschen Bank stammen derzeit aus Historisch betrachtet ist die Univer- dem Investmentbanking. Was aber salbank ein geradezu urdeutsches wird aus der aktuellen Nummer eins in Phänomen. Den Banken zwischen Kö- Europa, wenn diese Milliardengewin- nigsberg und Füssen war von Anfang ne wegfielen, weil sie sich als Trenn- an die gesamte Palette der Finanz- bank ganz auf ihr Massengeschäft mit geschäfte erlaubt, vom Darlehen an kleinen Postbankkonten und margen- Handwerker und Gewerbebetriebe schwachen Mittelstandskrediten kon- über Spekulation auf eigene und frem- zentrieren müsste? de Rechnung an der Börse bis hin zum Versicherungs- und Industriegeschäft 1 Peer Steinbrück, Vertrauen zurückgewinnen: Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanz- 2 Rudolf Hickel, Zerschlagt die Banken, Berlin märkte, SPD-Bundestagsfraktion, September 2012; ders., Schöpferische Zerstörung, in: „Blät- 2012. ter“, 3/2012, S. 65-76.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 9 12.12.12 10:51 10 Kommentare und Berichte

– personelle Verflechtungen inklusive. hoben wurde, haben sich einige Ge- Die Sonnen, um welche die Aktivitäten schäftsbanken im Investmentbanking dieser Universalbanken kreisten, wa- versucht (und umgekehrt). Faktisch ren aber lange allein die Spareinlagen blieb das Trennbankensystem aber aus der Kunden und das Kreditgeschäft mit historischen und kulturellen Gründen der Wirtschaft. weitgehend erhalten. Selbstverständ- Heute, in einer viel komplexer ge- lich gibt es auch im angelsächsischen wordenen Weltwirtschaft, gehören Sprachraum „Merchant Banks“, Ge- zu einer „guten“ Universalbank auch schäftsbanken, die etwa Exportge- noch das an die Realwirtschaft gekop- schäfte finanzieren. Aber die relative pelte Investmentbanking und ein ent- Exportschwäche der nordamerikani- sprechendes „spekulatives“ Derivate- schen Wirtschaft und die Deindus- geschäft. Wenn beispielsweise einer trialisierung Großbritanniens hat auch der unzähligen in Deutschland ange- im historisch-kulturell verankerten siedelten Hidden-Champions, jener Trennbankensystem der Briten und unbekannten mittelgroßen Weltmarkt- Amerikaner seine Ursache. führer, seine Tabakverarbeitungsma- Im deutschen Universalbankensys- schinen, Achterbahnen oder Rolltrep- tem werden die Risiken dagegen breit pen exportiert, hängen daran jeweils gestreut, nämlich nach Region, Kun- mindestens ein halbes Dutzend Fi- dengruppen und Geschäftssparten. nanzdienstleistungen – von der Kre- Dies führt dazu, dass etwa die Asien- ditversicherung über Exportkredite krise 1997/1998 oder der Börsencrash bis zu Währungsderivaten, mit denen der neuen Dotcom-Wirtschaft im März man sich gegen einen Eurokursverfall 2000, aber auch die aktuelle Große finanziell absichert. (Banken-)Krise, in Deutschland weni- Anders im angelsächsischen Sprach- ger heftig wütet als in den angelsächsi- raum: Britische und US-amerikanische schen Ländern. Und wo sie es doch tut, Banken konzentrierten sich traditio- handelt es sich bei den „Opfern“ um nell auf die Finanzierung von Unter- öffentliche Landesbanken, die von der nehmen durch Aktien, setzen also vor- Gier der Politiker nach üppigen Divi- nehmlich auf Börsen und Investment- denden für ihre Staatshaushalte an den banking. Nach den Erfahrungen der Abgrund getrieben wurden – oder um Weltwirtschaftskrise wurde im Jahr spezialisierte „Trennbanken“ wie die 1933 mit dem Glass-Steagall-Act den Hypo Real Estate (HRE). Diese war erst Geschäftsbanken verboten, gleichzei- 2003 als explizite Bad-Bank für meh- tig Spargelder anzusammeln und die- rere Hypothekenbanken gebildet wor- se an Haushalte, Firmen oder Finanz- den, die sich mit Immobiliendeals in dienstleister zu verleihen sowie Wert- Schwierigkeiten gebracht hatten. papiere zu erwerben oder mit ihnen zu Nichts ist im Bankgeschäft aber handeln. Aktienkauf war genauso ver- eigentlich seriöser zu kalkulieren als boten wie der Erwerb von Unterneh- Immobilien und nichts ist „konservati- mensanleihen. Fortan herrschte in den ver“ als der klassische Kredit. Wer je- USA für mehr als ein halbes Jahrhun- doch wie Peer Steinbrück mit Scheu- dert ein Bankensystem, das Geschäfts- klappenblick allein auf das Invest- banken (Kredit) und Investmentban- mentbanking schaut, übersieht die ken (Aktien) strikt trennte, normale eigentlichen Risikobaustellen: Das Banken von Industrie und Versiche- auch von Steinbrück übersehene Ri- rungen fernhielt und Finanzinstitu- siko namens HRE kostete den staatli- te sogar auf bestimmte Regionen ein- chen Finanzmarktstabilisierungsfonds grenzte. Soffin rund 130 Milliarden für Garan- Erst als der Glass-Steagall-Act im tien und direkte Hilfen. Erst 2009 wur- Jahre 1999 unter Bill Clinton aufge- de die HRE schließlich verstaatlicht.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 10 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 11

Gegen eine Handvoll derartiger Plei- der Finanzkrise sind nicht geldgeile tebanken stehen jedoch bundesweit Boni-Banker oder eine falsche Bank- an die 2000 Universalbanken, die gut organisation, sondern die in der Ge- durch die Krise kamen, weil ihr Ge- sellschaft wachsende Kluft zwischen schäftsmodell seriös ist und sie im Gro- Arm und Reich sowie der damit zu- ßen und Ganzen der Realwirtschaft sammenhängende Überschuss an va- nützen. Die meisten davon übrigens gabundierendem Geldkapital.3 öffentliche Sparkassen und genossen- Ein Teil des „überflüssigen“ Geld- schaftliche Volks- und Raiffeisenban- kapitals giert stets nach höchsten Ren- ken: Diese wehren sich nun mit guten diten – ganz egal ob in einer Universal- Gründen dagegen, mit Zockern und oder Trennbankenwelt. Doch exorbi- privaten Großbanken in einen gemein- tante Renditen sind nun mal nicht ohne samen Topf namens Bankenunion ge- ein exorbitantes Risiko zu haben. Nicht worfen zu werden. primär das Geschäftsmodell und nicht einmal die reine Größe einer Bank ma- chen daher ein Institut besonders kri- Trennbanken: Spekulation auf senanfällig, sondern die Neigung, be- Kosten der Realwirtschaft sonders hohe Risiken einzugehen. In- sofern ist die von Steinbrück beflügelte Im Gegensatz zur „deutschen“ Uni- Diskussion um eine formale Zerschla- versalbank setzt die angelsächsische gung der Deutschen Bank bloß ein Investmentbank alles auf die Karte wahltaktischer Scheinriese, der sich „Spekulation“. Geht sie auf, locken ex- bei näherer Betrachtung als politisch- orbitante Profite, geht sie schief, droht strategischer Zwerg entpuppt. In Euro- eine Pleite wie bei der schon legendä- pa schreibt die Finanzaufsicht nämlich ren US-Investmentbank Lehman Bro- ohnehin eine interne Risikotrennung thers. Diese musste bekanntlich am vor (wobei man selbst bei den Mindest- bisherigen Tiefpunkt der Finanzkrise, anforderungen an das Risikomanage- nämlich am 15. September 2008, Insol- ment auch fünf Jahre nach Ausbruch venz anmelden. der Krise immer noch nachjustiert). Lehman Brothers und HRE sind nur Eine Trennung von Geschäftsbank und die populärsten Beispiele für geschei- Investmentbanking lässt sich durchaus terte Trennbanken. Daneben stürz- innerhalb eines Konzerns bewerkstel- ten jedoch auch Trennbanken, die sich ligen, bis hin zu einer möglichen Teil- nicht auf Investmentbanking oder Im- Insolvenz der Zockerabteilungen oder mobilien stützten, sondern ganz auf das der nur scheinbar grundsoliden Immo- klassische Kreditgeschäft, wie etwa bilienabteilung. Mehr als dies dürfte Northern Rock, die spanische Cajas Steinbrück letztlich ohnehin nicht vor- oder die deutsche IKB. schweben. Global betrachtet sind näm- Das deutsche Universalbankensys- lich sowieso nur einige wenige Dut- tem hat dagegen eine „strukturell nied- zend Banken, Fondsgesellschaften rigere Profitabilität“, wie Banker gerne und Versicherer (wie etwa die Allianz) beklagen, bietet aber eine größere Kri- wirklich systemrelevant, weil sie glo- senfestigkeit. Wenn der SPD-Kanzler- bale Krisen auslösen und die Politik kandidat Steinbrück nun mit dem The- lange vor sich herjagen konnten und ma Bankenregulierung um die Wähle- können.4 rinnen und Wähler wirbt, mag er den Steuerzahler vor Verlusten aus exzes- 3 Vgl. dazu Hermannus Pfeiffer, Der profitable siven Geschäften schützen wollen. Irrsinn – Was auf den Finanzmärkten geschieht Weit schwerer wiegt aber die Stabili- und wer dabei gewinnt, Berlin 2012. 4 Vgl. Internationaler Finanzstabilitätsrat (FSB), tät von Volkswirtschaft und Weltwirt- Update of group of global systemically impor- schaft. Denn die eigentlichen Gründe tant banks (G-SIBs), Basel, November 2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 11 12.12.12 10:51 12 Kommentare und Berichte

Ergiebiger und auch politisch eher um- für sein im Auftrag der Europäischen setzbar als eine Trennbanken-Reform Kommission erstelltes Konzept7 sogar wäre daher zunächst ein „Demokra- von Finance Watch gelobt wurde. Die tischer Markt“, der ganz gezielt die von Liikanen geforderte tiefgreifende Chance zum Zocken im Finanzsystem Bankenstrukturreform würde Wachs- unterbindet. So könnte beispielswei- tum und Finanzstabilität in der EU för- se eine europäische Steuerunion – im dern. Ohne dergleichen könnten sich Gegensatz zur heutigen – die die EU-Pläne für eine Bankenunion realwirtschaftlichen Bankgeschäfte an- dagegen sogar als „kontraproduktiv“ stelle der finanzmarktorientierten fis- erweisen.8 Im schlimmsten Fall könn- kalisch begünstigen. Das wäre ein Sta- ten die Strukturreformen nicht nur die bilitätsanker mit sogar angenehmem defekten Banken, sondern auch die in- Nebennutzen für die Volkswirtschaft.5 takte Bankszene zerschlagen. Gleichzeitig bleibt die derzeitige re- lative Ruhe auf den globalen Finanz- Die bessere Alternative: märkten ausgesprochen trügerisch, Mehr Eigenkapital durch „Basel III“ wie der Internationale Finanzstabili- tätsrat unlängst feststellte. Politisch Was in der Öffentlichkeit dagegen nur weit wirksamer – und auch machbar – ungenügend zur Kenntnis genom- wäre daher ein sogenanntes Leverage men wird: An der Regulierungsfront Ratio, das die Hebelwirkung des Kapi- wartet erfreulicherweise nicht allein tals entscheidend einschränkt. die Bankenunion. Mit „Basel III“ soll- So bewegt die Deutsche Bank heu- ten ab 2013 neue Normen die Banken te mit einem Eigenkapital von nicht zwingen, riskante Geschäfte mit mehr einmal 60 Mrd. Euro ein Geschäftsvo- Eigenkapital zu hinterlegen. Doch vie- lumen von rund 2200 Mrd. Euro. Ihre le Euroländer haben die Regeln noch Bilanz entspricht etwa dem Brutto- immer nicht in nationales Recht um- inlandsprodukt der Bundesrepublik gesetzt. Die USA drohen gar mit Ver- – und ist damit entschieden zu groß! weigerung wie schon bei „Basel II“. Im Nach Modellrechnungen des DIW mit Gegenzug sorgen sich Europas Geldgi- einem verkürzten Hebel müsste die ganten um ihre globale Wettbewerbs- Deutsche Bank ihr Geschäft halbieren, fähigkeit, wenn Amerikas Banken mit um gesellschaftsverträglich zu sein.9 weniger eigenem Geld wieder ein grö- Dabei geht es nicht um small is beau- ßeres Zocker-Rad drehen könnten als tiful, sondern – und das ist neu und ge- man selbst. radezu revolutionär – um die Größe des Steinbrück setzt immerhin nicht al- Bankgeschäfts im Verhältnis zu Wirt- lein auf Trennbanken, sondern will schaft und Staat. auch „Basel III“ forcieren. Insgesamt Die Ironie der Geschichte: Ausge- hat sein Konzept sogar den „Charme rechnet am Finanzplatz Schweiz hat des Umfänglichen“, neigt damit aber die Politik daraus inzwischen die rich- auch zu einer gewissen Beliebigkeit. tige Schlussfolgerung gezogen und Andererseits kann er damit an bereits den Hebel ihrer Banken massiv ver- vorhandene Konzepte andocken, et- ringert. wa des Finanzexperten der Linkspar- tei Axel Troost6 oder des finnischen Notenbankchefs Erkki Liikanen, der 7 European Commission, High-level Expert Group on reforming the structure of the EU banking sector – Final Report, Brüssel, Oktober 5 Ausführlicher zum Demokratischen Markt: 2012. Hermannus Pfeiffer, ebd., S. 233-240. 8 Finance Watch, Pressemitteilung, 14.11. 2012. 6 Axel Troost, Demokratisierung des Finanzsek- 9 Dorothea Schäfer, Banken: Leverage Ratio tors: Gangbare Wege – konkrete Akteure, in: ist das bessere Risikomaß, in: „DIW-Wochen- „Sozialismus“, 3/2012, S. 24-28. bericht“, 46/2011, S. 11-17.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 12 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 13

Gisela Burckhardt Billige Kleidung – und ihr Preis

Nur wenige Tage lang erhielten die die Zulieferer unter enormen Druck, katastrophalen Bedingungen, unter den diese wiederum an die Beschäftig- denen in Indien, China oder Bangla- ten weitergeben. Letztlich also werden desch Kleidung für die Industrieländer die niedrigen Preise bei uns auf Kos- hergestellt wird, die ihnen gebühren- ten der Arbeiterinnen und Arbeiter in de mediale Aufmerksamkeit. In einer Asien und Osteuropa erzielt. Nähfabrik in Bangladesch, die auch Für Bangladesch ist die Beklei- für die deutschen Firmen C&A und dungsindustrie der größte Devisen- KiK produzierte, kamen Ende Novem- bringer, rund 78 Prozent seiner Export- ber bei einem Brand mehr als hundert erlöse stammen aus diesem Bereich. Frauen ums Leben. Bei einem ähnli- Seit 1990 hat sich der Sektor stark ent- chen Vorfall waren nur wenige Monate wickelt.1 Inzwischen hat das Land so- zuvor 259 Näherinnen in Pakistan zu gar Indien als (nach China) zweitgröß- Tode gekommen. ten Strickwarenexporteur der Welt Derartige Unglücke sind bei wei- überholt. Selbst wenn dort die Min- tem keine Einzelfälle: Laut Angaben destlöhne angehoben würden – was der Regierung Bangladeschs starben dringend nötig ist –, bliebe es immer in den Jahren 2006 bis 2009 insgesamt noch mit Abstand das Land mit den 414 Näherinnen durch Brände, seitdem niedrigsten Löhnen in der Beklei- sind mehr als hundert weitere Tote zu dungsindustrie weltweit: Im Schnitt beklagen. Grund für die große Zahl an verdienen die gelernten Näherinnen Bränden und die vielen Toten in Ban- nicht mehr als rund 40 bis 50 Euro im gladeschs Textilfabriken ist die laxe Monat, eine ungelernte Arbeitskraft Handhabung von Sicherheitsvorschrif- nur 30 Euro, während der eigentlich ten durch die Fabrikbesitzer: Elektro- notwendige Basislohn zur Befriedi- kabel hängen frei im Raum, Notaus- gung der Grundbedürfnisse bei rund gänge sind verschlossen, Fluchtwege 116 Euro liegt, wie Berechnungen der versperrt, Feuerlöscher fehlen. Doch Asia Floor Wage Campaign zeigen.2 die Missachtung elementarer Brand- schutzvorkehrungen in den Nähfabri- ken ist nur die Spitze des Eisbergs: Die Unvorstellbare für westliche Verbraucherinnen und Ausbeutungsverhältnisse Verbraucher schuftenden Frauen sind extrem schlecht bezahlt und verfügen Die Bekleidungsindustrie in Bangla- über keinerlei arbeits- und sozialrecht- desch beschäftigt in ihren rund 5000 liche Sicherheiten wie Arbeitsverträge, Fabriken gut 3,6 Millionen Menschen, Krankenversicherung, Rente, Mutter- etwa 87 Prozent davon sind junge Frau- schutz oder Urlaubsansprüche. en, zumeist aus ländlichen Gebieten. Die Schuld an dieser dramatischen Aufgrund geringer Schulbildung und Situation tragen vor allem der Einzel- handel und große Markenfirmen: Mit 1 Vgl. Mc Kinsey, Bangladesh’s ready-made gar- ihrer Marktmacht können die großen ments landscape: The challenge of growth, Frankfurt 2011, www.mckinsey.de. Handelshäuser Einkaufspreise und 2 Vgl. www.asiafloorwage.org/asiafloorwage- Lieferzeiten diktieren. Damit setzen sie media.htm.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 13 12.12.12 10:51 14 Kommentare und Berichte

des Arbeitsplatzmangels auf dem Land schimpft, aus Scham reden die Frauen sind viele Frauen gezwungen, in die jedoch kaum darüber. Städte zu ziehen und sich dort zu ver- Der Arbeitsdruck ist so hoch, dass dingen. Die Bekleidungsindustrie bie- Frauen über 30 Jahre den Arbeitgebern tet für sie oft die einzige Möglichkeit, bereits als zu alt gelten, um ihm stand- ein Einkommen zu erzielen. Mit die- halten zu können. Doch auch unter sem unterstützen viele ihre Eltern und den jungen Arbeiterinnen sind er- ernähren ihre Kinder sowie ihre oft- schöpfungsbedingte Krankheiten weit mals arbeitslosen Ehemänner. verbreitet. Im Mai 2009 wurde aufge- Dabei sind sie miserablen Arbeits- deckt, dass in einer Fabrik, die auch bedingungen ausgesetzt: Eine Be- für das deutsche Unternehmen Metro fragung von 162 Arbeiterinnen und produziert, eine 18jährige Frau aus Er- Arbeitern aus zehn Bekleidungsfabri- schöpfung starb. Die Fabrikmanager ken, die Aldi, Lidl und KiK beliefern, ließen die Näherinnen sieben Tage förderte zutage, dass mehr als 40 Pro- und bis zu 97 Stunden pro Woche zent der Befragten mehr als 45 Über- arbeiten, die von der Frau beantragte stunden im Monat leisten. Krankschreibung verwehrten sie ihr. Zusätzlich machen 21 Prozent wei- Dabei werden Krankheitskosten oh- tere 60 bis 100 Überstunden im Mo- nehin nur in seltenen Fällen erstattet, nat, um einen das Überleben ihrer Fa- eine Sozialversicherung steht oft nur milien annähernd sichernden Lohn zu auf dem Papier. erzielen. Alle werden nach einem täg- Auch kommt es immer wieder zu lich vorgegebenen Produktionsziel be- Fehlgeburten, weil schwangere Frau- zahlt. Dieses ist jedoch so unrealistisch en keinen Schutz erhalten: Viele müs- hoch, dass es die Näherinnen an einem sen auch im schwangeren Zustand normalen Arbeitstag von acht Stun- stehend arbeiten, zusätzliche Pausen den unmöglich erreichen können. Auf- für stillende Mütter gibt es nicht. Ver- grund des enormen Arbeitsvolumens suchen die Frauen, sich zu vernetzen, verlassen viele Befragten die Fabrik werden sie meist umgehend entlas- erst zwischen 20 und 22 Uhr, nach 12 sen, weshalb nur ein kleiner Teil der bis 14 Stunden Arbeit. Näherinnen gewerkschaftlich organi- Viele brauchen dann noch eine siert ist. Die Angst, die Arbeit zu ver- Stunde für den Weg nach Hause, wo lieren, ist zu groß. Zudem bleibt ihnen sie zusätzlich die Hausarbeit verrich- aufgrund des hohen Arbeitsvolumens ten. Überdies machen fast 90 Prozent kaum Zeit für gewerkschaftliche Tä- der befragten Frauen Nachtschich- tigkeiten. Trotz dieser schwierigen ten, etwa wenn die Verschiffung von Bedingungen sind die Gewerkschaf- Waren ansteht. Sie arbeiten dann bis ten sehr aktiv und organisieren Sit-ins Mitternacht ohne Unterbrechung und und Streiks. Sie sind allerdings in viele ohne Essen. Viele schlafen auf dem Gruppen zersplittert, was ihre Schlag- nackten Boden in der Fabrik, weil sie kraft deutlich schwächt. sich fürchten, sich nachts allein auf den Zudem ist die gewerkschaftliche Heimweg zu machen. Arbeit sehr gefährlich: Im Juni 2009 Weigern sie sich, Überstunden oder wurden bei Zusammenstößen zwi- Nachtschichten zu machen, werden schen der Polizei und streikenden Tex- die Arbeiterinnen bestraft – etwa in- tilarbeiterinnen zwei Menschen getö- dem ihnen der Lohn gekürzt, der tet, als die Sicherheitskräfte mit Trä- Urlaub oder die Krankschreibung ver- nengas und Gummigeschossen gegen weigert wird. Einige Näherinnen müs- die Teilnehmerinnen einer Protest- sen zur Bestrafung sogar „in der Ecke kundgebung vorgingen, die sich gegen stehen“. Häufig werden sie überdies Lohnkürzungen richtete. Nur ein Jahr sexuell belästigt, gedemütigt und be- später, im Sommer 2010, kam es auf-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 14 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 15

grund der niedrigen Löhne erneut zu ren reden dürfen, oder aber, dass den zahlreichen Unruhen. Die Regierung Arbeiterinnen unter Androhung einer erhöhte schließlich den Mindestlohn Kündigung verboten wird, die Wahr- auf 30 Euro – die Gewerkschaften hat- heit zu sagen. Üblich ist auch die mas- ten 50 Euro gefordert. Im Mai 2012 ver- sive Fälschung von Lohnunterlagen. langten sie sogar subventionierte Nah- Die Fabrikkontrollen geben zudem nur rungsmittel für die Näherinnen (Reis, eine Momentaufnahme wieder: Am Linsen, Weizen, Speiseöl, Zucker), nächsten Tag, wenn die Kontrolleure denn die Löhne reichen nicht mehr weg sind, sieht die Fabrik schon wieder aus, um die stetig steigenden Lebens- anders aus. Trotz tausender Fabrikkon- mittelpreise zu bezahlen. trollen haben sich die Arbeitsbedin- gungen in den globalen Zulieferketten daher nicht verbessert. Damit sich an Recht ohne Wirkung den Produktionsbedingungen in der Modeindustrie tatsächlich etwas än- Dabei enthält die geltende Rechtsord- dert, ist daher Druck auf die Auftrag- nung in Bangladesch bereits eine Viel- geber im globalen Norden notwendig. zahl von Schutzmaßnahmen: Das Land Denn sie sind es, die von den niedrigen hat sieben der acht Kernarbeitsnormen Herstellungskosten in erster Linie pro- der Internationalen Arbeitsorganisa- fitieren und so überhaupt erst zu deren tion (ILO) ratifiziert, ebenso die drei Entstehen beitragen. Dennoch können wichtigsten internationalen Men- sie für die Arbeitsrechtsverstöße ihrer schenrechtsabkommen mit arbeits- Zulieferer bislang juristisch kaum be- rechtlichen Bezügen. Seit dem Erlass langt werden, denn eine extraterri- des nationalen Arbeitsgesetzes im Jahr toriale Rechtsprechung gibt es nicht. 2006 hat sich der Arbeitnehmerschutz Unternehmen können zwar weltweit sogar leicht verbessert. Zwar enthält es agieren, ihre Profite nach Deutschland noch Schwachstellen in Hinblick auf oder in Steueroasen verschieben, aber Mindestalter und Niedriglöhne, doch sie können nicht für die Arbeits- und das Problem besteht weniger in unzu- Menschenrechtsverletzungen ihrer reichenden Gesetzen als in ihrer man- Lieferanten in Deutschland gerichtlich gelnden Durchsetzung: Ungenügen- belangt werden.3 de Kontrollen, schwach ausgebildete Alle Unternehmen, die in Bangla- rechtsstaatliche Strukturen, unterbe- desch einkaufen, müssen daher von setzte und unterfinanzierte Gerichte, Verbrauchern und Politik gedrängt Korruption und Vetternwirtschaft sind werden, endlich ihrer nötigen Sorg- weit verbreitet, ein wirksamer Rechts- faltspflicht nachzukommen, wie es die schutz für die Betroffenen ist so nicht vom UN-Menschenrechtsrat im Juni gewährleistet. 2011 verabschiedeten UN-Leitprinzi- Auch sind die freiwilligen Verhal- pien zur menschenrechtlichen Ver- tenskodizes der Unternehmen und die antwortung von Unternehmen fordern. Fabrikkontrollen (sogenannte Sozial- Deren Referenzrahmen umfasst drei audits), die für grundlegende Stan- Säulen: Erstens die staatliche Schutz- dards sorgen sollen, in der Regel wir- kungslos. Denn oft werden die Kontrol- 3 Diese Gesetzeslücke hat John Ruggie, der ehe- len im Vorfeld angekündigt, so dass die malige Sonderbeauftragte für Wirtschaft und sonst extrem verdreckten Toiletten ge- Menschenrechte von Kofi Annan, in seinem Be- richt für die UN-Menschenrechtskommission putzt und der verwaiste Raum für die sehr eindrücklich offengelegt. Vgl. Elisabeth Kinderbetreuung hergerichtet werden Strohscheidt, Die UN-Leitprinzipien zur men- können. Zugleich ist es gang und gä- schenrechtlichen Verantwortung von Unterneh- men, in: Gisela Burckhardt (Hg), Mythos C$R. be, dass nur ausgewählte Frauen mit Unternehmensverantwortung und Regulie- den – oft geschmierten – Kontrolleu- rungslücken, Bonn 2011, S. 37-42.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 15 12.12.12 10:51 16 Kommentare und Berichte

pflicht, die Menschenrechte gegen weiteren Verarbeitungsstufen (Spin- Übergriffe beispielsweise von Unter- nereien, Webereien, Konfektion) wer- nehmen zu schützen; zweitens die Ver- den noch nicht überprüft. Zu men- antwortung von Unternehmen, Vor- schenwürdigen Arbeitsbedingungen sorge zu treffen (diligence), damit in auch in der Konfektion verpflichten ihrer Lieferkette keine Arbeitsrechts- sich hingegen die Unternehmen, die verletzungen vorkommen und drittens Mitglied bei der Fair Wear Foundation die Wiedergutmachung und Entschä- (FWF) sind. Die FWF führt Kontrollen digung für die Opfer von Menschen- in den Zulieferfirmen durch, überprüft rechtsverletzungen. aber auch das Managementsystem des Ein wirksamer Schritt der Vorsor- Mitglieds: ob beispielsweise dessen ge durch Unternehmen wäre aktuell Einkaufspolitik es überhaupt zulässt, die Unterzeichnung des Brandschutz- dass der Zulieferer fair produziert. abkommens, das gemeinsam mit ban- Allerdings gibt es nur wenige Unter- gladeschischen Gewerkschaften und nehmen, die Öko- und Sozialstandards internationalen Arbeitsrechtsorgani- einhalten. Alle anderen Firmen könn- sationen Anfang 2012 erarbeitet wor- ten aber schon ein erstes Zeichen set- den ist. Bisher haben die Firmen PVH zen, wenn sie eine bessere Bezahlung und Tchibo das Abkommen unter- der Näherinnen sicherstellen würden. zeichnet. Es tritt aber erst in Kraft, Nach Berechnung von Verdi müss- wenn zwei weitere unterzeichnen, te die Verbraucherin lediglich zwölf doch sowohl Zara als auch H&M ver- Euro-Cent mehr pro Kleidungsstück weigern dies bislang. zahlen,5 damit eine Näherin rund 50 Euro zusätzlich erhalten könnte. Denn die Lohnkosten machen nur ein Pro- Druck auf die Firmen zent des Verkaufspreises aus. durch kritischen Konsum Obwohl Nichtregierungsorganisa- tionen und Gewerkschaften – etwa in Worauf es deshalb entscheidend an- der Kampagne für Saubere Kleidung – kommt, ist ein kritischer Konsum hier- die Bundesregierung schon lange zum zulande. Wer einkaufen geht, sollte Handeln auffordern, hat diese bisher sich stets fragen, unter welchen Bedin- nichts unternommen, um die Anfor- gungen die Ware hergestellt worden derungen an die Bekleidungsindus- ist. Dabei geht es nicht darum, ein be- trie zu erhöhen, etwa dadurch, dass sie stimmtes Produktionsland zu boykot- Unternehmen verpflichtet, einmal im tieren, denn es hilft den Frauen wenig, Jahr über die Auswirkungen ihrer Ge- wenn sie ihre Arbeit verlieren. Das schäfte auf Mensch und Umwelt zu be- eigene Kaufverhalten zu reflektieren, richten. Dafür müssten diese auch die ist aber ein Schritt in die richtige Rich- Subunternehmer, also die gesamte Lie- tung, um Druck auf die globalen Klei- ferkette, kontrollieren. Die Bundesre- dungshersteller aufzubauen. gierung aber setzt weiterhin auf Frei- Dabei kann man bislang nur auf willigkeit und will Unternehmen nicht einzelne Siegel, wie das GOTS-La- verpflichten, Berichte zu schreiben. bel oder das Fairtrade-Siegel zurück- Damit sich die fatale Situation der greifen, denn ein einheitliches Siegel, Näherinnen in Bangladesch ändert, das die Einhaltung sowohl von Um- bleibt nur eines zu hoffen: dass die öf- welt- als auch Arbeitsstandards zerti- fentliche Empörung endlich zu einem fiziert, existiert bislang nicht.4 Auch Umdenken der Verbraucher wie auch garantiert das Fairtrade-Siegel soziale der politisch Verantwortlichen führt. Standards nur im Baumwollanbau, die 5 Vgl. Annette Jensen, Zwölf Cent für ein besse- res Leben, in: „Verdi Publik“, 7/2012, www.pu- 4 Vgl. die Siegelübersicht auf www.femnet-ev.de. blik.verdi.de.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 16 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 17

Heiko Flottau Von Kairo bis Jerusalem: Nahöstliche Eskalationen

Kaum haben sich Israel und die Hamas Mohammed Mursi – auf einen Waffenstillstand geeinigt, der neue Pharao kommt es im Nahen Osten erneut zu gewaltsamen Konflikten. Dieses Mal Durch die erfolgreiche Vermittlung in steigen jedoch nicht über dem Gaza- den Gesprächen zwischen der Hamas streifen Rauchwolken auf, sondern di- und der israelischen Regierung war rekt über dem Tahrirplatz in Kairo und Mursi Ende November unerwartet zum vor dem Präsidentenpalast in Helio- politischen Makler zwischen den Fron- polis. ten geworden. Die Bilder von den Zusammenstößen Tatsächlich verfolgt Mursi dabei vor der Anhänger des neuen ägyptischen allem kapitale Eigeninteressen. Denn Präsidenten Mohammed Mursi und zum einen wird der ägyptische Sinai seinen Gegnern gleichen denen des immer mehr zum Rückzugsgebiet von Arabischen Frühlings vor knapp zwei Al-Qaida-Kämpfern und anderen mili- Jahren. Dabei sollte Mursi eigentlich tanten Gruppen, die von dort aus Israel den Übergang in die ägyptische Demo- und womöglich auch Ägypten selbst kratie ebnen. Doch nach nur fünf Mo- infiltrieren wollen. Die Unfähigkeit der naten Regierungszeit hat er das Land ägyptischen Armee, den Sinai unter in eine weitere Staatskrise gesteuert Kontrolle zu bringen, gab Mursi be- und noch tiefer gespalten. Mursis Kri- reits im August dieses Jahres die Gele- tiker greifen nun sogar den Kampf- genheit, Generalstabschef Tantawi zu slogan der Revolte gegen den früheren entmachten und so seinen innenpoliti- Staatschef Hosni Mubarak auf: „Das schen Einflussbereich auszubauen. Volk will den Sturz des Regimes“. Es Zum anderen nutzte Mursi – noch ist soweit gekommen, dass die Armee bevor der Beifall über seinen diploma- den Präsidenten mit Panzern schützen tischen Erfolg verebbte – die Gunst der musste. Eine Fernsehansprache, in der Stunde, um sich innenpolitisch noch Mursi vage zum Dialog aufrief, aber in weiter gehende politische Befugnis- der Sache keinen einzigen Schritt zu- se zu verschaffen. Mursi erließ ein De- rückwich, blieb ohne Wirkung auf die kret, mit dem er sich selbst eine Macht- Opposition. fülle zuschanzte, die selbst der Allein- Noch ist der Ausgang dieses Macht- herrscher Hosni Mubarak kaum jemals kampfs offen. Fest steht aber schon besaß. Mursi erklärte, bis zur Verab- jetzt: Setzen sich die Muslimbrü- schiedung einer neuen Verfassung der durch, hat dies nicht nur dramati- dürfe keine seiner Amtshandlungen sche Folgen für die ägyptische Gesell- von der Justiz überprüft und annulliert schaft, sondern auch für die Nachbarn werden. Zugleich entließ er den unge- Ägyptens – allen voran Israel. Denn liebten Generalstaatsanwalt. von einer starken Muslimbruderschaft Danach peitschte er einen Verfas- dürfte nicht zuletzt dessen Gegen- sungsentwurf durch die verfassungs- spieler im Gazastreifen profitieren: die gebende Versammlung, der zwar die Hamas. Formel aus der alten, von Präsident An-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 17 12.12.12 10:51 18 Kommentare und Berichte

war al-Sadat inspirierten Verfassung gänger, der langjährige ägyptische Al- übernahm, wonach die islamische leinherrscher Hosni Mubarak, nahm Scharia Hauptquelle der Rechtspre- zwar stets für sich in Anspruch, zwi- chung sein solle. Doch de facto wurde schen Israel und der Hamas vermitteln diese Formel bisher kaum angewendet. zu können. Tatsächlich aber stand das Nun muss man zu Recht befürchten, Mubarak-Regime an der Seite Israels, dass diese Passage strikter ausgelegt wenn dieses wieder gegen die Hamas wird. Und: Mursi ließ ebenfalls einen vorging. Auch die Grenze zwischen Paragraphen verabschieden, welcher Gaza und Ägypten blieb unter Mu- Journalisten mit Strafe droht, wenn sie barak abgeriegelt; brachen doch ein- die „nationalen“ Werte verunglimpfen. mal Palästinenser aus ihrem Gefäng- Erst nachdem die ägyptische Armee nis nach Ägypten aus, wurden sie um- drohte, in den politischen Konflikt ein- gehend zurückgeschickt. Daher kam zugreifen, hob Mursi schließlich das es Mubarak in seiner Amtszeit auch umstrittene Dekret auf. Zugleich hielt nie ernsthaft in den Sinn, seinen Pre- er an dem Termin für das Verfassungs- mierminister aus Solidarität mit seinen referendum am 15. Dezember fest. arabischen Landsleuten nach Gaza zu Dennoch hat der Konflikt um die schicken. Dekrete die Spaltung im Volk vertieft. Ein ägyptisches Regime unter Mursi, Mohammed ElBaradei, Friedensnobel- gestützt von einer starken Muslimbru- preisträger, Amr Musa, Ex-Außenmi- derschaft, wird das Verhältnis zwi- nister, und Hamdin Sabahi, Präsident- schen Ägypten und den politischen schaftskandidat bei den jüngsten Wah- und militärischen, islamisch ausge- len, bildeten deshalb ein Bündnis zur, richteten Kräften im Gazastreifen wie sie sagten, Rettung Ägyptens. grundlegend verändern. Insbesondere die Hamas könnte auf Unterstützung aus Ägypten und anderen arabischen Konfliktherd Gazastreifen: Staaten hoffen. Die Hamas als Profiteur Schon jetzt hat sich die politische La- ge in und rund um Gaza grundlegend Auch weit über die Landesgrenzen hin- gewandelt. Die Arabische Revolution aus wird der Staatsstreich Auswirkun- hat dazu geführt, dass hochrangige gen haben – nicht zuletzt für Ägyptens Politiker aus Tunis und Kairo sowie De- unmittelbaren Nachbarn Israel und legierte der Arabischen Liga nach Ga- damit für den israelisch-palästinensi- za reisen, der Bevölkerung jahrelang schen Konflikt. Israel – durch seine An- vorenthaltene Anteilnahme ausspre- kündigung, neue Siedlungen bauen zu chen und die radikalen Kräfte politisch wollen, selbst endgültig zu einem Un- aufwerten – beispielsweise durch offi- sicherheitsfaktor in der Region gewor- zielle Gespräche mit Hamasführern. den – könnte durch die Entwicklung Die Hamas könnte auf diese Weise in Kairo eine traditionelle Stütze in der ihren Machtanspruch im Gazastreifen Region verlieren. untermauern. Allerdings gilt sie bei Zwar ist Ägypten politisch wie wirt- der Bevölkerung inzwischen als fast schaftlich vom Westen abhängig, ins- ebenso korrupt und autoritär wie die besondere von den Vereinigten Staa- im Westjordanland regierende Fatah. ten. Ohne deren finanzielle Hilfe Beide palästinensischen Teilregierun- könnte die ägyptische Armee kaum gen haben mit einer dramatischen Le- überleben. Doch ideologisch ist Mursi benssituation der Menschen fertig zu der Muslimbruderschaft und damit der werden. Hamas verbunden. Die humanitäre Lage in Gaza wird Unter dem alten Regime sah dies immer dramatischer. Rund 1,7 Millio- noch gänzlich anders aus. Mursis Vor- nen Menschen leben in dem schma-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 18 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 19

len Küstenabschnitt. Seit Jahren ist das 1993, als die Verträge von Oslo ge- Gebiet von Israel hermetisch abgerie- schlossen wurden – bereits nur mage- gelt; Fischer können, wegen der strik- re 23 Prozent des historischen Palästi- ten israelischen Seeblockade, nicht na umfasst; inzwischen ist das Gebiet weit genug auslaufen, um ausreichend durch israelischen Siedlungsbau auf Fang zu machen. Allein 800 000 Be- etwa 15 Prozent geschrumpft. wohner – und damit die Hälfte der im Die Versprechen des Westens erwei- Gazastreifen lebenden Menschen – sen sich somit aus Sicht der Palästinen- sind von den Lebensmitteln abhängig, ser als hohle Worte. Wegen der ausblei- die vor Ort von den Vereinten Nationen benden politischen Fortschritte steht verteilt werden. die Autonomiebehörde in Ramallah jedoch nicht nur vor einem politischen Fiasko, sondern möglicherweise auch Westbank: Das Versagen vor ihrem Ende. Die Konsequenzen des Westens des westlichen Versagens zeichnen sich bereits am politischen Horizont Doch nicht nur im Gazastreifen wird ab: Politische Beobachter in Ramallah sich die Lage voraussichtlich zuspitzen. wollen erfahren haben, dass Khaled Auch in der Westbank bahnt sich eine Meshal, einer der politischen Führer politische Tragödie an – von der eben- der Hamas, Nachfolger von Mahmud falls die Hamas profitieren könnte. Abbas werden und, wie seine Gesin- Die dort regierende palästinensische nungsgenossen in Gaza, ein „islami- Autonomiebehörde hat unter Mahmud sches Projekt“ im Westjordanland auf- Abbas sämtliche Auflagen der Ver- bauen will. einigten Staaten und der Europäischen Aus israelischer Sicht wäre eine sol- Union erfüllt: Sie verzichtet auf jedwe- che Entwicklung fatal. Der Regierung de Gewalt gegen die israelische Be- in Jerusalem ginge nicht nur ein bere- satzung, arbeitet stattdessen eng mit chenbarer Partner in Ramallah verlo- den israelischen Sicherheitsbehörden ren. Sie sähe sich fortan auch zwischen zusammen und hat – wie gefordert – zwei von der Hamas regierten Land- „staatliche Strukturen“ aufgebaut. streifen eingeklemmt – dem Gazastrei- Als Gegenleistung hatten ihnen die fen und der Westbank –, was die poli- USA und die EU einen eigenen Staat in tische Lage noch brenzliger machen Aussicht gestellt. Bislang jedoch ist nur würde. die Anerkennung Palästinas als Beob- achterstaat bei den Vereinten Nationen erfolgt – auch wenn dies einen ersten Der Nahe Osten im Umbruch wichtigen Schritt zur staatlichen Sou- veränität darstellt. Hinzu kommt, dass Israel zunehmend Ob dieser Schritt nachhaltige Verän- von innenpolitisch unruhigen Staaten derungen mit sich bringt, darf jedoch umgeben ist, die von islamistischen bezweifelt werden. Israel erwiderte die Gruppen regiert werden. Entscheidung der UN-Vollversamm- Denn nicht nur im südlich von Israel lung jedenfalls umgehend mit der An- liegenden Ägypten hat sich die strate- kündigung, palästinensische Steuer- gische Lage verändert. Auch im Nor- gelder in Höhe von umgerechnet den kämpft das durch den innersyri- 100 Mio. Euro einzubehalten und den schen Bürgerkrieg geschwächte Re- weiteren Ausbau der Siedlungen in gime Assads um sein Überleben. Zwar Ostjerusalem voranzutreiben. ist dieses nicht in der Lage (und nicht Damit schafft Israel erneut Fakten. gewillt), Israel anzugreifen. Allerdings Das den Palästinensern zugedachte Ge- besteht aus israelischer Sicht die Ge- biet Rest-Palästinas hätte seinerzeit – fahr, dass sich Untergrundkämpfer in

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 19 12.12.12 10:51 20 Kommentare und Berichte

den verlassenen Gegenden rund um endlich auf einen belastbaren Frie- die Golanstadt Kuneitra etwa 60 Kilo- densvertrag verständigen. meter südwestlich von Damaskus fest- Seit mindestens zehn Jahren liegt setzen. Infolgedessen könnte der in- ein Friedensvorschlag auf dem Tisch. nersyrische Konflikt auf den Norden Auf ihrer Gipfelkonferenz von Beirut Israels übergreifen. im Jahre 2002 boten die arabischen Und nicht nur der syrische Auf- Staaten Israel Frieden, den Austausch stand könnte am Ende in eine Regie- von Botschaftern sowie wirtschaftli- rung münden, die – wie in Ägypten che und kulturelle Zusammenarbeit – von Mitgliedern der Muslimbrüder an. Ihre zentrale Bedingung für das dominiert wird. Auch König Abdallah Ende des Konflikts lautete im Gegen- im östlichen Nachbarland Jordanien zug, dass Israel das seit 1967 besetzte könnte in naher Zukunft gezwungen Gebiet an die Palästinenser zurückge- sein, ein Kabinett zu bestellen, das in ben müsse, auf dem diese dann ihren Teilen aus Muslimbrüdern besteht. Die lang ersehnten, eigenen Staat aufbau- innenpolitische Lage im 1920 von Win- en könnten. Israel hat die Offerte der ston Churchill geschaffenen Puffer- arabischen Staaten in all den Jahren staat zwischen der Arabischen Halb- nicht aufgegriffen, sondern stattdessen insel und dem britischen Mandats- den Konflikt wiederholt angeheizt. Die gebiet Palästina wird prekärer, die je- israelische Landnahme – und damit weils vom König berufenen Regierun- der Versuch, den zionistischen Traum gen des Kunststaates Jordanien wech- von einem jüdischen Staat in Gesamt- seln in Windeseile, die Muslimbruder- palästina doch noch zu verwirklichen schaft, bisher ins politische System des – sind die eigentlichen Gründe für die Landes integriert, wird unruhig. immer wieder aufflammenden Kämpfe Hinzu kommt, dass die Türkei zu- um Gaza und die fortwährende Gewalt nehmend auf Distanz zu Israel geht. auf beiden Seiten.1 Das Verhältnis der beiden Staaten gilt Hätte Israel die 1988 in Algier von seit dem Angriff der israelischen Ar- den Palästinensern eingeleitete Frie- mee auf die sogenannte Gaza-Flottille densinitiative – die 1991 auf der Frie- im Mai 2010 als überaus angespannt. denskonferenz von Madrid fortgesetzt Bei der Erstürmung der türkischen wurde und 1993/1995 mit den Abkom- Fähre „Mavi Marmara“, die zusammen men von Oslo ihren Höhepunkt und mit anderen Schiffen Israels Seeblo- leider auch schon ihren Abschluss fand ckade des Gazastreifens durchbrechen – ernsthaft verfolgt, hätten wir vermut- sollte, kamen neun türkische Staats- lich nicht erneut vor einem Krieg in bürger ums Leben. Eine Kommission Nahost gestanden. des UN-Menschenrechtsrates warf Is- Auch wenn die Chancen auf eine rael daraufhin schwere Verstöße gegen baldige Einigung gering sind, einen die Menschenrechte vor. Hoffnungsschimmer gibt es: Die Ha- mas hat in den vergangenen Jahren wiederholt verkündet, dass sie einen Der einzige Ausweg heißt Frieden palästinensischen Staat in den Gren- zen von 1967 und damit de facto auch Israel, Ägypten und der gesamte Nahe einen benachbarten Staat Israel akzep- Osten stehen somit vor Umwälzungen, tieren würde. Es ist höchste Zeit, die deren Folgen noch nicht absehbar sind Feinde Israels beim Wort zu nehmen – und die der Westen in Teilen mit zu und gemeinsam den Weg des Friedens verantworten hat. zu suchen. Der Ausweg aus dieser Lage liegt je- 1 Vgl. Gershom Gorenberg, Die Neugründung Is- doch auf der Hand: Israel und die pa- raels. Ein Land zwischen Krieg und Frieden, in: lästinensische Führung müssen sich „Blätter“, 12/2012, S. 50-60.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 20 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 21

Patrick Hönig Kongo: Die ferngesteuerte Rebellion?

Krieg zieht sich wie ein roter Faden Diese waren allesamt nicht allein auf durch die jüngere Geschichte der De- schnelle militärische Erfolge, sondern mokratischen Republik Kongo. Doch auch auf Konsolidierung der gewonne- was sich Ende November 2012 im kri- nen Macht gerichtet.2 sengeschüttelten Osten des Landes Inzwischen hat sich die Lage erneut abspielte, überraschte selbst Beobach- verändert: Nach elftägiger Besatzung ter, die sich gerne skeptisch geben. sind die Rebellen aus Goma wieder ab- Dem Vernehmen nach fast kampflos gezogen. Sie halten sich damit an eine fiel Goma, die Hauptstadt der Provinz Vereinbarung, die sie mit der kongole- Nord-Kivu, in die Hände einer Rebel- sischen Regierung getroffen haben – lengruppe, die sich M 23 nennt (Be- unter Vermittlung der Internationalen wegung 23. März)1 und die auch nach Konferenz der Region der Großen Seen großzügigen Schätzungen nicht mehr (ICGLR), der auch die Nachbarländer als 3000 Kämpfer zählt. Bereits beim Ruanda und Uganda angehören. Im ersten Waffengang vor den Toren der Gegenzug soll die Regierung die „be- Stadt flohen die Regierungstruppen, rechtigten Forderungen“ der Rebellen schlecht ausgerüstet, taktisch unge- erfüllen: bessere Aufstiegschancen in schult und demoralisiert von Gerüch- einer Armee, die schon jetzt mehr Of- ten, ruandische Spezialeinheiten seien fiziere hat, als sie brauchen kann, und im Begriff, in die Kämpfe einzugreifen. die Zusicherung, dass sie nur in ihrer Die UN-Friedenstruppen, 17 000 Sol- Heimatprovinz Nord-Kivu Dienst tun daten sind im Kongo stationiert, blie- müssen. Wenn das Beispiel Schule ben stumme Zeugen des Geschehens. macht, wird die kongolesische Armee Noch wenige Wochen zuvor hatte es bald in eine Ansammlung ethnisch so ausgesehen, als zeichne sich ein Patt polarisierter regionaler Schutztruppen zwischen den Parteien ab. In den Stra- zerfallen. Den Rebellen ist bewusst, ßen Gomas patrouillierten Einheiten wie unerfüllbar ihre Forderungen sind. der kongolesischen Armee auf Pick- Sie kündigten schon bei ihrem Abzug up-Trucks und UNO-Blauhelme in ge- aus Goma ihre baldige Wiederkehr an. panzerten weißen Truppentranspor- tern, während sich die selbsternann- ten Befreier der M 23 in Rutshuru, rund Plünderungen und 60 Kilometer von Goma, festsetzten. gewaltsame Übergriffe Von dort begannen sie, die von ihnen besetzten Gebiete zu „regieren“, dar- Die Menschen in Nord-Kivu indes sind unter ergiebige Minen und das frucht- all dem schutzlos ausgeliefert. Seit bare Hochland von Masisi – ganz nach dem Fall Gomas mehren sich Berich- dem Muster vergangener Rebellionen. te über Plünderungen und Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, began- 1 Der Name bezieht sich auf das Friedensabkom- gen von allen an den Kampfhandlun- men vom 23. März 2009 zwischen der kongole- gen beteiligten Parteien. Abermals sischen Regierung und der damals aufgelösten Rebellengruppe „Nationalkongress zur Vertei- 2 International Crisis Group, Eastern Congo: digung des Volkes“ (CNDP), dessen punktge- Why Stabilisation Failed, Africa Briefing Nr. 91, naue Umsetzung die M 23-Rebellen fordern. 4.10.2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 21 12.12.12 10:51 22 Kommentare und Berichte

sind zehntausende Zivilisten auf der nen scheinbar nach Belieben dominie- Flucht, unter ihnen Verwaltungsan- ren? Berichte der Expertengruppe der gestellte, Richter und andere Staats- Vereinten Nationen deuten darauf hin, diener, die nicht zur M 23 überlaufen dass die M 23 bei ihren militärischen mochten. Auch unliebsame Anwälte, Unternehmungen auf die Unterstüt- Journalisten und Menschenrechtsak- zung des – in der Fläche um ein Neun- tivisten müssen mit dem Schlimmsten zigfaches kleineren – östlichen Nach- rechnen. barn Ruanda rechnen kann. Aber ethnische Bande, die zwischen den Aufständischen und der Füh- Was steckt hinter der Rebellion? rungselite in Ruanda bestehen mögen, reichen nicht aus, um eine militärische Erstmals machte die M 23 im Frühjahr Eskalation dieser Größenordnung zu 2012 von sich reden. Ehemalige Mit- erklären, ebenso wenig die stets ge- glieder der Rebellengruppe CNDP, die leugneten aber kaum bestreitbaren 2009 im Rahmen eines Friedensab- Mittlerdienste, die sich politisch-öko- kommens in die kongolesische Armee nomische Netzwerke in Ruanda bei der eingegliedert worden waren, spalteten internationalen Vermarktung kongole- sich von dieser wieder ab und began- sischer Rohstoffe vergolden lassen. nen, weite Teile der Provinz Nord-Kivu Manche Beobachter werten die Be- zu besetzen. mühungen der Rebellen, administrati- Initialzündung der Rebellenoffensi- ve Strukturen in dem von ihnen gehal- ve waren Pläne der Zentralregierung tenen Gebiet aufzubauen, als Indiz für in Kinshasa, Bosco Ntaganda dingfest den Aufbau eines ruandischen Satelli- zu machen, einen Offizier der Armee, tenstaates auf kongolesischem Boden. der vom Internationalen Strafgerichts- Schon seit langem wird Ruanda, wie hof per Haftbefehl gesucht wird. Die übrigens auch Uganda, vorgeworfen, kongolesische Regierung hatte lan- im Ostkongo wirtschaftliche Interes- ge stillgehalten, um den brüchigen sen zu verfolgen. Burgfrieden mit den Ex-Rebellen nicht Doch für Ruanda geht es nicht nur zu gefährden, war dann aber umge- um die Teilnahme am schwunghaften schwenkt, weil sie die parallelen Be- Handel mit Rohstoffen, insbesondere fehlsstrukturen in den Reihen der Ar- dem für die Herstellung von Mobiltele- mee nicht länger dulden wollte. Dem fonen nötigen Erz Coltan. Es geht auch mutmaßlichen Kriegsverbrecher Nta- darum, ein Ventil für demographi- ganda gewogene Truppenteile, alle- schen Druck zu schaffen. Denn Ruan- samt Tutsi wie er selbst, desertierten en da ist eines der am dichtesten besiedel- bloc und überrannten Stellungen der ten Länder Afrikas. regulären Armee entlang der Grenze Indes lässt sich die M 23 kaum als zu Ruanda und Uganda. Die Kämpfe Marionette der ruandischen Regierung eskalierten; bis zum Juni schwoll der bezeichnen, verfügt sie doch über eine Flüchtlingsstrom nach Angaben des eigenständige Struktur und gewisse Welternährungsprogramms der Ver- politische Spielräume.3 Zwar sind Se- einten Nationen auf über eine halbe zessionsbestrebungen im Kongo nichts Millionen Menschen an. Neues. Aber ob die Mehrheitsbevölke- Nach dem Fall Gomas kommen rung sich mit der Rebellion der M 23 die alten Fragen wieder hoch: Wie identifizieren und vor allem wie sie von kann eine Truppe von zunächst we- einer Abspaltung der Kivus profitieren nigen hundert Kämpfern die Armee kann, ist doch sehr fraglich. des drittgrößten Flächenstaates Afri- 3 Jason Stearns, From CNDP to M23 The evolu- kas und die größte Friedensmission in tion of an armed movement in eastern Congo, der Geschichte der Vereinten Natio- London 2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 22 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 23

Kinshasas zweifelhafte Wort zu reden. Nur was das genau be- Doppelstrategie deutet, ist Auslegungssache. Gleichzeitig schart die kongolesi- Eines jedenfalls ist schon lange kein sche Regierung ihre regionalen Ver- Geheimnis mehr: Die kongolesische bündeten um sich. Das sind Angola Armee ist nicht in der Lage, die Sicher- und andere Mitglieder der Wirtschafts- heit des Landes zu gewährleisten. Im gemeinschaft des südlichen Afrikas Gegenteil, sie ist selbst tief in den Kon- (SADC), die bezeichnenderweise ge- flikt im Osten Kongos verstrickt. Jüngst rade Ruanda den Beitritt verwehrt hat. stolperte der Befehlshaber der kongo- Kenia und Tansania hingegen, Mit- lesischen Landstreitkräfte, General glieder der ostafrikanischen Wirt- Gabriel Amisi, über eine Korruptions- schaftsgemeinschaft (EAC), der Ru- affäre. Ihm wird vorgeworfen, Waffen anda angehört, aber nicht der Kongo, an Rebellen und Elefantenjäger ver- empfehlen der kongolesischen Regie- kauft zu haben. Aber vor allem durch rung, die politischen Anliegen der Re- den Fall Gomas hat die Regierung in bellen wohlwollend zu prüfen. Kinshasa enormes politisches Kapital Auf internationaler Ebene schließ- verspielt. Sie muss handeln, kann sich lich wiederholen kongolesische Diplo- aber auf die eigenen Streitkräfte nicht maten gebetsmühlenartig das Mant- verlassen. Um sich aus dieser Zwick- ra der territorialen Unversehrtheit, die mühle zu befreien, setzt Kinshasa nun Ruanda und Uganda nicht verletzen auf eine Doppelstrategie. dürften. Diese wiederum bestreiten, Zum einen schmiedet die Regie- die M 23 zu unterstützen. rung eine Kriegsallianz, in die sie al- le Rebellengruppen einbindet, die sich aus politischen und wirtschaftlichen Kabila kämpft um sein Gründen oder auch aufgrund von Vor- politisches Überleben behalten gegen bestimmte ethnische Gruppen dazu bewegen lassen. Insbe- Für Präsident Kabila wird es über die sondere die berüchtigten Kämpfer der Kriegswirren im Osten des Landes Hutu-Miliz „Demokratische Kräfte für politisch eng. Im November 2011 si- die Befreiung Ruandas“ (FDLR) haben cherte er sich in zweifelhaften Wah- sich nicht lange bitten lassen, gegen len eine zweite Amtszeit, büßte aber die kongolesischen Tutsi der M 23 Front seine Hausmacht in den Kivus ein. zu machen.4 Die FDLR konstituier- Noch 2006 war er auf einer Woge der te sich einst aus den Resten der Inter- Hoffnung zum Sieg getragen worden. ahamwe, welche 1994 in Ruanda für Damals hatte er versprochen, die Infra- den Völkermord an Tutsis und modera- struktur zu verbessern, in Gesund- ten Hutus verantwortlich zeichnete. heitswesen und Bildung zu investie- Zum anderen hat die Regierung eine ren, die Versorgung mit Wohnraum, groß angelegte diplomatische Initia- Wasser und Strom sicherzustellen so- tive eröffnet. Präsident Kabila hat sich wie Arbeitsplätze zu schaffen. zu diesem Zweck in Ugandas Haupt- Von diesen Versprechen hat er nicht stadt Kampala mit seinen Amtskol- viele einlösen können. Fortschritte legen, dem ruandischen Präsidenten beim Wiederaufbau des von zwei Krie- Paul Kagame und dem Präsidenten gen (1996 bis 1997 und 1998 bis 2002) Ugandas, Yoweri Museveni, getroffen, zerstörten Landes sind nicht wirklich denen nichts anderes übrig blieb, als zu erkennen. Im Gegenteil: Im Index öffentlich einer politischen Lösung das für menschliche Entwicklung, der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten 4 Juan Branco, Qui veut vraiment la paix au Con- go?, in: „Le Monde Diplomatique“, 11/2012, Nationen alljährlich herausgegeben S. 13. wird, ist der Kongo auf den letzten Platz

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 23 12.12.12 10:51 24 Kommentare und Berichte

abgerutscht. Das jährliche Pro-Kopf- schatzten, was das Zeug hielt, eine Einkommen beträgt karge 280 US- Woche lang. Der Markt der Stadt ging Dollar, die Lebenserwartung der Men- in Flammen auf, und sexuelle Gewalt schen liegt im Schnitt bei 48 Jahren, gegen Frauen und Mädchen erreichte und statistisch gesehen haben Kongo- ein vorher nicht gekanntes Ausmaß. lesen nicht mehr als dreieinhalb Jahre Eine breite öffentliche Debatte über Schulbildung genossen. das Versagen der damaligen kongo- Und auch auf diplomatischem Feld lesischen Übergangsregierung unter hat Kabila seinen Kredit aufgebraucht. Joseph Kabila und der internationalen Zwar hat der UN-Sicherheitsrat die Gemeinschaft hat es seither nicht ge- Einnahme Gomas durch die M 23 geben – und auch keine offizielle Ent- verurteilt und die Einstellung jegli- schuldigung. cher Unterstützung der Rebellen „von Stattdessen hat die Gewalt in den außen“ gefordert. Aber wieder ist es der Alltag der Menschen Einzug gehalten: kongolesischen Diplomatie nicht ge- Immer wieder hört man von Vergewal- lungen, eine Verurteilung Ruandas zu tigungen nach Einbruch der Dunkel- erreichen. Zu deutlich treten die eige- heit, auch in den „besseren Gegen- nen Glaubwürdigkeitsdefizite zu Tage. den“ der Stadt, aber immer hinter vor- Unter dem Strich also ist das Vor- gehaltener Hand. Die Dunkelziffer ist gehen Kinshasas riskant. Militärisch enorm. Trotz des rasanten Anstiegs ist der Schulterschluss mit Rebellen bleibt sexuelle Gewalt bis in die Mitte aller Schattierungen ein zweifelhaf- der Gesellschaft ein Tabu. Die Opfer ter Gewinn. Und politisch lässt sich werden stigmatisiert, die Täter kom- der Vorwurf, die andere Seite unter- men ungeschoren davon, es ist ein Teu- stütze Kriegsverbrecher, nicht halten, felskreis aus Schweigen und Straflo- wenn man sich selbst Verbündete ins sigkeit, der von staatlichen Stellen ge- Boot holt, deren Menschenrechtsbilanz duldet oder sogar gefördert wird, nicht ähnlich verheerend ist. nur in Bukavu.5 Ihre Verbrechen bleiben in der Regel Ganz ähnlich könnte sich nun auch ebenso ungesühnt wie die Mehrzahl die Lage in Goma entwickeln. Wäh- der Menschenrechtsverletzungen, de- rend die Zivilbevölkerung wie schon rer sich Angehörige der regulären kon- in Bukavu mit den Folgen der Gewalt golesischen Armee tagtäglich schuldig alleingelassen wird, profitieren grenz- machen. Eine Reform des Sicherheits- überschreitende mafiöse Strukturen sektors, die ihren Namen verdient, und vom Zusammenbruch der staatlichen den Aufbau eines Rechtsstaates, der Ordnung. Eine dauerhafte Lösung der institutionalisierter Straflosigkeit Ein- immer wieder aufflammenden Kon- halt zu gebieten vermag, will in Kin- flikte in den Kivus rückt so aber in wei- shasa aber offenbar niemand. te Ferne. Ohne die Einbindung zivilge- sellschaftlicher Kräfte und lokaler Ak- teure wird eine langfriste Lösung der Droht ein Déjà-vu im Ostkongo? Krise in Nord- und Süd-Kivu nicht zu erreichen sein. Schon lassen Demons- Unterdessen droht der Konflikt auf tranten in der kongolesischen Haupt- die Provinz Süd-Kivu überzugreifen. stadt Kinshasa ihrer Wut freien Lauf. In deren Hauptstadt Bukavu ist vom Sie fordern den Rücktritt der Regie- Krieg zwar noch nichts zu sehen, aber rung. man spürt ihn wie ein herannahendes Gewitter. Vorläufer der M 23 hatten 5 Rita Schäfer, Schutz vor sexualisierter Gewalt die Stadt zuletzt 2004 eingenommen. durch UN-Resolutionen – Möglichkeiten und Probleme am Beispiel von Liberia und der De- Auch damals sahen Blauhelme zu, wie mokratischen Republik Kongo, in: „Feministi- die Eroberer plünderten und brand- sche Studien“, 2/2011, S. 334-341.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 24 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 25

Charlotte Wiedemann Mali: Das Kartenhaus der Demokratie

Seit dem Putsch einiger Offiziere im die Hand- und Fuß-Abhacker, „einen Frühjahr 2012 herrschen in Mali un- Krieg gegen den Terrorismus“, bei dem klare politische Verhältnisse. In der Mali nicht alleingelassen werden dür- Hauptstadt wird weiter um die Macht fe. Diametral anders argumentieren je- gekämpft – zuletzt zwangen Militärs ne Kräfte, die den Putsch gegen diese Regierungschef Cheik Modibo Diarra Klasse „heilsam“ nannten und auf ra- zum Rücktritt –, während der Norden dikale Veränderungen drängen: Aus- des Landes von dschihadistischen ländische Soldaten sollen keinen Fuß Gruppen beherrscht wird. Frankreich auf malischen Boden setzen; der isla- und die Wirtschaftsgemeinschaft west- mische Terrorismus werde vom Wes- afrikanischer Staaten drängen auf eine ten nur als Vorwand benutzt, um sich Militärintervention. Aber würde ein militärisch in der Sahara festzusetzen Krieg Mali helfen? Und was wollen die und die Hand auf die Ressourcen Nord- Malier selbst? Malis zu legen. Die verbreitete Vorstellung, Mali sei Keine der beiden Sichtweisen wird bis zum Umsturz eine stabile Demo- der komplexen Situation wirklich ge- kratie gewesen und quasi über Nacht recht. Um diese besser zu verstehen, zum Opfer putschender Militärs und lohnt zunächst ein Blick auf die Land- grausamer Islamisten geworden, be- karte: Wer Malis bizarre Silhouet- dient geläufige Afrika-Klischees. Dort te sieht, könnte irrtümlich glauben, ist die Katastrophe bekanntlich immer es handele sich bei diesem Staat um nur eine Handspanne entfernt, und ein künstliches Gebilde, immer schon was gestern noch ein Modell war, kann zweigeteilt zwischen einem arabischen heute – voilà – ein failed state sein. Tat- oder berberischen Norden und einem sächlich erzählt der Fall Mali eine an- „schwarz“-afrikanischen Süden. dere Geschichte: Nach 20 Jahren Er- Tatsächlich zählte Mali zu den weni- fahrung mit einem Mehrparteiensys- gen großen Reichen der afrikanischen tem westlichen Zuschnitts ist bei den Geschichte; der heutige nachkoloniale meisten Maliern nur bittere Enttäu- Staat bedeckt nur einen Teil des eins- schung geblieben. Und eine Demo- tigen Territoriums, und dessen Bevöl- kratie, von der sich die Mehrheit der kerung war immer multiethnisch. Sie Bürger ausgeschlossen fühlt, ist nicht ist es auch heute, in allen Landestei- verteidigungsfähig, weder nach innen len, der Norden inbegriffen. Dort ma- noch nach außen. chen die Tuareg, eine zu den Berbern In Malis gebildeter Minderheit wird zählende Ethnie in Afrika, zwar am die Frage, ob eine militärische Inter- meisten von sich reden, doch sie sind vention in Nordmali nötig ist – und in zwei der drei Verwaltungsregionen gegen wen dort überhaupt Krieg ge- des Nordens nur eine Minderheit. führt werden soll, denn auch völlig Ethnisch, klimatisch, kulturell und unterschiedlich beantwortet. Die alte wirtschaftlich war Mali stets eine politische Klasse um den Übergangs- Schnittstelle, ein Ort früher Globali- Präsidenten Dioncounda Traoré spielt sierung: Hier traf sich der Transsahara- die westliche Karte, auch in der Ton- handel mit dem Transwestafrikahan- art: Es gehe um einen Krieg gegen del auf dem Fluss Niger. Darauf be-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 25 12.12.12 10:51 26 Kommentare und Berichte

ruht seine glorreiche Vergangenheit, gewählt, privatisiert, mit IWF und der legendäre Goldreichtum ebenso Weltbank kooperiert. Doch die meisten wie der Mythos Timbuktu. Malier fühlten sich in dieser gepriese- Dieser kleine Ausflug in die Ge- nen Demokratie nur wie Statisten. Poli- schichte ist notwendig, um zwei Dinge tiker werden, das hieß in den Augen zu verstehen. Erstens: Die meisten Ma- der Bevölkerung: sich an die Fleisch- lier haben, ohne je auf der Schulbank töpfe heranmachen. Zu nichts anderem gesessen zu haben, eine Art mythi- dienten die meisten Parteien. Korrup- sches Nationalbewusstsein. Es erlaubt tion war offenkundig; pro Jahr wurden ihnen, bei aller Armut, einen ausge- 150 Mio. Euro Staatsgelder fehlgeleitet, prägten Stolz auf ihr Land, auf ihre Kul- mindestens ein Drittel der Entwick- tur. Mali, das ist ein historischer Refe- lungshilfe verschwand in dunklen Ka- renzpunkt, der die Ethnien verbindet. nälen. Die Wahlbeteiligung war die Zweitens: Der Zentralstaat, den erst die niedrigste in Westafrika; jeder wusste französische Kolonialmacht Malis eth- von Fälschungen. nischer, sprachlicher und territorialer Vielfalt überstülpte, ist gleichwohl bis heute für die Masse der bäuerlichen Putsch für soziale Gerechtigkeit? Bevölkerung ein fremdes Ding geblie- ben. Um das zu illustrieren, mag eine Im März 2012, nach einem ungelenken einzige Zahl genügen: 90 Prozent be- Coup unterer Offiziere, fiel diese De- herrschen nicht die Sprache, in der das mokratie zusammen wie ein Karten- malische Parlament über Politik ver- haus. Sie war nur Fassade gewesen; handelt – das Französische. wer von der Fassade profitiert hatte, Es ist wichtig, diesen Unterschied in verlangte ihre sofortige Wiedererrich- der Sichtweise auf Nation und Staat zu tung. Und nur diese Kräfte gelten seit- verstehen. Gängige Vergleiche mit Su- dem in den Nachrichten der Welt als dan oder Somalia gehen fehl, erst recht Demokraten. Außensicht und Binnen- Begriffe wie „afrikanisches Afghanis- sicht divergieren extrem: Kaum ein tan“. Mali leidet nicht an den zentri- Politiker genießt mehr das Vertrauen fugalen Kräften einer Stammesgesell- der Bevölkerung. Die Ablehnung zielt schaft, nicht an interethnischen Ani- besonders auf den Interims-Präsi- mositäten oder an religiösem Wahn. denten Dioncounda Traoré; der heute Sondern daran, dass der Staat und sei- 70jährige Mathematiker hatte in den ne politischen Institutionen nicht im vergangenen 20 Jahren fast jeden nur Dienst der Menschen stehen. Das Ge- denkbaren politischen Posten inne. Er sicht des Zentralstaats hat seit der Un- verkörpert den moralischen Nieder- abhängigkeit 1960 dreimal gewech- gang einer Politiker-Generation, die selt, jeweils im Stil der Zeit: Zunächst 1991/92, von großen Hoffnungen be- wenige Jahre Sozialismus, dann vie- gleitet, Malis neue Demokratie errich- le Jahre Militärdiktatur; diese wurde tete. Seit Monaten herrscht in Malis 1991, in Malis demokratischem Früh- Hauptstadt Bamako nun ein Stellungs- ling, von einer Volksbewegung ge- krieg: Wer vom bisherigen System stürzt. Es folgte ein Mehrparteien- profitierte, will die Macht der gestürz- system mit zuletzt 152 Parteien. Man ten Klasse restaurieren; wer auf einen könnte sagen: Was an politischen Mo- grundlegenden Wechsel hofft, will ge- dellen auf dem Markt ist, haben die nau das verhindern. Malier durchprobiert. Nach dem Putsch gründeten sich Nicht für seine Bürger, sondern für Unterstützerkomitees, vor allem unter westliche Regierungen und manche jungen Leuten. Sie hatten darauf ge- Entwicklungshilfeorganisationen war wartet, dass endlich etwas passiert Mali lange ein Modell: Da wurde brav – und redeten sich nun den Anführer

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 26 12.12.12 10:51 Kommentare und Berichte 27

der meuternden Soldaten, Hauptmann Die malische Armee bekam statt Waf- Amadou Sanogo, zum nationalen Hel- fen Generalsposten im Dutzenderpack, den schön. Das Datum des Putsches, damit die Offiziere ruhig blieben. Die der 22. März, war historisch aufgela- Soldaten hatten kaum Munition, als sie den: An jenem Märztag des Jahres 1991 jenen Tuareg-Rebellen gegenüberstan- verbluteten Schüler und Studenten auf den, die aus den Trümmern des Gadda- Bamakos Straßen, im Kampf gegen die fi-Libyens einen Konvoi voller Waffen damalige Diktatur. Ein Denkmal am mitgebracht hatten. Es ist keine Legen- Niger erinnert an die Märzgefallenen de, dass Hauptmann Sanogo in Bamako von damals. Für die Jugend von heute putschte, nachdem ein Video kursierte, ist von diesem demokratischen Auf- das die brutale Exekution gefangener bruch nur das Pathos geblieben; sie malischer Soldaten zeigte. Dass die ma- nehmen nun den Ton wieder auf, mit lische Fassaden-Demokratie so leicht einem rebellischen, politisch ungebil- zusammenfallen würde, hätte der deten Patriotismus. Hauptmann wohl selbst nicht gedacht. Zu denen, die sich vom Putsch einen demokratischen Neubeginn erhoff- ten, gehört die Bauernvereinigung. Böse Islamisten, gute Tuareg? Ihr Motto lautet „Land, Arbeit, Wür- de“; erst unlängst hatten Bauern ver- Was nun die Einschätzung der Lage in geblich dagegen protestiert, dass Ma- Nordmali betrifft, so divergieren auch lis privatisierte Baumwoll-Gesellschaft hier Außen- und Binnensicht beträcht- zur Hälfte an einen chinesischen In- lich. Westliche Medien und westliche vestor verkauft wurde. Ein Militärcoup Meinungsführer machen einen großen als Chance für mehr soziale Gerechtig- Unterschied zwischen den bewaffneten keit? So dramatisch können demokra- Islamisten und den säkularen Tuareg- tische Formen an Wert verlieren, wenn Rebellen der Mouvement National de sie keine wirkliche Partizipation be- Libération de l‘Azawad (MNLA). Letz- deuten. „In 20 Jahren Demokratie sind tere hatte sich zunächst aus schierem Mali und die Malier ärmer geworden“, Opportunismus mit den islamistischen bilanziert der Philosophie-Professor Kampfgruppen verbündet, wurde dann Issa Ndiaye, ein früherer Bildungsmi- aber militärisch von ihnen geschlagen nister. Nun müsse über Alternativen und aus Nordmali vertrieben, aus jenem nachgedacht werden: „Befreien wir Azawad also, das sie als Staat prokla- unseren kolonisierten Geist, um Afrika mieren wollten. Obwohl auch MNLA- und nicht dem Westen zu dienen.“ Kämpfer Plünderungen und Vergewal- Gewiss – die malische Krise hat auch tigungen begangen haben, genießen äußere, exogene Faktoren. Schon seit sie aus europäischer, zumal französi- fünf Jahren haben sich in den Weiten scher Sicht die Aura von Freiheitskämp- der nordmalischen Sahara von Alge- fern. Das ist in Mali völlig anders: Für riern angeführte Kampfgruppen fest- viele Flüchtlinge sind Islamisten und gesetzt, die als „Aqmi“ firmieren, als MNLA gleichermaßen „Verbrecher“ maghrebinische Filiale von Al Qaida. und „Banditen“, derentwegen sie Heim, Doch erst der faulige Zustand von Ma- Hof und Sicherheit verloren haben. lis Demokratie schaffte den Nährbo- In Erinnerung daran, dass Frank- den, auf dem die Krisenphänomene wie reich 1957 einen unabhängigen Sahara- Pilze wuchern konnten. Regierungs- Staat projektiert hatte, durch den es interessen waren mit Drogenkartellen seine Interessen in dieser strategi- verstrickt, und Unterhändler aus Ba- schen Zone wahren wollte, werden die mako spielten undurchsichtige Rollen, Tuareg-Rebellen heute von vielen ma- wenn Islamisten gigantische Lösegel- lischen Intellektuellen als Handlanger der für entführte Europäer kassierten. französischer Interessen gesehen – und

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 27 12.12.12 10:51 28 Kommentare und Berichte

damit als Hauptfeind definiert. Denn men zwar ihrerseits Anstoß an Prakti- nur sie, nicht die Islamisten, bedrohten ken des sufistisch orientierten Mehr- den Zusammenhalt des Landes; des- heitsislam, wie etwa die Verehrung von halb sei mit ihnen nicht zu verhandeln. Heiligen, würden deren Mausoleen Darin spiegeln sich alte Ressentiments aber nicht zerstören. Auch hier spielt und Spannungen wider: Unvergessen wieder Nationalstolz eine Rolle: Die die Sklavenhalter-Vergangenheit der mächtigsten Al-Qaida-Führer im Nor- hellhäutigen Oberklasse der Tuareg. den sind Ausländer; von denen wollen Unverziehen auch, dass es seit den ers- sich die malischen Muslime schon aus ten Tagen der Unabhängigkeit stets nur Prinzip nicht belehren lassen! Tuareg waren, die zu den Waffen grif- Wer glaubt, ganz Mali sei allein auf- fen, um ihre Forderungen zu unterstrei- grund seiner Armut ein fruchtbarer chen, während andere Regionen und Boden für einen radikalisierten Islam, Ethnien gleichfalls unter Marginalisie- übersieht die Macht der Marabouts, rung leiden. der traditionellen Religionsführer, die gerade unter den Ärmsten die meis- ten Anhänger haben und mit Geld Die Verteidigung des Laizismus und Raffinesse ihre Position zu wah- ren wissen. Gleichwohl spielen religiö- Tatsächlich haben sich viele Tuareg, se Autoritäten in der malischen Krise trotz solcher Spannungen, stets zur ma- zunehmend eine Rolle auf dem politi- lischen Nation bekannt. Dass gilt sogar schen Parkett: In einem Klima hoch- für einen Mann, der heute als Europa- gradigen Misstrauens gegenüber al- Sprecher der MNLA eine wichtige len Politikern genießen nur noch die Rolle spielt: der Tuareg-Schriftsteller Religiösen Respekt. So vermittelte der Moussa Ag Asserid. In seinem jüngs- Vorsitzende des Hohen Islamischen ten Buch, das er 2011 in Frankreich Rats, ein Wahhabit, kürzlich im Kampf veröffentlichte, sprach er noch em- zweier verfeindeter Polizei-Gewerk- phatisch von „meinem schönen Mali“ schaften. Manche Malier sorgen sich und bekräftigte: „mein Volk, die Kel nun um den Fortbestand der Laizität. Tamashek, und mein Land, Mali“. Tua- Wieder schließt sich der Kreis: Die Lai- reg-Abgeordnete des malischen Parla- zität lässt sich nur verteidigen, wenn ments schlossen sich im Frühjahr 2012 die weltlichen Institutionen an den den Separatisten an, Tuareg-Soldaten Bedürfnissen der Bürger ausgerichtet der malischen Armee liefen im Kampf sind. In Afrika genauso wie anderswo. zu den Rebellen über. All dies hat Bit- Im Kern weist die jetzige Krise des- terkeit hervorgerufen und einen Ver- halb auf eine große, noch unbeantwor- ratsdiskurs genährt. Den Preis zahlen tete Frage: Wie kann in den Ländern nun vor allem jene Tuareg, die weder des globalen Südens eine veritable De- Rebellen noch Separatisten sind und mokratie aussehen – eine Demokratie die sich gleichwohl Hass und Verdäch- der Armen, die der Bevölkerung hilft, tigungen ausgesetzt sehen, bis hin zur sich für ihre Interessen zu organisieren Lynchjustiz. Diesen Graben in einem und die das soziale Kapital nutzt, das in künftigen Mali wieder zu schließen, der Gesellschaft vorhanden ist? Mali das wird schwierig sein – und womög- hat viel davon, das zeigt sich sogar in lich länger dauern, als die Folgen isla- der jetzigen Krise: Mehr als 100 000 mistischer Gräueltaten zu überwinden. Flüchtlinge aus dem Norden wurden Die Exzesse im Namen einer dumpf in malischen Familien aufgenommen. interpretierten Scharia werden von al- Die Malier tun alles, um die Gesell- len muslimischen Strömungen des Lan- schaft im Gleichgewicht zu halten – des scharf kritisiert; das gilt auch für während es immer mehr Menschen am die malischen Wahhabiten. Sie neh- Nötigsten mangelt.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 28 12.12.12 10:51 DEBATTE

Der Hunger aus dem Tank

Bereits vor einem Jahr analysierte Harald Schumann die dramatischen Preissteigerungen auf dem globalen Lebensmittelmarkt – und zwar speziell die exorbitant gewachsene Spekulation (vgl. „Blätter“ 12/2011 und 1/2012). Der Umwandlung von Nahrung in Biosprit widmet sich im Folgenden der Politikwissenschaftler Guido Speckmann.

Politische Sonntagsreden gibt es viele. besteht, so Jean Ziegler, De Schutters Das belegte nicht zuletzt der jüngste Amtsvorgänger, ja darin, die jewei- Klimagipfel in Katar, der, obschon er lige nationale Wirtschaft in Ordnung über zwei Wochen tagte, nicht zu der zu bringen. Dafür würden sie letztlich dringend erforderlichen Konkretisie- gewählt und nicht, um den Hunger in rung des Kyoto-Protokolls führte. der Welt zu bekämpfen: „Schließlich Der Welternährungstag am 16. Ok- zählten“, so Ziegler in seinem neuen tober war hingegen nur für wenige Buch „Wir lassen sie verhungern“, „die Vertreter des politischen Establish- vom Hunger dauerhaft geschädigten ments ein Anlass, die Welt mit einer Kinder aus Chittagong, Ulan-Bator und weiteren Sonntagsrede zu „beglü- Tegucigalpa nicht zu den Wählern. Sie cken“. Stattdessen forderte der Papst, sterben auch nicht auf der Champs- im Kampf gegen den Hunger intensi- Elysées in Paris, dem Kurfürstendamm ver zusammenzuarbeiten und mehr in Berlin oder der Plaza Major in Mad- für landwirtschaftliche Entwicklung rid.“1 Dieser Logik zufolge ist es denn und ein Wachstum der ländlichen auch angemessen, ja sogar, um mit Gemeinden zu tun. Der Generaldi- Angela Merkel zu sprechen, „alter- rektor der Ernährungs- und Land- nativlos“, den europäischen Banken wirtschaftsorganisation der Verein- Abermilliarden Euro in Form soge- ten Nationen (FAO), Jose Graziano da nannter Rettungspakete zukommen Silva, kritisierte, dass die Hilfen für die zu lassen – auch zulasten des UN-Welt- Landwirtschaft in den vergangenen ernährungsprogramms. drei Jahrzehnten immer weiter redu- ziert worden seien. Und der UN-Be- auftragte für das Recht auf Nahrung, » Jeder Achte auf der Welt hungert.« Olivier De Schutter, beklagte, dass die Lebensmittelpreise zu sehr schwank- ten und das Preisniveau gefährlich Immerhin hatte die FAO nur weni- hoch liege, was ein sofortiges Handeln ge Tage vor dem Welternährungstag notwendig mache. ihren neuen Bericht veröffentlicht. Doch Politiker mit nennenswer- Dieser wartet, basierend auf verfeiner- tem Einfluss hielten sich am 16. Okto- ten Erhebungsmethoden, mit einer er- ber vornehm zurück. Ihnen daraus 1 Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern. Die einen Vorwurf zu machen, wäre frei- Massenvernichtung in der Dritten Welt, Mün- lich ungerecht. Denn ihre Aufgabe chen 2012, S. 197 f.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 29 12.12.12 10:51 30 Guido Speckmann

freulichen Nachricht auf: Statt der bis- sierung der Rohstoffmärkte, die sich in her kursierenden Schätzung von rund der letzten Dekade vollzogen hat, mit einer Milliarde hungernden Men- der Konsequenz dramatisch gestiege- schen sind derzeit „nur“ 868 Millionen ner Getreidepreise. Erdenbewohner unterernährt. Von herausragender Bedeutung ist Es hungert also jeder Achte auf der jedoch der Faktor „Bioethanol“; ver- Welt, was einem Anteil an der Bevölke- schiedenen Studien zufolge ist er für rung von 12,5 Prozent entspricht (zwi- 40 bis 75 Prozent des steigenden Preis- schen 1990 und 1992 betrug der Anteil niveaus verantwortlich. Immerhin noch 18,6 Prozent). Die neuen Schät- mehren sich seit wenigen Jahren die zungen zeigen, dass infolge der globa- Stimmen, die das ursprüngliche Ziel len Hunger- und Finanzkrise weniger der Biosprit-Produktion – den Ausstoß Menschen zusätzlich an Nahrungs- von CO2 zu verringern – als verfehlt mangel litten, als bisher angenommen ansehen. Zuletzt kam die Wissen- worden war.2 Das überrascht zunächst. schaftsakademie Leopoldina zu dem Doch der Bericht relativiert diesen Schluss, dass für Deutschland wie für Befund in zweierlei Hinsicht: Erstens die EU „die Verwendung von Biomasse zeigen die Zahlen, dass der Rück- als Energiequelle in größerem Maß- gang der Hungernden seit 2007, also stab keine wirkliche Option“ ist,3 weil seit Beginn der globalen Krisenphä- sie zur Verknappung von Nahrungs- nomene, stagniert. Zweitens hat der mitteln führt und die Preise für Land Report nur Schätzungen über die chro- und Wasser in die Höhe treibt. Zudem nische Unterernährung zur Grund- hat diese Form der Bioenergie keinen lage – und diese berücksichtigen keine besseren Einfluss auf das Ökosystem kurzfristigen Effekte wie etwa die in und die Treibhausgas-Bilanz als die den letzten Jahren verstärkt auftre- fossile Energiegewinnung. Die Auto- tenden Preisschwankungen. Insofern, ren fordern daher einen umgehenden so die Einschränkung des Berichts, Stopp des weiteren Ausbaus der Bio- seien die Ergebnisse nicht dazu geeig- energie. net, Schlüsse etwa über die Effekte Das Institute for European Environ- von hohen Lebensmittelpreisen oder ment Policy drückte die verheeren- andere kurzfristigen Auswirkungen den Folgen des Biosprits noch etwas zu ziehen. Von Interesse ist zudem ein plastischer aus: Demnach „führen die Blick auf die je spezifische regionale Maßnahmen zur Förderung von Treib- Entwicklung der letzten beiden Jahr- stoffen aus Biomasse, mit denen die zehnte. In Asien ist der Rückgang des EU und ihre Mitgliedsländer eigent- Hungers – vor allem dank des chinesi- lich das Klima schonen wollen, zu schen Aufschwungs – am deutlichsten. Rodungen, die bis 2020 so viel zusätz- Ebenso ist ein Rückgang in der Karibik liche Klimabelastung verursachen wie und Lateinamerika zu konstatieren. 12 bis 26 Mio. Autos.“4 Und bereits Weiter zugenommen hat der Hunger 2008 wurde im renommierten Wissen- indes in Afrika. schaftsmagazin „Science“5 eine Stu- Die NGO Oxfam führt in ihrer Stel- 3 Mit Ausnahme der Nutzung von biogenen lungnahme zum FAO-Bericht die Sta- Abfällen, vgl. Bioenergie: Möglichkeiten und gnation im Kampf gegen den Hunger Grenzen. Kurzfassung und Empfehlungen, auf drei Faktoren zurück – den Klima- www.leopoldina.org, S. 5; vgl. auch James wandel, das Land Grabbing und die Smith, Biotreibstoff: Eine Idee wird zum Bume- rang, Berlin 2012. Förderung von Biokraftstoffen. Hin- 4 Marcel Hänggi, Ausgepowert. das Ende des zuzufügen wäre noch die Finanziali- Ölzeitalters als Chance, Zürich 2011, S. 211 f. 5 Timothy Searchinger u.a., Use of U.S. Crop- 2 Food and Agriculture Organization of the Uni- lands for Biofuels Increases Greenhouse Gases ted Nations (Hg.), The State of Food Insecurity Through Emissions from Land-Use Change, in: in the World, Rom 2012, S. 10. „Science“, 5867/2008, S. 1238-1240.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 30 12.12.12 10:51 Der Hunger aus dem Tank 31

die für die USA veröffentlicht, wonach der EU noch gefördert wird. Auf diese die Umwidmung von Flächen zum Weise betätigen sich EU und USA als Anbau von Energiepflanzen zu einer Preistreiber auf den Agrarrohstoff- erheblichen Zunahme des CO2-Aus- märkten und verursachen immer mehr stoßes führen wird. Hunger. Die Ökobilanz von Agrartreibstoffen Die Auswirkungen der US-amerika- ist also alles andere als positiv – auch nischen Bioethanol-Förderung speziell mit Blick auf den enormen Energie- auf die Entwicklungsländer untersucht und Wasserverbrauch, den die Bio- die Studie von Timothy Wise vom Glo- sprit-Produktion verursacht. Schät- bal Development and Environment Ins- zungen zufolge sind bis zu 4000 Liter titute an der Tufts-Universität.6 Dem- Wasser notwendig, um einen Liter Bio- nach wurden 2012, also in einem Jahr ethanol herzustellen. besonderer Dürre in den USA, 40 Pro- Angesichts eines Drittels der Welt- zent der amerikanischen Maisernte zu bevölkerung, das nicht über ausrei- Bioethanol verarbeitet. Die USA sind chenden Zugang zu sauberem Was- mit Abstand der weltgrößte Produzent ser verfügt, ist dies, gelinde gesagt, und Exporteur von Mais. Insofern ruft höchst problematisch. Ebenso wenig die Tatsache, dass rund 15 Prozent der gesichert ist, ob der sogenannte Ernte- globalen Maisernte nunmehr für die faktor – sprich: die Effizienz der Ener- Energiegewinnung verwendet werden giegewinnung, wenn man den gesam- (anstatt als Futter- oder Lebensmittel), ten Lebenszyklus von der Produktion einen erheblichen Nachfrageschock bis zur Verarbeitung berücksichtigt auf den globalen Märkten hervor. Wise („Energy returned on energy inves- schätzt, dass sich durch die US-Bio- ted“) –, bei Bioethanol und Biodiesel ethanol-Produktion die Nahrungsmit- überhaupt positiv ist. Von einer öko- tel-Importbilanz der Entwicklungs- logischen Energie kann bei Biosprit länder zwischen 2006 und 2011 um somit mitnichten die Rede sein. 6,5 Mrd. US-Dollar verschlechtert hat. Zur Erinnerung: Erst durch die berüchtigten Strukturanpassungspro- » 15 Prozent der globalen Maisernte gramme des Internationalen Wäh- werden für die Energiegewinnung rungsfonds (IWF) wurden viele Ent- verwendet.« wicklungsländer von Agrarexporteu- ren zu Agrarimporteuren. So hatten sie Anfang der 1970er Jahre noch einen Noch schwerer wiegt indes das „Tank Export-Überschuss von 17 Mrd. Dol- statt Teller“-Problem. Mit dem Anbau lar. Selbst in den 80er Jahren war die von Soja und Raps, Mais und Weizen Agrarhandelsbilanz weiterhin positiv, für die Gewinnung von Bioenergie wenngleich stark schwankend. Erst tritt der motorisierte, vorgeblich öko- in den 90er Jahren, mit dem Sieges- logisch bewusste Bewohner des indus- zug des Neoliberalismus, wurden die trialisierten Teils dieser Welt in erbit- Entwicklungsländer dann zu Netto- terte Konkurrenz mit der hungernden importeuren von Lebensmitteln. Einer Kleinbäuerin oder dem im informellen Weltbank-Studie aus dem Jahre 1999 Sektor der Mega-Slums Beschäftigten zufolge7 verfügten schon damals zwei des globalen Südens. In einem globali- Drittel der untersuchten 148 Entwick- sierten deregulierten Kapitalismus ist klar, wer dabei auf der Strecke bleibt: 6 Timothy A. Wise, The Cost to Developing Coun- jener, der nicht genügend zahlungs- tries of U.S. Corn Ethanol Expansion, GDAE kräftige Nachfrage besitzt. Eine Nach- Working Paper 12-02, Oktober 2012. 7 Vgl. Misereor (Hg.), Wer ernährt die Welt? Die frage übrigens, die durch die üppigen europäische Agrarpolitik und Hunger in Ent- Biosprit-Subventionen der USA und wicklungsländern, Aachen 2011.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 31 12.12.12 10:51 32 Guido Speckmann

lungsländer über eine negative Han- Erdöl geprägten Kapitalismus und sei- delsbilanz. Daraus resultiert ein erheb- ner Konsumweise zu verlängern – und lich verringerter finanzieller Spielraum zwar sowohl auf Kosten der Ernäh- der betroffenen Staaten. Oft werden rungssicherheit vorwiegend im globa- dann Einsparungen in sozialen Berei- len Süden als auch der globalen Nach- chen vorgenommen, die immer wieder, haltigkeit. wie etwa 2007 und 2008, zu regelrech- Das Hungerproblem indes kann nur ten Hungeraufständen führen können. dadurch wirksam angegangen wer- den, dass über den gegenwärtigen Warencharakter von Lebensmitteln » Biokraftstoffe sind eine grün gesprochen wird8 – wie über Möglich- lackierte Scheinlösung.« keit und Notwendigkeit seiner Besei- tigung. Faktisch leben wir in einer geschichtlichen Situation, in der genug Die verheerenden Folgen der Biokraft- produziert wird, um jedem Menschen stoffindustrie haben inzwischen einen die benötigten 2200 bis 2440 Kalorien moralischen Druck hervorgerufen, der pro Tag zukommen zu lassen. Ein kom- Handlungsbedarf auf der politischen plettes Verbot von Biokraftstoffen wäre Ebene erzeugt. Das Emporschnellen dafür ein erster Schritt, die Re-Regu- der Agrarpreise infolge der diesjähri- lierung der Rohstoffmärkte ein wei- gen Dürre in den USA ließ jene Stim- terer. Der wichtigste Schritt bestünde men lauter werden, die dafür plädie- jedoch in der grundsätzlichen Infra- ren, die Produktion von Bioethanol gestellung des Warencharakters von auszusetzen. Nahrung wie auch der (imperialen), In der EU gibt es dazu bereits kon- hoch verschwenderischen Lebens- krete Bestrebungen: Sie rückte Mitte weise in den industrialisierten Staaten Oktober von ihrem Ziel ab, bis 2020 des globalen Nordens. wenigstens zehn Prozent des Treibstof- Dem derzeit eine Renaissance erle- fes für Transportzwecke durch erneu- benden (neo)malthusianischen Ein- erbare Energiequellen zu decken. wand, wonach bei einer steigenden Jetzt liegt das Ziel bei fünf Prozent Weltbevölkerung und zunehmend Treibstoff aus erster Generation (Nah- widrigen Umweltbedingungen eine rungsmittel); der Rest soll mit Biomasse ausreichende Ernährung aller Men- aus zweiter Generation gedeckt wer- schen zukünftig nicht mehr sicherge- den, also aus Abfall, Stroh, Tierfetten stellt werden kann, wäre dagegen mit oder Algen. So begrüßenswert die- den Ergebnissen des jüngsten Welt- ser Schritt sein mag, so unzureichend agrarberichts9 Folgendes zu entgeg- ist er. Das Potential bei Biomasse der nen: Eine radikale, nachhaltige und zweiten Generation dürfte längst nicht ökologische Reform der Landwirt- ausreichend sein, die Herstellung ist schaft wäre in der Lage, Ertragsstei- noch aufwendiger, der Ertrag letztlich gerungen zu erzielen, die für die Ver- zu gering. sorgung der prognostizierten neun Was aber wäre notwendig? Zunächst Millionen Menschen im Jahr 2050 einmal die Demontage der vermeint- allemal ausreichend wären. Dafür lichen Wunderlösung namens Bio- bedarf es allerdings nicht mehr und kraftstoffe: Faktisch sind diese ledig- nicht weniger als der Abkehr vom lich eine grün lackierte Scheinlösung, industriellen Agrobusiness. die von einer neuen Kapitalallianz aus dem Agrar- und Energie-, dem Automobil- und Biotechnologiesek- 8 Vgl. Fred Magdoff, Food as commodity, in: „Monthly Review“, 1/2012. tor mit dem Ziel vorangetrieben wird, 9 Vgl. www.weltagrarbericht.de; an dem Bericht die Strukturen und Muster eines vom waren über 400 Wissenschaftler beteiligt.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 32 12.12.12 10:51 Kolumne

Tod in Galway Von Naomi Wolf

Das Schicksal von Savita Halappanavar, Tod sei eine theokratische Gesundheits- einer 31jährigen Zahnärztin aus Indien, politik. Irische Abtreibungsaktivisten die mit ihrem Mann nach Irland gezogen weisen darauf hin, dass das Leben des war, hallt weltweit nach. Die schwange- Fötus gegenüber dem Leben der Mutter re Halappanavar starb, nachdem Ärzte in ihrem Land, rechtlich gesehen, kei- sich aufgrund des irischen Abtreibungs- nen Vorrang hat, allerdings gegenüber verbots geweigert hatten, ihren 17 Wo- der Gesundheit der Mutter – eine Unter- chen alten Fötus zu entfernen, obwohl scheidung, die amerikanische Abtrei- sie offensichtlich erkannt hatten, dass bungsgegner schon lange auch in den der Fötus nicht lebensfähig war – als sich Vereinigten Staaten einführen wollen. ihr Zustand verschlechterte, verlegten So stellt der Fall von Halappanavar sie Halappanavar auf die Intensivstation. das westliche Vorurteil über vermeint- Indische Aktivisten sind empört. „Für lich abergläubische und extrem religiö- Männer gibt es keine Regeln, wann, wo se östliche Gesellschaften auf den Kopf. oder wie ihnen medizinische Hilfe zu- Halappanavar starb aufgrund des fana- teil werden soll, aber die Regierungen tischen, atavistischen Verhaltens einer erlassen Gesetze, die den Zugang von westlichen Theokratie, während indi- Frauen zu sicherer Abtreibung festlegen, sche Protestierende und Gesetzgeber erschweren oder beschneiden”, sagte das wissenschaftliche, rationalistische Anjali Sen, die Südasien-Direktorin des Ethos der Aufklärung hochhielten. Wir Internationalen Verbands für Familien- im Westen sind so sehr an „unsere” re- planung. „Richtige und notwendige ligiösen Fanatiker gewöhnt, dass wir sie Pflege hätte ihr Leben retten können. kaum jemals so betrachten wie diejeni- Es ist unverzeihlich, dass Ärzte ihr beim gen des Ostens. Aber Halappanavars Sterben zugeschaut haben, anstatt sie zu Tod lässt uns keine Wahl. Eine Nicht-Ka- retten.” tholikin, die durch einen nicht lebens- Am 21. Oktober litt Halappanavar fähigen Fötus langsam vergiftet wurde, unter extremen Schmerzen. Nachdem sollte ihre Nicht-Behandlung akzeptie- man ihr sagte, dass der Fötus nicht über- ren, weil der Papst, auf Anordnung des leben und sie eine Fehlgeburt haben Heiligen Paulus, ihren Ärzten die Hände würde, bat sie nach Aussage ihres Ehe- band. Man stelle sich den Aufschrei vor, manns wiederholt um einen Schwanger- den es gegeben hätte, wäre eine nicht- schaftsabbruch. Aber dann lernte das muslimische Frau gestorben, weil ein Paar, dass Irland ein katholisches Land Imam ihr aus religiösen Gründen medizi- ist; das Herz des Fötus schlug noch, ein nische Hilfe verweigert hätte. Abbruch kam daher nicht in Frage. Ha- Die Tatsache, dass sich die Aufregung lappanavar starb an Blutvergiftung, die, bis nach Indien verbreitete, veranschau- so ist sich ihre Familie sicher, durch eine licht die vielen Möglichkeiten, wie man Abtreibung hätte verhindert werden Abtreibung betrachten kann – sogar aus können. religiöser Perspektive. Wie ich bereits Proteste in Irland brachten Premier- vor 20 Jahren bemerkte, ist die west- minister Enda Kenny in Zugzwang, liche, christlich-katholische Sichtweise Aktivisten dort, wie auch in Indien, be- der Abtreibung nicht die einzige religiö- haupteten, Ursache für Halappanavars se Interpretation des Themas.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 33 12.12.12 10:51 34 Kolumne

Dem Hinduismus zufolge bedeutet eine gelegt. Irische Frauen fragen sich zu Abtreibung schlechtes Karma, aber dies Recht, ob es beim nächsten Mal sie sind, ist nicht dasselbe wie die manichäische die einer religiösen Sichtweise zum Op- Ansicht der fundamentalen Christen fer fallen, die nichts mit ihren medizini- und der katholischen Kirche. Die medi- schen Bedürfnissen zu tun hat. Aber es zinische Ethik der Hindus ruft zu ahimsa ist der Aufschrei in Indien, wo Protestie- oder „Gewaltlosigkeit” auf, das heißt, rende fordern, dass Abtreibung in Irland sie verpflichtet einen Arzt, den in einer als private medizinische Entscheidung Situation geringstmöglichen Schaden zu zwischen einer Frau und ihren Ärzten verursachen. Aus hinduistischer Sicht behandelt werden sollte, der den Weg hätte das Leben der Mutter im Fall Ha- weisen könnte – hin zu einem globalen lappanavar also gerettet werden müs- Dialog über das universelle Recht von sen, wenn der Fötus es gefährdet. In die- Frauen auf Gesundheit und Freiheit be- ser Hinsicht ähnelt der Hinduismus dem züglich ihrer Fortpflanzung. Judentum und sogar dem orthodoxen Dass solch ein globaler Dialog im „Os- Judentum – dort ist „das Leben der Mut- ten” beginnt, ist nicht neu. Erst kürzlich ter wichtiger als das des Fötus.” zeigte sich die wachsende internationa- Zwar wird Abtreibung in Indien ne- le Forderung nach Rechtsstaatlichkeit gativ gesehen, sie ist aber nicht illegal – und Menschenrechten, als afghanische wahrscheinlich deshalb, weil man sie als Gesetzgeber, vergeblich aber ehren- Angelegenheit der persönlichen Moral haft, den amerikanischen Besatzern die betrachtet. Dabei wird die Last dessen, Prinzipien der US-Verfassung erklärten was wir im Westen „Wahlfreiheit” nen- – diese wollten dort Festnahmen ohne nen würden, dem Karma aufgebürdet. Prozess ermöglichen. (Tatsächlich ist das Abtreibungsproblem Wenn der Westen aufgefordert wird, in Indien am anderen Ende des Spek- seinem eigenen Selbstbild als Bastion trums angesiedelt: Die Abtreibung weib- von Vernunft und menschlicher Freiheit licher Föten ist deshalb weit verbreitet, gerecht zu werden, ist das eine gesun- weil Söhne kulturell bevorzugt werden, de Entwicklung. Würde er sich seinen eine Situation, die meiner Meinung nach Rückfällen in Fanatismus und Barbarei auch Mütter Gewalt aussetzt.) stellen, wäre das ein guter Start. Die Kulturschlacht um den Tod von Halappanavar ist noch lange nicht bei- Übersetzung: Harald Eckhoff ©Project Syndicate

Dokumente auf www.blaetter.de Online, kostenfrei und zeitnah aktualisiert

Weitere Informationen fi nden Sie in dieser Ausgabe auf Seite 124.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 34 12.12.12 10:51 Analysen und Alternativen

Kurzgefasst

Ernst Engelberg: Gibt es einen Sinn der Geschichte?

Die Geschichtswissenschaft mag zwar viele Erklärungen für vergangene Entwicklungen bieten, die zentrale Frage aber bleibt offen – nämlich nach den Gründen und Zielen von Geschehnissen, die die Menschheit bewegen. Während in der Antike eine zyklische Auffassung vorherrschte, entdeckten das Christentum und die Aufklärung die Zukunft und den Fortschritt. Auch wenn heute Grund für Pessimismus bestehen mag, gelte es, so der Histori- ker Ernst Engelberg, in der Tradition der Aufklärung weiter zu denken.

Micha Brumlik: Was wäre eine gute Religion? Pluralistisches Glaubens- verständnis und säkularer Staat

Der Streit über die Beschneidung und zunehmender Judenhass: Die Frage, was eine „gute“ Religion im Sinne einer aufgeklärten Gesellschaft sein kann, könnte aktueller nicht sein. Welche Ansätze speziell in Deutschland zu finden sind, analysiert der Erziehungswissenschaftler und „Blätter“- Mitherausgeber Micha Brumlik. Es komme darauf an, die gesellschaftliche Toleranz zu erhöhen und die Wertschätzung der Religionen zu befördern.

Florian Bernhardt: »Diese dreckige, ungläubige kleine Sekte«. Der syri- sche Bürgerkrieg und der Hass auf die Alawiten

Der Bürgerkrieg in Syrien wird zunehmend von religiösen Motiven geprägt. Das jahrhundertealte Misstrauen, speziell gegen die Alawiten, findet seinen Ausdruck in den Hasspredigten salafistischer Oppositioneller. Der Islam- wissenschaftler Florian Bernhardt analysiert das Zerwürfnis der religiösen Gruppen. Seine Prognose: Die Aussichten für Minderheiten sind düster.

Claus Offe: Europa in der Falle

Die Schuldenkrise hat Europa fest im Griff. Die Bemühungen der Politik zeigen, wenn überhaupt, nur sehr begrenzte Wirkung. Der Politikwissen- schaftler Claus Offe analysiert den Geburtsfehler der Währungsunion: die anhaltende Diskrepanz zwischen ökonomisch Notwendigem und politisch Machbaren sowie die unzureichenden Kontroll- und Regulierungsmecha- nismen. Um einen Zerfall der Eurozone doch noch zu verhindern, braucht es mehr Solidarität und Demokratie auf europäischer wie nationaler Ebene.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 35 12.12.12 10:51 36 Kurzgefasst

Franz Segbers: Die Armut der Politik. Das Menschenrecht auf Nahrung – und der Irrweg der Tafelbewegung

In Deutschland, dem Exportweltmeister, sind Armut und Unterversorgung allgegenwärtig. Obwohl ein Menschenrecht auf Nahrung existiert, zieht sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung immer mehr zurück. Dafür springt die Tafelbewegung in die Bresche. Der Theologe und Sozialethiker Franz Segbers sieht hierin jedoch keine Lösung des strukturellen Problems der Armut, sondern einen Beitrag zu ihrer Manifestation.

Siegfried Broß und Tim Engartner: Vom Wasser bis zur Müllabfuhr: Die Renaissance der Kommune

Die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen nahm über viele Jahre zu, doch die erhofften Erleichterungen für Kommunen wie Bürger blieben aus. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Tim Engartner und der Rechts- wissenschaftler Siegfried Broß zeichnen jedoch ein sich veränderndes Bild der deutschen kommunalen Landschaft: Eine Rückaneignung von Strom- und Wasserversorgung, Müllentsorgung und Infrastruktur findet statt – und damit einher geht das Ende der Mär von der Allmacht des Marktes.

Das große Zeitungssterben Beiträge von Reinhard Blomert, Daniel Leisegang und Jan Kursko

Mit dem Ende von „Frankfurter Rundschau“ und „Financial Times Deutsch- land“ ist eine breite internationale Entwicklung jetzt endgültig auch in der Bundesrepublik angekommen – die zunehmend flächendeckende Ein- stellung von sogenannten Qualitätszeitungen. Diesem Phänomen widmen sich aus je unterschiedlicher Perspektive die drei Beiträge von Reinhard Blomert, Daniel Leisegang und Jan Kursko.

Susanne Baer: Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? Gender und Verfassungsrecht

Sowohl im Grundgesetz als auch in den Rechtswissenschaften und der Rechtsprechung ist die Hegemonialstellung des „Männlichen“ nach wie vor unangefochten – mit nachhaltig negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Was Gender in diesem Kontext bedeutet und wie Gender Stu- dies helfen können, Missstände im Rechtswesen aufzudecken, ergründet die Rechtsprofessorin und Richterin am Bundesverfassungsgericht Susanne Baer. Die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen ist ihrer Ansicht nach gesellschaftlich zentral – nicht zuletzt, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 36 12.12.12 10:51 Gibt es einen Sinn der Geschichte? Von Ernst Engelberg

»Der Fortschritt ist kein kontinuierliches Fortschreiten. Dazwischen liegen die Katastrophen.« Werner Mittenzwei 1

ie Historik, die die Geschichte erforscht, bietet für jeden Zeitenwandel D reflektierend und darstellend viele Vergleiche an, ökonomisch-soziale, politische und psychologische Erklärungen für Niedergangsperioden, für Weltkriege, für Revolutionen, heiße und kalte Bürgerkriege unserer Epoche und früherer Zeiten. Künstler des Wortes, des Bildes und des Klanges vermit- teln Erlebnisse leidender, gequälter, herrschsüchtiger und rebellischer Men- schen in Fülle. Und immer wieder bleiben bohrende Fragen offen, so etwa, ob die gegenwärtige Weltkrise der menschlichen Lebens- und Schaffenswelt zum ewigen Kreislauf der Geschichte gehört? Bleibt jenes „Menschlich-Allzu- Menschliche“, das immer wieder Niedertracht in Kriegs- und Friedenszeiten hervorbringt, für immer bestehen? Die Frage nach der Natur des Menschen bewegt uns, und wenn der Mensch sich verändert, unter welchen Bedingun- gen, inwieweit und in welcher Richtung geschieht es? Wohin entwickelt sich überhaupt die Menschheit? Der Ruf nach Erlösung diesseits oder jenseits der Erdenwelt ist seit Jahr- tausenden nicht verhallt. Erlösung vom Übel erfleht das Gebet, das die Hoffnung aufs Jenseits richtet. Aufs Diesseits aber richtet sich die „Interna- tionale“: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“ Beide allerdings hoffen auf Erlösung in der Zukunft, wo immer sie auch gelegen sei. Gehört dieses Sehnen und Streben von Individuen, von Klassen und Schich- ten des menschlichen Geschlechts nicht auch zu einem möglichen Sinn der Geschichte? Schon dem Sprachgebrauch nach enthält das Wort Sinn nicht allein das Zweckhafte, das Wozu und Wofür, es verweist die geschichtliche Bewegung auch auf ein Wohin. Unwiderstehlich drängte sich im aufgewühlten 20. Jahrhundert die Sinn- frage der Geschichte auf. Ich möchte mich auch von persönlichen Erinne- rungen her an die Sachlage herantasten. Bereits im Ersten Weltkrieg fragten Frauen und Mütter, wofür ihre Männer und Söhne eigentlich gefallen seien.

* Der Beitrag ist das 12. und abschließende Kapitel der von Achim Engelberg herausgegebenen, bearbeiteten und ergänzten Aufsätze aus dem Nachlass seines Vaters, die Anfang 2013 unter dem Titel „Wie bewegt sich, was uns bewegt? – Evolution und Revolution in der Weltgeschichte“ im Franz Stei- ner Verlag Stuttgart erscheinen. 1 Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen, Leipzig 2001, S. 558 (Schlusssatz).

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 37 12.12.12 10:51 38 Ernst Engelberg

Die konventionelle Formel von der „stolzen Trauer“ verfing schon damals nicht mehr. Und im Zweiten Weltkrieg, wo sich den gefallenen Soldaten auch eine Vielzahl umgekommener Zivilisten beigesellte, wurden die Fragen noch bedrängender. Unauslöschlich haben sich mir im Exil jene verzweiflungsvollen Stun- den eingeprägt, in denen jüdische Emigranten vom Tode ihrer in Deutsch- land verbliebenen Angehörigen erfuhren; ermordet waren sie, nicht gefallen auf dem Schlachtfeld, auch nicht im blutigen, wutverzerrten Gemetzel der Pogrome, sondern in blutfreien Gaskammern, kalt vorbereitet nach einem logistisch ausgeklügelten Verfahren mit dem Ziel industrieller Massenver- nichtung. Eine entsetzliche Perfektionierung des Schreckens; fast treten die Mörder zurück, umso klarer zeichnet sich die Unterscheidung zwischen schutzlos ausgelieferten Menschen und eiskalter Unmenschlichkeit ab. Hier nahm die historische Sinnfrage neue Dimensionen an. Und dennoch steht sie, intellektuell gesehen, in Zusammenhängen, um deren Erkundung sich Historiker und Philosophen schon seit langen Zeiten, bereits im Altertum, bemühten.

Wen die Götter strafen

Bei den griechischen Historikern waren es die Götter, die in das geschicht- liche Geschehen unmittelbar und oft grausam strafend eingriffen. Im viel- fach Bewegten aber galt als das im Wesentlichen Gleichbleibende: die Über- zeugung von der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur, vermittelt in der Gesamtschau des Erforschten und Dargestellten als einer zyklischen Wiederholung. Die Ereignisse des politischen und kriegerischen Gesche- hens, die Taten der Heroen, ihr Kampf ums Leben, ihr Übermut, ihre Rache und ihr Tod – die ganze tragische Poesie der Geschichte –, alles steht unter dem Gesetz von Entstehen, Wachstum und Untergang, neu beginnend im gleichen Rhythmus. Diese zyklische Auffassung vom geschichtlichen Leben gab keinen Trost, keine Hoffnung, bestenfalls stärkte sie die Seelen im bitte- ren Daseinskampf der Völker und Staaten. Auffallend, dass diese moralisch zweckgerichteten Vorstellungen von geschichtlichen Abläufen in dieser Epoche nicht nur in Griechenland exis- tierten. Eine im Kern ähnliche geistige Verfassung herrschte in China vor; bezeichnenderweise symbolisierte auch in Indien ein Rad den Zeitbegriff: die ewige ziellose Kreisbewegung von Tod und Wiedergeburt. Nichts Neues werde die Zukunft bringen, es würde ähnlich geartet sein wie vergangenes und gegenwärtiges Geschehen. Allerdings gab es in der athenischen Polis- demokratie des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung und in späthelle- nistisch-römischer Zeit auch Fortschrittsauffassungen eigener Art. Im 5. Jahr- hundert war der Fortschritt der praktischen Künste, die den elementaren Lebensbedürfnissen dienten, wie jener der „schönen Künste“ unverkennbar. Doch im Selbstbewusstsein des Erreichten glaubte man nicht mehr an eine Weiterentwicklung. Progress blieb auf das beschränkt, was von der Ver-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 38 12.12.12 10:51 Gibt es einen Sinn der Geschichte? 39

gangenheit ausgegangen war und bis zur damaligen Gegenwart reichte; er blieb also retrospektiv. Man orientierte sich noch nicht, wie später in der Auf- klärung, auf ein Weiterwirken in der Zukunft, am allerwenigsten auf eine ferne. Mit ihr gab sich kein Grieche ab; so auch nicht die Denker der spät- hellenistisch-römischen Zeit. Allerdings wiesen ihre auf die Vergangenheit gerichteten Fortschrittskonzeptionen bereits dialektische Züge auf, etwa die heute noch gültige Erkenntnis, dass technischer Fortschritt durchaus von sittlicher Dekadenz begleitet sein kann. Insgesamt aber blieb in der Griechenzeit die zyklische Geschichtsauffas- sung dominant. Sie stand, wie bereits angedeutet, im Zusammenhang mit dem Menschenbild. Jacob Burckhardt setzte sich in seinem berühmten, aber – so scheint es – Verlegenheit bereitenden Kapitel seiner Kulturgeschichte „Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens“ in strikten Gegensatz zur ver- klärenden Sicht des deutschen Humanismus, wie sie besonders in Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“ poetischen Ausdruck fand. Ihm eignet schon insofern programmatische Bedeutung, als der Dichter an ihm in ver- schiedenen Zeitabschnitten seines Lebens arbeitete; zuletzt veröffentlichte er es 1803 mit dem Untertitel: „Für die Freunde der ersten Ausgabe“, und die war 1788. Er beginnt mit den hymnischen Zeilen: „Da ihr noch die schöne Welt regiertet, An der Freude leichtem Gängelband Glücklichere Menschenalter führtet, Schöne Wesen aus dem Fabelland! Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte, Wie ganz anders, anders war es da!“ Demgegenüber weist Jacob Burckhardt die Vorstellung zurück, dass „die Athener des perikleischen Zeitalters [...] jahraus, jahrein im Entzücken“ gelebt hätten und setzt das Verdikt hinzu: „Eine der allergrößten Fälschun- gen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen und umso unwiderstehlicher, je unschuldiger und überzeugter sie auftrat. Man über- hörte den schreienden Protest der ganzen überlieferten Schriftwelt.“ In der Tat bereitet Jacob Burckhardt in dem umfangreichen Kapitel eine ganze Fülle von Zeugnissen des „griechischen Pessimismus“ aus. Nicht nur die repräsentativen Geister aller Epochen der Antike, auch die anderen Überlie- ferungen bekunden dieses „Gemeingut des griechischen Pessimismus: der Mensch ist zum Unglück geboren, Nichtsein oder Frühsterben das Beste“.2

Das Streben nach dem rechten Maß und richtigen Erkennen zwecks Bewältigung der Gegenwart

Ich will hier nicht ergründen, aus welchen Gegenwartsbedürfnissen heraus man die griechische Welt verklärte, ich will auch nicht den widersprüch- lichen Zusammenhang erklären zwischen dem „griechischen Pessimismus“

2 Jacob Burckhardt, Gesammelte Werke, Band VI, Griechische Kulturgeschichte, Zweiter Band, Berlin o. J., S. 348 ff.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 39 12.12.12 10:51 40 Ernst Engelberg

und dem gleichzeitigen Bemühen griechischer Künstler und Philosophen um das „Gute und Schöne“. Eines aber steht außer Zweifel: Das Streben nach dem rechten Maß und richtigen Erkennen ist auf die Bewältigung der Gegen- wart gerichtet und hatte nichts zu tun mit der Hoffnung auf Veränderung in der Zukunft. In diesem Sinne spricht auch Christian Meier in seinem Buch über das alte Athen von den „Affektkontrollen“, die die Griechen unter sich, fernab von allen Zukunftsideologien, errichtet hätten.3 Wie immer das auch gewesen sein mag, als eine weiter zu verfolgende These – oder auch Hypo- these – möchte ich festhalten: Ihr zumindest skeptisches Menschenbild und ihre Auffassung von den historischen Kreisläufen machte es den Griechen unmöglich, in der Geschichte einen Sinn zu sehen.

Von Athen nach Rom: Moralisierender Pessimismus der großen Männer

Wie aber stand es damit in der römischen Antike? Auch dort, wo im Unter- schied zu Griechenland die Geschichtsschreibung mehr geschätzt wurde als die Philosophie, vermittelten die Historiker keine vorwärtsweisende Zuver- sicht. Das Interesse solcher Staatsschriftsteller und Politiker wie Cäsar und Historiographen wie Sallust, Livius und Tacitus richtete sich – nicht anders als bei Herodot und Thukydides – auf Kriege, auf Außenpolitik mit ihrem Primat gegenüber der Innenpolitik. Dem allen entsprach die Anerkennung der überragenden Rolle der Persönlichkeiten, deren Eigenart und Wirken mit literarischer Meisterschaft dargestellt wurden. Alles aber durchdrang ein moralisierender Pessimismus. Sowohl Titus Livius (59 v.–17 n.u.Z.), der um die Zeitenwende lebte, als auch der einige Jahrzehnte später schreibende Cornelius Tacitus (56–120) beurteilten ihre Epoche vorwiegend negativ. Was es da alles zu kritisieren gab, sei nur erinnernd erwähnt: Der Zeiten- wende war ein Jahrhundert der Kriege um die Erweiterung des Reiches vor- ausgegangen, um die Beherrschung der Provinzen, um adlige Machtkämpfe, schließlich um das Niederschlagen der Sklavenaufstände. Das alles bewegte sich im spannungsreichen Wechselspiel mit der Krise der Sklavenwirtschaft, mit der Verschiebung der Besitz- und Kreditverhältnisse, in denen sich die Spanne zwischen Armen und Reichen vergrößerte. Den ökonomisch-sozia- len und politischen Turbulenzen entsprach der moralische Verfall: Habsucht und Egoismus, Bestechlichkeit und provozierender Luxus, Schwelgerei und ordinärste Sinnenlust. Sicherlich: Unter den Zeitkritikern waren auch Historiker zu vernehmen. Doch sie konnten die ihnen nahestehenden Staatsgewalten bestenfalls nur akademisch ermahnen. Einen Ausweg wiesen sie nicht; am allerwenigsten vermochten sie die Elendsmassen in Stadt und Land des römischen Riesen- reiches moralisch-politisch zu erreichen. Nicht, dass sie dies gewollt hätten, aber es trug zur Verfahrenheit der Lage bei. Titus Livius schlussfolgerte resi- gnierend: Weder unsere Gebrechen noch die Heilmittel vertragen wir mehr.

3 Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993, S. 473 f.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 40 12.12.12 10:51 Gibt es einen Sinn der Geschichte? 41

Erlösung durch das Jenseits: Die Geburt des Christentums

An dieser irdischen Welt schier verzweifelnd, suchten immer mehr Men- schen zumindest eine geistige Erlösung, die sie vom Jenseits erhofften. Auf diesem Boden sozialer und menschlicher Krisen erwuchs und verbreitete sich das Christentum, das ohnehin durch religiöse und vulgärphilosophische Vorstellungen der Spätantike vorbereitet worden war. Über Palästina hinaus erweiterte es immer mehr den Radius seiner Missionstätigkeit – national und sozial. Vor allem Paulus war es, der bei den vielen Völkern des Römischen Reiches predigte und die meisten Anhänger aus den unteren Schichten der Gesellschaft, den Sklaven, den Handwerkern und den Freigelassenen, gewann. Grundsätzlich opponierte er nicht gegen die Sklaverei: Mit dem Widerspruch, einerseits barmherzige Hinwendung zu den Mühseligen und Beladenen, andererseits mehr oder weniger Verquickung mit den jeweils Herrschenden, lebte und lebt das Christentum bis zum heutigen Tage. Der Grundsatz der nationalen und sozialen Gleichheit, wenn auch nur vor Gott, und die Hoffnung auf eine nahe oder ferne Erlösung im Jenseits schufen jedoch Voraussetzungen für eine künftige Ausbildung zu einer Weltreligion. Der Geschichte war nun – anders als bei den griechischen und römischen Philosophen und Historikern – mit Jesus und seinem Sühneopfer zur Erlösung der sündigen Menschheit ein Ziel gesetzt. Das veränderte allmählich das historische Denken, wenn auch so, dass der Gewinn auch Verluste brachte. Künftig ergründeten die Historiker weit weniger die in der Vergangenheit wirkenden Kräfte, als dass sie deren moralische Schuldhaftigkeit zu enthül- len trachteten, die Gegenwart warnend und auf das Heil in der Zukunft ver- weisend. Für das Geschichtsverständnis aber überwog der Gewinn, indem das Interesse für die Zukunft geweckt wurde und sich die Vorstellungen vom historischen Verlauf wandelten. Allerdings bedurfte es noch einer langen Periode der Kirchengeschichte, bis Augustinus um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert die klassische Anschauung von einer ziellosen, periodischen Kreisbewegung der Weltgeschichte überwand; das bestimmte dann die Geschichtsauffassungen bis zur Renaissance. Was die Natur des Menschen betrifft, so ist sie im christlichen Verständ- nis nach Adams Fall von Geschlecht zu Geschlecht mit der Erbsünde behaf- tet. Insofern wirkt der antike Pessimismus weiter. Umstürzend ist jedoch die Aussicht auf eine menschliche Erneuerung; durch den Glauben an Christus und an seinen Opfertod erhält der Mensch die Fähigkeit zum Guten schon während seines Erdenlebens wach. Auch hier gibt es der Widersprüche genug. Doch wie sich auch die theologische Anthropologie in den histori- schen Wechselfällen der kommenden Jahrhunderte bis zu ihrer Säkularisie- rung in der Aufklärung entwickelt haben mochte, das Christentum hat neue, wenn auch immer wieder höchst prekäre Möglichkeiten einer optimistische- ren Sicht auf den Menschen geschaffen. Nicht um eine bloße Affektkontrolle geht es, wie in der Antike, sondern um den Willen zur grundsätzlichen Ver- änderung. Man soll nicht nur in der Gegenwart verharren, sondern sich der Zukunft zuwenden, selbst wenn Erlösung erst im Jenseits liegt.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 41 12.12.12 10:51 42 Ernst Engelberg

Die Verfolgungen der Christen und die geistigen Auseinandersetzungen mit einer werdenden Kirche muss ich aussparen, ebenso die Ausbildung ihrer Verfassung und den Entscheidungskampf zwischen Christentum und Römi- schem Reich. Selbst die Entwicklung der römischen Reichskirche bis zur Auflösung des Gesamtreiches und die Gründung katholisch-germanischer Landeskirchen kann und darf uns hier ebenso wenig beschäftigen wie die Erneuerung des Kaisertums und der Aufstieg des Papsttums. Erst die Vor- bereitungsperiode der Reformation und die Renaissance stellen uns wieder vor die Fragen nach der historischen Entwicklung in der Zukunft und dem Menschenbild.

Das Mittelalter und die Geburt der Nation

Seit dem 14. Jahrhundert nahmen die im Laufe des Mittelalters sich heraus- bildenden Nationen ausgeprägter Gestalt an; das gründete auf einer Produk- tionsweise, die die Naturalwirtschaft erheblich zurückdrängte, die ökono- misch-soziale und kulturelle Bedeutung der Stadt erhöhte und auf dem Lande die mannigfachen Auseinandersetzungen zwischen den Bauern und ihren Feudalherren verschärfte. Im Bemühen, diese spannungsreiche Dynamik zu beherrschen, bildeten sich in England und Frankreich nationalstaatliche Monarchien heraus, die untereinander selbst wieder in blutigen Widerstreit gerieten. Der Hundertjährige Krieg endete 1453 mit dem Sieg Frankreichs; das war im gleichen Jahr, in dem die Türken Konstantinopel eroberten, ein Ereignis, das nach Friedrich Engels das Ende des Mittelalters anzeigen sollte. Wie dem auch sei, die Ausweitung des Osmanenreiches belastete den seit den Kreuzzügen entstandenen See-Land-Handel mit den vorder-, klein- und ostasiatischen Ländern zusätzlich durch hohe Abgaben, was wiederum dazu motivierte, neue Seewege und Kontinente zu entdecken. Jedenfalls markier- ten die Landungen von 1492 und 1498 in Amerika und Indien den Anfang der Neuzeit; jetzt begann die erste Aufteilung der Welt. In Europa erheischte die spannungsgeladene Krise des mittelalterlichen Feudalismus zwingend neue Lösungen. Seit langem kam die Elite in Gesell- schaft und Staat mit den überkommenen Moralvorstellungen und Bindungen an die Papstkirche nicht mehr aus und nicht mehr weiter. Je nach individuel- lem Temperament und Bedürfnis suchten die einen – auf Vermittlung durch geistliche Institutionen verzichtend – durch mystische Versenkung den direkten Zugang zu Gott, andere wiederum, die den theologischen Streit mit der ohnehin schon veräußerlichten Kirche vermeiden wollten, dachten und handelten einfach nach den Erfordernissen des sich verändernden Diesseits, ohne Rücksicht aufs Jenseits und auf überkommene Heilsvorstellungen. Das erforderte allerdings geistig-moralische Neuorientierungen, und eben diese suchten und fanden Gelehrte und Künstler in der Antike. So entstand und entwickelte sich die Re-Naissance, die Wiedergeburt eines bereits Dage- wesenen, die trotz allem nicht epigonal war, sondern sich kreativ zeigte, gerichtet auf die realistische Erfassung der Natur und der Gesellschaft, auf

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 42 12.12.12 10:51 Gibt es einen Sinn der Geschichte? 43

die Entfaltung möglichst vieler Fähigkeiten des Menschen. Dennoch brach die Renaissance nicht mit dem Christentum, sondern fand besonders in über- zeugenden künstlerischen Ausdrucksformen Eingang in kirchliche Institu- tionen, sogar in deren Zentralstätte, den Päpstlichen Hof des Kirchenstaa- tes. Spätestens die Gegenreformation erkannte schließlich, dass der Geist des Renaissance-Humanismus das katholische Christentum zwar glanzvoll bereichert, aber auch innerlich ausgehöhlt und gegenüber der von Luther eingeleiteten und von Calvin weitergeführten Reformation geschwächt hatte.

Die Renaissance als Wiederkehr der „Ewigen Wiederkehr des Immergleichen“

Für die beiden uns interessierenden Hauptprobleme, die Geschichtsauffas- sung und das Menschenbild, ist die Renaissance besonders aufschlussreich, denn das Rad der Geschichte war durch die Orientierung auf die Antike erneut eingerastet, was die Neuaufnahme der alten Kreislauflehre begüns- tigte. Repräsentativ für die Vorstellung der Geschichte als der ewigen Wie- derkehr des Immergleichen wurde Niccolò Machiavelli (1469–1527). Nach ihm gibt es einen quasi-naturgesetzlichen Kreislauf der Staatsformen, den Zyklus der Aufstiegs- und Niedergangsprozesse der Staaten, bei letztlicher Konstanz der menschlichen Natur. Tief pessimistisch schrieb er im „Il Prin- cipe“ („Der Fürst“): „Von den Menschen lässt sich im Allgemeinen so viel sagen, dass sie undankbar, wankelmütig und heuchlerisch sind, voller Angst vor Gefahr, voll Gier nach Gewinn.“ Damit verabschiedete er die Idee der möglichen Vervollkommnung des Menschen, der ältere Renaissance-Denker, wie etwa Pico della Mirandola, noch angehangen hatten, wenngleich sie sie auf eine Elite beschränkten. Bei Machiavelli aber heißt es über die Natur der Menschen und ihr Verhältnis zu den Staaten in den „Discorsi“: Sie alle hatten „von jeher die gleichen Wün- sche und die gleichen Launen“. Doch unter dem Eindruck erlebter Zeitge- schichte folgert er dann: „Es ist von der Natur den menschlichen Dingen nicht gestattet, stille zu stehen.“ Zum Kreislauf der Geschichte gehört durchaus die Regeneration eines Staates, die eine möglichst bedeutsame historische Persönlichkeit erkennen und gestalten soll. Die rein politische Staatsumwäl- zung hat dabei bestehende gesellschaftliche Zustände zu bewahren und die Beziehungen zwischen den Klassen und Individuen so zu regeln, dass sie, so Machiavelli, nicht immer wieder destruktiv entarten können. Diese für Italien konzipierte, gleichsam konservative Revolution hat nichts gemein mit den plebejischen Komponenten der frühbürgerlichen Revolu- tionsbewegungen in Deutschland. Einen progressiven Sinn sieht Machia- velli in der Geschichte nicht. So folgert Frank Deppe: „Weder akzeptiert er den christlichen Heils- und Erlösungsglauben, der stets die menschliche Geschichte [...] von der ‚Schöpfung‘ bis zum ‚Jüngsten Gericht‘ betrachtet; noch antizipiert er das spätere bürgerliche Fortschrittsdenken, das vom Gedanken der [...] Perfektionierung der Erkenntnis sowie der gesellschaftli-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 43 12.12.12 10:51 44 Ernst Engelberg

chen Verhältnisse geleitet wird.“ Die Renaissance im Gesamten war ohnehin nicht vom „Hochgefühl eines Fortschrittsbewusstseins getragen“, wie Werner Krauss nachdrücklich befand. Und dennoch bereitete sie, facetten- und formenreich, wie sie war, und in Bild und Begriff immer wieder auf den Men- schen bezogen, gedanklich die Aufklärung vor. Das tat auch Machiavelli, antiklerikal, nüchtern und offen in seinen staatstheoretischen Aussagen. Große Aufklärer wie Voltaire, aber auch Rousseau und Herder wussten, was sie ihm und der ganzen Renaissance zu verdanken hatten. Einer der merkwürdigen Widersprüche in der Geschichte: Das rationale Erbe der Renaissance übertrug sich auf spätere Generationen der Aufklä- rer durch eine historische Bewegung, deren geistige Leitbilder theologisch geprägt waren. Es begann mit Luther, der dem Angriff auf die Papstkirche durch seine Schlüsselworte von der Gnade Gottes durch den Glauben statt guter Werke – etwa in Ablassbriefen – populäre Durchschlagskraft verlieh. Die Bewegung der unzufriedenen Massen, begleitet von einer quirlenden geistigen Vitalität, wirkte in verschiedenen Formen rasch über Deutschland hinaus. Die Reformation setzte sich fort und fest in der Schweiz, in Holland, in Schottland und in England und mutierte zu einer bürgerlichen Initial- revolution der Neuzeit. Europäisch, wie sie war, endete sie keineswegs mit der Niederlage des deutschen Bauernkrieges 1526 oder der Täuferbewegung in Münster 1535, sondern frühestens mit dem Sieg der Calvinschen Reforma- tion in Genf 1536. Ohne Luther kein Calvin, ohne Calvin nicht jene Form des Protestantis- mus, die der heraufkommenden Bourgeoisie als religiöse Orientierung am besten diente – nicht allein im Geistig-Politischen, sondern auch bei der Ent- wicklung der unternehmerischen Impulse. Der Calvinismus forderte und förderte gewisse Charaktereigenschaften – so etwa den Antrieb zur Arbeit, zwanghaftes Pflichtgefühl, Sparsamkeit usw. –, die der kapitalistischen Pro- duktionsform unverkennbar zugutekamen. Nun war der funktionstüchtige Mensch gefragt, nicht mehr der uomo universale der Renaissance, eher, wenn ich den Vergleich wagen darf, der uomo virtuoso im Sinne Machiavel- lis. Unversehens wird deutlich, wie – durch ein anderes Umfeld veranlasst – der Mensch am Menschen bildet und formt, wie sich eine Dialektik von Kon- stantem und Variablem in der Natur des Menschen auftun kann. Und dies vor allem in Zeiten des Umbruchs, der leidvollen Umgestaltungen in gesell- schaftlichen und politischen Verhältnissen.

Vom frühen Verlags- und Manufakturkapitalismus zur Industriellen Revolution

Frühbürgerliche Revolution und der aufkommende Verlags- und Manufak- turkapitalismus, der sich im 16. Jahrhundert entfaltete, hatten vielfältige politische Auswirkungen: durch umfangreiche Abspaltungen von der Papst- kirche – der zentralen und einigenden Institution im Abendland – war das Machtgefüge des Feudalismus schwer erschüttert, der politische Spielraum

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 44 12.12.12 10:51 Gibt es einen Sinn der Geschichte? 45

des sich international zur Bourgeoisie entwickelnden Bürgertums erweiterte sich; das Staatensystem in Europa wandelte sich in heftigen Konvulsionen. Historische Markierungen des 17. Jahrhunderts sind nun einmal die Jahre 1648/49, als sich im zerrütteten Deutschland das Territorialfürstentum eta- blierte, in Frankreich sich aber die staatliche Einheit als Voraussetzung sei- ner Vormachtstellung festigte, in England die „great rebellion“ mit der Hin- richtung des Königs siegte; zum anderen aber sind die Jahre 1685 bis 1688 bemerkenswert, in denen sich mit der weiteren Hugenottenverfolgung die ersten Krisenzeichen des französischen Absolutismus zeigten und die glorius revolution den Aufstieg Englands bewirkte. Die unvermeidliche französisch-englische Rivalität bewegte sich im kom- menden Jahrhundert auf drei Ebenen: der des staatlich-dynastischen Macht- kampfes, der der ökonomischen Entwicklung und der der geistigen Aus- einandersetzung mit sozialen, politischen und humanen Problemen. Der französische Absolutismus erlitt im Jahre 1763, nach dem Ende des Sieben- jährigen Krieges, seine entscheidende Niederlage, als England in Nordame- rika über Frankreich siegte. Das war auch ökonomisch ein bemerkenswerter Zeitpunkt, denn von da an entwickelte sich unaufhaltsam jene industrielle Revolution, die das Inselreich zur Musternation der modernen Industrie machte.

Die französische Aufklärung: Der Durchbruch des bürgerlichen Fortschrittsdenkens

Die französische Aufklärung aber gelangte zu einer geistigen Vormacht, deren Ausgangspunkt fast penibel genau auf das Jahr 1687 zu datieren ist, als die Huldigung der Académie française für das „Siècle de Louis le Grand“ den jahrzehntelangen Streit der „Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne“ (Querelle des anciens et des modernes) auslöste. Den provozieren- den Vortrag hielt Charles Perrault, der mit Emphase die These vom kulturel- len Fortschritt seit der Antike bis zur Gegenwart vertrat. Damit ging er über Grundansichten der Renaissance hinaus, vor allem stellte er die zyklische Geschichtsauffassung infrage und variierte sie in dem Sinne, dass der Gipfel- punkt eines jeden Zyklus höher läge als der des vorhergehenden. Ein Jahr später, 1688, formulierte Fontenelle eine Art Gesetz, wonach die Geschichte der Menschheit nicht von einer ewigen Kreisbewegung, sondern von einem irreversiblen Fortschritt bestimmt sei. Damit vertrat er jedoch kei- nen platten Fortschrittsautomatismus. Trotz allen Wissens würden Barbarei und Wildheit in die Gegenwart hineinreichen und den Fortschritt bedrohen. Letztlich aber werden kein Volk und keine ethnische Einheit davon aus- geschlossen bleiben. Mit solchen und ähnlichen Vorstellungen begann die Hauptlinie des bürgerlichen Fortschrittsdenkens in der französischen Auf- klärung. War Fontenelle der bedachtsam reflektierende Akademiker, so erwuchs im 1694 geborenen Voltaire der sensible, vielseitige und angriffslustige

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 45 12.12.12 10:51 46 Ernst Engelberg

écrivain, der einflussreiche Aufklärer Frankreichs. Bei der Beurteilung des Fortschritts erfüllte ihn trotz immer wieder aufkommender Skepsis histo- rischer Optimismus, in den er zukünftige Entwicklungen einschloss. Typi- schem Aufklärertum gemäß: der Appell an die menschliche Vernunft, die sich, durch Erfahrungen gewitzt, allmählich animalischer Residuen entäu- ßern sollte. Die Menschheit müsse noch lernen, sich der Vernunft zu bedie- nen. Da es in der Vergangenheit noch nicht gelungen sei, habe es auch in England etwas gekostet, die Freiheit zu begründen. So wörtlich Voltaire: „Es sind Ströme von Blut geflossen, worin der Götze des Despotismus ersäuft worden ist. Aber die Engländer glauben, ihre Freiheit nicht zu teuer erkauft zu haben.“4 Voltaire, keineswegs ein Atheist, lehnte die christlich-kleri- kale Auffassung ab, die dem Menschen nur eine passive Rolle zubilligte auf jenem von der Erbsünde belasteten Leidensweg bis zum Jüngsten Gericht. Nicht Fremd-, sondern Eigenbestimmung erwartete er, die Fähigkeit, Bar- barei und Feudalismus zu überwinden, mehr noch: Der Sinn der Geschichte erfülle sich im Prozess der Menschwerdung, darum sei keine Erlösung durch ein Mysterium, sondern die des Menschen durch den Menschen geboten.

Von Voltaire bis Kant: Die Idee von der Einheit des Menschengeschlechts

Voltaire gilt als der erste Schriftsteller der Weltliteratur, der mit der These von der Überlegenheit eines einzelnen Volkes oder einer Rasse bricht und den Zivilisationsdünkel des Abendlandes bekämpft. Als ob er die geogra- phische Entdeckung der Welt durch die Sicht auf deren Bewohner ergänzen wolle, bezog er in seine historischen Betrachtungen die vor- und nichtchrist- lichen Völker ein, die Chinesen vor allem, ebenso die Inder und die Araber. Die Einheit des Menschengeschlechts wurde für ihn zum Axiom. Elf Jahre vor Ausbruch der Großen Revolution der Franzosen kam der bislang verstoßene Philosoph nach Paris, das ihn triumphal empfing. Alle huldigten ihm: die Akademie, das Theater und die Menge auf der Straße. Liest man die Schilderungen aus jenen Tagen, dann weiß man nicht, was bewunde- rungswürdiger ist: der gefeierte Schriftsteller oder das begeisterungsfähige Volk. Hier pulsierte die Aufklärung im Aufbruch einer Nation, während die Renaissance ein Durchbrechen alter Schranken gewesen war, das große Werk einer Elite. Von Frankreich her kam die Aufklärung nach Deutschland, wo sie nach Hegels Überzeugung noch vor der Großen Revolution in Immanuel Kant einen Höhepunkt erreichte. Es war im Jahre 1784, als Kant seine berühmte wie berührende Definition veröffentlichte: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündig- keit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen.“ Sichtlich laufen Kants Thesen auf Hegels apodiktischen Satz aus seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte hin: „Der Mensch ist

4 Zitiert nach: Wilhelm Girnus, Francois Marie Arouet De Voltaire, Berlin und Leipzig 1947, S. 22.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 46 12.12.12 10:51 Gibt es einen Sinn der Geschichte? 47

nicht frei, wenn er nicht denkt.“5 Die aufklärerische Emphase tönte länder- und zeitenumspannend im Loblied auf den Vernunftgebrauch. Noch vor der Revolution, im Jahre 1784, definierte Kant im Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ die „Geschichte der Menschengattung“ als eine im Fortschritt des Vernunftgebrauchs, den er schritt- und stufenweise kommen sah. Bemerkenswert bei ihm ist, dass er seinen historischen Optimismus nach den blutigen Schrecken der Großen Revolution nicht aufgab. Rückschläge und politische Katastrophen hatte er in seinem System mitgedacht. Den Keim der Aufklärung sah er dennoch immer wieder sprießen, sowohl in der menschlichen Selbstverwirklichung als auch im Vereintsein der Völker.

Hegel oder die stufenweise Entwicklung der Freiheit als eines „Destillats“ der Vernunft

Hegel wusste diese „große und erhabene Seite“ der Kantschen Philosophie enthusiastisch zu rühmen und zeigte sich beeindruckt von der moralischen Energie, mit der die französischen Denker und Schriftsteller Kirchen- und Autoritätsgläubigkeit kritisiert hatten, damit den sozialen Umbruch geistig vorbereitend. Als Jüngling hatte er mit seinen Freunden Schelling und Höl- derlin schwärmerisch auf den „herrlichen Sonnenuntergang“ getrunken, und noch als preußischer Staatsphilosoph in der Restaurationszeit bekannte er vor seinen Studenten: „Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitge- feiert.“ Der Gedanke an die Menschenrechte als die natürlichen riss alle mit. Neben dem Preisen der Vernunft, die sich sogar unabhängig vom Wis- sen und Wollen der handelnden Menschen durchsetzen würde, wie man im Höhenrausch glaubte, war es bei Hegel die stufenweise Entwicklung der Freiheit, eines „Destillats“ der Vernunft, die er, obgleich sie Verirrun- gen bringen könnte, realisiert sehen wollte. Trotz aller Bedenken blieb sein historischer Optimismus, der in seinem berühmt gewordenen Satz gipfelte: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ Die bei Hegel besonders hervorgehobene „Freiheit“ als „Endzweck“ der Geschichte musste schließlich ein erneutes Fragen nach dem Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen, des Individuums zur Gesell- schaft und der Gesellschaft zum Staat herausfordern. Schon Hegel sah Staat, Gesellschaft und Individuum in Wechselwirkungen und ging damit gedank- lich weit über die Reflexionen seiner Vorgänger hinaus, nicht ahnend, dass er so den geistigen Boden für die Herausbildung eines dialektischen Materia- lismus bereiten würde. Angesichts der industriellen Revolution, die sich von England aus in den west- und mitteleuropäischen Ländern mit allen damit verbundenen Inte- ressenkonflikten verbreitete, genügte es für viele nicht mehr, sich auf den Höhen abstrakter Vernunftgläubigkeit und allgemeinmenschlicher Sittlich-

5 Zit. nach: Horst Althaus, Hegel und Die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie, München und Wien 1992, S. 398.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 47 12.12.12 10:51 48 Ernst Engelberg

keit zu bewegen. Selbst der idealistisch beflügelte Friedrich Schiller mahnte in einem Epigramm bereits 1797: „Würde des Menschen. Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen; Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“

Die Geburt des dialektischen Materialismus

Europaweite Kriege, schwindelhafte Spekulationen und frühkapitalistische Ausbeutungspraktiken in der Napoleonzeit und Restauration riefen Kriti- ker wie Fourier, Saint-Simon und andere auf den Plan, deren reformerische Visionen ebenso utopisch waren wie alle Träume von Mustergesellschaften der Zukunft. Sie bleiben Patriarchen des Sozialismus, deren ethische Impulse weiterwirkten, aber in einem fortgeschrittenen Stadium der gesellschaftli- chen Entwicklung nicht mehr genügten. Nach der französischen Julirevolution von 1830 und dem Tod von Hegel und Goethe war Deutschland auf dem Wege zum Vormärz, der neue geis- tige und politische Konstellationen brachte, so die Differenzierung unter den Hegelianern und die Abspaltung der Demokraten von den Liberalen. Dann traten diskussionsfreudige und belesene Handwerksgesellen hervor, deren bedeutendster der Schneider Wilhelm Weitling war. In den 1840er Jahren trafen sie sich mit radikalen Denkern aus dem Bürgertum wie Karl Marx und Friedrich Engels. Wünschten die einen geistige Klärung hinsichtlich ihrer Gegenwartssituation und ihrer gesellschaftlichen Zukunftsperspektive, so suchten die andern, die die Welt nicht allein interpretieren, sondern auch verändern wollten, nach jenen sozialen Kräften, die daran interessiert waren. Damals erweiterte Friedrich Engels seinen praktischen Erfahrungshorizont durch seine Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Weil sich Marx und Engels aus der junghegelianischen Sphäre der rein philosophi- schen Kritik gelöst hatten und sich bewusst der profanen Welt und den plebe- jischen Massen zuwandten, entfremdeten sie sich schließlich dem abstrak- ten Humanismus Feuerbachs, der sie wegen seiner Kritik des Hegelschen Idealismus und der der Religion zunächst begeistert hatte. Die Idee von der Befreiung des Menschen nahm konkretere Formen an.

Das „menschliche Wesen“ als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“

In der für sie schon beginnenden politischen Kampfsituation scherten sich Marx und Engels nicht um die ihnen viel zu abstrakt dünkende traditio- nelle Frage, ob der Mensch seiner Natur nach gut oder böse geartet sei, zumal ihnen weder der überschäumende Optimismus eines Fourier noch der abgrundtiefe Pessimismus eines Machiavelli lagen. Nicht die „Konstitution“, wie sie sich später ausdrückten, also die biologisch-psychologischen Merk- male, stand für sie im Vordergrund des Interesses, sondern der Mensch als

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 48 12.12.12 10:51 Gibt es einen Sinn der Geschichte? 49

gesellschaftliches Phänomen in seiner historisch-konkreten Periode, und zwar gerade wegen ihrer Sorge um die leidvollen Deformationen, denen die Individuen unter den gegebenen sozialen und politischen Bedingungen aus- gesetzt waren. Unter diesem Blickpunkt erfasste Marx in seinen kritischen Thesen über Feuerbach vom Frühjahr 1845 das „menschliche Wesen“ als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Das stand keineswegs im Widerspruch zu ihrem Erfülltsein von den humanistischen Idealen, die die bisherige Geschichte überliefert hatte, ganz im Gegenteil, ging es ihnen doch um die gesellschaftlichen Möglichkeiten ihrer Realisierung. Bevor jedoch dieses Ziel erreicht werden könnte, das keineswegs ein Ende der Geschichte bedeutete, muss die Menschheit das Fegefeuer der letzten Klassenkämpfe in der letzten antagonistischen Gesellschaft, der des Kapita- lismus, ertragen und bestehen. Die Klassen brauchten in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wahrlich nicht mehr entdeckt zu werden; deren Existenz wie die freundlichen und feindlichen Beziehungen untereinander und gegenüber dem jeweiligen Staat wie der Staaten mit- und gegeneinander hatten liberale Historiker bereits in der französischen Restaurationszeit eindringlich beschrieben. Neu blieb die Aufgabe, den Zusammenhang der Klassenteilung mit der Produk- tion, mit der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, dem Austausch und der Ver- teilung der Produkte in den verschiedenen Gesellschaftsformationen aufzu- zeigen und zu erklären. Die Sicht der Geschichte seit dem Ausgang der Urgesellschaft als einer Geschichte von Klassenkämpfen und der Aufhebung der Klassen und ihrer Gegensätze nach der prognostizierten Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft ist die Quintessenz des „Kommunistischen Manifestes“. Die- ses ebenso welthistorische wie weltliterarische Dokument endet in seinem Hauptteil mit dem vielzitierten Satz von der künftigen Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist. Dieser Satz mag zu viel zitiert worden sein, sicherlich aber wird er zu wenig analysiert. Als Schlussakkord bedeutet er, dass die vorher dargelegten Klas- senkämpfe nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck sind, nämlich der Herbeiführung einer grundsätzlich neuen Phase der Selbstverwirklichung des Menschen. Der historischen Erklärung folgt hier die humanistische Sinngebung. Als Zukunftsvision erhält das Individuum in seinem dialekti- schen Verhältnis zur Gesellschaft den Vorrang.

Die Oktoberrevolution als Bruch im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft

Zweifellos bildete sich nach der Oktoberrevolution zunehmend ein gestörtes Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft heraus, was sich in den unseligen Schauprozessen der 1930er Jahre in überaus schmerzlicher Weise offenbarte. Das Individuum mutierte zum Opferlamm, wobei gerade hin- gebungsvolle Charaktereigenschaften schamlos und zynisch missbraucht

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 49 12.12.12 10:51 50 Ernst Engelberg

wurden. Wie bedroht die Lage der Sowjetunion auch gewesen sein mochte, kein Zweck kann die angewandten Mittel rechtfertigen. Und dennoch dür- fen wir weder bei der Anklage stehenbleiben, noch in einen zweifelnden oder gar verzweiflungsvollen Pessimismus verfallen.

Was bleibt?

Was uns bleibt, ist die Besinnung auf die ursprünglichen Konzeptionen und Ziele, deren Botschaft ebenso wenig eingelöst ist, wie sich die kapitalisti- schen Verhältnisse grundsätzlich geändert haben. Weltpolitisch gesehen, sind die Gefahren sogar noch gewachsen. Und im Übrigen: Wo der Einzelne nicht mehr gefragt ist, verarmt das Ganze. Weder verfügt der Einzelne über seine Menschenrechte, noch ist er zur Selbstverwirklichung in der Lage. Wie sollte er das auch – trotz stolz gerühm- ter Hightech auf immer höher erklommener Stufenleiter bereits Knecht des- sen geworden, was er geschaffen hat und weiter schafft. Selbstentfremdung in der Arbeit, deformierende soziale Beunruhigungen, Jagd nach irgendei- nem Job, nicht die Erfüllung in einem Beruf, alles beherrschend das Geld; da ist doch die Entfaltung vieler Gaben und Fähigkeiten überhaupt nicht mög- lich, jener Reichtum der Beziehungen zur Welt, den Marx als ein Kriterium des Menschseins ansah; er gehört zum Sinn der Geschichte. Was aber soll angesichts dieser Situation das ständige Betonen, die Aufklä- rung wäre ja gescheitert? Das hilft uns ebenso wenig weiter wie das Wehkla- gen, der Mensch neige nun einmal zur Gewalt. Vor Illusionen möge uns ein durch Erfahrungen geschärfter kritischer Blick bewahren, aber das Anlie- gen der Aufklärung kann doch nicht einfach aufgegeben werden, wenn anders man die Menschen nicht entkräftender Resignation und mutlosem Pessimismus überlassen will. Es mag einem heute wohl mitunter scheinen, als gehe die Menschheit durch eine Periode weltgeschichtlichen Fegefeuers. Sicherlich wird da vie- les kaum zu verhindern sein. Aber man kann schlimme Prozesse abkürzen, wenn man jener resignierenden Kreislauftheorie eines bedrückenden und oft sogar verzweiflungsvollen Skeptizismus nicht das Feld überlässt. Offen gestanden, ich habe sie nie gemocht, die da nichts gewagt, aber immer schon weise gewusst haben, dass eben doch alles schiefgehen werde. Da halte ich es schon eher mit Mephisto, der dem Faust zuruft: „Es lebe, wer sich tapfer hält!“6 Und wenn sich die Menschen aus existenzieller Gefährdung retten wol- len, kann es nicht ohne besonnenen, kraftvollen und beherzten Rückgriff auf Traditionen der Aufklärung sein, da muss eben doch der Aufbruch der Menschheit aus selbst verschuldeter Unmündigkeit gewagt werden.

6 Johann Wolfgang Goethe, Faust I, Szene Wald und Höhle; dramatischer Wendepunkt des Stückes.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 50 12.12.12 10:51 Was wäre eine gute Religion? Pluralistisches Glaubensverständnis und säkularer Staat

Von Micha Brumlik

ie gesellschaftliche und parlamentarische Debatte über die straffreie D Zulassung religiös motivierter Beschneidungen männlicher Babys oder von Knaben hat der deutschen Gesellschaft eine neue Runde im ewigen Diskurs über die Rolle und Bedeutung von Religion im öffentlichen Raum beschert. Das jüngste Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Streikberech- tigung von Mitarbeitern von Diakonie und Caritas sowie die nach wie vor bestehende Ablehnung des Islam durch mehr als 70 Prozent der deutschen Bevölkerung, wie sie soeben vom Allensbacher Institut für Meinungsfor- schung festgestellt wurde, runden das Bild ebenso ab wie der Umstand, dass die Basis der Grünen nun eine hohe kirchliche Funktionsträgerin zur Spit- zenkandidatin für die nächsten Bundestagswahlen gekürt hat. Es scheint bei alledem, als sei sich die deutsche Gesellschaft unschlüssig, welche Rolle sie den Religionen zubilligen will. Während einerseits die Aus- tritte aus beiden Kirchen seit Jahren anhalten, sind Theologie und Religion so häufig Thema öffentlicher Auseinandersetzung, wie nie zuvor. Konfron- tiert mit einer erheblichen muslimischen Immigration schwankt nicht nur die deutsche Gesellschaft zwischen rassistischer Abwehr – wie im Falle Thilo Sarrazins – und dem Versuch einer respektvollen, zivilgesellschaftlichen Verständigung: so bei den kaum noch zu zählenden christlich-jüdischen, christlich-islamischen und jüdisch-christlich-islamischen Dialog- und Ge- sprächsforen bzw. bei der Etablierung von Studienfächern wie jüdischer und islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Andere greifen diese positiven Entwicklungen frontal an, etwa die Anhän- ger eines weltanschaulich verfestigten, von einer naturwissenschaftlichen Ideologie getragenen aggressiven Atheismus, wie er etwa von der „Giordano Bruno Stiftung“ vertreten wird. Dabei geht es dem atheistischen „Evolutio- nären Humanismus“ weder um Toleranz und Humanität noch um ein res- pektvolles, aufgeschlossenes und lernbereites Gespräch unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen, sondern um eine weitere „Austreibung“: nämlich der Religionen aus dem öffentlichen Raum und Diskurs. So erweist sich dieser am Ende als oberflächliche, naturwissenschaftlich aufgeputzte Schwundstufe einer selbst noch nicht säkularisierten Weltanschauung. Gesellschaftlich gesprächsfähig würde er jedoch erst dann, wenn er sich selbst säkularisieren würde.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 51 12.12.12 10:51 52 Micha Brumlik

Die Bundesrepublik – ein säkularer, aber kein säkularistischer Staat

Bei alledem gilt nach wie vor, dass die Bundesrepublik Deutschland, anders als etwa die USA oder Frankreich, ein zwar säkularer, aber eben kein säkula- ristischer Staat ist. Sie beglaubigt zwar grundsätzlich die Trennung von Staat und Kirche, räumt den Religionen jedoch einen erheblichen gesellschaftlich- politischen Einfluss ein – wie aus der Präambel des Grundgesetzes mit ihrem Gottesbezug sowie dessen Artikel 7 deutlich wird, der den Religionsunterricht als ordentliches Schulfach garantiert, aber auch aus dem deutschen Steuer- system, das religiöse Körperschaften des öffentlichen Rechts begünstigt. Um diese besondere Rolle mindestens zur Kenntnis zu nehmen, wenn nicht gar anzuerkennen, ist es keinesfalls nötig, dem längst plattgeredeten Diktum des katholischen Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde zuzustimmen, wonach der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Empirisch betrachtet ist nämlich überhaupt nicht nach- vollziehbar, warum nicht auch säkularistische Bewusstseinsformen die für die Verfassung der Republik maßgeblichen Prinzipien, insbesondere die „Würde des Menschen“, sollen garantieren können. Gleichwohl entlasten derlei Einsichten nicht von der grundsätzlichen und keinesfalls nur juristisch bzw. gar staatskirchenrechtlich zu beantwortenden Frage, welche Formen der Religion mit einem dem Anspruch nach demo- kratisch verfassten, säkularen, aber eben nicht säkularistischen Gemeinwe- sen kompatibel sind. Insofern stellt sich die Frage, worin das Wesen einer im Sinne eines modernen demokratischen Gemeinwesens „guten Religion“ besteht, die mit einer aufgeklärten Gesellschaft vereinbar ist.

Widersprüche auf dem Weg zu einem pluralistischen Glaubensverständnis

Was also wäre in diesem demokratisch aufgeklärten Sinne eine „gute“ Reli- gion? Um die Frage zu beantworten, muss man zunächst in Betracht ziehen, von welcher Perspektive aus man sich ihr nähert. Dabei wird man zwischen einer moralischen, einer religionswissenschaftlichen und einer theologi- schen Perspektive unterscheiden müssen. Während sich eine moralische Perspektive vor allem dafür interessiert, in welchem Ausmaß die Narrative, Mythen und Liturgien des symbolischen Sinngebildes Religion allgemeine moralische Haltungen, Tugenden wie Nächstenliebe oder die Fähigkeit zur Selbstreflexion oder Ähnliches beför- dern, wird eine religionswissenschaftliche Perspektive funktionalistisch oder phänomenologisch danach fragen, ob narrativ verfasste Symbolsysteme mit ihren Ritualen erfolgreich der Kontingenzbewältigung dienen bzw. ob es dem Symbolsystem „Religion“ gelingt, dem „Eigensten“ aller Religionen, nämlich ihrem Transzendenzbezug, prägnanten Ausdruck zu verleihen. Die theologische Perspektive schließlich ist als systematische, nicht funktiona- listische Perspektive primär am Wahrheitsgehalt von Glaubensinhalten inte- ressiert. Ob eine Religion also in diesem Sinne gut ist oder nicht, lässt sich aus

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 52 12.12.12 10:51 Was wäre eine gute Religion? 53

dem normativen Blickwinkel der Theologie nur nach Maßgabe ihrer eigenen Überzeugungen heraus beantworten. Besinnt man sich auf diese drei Perspektiven, so ist eine Religion erstens (moralisch) gut, wenn sie den inzwischen gesellschaftlich, rechtlich und politisch verankerten moralisch-universalistischen Standards wie der Ach- tung der Menschenwürde zumindest nicht widerspricht; wenn sie zweitens – religionswissenschaftlich gesehen – Liturgien, Lebensformen und Rituale ausbildet, die die Inhalte der Religion ihrer eigenen Anhängerschaft ver- deutlicht, sie damit an sich bindet und ihr eine geistliche Heimat verschafft; und drittens wäre sie theologisch gut, wenn sie in Inhalt, Form und sozialem Vollzug der Glaubensbotschaft sowenig wie möglich widerspräche. Das bedeutet zusammengefasst: Eine derart gute Religion müsste die jeweils anerkannte göttliche Offenbarung in Predigt und Liturgie, aber auch handelnd im Leben möglichst adäquat zum Ausdruck bringen – und dürfte gleichwohl nicht zu den säkularen Grundsätzen einer aufgeklärten Gesell- schaft im Widerspruch stehen. Indes: Auch diese, der Religion ihr Bestes abfordernde Formel kann in ein, politisch und moralisch gesehen, geradezu reaktionäres, selbstgerechtes und damit zutiefst areligiöses Gegenteil umschlagen – so etwa geschehen in einer von der theologischen Kammer der EKD vor etwa zehn Jahren verab- schiedeten theologischen Erklärung. Diese wies die protestantischen Chris- ten in Zeiten der Verunsicherung durch Islam und New Age auf die Bedeu- tung des Evangeliums als einzig gültige Offenbarung hin. Das in dieser Erklärung entfaltete Argument ist in ihrem Titel schon in der Nussschale ent- halten: „Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen“ – wobei pikan- terweise das dem Christentum so nahe und zugrunde liegende Judentum ebenfalls als „nichtchristliche Religion“ firmiert. Fallen also allein im Chris- tentum Glaube und Religion zusammen – im Unterschied zu allen anderen Religionen? Religionen also, von denen dann von Anfang an feststünde, dass sie nicht gut, weil dem Glauben gemäß nicht wahr sein können? Wenn damit der Fall einer zumindest nicht guten, weil andere Religionen abwertend behandelnden Religion beschrieben ist, dann stellt sich an die- ser Stelle erneut die Frage, was eine gute Religion ist. Und in welchem Sinn eine säkulare Gesellschaft überhaupt theologische Wahrheitskonzeptionen bewerten kann? Der Weg dahin führt allein über den Begriff der Toleranz.

Vier Konzeptionen der Toleranz

Als sich, spätestens mit der Reformation, der katholischen Kirche soziale Bewegungen entgegensetzten, die den Anspruch erhoben, der falsch ver- standenen christlichen Wahrheit des katholischen Dogmas ihrerseits eine nun wirklich wahre, alleine dem Evangelium verpflichtete Wahrheit ent- gegenzusetzen, war das Ergebnis ein Jahrhundert immer auch konfessionell begründeter, grausamer Bürgerkriege. Als ein Resultat erfand das neuzeitli- che politische Denken sowohl die „Toleranz“ als auch den laizistischen Staat.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 53 12.12.12 10:51 54 Micha Brumlik

Der Philosoph Rainer Forst hat in seiner bahnbrechenden Arbeit „Toleranz im Konflikt“ historisch und systematisch vier unterschiedliche Formen des Toleranzbegriffs identifiziert. Erstens die sogenannte Erlaubniskonzeption: Sie räumt Minderheiten ein, solange gemäß ihren Vorstellungen zu leben, als sie die Vorherrschaft, die Autorität der Mehrheit nicht in Frage stellen. Ihr folgt zweitens die sogenannte Koexistenzkonzeption: Ihr geht es nicht um die Beziehungen zwischen Minderheiten und Mehrheiten, sondern um die pragmatisch kluge, konfliktvermeidende Regelung der Beziehung gleich starker Gruppen. Drittens die „Respektkonzeption“: Sie beruht auf einer „moralisch begrün- deten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen. Die Toleranzparteien respektieren einander als autonome Personen bzw. als gleichberechtigte Mitglieder einer rechtsstaatlich verfass- ten politischen Gemeinschaft.“ Viertens endlich konzipiert Forst – zumal mit Blick auf multikulturelle Ein- wanderungsgesellschaften – das, was er als „Wertschätzungs-Konzeption“ bezeichnet. Nach diesem Begriff von Toleranz geht es nicht nur darum, die Mitglieder anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als Staatsbür- ger in ihren subjektiven Rechten zu respektieren, sondern mehr noch darum, „ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen.“

Von der bloßen Erlaubnis zur Wertschätzung

Sucht man nach aktuellen Beispielen, so zeigt sich schnell, dass auch noch heute die meisten islamischen Staaten mit der koranischen Konzeption der „Dhimmitude“ lediglich dem ersten Toleranzkonzept folgen, mit der zusätz- lichen Einschränkung freilich, dass nur die „Völker des Buches“, also Juden und Christen ihrem Glauben nachgehen dürfen, sogenannte Renegaten, Konvertiten oder sogenannte Götzendiener jedoch mehr oder minder hart verfolgt werden. Als aktuelles Beispiel für die zweite, die bloße Koexistenzkonzeption könnte man nach Jahren des Bürgerkrieges die Beziehungen zwischen Pro- testanten und Katholiken in Nordirland nennen, während beispielsweise die USA in ihrem intensiven religiösen, kongregationalistischen Pluralismus bereits dem dritten Typ, der „Respektkonzeption“ folgen. Diese Konzep- tion gilt gleichermaßen – was die Privatsphäre betrifft – für das laizistische Frankreich, das jedoch, anders als Deutschland, kaum eine öffentlich-politi- sche Anerkennung von Religionen kennt. Auf jeden Fall scheinen klassisch liberal verfasste (westliche) Staaten in ihrer politischen Verfassung – samt ihrer strikten Trennung von Kirche und Staat – kaum weitergehen zu können als bis zum dritten Typus. Dagegen macht das deutsche Modell der besonderen Pflege der Religio- nen mit seinem Staatskirchenrecht eine Ausnahme: Es entspricht damit wei- testgehend dem, was Forst als „Wertschätzungskonzeption“ definiert.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 54 12.12.12 10:51 Was wäre eine gute Religion? 55

Das ist von erheblicher Bedeutung: Gerade im Vergleich zu säkularistischen Staaten kann das destruktive Potential von Religionen im staatskirchen- rechtlichen System Deutschlands besser entschärft werden. Dort, wo Reli- gionen von Wissenschaft, Bildung und Politik dezidiert ausgeschlossen sind, entwickeln sie oftmals ein Eigenleben und eine Radikalisierung, die sich am Ende – wie etwa am Beispiel der Evangelikalen in den USA zu beobachten – genau gegen jene liberalen Institutionen und Lebensformen wenden, denen sie ursprünglich die eigene Existenz verdanken.

Welche Wahrheit, welche Toleranz?

Freilich ist mit den in Deutschland geltenden, staatspolitisch-juristischen Vor- gaben noch nichts oder doch nur wenig über die Umsetzung der gewünsch- ten Wertschätzung gesagt – und damit auch nichts über die tatsächlichen Formen und Wünschbarkeiten etwa eines interreligiösen Dialogs bzw. eines Dialogs zwischen säkular denkenden und religiösen Bürgern. Hier schwankt die öffentliche Meinung zwischen Positionen, die gemein- hin mit dem Namen Hans Küng verbunden werden, und die in einem ein „Weltethos“ begründenden Religionsdialog auch den Schlüssel zum Welt- frieden sehen, und der repressiv liberalen Einstellung etwa des Publizisten Henryk Broder, der einmal auf die Frage „Was ist dann für Sie der kulturelle Dialog?“ lapidar zu Protokoll gab: „Im Café sitzen. [...] Ich gehe doch nicht extra irgendwo hin, um einen Dialog mit Moslems anzufangen. Ich gehe gerne zu Hasir, weil es dort ordentliches türkisches Essen gibt.“ Dies ist im Kern ein massives und schroffes Plädoyer für die von Forst so genannte bloße „Respektkonzeption“ – verbunden mit der Maßgabe, dass jede religiöse Überzeugung, die nicht ebenfalls bereit ist, diese und nur diese Konzeption bedingungs- und vorbehaltlos anzuerkennen, ihrerseits mit allen rechtmäßi- gen Mitteln an ihrer Entfaltung zu hindern ist. Gleichwohl kann sich in liberal verfassten Gesellschaften, in denen sich alle Mitglieder vorbehaltlos auf die Konzeption wechselseitigen Respekts festgelegt haben, eine sinnvolle Form des Dialogs über das – gewiss bedeut- same und unverzichtbare – wechselseitige Kennenlernen hinaus nur im Rahmen der Konzeption wechselseitiger Wertschätzung abspielen. Denn die Notwendigkeit des Dialogs gehört in den Kernbereich der Definition der Wertschätzungskonzeption. Im Folgenden geht es daher um die allgemeine Bedingung der Möglich- keit einer solchen Konzeption wechselseitiger Wertschätzung sowie um ihre Grenzen. Dabei muss zunächst eine zentrale Unterscheidung einge- führt werden: nämlich zwischen der in einer Religion enthaltenen ethischen Wahrheit und einer spezifischen Heilswahrheit. Dadurch wird deutlich, dass sich die von Jan Assmann so benannte „mosaische Unterscheidung“ mit ihrer aggressionsfördernden Synthese von Glaube und allein seligmachen- dem Heilsweg heute nur noch im Bereich der Heilswahrheiten finden lässt. Nur dort, im Bereich der Heilswahrheit, lässt sich die spezifische Frage nach

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 55 12.12.12 10:51 56 Micha Brumlik

dem Wesen einer religiösen Wahrheit finden. Das heißt aber zugleich, dass auch und gerade ein im Sinne der Konzeption des Respekts geführter Dialog hier an seine Grenzen stößt, oder anders ausgedrückt: dass spätestens hier ein möglicher ethischer und hoffentlich auch staatsbürgerlicher Konsens in Dissens umschlagen kann.

Religion, Vernunft und Gewalt

Vor einem derartigen, fatalen Wahrheitsanspruch ist prinzipiell keine Reli- gion gefeit. So beglaubigte die theologische Kammer der EKD noch im Jahr 2003 die unverbrüchliche Geltung des aus dem Evangelium des Matthäus abgeleiteten Missionsbefehls, der implizit die absolute Wahrheit des christ- lichen Glaubens voraussetzt.1 Dieses Bekenntnis der EKD ist im Kern struk- turidentisch mit Teilen des islamischen Glaubens. So heißt es in Sure 9,33 des Korans: „Er, Gott ist es, der seinen Gesandten mit der Rechtsleitung und der Religion der Wahrheit gesandt hat, um ihr die Oberhand zu verleihen über alle Religion, auch wenn es den Polytheisten zuwider ist.“2 An diesen und anderen Passagen wird deutlich, dass die 2006 von Papst Benedikt in seiner Regensburger Vorlesung wiedergegebene Äußerung des spätbyzantinischen Kaisers Manuel II. (in der dieser den islamischen Glau- ben an den kriegerischen Aktivitäten von Arabern und Muslimen maß) einerseits – ebenso wie die Karikaturen des Karikaturenstreits – in weltge- sellschaftlicher Hinsicht einen krassen Verstoß gegen eine auf Respekt beru- hende Toleranzkonzeption darstellt, diese Äußerung jedoch andererseits einer auf allgemeinen Menschenrechten und Demokratie beruhenden Welt- kultur die einzige Form von Mission vorgab, die überhaupt noch zu vertreten ist: nämlich eine Mission durch authentische Praxis und vernünftiges Argu- mentieren. Das skandalöse, zu Recht skandalisierte Zitat lautete wie folgt: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er vertrat, durch das Schwert zu verbreiten.“ Im Anschluss an diese offenbar von nur geringen Kenntnissen der korani- schen Schriften getragene Verurteilung kommt der Papst zum Wesentlichen, indem er Manuel II. ein weiteres Mal zitiert: „Gott hat kein Gefallen am Blut und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glau- ben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Den-

1 Freilich stellt sich dieser Aufruf zum Bezeugen einer Wahrheit am Ende als weniger dramatisch dar, als es auf den ersten Blick scheinen könnte: „Es liegt nicht in der Hand der Christenheit, den Gegensatz der Religionen mit dem so verstandenen Bezeugen der Wahrheit aus der Welt zu schaf- fen. Nach evangelischem Verständnis wird vielmehr, wenn es zum interreligiösen Dialog kommt, um die Wahrheit, um die Vertretbarkeit der eigenen Glaubenseinsicht und der anderen religiösen Meinung in Freiheit zu streiten sein.“ (EKD 2003, S. 16). 2 Nimmt man – wenn ich das recht sehe – die koranischen Schriften im Ganzen, so lässt sich daraus jedenfalls kein absoluter Missionsbefehl ableiten, denn „Wenn dein Herr wollte“ – so Sure 10,99 – „würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Bist du es etwa, der die Men- schen zwingen kann, gläubig zu werden.“

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 56 12.12.12 10:51 Was wäre eine gute Religion? 57

ken, nicht aber Gewalt und Drohung. [...] Um eine vernünftige Seele zu über- zeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann.“ Es war also lediglich die auf den ersten Blick antiislamische Stoßrich- tung dieser Aussage, die verdeckt hat, dass – gleichgültig, ob der Papst das beabsichtigte oder nicht – damit auch eine massive Selbstkritik der mono- theistischen Religionen, zumal des Christentums, verbunden war; eines Christentums nämlich, das während langer Jahrhunderte gewaltsame Mis- sion betrieben hat, einschließlich jener von Luther so genannten „scharfen Barmherzigkeit“, die den erzwungenen Glaubenswechsel gerade um des Seelenheils der zu Bekehrenden willen herbeiführen wollte. Darüber hinaus wurde in der damaligen hoch erhitzten Debatte übersehen, dass das damit vollzogene Bekenntnis zu einer vernünftigen Gottheit keineswegs nur einer islamischen Theologie des radikalen göttlichen Voluntarismus, sondern min- destens ebenso dem in der Reformation entstandenen protestantischen Got- tesbild entspricht.3

Menschenrechte, Christentum, westliche Zivilisation – eine in sich geschlossene Konstellation?

Sind demnach also ein aufgeklärtes Christentum und die politische, Tole- ranz und Aufklärung verpflichtete Zivilisation des Westens heute etwa gar so gut wie deckungsgleich? Tatsächlich scheint es heute fast so, seitdem sich die Kirchen spät genug, nämlich nach 1500 Jahren, und keineswegs nur in Deutschland auch systematisch mit den Menschenrechten, der Demokratie und damit einer Toleranz von Forsts Typ „3“, dem gegenseitigen Respekt, abgefunden haben – zunächst die katholische Kirche im Zweiten Vatikani- schen Konzil, sodann die protestantischen Kirchen in den 80er Jahren vor allem in Deutschland. Zu erinnern ist vor allem an die erst 1985 publizierte Denkschrift der EKD „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie.“ Die empirische Stimmigkeit dieser Annahme – vor allem wenn man sie auf die westliche Welt im Ganzen, einschließlich der USA mit ihrer so vielfäl- tigen, kongregationalistischen Kirchenlandschaft, bezieht – kann dagegen an dieser Stelle nicht weiter überprüft werden. Allerdings dürfen bei Über- legungen zur Bedeutung von „Religion“ in einer Gesellschaft wie der des deutschen Staates drei vorläufig abschließende Bemerkungen nicht fehlen. Erstens ist nach den Erfahrungen der „Dialektik der Aufklärung“ im 20. Jahrhundert, jenem „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), schlicht zu registrieren, dass Atheismus und Säkularismus eine mindestens ebenso tiefe Blutspur hinterlassen haben wie „die Religionen“ in den Jahrhunderten zuvor. Zweitens ist, worauf nicht zuletzt Jürgen Habermas immer wieder hin- weist, zu fragen, ob der in den Religionen unbezweifelbar auch vorhandene

3 Andererseits eröffnete die Regensburger Rede durchaus die Möglichkeit zu einer – wenn auch an vernünftige, argumentative Verfahren gebundenen – Mission.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 57 12.12.12 10:51 58 micha Brumlik

moralische Universalismus nicht ein unverzichtbares Reservoir für eine auf Menschenwürde, Respekt und soziale Gerechtigkeit gründende Weltgesell- schaft darstellt. Das heißt auch, im Hinblick auf die säkularen Bürger, einzu- sehen und auch einzuräumen, dass die überlieferten religiösen Semantiken moralisch-ethische Bestandteile aufweisen, deren „kognitiver Gehalt nicht abgegolten ist“. Und drittens wird allerdings gerade Einwanderungsgesellschaften, ins- besondere bei einer nicht unerheblichen Anzahl von Neubürgern mit einem traditionellen Verständnis von Moral und Religion, eine Aufgabe zugemutet, die alles andere als leicht zu lösen ist. Diese staatlich-gesellschaftliche Groß- aufgabe wird die künftige Entwicklung der Bundesrepublik in einem Maße beeinflussen, die heute noch gar nicht absehbar ist. Gerade an dieser Frage wird sich der deutsche säkulare Sonderfall beweisen müssen. Immerhin scheint eine wert-konservative Partei wie die Grünen dieser Herausforderung nun Rechnung zu tragen, während die eher traditionell- und struktur-konservative Union sich ihr zunehmend entzieht. Politisch ist allerdings zu hoffen, dass sich die Grünen mit der Wahl von Katrin Göring- Eckardt dieser Thematik nicht nur mit opportunistischem, wahlfixiertem Blick zugewandt haben; zu befürchten ist umgekehrt, dass sich eine inhalt- lich entleerte Nach-Merkel-Union dem Thema nur noch mit Rückgriff auf zwar bekannte, aber nicht mehr überzeugende „Werte“ stellen wird.

Anzeige »Kampagne für Saubere Kleidung«

Die verheerenden Brände machen es deutlich, der Kampf um menschen- würdige Arbeitsbedingungen in der weltweiten Bekleidungsindustrie muss weiter gehen. Mehr denn je ist das Engagement der Kampagne für Saubere Kleidung notwendig. Doch für unsere Arbeit benötigen wir nicht nur viele helfende Hände. Wir benötigen auch Geld. Darum hier unsere Bitte: Spenden Sie für die Kampagne für Saubere Kleidung. Alle Spendengelder fl ießen direkt in die Kampagnenarbeit. Bei Bedarf können wir Ihnen eine steuerwirksame Spendenbescheinigung ausstellen.

Unser Spendenkonto lautet: INKOTA-netzwerk e.V., Stichwort CCC KD-Bank – Konto:155 500 0029, BLZ 350 601 90

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 58 12.12.12 10:51 »Diese dreckige, ungläubige kleine Sekte« Der syrische Bürgerkrieg und der Hass auf die Alawiten

Von Florian Bernhardt

ährend sich die Kämpfe in Syrien auf immer weitere Landesteile aus- W dehnen, mehren sich die Berichte und Bilder von Massakern an Zivi- listen, von Entführungen, Folterungen und Exekutionen Gefangener, verübt von allen Bürgerkriegsparteien. Eine unabhängige Überprüfung der Ereignisse ist im Einzelfall kaum oder gar nicht möglich, auch weil die den Aufstand tragenden Gruppen vor allem auf regionaler oder lokaler Ebene operieren und ein zunehmend fragmen- tiertes Erscheinungsbild abgeben: Zu ihnen gehören neben nationalistisch und islamistisch orientierten Milizen auch ehemals kriminelle Banden. Doch je länger der Aufstand andauert und je weiter die Zahl der Opfer steigt, desto mehr gewinnt der Islam als mobilisierender und identitätsstiftender Faktor an Bedeutung und umso höher erscheint die Bereitschaft vieler Akteure, den Konflikt mit religiös-konfessionellen Kategorien zu interpretieren – nämlich als Kampf zwischen den „wahren“ Muslimen auf der einen Seite und den verschiedenen christliche Konfessionen sowie Drusen, Jesiden, Schiiten und Alawiten auf der anderen. Viele Beobachter sind der Ansicht, dass es vor allem das Regime Assads sei, welches die Differenzen zwischen den verschiedenen ethnischen, religiösen und konfessionellen Gruppen schüre, um sich getreu dem Motto „Teile und Herrsche“ als einzigen Garanten von Sicherheit und Stabilität sowie zugleich als Schirmherren der Minderheiten des Landes zu profilieren. Auch wenn diese Interpretation in mancher Hinsicht zutreffen mag, alleine kann sie den vor allem bei Islamisten und Salafisten weit verbreiteten Hass speziell auf die alawitische Volksgruppe nicht erklären. Denn nicht nur die Propaganda des Regimes versetzt die Angehörigen reli- giöser Minderheiten in Angst, sondern auch die Fernsehauftritte von sala- fistischen Predigern wie Adnan al-Arur und Mohammed al-Zogbi, deren Ansichten über das Internet und über die von Saudi Arabien finanzierten Satellitenkanäle „Wisal-TV“ und „Safa-TV“ eine hohe Verbreitung errei- chen. So drohte al-Arur den das Regime unterstützenden Alawiten, man werde sie „zerstückeln und ihr Fleisch an die Hunde verfüttern“; al-Zogbi predigt unter Berufung auf Ibn Taimiya, einen Rechtsgelehrten des späten

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 59 12.12.12 10:51 60 Florian Bernhardt

13. Jahrhunderts, der Dschihad gegen die Alawiten sei eine religiöse Pflicht jedes Muslim, da die Alawiten „ketzerischer“ seien als Juden und Christen. In einer Predigt fleht er Gott an: „Töte die gesamte Assad-Familie. Töte ihre Helfer und Unterstützer und diese dreckige, ungläubige kleine Sekte. Zer- störe sie und verbrenne ihre Körper. Sie sind Agenten der Juden. Lass nie- manden von ihnen am Leben!“1

Alte Vorurteile und Ressentiments

Seit Jahrhunderten haben die der schiitischen Gemeinschaft zugehörigen Alawiten, die seit dem 13. Jahrhundert hauptsächlich im Nordwesten Syriens und der heute türkischen Provinz Hatay leben, mit Vorurteilen und Ressen- timents zu kämpfen. Bereits die osmanischen Behörden verfolgten sie als Häretiker, und auch sunnitische Rechtsgelehrte bezichtigten sie der Häresie, während Schiiten sie aufgrund ihrer Vergöttlichung des vierten Kalifen Ali als „Übertreiber“ (ghulat) bezeichneten. Europäische Missionare wiederum hielten sie im 19. Jahrhundert für eine verlorene Gruppe des Christentums. Dazu beigetragen haben unter anderem die religiösen Praktiken der Ala- witen: die Geheimhaltung ihrer Glaubensinhalte, das nächtliche Abhalten bestimmter religiöser Zeremonien, aber auch ihre Nichtbeachtung des Fas- tengebots, der Pilgerfahrt, der Verschleierung der Frau oder des Alkoholver- botes. Tatsächlich sind die Alawiten oder Nusairier, wie sie in Anlehnung an ihren Religionsstifter Muhammad Ibn Nusair genannt werden, eine esote- rische Konfessionsgruppe, deren Glaubensinhalte nur eingeweihten „Män- nern der Religion“ vollständig bekannt sind. Allerdings haben die religiösen Autoritäten der Alawiten ihre Zugehörigkeit zum muslimischen Glauben zu mehreren Anlässen formell bestätigt und dabei auch bekräftigt, dass „jeder Alawit Muslim“ ist, „das muslimische Glaubensbekenntnis bezeugt und die fünf Pfeiler des Islam befolgt“.2 Es waren jedoch vor allem politische Beweggründe und nicht religiöse Erwägungen, die den Alawiten im Laufe des 20. Jahrhunderts – zumindest von schiitischer Seite – eine Anerkennung als Muslime bescherten. Die im irakischen Nadschaf residierenden, hochrangigen, schiitischen Rechtsge- lehrten waren bereits in den 1940er Jahren bereit, die Alawiten als schiiti- sche Muslime anzuerkennen – verbunden mit dem vergeblichen Versuch, diese zu einer Übernahme schiitischer Glaubensinhalte und -praktiken zu bewegen. Der Rechtsgelehrte und Führer der Schiiten im Libanon, Musa al-Sadr, unternahm einen ähnlichen Schritt in den 70er Jahren, da er sich eine Ausweitung seines Einflusses auf die zahlenmäßig starke alawitische Gemeinschaft im Norden des Libanon und Schutz durch das syrische Regime versprach. Sunnitische Rechtsgelehrte hingegen haben den Alawiten – zumindest im 20. Jahrhundert – die Anerkennung als Muslime versagt. Prominenteste

1 Vgl. u.a. www.youtube.com/watch?v=6tDSRsWdalk, 18.10.2011. 2 Vgl. al-Muslimun al-‘Alawiyun shi’at ahl al-bait. Bayan ‘aqida al-‘alawiyin, 2001, S. 11.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 60 12.12.12 10:51 Der syrische Bürgerkrieg und der Hass auf die Alawiten 61

Ausnahme war der aus Jerusalem stammende islamische Geistliche und Nazi-Kollaborateur, Muhammad Amin al-Husaini, der auf diese Weise die Einheit der Araber im Kampf gegen die Kolonialmächte und die zionistische Besiedlung Palästinas stärken wollte. Auch die offiziellen Vertreter des syri- schen Staatsislam erkennen die Alawiten als Muslime an.

Ungläubige in den Augen der Muslimbrüder

Die islamistische Opposition Syriens hingegen, allen voran die Muslimbru- derschaft, betrachtet die Alawiten grundsätzlich als Ungläubige. Zwar spielt die im Exil sitzende Bruderschaft, deren Strukturen in Syrien zu Beginn der 80er Jahre weitgehend zerschlagen wurden, im eskalierenden syrischen Bürgerkrieg nur eine zweitrangige Rolle: Diese besteht vor allem in der Bereitstellung finanzieller und logistischer Mittel. Allerdings dominiert die Bruderschaft den in Istanbul tagenden Syrischen Nationalrat, die Versamm- lung der oppositionellen Exil-Syrer. In der Literatur der syrischen Muslimbrüder nehmen Ressentiments und Vorurteile gegenüber Alawiten breiten Raum ein, was auch – und nicht zuletzt – der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Syriens in jüngster Zeit geschuldet ist. Seit der Machtübernahme der Baath-Partei im Jahr 1963 werden Schlüs- selpositionen in Militär, Geheimdiensten und Sicherheitskräften zunehmend mit alawitischen Offizieren besetzt. Dieser Umstand hat nicht nur die syri- schen Islamisten, sondern auch ausländische Beobachter zu dem Schluss verleitet, Syrien würde von einer alawitischen Minderheit regiert, die, nach- dem ihr die französische Mandatsmacht in den 30er Jahren einen eigenen Staat versagt hatte, die Macht in ganz Syrien übernommen hätte. Vertreter dieser Sichtweise sehen den Schlüssel zum Verständnis der syrischen Politik darin, dass politische Loyalität im Nahen Osten durch ethnische, religiöse und konfessionelle Zugehörigkeiten bestimmt werde. Allein die Zugehörig- keit zur Gemeinschaft der Alawiten begründe daher deren Nähe zur Macht. Die Dominanz alawitischer Offiziere im Militär, in der Baath-Partei und im Staatsapparat hat jedoch vielfältige Ursachen: Der säkular geprägte ara- bische Nationalismus der Baath-Partei besaß mit seinen Versprechen von Unabhängigkeit und Gleichheit für die Angehörigen der religiösen und kon- fessionellen Minderheiten – wie die der Alawiten – eine beträchtliche Attrak- tivität. Auch seine, wenn auch vagen, sozialistischen Vorstellungen übten eine gewisse Anziehungskraft aus. Zudem entstammten die Offiziere, die sich in den 60er Jahren zum Militär- komitee der Baath-Partei zusammenschlossen, mehrheitlich der ländlichen Mittelschicht. Dass viele von ihnen Alawiten waren, ist auf die Situation der alawitischen Siedlungsgebiete zurückzuführen und auf die durch Armut, Analphabetentum, Unterdrückung und Ausbeutung geprägten Lebensver- hältnisse ihrer Bewohner. Sie werden von den Einwohnern der Städte zum Teil bis heute mit Geringschätzung betrachtet. Historiker wie Hanna Batatu

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 61 12.12.12 10:51 62 Florian Bernhardt

interpretieren daher den Konflikt zwischen der Muslimbruderschaft und der Baath-Partei zumindest in seiner frühen Phase als Ausdruck eines Konfliktes zwischen Stadt und Land. Auch wenn Hafiz al-Assad, der zunächst Verteidigungsminister und schließlich 1971 Präsident Syriens wurde, bei der Besetzung von Schlüssel- positionen Angehörige der eigenen Familie und Bewohner seiner Heimat- region bevorzugte, blieben die wichtigsten Karrierevoraussetzungen ideo- logische Linientreue und politische Loyalität – und nicht die konfessionelle Zugehörigkeit. Dennoch mobilisierten die Mitte der 1960er Jahre in der syri- schen Muslimbruderschaft an Einfluss gewinnenden jüngeren und vor allem radikaleren Kräfte ihre Anhänger mit antialawitischen Ressentiments. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstrichen sie die Zugehörigkeit des Präsidenten und anderer wichtiger Stützen des Regimes zur „ketzerischen Minderheit der Alawiten“. Die Literatur der Bruderschaft enthält ein breites Spektrum an Anschuldi- gungen und Vorurteilen gegenüber der alawitischen Bevölkerung, das von klassischen Verschwörungstheorien bis zum Vorwurf der Sittenlosigkeit und sexueller Freizügigkeit reicht. In einer im Jahr 1980 im Verlag der ägypti- schen Bruderschaft erschienenen Broschüre mit dem Titel „Die Muslime in Syrien und der nusairitische Terror“ werden die Nusairier etwa beschuldigt, seit Jahrhunderten „eine verderbliche Rolle in der islamischen Gesellschaft“ zu spielen: Nusairier seien feige, ihre „Mentalität“ sei wie die der Juden durch Hass auf ihre Feinde, vor allem auf die Muslime geprägt. Sie verkauf- ten ohne wirtschaftliche Not ihre Töchter als Dienstmädchen und führten ein zügelloses Leben: „Anlässlich des Frühlings-Festes versammeln sich die Angehörigen der Gemeinschaft in ihren Häusern, wo sie plötzlich das Licht löschen und sich jeder Mann die Ehre jeder Frau, die ihm in der Dunkelheit in die Hände fällt, aneignen kann.“3

Die Alawiten als „Reittier des Kolonialismus“

Besonders wenn es um die historische Entwicklung der Mittelmeerländer östlich von Italien (Levante) und des heutigen Syrien geht, vermischen sich in vielen Schriften der Muslimbruderschaft historische Fakten und religiös- politische Verschwörungstheorien, die in vieler Hinsicht an antisemitische Stereotype erinnern. So wird den Alawiten pauschal unterstellt, unter ande- rem dem Freimaurertum entsprungen zu sein, „geheime Ambitionen“ zu verfolgen und bereits mit den Tataren, den Mongolen und Kreuzrittern gegen die Muslime kollaboriert zu haben. Mustafa al-Sibai, der Gründer der syri- schen Bruderschaft, bezeichnete die Alawiten in diesem Sinne als „Reittier des Kolonialismus seit den Tagen der Kreuzritter“.4 Häufig werden die Alawiten auch als „Neo-Qarmaten“ diffamiert bzw. mit den Qarmaten gleichgesetzt, einer im 9. Jahrhundert entstandenen messia-

3 Vgl. al-Muslimun fi Suriya wa al-irhab an-nusairi, Kairo, S. 5-9. 4 Vgl. Sharif Kamil, Mustafa as-Siba’i, al-Ikhwan al-Muslimun fi harb Filastin, Kairo 1984, S. 322.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 62 12.12.12 10:51 Der syrische Bürgerkrieg und der Hass auf die Alawiten 63

nischen Bewegung mit schiitischen Wurzeln, die vor allem wegen ihrer Zer- störung Mekkas im Jahr 930 und der Verschleppung des schwarzen Steines aus der Kaaba bei frommen Muslimen in Verruf stehen. Viele der bereits erwähnten Stereotype zu Glaubensinhalt und -praxis der Alawiten haben eine lange Tradition und gehen auf eine Fatwa zurück, die der von Islamisten hochgeschätzte, in Damaskus ansässige Rechtsgelehrte Taqi ad-Din Ahmad Ibn Taimiya zu Beginn des 14. Jahrhunderts erlassen hatte. Diese führt aus, dass es sich bei den Nusairiern um Abtrünnige vom Glauben (murtaddun) handle, die sich „durch den Hass auf den Islam und die Muslime“ auszeichneten, und deren Unglauben „größer ist, als der der Juden und Christen, ja, sogar größer, als der der Polytheisten,“ denn die Nusairier glaubten „weder an Gott, noch an seinen Propheten und sein Buch, sie gebie- ten nicht, was recht ist und verwehren nicht das Verwerfliche, sie glauben weder an Belohnung noch Strafe im Jenseits, weder an das Paradies, noch an die Hölle, noch an einen der Propheten vor Muhammad.“ Es stehe jedermann frei, so das Fazit Ibn Taimiyas, ihr Blut zu vergießen und sich ihren Besitz anzueignen. Die zahlreichen Verweise auf diese Fatwa in der Literatur der Muslimbruderschaft und sogar ihr vollständiger Nachdruck zeigen, welchen Stellenwert diese Ansichten bis heute haben.5

Die Verschwörung der Alawiten und die Protokolle der Weisen von Zion

Auch mit Blick auf die jüngere politische Entwicklung Syriens vermischen sich in den Schriften der Muslimbruderschaft historische Fakten und haltlose Verschwörungstheorien. So werden Bestrebungen alawitischer Kräfte nach einem eigenen Staat in den 30er Jahren als Beweis dafür gesehen, dass sich die Alawiten mit der Mandatsmacht gegen die syrische Nationalbewegung verbündet hätten. Die Machtübernahme der Baath-Partei im Jahr 1963, der Aufstieg einer Gruppe von Offizieren um Hafiz al-Assad und die Dominanz der Alawiten in bestimmten Schlüsselpositionen werden als Resultat einer finsteren alawitischen Verschwörung interpretiert – und nicht als das Ergeb- nis der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Syriens. So hätten im Jahr 1960 und 1963 geheime Treffen in Qardaha, der Heimatstadt al-Assads, sowie in Homs stattgefunden, bei denen sich die wichtigsten alawitischen Scheichs und Offiziere auf die Machtübernahme in Syrien verständigt hät- ten. Ziel sei die Gründung eines „Nusairischen Staates mit Homs als dessen Hauptstadt“, die Unterwanderung von Baath-Partei und Armee und die mas- senhafte Ansiedlung von Alawiten in Homs, Tartus und Latakiya gewesen.6 Das Assad-Regime gilt zugleich als Handlanger imperialistischer Mächte, vor allem aber des Zionismus, dem es im Jahr 1967 kampflos den Golan über- lassen habe, und in dessen Interesse es den palästinensischen Widerstand im

5 Zum vollen Wortlaut dieser Fatwa vgl. Guyard, M. S., Le Fetwa D’Ibn Taimiyyah sur les Nosairis, in: „Journal Asiatque“, 6/1871, S. 158-198. 6 Zu den „Geheimkonferenzen der Nusairier“ vgl. al-Muslimun fi Suriya, a.a.O., S. 47-48; Gabir Rizq, al-Ikhwan al-Muslimun wa-l-mu’amara ‘ala Suriya, Kairo 1980, S. 98-101.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 63 12.12.12 10:51 64 Florian Bernhardt

Libanon zerschlage und die islamische Bewegung in Syrien unterdrücke – eine Sichtweise, die in Teilen auch von nationalistischen Oppositionskräften vertreten wird. Es ist mehr als bloßer Zufall, wenn im Kontext dieser Behaup- tungen auch auf die Protokolle der Weisen von Zion verwiesen wird, die auf die „Errichtung ungläubiger konfessionalistischer Regierungen im Herzen der islamischen Welt“ abzielten.7 Schiitisch-islamistische Organisationen in der arabischen Welt haben die offene Feindseligkeit, die die syrischen Muslimbrüder nicht nur dem Regime, sondern allen Alawiten – und letzten Endes allen Schiiten – entgegenbrach- ten, kritisiert und davor gewarnt, Hafiz al-Assad auf der Grundlage seiner alawitischen Herkunft zu bekämpfen oder gar den Kampf gegen alle Alawi- ten zu richten. Ein sunnitischer Baath-Herrscher in Damaskus, so die iraki- sche Dawa-Partei wäre ebenso wenig akzeptabel wie der Nusairier Assad.8 Auch wenn die Muslimbruderschaft ihre feindselige Haltung gegenüber den Alawiten nicht grundsätzlich revidierte, hat sie zumindest dort, wo sie mit nationalistischen und linken oppositionellen Gruppen kooperierte, die notwendige Flexibilität bewiesen, diese zurückzustellen. So hat sie seit den 1970er Jahren wiederholt betont, dass sich ihr Kampf nicht gegen eine bestimmte religiöse oder konfessionelle Gruppe richte, und an die Einheit des syrischen Volkes appelliert. Auch die „Erklärung der islamischen Revolution in Syrien“, eine für die syrische Muslimbruderschaft zentrale programmati- sche Schrift, die ihr damaliger Führer Adnan Saad al-Din 1980 im saudi-ara- bischen Exil verfasste, ist in ihrer Wortwahl erkennbar um breite Akzeptanz bemüht. In einem Appell an die Söhne der alawitischen Konfession heißt es dort, die islamische Revolution empfinde niemandem gegenüber negative Gefühle oder Hass. Der Umstand, dass 10 oder 15 Prozent der Einwohner über die gesamte Bevölkerung herrschten, sowie „die provozierenden Hand- lungen, die das konfessionalistische, faschistische Regime begeht“, würden jedoch die Gefahr eines konfessionellen Bürgerkrieges bergen. Er fordert die Alawiten daher auf, sich vom Regime abzuwenden, und warnt sie unverhoh- len, ausschließlich auf dessen militärische Kraft zu bauen.

Bedrohliche Aussichten für Minderheiten

Seit Beginn der 80er Jahre trat neben die religiösen Ressentiments und poli- tisch begründeten Feindseligkeiten gegenüber den Alawiten eine weitere, von vielen sunnitischen Islamisten vertretene Verschwörungstheorie: In die- ser spielen das syrische Regime und die Alawiten zumindest mittelbar eine Rolle, in ihrem Zentrum stehen jedoch der Iran und der schiitische Islam ins- gesamt. Said Hawwa, ein Führer der syrischen Bruderschaft, versuchte Ende der 80er Jahre nachzuweisen, dass die Schiiten und Khomeini die sunniti- schen Staaten übernehmen und in schiitische transformieren wollen.9 Für

7 Vgl. al-Muslimun fi Suriya, a.a.O., S. 78. 8 Vgl. „al-Da’awah Chronicle“, 2/1982, S. 1. 9 Vgl. Sa’id Hawwa, al-Khumainiya. Shudhudh fi al-aqa’d wa shudhudh fi al-mawaqif, Kairo 1987.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 64 12.12.12 10:51 Der syrische Bürgerkrieg und der Hass auf die Alawiten 65

die syrischen Muslimbrüder belegt die blutige Unterdrückung durch das Assad-Regime deutlich eine solche iranisch-schiitische Verschwörung. Auch heute noch finden sich die in den 70er und 80er Jahren vielfach reproduzierten anti-alawitischen Ressentiments in den Publikationen der Muslimbruderschaft: Adnan Saad al-Din, der die syrischen Muslimbrüder bis 1982 führte, bedient sich in seiner zwischen 2006 und 2010 in fünf Bänden erschienenen Autobiographie vieler bekannter anti-alawitischen Ressenti- ments und warnt darüber hinaus eindringlich vor einer drohenden „Macht- übernahme der Alawiten in der Türkei“. Das Bündnis Syriens mit dem Iran interpretiert er als Verschwörung finsterer schiitischer Mächte mit dem Iran als deren „Speerspitze“, die die arabische Welt von Osten her mit einer Inva- sion bedrohe und auf einen „schiitisch-safawidisch-qarmatischen Staat“ abziele, der sich vom Kaspischen Meer bis zum Norden Pakistans erstreckt.10 Jedoch räumt Saad al-Din ein, dass auch ein Teil der Alawiten in Opposition zum Assad-Regime steht und gleichermaßen unter der Repression zu leiden hat. Die Identifizierung sämtlicher Alawiten mit dem Regime sei daher eine, „mit dem Geist und den Bestimmungen der Scharia unvereinbare Verallge- meinerung.“11 Welchen Einfluss relativ konziliante Positionen wie die Saad al-Dins innerhalb der Muslimbruderschaft und des von ihr dominierten Syri- schen Nationalrates tatsächlich haben, ist jedoch ungewiss. Dass innerhalb der Muslimbrüder verschiedene Strömungen existieren, zeigen die Äußerun- gen ihres gegenwärtigen Führers, Riyad al-Shaqfa, der im September 2012 in der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ forderte, dass syrische Regime zu stürzen, um „dem schiitischen Halbmond das Rückgrat zu brechen.“ Die islamistischen Kräfte im Innern des Landes, die sich zum Teil formell der Freien Syrischen Armee unterstellt haben, sind in ihrer Einstellung gegenüber der alawitischen Minderheit noch weit radikaler und kompro- missloser als die im Exil sitzenden Muslimbrüder. Zudem ist der salafistische Prediger al-Arur, der Syrien nach der Zerstörung seiner Heimatstadt Hama durch das Regime im Jahr 1982 verlassen hatte, mittlerweile aus seinem saudi-arabischen Exil zurückgekehrt. War al-Arur, vor Beginn des Aufstands im Jahr 2011 noch für viele Syrer ein Unbekannter, scheint er sich inzwischen nicht nur in Hama, sondern auch in Homs, Idlib und anderen Landesteilen großer Beliebtheit zu erfreuen. Auch die Freie Syrische Armee sucht offen- sichtlich die Nähe des Predigers. Aufnahmen von Al-Dschasira von Oktober 2012 zeigen ihn an einem unbekannten Ort im Landesinnern inmitten der „Kollektiven Führung der Militärräte der Syrischen Revolution“. Zwar mögen nicht alle Kommandeure der Aufständischen die Ansichten al-Arurs teilen. Ihr Anspruch, im Kampf gegen das Regime sämtliche konfes- sionellen, religiösen und ethnischen Gruppen Syriens zu vertreten, erscheint jedoch angesichts dieser Bilder wenig überzeugend, zumindest aber immer schwerer vermittelbar. Für die Alawiten – aber auch für die christlichen Min- derheiten im Lande – ist das eine äußerst bedrohliche Perspektive.

10 Vgl. Adnan Saad al-Din, al-Ikhwan al-Muslimun fi Suriya. Mudhakkirat wa dhikrayat, Bd. 1-5, Kairo 2010, Bd. 5, S. 243; S. 378-379. 11 Vgl. Adnan Saad al-Din, Bd. 2, a.a.O., S. 424.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 65 12.12.12 10:51 AufgespieSSt

Jubel, Jubel, nichts als Jubel: Dass ein fenklängen aller Art keine Spur. Zum Wahlergebnis von knapp 98 Prozent, Regelwerk der Ehe gehört auch das das Angela Merkel auf dem CDU-Par- Ehegattensplitting: Wenn einer in der teitag einfuhr, ansonsten nur in totali- jeweiligen Steuergemeinschaft mehr tären Staaten vorkommt, störte die De- verdient als der andere, kann der den legierten nicht. Sie brauchten dieses weniger Verdienenden als lebende Ab- Erlösungsergebnis. Speziell die armen schreibung nutzen. Man spart Steuern. Funktionäre aus den Großstädten, die Nicht die Existenz von Kindern wird derzeit reihenweise ihre Wahlen ver- also steuerlich gefördert. Das könnte lieren. Da bleibt nur die Hoffnung auf man ja noch verstehen. Denn Kinder die heilige Angela, die große Mutter kosten Geld und erhalten in Deutsch- der Modernisierung. land ohnehin zu wenig Förderung. Nein, der Staat verzichtet auf Geld, weil zwei Menschen auf einem Amt ihr Christliche Ehe-Unternehmen haben eintragen lassen: Die Müller-Meier GmbH, noch Homophobie nicht geschieden. Und wenn das zwei- te und dritte Unternehmen gegründet wird, dann gibt es auch dafür wieder Aber, ein wichtiger Rest rechter Ideo- steuerliche Vorteile. logie musste dann doch sein: Schwule Wenn also schon das pure, juristisch und Lesben, entschied der Parteitag, zertifizierte Zusammenleben zweier kommen nach dem Willen der CDU Menschen eine Steuerprämie wert ist, nicht in den Genuss des Ehegatten- warum gilt das dann nicht auch für les- splittings. „Ich persönlich“, verkünde- bische oder schwule Lebensgemein- te die Kanzlerin, „möchte die steuerli- schaften? Schwule und Lesben stel- che Privilegierung der Ehe beim Split- len, nach seriösen Schätzungen, etwa ting-Tarif erhalten. Weil unser Grund- fünf Prozent der Bevölkerung. Und sie gesetz die Ehe unter den besonderen sind überall. Auch in der CDU. Nicht Schutz der staatlichen Ordnung stellt.“ wenige der langjährig unverheirate- Das Wort Grundgesetz aus dem Munde ten Funktionsträger dieser Partei sind Merkels zu hören, ist eine seltene Kost- schwul oder lesbisch. Aber die meisten barkeit. Wenn es um Auslandseinsätze sagen es nicht. Das würde ja auch ihre der Bundeswehr oder um die Entmach- Karrierechancen mindern. Da hockten tung des Parlaments zugunsten der sie nun, die Homosexuellen auf dem europäischen Banken geht, ist der Da- CDU-Parteitag, duckten sich und wähl- me das Grundgesetz eher unbekannt. ten mit totaler Mehrheit und Inbrunst Aber wenn die Ehe aufgerufen wird, eine homophobe Frau an ihre Spit- die scheinbar letzte Bastion konserva- ze. Weil das „C“ im Parteinamen im- tiver Wohlanständigkeit, dann ruft die mer noch den latenten Schwulenhass Kanzlerin gerne „hier“. garantiert, weil der Anschein von ge- Wer nicht kreuzkatholisch ist, der schlossener, 98prozentiger Heterose- weiß, dass die staatlich sanktionierte xualität die Wahlerfolge auf dem Dorf Ehe nichts anderes ist als eine bürger- sichern soll. Oder auch, um es mit den liche Einrichtung zur Regelung von Worten der heiligen Angela zu sagen: Eigentumsfragen: Von der Frage, wem „Zu den eigenen Werten stehen und an das Konto gehört, bis zur Frage, wer sich glauben.“ Und wenn damit auch die Kinder besitzt, organisiert die Ehe nur der Glaube an den heiligen Oppor- nichts anderes als das Vermögen jener tunismus gemeint ist, den Schutzpat- zwei, die eine Ehe eingegangen sind. ron der Heuchler. Von Liebe und Romantik, von Har- Uli Gellermann

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 66 12.12.12 10:51 Europa in der Falle Von Claus Offe

uropa befindet sich in seiner wohl schwersten Krise seit 1945. Eine wach- Esende Zahl historisch versierter Zeitgenossen sieht sich bereits an die Lage vor 1933 erinnert. Lässt diese Krise sich nicht überwinden, so werden sowohl das politische Projekt der europäischen Integration als auch die euro- päische und die Weltwirtschaft schweren Schaden nehmen, ganz abgesehen vom Ausmaß der sozialen Zerstörungen, die die Krise schon in den Ländern der europäischen Peripherie angerichtet hat. Die Krise ist so ernst, weil sie einen unlösbar erscheinenden Widerspruch aufwirft. Einfach gesagt: Was dringend getan werden müsste, ist extrem unpopulär und deshalb auf demokratischem Wege nicht durchzusetzen. Aber auch auf postdemokratisch-technokratische Weise ist ein Ausweg kaum zu finden. Alle Kenner sind sich „im Prinzip“ einig, was nottut – näm- lich eine langfristige Schuldenvergemeinschaftung oder andere Formen grenzüberschreitender Lasten-Umverteilung großen Stils; aber das lässt sich dem wählenden Publikum der reichen Länder kaum vermitteln. Analoges gilt für die Länder der Peripherie: eine rasche und nachhaltige Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit und eine Senkung der Lohnstück- kosten müsste erreicht werden, um dann irgendwann annähernd ausge- wogene Handelsbilanzen und einigermaßen tragbare Haushaltsdefizite zu ermöglichen – auch dies gilt sachkundigen Eliten als „erforderlich“, ist aber offenbar nicht machbar, ohne die demokratische Souveränität dieser Länder schwer zu beschädigen, weil deren Bevölkerung das genaue Gegenteil „for- dert“. Das Missverhältnis zwischen ökonomisch Erforderlichem und politisch Machbarem zeigt sich also auf beiden Seiten der Nord-Süd-Linie, die Europa heute spaltet. Wenn die Eurozone zerfällt, weil jene Quadratur des Kreises misslingt, wird wohl auch die EU zugrunde gehen. Mit dieser Warnung hat die deutsche Bundeskanzlerin vollkommen recht. Die neue Spaltung Europas trennt den armen Süden vom reichen Norden. Die Populisten im Norden lehnen steuerfinanzierte Transfers und Schulden- schnitte ab (zumal im Lande des Hauptzahlers nationale Wahlen bevorste- hen), während die Populisten im Süden sich heftig gegen die Austeritätsdik- tate wehren, die Löhne, Renten und den öffentlichen Dienst treffen. Beide Sorten von Populisten profitieren von der Krise, die ihnen politischen Zulauf beschert und die Volksparteien der Mitte mit ihrem ohnehin schrumpfen-

* Dieser Essay beruht auf der Mitschrift eines Interviews für die polnische Zeitschrift „Krytyka Poli- tycna”. Trotz der Überarbeitung sind einige Merkmale der mündlichen Rede erhalten geblieben.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 67 12.12.12 10:51 68 Claus Offe

den Wähleranteil zur Nachahmung nötigt. In Griechenland ist die neona- zistische „Goldene Morgenröte” mittlerweile zur drittstärksten Partei des Landes avanciert.1 In dem Augenblick, in dem sie zusammen mit anderen Europa-Neinsagern eine Regierungskoalition zustande brächte, wäre es mit dem Euro vorbei – wegen der absehbaren Reaktionen der Europäischen Zen- tralbank (EZB), des Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie der Finanz- märkte und des damit losgetretenen Dominoeffekts. Die Auflösung der Eurozone mit ihrer unausweichlichen Konsequenz des EU-Zerfalls liefe auf einen Tsunami politischer und wirtschaftlicher Regres- sion hinaus. Damit soll nicht bestritten sein, dass der Euro von Anfang an eine Fehlkonstruktion war. Wenn man Griechenland und Deutschland, um die beiden Extremfälle zu nennen, in eine Währungsunion steckt, setzt man den ärmeren, weniger produktiven Partner – den, der die höheren Lohn- stückkosten hat und daher in seinem Außenhandel weniger wettbewerbs- fähig ist – gewaltigen wirtschaftlichen Zwängen aus. Man nimmt ihm schlicht die Möglichkeit, sich mit eigenen Mitteln, nämlich denen einer nationalen Währungspolitik (sprich: Abwertung) extern anzupassen. Griechenlands Aufnahme in die Eurozone erweist sich somit im Nachhi- nein als einer der fatalen Fehler, die, einmal gemacht, die Option ausschlie- ßen, sie durch Rückkehr zum Status quo ante zu korrigieren. Selbst wenn heute alle Beteiligten darüber einig wären, dass die Einführung des Euro in eine völlig falsch konstruierte Währungszone ein gewaltiger Fehler war (wegen der von vornherein bestehenden und sich weiter vertiefenden Inho- mogenität dieser Zone, der fehlenden Abwärts-Flexibilität von Preisen und Löhnen, der Behinderung der Arbeitskräftemobilität durch Sprachbarrieren und weil es keine unionsweite Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik gibt) – der Versuch einer Rückabwicklung hätte schon wegen der Ankündigungs- effekte seinerseits katastrophale Folgen. Es ist einfach unrealistisch, den Geist zurück in die Flasche zwingen zu wollen.

Unkalkulierbare Dominoeffekte

Mit ihrem Beitritt gehen die Neumitglieder der EU die rechtliche Verpflich- tung ein, ihre Volkswirtschaften so zu reformieren, dass sie sich nach den fünf Kriterien des Maastricht-Vertrages zu Mitgliedern der Eurozone qua- lifizieren. Wollte man diese Bedingung aussetzen oder den Austritt von Euro-Mitgliedern betreiben, würde für diese Länder eine Lawine negativer Konsequenzen losgetreten: Die Renationalisierung der Geldpolitik würde es den Peripherieländern zwar gestatten, ihre Währungen unbeschränkt abzu- werten, doch hätten sie es danach um so schwerer, ihre Euro-Schulden zu bedienen. Desgleichen würden Finanzinvestoren die Zinsschraube für Mit- gliedstaaten, die den Euro noch nicht aufgegeben haben, anziehen und auf diese Weise einen unkalkulierbaren Dominoeffekt auslösen. Dieser würde

1 Vgl. Michael Oswald, Rechtsruck in Hellas, in: „Blätter“, 10/2012, S. 26-29.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 68 12.12.12 10:51 Europa in der Falle 69

schließlich auch die Wirtschaft der Netto-Exporteure in Mitleidenschaft zie- hen. Außerdem wären Länder, die den Euro aufgeben, zugleich gezwungen, die Befolgung des regulativen europäischen Rechts aufzugeben, weil sie sich die Einhaltung von dessen Regeln einfach nicht mehr leisten könnten. Sobald Staaten einmal in dieser Euro-Falle sitzen, beginnen sie – und ihre Bürgerinnen und Bürger – die teuflische Konsequenz zu spüren: Wenn sie nicht länger frei sind, die eigene Währung abzuwerten, sind sie zu dem Versuch gezwungen, ihre Defizite auf dem Wege „interner“ Anpassung zu bekämpfen – ein Euphemismus für tiefe Einschnitte bei den staatlichen Dienst- und Infrastrukturleistungen wie bei Löhnen, Renten und Sozial- transfers. Vermeiden ließe sich das nur, wenn es gelänge, hohe Einkommen und größere Vermögen stärker für fiskalische Zwecke heranzuziehen; da es jedoch in Europa weder Steuerharmonisierung noch Kapitalverkehrskontrol- len gibt, sind die Fluchtwege für Finanzkapital breit ausgebaut. Daher halten die meisten politischen Kräfte, darunter alle Sozialdemokraten, diese Option für wenig aussichtsreich. So bleibt es dabei: Statt die eigene Währung abzu- werten, muss man jetzt die Beschäftigten und den Staatssektor im eigenen Lande abwerten. Das erleben wir derzeit im Süden Europas, vor allem in Griechenland. Alles, was der Staat finanziert, organisiert und reguliert, muss jetzt „libera- lisiert“ werden. Das geschieht durch „Reformen“ – einem Begriff, der unter der Hand überall semantisch umgekrempelt wurde. Wir waren gewohnt, uns unter Reformen etwas „Progressives“ vorzustellen, Schritte in Richtung Ver- teilungsgerechtigkeit und bessere Lebenschancen. Das war einmal. Heute erklären die herrschenden Eliten der EU und ihrer Mitgliedstaaten Reformen dieser neuen, liberalisierenden Sorte für eine zwar bittere, aber unverzicht- bare Medizin. Es ist kein Wunder, dass so etwas enorme soziale Unruhen aus- löst, deren Wucht es bisweilen selbst den Nutznießern völlig absurder Privi- legien erlaubt, diese zu verteidigen. Die Gewerkschaften kämpfen, aber mit dem Rücken zur Wand. Fast jeden Sonntag kommt es zu linkspopulistischen Massenaktionen in griechischen, portugiesischen und spanischen Städten, im November 2012 kam es sogar zum ersten grenzüberschreitenden südeuro- päischen Massenstreik. Die Größenordnung des europäischen Ungleichge- wichts ist leicht zu illustrieren: Um eine ausgeglichene Außenhandelsbilanz zu erreichen, müsste Griechenland in Euro-Preisen satte 40 Prozent billiger werden. Umgekehrt müssten Deutschlands Exporte sich um 20 Prozent ver- teuern, wollte man den Exportüberschuss des Landes auf Null reduzieren. Beides dürfte kaum zu erreichen sein, da weder griechische Arbeiter und Rentner noch deutsche Arbeitgeber oder Finanzminister gewillt sein dürf- ten, größere Schritte in diese Richtung zu tun oder zuzulassen. Schlimmer noch: Selbst wenn irgendein autoritärer Technokrat unter dem Diktat der EU, der EZB und des IWF Griechenlands Staatsausgaben, Löhne und Renten in einer derartigen Größenordnung zusammenstreichen würde, würde dadurch das allein maßgebliche Verhältnis zwischen öffent- licher Schuldenlast und BIP nicht verbessert, sondern im Gegenteil massiv verschlechtert. Finanzinvestoren wissen, dass es die positive Wachstumsaus-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 69 12.12.12 10:51 70 Claus Offe

sicht (ein credible business plan) eines Landes ist, der darüber entscheidet, ob ausreichend künftige Steuereinnahmen zu erwarten sind, die es gestat- ten werden, gegebene Kredite zu bedienen. Daher werden sie auf fehlende Wachstumsaussichten entsprechend reagieren: entweder durch Kreditver- weigerung oder mit einer weiteren Steigerung der Kreditkosten über das tragbare Maß hinaus. Gerade die als Preis für Kreditgarantien den Schuld- nerländern aufgenötigte Spar- und Austeritätspolitik ist aber (was kaum jemand nach Veröffentlichung von neuen Daten des IWF im November 2012 noch bestreitet) für fehlende Wachstumsaussichten mitverantwortlich.

Versperrte Auswege

Die Frage lautet also: Wie kann man – ohne die Möglichkeit einer Wäh- rungsabwertung – so gewaltige Handelsungleichgewichte innerhalb des Euro-Systems überwinden? Dazu gibt es diverse Vorschläge: eine Clearing- Union, Fiskalunion oder Schuldenvergemeinschaftung, Schuldenerlass, Zahlungsaufschub. Am praktikabelsten erscheinen Vielen die sogenann- ten Eurobonds – gleichsam eine „Bonitätsspende”, die allerdings durch Ver- tragsänderung erst noch „gerichtsfest” gemacht werden müsste. Dasselbe gilt wohl für den unbegrenzten Ankauf von Staatsschulden durch die EZB, die dadurch marktberuhigend demonstrieren will, dass sie die angehäuften Papiere im Ernst für werthaltig hält und eben dadurch ihren Wert steigert. Hektische, geradezu verzweifelte Elitendebatten drehen sich derzeit darum, irgendeinen Mix aus diesen Maßnahmen zu finden. Die öffentliche Meinung reagiert darauf, besonders in den Nordländern, mit wachsendem Argwohn, dass hier eine „rote Linie” nach der anderen überschritten wird. In so zentralen Ländern wie Deutschland will die Öffentlichkeit – bestärkt durch das desaströse Versagen der politischen Parteien vor ihrer Aufklä- rungsaufgabe – bislang einfach nicht wahrhaben, was hinter verschlossenen Türen als unstrittige Tatsache gilt: Dass es sich bei den geplanten Notmaß- nahmen nicht so sehr um „Transfers” oder Akte von „Altruismus” handelt als vielmehr um Solidarität im genauen Sinn des Wortes. Solidarität orientiert sich daran, was „gut für uns alle” ist, und fragt nicht nur „Was ist gut für dich, den Empfänger”. Derzeit dominiert jedoch ein Missverständnis, das solida- risches Handeln (im dargelegten Sinn) mit Wohltätigkeit, selbstlosen (von den Empfängern schwerlich verdienten) „Geschenken” verwechselt. Dieses Missverständnis programmiert die Frage, „Warum sollen ‚wir’ eigentlich für ‚die da’ bezahlen, ihnen etwas schenken?”, „Warum sollte man nicht end- lich an Griechenland ‚ein Exempel statuieren’, statt immer noch mehr Geld in dieses oder jenes ‚Fass ohne Boden’ zu schütten?” Diese Perspektive machen sich rechtspopulistische Parteien (aber auch starke Strömungen innerhalb der politischen Mitte, die mit jenen Parteien im Wettbewerb stehen) für Wahl- kampfzwecke zunutze, was wiederum die nationalen und europäischen Eli- ten daran hindert, die demokratisch fundierte Strategie eines „wohlverstan- denen Eigeninteresses” zu verfolgen, also eine Strategie der Solidarität.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 70 12.12.12 10:51 Europa in der Falle 71

Wovon eine (zurzeit schrumpfende) Minderheit von europäischen Integ- rationsenthusiasten jahrelang geträumt hat, nämlich von einer Vertiefung der Integration mit einem europäischen Bundesstaat als Zielzustand („fina- lité”), das ist nun plötzlich unter dem Druck der Krise zu einer eilbedürftigen Notmaßnahme geworden, die auf die Einrichtung starker fiskal- und wirt- schaftspolitischer Kompetenzen auf EU-Ebene hinausläuft. Doch da es an der Unterstützung von politischen Parteien und damit der Wähler (sowohl in den prosperierenden wie in den krisenbetroffenen EU-Staaten) für eine solche Notrettung mangelt, wird sie voraussichtlich scheitern. Es sieht nicht danach aus, dass sich der europäische Finanzkapitalismus mit demokrati- schen Mitteln unter Kontrolle bringen ließe. Selbst wenn die Rettungsaktion dauerhaft gelingen (und nicht nur immer wieder ein wenig Zeit kaufen) sollte, trifft sie aus demokratischer Sicht der sogar im Erfolgsfall berechtigte Vorwurf, es handele sich um eine techno- kratisch erzwungene, unzulänglich bedachte, juristisch anfechtbare, vertei- lungspolitisch brutale und zudem verspätete Notoperation. Man wolle letzt- lich nur Zeit gewinnen – in der zweifelhaften Hoffnung, die Finanzmärkte so beruhigen und dann dauerhaft unter Kontrolle bringen zu können. Sowohl aus der Linken wie von Mitte-Rechts melden sich in letzter Zeit Stimmen zu Wort, die eine Stärkung der demokratischen Legitimation von aus „Brüssel” kommenden Rettungsaktionen durch Referenden vorschlagen. Die Linke setzt dabei, eher zögerlich, auf positive Ergebnisse; die Rechte dagegen auf einen negativen Ausgang, weil bei ihr „nationale” Interessen und Ressenti- ments sowie der Wunsch dominieren, an den Verlierern des Euro-Spiels ein „Exempel zu statuieren”.

Die Bildung des europapolitischen Volkswillens

Doch bevor die Präferenzen der Wähler gezählt werden können, müssen sie erst einmal gebildet werden, und zwar im Lichte von normativen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit wie ebenso eines aufgeklärten Sachverständnisses über die Situation, in der wir uns befinden, und die gangbaren Auswege und ihre Konsequenzen. Da es jedoch ein europaweites Parteiensystem, das diese Aufklärungsarbeit leisten könnte, erst rudimentär gibt und wegen der Rolle, die nationale Scheuklappen deshalb bei der Bildung von Wählerpräferenzen nach wie vor spielen, fällt es nicht leicht, in eine direkt-demokratische „Not- fall-Legitimation” viel Vertrauen zu setzen; also darauf, dass Volksabstim- mungen in den Mitgliedstaaten geeignet wären, den benötigten massiven Solidar-Interventionen auf europäischer Ebene demokratischen Rückhalt zu verschaffen. Wenn man Griechenland – von Spanien, Portugal oder Italien gar nicht zu reden – durch Schuldenvergemeinschaftung und Eurobonds vor dem Staats- bankrott retten will, könnte sich dies in der Tat als ein extrem teurer Transfer erweisen, der mit Inflation oder weiter steigender öffentlicher Verschuldung im Norden bezahlt werden müsste. Steuerfinanzierte „Geschenke” an not-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 71 12.12.12 10:51 72 Claus Offe

leidende Eurozonen-Teilnehmer sind nicht populär. Ein einziges Argument könnte die Wählerschaft in den Nordländern davon überzeugen, dass es sich bei solchen „Geschenken” dennoch um eine vernünftige Sache han- delt, nämlich das Argument, dass eine unterlassene Rettungsaktion und das Versäumnis, die dafür fälligen Opfer aufzubringen, für „uns” noch höhere Kosten verursachen würde. Angesichts der ungewissen Reaktionen sämtli- cher strategischer Akteure in diesem Spiel lässt sich dieses Argument jedoch nicht in einer Weise quantitativ unterfüttern, die auch die Träger entgegen- stehender Interessen und Meinungen überzeugt. Niemand kann sicher sein, was passieren wird, wenn nichts passiert, das heißt wenn die Vergemeinschaftung der Staatsschulden oder andere Varian- ten einer vom „Norden” subventionierten Stabilisierung der Peripherie nicht zustande kommen. Die jüngsten Prognosen der Bertelsmann Stiftung lassen für diesen Fall eine Katastrophe erwarten: einen Dominoeffekt, der den gan- zen europäischen Mittelmeerraum einschließlich Frankreich und womög- lich auch Belgien erfassen und sich weltweit, besonders aber in ganz Europa, wirtschaftlich höchst destruktiv auswirken würde. Auch Deutschland, auch Finnland und die Niederlande, die bislang der Rolle des Nettozahlers wäh- lerwirksam auszuweichen suchen, wären schwer betroffen; ihr ganzer schö- ner Exportüberschuss schmölze wie Schnee in der Frühlingssonne. Aus Umfragen wissen wir, dass es in keinem der Länder, die unter beson- ders hohen Staatsdefiziten leiden, Mehrheiten für einen Austritt aus der Eurozone gibt – ganz im Gegenteil. Das ist ökonomisch aus drei Gründen völlig rational: Erstens würden sie durch einen Austritt ihren nuisance value verlieren, also ihre Fähigkeit, den anderen Teilnehmern des Spiels so auf die Nerven zu gehen und sie mit Ansteckungsszenarien zu verängstigen, dass die EU aktiv werden und ihre Banken, Staatshaushalte und Volkswirtschaf- ten nach Kräften retten muss. Zweitens müssten sie auch im Austrittsfalle noch ihre auf Euro lautenden Kredite bedienen, nun aber auf der Basis einer stark abgewerteten neuen Landeswährung. Drittens würde aber auch kaum ein verantwortlich denkender, nicht nur mit populistischer Akquisition von Wählerstimmen befasster Politiker im restlichen Europa die Defizit-Länder zum Austritt drängen wollen, weil das zur besagten unkalkulierbaren Ket- tenreaktion führen könnte. Ohne Griechenland hätte die Eurozone nicht ein Problem weniger, sondern womöglich ein Problem mehr. Schon aus Gründen der Vorsicht empfiehlt es sich, Griechenland aus der Klemme zu helfen und damit die Beutemacher aus der Finanzindustrie für eine Weile zu besänfti- gen. Daran ändert die Tatsache nichts, dass letztere die Akte supranationaler „Solidarität” auf Schärfste begrüßen werden, weil sie ihr zumindest einen Teil des Risikos ihrer Finanzinvestitionen abnehmen. Um das Vertrauen in die Fähigkeit der Schuldnerländer, ihre Kredite zu bedienen und letztlich zurückzuzahlen, auf Dauer wiederherzustel- len, bedarf es allerdings mehr als temporärer Transfers. Was Griechenland dazu braucht, ist nicht allein die (in jedem Fall sowohl zeitlich wie finanziell begrenzte) Bereitschaft anderer Länder, als stellvertretende Schuldner ein- zuspringen und Griechenlands Schulden zu bezahlen, sondern letztlich die

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 72 12.12.12 10:51 Europa in der Falle 73

Wiederherstellung einer Steuerbasis der griechischen Volkswirtschaft. Nur so könnte das Land irgendwann dahin kommen, dass es seine finanziellen Verpflichtungen aus dem, was es selbst produziert (unterstützt durch Dauer- transfers aus EU-Mitteln, wie sie jedes strukturschwache Bundesland in einem normalen Bundesstaat als „Finanzausgleich” beanspruchen kann) auch selbst bedienen kann. Die EU müsste ihr Vorgehen grundlegend ändern, wenn sie die Banken wirksam daran hindern will, einen Staatsbankrott Griechenlands und ande- rer Mittelmeerländer zu antizipieren (und so eine sich selbst erfüllende Pro- phezeiung tatsächlich auszulösen). Dabei spielen die Rating-Agenturen die Doppelrolle von Feuermelder und Brandbeschleuniger. Statt auf kontrapro- duktive Austeritätsprogramme und „Reformen” zu setzen, die zu zerstöre- rischen und unproduktiven sozialen Konflikten führen, müsste die EU sich aktiv in den Auf- und Umbau der maroden und weitgehend wettbewerbs- untauglichen Volkswirtschaften der südlichen Eurozone einschalten. Die ernüchternde Realität sieht aber anders aus: In ihrem gegenwärtigen Zustand ist die EU weder institutionell, noch ökonomisch oder politisch willens und fähig, irgendeine dieser Aufgaben effektiv anzupacken. Und solange das so bleibt, werden die Banken weiterhin das letzte Wort darüber haben, was aus der Bevölkerung und den Volkswirtschaften der Südstaaten wird.

Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat

Das erklärt sich aus Verlauf und Vorgeschichte der gegenwärtigen Krise. Ein Hauptaspekt ist das (aus heutiger Sicht unbegreifliche) Versagen der natio- nal und europäisch Verantwortlichen vor der Aufgabe, die Finanzindustrie auf eine Art und Weise zu regulieren, die verhindert hätte, dass Banken rei- henweise bankrott gehen und dann die Staaten zu ihrer Rettung einsprin- gen müssen. Werfen wir kurz einen Blick auf einige der dieser komplexen Geschichte zugrunde liegenden Zusammenhänge: Ein Teil der Erklärung liegt ja darin, dass die Staaten nur deshalb so hoch überschuldet und damit den Launen der Finanzmärkte ausgesetzt sind, weil sie ihren Banken aus der Patsche helfen mussten, zumindest denjenigen, die too big to fail sind. Die öffentlichen Kosten einer Rettung privater Banken zu Lasten der Steuer- zahler haben also die fiskalische Krise angeheizt, aus der nun wiederum die Banken Profit schlagen – eine Obszönität ganz eigener Art. Aus der Sicht jedes Finanzinvestors kommt es auf zwei Dinge an, zwi- schen denen ein trade-off besteht: je mehr vom einen desto weniger vom anderen. Zum einen will er Sicherheit für seine Investition (also die Gewähr, dass der Kredit zurückgezahlt werden wird), zum anderen hohe Erträge in Gestalt von Zinsen (die auch eine Kompensation für das Risiko bieten, dass der Kreditnehmer zahlungsunfähig wird). Staaten waren früher als Kredit- nehmer besonders beliebt, weil sie gegenüber Privatschuldnern zwei Vor- züge aufweisen: Erstens verfügen sie über die politische Befugnis, zwangs- weise die Steuern einzutreiben und gegebenenfalls so zu erhöhen, dass sie

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 73 12.12.12 10:51 74 Claus Offe

ihre Schulden bedienen können. Zweitens können sie Geld drucken und auf diese Weise ihre realen Schulden inflationär „abwerten”. Der letztere Weg ist einem Euro-Staat jedoch versperrt, weil er eben sein eigenes Geld nicht mehr drucken kann. Aber auch der erstgenannte Vorzug, die Steuerhoheit, ist aus Sicht der Investoren nicht mehr wie vordem gesichert, weil sie wissen, dass Staaten heute im Steuerwettbewerb miteinander stehen. Dieser hindert sie, zur Befriedigung von Gläubigern die Steuerlast zu steigern, weil dies bei offenen Grenzen zu Kapital-Abwanderung und damit zu einer Schädigung der zukünftigen Steuerbasis führen würde. Eine offene Ökonomie zwingt die Staaten zur Zurückhaltung bei der Besteuerung von Unternehmen und den Beziehern hoher Einkommen. Soweit Staaten ihre Schulden nicht durch fiskalische Belastung der Arbeitnehmer und Konsumenten und/oder eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben finanzieren können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihren aus Verschuldung herrührenden Finanzbedarf durch Aufnahme weiterer Schulden zu decken. Dabei sind sie den Beutema- chern der Finanzindustrie zwar nicht völlig wehrlos ausgeliefert: Sie können, anders als private Schuldner (die über kurz oder lang vom Gerichtsvollzie- her aufgesucht würden) die Zahlung von Zinsen und Tilgungen einstellen. Gegen diese Option von Staaten verfügen Banken als Gläubiger jedoch über eine (auch für andere Schuldner abschreckend wirkende) „Zweitschlagka- pazität”: Sie können einem Schuldnerstaat Kredite verweigern oder nur noch zu vollends untragbaren Bedingungen gewähren. Wie Wolfgang Streeck in zahlreichen neueren Veröffentlichungen nach- gewiesen hat, befinden sich die Staaten der OECD-Welt, was die Art ihrer Finanzierung angeht, auf dem Wege vom klassischen Steuerstaat zum kre- ditfinanzierten Schuldnerstaat – und das bei langfristig gegen Null gehen- den Wachstumsraten in den entwickelten kapitalistischen Demokratien! Der Staat der kapitalistischen Ökonomie ist auf dem Wege, seine für diese Ökono- mie unverzichtbaren Funktionen nur noch unter künstlicher Beatmung erfül- len zu können, die wiederum von der Finanzindustrie übernommen wird. Der kumulierte Schuldenstand der Staaten hat sich während der gesamten Periode der Liberalisierung, also seit Anfang der 1980er Jahre, kontinuier- lich erhöht. (Nebenbei: Der Wandel vom Steuerstaat zum Schuldnerstaat hat interessante verteilungspolitische Implikationen. Der Steuerstaat vermindert das verfügbare Einkommen der Bessergestellten, indem er sie – progressiv – besteuert, während der Schuldnerstaat deren Einkommen vermehrt, indem er Zinsen auf das zahlt, was Angehörige oberer Einkommensschichten ihm leihen können.) Im genannten Zeitraum hat der Umfang des Finanzsektors insgesamt sowie der Anteil der Einkünfte, die ihm aus der Finanzierung von Staatsschulden zufließen, ständig zugenommen. Gleichzeitig ist der Anteil der Einkünfte an ihrem Gesamtgeschäft, die Finanzinvestoren aus Krediten an die „reale” Wirtschaft der Produktion von Gütern und Diensten beziehen, zurückgegangen. Der Soziologe Christoph Deutschmann hat die interes- sante These vertreten, der Schwenk der Finanzindustrie von der Finanzie- rung der Realwirtschaft zur Finanzierung von Staaten könne damit zu tun haben, dass die klassischen Unternehmer „knapp” geworden sind, unter

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 74 12.12.12 10:51 Europa in der Falle 75

anderem auch aus demographischen Gründen der Alterung. „Klassische” Unternehmer sind bereit und darauf angewiesen, bei Banken Kredite aufzu- nehmen, um in produktive Aktivitäten zu investieren, deren Erträge es ihnen dann gestatten, ihre Kredite zu bedienen. Bei sinkenden Wachstumsraten in der gesamten OECD-Welt kann in diesem Sektor nicht mehr das Hauptge- schäft des Geldgewerbes liegen; es wendet sich anderen Feldern zu, unter anderem auch der Finanzierung des privaten Konsums durch Konsumenten- kredite, die eine ähnliche Aufblähung erfahren haben. Ein Kernproblem bei der Euro-Rettung erwächst daraus, dass erst die Ban- kenkrise in eine Krise der Staatsfinanzierung umgeschlagen ist und letz- tere dann in die gegenwärtige Krise der europäischen Integration. Diese wiederum besteht in einer Renationalisierung der Solidaritätshorizonte und darin, dass die reichen Länder Europas den ärmeren Sparkuren verordnen, die ihnen das Vertrauen der Finanzindustrien zurückgewinnen sollen. Das geschieht gegen all jene Erfahrungen, die besagen, dass Austerität eine hochgiftige Medizin ist, die bei Überdosierung den Patienten wirtschaftlich umbringen kann, statt das Wachstum anzuregen und die Steuerbasis zu ver- breitern. Auf diese Weise geraten die schwächsten (und schließlich alle) Mit- glieder der Eurozone noch tiefer in Abhängigkeit von der Finanzindustrie, die ihrerseits auf die Wachstumsschwäche mit höheren und noch schwerer tragbaren Zinsen reagiert – ein Teufelskreis.

Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte – der Geburtsfehler der Eurozone

Um ein Land wirtschaftlich unter seine Kontrolle zu bringen, musste man es früher militärisch besetzen. Heute braucht man das nicht mehr. Man kann vollkommen friedliche Beziehungen mit einem Land unterhalten und es den- noch buchstäblich besitzen – indem man sich nämlich auf dem Wege dauer- hafter Exportüberschüsse dessen Wirtschaft aneignet und seine Souveräni- tät dadurch zerstört, dass man seine Haushaltshoheit und andere Elemente seiner Souveränität aushebelt. Angesichts dieser wirtschaftlichen und politi- schen Machtkonstellation kann es nicht überraschen, dass sie in den betrof- fenen Ländern als eine neue Version von Imperialismus und Abhängigkeit empfunden wird – eine Stimmungslage, die ein Mobilisierungspotential in sich birgt, das die Zukunft der europäischen Integration düster erscheinen lässt. Wie gesagt: Die Konstruktion der Eurozone war von Anfang an ein gravierender Fehler, weil sie die (noch zunehmende) Heterogenität der in ihr zusammengeschlossenen Volkswirtschaften nicht zureichend berück- sichtigte. Hinzu kommen das Fehlen wirksamer Sanktionsmechanismen im Maastricht-Vertrag und das Fehlen von supranationalen Zuständigkeiten für eine europäische Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik im Vertrag von Lis- sabon. Den Gipfel bildete die (rot-grüne!) Fehlentscheidung in Deutschland, das Land in einen Standortwettbewerb um die weitestgehende Liberalisie- rung der Finanzindustrie zu stürzen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 75 12.12.12 10:51 76 Claus Offe

„Wir alle” haben, könnte man also sagen, ernste und folgenreiche Fehler gemacht. Doch diese Einsicht, die von den heutigen politischen Eliten Euro- pas weithin jedenfalls insgeheim geteilt wird, führt nicht von selbst zu einer gemeinsamen Strategie der Abhilfe. Im Gegenteil: Je mehr sich die Krise zuspitzt, desto strittiger wird die Frage, wer für die Abhilfe eine (Zahlungs-) verantwortung übernehmen soll. Man könnte versuchen, diese Frage nach einem einfachen moralischen Prinzip zu beantworten: Es verlangt von den Beteiligten, dass sie, je weniger sie jeweils unter den gemeinsam begange- nen Fehlern zu leiden hatten bzw. je mehr sie sogar von diesen Fehlern han- delspolitisch profitieren konnten, einen um so größeren Anteil der Lasten schultern müssen, die zur Bewältigung der Krise durch Entschuldung der am meisten Geschädigten unabwendbar sind. Die „Schuldfrage”, wer für die fal- schen Entscheidungen verantwortlich war, wird dabei ausgeklammert. (Ein Urteil darüber, wie es zu diesen Fehlern kommen konnte und inwieweit sie mit einem französisch-deutschen Deal – Abschaffung von DM und Bundes- bank im Austausch gegen Frankreichs Zustimmung zur deutschen Einheit – zusammenhingen, überlasse ich gern zukünftigen Historikern.) Dieses simple moralische Kalkül lässt sich sogar sowohl in deontischer als auch in konsequentialistischer Weise ausdeuten, prinzipienorientiert ver- sus folgenorientiert. Im letzteren Fall lautet das Argument: Derjenige, der vergleichsweise ungeschoren davongekommen ist, muss am stärksten an der Konsolidierung eines Arrangements interessiert sein, das ihm bei ver- gleichsweise geringen Kosten so viel handelspolitischen Vorteil eingebracht hat. Die erstere Perspektive besagt: Derjenige, der sich die Kosten der Hilfe- leistung am ehesten leisten kann, ist mit Vorrang verpflichtet, diese nicht zu verweigern. Wie man es auch wendet: Die Frage, auf wen dieses moralische Kalkül im heutigen Europa in erster Linie zutrifft, findet leicht eine schlüs- sige Antwort. Sie lautet: Deutschland. Die größten Nutznießer des Euro sind die Deutschen, deren – unter den Bedingungen der Gemeinschaftswährung noch gesteigerte – Exportüberschüsse Teil des Problems sind. Und Deutsch- land profitiert sogar von der Krise: Hierzulande kommt der Staat heute so billig wie nie zuvor und nirgendwo sonst an Kredite. Die politischen Eliten Deutschlands denken jedoch ebenso wenig wie die Öffentlichkeit des Lan- des daran, diese Antwort als schlüssig anzuerkennen und danach zu handeln – ganz im Gegenteil. Eine von wohlverstandenen Eigeninteressen und/oder anerkannten Pflichten zur Hilfeleistung motivierte Bereitschaft von Regie- rungen, Parteien und Bürgern, die anfallenden fiskalischen Kosten auf sich zu nehmen, wird schon durch die Komplexität der Zusammenhänge entmu- tigt. Diese Zusammenhänge lassen sich in Umrissen so beschreiben: Gefor- dert ist die Bereitschaft, auf nationale Souveränitätsrechte teilweise zu ver- zichten und beträchtliche wirtschaftliche Opfer zu bringen, um fiskalische Regierungsfähigkeit auf europäischer Ebene aufzubauen und bei der Ent- schuldung hilfsbedürftiger Mitgliedstaaten und ihrer wirtschaftlichen Erho- lung mitzuwirken sowie ihre soziale Misere einzudämmen, damit sie gelin- gen kann; die Finanzindustrie ruhigzustellen und ihre Zinsforderungen zu zügeln, um dadurch die Eurozone und damit die EU insgesamt zu stabili-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 76 12.12.12 10:51 Europa in der Falle 77

sieren, was unter politisch-moralischen wie gleichermaßen unter Gesichts- punkten der wirtschaftlichen und fiskalischen Stabilität als ein hohes Gut zu werten ist. Der Appell an eine so begründete Bereitschaft wäre offensicht- lich in jedem nationalstaatlichen Kontext eines Mitgliedstaates völlig aus- sichtslos, und das nicht allein seiner Komplexität wegen. Wer auch immer dieses vielstufige Handlungsprogramm vorschlüge, müsste mit Ängsten, Ressentiments und massiven nationalistischen Rückfallerscheinungen im gesamten politischen Spektrum rechnen. Hier zeigt sich wieder, wie tief die Kluft zwischen politics und policy, dem Meinungs- und Machtkampf einer- seits und strategischen Interventionen andererseits, bereits ist: Theoretisch sind politische Parteien – und am ehesten solche, die sich an eine europa- weite Wählerschaft wenden – dazu da, diese Kluft zu überbrücken. Das könnte ihnen dann gelingen, wenn sie imstande wären, Wählerpräferenzen und öffentliche Meinung durch überzeugende Argumente zu formen und ihre Einsichtsfähigkeit zu qualifizieren. Stattdessen ist zu beobachten, dass politische Parteien hartnäckig an nationalen Schablonen und kurzfristigen Kostenrechnungen festhalten, weil sie fürchten, anderenfalls ihre Wähler zu überfordern und Stimmen an Parteien zu verlieren, die deren Ressentiments bedenkenlos bedienen. Als politische Machterwerbsorganisationen stehen Parteien unter dem korrumpierenden Druck eines positivistischen Opportu- nismus, nämlich sich nach den „gegebenen” Präferenzen der Wähler zu rich- ten und vor der Aufgabe zu resignieren, diese Präferenzen zunächst durch Vermittlung von Einsichten und Argumenten (mit)zuformen. Doch Parteien sind nun einmal darauf aus (und dazu da!), Wahlen zu gewinnen – auf wel- che Weise auch immer. Wenn sie hoffen können, dadurch zu gewinnen, dass sie Wählergruppen mit gezielten Begünstigungen ködern („Klientelismus”), oder dadurch, dass sie das politische Blickfeld räumlich und zeitlich einen- gen, oder indem sie Ängste schüren oder wesentliche Zusammenhänge der Politik leugnen oder verzerrt darstellen, statt ihr Publikum aufzuklären und zu überzeugen – dann werden sie das tun.

„Missbrauchsgefahr”

Um tatsächlich durch argumentative Auseinandersetzung und Überzeu- gungsarbeit Wählerpräferenzen (mit)gestalten zu können, müssten die Parteien willens und in der Lage sein, allerlei Befürchtungen, Misstrauen, Kurzsichtigkeit und Argwohn zu überwinden. Eines der starren Denkmus- ter, die Parteien eher als „gegeben” betrachten statt zu verflüssigen versu- chen, besteht in dem Grundverdacht: Wenn „wir” Opfer bringen, um „denen da”, etwa „den Griechen”, zu helfen, dann werden „die“ unsere Großzügig- keit nur ausnutzen, um „uns” zu übervorteilen und sich selbst erwartbare Anstrengungen zu ersparen; sie werden durch unsere „Geschenke” nur zu jenem unanständig-eigennützigen Verhalten motiviert, das die Ökonomen als moral hazard bezeichnen. Ein Hauptproblem besteht in der verbreiteten Unterstellung einer solchen Missbrauchsgefahr, die die Akzeptanz sozial

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 77 12.12.12 10:51 78 Claus Offe

inklusiver und weitblickender Politikentscheidungen blockiert. Diese Unter- stellung entspringt nicht allein dem Interesse potentieller Geldgeber daran, Vorwände zu finden, welche die Verweigerung von Hilfeleistungen recht- fertigen können. Oft basiert sie auch auf medial vermittelten Wahrnehmun- gen darüber, wie die Empfänger sich tatsächlich verhalten bzw. zu welchen Verhaltensweisen ihre Institutionen und Traditionen sie veranlassen. Einige der südeuropäischen Euro-Staaten geraten so in einen durchaus begründe- ten Verdacht, dass ihre Steuerbehörden korrupt sind, die Vermeidung von Steuerzahlungen als Beweis von Cleverness gilt, Sonderinteressen institu- tionell privilegiert werden und in öffentlichen Verwaltungen und Gerichts- barkeit Verhaltensweisen anzutreffen sind, die deutlich von dem abweichen, was in anderen Teilen Europas als Berufsethik des öffentlichen Dienstes gilt. Wo es solche Verhaltensprobleme (die gewiss nicht einfach durch Druck und Einmischung von außen zu überwinden sind) tatsächlich gibt, bestärkt deren Beobachtung das Ressentiment im Norden Europas, weil sie die Verletzung von Solidaritätspflichten erleichtert und das Verdikt „selbst schuld“ sugge- riert. Auch wenn offenbar weder der griechische Staat noch europäische Gesetzgebung in der Lage sind zu verhindern, dass reiche Griechen, wie berichtet wird, Jahr für Jahr geschätzte 40 Mrd. Euro außer Landes schaffen und auf Bankkonten in der Schweiz usw. transferieren, taugt diese Tatsache mitsamt ihrem Medienecho schwerlich dazu, bei anderen Europäern Solida- ritätsgefühle zu fördern. Die Auflockerung solcher Denkmuster und Beurteilungsreflexe würde wohl zweierlei voraussetzen. Erstens müsste das Denken in Staat-versus- Staat-Kategorien, der „methodische Nationalismus“ vieler Europa-Debat- ten, zumindest ergänzt werden durch eine Kodierung, nach der die Europäer sich gegenseitig nicht primär durch ihre Staatsangehörigkeit, sondern als Individuen und Angehörige sozialer Klassen zur Kenntnis nehmen. Zwei- tens müsste das europäische Recht die Mitgliedstaaten in die Lage verset- zen, innerstaatliche Umverteilungsmaßnahmen zwischen sozialen Klassen durchzusetzen, ohne dafür durch Nachteile im fiskalischen und sozialpoli- tischen „Regime-Wettbewerb“, in dem die EU-Mitglieder stehen, bestraft zu werden: Eine europaweite Harmonisierung der Einkommens- und Unter- nehmenssteuern wäre ein vielleicht aussichtsreicher Schritt zur Bekämp- fung der Steuerflucht; ebenso Zwangsanleihen für Vermögende, ein System progressiver indirekter Steuern, ein Mindestsatz für direkte Steuern, eine Untergrenze für den Anteil der Sozialausgaben am Staatshaushalt und ein gesetzlich festgelegter Maximalwert des zulässigen Gini-Koeffizienten, mit dem das Ausmaß der Einkommensungleichheit gemessen wird. Auch muss es Banken von Mitgliedstaaten nicht uneingeschränkt erlaubt bleiben, Ein- lagen zu akzeptieren, die nach Herkunft und Volumen leicht als Fluchtgeld zu identifizieren sind. Nur auf dem Wege der europäischen Gesetzgebung können, so scheint es, den Mitgliedstaaten die Mittel in die Hand gegeben werden, durch deren Gebrauch sie zumindest einen Teil ihrer Finanzie- rungsprobleme „vor Ort” lösen können, statt sich allein auf die Solidarität anderer Mitgliedstaaten verlassen zu müssen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 78 12.12.12 10:51 Europa in der Falle 79

Keine dieser Reformideen (im heute antiquierten Sinn), die hier der Aufmerk- samkeit europäischer Gesetzgeber empfohlen seien, ließe sich allerdings auf dem mittlerweile vertrauten Wege technokratischer Entscheidungsproduk- tion verwirklichen. Zwar würde ihre Realisierung wohl die demokratische Legitimität der EU stärken, ihre Umsetzung hängt aber gerade vom Vorhan- densein solcher Legitimität ab, letztlich vom Konsens einer europäischen Bürgerschaft, die ihren Willen durch Wahlen und Referenden zum Ausdruck bringt. Gerade dieser europaweite Konsens über den Eigenwert der supra- nationalen politischen Gemeinschaft und ihrer demokratischen Ordnung ist aber durch die gegenwärtige Krise schwer beschädigt worden – und ebenso durch das Versäumnis oder die Unfähigkeit der Eliten, ihre zerstörerischen Auswirkungen einzudämmen. Um der europäischen Integration Festigkeit, Dauer, und Kalkulierbarkeit zu verschaffen, bedarf es der demokratischen Legitimation. Das Argument ist funktional: Wer effektiv regieren will, muss sich zunächst um die demokratische Legitimierung dieses Regierens bemü- hen; nur dann erlangen politische Strategien und Institutionen die Geltungs- kraft und Autorität, für welche die (unterstellte, wenn auch blamierte) Exper- tise von Technokraten keinen Ersatz bieten kann.

Demokratie statt TINA-Logik

Legitimitätsstiftende demokratische Verfahren sind die einzige Abhilfe gegen Thatchers (und Merkels) marktradikal-technokratische „TINA“- Logik („there is no alternative“). Wer sich auf diese Logik beruft, gesteht ein, dass die bisherige Politik vor ihrer elementaren Aufgabe versagt hat: der Auf- gabe, Wahlmöglichkeiten offen zu halten. Durch dieses Versagen hat sie uns in die Falle manövriert, nämlich in eine „alternativlose“ Situation, aus der es nur einen einzigen Ausweg zu geben scheint: den der technokratischen Not- standsmaßnahmen. Politiker sagen oft zu Unrecht, es gebe keine Alternative(n), weil sie sich von ihrer eingeschliffenen Sichtweise auf politische und ökonomische Reali- täten leiten lassen. Man denke an den vertrauten Fall eines klaffenden Lochs im Staatshaushalt. Die technokratische Reaktion besteht hier im Ruf nach Einsparungen. Man kann das Loch aber auch statt durch Ausgabenkürzun- gen durch Steigerung der Einnahmen stopfen. Das allerdings würde Investo- ren abschrecken, deren Abwanderungsneigung beispielsweise durch Har- monisierung der direkten Steuern auf EU-Ebene zu begegnen wäre. Würde man das versuchen, hätte man allerdings mit Widerspruch aus den Mitglied- staaten (Irland, Bulgarien usw.) zu rechnen, die ihre Chancen im Standort- wettbewerb um Investitionen durch niedrige Unternehmenssteuersätze ver- bessern möchten. Die Berufung auf „Alternativlosigkeit“ dient oft nur dazu, die Kapitulation vor wahrgenommenen Kräfteverhältnissen zu bemänteln, vor den Mächten des Status quo. Europa besteht aus Nationalstaaten, Bürgern und sozialen Klassen; es gibt eine Fülle alternativer Möglichkeiten dafür, wie wir diese unterschiedlichen

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 79 12.12.12 10:51 80 Claus Offe

Kräfte und Akteure im demokratischen Prozess zu Wort kommen lassen wollen. Unerlässlich ist die Input-Legitimation durch demokratische Ver- fahren, gerade angesichts der immer schwächer werdenden Output-Legiti- mation, die europäische Elitezirkel noch erzeugen können; die vertrauens- selige Sicht, diese würden aufgrund ihres Durchblicks schon das Richtige tun, ist bei den europäischen Bürgern gründlich dahin. Wachsende Anteile der Wählerschaft empören sich über „Brüssel“ oder „Berlin“ oder ganz pauschal „Europa“ – eine Goldgrube für populistische politische Unternehmer. Man muss Europa so umbauen, dass die Brücke zwischen dem Willen der Bürger und den Entscheidungen der Eliten nicht wieder einbricht. Dafür ist der zen- trale Ort natürlich das Europäische Parlament, konstituiert im politischen Wettbewerb europäischer Parteien; und die Kommission muss in eine Art parlamentsverantwortlicher Regierung umgewandelt werden.

Die Kluft zwischen „politics“ und „policy“

Ein letzter Widerspruch betrifft die Europäische Zentralbank, den Europäi- schen Gerichtshof und die Europäische Kommission. Diese sind genau die Ins- titutionen, die den Alltag der Menschen am stärksten beeinflussen und dabei der schwächsten demokratischen Kontrolle unterliegen. Sie sind völlig ent- politisiert, stehen über dem Parteienwettbewerb und entscheiden in majes- tätischer Unabhängigkeit – gleichviel, ob Bürger, Parteien und Parlamente einverstanden sind oder nicht. Das ist die Kluft zwischen politics und policy, politischem Macht- und Meinungskampf einerseits und strategischen Prob- lemlösungsversuchen andererseits. Wenn die Brücke der Input-Legitimation einmal eingebrochen ist, gedeiht auf dem einen Ufer der Populismus (verstan- den als Machtkampf ohne Problemlösung) und auf dem anderen die Tech- nokratie (verstanden als – versuchte – Problemlösung ohne demokratischen Kampf um Unterstützung). Beide Sphären der Politik treten auseinander. Sollte sich die Eurozone – in „geordneter” Weise oder chaotisch – tatsäch- lich auflösen, treten wir in ein gigantisches Negativsummenspiel ein: alle Seiten verlieren. Soviel dürfte selbst von denen begriffen worden sein, die öffentlich anderes im Munde führen. Die Bankenkrise hat sich zu einer Krise der Staatsfinanzen ausgewachsen, und diese zu einer Krise der europäischen Institutionen. Es fällt immer schwerer sich vorzustellen, wie die politischen Eliten Europas auf dieser schiefen Ebene einen Halt finden könnten, bevor der Bankrott der kapitalistischen Demokratie insgesamt manifest wird. Ich denke, es wird letztlich auf den Protest und den Widerstand derjenigen ankommen, die von der Krise am härtesten betroffen sind. Vielleicht kann dieser Widerstand die Eliten zwingen, einen aussichtsreicheren Kurs zu steu- ern als den des immer hektischeren Kaufens von immer weniger Zeit auf Pump. Doch nach der aktuellen Lage der Dinge kann niemand ein sicheres Wissen darüber reklamieren, wie dieser Kurs aussieht oder wer ihn einschla- gen und halten könnte.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 80 12.12.12 10:51 Die Armut der Politik Das Menschenrecht auf Nahrung – und der Irrweg der Tafelbewegung

Von Franz Segbers

ir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung för- W dern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müs- sen“. Mit diesen markigen Worten brachte der damalige Bundeskanzler Ger- hard Schröder vor nun bald zehn Jahren, nämlich am 14. März 2003, seine Agenda-2010- und Hartz-IV-Politik im Bundestag auf den Punkt. Seither wurde die deutsche Exportrate in erstaunlichem Maße gesteigert – immer zu Lasten auch der europäischen Konkurrenten; gleichzeitig wurden Löhne und Gehälter dramatisch gesenkt – mit erheblichen Folgen für den „gesellschaft- lichen Zusammenhalt“, wie es die jüngste Vorlage des Armuts- und Reich- tumsberichts aus dem Hause von der Leyen treffend zum Ausdruck brachte (allerdings nur vor ihrer „Glättung“ durch das Bundeswirtschaftsministe- rium Philipp Röslers). Die Bundesrepublik verfügt zwar über einen ausgebauten Sozialstaat und eine lange Tradition der sozialen Sicherung, die für nicht wenige Staaten vor- bildlich ist. Dennoch hat die Armut in diesem reichen Land in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Bereits 2011 warf der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kul- turelle Rechte Deutschland gewichtige Verfehlungen und Versäumnisse bei der Umsetzung des Sozialpakts zu den wirtschaftlichen, sozialen und kultu- rellen Rechten (IPwskR) vor. Er kritisierte die menschenrechtliche Lage in Deutschland speziell an drei Stellen. Erstens bezüglich der sozialen Sicherungssysteme: Demnach leben nicht nur 13 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, sondern 1,3 Millio- nen Menschen sind arm, obwohl sie einer Arbeit nachgehen. Dieses enorme Maß an Armut könne ein Hinweis darauf sein, dass das Niveau der Leis- tungen insgesamt unzureichend sei – trotz des umfangreichen Systems der sozialen Sicherheit. Da Sozialleistungen offenbar nicht vor Armut schützen, werde das international kodifizierte Menschenrecht auf einen angemesse- nen Lebensstandard (Art. 11 IPwskR) nicht gewährt. Zweitens wird mit Bezug auf das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 4 Men- schenrechtskonvention, MRK; Art. 2 des Abkommens über Zwangsarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO) die Praxis scharf kritisiert, Sozial- hilfeempfänger zu einer Arbeit um jeden Preis zu nötigen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 81 12.12.12 10:51 82 Franz Segbers

Und drittens stufte der UN-Sozialausschuss speziell die Situation der Asyl- suchenden als sehr besorgniserregend ein. Sie beziehen einen abgesenkten Sozialhilfesatz, haben weder uneingeschränkten Zugang zu angemessenen Sozialleistungen noch zum Arbeitsmarkt oder zu medizinischer Versorgung. Dies wird als Menschenrechtsverletzung nach Art. 2 IPwskR kritisiert. Der UN-Ausschuss hat die Bundesregierung daher dringend aufgefordert, end- lich sicherzustellen, dass Asylsuchende angemessene Leistungen zur Siche- rung eines menschenwürdigen Existenzminimums erhalten. Diese kommt dem allerdings auch nach einem entsprechenden Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts vom Juli 2012 nur zögerlich nach.1 Insgesamt wird das Niveau der Leistungen in Deutschland als unzurei- chend kritisiert: Unter Menschenrechtsgesichtspunkten kommt die Bundes- regierung ihrer Verpflichtung nicht nach, das Menschenrecht auf eine ange- messenen Lebensstandard (Art. 11 IPwskR) sowie das Menschenrecht auf Soziale Sicherheit (Art 9 IPwskR) zu gewährleisten. Neben dem UN-Sozialausschuss hat auch das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung kritisiert: In seinem „Hartz-Urteil“ vom 9. Februar 2010 stellte es erstmals fest, dass der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungs- auftrags verpflichtet sei, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraus- setzungen für ein menschenwürdiges Leben auch denen zur Verfügung ste- hen, die über keine Einkünfte verfügen.2 Dieses Grundrecht jedes Einzelnen sei dem Grunde nach „unverfügbar“ und müsse „eingelöst werden“.3 Offenbar kann davon heute bei zunehmenden Teilen der Bevölkerung nicht mehr die Rede sein. Zu fragen ist deshalb: Welche Pflichten ergeben sich aus der Tatsache, dass es eine erhebliche Unterversorgung mitten in einer reichen Gesellschaft gibt – und für wen? Denn wer verletzt diese Pflich- ten? Sind hier die Individuen selbst gefordert oder der Staat? Stellt die herr- schende Unterversorgung also primär ein individuelles Hilfsproblem dar – oder ein gesamtgesellschaftliches, das daher auch nur mit staatlichen Kräf- ten zu lösen ist?

Der UN-Sozialpakt und das Recht auf ausreichende Nahrung

Historisch betrachtet sind Sozialpolitik und die Anerkennung sozialer Rechte eine hart erkämpfte Antwort auf die dramatischen Folgen kapitalistischen Wirtschaftens. Das „Recht auf soziale Sicherheit“ wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Menschenrecht in die allgemeine Erklärung der Menschen- rechte von 1948 aufgenommen. Die UNO formuliert in Art. 25 „das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl

1 Vgl. BvL 10/10 und 2/11. 2 Das BVerfG hatte dem Gesetzgeber vorgeworfen, „Schätzungen ins Blaue hinein“ vorgenommen zu haben, die zu fehlerhaften Hartz-IV-Regelsätzen geführt hätten, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09. 3 Vgl. Franz Segbers, Armut und die Menschenrechte. Von einer verantwortungsbewussten Brü- derlichkeitsethik zum sozialen Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum, in: Peter Dabrock und Siegfried Keil (Hg.), Kreativität verantworten, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 279-298.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 82 12.12.12 10:51 Die Armut der Politik 83

gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Ver- sorgung und notwendige soziale Leistungen.“ 2001 wurde das Menschen- recht auf soziale Sicherheit von der ILO als „grundlegendes Menschenrecht und notwendige Voraussetzung für sozialen Zusammenhalt“ bezeichnet.4 Von besonderer Bedeutung ist dabei der Sozialpakt zu den wirtschaftli- chen, sozialen und kulturellen Rechten. Er wurde 1966 in der UNO verab- schiedet und 1973 in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert, womit ihm der Rang eines formellen Bundesgesetzes zukommt. Inhalt des Sozialpaktes sind unter anderem die Rechte auf Arbeit, Wohnung, Bildung, Nahrung und soziale Sicherheit. Seine herausragende Bedeutung besteht darin, dass er die Allgemeinen Menschenrechte konkretisiert und durch verbindliche All- gemeine Anmerkungen (General Comments) erläutert und auslegt, die und deren Einhaltung regelmäßig von einem Sozialausschuss überprüft wird. So wird das „Recht auf einen angemessenen Lebensstandard“ in den „All- gemeinen Anmerkungen“ als ein Niveau definiert, das auf die Herstellung eines Normalfalls abzielt: Ein „angemessener Lebensstandard“ wäre dem- nach ein am Normalfall orientierter, den gegebenen Umständen Rechnung tragender Lebensstandard. So umfasst das Recht auf soziale Sicherheit das Recht, ohne Diskriminierung Unterstützungen in Anspruch zu nehmen, bei- spielsweise bei zu geringem Arbeitseinkommen.5 Das Menschenrecht auf angemessene Nahrung (right to adequate food) ist ein besonderer Teil des „Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard“. Es „ist dann verwirklicht, wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, ein- zeln oder gemeinsam mit anderen, jederzeit physisch und wirtschaftlich Zugang zu angemessener Ernährung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung hat. Das Recht auf angemessene Ernährung darf daher nicht eng oder restriktiv im Sinne einer Mindestration an Kalorien, Proteinen und anderen spezifi- schen Nährstoffen ausgelegt werden.”6

Das Menschenrecht auf Nahrung und die daraus resultierenden Pflichten

Der UN-Sozialausschuss überwacht die Umsetzung dieser Rechte und for- dert schriftliche Berichte von den Vertragsstaaten ein. Das verhindert jedoch nicht, dass der Pakt weithin ignoriert wird und bis heute ziemlich unbekannt geblieben ist. Ja mehr noch: Wer heute auf das Menschenrecht auf Nahrung (Art. 25 AEMR) zu sprechen kommt, muss zunächst feststellen, dass sich Medien, Politik und sogar die sozialwissenschaftliche Armutsforschung wei- terhin scheuen, die Überwindung von Armut mit einer menschenrechtlichen Verpflichtung von Staaten in Verbindung zu bringen.

4 Zit. in: General Comment Nr. 19. The right to social security, article. 9. International Labour Confe- rence, 89th session, Report of the Committee on Social Security, resolutions and conclusions concer- ning social security, 2001: „basic human right and a fundamental means for creating social cohesion”. 5 United Nations, Committee on Economics, Social and Cultural Rights, General Comment No. 19. The Right to Social Security, article 9, 2007. 6 United Nations, Committee on Economics, Social and Cultural Rights, General Comment No. 12. The Right to Social Security, article 11, 1999, S. 6 [Übers. d. Verf.].

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 83 12.12.12 10:51 84 Franz Segbers

Während ein „Recht auf soziale Sicherheit“ heute (immerhin) als Menschen- recht zunehmend anerkannt ist, werden die damit korrespondierenden Pflichten oftmals nicht ausreichend wahrgenommen. Speziell Armut wird häufig lediglich als selbstverursacht angesehen, weshalb daraus, im Wider- spruch zu der Anerkennung des Rechts an sich, keine Verpflichtungen resul- tieren sollen. Dabei hatte der UN-Sozialausschuss in seinen „Abschließenden Bemer- kungen“ zu Deutschland im Jahr 2011 zwar durchaus menschenrechtliche Fortschritte, aber auch in 26 von insgesamt 39 Absätzen dezidiert Verfeh- lungen und gravierende Schwachstellen in so grundlegenden Bereichen wie Bildung, Arbeit, Nahrung, Gesundheit und soziale Sicherheit festgestellt.7 Der Ausschuss ging dabei unter anderem folgenden Fragen nach: Warum gibt es so viele Kinder ohne Schulessen? Wie reagiert die Regierung darauf, dass immer mehr Menschen schon nicht einmal mehr von ihrem Vollzeitjob leben können? Und wer bestimmt, welche Arbeit für Empfänger von Hartz IV „zumutbar“ ist? Doch kaum hatte er die menschenrechtlichen Defizite in der Sozialpolitik öffentlich benannt, wies die Politik diese Kritik brüsk zurück. Dem vorläufigen UN-Bericht lägen keine wissenschaftlich erhärteten Krite- rien als Bewertungsmaßstäbe zugrunde und er enthalte keine auf wissen- schaftlichen Fakten basierenden Datengrundlagen. Besonders bezeich- nend jedoch ist das Resümee der Bundesregierung, das sie aus der Kritik des UN-Sozialausschusses zog: „Dennoch kann der Staat nicht alles richten. Alle Bürgerinnen und Bürger sind ebenso gefordert, selbst Verantwortung zu übernehmen: Eltern für ihre Kinder, Schülerinnen und Schüler für ihre Leistungen, Arbeitslose für ihre Bemühungen, eine Stelle zu finden, und alle, einander mit Toleranz und Respekt zu begegnen.“8 Die Bundesregierung grenzt sich also nicht nur von der Kritik an menschenrechtlichen Defiziten ab; sie macht auch deutlich, dass die Bekämpfung von Armut nicht primär in der Verantwortung des Staates liege, sondern letztlich in der Verantwortung jedes Einzelnen. Dies geht mit sehr unterschiedlichen Definitionen von Armut einher, wor- aus wiederum sehr unterschiedliche Lösungen des Problems resultieren. Wer Armut als Folge von speziellen wirtschaftlichen Entwicklungen ansieht, für den besteht die Lösung oft in bloßem Wirtschaftswachstum. Wenn Armut hingegen als Ergebnis von „Armutsfallen“ gedeutet wird, in die arme Men- schen durch soziale Sicherungssysteme geraten, dann wird der Ausweg aus Armut darin gesehen, die Armen zu „fordern“ und zu „fördern“ – wie etwa in der Tradition der Hartz-IV-Gesetzgebung. Speziell hier wird Armut letztlich als selbstverursacht angesehen, wenn nämlich keine Lösung des Problems durch eigene Leistung erfolgt. Wer aber Armut unter einer Menschenrechtsperspektive betrachtet, für den sind arme Menschen nicht lediglich Bedürftige, sondern sie sind vor

7 Nach Anhörung von Vertretern mehrerer Bundesministerien durch 18 Sachverständige der UNO: UN Wirtschafts- und Sozialrat, Befassung mit Staatenberichten nach den Artikel 16 und 17 des Pakts. Abschließende Bemerkungen des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, E/C 12/DEU/CO/5. 8 Soziale Lage in Deutschland bietet ein gutes Bild, in: „Frankfurter Rundschau“ (FR), 8.7.2011.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 84 12.12.12 10:51 Die Armut der Politik 85

allem Bürgerinnen und Bürger, denen soziale und wirtschaftliche Men- schenrechte vorenthalten werden.9 Menschenrechte stehen für die Verpflichtung des Staates, die Überwin- dung von Armut aus dem Denken in Kategorien der Barmherzigkeit oder des „guten Willens“ privaten Engagements herauszuführen und sie als Rechts- anspruch der Betroffenen zu formulieren. Barmherziges Handeln appelliert an die Humanität, Gerechtigkeit aber betrifft die Achtung der Menschen- rechte. Die Menschenrechte formulieren nicht nur Ansprüche an das öko- nomische, politische und soziale System, sondern sie bilden auch einen Maß- stab zur Bewertung staatlicher Institutionen, nämlich inwiefern diese in der Lage sind, einen Beitrag zur Erfüllung der Menschenrechte zu leisten. Bei der Aufgabe, das Menschenrecht auf Nahrung und soziale Sicherheit zu verwirklichen, geht es daher nicht um bloß individuelle, sondern um gesell- schaftliche Hilfeleistungen. Wenn aber der Kern des Menschenrechts darin besteht, den Staat als ers- ten Adressaten bei der Umsetzung der Menschenrechte zu identifizieren, dann stellt sich die Frage, wie der Staat konkret gefordert ist. Der Sozialpakt unterschiedet hier drei Pflichtenebenen: eine Achtungs- pflicht, eine Schutzpflicht und eine Erfüllungspflicht.10 Jede dieser drei Pflichtenebenen hat einen jeweils anderen Inhalt. Der Staat ist auf jeder der drei Ebenen gefordert. Er achtet das Recht auf soziale Sicherheit, wenn er allen Mitgliedern einer Gesellschaft den gleichen Zugang zu sozialen Rech- ten gibt; er schützt es, indem er Dritte daran hindert, jemandem das Recht auf soziale Sicherheit zu nehmen; und er erfüllt es, indem er selbst Maßnahmen ergreift, um das Recht auf soziale Sicherheit ganz zu realisieren. Hinsichtlich des Rechts auf angemessene Nahrung werden diese drei Pflichtenebenen in den „Allgemeinen Bemerkungen“ zum Sozialpakt aus dem Jahr 1999 noch weiter ausdifferenziert: Der Staat habe nicht allein den Zugang zu ausreichend angemessener Nahrung zu achten und zu schützen, vielmehr muss er „aktiv hinwirken [...], den Menschen den Zugang zu und die Nutzung von Ressourcen und Mitteln zur Sicherung ihres Lebensunter- halts, namentlich die Ernährungssicherheit, zu erleichtern (Ziff. 15).“ Die Erfüllungspflicht besteht jedoch keineswegs allein darin, in Notfällen die erforderlichen Nahrungsmittel bereitzustellen; der Staat ist vielmehr ver- pflichtet den „Zugang zu einer Mindestmenge an Grundnahrungsmitteln […] zu gewährleisten“ (Ziff. 14). In Art. 28 der Menschenrechtserklärung wird politisch wie ethisch fol- genreich ausgeführt, dass „jeder […] Anspruch auf eine soziale und inter- nationale Ordnung [hat], in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“. Dieser Artikel verweist

9 Franz Segbers, Hartz IV und die Menschenrechte, in: „Blätter“, 2/2009, S. 102-109; ders., Pflaster auf einer Wunde, die zu groß ist. Tafeln, Sozialkaufhäuser und andere Dienste zwischen Armuts- linderung und Armutsüberwindung, in: Johannes Eurich (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011, S. 475-493. 10 UN-Committee on Economic, Social and Cultural Rights: General Comment No. 12: The right to adequate food (article 11 of the Covenant), 20th session 1999, UN-doc. E/2000/22, S. 102-110.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 85 12.12.12 10:51 86 Franz Segbers

darauf, dass der Staat Garant der Menschenrechte ist – durch eine entspre- chende politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung.11 Die gesellschaft- lichen und politischen Institutionen müssen dabei ihren dreifach geglieder- ten Pflichten nachkommen, während die „Hilfepflichten“ der individuellen Akteure genau darin bestehen, zivilgesellschaftlich die Staaten zu drängen, dass menschenrechtsadäquate Institutionen entstehen und funktionieren. Unterversorgung mit Lebensmitteln stellt deshalb unter Menschenrechts- gesichtspunkten keinesfalls ein bloß individuelles Hilfs- oder Wohltätig- keitsproblem dar, sondern sie ist Indiz für eine ungerechte Ordnung, die überwunden werden muss.

Rechte, nicht Mitleid – und die Rolle der Tafelbewegung

Aufgabe des Staates ist es, die Staatsbürger vor den Folgen einer ungerech- ten Ordnung zu schützen, die systemisch Mangel mitten im Überfluss produ- ziert. Die Bundesrepublik wäre strukturell und ökonomisch zweifellos in der Lage, Armut und Unterversorgung weitestgehend abzubauen. Da der Staat dies jedoch nicht tut, übernehmen immer mehr andere Organe und Institu- tionen die Verantwortung. In diesem Lichte ist auch das Engagement der Tafelbewegung zu betrach- ten. Mit ihren inzwischen über 50 000 Helferinnen und Helfern in den Aus- gabestellen, die 1,5 Millionen bedürftige Menschen in ganz Deutschland mit übrig gebliebenen Lebensmitteln aus den Supermärkten, Bäckereien und Lebensmittelgeschäften versorgen, versteht sie sich geradezu als eine soziale Massenbewegung, die sich durch die wachsende Not und die massive Unter- versorgung von Hilfeempfängern zum Handeln gedrängt sieht. Speziell die Einführung von Hartz IV ließ die Anzahl der Tafeln auf gegenwärtig fast 900 geradezu explosionsartig ansteigen. Zu Recht erfährt das Tafelengagement öffentliche Wertschätzung, reagiert es doch mit großem bürgerschaftlichem Einsatz auf eine staatlich hervorge- rufene Unterversorgung. Das Engagement ist dennoch keineswegs so unpro- blematisch, wie es auf den ersten Blick erscheint.12 Denn wie die Landes- regierung Rheinland-Pfalz in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht zu Recht kommentiert: „Das Entstehen von Tafeln berührt das sozialstaatliche Selbst- verständnis.“13 Aber nicht die „Tafeln“ selbst sind problematisch, sondern die politische, soziale und ökonomische staatliche Ordnung, deren Ausdruck sie sind. Die Unterversorgung geht nicht auf einen Mangel zurück, sondern sie ist ein Strukturproblem und damit ein Indiz für eine ungerechte, die Men- schenrechte verletzende Wirtschafts- und Sozialordnung. Was die Republik

11 Bernhard Emunds, Wirtschaftsethische Bemerkungen zu den Pflichten, die dem Menschenrecht auf Nahrung entsprechen, Bernhard Emunds. Beitrag für die Dokumentation der Jahrestagung 2011 des Deutschen Ethikrats 2011. 12 Vgl. Stefan Selke (Hg.), Kritik der Tafeln in Deutschland. Standortbestimmungen zu einem ambiva- lenten Phänomen, Wiesbaden 2010, 179-198; ders., Die neue Armenspeisung: Der Boom der Tafel- Bewegung, in: „Blätter“, 1/2009, S. 95-100. 13 Landesregierung Rheinland-Pfalz, Armut und Reichtum in Rheinland-Pfalz. Armuts- und Reich- tumsbericht der Landesregierung 2009/2010, Mainz 2010, S. 347.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 86 12.12.12 10:51 Die Armut der Politik 87

den Armen daher schuldet, ist nicht vorrangig individuelle Hilfe, sondern staatlicher Schutz vor den Folgen einer ungerechten Wirtschafts- und Sozial- ordnung, die Mangel mitten im Überfluss produziert. Natürlich ist es eine unbestrittene Menschenpflicht zu helfen, wo Not herrscht. Not gibt es in Deutschland jedoch nicht, weil es wirklichen Man- gel gäbe. Die Tafeln sind vielmehr Ausdruck des systemisch anfallenden Lebensmittelüberflusses, den sie wohltätig verteilen.14 Die Überflussge- sellschaft ist eine Existenzgrundlage der Tafeln, oder anders gesagt: Ohne Überschüsse keine Tafeln. Wenn die Tafeln dafür plädieren, den Nahrungsmittelüberfluss zu ver- teilen, statt ihn zu vernichten, dann gehen sie gegen den Überfluss vor, der zugleich ihre Existenzgrundlage ausmacht. Dabei deuten sie den systema- tisch erzeugten Überfluss in ein bloßes „Recycling-Problem“ um, an dem die Unterversorgten ihren Anteil haben können.15 Die herrschende Wegwerfge- sellschaft und die Ausgrenzung von unterversorgten Menschen sind jedoch nicht voneinander zu trennen. Die Tafeln problematisieren dieses systema- tisch erzeugte Überschussproblem in keiner Weise, sondern verstärken es. Wenn der Staat nämlich in großem Maße Tafeln zulässt oder gar fördert, ent- zieht er sich seiner Verantwortungspflicht, das Menschenrecht auf Nahrung zu erfüllen. Eine „Hilfspflicht der Zivilgesellschaft“ ist daher nicht vorran- gig darin auszumachen, die vielen Tonnen überflüssiger Lebensmittel an jene zu verteilen, die infolge einer staatlich zu verantwortenden Sozialord- nung unterversorgt sind, sondern vielmehr darin, eine staatliche und gesell- schaftliche Ordnung erst zu schaffen, welche das Menschenrecht auf soziale Sicherheit und ausreichende Nahrung achtet, schützt und erfüllt.

Was zu tun ist

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb kirchliche Hilfs- werke wie MISEREOR oder „Brot für die Welt“ – aber auch FIAN, eine NGO für das Menschenrecht auf Nahrung –, in den armen Ländern des Südens regelmäßige Lebensmittelvergabe strikt und ausdrücklich ablehnen (außer in akuten Notfällen und Katastrophen). Auf dem Höhepunkt der Hungerkatastrophe in Ostafrika im Jahr 2011 brachten europäische und afrikanische Schriftsteller mit Hilfsorganisatio- nen wie MEDICO dieses Menschenrecht in Erinnerung, indem sie in einem gemeinsamen Aufruf den Rechtscharakter der Hilfe in der Not unterstrichen: „Die Hungernden haben ein Recht auf Anerkennung als Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. Sie haben wie alle anderen Menschen Rechte, zu denen auch das Recht auf Nahrung nach Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gehört. Hilfe in der Not und strukturelle Veränderungen

14 Vgl. dazu Stephan Lorenz, Tafeln im flexiblen Übergang. Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements, Bielefeld 2012. 15 Franz Segbers, Tafeln für Bedürftige, in: Evangelischen Obdachlosenhilfe (Hg.), Arme habt ihr allezeit. Vom Leben obdachloser Menschen in einem wohlhabenden Land, Frankfurt a. M. 2009, S. 89-91.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 87 12.12.12 10:51 88 Franz Segbers

zur Beseitigung der Ursachen von Hunger sind kein Akt des guten Willens, sondern eine völkerrechtlich bindende Pflicht.“16 Umso mehr müssen sich die kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen wie Caritas und Diakonie in Deutschland kritisch befragen lassen, warum sie selbst als Träger von „Tafeln“ diese Einsichten ihrer eigenen Partnerorganisa- tionen nicht zur Kenntnis nehmen. Die Politik weiß das sie selbst entlastende bürgerschaftliche Engagement, das sich der politisch zu verantwortenden Unterversorgung annimmt, durchaus zu schätzen. Die Menschenrechtsper- spektive ist eine andere: Sie erkennt einen Verstoß gegen das Menschen- recht auf angemessene Ernährung, der an den Staat adressiert werden muss. Genau diese politische Verantwortung wird vom bürgerschaftlichen Enga- gement mit seinem individuellen Hilfeansatz nicht erkannt. Die „Allgemeinen Bemerkungen“ von 2009 stellen dagegen klar, dass die Staaten Maßnahmen zu ergreifen haben, die den Zugang zu Nahrungsmit- teln „in einer nachhaltigen Weise und ohne Beeinträchtigung des Genusses anderer Menschenrechte“ sicherstellen. Unter Menschenrechtsgesichts- punkten kommt die Bundesregierung heute in vielen Fällen ihrer Verpflich- tung nicht nach, das Menschenrecht auf eine angemessene Ernährung (Art. 11 IPwskR) zu erfüllen. Die Tafeln mögen wohl das einzelne, individuell miserable Leben erträg- licher machen, doch sie machen es zugleich auch perspektiv- und rechtloser. Sie erzeugen und stabilisieren dadurch gerade jene gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, welche durch Menschenrechte und Grundrechte überwunden werden sollten. Untersuchungen belegen, dass letztlich auch die Nutzerinnen und Nutzer von Tafeln sich entwürdigend und stigmatisie- rend behandelt sehen: Statt autonome Subjekte mit einem Rechtsanspruch auf angemessene Soziale Sicherheit und Ernährung zu sein, werden sie zu Hilfeempfängern gemacht, die auf Barmherzigkeit angewiesen sind.17

Postdemokratisierung des Sozialstaates versus menschenrechtsbasierte Gesellschaftspolitik

Auch wenn der UN-Sozialausschuss die Tafeln nicht eigens thematisiert, so sind diese doch auch von seiner Kritik betroffen. Die Tafeln erbringen indi- viduelle Hilfeleistung dort, wo der Staat gefordert wäre. Die staatlich zu ver- antwortende Unterversorgung wird durch privates Engagement unsichtbar gemacht. Die Folge ist, dass Tafelnutzer ihres sozialen Rechts auf ausrei- chende Nahrung verlustig gehen und als Empfänger von Gaben auftreten, als Objekte also, die auf die barmherzige Hilfe der Wohlhabenden angewie- sen sind. Deshalb stellen die Tafeln keinen Beitrag zur Überwindung einer menschenrechtlich hoch problematischen Lage dar, sondern sind vielmehr ein Symptom ihrer Verfestigung.

16 Medico International, Rechte statt Mitleid für Ostafrika, Pressemitteilung, 24.8.2011. 17 Caritas in Nordrhein-Westfalen (Hg.), Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern? Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit, Freiburg 2011.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 88 12.12.12 10:51 Die Armut der Politik 89

Tafeln sind letztlich Ausdruck eines postdemokratisch verfassten Sozialstaa- tes, in dem die sozialstaatliche Errungenschaft einer rechtebasierten Armuts- bekämpfung durch den Staat immer mehr ausgehöhlt und in eine Form der Fürsorge (rück)überführt wird. Auf diese Weise überlässt der postdemokra- tische Sozialstaat seine bisherige sozialstaatliche Erfüllungsverantwortung der privaten Wohltätigkeit. Doch deren private Initiativen unterschreiten das bereits erreichte sozialstaatliche Niveau, denn sie stellen keinerlei Ansatz zu einer Garantie universeller sozialer Rechte dar. Dadurch leisten die Tafeln dem Rückfall in vor-sozialstaatliche und vor-menschenrechtliche Verhält- nisse Vorschub. Indem sie aus zwar bedürftigen, aber mit Rechten ausgestatteten Bürgern bloße Empfänger von überflüssigen Nahrungsmittelspenden machen, ver- stärken sie eine passive oder gar fatalistische Haltung. Sie stellen Menschen vorschnell ruhig, anstatt sie in ihrer Empörung zu bestärken, dass sie als Arme immer auch Bürger und Bürgerinnen sind, denen Menschen-, Beteili- gungs- und Freiheitsrechte vorenthalten werden. Tafeln unterdrücken inso- fern in letzter Konsequenz den Kampf um eine gerechte Rechtsordnung und die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger.

Armut in Deutschland: Eine Menschenrechtskrise

Auch wenn die bisherige sozialpolitische Diskussion über Hartz IV und die existierenden Regelsätze bislang kaum im Zusammenhang mit Men- schenrechtsverpflichtungen gebracht wird, müsste ein echter Menschen- rechtsdiskurs deutlich machen, dass Armut in Deutschland als Verletzung von Menschenrechten anzusehen ist und deshalb eine „Menschenrechts- krise“18 darstellt. Wenn das Menschenrecht auf Nahrung auch einen Anspruch auf soziale Gerechtigkeit formuliert, sind dagegen wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen gefordert, die eindeutig auf die Beseiti- gung von Armut und Unterversorgung ausgerichtet sind (vgl. Art. 4 IPwskR). In dieser Perspektive wird die Unterversorgung in einer Überflussgesell- schaft zu einem menschenrechtlichen Skandal und zu einem Indiz fehlender sozialer Gerechtigkeit. Darauf gilt es immer wieder hinzuweisen. Fest steht: Die Bundesrepublik ist reich genug zur Realisierung der wirt- schaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Sie hat den Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert und in den Rang eines Bundesgesetzes gehoben. Die Bundesrepublik muss die von ihr ein- gegangenen Verpflichtungen daher auch erfüllen. Bestenfalls könnte sie zu einem Testfall dafür werden, ob es wenigstens in einem sehr reichen Land gelingt, einen Kernbestandteil der Allgemeinen Menschenrechte tatsäch- lich auch durchzusetzen.

18 Irene Khan, Die unerhörte Wahrheit. Armut und die Menschenrechte, Frankfurt a. M. 2001, S. 33.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 89 12.12.12 10:51 Vom Wasser bis zur Müllabfuhr: Die Renaissance der Kommune Von Siegfried Broß und Tim Engartner

s ist paradox: Während in Griechenland radikale Privatisierungsmaß- Enahmen zur Anwendung kommen – von der Abfallentsorgung bis zur Energieversorgung – leiden deutsche Städte und Gemeinden exakt unter diesen Rezepten der Entstaatlichung. Ihre Finanzlage verschlechtert sich rapide. Laut der Beraterfirma Ernst & Young kann inzwischen jede dritte Kommune ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen. Vielerorts müssen die Bürgerinnen und Bürger mit höheren Gebühren und Abgaben rechnen. Aber im Schatten der größten Wirtschaftskrise seit der Weltwirtschafts- krise 1929 bis 1932 ist Licht am Ende des Tunnels zu sehen: Galt die Priva- tisierung staatlicher Unternehmen und Dienstleistungen viele Jahre partei- übergreifend als „Patentrezept“ zur Sanierung klammer öffentlicher Kassen, bildet sich seit geraumer Zeit insbesondere auf kommunaler Ebene wieder ein Bewusstsein für die Vorzüge der staatlichen Daseinsvorsorge heraus. Nach Jahrzehnten, in denen „Vater Staat“ seine Aufgaben abschüttelte wie ein Baum seine Blätter im Herbst, ist die Mär von der Allmacht des Marktes entzaubert. Die Renaissance des Staates kommt dabei einer Rückkehr ins „Goldene Zeitalter“ gleich, denn noch bis zu Beginn der 1970er Jahre erbrachten die Kommunen nahezu sämtliche Dienste in Eigenleistung. Erst nach der von Helmut Kohl 1982 eingeleiteten „geistig-moralischen Wende“ vollzog sich eine sicht- und spürbare Abkehr von der politisch zurechenbaren Eigenher- stellung zu der lediglich noch regulatorisch beeinflussbaren Fremdherstel- lung durch private Anbieter. Um Bürokratie abzubauen, Verwaltungseinrich- tungen zu reformieren und bürokratische Ineffizienzen zu beheben, setzte man auf den „schlanken“, mitunter sogar „magersüchtigen“ Staat. Allein auf Bundesebene sank die Zahl der staatlichen Beteiligungen von 985 im Jahre 1982 auf den nunmehr historischen Tiefstand von weniger als 100. Insbesondere die Kommunen sehen sich angesichts rückläufiger Steuer- einnahmen seit einigen Jahren dazu gezwungen, ihre Investitionen massiv zu reduzieren. Immer häufiger wird daher auf sogenannte Public-Private- Partnerships (PPP) gesetzt. Was nach Partnerschaft auf Augenhöhe klingt und als Heilmittel gegen wachsende Staatsschulden gepriesen wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine besonders fatale Variante des (Aus-) Verkaufs staatlichen Eigentums. Beliebte PPP-Objekte sind Krankenhaus-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 90 12.12.12 10:51 Vom Wasser bis zur Müllabfuhr: Die Renaissance der Kommune 91

gebäude (Dortmund, Gießen, Leipzig), Justizvollzugsanstalten (Burg, Hün- feld, Offenburg), Rat- und Kreishäuser (Esslingen, Gladbeck, Heidelberg, Köln, Ludwigsburg, Unna), Finanz- und Justizzentren (Heidelberg, Kassel, Wiesbaden) sowie Badeanstalten und Bildungseinrichtungen. Dabei über- nimmt der Investor nicht nur den Bau des Projekts, sondern trägt auch die Verantwortung für die Planung, die Finanzierung und den Betrieb der Ein- richtung. Im Gegenzug zahlen Kommune oder Land Miete – meist über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren.1 Flankiert wurde diese Entwicklung von einer neuen Theorie des „Gewähr- leistungsstaates“: Deren Rechts- und Staatsverständnis sieht zunehmend von einer eigenständigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben ab und beschränkt sich stattdessen darauf, lediglich Vorkehrungen für deren Erfül- lung durch Private zu treffen.2 Dieser Rückzug des Staates stellt den Aus- gangspunkt für die Privatisierungswelle dar, die inzwischen über viele Bereiche der Daseinsvorsorge hinweggeschwappt ist. So kam es nicht nur zu weitreichenden Reformen im Bahn- und Postwesen, sondern auch zur Pri- vatisierung von Energieversorgungs- und anderen Infrastrukturunterneh- men.3 Inzwischen hat diese Entwicklung sogar Teile des Strafvollzugs, des Maßregelvollzugs und der Psychiatrien erreicht – bisweilen sogar Einrich- tungen, in denen zwangsweise staatliche Gewalt ausgeübt wird. Bei alledem ist die Kommunalebene gegenüber den Ländern und dem Bund weit überproportional betroffen,4 da sie in höherem Maße an Einrich- tungen der Daseinsvorsorge beteiligt ist.

Billiger telefonieren – auf Kosten aller Beschäftigten

Von der in Aussicht gestellten Entlastung der öffentlichen Haushalte kann indes häufig nicht die Rede sein, wenn man die entscheidende volkswirt- schaftliche Gesamtrechnung zugrunde legt. Durch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktureinrichtungen in den vergangenen zwei Jahrzehn- ten – die Privatisierungen der Treuhand außen vor gelassen – wurde schät- zungsweise rund 1,2 Mio. Arbeitsverhältnissen die Grundlage entzogen. So steht etwa die Deutsche Telekom AG mehr als ein Jahrzehnt nach ihrer Kapitalprivatisierung zwar bezüglich der in der Konzernbilanz ausgewiese- nen Größen nicht schlechter da als vor der Veräußerung an Privatinvestoren. Aber während wir als Kunden der Deutschen Telekom AG und konkurrie- render Anbieter infolge der Liberalisierung des Telekommunikationsmark-

1 Vgl. Werner Rügemer, Public Private Partnership: Die Plünderung des Staates, in: „Blätter“, 2/2012, S. 75-84 und ders., Der Ruin der Kommunen: Ausverkauft und totgespart, in: „Blätter“, 8/2012, S. 93-102. 2 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch. Zur Qualitätsgewähr- leistung durch Normen, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR), Bd. 130, 2005, S. 9. 3 Vgl. Tim Engartner, Bahn, Post und Telekom: Die marktorientierte Neuvermessung von Staats- unternehmen, in: „Hintergrund“, 2/2009, S. 62-66; vgl. ders., Börsenparkett statt Bürgernähe. Die Deutsche Bahn zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: „Universitas“, 6/2012, S. 39-55. 4 Vgl. Hartmut Bauer, Zukunftsthema „Rekommunalisierung“, in: „Die öffentliche Verwaltung“, 9/2012, S. 329-338.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 91 12.12.12 10:51 92 Siegfried Broß und Tim Engartner

tes von insgesamt gesunkenen Tarifen profitieren, zahlen wir über Steuern und Sozialversicherungsabgaben für den Stellenabbau, die Pensionslasten und die Auslagerung der Beschäftigten in Personalserviceagenturen wie Vivento. Auch ein näherer Blick auf die ebenfalls aus der Deutschen Bundespost hervorgegangene Deutsche Post AG lässt Zweifel an der allseits beschwore- nen Effizienz aufkommen. So wird der Bund bis 2076 rund 550 Mrd. Euro Wit- wen-, Waisen- und sonstige Renten für die ehemaligen Beamten des „Gelben Riesen“ zahlen. Der inzwischen weltweit größte Logistikkonzern wird also trotz milliardenschwerer Gewinne mit derzeit rund acht Mrd. Euro pro Jahr subventioniert. Und während dem „schlanken“ Staat das Wort geredet wird, beklagen wir die Schließung von Postfilialen, die Demontage von Briefkäs- ten, die Ausdünnung der Zustellungsintervalle bei Privathaushalten und die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse im Postsektor. Immer häufi- ger stellen Mini- und Midi-Jobber oder Kurz-, Zeit- und Leiharbeiter Briefe oder Pakete zu. Insofern kann es nicht verwundern, dass seit einigen Jahren die Zahl der Mini- und Midi-Jobs, die Zeit- und Leiharbeit sowie die Scheinselbststän- digkeit – gepaart mit einer ausufernden Schattenwirtschaft – massiv ange- wachsen sind. Inzwischen sind die prekären Arbeitsverhältnisse im Zuge der Gesamtentwicklung auf über sieben Millionen angewachsen, was verhee- rende Folgen für die Sozial- und Steuerkassen hat. So werden diese alsbald massiv belastet werden, nämlich dann, wenn die nun in prekären Arbeits- verhältnissen stehenden Menschen nach dem Erreichen des Renteneintritts alimentiert werden müssen. Zugleich muss der Staat nicht nur auf Steuerein- nahmen verzichten, sondern zudem aus dem schmaler gewordenen Topf die zahlreichen Regulierungsbehörden unterhalten. Bei alledem wird deutlich, dass der Aufbau großer Regulierungsbehörden anstelle der vormals tätigen „gewährenden Behörden“ mit dem viel geprie- senen „schlanken Staat“ wenig zu tun hat. Hinzu kommt ein Zweites: Bei der großflächigen Privatisierung öffentlicher Einrichtungen wurde regelmä- ßig übersehen, dass diese Infrastruktur unabdingbar ist, um dem Bürger ein menschenwürdiges Dasein gewährleisten zu können. Die Schaffung dieser Infrastruktur durch den Staat – und hier vor allem durch die Kommunen – ist nämlich eine elementare Ausprägung des im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit der Unantastbarkeit der Würde des Menschen gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1. Konkret meint dies auch, dass zentrale Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht dem freien Spiel der Marktkräfte ausgesetzt werden dürfen. Das Sozialstaatsprinzip ist ebenso wie das Rechtsstaatsprinzip ein Wert an sich, der nicht dem Kosten- Nutzen-Kalkül unterworfen werden darf. Aufgrund der ihm eigenen unan- tastbaren Würde entzieht sich der Mensch der Bemessung in Euro und Cent. Von Beginn seiner Rechtsprechung an hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der Gesetzgeber zur Verwirklichung des Sozialstaates vor allem dazu verpflichtet ist, sich um einen erträglichen Ausgleich der wider- streitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingun-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 92 12.12.12 10:51 Vom Wasser bis zur Müllabfuhr: Die Renaissance der Kommune 93

gen für alle zu bemühen.5 Auch in seiner jüngeren Rechtsprechung misst das Bundesverfassungsgericht dem Sozialstaatsprinzip große Bedeutung bei. So betont es im Lissabon-Urteil, dass innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes zumindest die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG der Veränderung ent- zogen sind – und somit auch die Sozialstaatlichkeit.6 Umso bedauerlicher ist es, dass das Bundesverfassungsgericht aus diesen Einsichten nicht die gebo- tenen Schlüsse für die Privatisierung staatlicher Einrichtungen zieht. So hat es beispielsweise in einer Entscheidung vom 18. Januar 2012 nicht die Gele- genheit ergriffen, die Problematik der Privatisierung öffentlicher Einrichtun- gen grundsätzlich und im Gesamtzusammenhang zu klären.7

Erfolgreiche Rekommunalisierungen

Und doch kündigt sich inzwischen eine Wende an, gibt es zunehmend Bei- spiele für erfolgreiche Rekommunalisierungen. Dies ist insofern wenig ver- wunderlich, als dass sich – befördert durch die Finanzmarktkrise und das Platzen der Immobilienblasen – vor allem auf kommunaler Ebene gewaltige Ernüchterung breit gemacht hat.8 Allzu häufig haben Privatisierungen zu Oligopolen, höheren Preisen und weniger Effizienz geführt, weshalb der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) binnen der letzten fünf Jahre immerhin 60 neu gegründete Stadtwerke und 176 Konzessionsübernahmen verzeichnen konnte. Viele Kommunen nehmen inzwischen ihren Entsorgungsauftrag wieder selbst wahr, weil das Abfallgeschäft aufgrund neuer Recyclingtechniken und -kreisläufe („Grüner Punkt“) profitabel sein kann – und weil sich die Erbringung durch private Anbieter regelmäßig als teurer erwiesen hat. Auch mit Blick auf die Strom- und Gasversorgung prüfen zahlreiche Städte und Gemeinden, ob sie ihre mit privaten Anbietern geschlossenen Konzessions- verträge – von denen bis 2015 bundesweit rund tausend auslaufen werden – verlängern oder ob sie zumindest einen Teil der Wertschöpfungskette wieder in kommunale Verantwortung überführen können. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Stadt Bergkamen: Die Lukrati- vität des Müllentsorgungsmarktes veranlasste den dortigen Bürgermeister und amtierenden Präsidenten des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Roland Schäfer, die Abfalltonnen der Ruhrgebietsstadt wieder von städti- schen Angestellten leeren zu lassen. Obschon anfangs rund 1,6 Mio. Euro in neue Fahrzeuge und eine zeitgemäße Logistik investiert werden muss- ten, sanken die Kosten für die Abfallsammlung seit dem Jahresbeginn 2006 um rund zwölf Prozent. Auch mit Blick auf andere Bereiche der Daseinsvor- sorge zeigte sich die Bergkamener Stadtregierung selbstbewusst: 1994 grün- deten Bergkamen und die Nachbarstädte Kamen und Bönen die interkom-

5 Vgl. BVerfGE 1, 97, Abs. 105. 6 Vgl. BVerfGE 123, Abs. 186, Abs. 343. 7 Vgl. 2 BvR 133/10. 8 Vgl. Bauer, a.a.O., S. 329.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 93 12.12.12 10:51 94 Siegfried Broß und Tim Engartner

munalen Gemeinschaftsstadtwerke (GSW), die 2011 eine Lohnsumme von 5,2 Mio. Euro erwirtschafteten und Aufträge in Höhe von 10 Mio. Euro an die heimische Wirtschaft vergaben.9 Nach zähen Verhandlungen mit dem damaligen Energieversorger VEW übernahmen die Gemeinschaftsstadt- werke 1996 das Strom-, 1999 das Gas- und schließlich 2003 das Fernwär- menetz. Inzwischen ist neben der Müllabfuhr auch die Straßenreinigung rekommunalisiert, was den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Gebühren- senkungen von rund 25 Prozent bescherte. Allein die Wasserversorgung betreibt die Stadt noch in Kooperation mit einem privaten Anbieter, nament- lich der Gelsenwasser AG. Speziell der Rekommunalisierung der Abfallentsorgung kommt inzwi- schen im ganzen Ruhrgebiet große Bedeutung zu. So entwickeln die Städte Bottrop, Essen, Gelsenkirchen, Mülheim an der Ruhr und Gladbeck derzeit eine kommunal verantwortete Entsorgungsperspektive für ihre rund eine Million Einwohner. So will der Bund der „Karnap-Städte“ – benannt nach dem von RWE betriebenen Müllheizkraftwerk im Essener Stadtteil Karnap – das Auslaufen der sogenannten Verascherungsverträge zum Jahresende 2014 nutzen, um ein Ende der langjährigen „Müll-Ehe“ herbeizuführen. Die politischen Entscheidungsträger wollen die Verträge nicht automatisch ver- längern, weshalb die RWE-Geschäftsführung zuletzt vorschlug, das Karna- per Kraftwerk künftig an die beteiligten Städte zu verpachten. Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zeigt sich, dass seit einiger Zeit eine „orange Revolution“ dämmert, die schon jetzt vielerorts zu gesunkenen Gebühren – und damit zu einer spürbaren Entlastung der betroffenen Privathaushalte – geführt hat.

Kommunale Emanzipation auch im Energiesektor

Auch andernorts kündigt sich im Energiesektor eine Wende an: Von Plauen in Sachsen bis nach Ditzingen bei Stuttgart setzt man nunmehr auch dabei auf eine Rückgewinnung der kommunalen Entscheidungs- und Deutungs- hoheit. Zu hohe Preise, wenig Flexibilität und schlechter Service – vieler- orts ist die Unzufriedenheit über die seit Jahren mit Beteiligung der Ener- gie-Multis privat geführten Stadtwerke groß. Deshalb gründen zahlreiche Kommunen eigene Versorger; letztlich aber natürlich auch, weil vor allem im Energiesektor viel Geld zu verdienen ist. So schlossen sich 2008 sieben baden-württembergische Gemeinden zum Regionalwerk Bodensee zusam- men, um dem Großkonzern EnBW die Stirn zu bieten. Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen dabei eine wichtige Rolle. So setzt sich die Initiative „Unser Hamburg – Unser Netz“ seit 2010 dafür ein, dass die Netze der Hansestadt für Strom-, Gas- und Fernwärmeversor- gung rekommunalisiert werden. Maßgeblich getragen wird die Initiative von Attac, dem BUND, der evangelisch-lutherischen Kirche in Hamburg sowie

9 Vgl. Jutta Witte, Städte nehmen Versorgung in die eigene Hand, in: „VDI-Nachrichten“, 15.6.2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 94 12.12.12 10:51 Vom Wasser bis zur Müllabfuhr: Die Renaissance der Kommune 95

der lokalen Verbraucherzentrale. Bisher hat die Initiative ein Volksbegeh- ren mit weit über 100 000 Unterstützerinnen und Unterstützern organisieren können, womit sie das nötige Quorum von fünf Prozent der Wahlberechtigten fast doppelt erfüllte. Geplant ist ein Volksentscheid, der zeitgleich mit der Bundestagswahl im September 2013 stattfinden soll – und der in Hamburg zwar nicht bindend für den Gesetzgeber ist, im bundesweiten Vergleich aber relativ hohes landespolitisches Gewicht besitzt. Da die Verfassung des Stadt- staates allerdings vorsieht, dass politische Beschlüsse der Bürgerschaft zum Thema eines Volksentscheides diesen selbst erübrigen können, wurde am 18. April 2012 ein interessanter Kompromiss durchgesetzt: Die SPD-Allein- regierung beschloss, 25,1 Prozent der Energienetze zurückzukaufen. Auch in Berlin gibt es mit dem Bündnis „Berliner Energietisch“ große Bemühungen, die dortigen Konzessionen an Vattenfall nicht über das Jahr 2014 hinaus zu verlängern. Der Rückkauf könnte Berlin allerdings teuer zu stehen kommen: Nach Angaben der Initiative belaufen sich die Kosten auf rund 400 Mio. Euro, nach denen der Berliner Senatsverwaltung sogar auf bis zu drei Mrd. Euro.10 Der Hauptstadt bereits voraus ist Dresden, seitdem der dortige Stadtrat am 19. März 2010 beschloss, die EnBW-Tochter GESO durch die städtischen Technischen Werke Dresden kaufen zu lassen. Die geschätzten 900 Mio. Euro Kaufpreis sollten sich rasch amortisieren, war die GESO doch bislang ein ausgesprochen lukratives Unternehmen, das 2008 noch „knapp 60 Mio. Euro Gewinn“ erzielte.11

Der Trend setzt sich fort

Einiges spricht somit dafür, dass der Trend zum Rückkauf oder zur Neu- gründung von Stadtwerken sowie zu Konzessionsübernahmen im Energie-, Entsorgungs- und Reinigungssektor anhalten wird. Rückhalt dafür gibt es nämlich vor allem in der Bevölkerung. So sind sich mehr als zwei Drittel der Bundesbürger darin einig, dass Bahn und Post beim Staat besser aufgehoben sind als in privaten Händen. Auch bei der Gasversorgung möchten 55 Pro- zent bevorzugt von kommunalen Unternehmen versorgt werden – und bei der Frischwasserversorgung sogar 72 Prozent der Bürgerinnen und Bürger.12 Kurzum: Die Zeiten, in denen man dem Staat nichts und der Wirtschaft alles zutraute, scheinen passé zu sein. Überschaubare Wirtschaftseinheiten und angemessene Gewinnerwartungen stehen bei den Menschen wieder hoch im Kurs. Und der Staat ist – gerade im Zuge der Verwerfungen an den

10 Die Berechnungen, die der Initiative vorliegen, stehen auf unsicheren Beinen, denn nicht nur die Verträge, sondern auch konkrete Geschäftszahlen sind geheim. Auch die von der Berliner Verwal- tung ins Gespräch gebrachte Summe von zwei bis drei Mrd. Euro ist höchst umstritten, entspricht sie doch dem alle Werte umfassenden sogenannten Sachzeitwert und nicht dem „Ertragswert“, dem eine viel höhere Bedeutung bei der Ermittlung des Kaufpreises zukommen müsste. 11 Jürgen Flauger, Dresden hat sächsische Stadtwerke-Holding im Visier, in: „Handelsblatt“, 6.1.2010. 12 Vgl. Bayerischer Städtetag, Die kommunale Daseinsvorsorge hat wieder Zukunft, in: „Informations- brief“, 5/2009, S. 6.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 95 12.12.12 10:51 96 Siegfried Broß und Tim Engartner

internationalen Kapitalmärkten – wieder zum ersten Adressaten für Schutz- wünsche und Sicherheitserwartungen geworden. Sollen Kommunen auch weiterhin ihre Privatisierungen zurückdrehen (können), müssen jedoch drei Bedingungen erfüllt sein. Erstens: Ähnlich wie bei einer nachhaltigen Bildungspolitik muss der Planungshorizont von Politikern langfristig sein, also über das Ende der Legislaturperiode hinaus- reichen. Auf lange Sicht nämlich können die einmaligen Aufwendungen für den Rückkauf aus den laufenden Gewinnen finanziert werden. Zweitens: Die Architektur des Steuersystems muss sicherstellen, dass die Kommunen nicht länger finanziell „ausbluten“. Bund und Länder haben nicht zuletzt im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung immer mehr Aufgaben auf die unterste Gebietskörperschaft abgewälzt, ohne die dafür erforderlichen Mittel bereit- zustellen. Drittens: Die Kommunen müssen Wirtschaftlichkeitsberechnun- gen anstellen und gegebenenfalls bereit sein, Kredite für Rückkäufe auf- zunehmen. Der Zeitpunkt dafür ist ideal: Selten konnte Geld so günstig geliehen werden wie im Augenblick. Zudem könnte über die öffentliche Kre- ditanstalt für Wiederaufbau (KFW) ein „Rekommunalisierungsfonds“ aufge- legt werden, der Kommunen die Investitionen stemmen lässt. Da insbesondere auf kommunaler Ebene darüber entschieden wird, wie eine auf sozialen Ausgleich angelegte öffentliche Daseinsvorsorge gewähr- leistet werden kann – mittels bürgernaher Beratungsangebote, gestaffelter Gebühren und unentgeltlicher Nutzungen –, muss die Zukunft des öffent- lichen Sektors wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte rücken. Dann wird sich unter Umständen ein breites öffentliches Bewusstsein dafür entwickeln, dass das kurzfristige Lindern haushalterischer Nöte durch Pri- vatisierungserlöse hohe Kosten hat – nämlich den Verlust sozialverträglicher Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten in kommunaler Hand. Nur kommunale Betriebe orientieren sich zur Erfüllung der Daseinsvor- sorge an dem Grundsatz, Leistungen in gleichbleibend hoher Qualität, flä- chendeckend und zuverlässig allen Bürgern sozial gerecht und diskrimi- nierungsfrei zur Verfügung zu stellen. Dabei verfolgt die öffentliche Hand idealerweise keine kurzfristigen Gewinninteressen, sondern zielt auf eine nachhaltige Sicherung der Lebensgrundlagen für alle. Auf diese Weise gewährleistet sie die Einhaltung hoher Standards. Die Grundversorgung der Bürger gehört dabei zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung. Mit der Gemeinwohlverpflichtung ist die kommunale Daseinsvorsorge zu einer wichtigen und verlässlichen Säule unserer Gesellschaft geworden. Das jedenfalls ist der eigene Anspruch kommunaler Unternehmen – und er muss es auch bleiben, und zwar zukünftig wieder in wesentlich größerem Umfang, vom Wasser bis zur Müllabfuhr.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 96 12.12.12 10:51 Das große Zeitungssterben

Die Insolvenz der „Frankfurter Rundschau“ und die Einstellung der „Financial Times Deutsch- land“ wie auch die kritische Lage etlicher der noch verbliebenen überregionalen Tageszeitun- gen haben eine intensive Debatte über die Zukunft des Printjournalismus ausgelöst. Dieser für die Öffentlichkeit in der Demokratie entscheidenden Frage widmen sich die folgenden drei Beiträge aus je unterschiedlicher Perspektive. – D. Red.

Reinhard Blomert Die gefährdete Demokratie

eitungsbetriebe sind kostspielige Unternehmen. Dreistellige Millionen- Z beträge liegen fest, das Kapitel muss nach einer bestimmten Zeit refinan- ziert werden und Erträge bringen – denn Zeitungen sind auch kommerzielle Unternehmungen. Deshalb sind Tageszeitungen in hohem Maße abhängig von ihren Werbeeinnahmen. Diese liegen insgesamt bei 17,8 Prozent des gesamten Deutschlandbudgets der Werbebranche. Doch wegen der konjunk- turellen Schwankungen der letzten Jahre haben die Werbetreibenden Gelder zurückgehalten, wobei die gedruckten Medien besonders stark unter dieser Zurückhaltung leiden.1 Ihr Werbeetat liegt deutlich oberhalb der 6,9 Prozent der Ausgaben, die die Firmen für den Rundfunk auszugeben bereit sind, aber weit unterhalb der 40,2 Prozent, die das Fernsehen für Werbung erhält. Die eigentliche neue Konkurrenz der Zeitungen besteht jedoch gegenüber dem Internet. Dieses hat mit 19,8 Prozent das Werbebudget für Zeitungen inzwischen überholt: Im Jahre 2012 zogen Internetfirmen für 88,57 Mrd. Euro Werbungseinnahmen an sich, wobei die Hälfte an die Firma Google ging. Ins- gesamt wird der digitale Werbemarkt im Gegensatz zur ausdifferenzierteren Zeitungslandschaft nur von einer Handvoll US-amerikanischer Unternehmen bestimmt, die „selbst gar keine Inhalte produzieren“ (Lortz). Neben Google streichen Facebook, Yahoo, Microsoft und AOL inzwischen zweistellige Mil- liardenbeträge vom Werbeetat deutscher Firmen ein, was die Printmedien in eine existenzielle Krise geführt hat.

1 So Frank-Peter Lortz, Deutschland-Chef von Optimedia in: „Financial Times Deutschland“ (FTD), 3.12.2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2012

201301_Blätter.indb 97 12.12.12 10:51 98 Reinhard Blomert

Ein Geschäftsmodell der Zeitungen für das Internet aber ist noch nicht erfun- den, sie schreiben hier nur Verluste. Die Kostenvorteile der Suchmaschinen sind unübersehbar: Die meisten Kosten für die Verbreitung werden von den Lesern selbst und vom Staat getragen, die Inhalte werden aus fremden Infor- mationsquellen übernommen und lediglich vermittelt, und neben den Ein- nahmen aus der Werbung kommen lukrative Suchaufträge hinzu, vielfach an Abnehmer, auf die die Zeitungen aus berufsethischen Gründen nicht zurück- greifen können: an Regierungen, Geheimdienste und Polizei. Brauchen wir aber heute überhaupt noch Tageszeitungen? Allein diese Frage zu stellen, zeugt bereits von Gedankenschwäche: Bis heute sind die Tageszeitungen der Ort der öffentlichen Debatte, sie sind, pathetisch gespro- chen, die agora, die zur Meinungsbildung beiträgt, und von der die Internet- firmen nur die snippets aufnehmen. Denn das Internet bildet bis heute keiner- lei organisiertes Forum, das sich mit dem Status von Tageszeitungen verglei- chen ließe.

Die Bedeutung der Vierten Gewalt

Trotzdem lassen es sich die Regierungen Europas und die EU-Kommission seit Jahren angelegen sein, die ebenfalls ausgesprochen kostspielige Infra- struktur für das Internet zu bezahlen oder zu fördern, bieten sie Milliarden an Steuergeldern auf für die Finanzierung der Ausstattung von öffentlichen Einrichtungen mit EDV-Anlagen, EDV-Verbindungen, bezahlen Lehrgänge, Büroausstattungen, Programme, EDV-Personal in Verwaltungen, Schulen, Universitäten und sogar Kindergärten. Der Energieverbrauch für das Internet weist enorme Steigerungen auf, jeder Suchvorgang, ja bei manchem Anbieter sogar jede private Email wird von einer lästigen Werbung gefolgt. Dabei zah- len die großen Internetfirmen selbst kaum Steuern: Unlängst hat das britische Finanzamt erstmals eine Klage gegen Google eingereicht, weil der Konzern zwar in Großbritannien hohe Gewinne mache, aber weniger als fünf Prozent Steuern bezahlt. Es ist jedoch nicht das Internet, sondern nach wie vor die Presse, die Vierte Gewalt, die den Wähler unterrichtet und anleitet, die die Politik kontrolliert – durch ihre Redakteurinnen und Redakteure, ihre Korrespondentennetze, ihre Gastautoren, kurz: durch die Reichweite und Auswahl von Informationen und durch ihre Kommentierung, und zwar weit ausgiebiger und tiefer, als es das Fernsehen vermag (das ohnehin von seiner visuellen Qualität her stärker emotionale Belange beliefert). Von der Tagespresse lebt die Auseinanderset- zung, leben die Talkshows und die Blogs; von dort werden Themen und Mei- nungen vorgegeben, die der demokratischen Gesellschaft den Diskussions- stoff liefern. Die Presse stellt zugleich Basismaterial für die Unterrichtung von Politik und Wissenschaft bereit. Auch wenn es eine große Zahl von Radio- und Fern- sehsendungen gibt, in denen Informationen geliefert und vertieft werden, ist die Presse nach wie vor der umfangreichste Berichterstatter der Republik –

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 98 12.12.12 10:51 Das große Zeitungssterben 99

kein Blog mit Meinungsäußerung und keine Fernsehsendung kann mit der Zeitung hier konkurrieren. Von daher benötigt die Demokratie die Presse wie der Fisch das Wasser. Die Insolvenz der „Frankfurter Rundschau“ ist deshalb ein Warnsignal: Das Überleben eines der Blätter der Republik, das zu ihren profiliertesten gehört, hängt am seidenen Faden, dem Gefüge der deutschen Presselandschaft droht damit eine schwer ausgleichbare Einbuße. Es handelt sich hier nicht um einen einfachen Konzentrationsprozess, wie er die Geschichte der Bundesrepublik mit dem Sterben vieler lokaler Zeitungen prägte, sondern um das Problem der schwindenden Werbeeinnahmen und schwindenden Abonnementszahlen. Die Frage ist daher nicht, ob das Internet die Aufgaben einer Zeitung über- nehmen kann – das kann es zweifellos nicht! – sondern ob sich unsere Demo- kratie ein Zeitungssterben erlauben kann. Anders ausgedrückt: Warum gibt es keine staatliche Unterstützung für die Presse?

Der Staat ist gefordert

Steuergelder gehen in die öffentlichen Verwaltungen, in die Regierung und in den Bundestag, in die Justiz und in die Wissenschaften, in die Bildung und in den öffentlichen Verkehr. Selbst die Parteienfinanzierung und die Finan- zierung der Parteistiftungen ist durch Steuergelder abgesichert. Auch die geplante Erhebung von Gebühren für Radio und Fernsehen von jedem Haus- halt ab dem kommenden Jahr entspricht einer Steuerfinanzierung, da es sich im strengen Sinne nicht um Gebühren handelt. Gebühren dürfen nur, das haben viele Gerichtsurteile festgestellt – zuletzt ein Berliner Verwaltungsgericht, das über Studiengebühren zu befinden hatte – für den konkreten Verwaltungsakt erhoben werden. Sie dürfen sich also nicht auf weitere allgemeine Dienste beziehen, die von den Betroffenen unter Umständen gar nicht in Anspruch genommen werden. Es wird also sicherlich zu Klagen gegen die Fernseh- und Rundfunkgebühr kommen, die bis zum EuGH gehen dürften, zumal die EU-Kommission, deren Auftrag sich bekannt- lich nicht auf den Aufbau und die Erhaltung der Demokratien erstreckt, son- dern nur auf die „vier Freiheiten“ des grenzüberschreitenden Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital, in der öffentlichen Förderung des Fernsehens fälschlich eine „Wettbewerbsverzerrung“ zu sehen geneigt ist. Doch es geht nicht um Wettbewerb, sondern um Inhalte. Und aus dieser Sicht ist die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zweifellos ein wesentliches Element für die Qualität auch der demokratisch-politischen Landschaft in Deutschland, mag man auch noch so sehr die eine oder andere Annäherung an das seichte Privatfernsehen kritisieren. Auch bei den Tageszeitungen unterscheiden wir sinnvollerweise zwischen den seriösen Blättern und denen der Yellow Press, die ganz bewusst lediglich Bauchgefühle bedienen und eine bloß „instinktive“ Vermittlung von Informa- tionen bieten, also den Unterschied zwischen Meinung und Faktenvermitt- lung bewusst vermischen. Was den Unterschied ausmacht, zeigt der Nieder-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 99 12.12.12 10:51 100 Daniel Leisegang

gang der Londoner „Times“, die 1981 von Rupert Murdoch gekauft wurde: Heute spricht niemand mehr von dem einstigen Flaggschiff der Weltpresse, und außerhalb Englands wird nur noch der „Guardian“ aus Manchester erwähnt, der allerdings auf einer Stiftung beruht. Noch gibt es in Deutschland den Beruf des Journalisten mit einer eigenen professionellen Berufsehre. Doch dieses Ethos ist gefährdet – nicht durch staat- liche Zensur, sondern durch wirtschaftlichen Druck. Der Satz von Karl Marx, dass die Presse erst frei ist, wenn sie kein Gewerbe mehr ist, trifft noch immer zu. In Frankreich finanziert deshalb der Staat die Distribution der Zeitungen, und in Italien hat die Regierung allen durch ein bestimmtes Verfahren berech- tigten Zeitungen Subventionen gezahlt – darunter sogar dem kommunisti- schen „Manifesto“ –, um die Demokratie zu stützen. Bis zur Regierungsüber- nahme durch den EU-Kommissar Mario Monti: Monti hat diese Subventionen zusammengestrichen – weil die EU-Kommission der Meinung ist, Zeitungen seien ein Gewerbe. Wenn jedoch Blätter wie die FR und die FTD den Marktstress nicht mehr aushalten, dann gerät das Grundrecht der Informationsfreiheit (Art. 5 GG) ernsthaft in Gefahr. Deshalb ist heute die Politik gefragt: Regierungen, die aus Angst vor einem chaotischen Zusammenbruch Banken und Autokon- zernen großzügig Hilfe leisten, sollten umso mehr bereit sein, den geistigen Absturz zu verhindern. Wollen wir uns nicht auf eine Zukunft einstellen, in der Analphabetismus und Desinformation die politische Willensbildung beherr- schen, dann dürfen wir die lebendigen Quellen der demokratischen Gesell- schaft nicht austrocknen lassen.

Daniel Leisegang Die Rückkehr des Journalismus

it der Zeitungskrise scheint die Erkenntnis einher zu gehen, dass man M mit Journalismus kein Geld mehr verdienen kann. Schon seit langem befindet sich die verkaufte Gesamtauflage bundesdeutscher Tageszeitungen im Sinkflug. Es bedarf daher keiner hellseherischen Fähigkeiten, um vorher- zusagen, dass in den kommenden Monaten weitere Tageszeitungen ihren Ver- trieb einstellen werden. Dass journalistische Angebote jedoch auch erfolgreich sein können – zumal im Internet –, zeigt ein Blick auf die renommierte „New York Times“. Sie hat bereits 2011 ein Bezahlmodell für ihr digitales Angebot eingeführt. Nur ein Jahr danach verkauft die NYT bereits durchschnittlich mehr digitale als gedruckte Ausgaben. Haben wir es also möglicherweise gar nicht in erster Linie mit einer Krise der Zeitungen, sondern vielmehr mit einer Krise des Journalismus zu tun? Was aber bedeutet dies für die Verlage?

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 100 12.12.12 10:51 Das große Zeitungssterben 101

Die Ursachen für ihre Misere sehen die Medienhäuser zumeist im Wandel der Werbeindustrie und der „Gratismentalität“ der Internetnutzer. Tatsäch- lich geht das derzeitige Zeitungssterben aber auch und nicht zuletzt auf gra- vierende verlegerische Fehlentscheidungen der letzten Jahre zurück – allen voran auf eine rigide Sparpolitik. Noch in den späten 90er Jahren herrschte dagegen in den hiesigen Pres- severlagen geradezu Goldgräberstimmung. Das Internet versprach Einspa- rungen bei der Produktion, der Lagerung und beim Vertrieb. Zudem erwar- teten die Verlagshäuser, mehr Geld mit dem Verkauf von Anzeigenbannern zu verdienen. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf – im Gegenteil: Mit dem Internet vervielfachten sich die möglichen Werbeplattformen. Selbst die pri- vaten Kleinanzeigen für den Arbeits- und Wohnungsmarkt werden heute im Netz statt in Tageszeitungen inseriert. Die Online-Investitionen der deutschen Verlage erwiesen sich somit meist als Minusgeschäft. Im Internet hatten die Verlagshäuser zudem weitgehend auf Bezahlsysteme verzichtet. Daher sahen sie keine andere Möglichkeit, als mit drastischen Einsparungen auf die Ein- nahmenrückgänge im Anzeigengeschäft zu reagieren: Sie heuerten Manager an, die die Unternehmen verschlankten. Diese entließen zigtausende Journa- listen, strichen Korrespondentenstellen und schlossen Auslandsbüros; an die Stelle seriöser Berichterstattung und investigativer Tiefenschürfung traten vielfach uninspirierte Kommentare und lieblos aufbereitete DPA-Meldungen. Wie rasch die Entscheidung, das journalistische Produkt zu verschlanken, in einen Teufelskreis münden kann, zeigt exemplarisch das Schicksal der „Frankfurter Rundschau“. Dennoch konzentrieren sich die Medienhäuser weiter darauf, möglichst Kosten zu sparen und so das eigene Produkt zu ent- werten. Erst Anfang Dezember kündigte die WAZ-Mediengruppe an, im kom- menden Jahr 20 Prozent ihrer Kosten einsparen zu wollen. Besonders betrof- fen ist dabei die „Westfälische Rundschau“; offenbar erwägt die Führung der Mediengruppe sogar die vollständige Einstellung dieser Tageszeitung.

Neue Medienförderung durch die Hintertür

Doch die Verlage bekämpfen die Krise nicht nur mit rigider Sparpolitik, son- dern gehen auch mit juristischen Mitteln gegen die Konkurrenz im Netz vor – mit weitreichenden Folgen. So stellt das gebührenfinanzierte Online-Angebot der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus Sicht der privaten Medienunternehmen eine unzu- lässige Wettbewerbsverzerrung dar, die sie seit Jahren juristisch bekämpfen. Gebührenfinanzierte Inhalte von ARD, ZDF und Co. dürfen daher seit Inkraft- treten des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags nur noch bis zu sieben Tage im Netz abrufbar sein. Danach müssen selbst aufwendig und teuer produzierte TV-Sendungen „depubliziert“ werden. Und auch die „Tagesschau App“, die Beiträge der „Tagesschau“ für Smartphones und Tablet-Computer aufberei- tet, ist den privaten Anbietern ein Dorn im Auge. Eine Gruppe von Zeitungs- verlagen strebt derzeit ein gerichtliches Verbot des „presseähnlichen“ Ange-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 101 12.12.12 10:51 102 Daniel Leisegang

bots an. Sollten sie sich durchsetzen, hätte der gebührenzahlende Zuschauer ein weiteres Mal das Nachsehen. In den vergangenen Wochen hat sich zudem der Streit mit einem noch weit- aus mächtigeren Gegenspieler zugespitzt – nämlich mit dem Suchmaschinen- anbieter Google. Seit über drei Jahren betreiben verschiedene große Medien- verlage – allen voran die Axel Springer AG – massive Lobbyarbeit für das sogenannte Leistungsschutzrecht (LSR), das eine Lizenzierung von Snippets im Internet vorsieht. Die Verlage argumentieren, dass Suchmaschinenanbie- ter mit Auszügen ihrer journalistischen Erzeugnisse hohe Gewinne erzielten, an denen die Verlage nun beteiligt werden möchten. Der derzeit dem Bundes- tag vorliegende Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum LSR sieht daher vor, dass „gewerbliche Anbieter“ wie Google selbst einzelne Sätze aus Arti- keln nur verwenden dürfen, wenn dies zuvor – und gegen Gebühr – von den Verlagen genehmigt wurde. Doch die Kritik an der „Lex Google“ ist groß – nicht nur im Netz. Zum einen bezweifeln Juristen die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes. Namhafte Urheberrechtsexperten des Max-Planck-Instituts für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht kritisieren, dass das bestehende Urheberrecht den von den Verlagen bemängelten Sachverhalt bereits ausreichend erfasse: Der Bedarf fur ein LSR „wurde bislang in keiner Weise nachgewiesen“, zudem bestehe „die Gefahr unabsehbarer negativer Folgen“.1 So drohe der schwammig ausgearbeitete Gesetzesentwurf zu mehr Rechtsunsicherheit und damit zu mehr Abmahnungen im Internet zu führen. Zum anderen zeigt sich auch die Pressebranche selbst uneinig. Gerade kleinere Verlage befürchten, dass eine Google-Steuer allein einflussreichen Großverlagen zugute kommt, die sich mit dem Internetkonzern auf Augenhöhe einigen können. Damit aber könnte das LSR – entgegen seiner Intention – umsatzschwächere Medien benachteili- gen und am Ende die mediale Vielfalt hierzulande sogar weiter einschränken, statt sie zu fördern. Die eigentlich entscheidende Frage, die der Streit um das LSR aufwirft, lautet jedoch: Warum konzentrieren sich die Verlage – statt für eine Medienförderung durch die Hintertür zu kämpfen – nicht auf ihr Kernge- schäft: den Verkauf von unabhängigem und kritischem Journalismus? Es hat den Anschein, als müssten die Verlage den Wert guter journalisti- scher Arbeit erst wieder begreifen. (Das zeigt sich nicht zuletzt an Begriffen wie „Paywall“ oder „Bezahlschranke“, die auch Verleger und Journalisten affirmativ nutzen.) Aber auch die Nutzer werden sich darauf einstellen müs- sen, dass die „Kostenloskultur“ im Internet ihrem Ende zugeht und journalis- tische Texte zunehmend nur noch gegen Bezahlung zu haben sein werden. Dabei wird sich der Wandel der Mediennutzungsgewohnheiten nicht ein- fach umkehren lassen. Denn längst ist das Internet zu dem Medium geworden, das uns über die aktuellsten Geschehnisse auf dem Laufenden hält. Diese Art von Nachrichten werden auch weiterhin weitgehend kostenlos – und durch

1 Vgl. www.ip.mpg.de/files/pdf2/Stellungnahme_zum_Leistungsschutzrecht_fuer_Verleger.pdf. Weder die „Süddeutsche Zeitung“ noch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ haben die Stellungnahme des MPI übrigens bislang auch nur in einer Zeile gewürdigt. Vgl. www.stefan-niggemeier.de/blog/dann- reden-wir-mal-ueber-zensur. Die Stellungnahme ist auf www.blaetter.de dokumentiert.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 102 12.12.12 10:51 Das große Zeitungssterben 103

Anzeigen finanziert – abrufbar sein. Allerdings erfahren gerade lange Texte im Internet eine Renaissance. Als Gegenbild zum Fast-Food-Journalismus auf den Newsseiten bildet sich derzeit der Curating Journalism heraus. Regelmä- ßig empfehlen eine wachsende Zahl an Online-Diensten ausgewählte Repor- tagen, Essays und Porträts, die länger als 6000 Zeichen sein müssen.2 An Nachfrage nach guten Texten besteht also kein Mangel. Dabei ist es völlig zweitrangig, ob diese auf Papier, dem Bildschirm eines E-Book-Readers oder eines Tablet-Computers gelesen werden. Wichtig ist vielmehr, dass sich die Verlage und Redaktionen wieder auf ungewöhnli- che Textinhalte statt auf sensationsheischende Schlagzeilen konzentrieren. Gewiss, investigative Recherchen und aufwendige Interviews erfordern mehr journalistischen Aufwand und kosten daher mehr Geld. Doch gerade Artikel, die aus der Informationsschwemme des Internet herausragen, eine kluge Ein- ordnung der Geschehnisse vornehmen und dabei das Gegebene zugleich rückhaltlos hinterfragen, zeichnen guten Journalismus aus – auch aus Sicht der Leserinnen und Leser.

Mehr verlegerische Experimente wagen!

Um die Qualität und damit den Preis journalistischer Produkte wieder in den Vordergrund zu rücken, sind jedoch nicht nur journalistische Rückbesinnun- gen, sondern auch verlegerische Experimente notwendig, die über traditio- nelle Abo-Modelle und Anzeigenfinanzierung hinausgehen. Das erkennen allmählich auch die Verlage: Schon seit geraumer Zeit ist Bewegung in die Branche gekommen, die händeringend nach alternativen Finanzierungsmo- dellen sucht. Seit Mitte Dezember ist die Online-Ausgabe der „Welt“ nur noch gegen Bezahlung in Gänze zugänglich. Die Axel Springer AG hat sich dabei – ähnlich wie die NYT – für ein „nutzungsabhängiges Bezahlmodell“ entschie- den: Fortan soll nur noch eine begrenzte Anzahl von Artikeln pro Monat für den Leser kostenlos abrufbar sein. Im Sommer soll dann sogar der Onlineauf- tritt der „Bild“ folgen und nur noch begrenzt kostenlos zugänglich sein.3 Selbst die „tageszeitung“ – lange Zeit ohne Einschränkung im Netz abruf- bar – bewegt sich inzwischen auf ein Bezahlsystem zu. Derzeit versucht sie es noch mit der Aufforderung zu freiwilliger Bezahlung: Beim Aufrufen ihrer Website fragt ein großer Banner die Besucher „Wie viel ist unabhängiger Jour- nalismus wert?“ und verknüpft diese Frage mit einer Spendenaufforderung. Welches Finanzierungs- und Bezahlmodell sich am Ende auch durchsetzt – selbst Stiftungen und Genossenschaften sind denkbar –, fest steht, dass an dem ökonomischen und mentalen Wandel bei den Verlagen kein Weg vorbei führt. Denn unabhängiger Journalismus – so die schlichte, aber entscheidende Erkenntnis – ist kostenlos nicht zu haben.

2 Vgl. beispielsweise www.longreads.com, www.byliner.com oder www.liesmich.me. 3 Vgl. „Frankfurter Rundschau“, 3.12.2012. Die „Blätter“ haben von Anfang an das sogenannte Free- mium-Modell gewählt: Unterschiedliche Beiträge auf www.blaetter.de sind frei verfügbar, für alle anderen Texte werden geringe Einzelbeträge fällig; Online-Abonnenten erhalten für eine Jahresge- bühr Zugang zu allen Artikeln.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 103 12.12.12 10:51 104 Jan Kursko

Doch es gibt noch immer eine entscheidende Hürde: Alle Ansätze kranken bislang daran, dass das dafür erforderliche Bezahlsystem fehlt, das internet- weit, sicher und benutzerfreundlich die Zahlung von Kleinstbeträgen ermög- licht. Um Online-Geschäfte sicher abwickeln zu können, kommt der Entwick- lung dieses Systems fundamentale Bedeutung zu. Während es Aufgabe der Redaktionen ist, für guten Journalismus zu sorgen, besteht die Herausforde- rung der Verlage darin, benutzerfreundliche Micropayment-Systeme zu ent- wickeln. Alle Verlage sitzen in dieser Frage in einem Boot, deshalb könnte dies sinnvollerweise sogar in Kooperation geschehen. Am Ende obliegt es dann den Leserinnen und Lesern zu entscheiden, für welche Inhalte sie bereit sind, Geld zu zahlen. Das aber ist eine gute Nachricht: Denn dann bestimmen nicht mehr die Werbebudgets und Online-Klickzahlen den Wert eines journa- listischen Angebots, sondern vor allem dessen Qualität.

Jan Kursko Qualitätsheulsusen

rst die „Frankfurter Rundschau“, dann die „Financial Times Deutsch- E land“ – der Sensenmann geht um in der journalistischen Holzklasse. „Endzeit ist in der Printbranche längst kein Wetterphänomen am Horizont mehr. Endzeit ist jetzt“, stellt der Feuilletonist der „Süddeutschen Zeitung“, Hans Hoff, treffend fest. Derweil geht die große Litanei über den Niedergang des „Qualitätsjournalismus“ unaufhörlich weiter. Denn, weiß FAZ-Heraus- geber Werner d’Inka: „Wenn die letzte anständige Zeitung verschwunden ist, bleibt nur noch das Geschwätz.“ Angesichts derart apokalyptischen Geschwurbels erscheint es geboten, ein wenig Wasser in den Wein zu gießen. Denn allzu oft lag diese „Qualität“ wahnsinnig neben der Spur, wie insbesondere die FTD beweist. Wie heißt es doch in der Mitteilung „In eigener Sache“ der drei Chefredakteure der „Financial Times Deutschland“ zu deren Ableben: „Die FTD steht seit ihrer Gründung im Jahr 2000 für die Kraft der schöpferischen Zerstörung. Wir haben in den vergangenen fast 13 Jahren vieles angestoßen und verändert im deutschen Wirtschaftsjournalismus. Darauf sind wir stolz.“ Potztausend, soviel Stolz im Augenblick der eigenen Einstellung? Wenn es nicht bereits wie eine Satire klänge, man müsste sie erfinden. Denn was bedeutet diese schöpferische Zerstörung en détail? Konkret bedeutet es, dass diese Zeitung in den knapp 13 Jahren ihrer Existenz „mehr als 250 Mio. Euro gekostet“ hat. So teilte es das neue, für die Einstellung verantwortliche Gru- ner+Jahr–Vorstandsmitglied, die frühere FTD-Redakteurin Julia Jäkel der Redaktion mit, um daraufhin zu jammern: „Sie haben Maßstäbe gesetzt, an

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 104 12.12.12 10:51 Das große Zeitungssterben 105

denen sich andere orientieren.“ Und, so die Krönung der Selbstbeweihräu- cherung: „Es geht ein bedeutendes Kapitel deutscher Publizistik zu Ende.“ 250 Millionen Miese – in nur einer Dekade – allein durch dieses bedeu- tende „Kapitel deutscher Publizistik“? Sieht so etwa, allen FTD-Edelfedern wie Lucas Zeise zum Trotz, der deutsche „Qualitätsjournalismus“ aus? Sind das die „Maßstäbe, an denen sich andere orientieren“? Nein, bei aller inzwi- schen üblichen Lobhudelei in eigener Sache („Qualität vor Kommerz!“): Das kann das Erfolgsrezept des zukünftigen Journalismus wohl doch nicht sein.

Buhmann Internet

Aber natürlich, wen wundert’s, ist der Verantwortliche für den eigenen Nie- dergang von den Herren der FTD schnell gefunden: „Wir haben die schöp- ferische Zerstörungskraft des Internets“ – aha, die Katze ist aus dem Sack – „zwar seit unserer Gründung so intensiv beschrieben wie kein anderer in Deutschland. Es ist uns allerdings nicht gelungen, darauf aufbauend ein Geschäftsmodell zu entwickeln, das unseren Anspruch an Journalismus zu finanzieren vermag.“ Natürlich, das böse, böse Internet ist schuld. Auch FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher sieht wieder einmal den Untergang des Abendlandes dräuen und stimmt ebenfalls ein in die große Litanei über das world wide web, das die großen Erwartungen an einen neuen investigativen Journalis- mus nicht erfüllt habe. Der Haken an der Sache: Der, dessen Erwartungen stets in den Himmel schießen, muss notwendigerweise enttäuscht werden. Speziell die vielleicht etwas bescheideneren Erwartungen der jungen Leser scheint das Netz dagegen zu befriedigen. Andernfalls wären sie wohl nicht längst alle drin. „Also hinterher!“, müsste daher doch eigentlich der Auftrag unserer Herren und Damen Qualitätsjournalisten lauten! Und hier beginnt die eigentlich spannende Frage: Warum wird nicht jetzt der wirkliche Versuch gestartet? Bisher, könnte man argumentieren, war die Lage offenbar nicht existenziell genug. Warum aber finden sich nicht jetzt – endlich – die erforderlichen Pioniere, um ein neues Projekt einer Internet- zeitung zu starten? Wo, kurzum, bleibt das Schöpferische der Zerstörung? Immerhin stehen jetzt eine Menge bewährter Journalisten auf der Straße.

Das Scheitern der „Kreativen“

Doch warum haben es all die klugen „Kreativen“, die sich seit jetzt über zehn Jahren im Internet tummeln, einfach nicht geschafft, ein derartiges Projekt einer Internetzeitung auf die Beine zu stellen? Darauf gibt es zwei Antworten. Erstens, eine ganz schlichte: Sie sind gar nicht so klug. Zweitens: Sie haben sich bisher vielleicht nicht hinreichend intensiv mit der Frage beschäftigt. Auch das kann sein. Und es wäre nicht einmal die schlechteste Antwort. Dann sollte man es – jetzt erst recht – endlich auf den Versuch ankommen

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 105 12.12.12 10:51 106 Jan Kursko

lassen. Könnte jetzt die Zerstörung nicht endlich schöpferisch werden? Die werten drei FTD-Chefs scheinen jedenfalls unbeirrbar daran festhalten zu wollen: „Denn wir glauben an Qualität und wir glauben an die Kraft der schöpferischen Zerstörung. Und als Wirtschaftsjournalisten wissen wir, dass jeder schöpferische Prozess auch neue Geschäftsmodelle hervorbringt.“ Gut gebrüllt, Ihr wackeren Schumpeterianer! Aber, leider, leider, offen- bar hat Eure neue Chefin den Glauben an die Zeitung nicht nur als Medium, sondern gleich auch als Projekt glatt verloren. Am Freitag, den 7. Dezem- ber, erschien die letzte gedruckte FTD, und auch ftd.de wurde eingestellt. Schade, jetzt hätte die Probe aufs Exempel einmal greifen können. Aber so schöpferisch wollten die stolzen Zerstörer aus dem Hause Gruner+Jahr dann wohl doch nicht mehr sein.

Die FR ist tot, es lebe die FR.de!

Doch was im Falle der FTD noch verschmerzbar ist, wäre im Falle der FR wirklich ein Jammer. Denn diese, nach der „Berliner Zeitung“ die zweite nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Tageszeitung, steht in der Tat für ein „bedeutendes Kapitel deutscher Publizistik“. Dieses ging intellektuell allerdings bereits mit der Schrumpfung der stolzen, großen FR auf Tabloid- Format zu Ende – und wurde mit den verschiedenen Zusammenlegungen zur angeberischen „Produktionsgemeinschaft“ mit der „Berliner Zeitung“ lediglich hinausgeschoben. Eine Fortführung der derart ausgemergelten FR im realen Leben erscheint daher reichlich irreal – denn auch sie machte, in gedruckter Form, Jahr für Jahr millionenfache Miese. Für die „Marke FR“ gilt das keineswegs. Die nämlich könnte auch im Netz weiter- und damit über- leben. Denn was macht schon intellektuell-inhaltlich den Unterschied aus – zwischen einem in der Zeitung oder im Netz gelesenen (vielleicht sogar aus- gedruckten) Kommentar von Jutta Roitsch oder einem Feuilleton von Wolfram Schütte? Die Gedanken sind schließlich weiter frei; the medium ist eben nicht the message. Und die alten Autorinnen und Autoren stehen längst Gewehr bei Fuß, um an „ihrer FR“ weiter mitzuarbeiten – notfalls sogar ohne Honorar. Gewiss, wir haben heute eine andere Form von Öffentlichkeit – eine plura- lere, weniger geordnete als in den Hochzeiten der guten, alten FR. Doch das Bedürfnis nach Meinungsbildung und Orientierung ist dadurch nicht gerin- ger geworden. Das beweisen etwa die täglichen „Nachdenkseiten“ des SPD- Linksabweichlers Albrecht Müller. Sie haben eine immense Nachfrage – und inzwischen kann die kleine Redaktion von dem Projekt sogar fast leben. Es wäre daher aller Ehren wert, ein derartiges virtuelles FR-Projekt – etwa wie die „Huffington Post“, aber eben von links-liberaler Ausrichtung – auf die Beine zu stellen. Wenn es denn tatsächlich stimmt, wie ein kluger Kommen- tator im Internet (sic!) schreibt, dass die Zeitung dann verloren hatte, als der Laptop auf dem Frühstückstisch stand – dann muss man die Zeitung, oder genauer: das Prinzip Zeitung, eben endlich in den Computer bringen, als virtuelle Redaktion. Die FR ist tot, es lebe die FR.de!

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 106 12.12.12 10:51 Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? Gender und Verfassungsrecht

Von Susanne Baer

ahlverwandtschaften“ – der Begriff ist eine gängige Metapher für W unklare Verhältnisse. Goethes gleichnamiger Roman, der 1809 er- schien, dreht sich um eine scheiternde Ehe. In ihm verhandelt Goethe den Konflikt zwischen regulierter Konvention und Leidenschaft, sehr vereinfacht gesagt, Geschichten zwischen Männern und Frauen. Wenn es heutzutage um Geschlechterverhältnisse geht, wird in deutschen Debatten mittlerweile oft der Begriff „Gender“ benutzt. Doch die Geschichte ist komplexer. Die Wissenschaft steht immer vor der Aufgabe, die Öffentlichkeit über die Begriffe im besten Sinne aufzuklären; und insbesondere die Gender Studies können es sich als junge Bewegung in der Wissenschaft nicht leisten, unge- nau zu sein. Das ähnelt der Situation von Frauen in klassisch männlichen Berufsfeldern: Was andere sich erlauben können, geht einfach nicht. Daher soll dieser Beitrag aufklären, was Gender im Recht bedeuten kann. Schon Goethes Roman lässt sich mit Hilfe der analytischen Instrumente der Gender Studies besser lesen, thematisiert Goethe doch den Konflikt zwi- schen ratio und emotion, eine zutiefst vergeschlechtlichte Dichotomie. Im Roman ist es die Repräsentation der einen klassisch kriegerischen, rational planenden, Natur in Kultur verwandelnden Männlichkeit, bei Eduard und Otto, und, bei Charlotte und Ottilie, der Entwurf zweier unterschiedlicher Weiblichkeiten, sittsam hausfraulich einerseits, leidenschaftlich und doch unterwürfig andererseits. Schon hier zeigt sich, dass der Begriff Gender mehr anzeigt als den Hinweis auf Frauen und auch mehr als Frauen und Männer. Zudem zeigt der Roman „Wahlverwandtschaften“, dass auch das Recht die Herstellung von Geschlechterrollen erheblich mitbestimmt. Dafür steht geradezu paradigmatisch das Eherecht. Goethe kritisiert die Institution der Ehe, die der Mittler, ein Mediator in Ehekrisen, im Roman verteidigt: „Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur.“ Ähnliche Sätze finden sich in einigen nationalen Verfassungen und auch noch in manchen Kommentierun- gen zum deutschen Grundgesetz. Sie sollen auch in aktuellen Diskussionen oft begründen, warum allein die Ehe als Norm menschlichen Zusammen-

* Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag mit dem Titel „Wahlverwandtschaft: Gender und Verfas- sungsrecht“, den Susanne Baer an der Universität Freiburg hielt.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 107 12.12.12 10:51 108 Susanne Baer

lebens rechtlich geschützt werden sollte, also ein „Abstandsgebot“ zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft oder anderen Gemeinschaften gelte. Implizit geht es meist um den Schutz der Ehe als Hort hegemonialer Männlichkeit und Weiblichkeit. Goethes Mittler reitet allerdings frustriert davon, weil die Menschen nicht mehr das leben, was er proklamiert. Im Verfassungsrecht reitet niemand, aber die Menschen leben tatsächlich vielfältiger, als es die Verfechter der Eheprivilegien – genauer: einer heteronormativ-patriarchalen Vorstellung von Ehe – wünschen. Goethe nannte seine Erzählung „Wahlverwandtschaften“, weil es ihm um Anziehungskräfte zwischen den Menschen ging. Für den naturwissen- schaftlich Gebildeten lag eine Anleihe aus der Chemie nahe: Dort sind Wahl- verwandtschaften jene Verbindungen, die von anderen getrennte Stoffe mit wieder anderen eingehen. Wahlverwandtschaften sind danach also natur- gegebene Verhältnisse, die sich rational begreifen und erklären lassen. Sie bezeichnen aber auch Vorgänge, die nicht vorhergesehen werden können, Zusammenschlüsse gegen die üblichen Regeln. So wohnt der Rationalität schon ein Stück Irrationalität inne – bei Goethe bändigt die Ehe nicht die Liebe, wenn sie woanders hinfällt. Auch das lässt sich auf Recht und Rechts- wissenschaft aus der Perspektive der Gender Studies beziehen. Denn Gen- der und Verfassungsrecht – das ist eine Wahlverwandtschaft. Und der kriti- sche Rechtsrealismus offenbart, dass es dabei rational und irrational zugeht, Recht ist also nicht immer gerecht, wenn es ganz neutral erscheint, nicht nur rational dogmatisch, auch wenn es Traditionen folgt, sondern oft ungerecht und irrational ideologisiert. Mit Hilfe der Gender Studies lassen sich der- artige Überlegungen präzisieren. Danach hat Recht immer etwas mit Gen- der zu tun, weil es auf eine Welt reagiert, in der Männer und Frauen ständig als solche wahrgenommen werden und leben. Gender hat auch deshalb viel mit Recht zu tun, weil Menschen mit Hilfe des Rechts eine Welt zu gestalten suchen, historisch weithin diskriminierend, heute oft emanzipatorisch orien- tiert. Recht erweist sich damit als Mittel der Macht – es ist zutiefst ambiva- lent und auf sehr komplexe Weise wirksam. Wie das genau funktioniert, ist Gegenstand der feministischen Rechtswissenschaft.1

Die Öffnung der Fakultäten

Wo es Recht gibt, gibt es Rechtskritik. Die Geschichte feministischer Rechts- kritik reicht insofern sehr weit zurück. Allerdings wird sie erst seit relativ kurzer Zeit auch wissenschaftlich fundiert. Das ist ernüchternd, denn grund- sätzlich ist es jedem Menschen – und erst recht allen wissenschaftlich Täti- gen – möglich, systematisch und ernsthaft der Frage nachzugehen, inwie- fern Recht Geschlecht konstruiert. Doch ist diese Möglichkeit von Männern,

1 Neutraler ist oft von Legal Gender Studies die Rede, die im Deutschen besser als rechtswissenschaft- liche Gender Studies bezeichnet werden können. Auch diese sind feministisch fundiert. Wer über Gen- der und Verfassungsrecht spricht, muss also eigentlich auch über feministische Rechtswissenschaft sprechen, vorurteilsfrei.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 108 12.12.12 10:51 Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? 109

die an juristischen Fakultäten gerade in Deutschland sehr lange unter sich waren und gar nicht selten auch noch heute unter sich sind, nicht genutzt worden. Ganz im Gegenteil: Nicht selten wird ein Kontext gepflegt, in dem solche Fragen als unwichtig oder gar unwissenschaftlich gelten. Erst nach der Öffnung juristischer Fakultäten für Frauen und auch für andere, die vor- her keinen Zugang hatten, wurden diese Fragen systematisch gestellt, kei- nesfalls von allen, aber doch von Einigen. Das ist auch ein Indiz dafür, dass Wissenschaft ebenso wie das Recht etwas ist, was alles andere als unabhän- gig von den Personen ist, die sie betreiben. In Deutschland wurden die juristischen Fakultäten für die „Anderen“ und damit auch für andere Fragen erst spät und bis heute sehr zögerlich geöffnet. Die Öffnung folgte nicht der Einsicht, dass Vielfalt oder diversity Innovation und Produktivität fördern. Auch die Erkenntnis, dass alle Menschen Bezie- hungen pflegen, soziale Notlagen erleiden und Gewalt erfahren können – Missbrauch und sexuelle Übergriffe kommen erschreckend häufig vor –, hat kein Erkenntnisinteresse erzeugt. Auch fehlte weithin die Einsicht, dass grundlegende Auseinandersetzungen mit Fragen der Gerechtigkeit und eine entsprechende Ausbildung für die Rechtspraxis möglichst vielseitige Perspektiven beinhalten sollten. Es gab zudem kein Gefühl von Scham, das sich einstellen kann, wenn Menschen merken, dass sie Privilegien genießen, an denen sie andere ohne gute Gründe einfach nicht teilhaben lassen. Viel- mehr waren es politische Auseinandersetzungen, die die Öffnung eines der- art mächtigen Akteurs wie der Rechtswissenschaft bewirkt haben. In Deutschland waren das die Bewegungen gegen den „Muff unter den Talaren“ im Umfeld der Studierendenproteste von 1968. Doch ist dies nur der Kontext, denn bekanntlich haben Feministinnen Tomaten auf Studen- tenführer geworfen, weil diese zwar rechtskonservative Vorstellungen von Hochschule bekämpften, nicht aber die männerbündischen Rituale an Uni- versitäten und in der politischen Praxis. Nicht pauschal „1968“, sondern die Politiken der Frauenbewegung haben diese Öffnung der juristischen Fakul- täten erzwungen.

Das patriarchale System der Professur

„Politiken“ – das ist ein Plural, denn innerhalb „der“ Frauenbewegung wur- den und werden sehr unterschiedliche Strategien verfolgt, um gesellschaft- lichen Wandel herbeizuführen. Zudem richten sich gerade feministische Strategien im Kern dagegen, auf „die Frauen“ reduziert zu werden. Genau in dieser stereotypen Reduktion auf das Geschlecht sehen sie die Ursache für geschlechtsbezogene Ungleichheit als Ungerechtigkeit. Es geht also um feministische Interventionen, die die Rechtswissenschaft verändern. In Deutschland war und ist das ausgesprochen mühsam. Es hat viel mit der Macht zu tun, die im System der ordentlichen Professuren mit ihren Lehrstüh- len steckt. Der Professor ist im deutschen Bildungswesen ein spezifisch männ- liches Subjekt. Der Lehrstuhl entspricht genau dem Modell des bürgerlichen

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 109 12.12.12 10:51 110 Susanne Baer

Haushalts, in dem Geschlechtscharaktere seit dem Ende des 19. Jahrhunderts klar zugewiesene Rollen spielen: Es gibt eine klare Autorität und Söhne, die genau so werden wollen wie der Vater; die Sekretärin kümmert sich um ihn, dann um alle anderen und um den Rest. Aber das ist nicht alles. Die Univer- sität lebt zudem von Vorstellungen der Exzellenz, die tief in einer Wissen- schaftsgeschichte verwurzelt sind: In diesen beherrschen Männer – ganz wie Otto und Eduard – die Natur, und Rationalität steht für Herrschaft; Frauen – wie Goethes Ottilie – aber sind die Natur, und Emotionalität wird als Irratio- nalität zur zwar begehrten, aber in andere Sphären verwiesenen Störung. Die Öffnung der Fakultäten für dieses Andere und die Anderen bedeutet also einen Bruch mit tief verwurzelten, oft ganz unbewusst wirksamen Tra- ditionen. Auch heute geht es daher darum, Strukturen und Handlungswei- sen zu verändern, um Wissenschaft für alle Fragen, Vorgehensweisen und Akteure zu öffnen, die daran produktiv Anteil nehmen wollen und können. Die Frage nach Gender und Recht ist damit nicht zu trennen von der Frage nach den Politiken des Rechts und der Rechtswissenschaft: Wer macht was mit welchem Erkenntnisinteresse – und wie lässt sich das besser machen?

Der Kampf um Emanzipation

Seit 1968 hat sich sehr viel bewegt. Der Wurf der Tomate illustrierte die Forderung, hegemoniale Männlichkeit zu verabschieden und Frauen tat- sächlich gleich zu behandeln, sie als eigenständige politische Subjekte anzuerkennen. „Mein Bauch gehört mir“ war nicht nur der Slogan für reproduktive Selbstbestimmung, also ein Protest gegen die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs, sondern warb auch für politische Emanzipation. Die Befreiung von den Ketten der patriarchalen Unmündigkeit war – ganz im Geiste einer Aufklärung – das Programm, das dann politisch und juristisch als Gleichheit, Gleichberechtigung oder Gleichstellung firmierte. Diese emanzipatorische Grundlegung ist geblieben. Eine Frage nach Gen- der ist daher auch nicht etwa die Frage nach Frauen oder nach Frauen und Männern. Es ist – emanzipatorisch – die Frage nach geschlechtsbezogenen Ungleichheiten, die wesentlich und mehrheitlich Frauen benachteiligen und Männer bevorteilen. Gleichheit ist kein symmetrisches Recht, sondern ein Recht gegen spezifische Asymmetrien. In einigen Ländern, die auf die deut- sche Wissenschaft sehr großen Einfluss ausüben, wurde früher, intensiver und prominenter über Geschlecht im Recht geforscht. Das gilt insbesondere für die USA, deren Wissenschaftslandschaft sehr viel durchlässiger ist als die deutsche, weshalb auch viel früher mehr Frauen und andere „Andere“ wis- senschaftlich eine Stimme erlangten.2 Zudem gilt es für Kanada, Australien und England und punktuell für skandinavische Länder sowie zunehmend für die Wissenschaft im globalen Süden.

2 Vgl. u.a. die heutige Richterin des Supreme Court, Ruth Bader Ginsburg, Gender and the Constitution, 44 U. Cin. L. Rev. 1, 1975. Zu den theoretischen Ausgangspunkten nach wie vor grundlegend Catharine A. MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1989.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 110 12.12.12 10:51 Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? 111

Daneben haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anderer akade- mischer Fächer, insbesondere in den jungen Disziplinen der Soziologie und der Politikwissenschaft und später in der Kulturwissenschaft das Recht oder zumindest die sozialen Verhältnisse, auf die das Recht zugreift, zum Gegen- stand kritischer Analyse gemacht. Die relativ strikte Schließung der deut- schen Jurisprudenz gegenüber Gender hat viel mit dieser akademischen Arbeitsteilung zu tun, die in anderen Ländern anders ausfällt. Die Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland entwickelte sich zuerst in den Sozialwissenschaften mit Studien zur geschlechtsspezifischen Arbeitstei- lung, zur Lohndiskriminierung, zu sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz, zu Karrieremustern und Männerbünden, zu politischer Kultur und Repräsen- tation, zur Ideologie der Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Dazu kamen in den 1990er Jahren die stärker kulturtheoretisch geprägten Untersuchungen zu Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterbildern. Es zeigte sich immer deutlicher, dass wir es nie – oder nur diskriminierend reduziert – mit „Frau und Mann“ (traditionell nicht zufällig mit „Mann und Frau“) und auch nicht mit „den Frauen“ und „den Männern“ zu tun haben. Vielmehr stellte sich mit dem Wissen um die Macht und die Vielfalt der Bilder analytisch die Frage nach Gender – als einer Mischung aus biologisch fixier- ten, gesellschaftlich interpretierten und praktizierten Lebensweisen, die gemeinhin als natürliche Geschlechterdifferenz ausgewiesen und benach- teiligend bzw. bevorzugend, also mittels der Verteilung von Privilegien und Nachteilen, markiert werden. Das ist bereits komplex, doch ist die Forschung heute noch etwas weiter.

Von der Frauenpolitik zur Gleichstellungspolitik

Gender ist ein kontextualisiertes Konzept. Auch das ist ein Effekt der politi- schen Emanzipationsbewegungen, die kritische Wissenschaft als Impuls auf- nimmt und der sie Impulse geben will. Die westdeutsche Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre setzte an den in der Studierendenbewegung verbreiteten linken Positionen an: Sie übte feministische Kritik an Marxis- mus und Sozialismus und dachte sie neu. Ihre Erkenntnis: Klassen (class) oder Schichten haben etwas mit Geschlecht zu tun, Geschlecht ist auch ökono- misch zu sehen: Reichtum ist männlich, auch wenn Frauen ihn erben, Armut ist weiblich. In den 1980er Jahren agierten Frauenbewegungen dann zuneh- mend im Umfeld antirassistischer Kämpfe und fügten hinzu: Geschlecht konstituiert sich in unmittelbarem Zusammenhang mit Ethnizität (race), Sexismus funktioniert rassistisch und Rassismus sexistisch. Damit war das in den USA etablierte Trio race – class – gender auch hierzulande angekommen. Zudem wurde geschlechtsbezogene Diskriminierung explizit auch im Kon- text der Bewegungen gegen Heteronormativität diskutiert, also der sozialen Bewegungen, die für die Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen ein- traten, anfangs für Schwule und Lesben, oft nur mitgenannt für Bisexuelle, heute ausdrücklich auch für die Rechte von Transsexuellen und für Men-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 111 12.12.12 10:51 112 Susanne Baer

schen jenseits der binären Geschlechtercodierung, wie Intersexuelle und andere. Die Liste wurde also immer länger: race, class, gender, sex/ualities. Frauenpolitik entwickelte sich damit zur Gleichstellungspolitik, die auf die Situation von Frauen und von einigen Männern jeweils in bestimmten Lebenslagen zielte. Bei Fragen nach Gender ging und geht es daher nicht pauschal um Frauen, sondern um stereotype Weiblichkeit im Unterschied zu konkreten Lebenserfahrungen von Frauen in unterschiedlichen Kontex- ten. In der Rechtswissenschaft musste allerdings anfangs darauf hingewie- sen werden, dass auch Frauen Menschen sind und Menschenrechte auch Frauenrechte – nun erfolgt der Hinweis, dass Recht auch für Migrantinnen, behinderte Frauen oder auch Mädchen, Frauen jedweder sexuellen Orientie- rung, Frauen jeden Alters (race, class, gender, sex/ualities, dis/ability, age), unterschiedlichen Glaubens (religion, belief), an unterschiedlichen Orten der Welt (Lokalität) usw. Gerechtigkeit sichern soll. Politische und theoretische Debatten haben sehr viel miteinander zu tun. Feministische Theorie löste sich daher spätestens in den 1980er Jahren groß- flächig von Konzepten, in denen „die“ Frauen und „die“ Männer figurierten. Nicht zuletzt im Zuge des Aufkommens postmoderner dekonstruktivisti- scher Ansätze ging es nun darum, essentialistische Identitäten – die Frauen, die Weiblichkeit – und damit implizit: die Frauen der Mittelschicht, die wei- ßen Frauen, die Angehörigen einer gesellschaftlichen Mehrheit und Norma- lität – zu verabschieden. Gender Studies befassen sich heute mit der Welt sich verändernder Repräsentation und deren Manifestationen. Politisch und theoretisch ist Gender damit nicht nur der Anglizismus für Geschlechterverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Gender steht viel- mehr – im Detail durchaus kontrovers – für die geschlechtsbezogene Mar- kierung, die sich vorrangig auf bestimmte Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit bezieht und diese immer im Zusammenwirken mit weiteren sozialen Ungleichheitsstrukturen, also mehrdimensional – oder „intersektio- nal“ – zu begreifen sucht. Es geht also um politisch thematisierte, aber eben auch analytisch relevante Dimensionen der strukturell wirkenden Ungleich- heit, die auch in Menschenrechtskatalogen als verbotene Differenzierungs- merkmale geächtet sind3: Der Rassismus in all seinen Formen, einschließlich des Antisemitismus und heute des Antiislamismus; Heteronormativität oder Heterosexismus als Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität und des Geschlechts; es geht in den Gender Studies zudem um Behinderung – politisch emanzipatorisch gesprochen: um Ent- hinderung, also die Kritik an Körpernormen oder sonstigen Vorstellungen von Normalität, die sich oft auf das Alter beziehen; und es geht um Prekari- sierung – also die strukturellen Ausgrenzungen, die ökonomisch organisiert sind – die Liste ist nicht beliebig, aber auch nicht abgeschlossen. Gender Stu- dies versuchen, Ungleichheiten in ihrem spezifisch gesellschaftlichen Kon-

3 Race, class, gender, sex, ability usw., die Liste des Art. 3 Grundgesetz, die längere Liste des Art. 21 Abs. 1 der Grundrechtecharta der EU (wie des Art. 19 des Vertrages über die EU), die Listen des Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates und der Menschenrechts-Konventionen der Vereinten Nationen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 112 12.12.12 10:51 Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? 113

text zu verstehen; die Benachteiligung von Menschen ist danach ein komple- xes Geschehen, in dem regelmäßig mehrere Dimensionen von Ungleichheit eine Rolle spielen.

Das Grundgesetz und das generische Maskulinum

Feministische Forschung und Gender Studies fokussieren auch die Agenda politischer Emanzipationsbewegungen. Sie verknüpfen sich daher nahezu zwangsläufig mit den Menschenrechten und weiteren Elementen des Konsti- tutionalismus, die diese Bewegungen erkämpft haben und die heute als welt- weit fundamental gelten: Verfassungsrecht und Gender bilden eine Wahl- verwandtschaft. Die Verbindung zwischen Gender und Verfassungsrecht beschränkt sich daher nicht auf den Gleichheitssatz, genauer: das Grund- recht auf Gleichbehandlung und gegen Willkür und Diskriminierung. Es geht vielmehr um die gesamte Palette der Grund- und Menschenrechte, also politische, zivile, ökonomische und soziale Rechte. Zudem ist Gender ein Aspekt des Verfassungsrechts, wo es um Demokratie und demokratisch legi- timierte Institutionen, um Föderalismus und Mehrebenensysteme oder um Finanzverfassungsrecht geht. Wir sprechen schließlich über die Welt, nicht über eine Nische. Recht ist allerdings zunächst einmal Text. Daher nimmt die Antwort auf die Frage nach Gender im Verfassungsrecht ihren Ausgangs- punkt bei den Regeln, die ausdrücklich Geschlechterverhältnisse, gegebe- nenfalls auch im Zusammenhang mit weiteren Ungleichheiten, normieren. Ausdrücklich um das Geschlecht geht es in Artikel 3 des Grundgesetzes: Er sichert die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und benennt explizit das Geschlecht als verbotenes Diskriminierungsmerkmal. Ansons- ten bezieht sich das Grundgesetz – abgesehen von zwei Ausnahmen4 – weit- hin nur auf Männer, denn es ist explizit männlich formuliert: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“, „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstam- mung, seiner Rasse (....)“, „Jeder hat das Recht, seine Meinung (…)“, Durch- suchungen darf nur „der Richter“ anordnen, in Wohnungen, in denen sich „der Beschuldigte“ vermutlich aufhält, „jedermann hat das Recht“ zur Peti- tion. Sprachlich eindeutig auf Männer bezogene Formulierungen finden sich auch im staatsorganisationsrechtlichen Teil der Verfassung: die Einwohner (Art. 29), die Staatsbürger (Art. 33), die „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38), der Präsident des Bundestages (39), der Abgeordnete (46, 48, nicht aber 47: Plural), der Präsident des Bundesrates (52), der Bundespräsident (54-61), der Bundeskanzler und die Bundesminister (62 ff.). Die männliche Form soll in der heutigen Interpretation „natürlich“ für alle Menschen stehen, Frauen seien mit gemeint, so ist von ihren Verteidigern zu hören; Hinweise auf die Wirkmacht der Sprache seien übertrieben, „kosmetisch“. Das ist jedoch bes-

4 Der derzeit pausierende Artikel 12a des Grundgesetzes regelt, dass Männer zu bestimmten Diensten verpflichtet werden können und Frauen im Ausnahmefall zu einigen anderen; in Artikel 6 Absatz 4 geht es um die Mutter.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 113 12.12.12 10:51 114 Susanne Baer

tenfalls ignorant und schlechtestenfalls ideologisch borniert. Zu der Frage, wie Sprache unser Denken und unsere Wahrnehmung geschlechterbezo- gen prägt, und zur Frage, wie auch juristische Texte angemessener formu- liert werden können, gibt es umfangreiche Forschung, und für eine ange- messenere Praxis gibt es Handreichungen und Beispiele. Sie zeigen nicht nur, dass sich sprachliche Diskriminierung elegant auflösen lässt; schon im Grundgesetz wird, wenn auch selten, der Plural oder eine Passivkonstruk- tion benutzt. Soziolinguistische und psychologische Forschungen zeigen auch, dass auf der sprachlichen Ebene genau das tatsächlich explizit zum Ausdruck kommt, was im Kopf als paradigmatische Vorstellung existiert: das männliche Rechtssubjekt, der Bürger, der Grundrechtsträger, der Politiker. Spürbar problematisch wird die vergeschlechtlichte Textfassung von Recht jedenfalls in mindestens zwei Fällen. So wird sprachliche Einseitigkeit beson- ders dann sehr deutlich und regelmäßig aggressiv zurückgewiesen, wenn ein Text durchgängig weiblich formuliert wird und nun einmal Männer „mit“ gemeint sein sollen: Das Grundgesetz in durchgängig weiblicher Sprachform – die Einwohnerinnen, Staatsbürgerinnen und Vertreterinnen des ganzen Vol- kes, die Präsidentin des Bundestages, die Bundespräsidentin, die Bundesmi- nisterinnen? Das ist dann „völlig absurd“, da stößt der vorher schon leicht ver- krampfte Humor an eine Grenze. Der Text stößt auch an Grenzen, wenn sich gesellschaftliche Verhältnisse noch deutlicher als bisher verändern. Daher ist an Hochschulen (und auch in Rechtstexten) heute nahezu durchgängig von Studierenden die Rede und in der Politik werden Bürgerinnen und Bürger adressiert, denn nicht nur haben beide tatsächlich das Wahlrecht, sondern werden auch als relevante politische Subjekte wahrgenommen In der juristischen Praxis ist der soziale Druck, sich entsprechend zu ändern, demgegenüber deutlich geringer. Vielmehr wirkt Druck in Gerich- ten eher zugunsten der Tradition, die als neutral verteidigt wird. Untersu- chungen zu Richterinnen zeigen, dass sich Frauen sehr häufig gezwungen sehen, als de facto männlich aufzutreten, als honorary man, wie es eine Rich- terin am höchsten australischen Gericht einmal formulierte. In der Anwalt- schaft (nicht: Anwältinnenschaft) und auch in der Verwaltung herrschen ähnliche Verhältnisse. Je mehr Menschen künftig daran interessiert sind, inklusiv zu formulieren, desto mehr wird sich allerdings auch dort ändern.

Das Verfassungsrecht und der Wandel der Geschlechterverhältnisse

Es liegt nahe, im Verfassungsrecht auch die Regeln zu berücksichtigen, in denen zwar nicht ausdrücklich, aber doch offensichtlich anerkannt verge- schlechtlichte Verhältnisse geregelt werden. Das betrifft offensichtlich Arti- kel 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, der „Ehe und Familie“ unter den „beson- deren Schutz des Staates“ stellt. Hier geht es um das Private und damit in unserer Kultur um den Ort des Weiblichen, seit der Industriellen Revolution die Sphäre, in der nichts mehr produziert wird, sondern in der zumeist Frauen unbezahlt die Reproduktions- oder Sorgearbeit, die care-Arbeit, verrichten.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 114 12.12.12 10:51 Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? 115

Die Schutzbereiche der Grundrechte sind also geschlechtlich codiert, hier als weibliche Sphären Ehe und Familie. Die Codierung schlägt sich in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, aber auch im entsprechenden Regelungsregime nieder. Das Modell ist der Alleinernährer im Normalarbeitsverhältnis: Der regelmäßig besser bezahlte Mann5 ist aushäusig erwerbstätig und die regelmäßig schlecht bezahlte Frau ist selten überhaupt nicht und meist in Teilzeit oder auch illegalisiert und damit völlig „privat“ und rechtsschutzlos tätig6, sie führt immer auch den Haushalt, sorgt für die Kinder, hält ihm den Rücken frei. Dieses Modell prägt die Grundstrukturen des deutschen Arbeitsrechts: Es ist nur ein Erwerbs- arbeitsrecht, denn ein sehr großer Teil der Arbeit – Erziehungsarbeit, Pflege- arbeit, Beziehungsarbeit, Hausarbeit, also das gesamte Spektrum der Repro- duktionsarbeit – ist dort nicht geregelt. Wer „nur“ so arbeitet, wird heute zwar stärker denn je sozialrechtlich respektiert, doch wirkt sich die geschlechts- spezifische Rollenzuweisung auch im Sozialrecht oder im Steuerrecht – mit dem paradigmatischen Ehegattensplitting – aus und hinterlässt in weiteren Rechtsgebieten Spuren. Spürbar problematisch wird auch diese vergeschlechtlichte und tatsäch- lich diskriminierende Struktur des einfachen Rechts, wenn sich gesellschaft- liche Verhältnisse und die Vorstellungen der Menschen allzu stark verän- dern. Aktuelle Studien zeigen, dass Menschen heute sehr unterschiedliche Lebensentwürfe pflegen. Sie zeigen allerdings auch, dass sich junge Männer zwischen der Vorstellung gleichberechtigter Partner- und auch Elternschaft und dem Gefühl, doch noch der Alleinernährer und nicht zuletzt ein echter Mann in der beruflichen Karriere sein zu wollen oder zu müssen, hin- und hergerissen sehen und Frauen wiederum zwar Gleichberechtigung wollen, sich dann aber in genau diese „echten“ Männer verlieben. Hier sind die Dinge in ambivalenter Bewegung – jedenfalls entsteht sozialer Druck, etwas zu ändern. Rechtliche Änderungen müssen mit verfassungsrechtlichen Maß- stäben zu Fragen der Gestaltung von Beziehungen und Familien in Einklang stehen. Dann muss Artikel 6 des Grundgesetzes zu Ehe und Familie so ver- standen werden, wie es sich mit Artikel 3 des Grundgesetzes zur Gleichbe- rechtigung verträgt. Das ist allerdings keine Vorgabe, wie sich das alles am besten gestalten ließe. Verfassungsrecht ist kein politischer Perfektionismus. Vielmehr stellt sich nur die Frage, inwiefern Regelungen zwingend erforder- lich oder keinesfalls akzeptabel sind, ob der Gesetzgeber also im Lichte der Grund- und Menschenrechte gezwungen ist, etwas zu tun oder zu lassen. Gerade aus einer feministischen Perspektive ist es dabei besonders wich- tig, beide Optionen zu sehen: das Tun und das Unterlassen. Der Gesetzge- ber oder die Gerichte diskriminieren oft nicht selbst, sondern unterlassen es, gegen tatsächliche Diskriminierung vorzugehen. Das Problem sind dann die gesellschaftlichen Normalitäten, unter denen all jene leiden, die ihr Leben tatsächlich freiheitlich selbst bestimmen wollen. Asymmetrische, diskri-

5 Vgl. Ines Reich-Hilweg, 60 Jahre Grundgesetz: Das uneingelöste Versprechen, in „Blätter“, 5/2009, S. 88-96. 6 Vgl. Stefanie Visel, Hausangestellte im rechtsfreien Raum, in „Blätter“, 5/2012, S. 20-23.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 115 12.12.12 10:51 116 Susanne Baer

minierende Versionen von Gender, die sich juristisch und sozial verfestigt haben, müssen insofern verfassungsrechtlich dekonstruiert werden – eine höchst politische Operation. Für eine Deutung der Grundrechte, die all das berücksichtigt, musste in Deutschland vielfach das Bundesverfassungsgericht sorgen. Seit den 1950er Jahren hat es in zahlreichen Fällen entschieden, dass die Gleichberechti- gung zwischen Männern und Frauen auch in der Familie gilt, dass Gleich- berechtigung auch im Arbeitsrecht umzusetzen ist und dass auch typisch weibliche Biographien im Sozialrecht anerkannt werden müssen. Inwiefern es für das Recht überhaupt eine Rolle spielen darf, welches Geschlecht Eltern haben oder Menschen, die sich lieben, ist allerdings weiterhin umstritten. Zudem sind viele Diskriminierungen, die sich aus tradierter Ungleichheit und scheinbar neutralen Regeln ergeben, auch mangels Mobilisierung zu den Gerichten noch nicht beseitigt. Die Bedeutung von Gender im Verfassungs- recht erschöpft sich allerdings auch nicht im Blick auf diese Grundrechte, auf Art. 3 und 6 GG. Wer bei Ehe und Familie stehen bleibt, perpetuiert vielmehr die Reduktion des Weiblichen auf das Private. Eine systematische Analyse muss weiter reichen. Die Gender-Dimension der Verfassung lässt sich ins- besondere auch anhand der allgemeinen Freiheitsrechte, in Deutschland an Art. 2 Abs. 1 GG zeigen: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt.“ Nicht nur sprachlich bezieht sich dieser Satz auf Männer. Auch faktisch war und ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit vergeschlechtlicht. Das zivile Rechtssubjekt, der Bürger als Grundrechtsträger, als Mann, hatte his- torisch völlig andere Entfaltungsmöglichkeiten als die Frau, die bestenfalls im Institut der Ehe aufging, dort also ihre Subjektivität (und in Deutsch- land deshalb sehr lange auch ihren Nachnamen) verlor, und dann als Mut- ter „den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft“ genoss. Das bedeutet bis heute strukturell, dass sich Frauen aus der zivilgesellschaftlich zentralen öffentlichen Sphäre der Selbstentfaltung zurückziehen und im unbezahlten und sozial ungeschützten Bereich des Privaten verbleiben (was in Deutsch- land einen paternalistisch-bevormundenden Mutterschutz einerseits und die Straflosigkeit sexueller Gewalt in der Ehe andererseits begründete und heute die Frage strukturellen Ungleichgewichts im Vertragsrecht aufwerfen kann). Aber hier hat das Bundesverfassungsgericht Vieles verändert. Die Herausforderung, Gleichberechtigung durchgängig ernst zu nehmen, besteht jedoch weiterhin. Das zeigt sich am Beispiel des Art. 1 Abs. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Da steht der Mensch im Mittel- punkt, endlich und gegen die Schrecken nationalsozialistischer Herrschaft mit ihrem völkischen Rassismus. Das ist ein entscheidender Schritt in der großen Geschichte der Moderne, des Rechtsstaats, des Konstitutionalismus mit der Bindung an die Grundrechte. Doch muss auch dieses Fundament kri- tisch reflektiert werden. Historische Untersuchungen zeigen sehr deutlich, dass „Würde“ ein durchaus geschlechtsspezifisches Konzept ist: die Würde des Mannes, die schnell zur errungenen Ehre wird, ist dann ganz verschie- den von der Würde der Frau, die schnell zu Tugend, Sittsamkeit und Scham

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 116 12.12.12 10:51 Hat das Grundgesetz ein Geschlecht? 117

mutiert. Das zeigt sich in den kaum je systematisch, sondern nur selten skan- dalisierend geführten, vielfach aufgeladenen und daher äußerst schwierigen rechtspolitischen Diskussionen um Pornografie und um Prostitution. Verfas- sungsrechtlich geht es um Art. 5 GG (Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wis- senschaftsfreiheit) und um Art. 12 GG (Berufsfreiheit), aber immer auch um Schutz vor Diskriminierung, Selbstbestimmung und Menschenwürde. Sol- che Diskussionen könnten mit Hilfe der Gender Studies jedenfalls informier- ter ausgetragen werden.

Die Gender-Dimension im Staatsorganisationsrecht

Die Ausgangshypothese, dass Gender überall eine Rolle spielt, gilt zudem auch für das Staatsorganisationsrecht. Das ist bei dem im Grundgesetz garantierten Demokratieprinzip offensichtlich. So zeigt die Parlamentsfor- schung, dass die Praxis des Parlamentarismus von männerbündischen Ritua- len durchzogen ist. Sie belegt auch, dass sich die Organisation demokrati- scher Politik unterschiedlich auf die Beteiligungschancen von Männern und Frauen oder auf die Chance auswirkt, verschiedene Problemlagen auf die politische Agenda zu setzen – und zwar historisch zum Nachteil von Frauen sowie zum Nachteil derer, die als deviant oder krank oder sonst abnorm mar- kiert sind. Insofern Demokratie abstrakte Beteiligungschancen und auch tat- sächliche Mitsprache meint, muss das also Folgen haben. Es ging historisch ja immer auch darum, Mitsprache Schritt für Schritt inklusiver zu machen, bestenfalls sogar diskursiv-deliberativ, also beispielsweise Wahlrechte zu garantieren nicht nur für reiche weiße ältere männliche Staatsangehörige einer bestimmten Religionszugehörigkeit oder nicht nur für männlich und weiblich identifizierte Staatsangehörige. Und das gilt auch für andere For- men, denn direkte Demokratie ist keinesfalls automatisch inklusiver. Ein hard case ist demgegenüber das Finanzverfassungsrecht. Spielt Gen- der da eine Rolle? Die Forschung zum Gender Budgeting zeigt, dass und inwiefern Haushaltsentscheidungen Ungleichheit verfestigen oder auch auf- brechen können. Es gibt Rechtsordnungen, in denen geschlechterdifferen- zierte Folgenabschätzungen vorgeschrieben sind; in Deutschland fehlt das weithin. Aber dürfen in einer Verfassungsordnung, die Gleichberechtigung garantiert, Staatshaushalte regelmäßig zu Lasten von Frauen gestaltet oder sonst zum Nachteil der anderen Anderen werden? Dabei geht es zwar auch um die Frage, wo und warum welche Frauen keine Lobby haben, während männliche Interessen sich offensichtlich kaufen und verkaufen lassen. Darü- ber hinaus ist aber von Interesse, dass es sich beim Haushalt um angeblich geschlechtsneutrale Entscheidungen über Geld handelt. Auch diese These lässt sich mit Hilfe von Gender-Analysen als Schutzbehauptung entlarven.7 Es gibt heute eine sehr interessante Forschung zum Geschlecht des Geldes. Inwiefern sind die Finanzmärkte von Vorstellungen getrieben, die sich an

7 Vgl. Stefan Bajohr, Gender Responsive Budget oder Wie bilanziert sich Geschlecht? In: „Blätter“, 12/2004, S. 1484-1493.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 117 12.12.12 10:51 118 Susanne Baer

männlichen Selbstentwürfen orientieren – Spiel und Risiko, Sieg und Nieder- lage, Herausforderung und Rettung?8 Bislang fehlt eine Gender-kompetente Analyse des Länderfinanzausgleichs oder des Euro-Rettungsschirms. Das wäre wissenschaftlich zu untersuchen, so wie im Rahmen des Welthandels untersucht wird, inwiefern die großen Abkommen der WTO koloniale Züge tragen, also Ungleichheiten mit Blick auf Ethnizität und Geschlecht perpetu- ieren oder eben auch brechen können. Schließlich fragt sich, ob der Föderalismus etwas mit Gender zu tun hat. Die australische Rechtswissenschaftlerin Helen Irving wies in ihrer Studie „Gender and the Constitution“ im Jahr 2008 darauf hin, dass Zuständig- keitskataloge der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen häufig spiegeln, welche res publica als wichtig – und damit als universell gerecht zu gestaltend – angesehen werden und welche den Einzelstaaten oder loka- len Gemeinschaften überlassen werden können. Sie fand eine Einteilung in maskulin-nationale und feminin-lokale Zuständigkeiten. Der Supreme Court der USA hat im Jahr 2000 entschieden, dass Gewalt gegen Frauen nicht von nationaler Bedeutung ist. In zahlreichen Staaten werden personal laws als lokale Angelegenheit betrachtet und Familienrecht ist ein Regelungsbe- reich, in dem auch sonst universell Geltung beanspruchende Menschen- rechte schnell nationalen oder religiösen oder „kulturellen“ Einheiten als margins of appreciation überlassen und tatsächlich zu Lasten von Frauen und sexuellen Minderheiten relativiert werden. Wie stellen sich die Kataloge der Art. 72 ff. GG, die Bund und Ländern in Deutschland ihre Kompetenzen zuweisen, aus dieser Perspektive dar? Die rechtswissenschaftlichen Gender Studies, die feministische Rechts- kritik, stellt die Frage, inwiefern Recht vergeschlechtlicht ist – explizit oder implizit. Recht entpuppt sich dann vielfach als ein Instrument, um die Welt ungleich zu gestalten oder sie ungleich zu belassen. Feministische Rechts- wissenschaft stellt mit den Erkenntnissen der Gender Studies dann das ana- lytische Rüstzeug zur Verfügung, diese Verflechtung zwischen Recht und geschlechtsspezifischer Ungleichheit genauer zu untersuchen – nicht nur hinsichtlich der Grundrechte, sondern im gesamten Verfassungsrecht. Gen- der Studies beginnen also mit einem alltagsweltlich durchaus plausiblen in dubio, einem Zweifel: Insofern wir alle die Welt ganz wesentlich durch die Geschlechterbrille betrachten, ist es sinnvoll, dies auch wissenschaftlich zu beleuchten. Das Licht fällt damit auf die gesamte Rechtsordnung und auf die konkreten Kontexte, in denen wir uns mehr oder minder erkennbar normiert bewegen. Sie alle profitieren von kritischen Fragen, immer wieder auf den Spuren auch von Immanuel Kant: Kritik als Reflexion. Diese Kritik ermög- licht es nicht nur, diskriminierende Regeln zu beseitigen, sondern hilft auch bei der oft viel schwierigeren Aufgabe, reflektiert Recht zu setzen und Recht in Anwendung zu bringen: als Argument, als Regel, als Entscheidung. Damit ist die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gender auch ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit.

8 Vgl. auch Alexandra Scheele, Hat die Wirtschaftskrise ein Geschlecht?, in: „Blätter“, 3/2009, S. 26-28.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 118 12.12.12 10:51 BUCH DES MONATS

Krummes Holz und aufrechter Gang Von Wieland Elfferding

Grenzgängertum vom Schlage Reinhold Messners oder gar eines Felix Baumgart- ners, des Springers aus dem All, ist in unserer Erlebnisgesellschaft schon seit geraumer Zeit in Mode. Politisch die Seiten zu wechseln, kommt dagegen weniger gut an. Grenzgän- ger der Geschichte finden auf keiner Seite Pardon. Eine solche, zutiefst bewegende Ge- schichte eines politischen Grenzgangs er- zählt der Historiker Heiko Haumann. Hermann Diamanski, der von 1910 bis 1976 lebte, war gewiss keiner der ganz Großen der Geschichte und auch kein Held. Aber er war auch kein kleines Licht und kein Mitläufer. Als Jugendlicher in die KPD einzutreten, war das eine. Die Arbeit nach 1933 in der Illega- lität fortzusetzen, das andere. Was also alles Heiko Haumann und Hermann Diamanski: war Diamanski? Er war Seemann, Spanien- Überleben in der Katastrophe. eine deutsche kämpfer, Funktionshäftling in Auschwitz Geschichte zwischen Auschwitz und Staats- sicherheitsdienst, Böhlau Verlag, Köln 2011, und Buchenwald, Polizeileutnant der Volks- 443 Seiten. polizei in der DDR, Verfolgter der Stasi, Mit- arbeiter des US-Geheimdienstes, Zeuge im ersten Auschwitzprozess in Frankfurt am Main. Wie aber passt das alles, die- ser wiederholte Seitenwechsel, in ein Leben hinein? Diese Frage zu stellen, heißt, eine Antwort auf eine andere Frage zu geben: Warum erscheint uns dieses Leben heute so ungewöhnlich? Weil wir die Geschichte und ihre Personen längst eingeteilt haben nach dem Schema Rechts und Links, West und Ost, Gut und Böse. Das wirkliche Leben aber fügt sich selten den Einteilungen der Nachgeborenen. Nur als Funktionshäftling unter dem Auftrag und der besonderen Beob- achtung der SS konnte es einem wie Diamanski gelingen, Menschen zu ret- ten, die bereits der Gaskammer zugeteilt waren. Wie sollte das ohne Lavie- ren, ohne ein Quäntchen, mitunter auch ein Quantum Mitmachen gehen? Durch Diamanski wurden Menschen vor der Deportation von Buchenwald

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 119 12.12.12 10:51 120 Buch des Monats

nach Auschwitz gerettet, aber nur um den Preis, dass andere für sie in den Tod gehen mussten. Haumann arbeitet heraus, wie solche Menschen, nach- dem sie von den Nazis entmenscht und zur Sache gemacht wurden, im Streit der politischen Erinnerungskulturen noch einmal funktionalisiert werden, damit sie in ein Schema passen. Der Fall des 1944 vierjährigen Stefan Jerzy Zweig, durch Bruno Apitz Roman „Nackt unter Wölfen“ weltberühmt gewor- den, wurde von der DDR zum Teil des Buchenwald-Mythos gemacht, vom Westen nach 1990 im Streit um die Rolle der kommunistischen Funktions- häftlinge skandalisiert und, durch Namensstreichung auf der Erinnerungs- tafel im KZ Buchenwald, erneut aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht.

Auschwitz – die Zerstörung der Identität

120 der über 400 Seiten des Buches handeln von Diamanskis Haft in Ausch- witz. Da kommt Vieles vor, das dem Gedächtnis der Heutigen entfallen ist: die Versuche, den zerstörten politischen Zusammenhalt in Widerstands- zellen wieder aufzubauen, ein Widerstand, der von den kleinen, aber unend- lich wichtigen Dingen des Alltags bis hin zu bewaffneten Aktionen reichte. Das KZ-System bedeutete die Zertrümmerung aller Grenzen und Einteilun- gen, die in einem normalen Leben Halt und Orientierung geben, die Verrü- ckung aller Maßstäbe, was menschengemäß und menschenmöglich ist. Niemand kam da heraus ohne tiefe Schäden an der eigenen Person, ohne eine Zerstörung der eigenen Identität. Für Diamanski war es schwer, in das Leben der Nachkriegsgesellschaften hineinzufinden. Die Kommunisten waren in der DDR, in die der „Held“ dieses Buches ging, tief gespalten – in die moskautreuen und die misstrauisch beobachteten Remigranten aus dem Westen. Diamanski gehörte als Spanienkämpfer zu den letzteren. Der Kalte Krieg vertiefte diese Spaltungen, schließlich gerieten nicht wenige Genos- sen unter die Bespitzelung und Verfolgung durch die Stasi. Diamanski ging rechtzeitig in den Westen, wo er jedoch auch nie richtig ankam. Der Kampf um die Anerkennung seiner Leiden aus der Zeit der Verfolgung und KZ-In- haftierung sowie um „Wiedergutmachung“ dauerte zwei Jahrzehnte, wäh- rend ehemalige Nazi-Funktionäre und SS-Leute längst wieder in Saus und Braus lebten. So gehörte Diamanski zu einer Generation, die nicht nur alle Höllen der jüngeren deutschen Geschichte durchmachte, sondern der auch die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft genommen wurden, sei es die auf eine bessere Gesellschaft in der DDR, sei es die auf eine gerechtere in West- deutschland. Beschädigungen und Lebenshunger, Leiden und Sichdurchschlagen prä- gen Diamanskis Nachkriegsjahre. Nach 1945 taucht er in den Dokumenten zuerst einmal mit seinem Rufnahmen Helmuth auf. Doch hieß er nun, wie früher in Danzig, Dimanski oder Diamanski? War er, wie er nach dem Krieg angab, am 4. Mai 1909 geboren oder am 16. November 1910? In Danzig oder in Berlin? Wer, kurzum, ist eigentlich Hermann Diamanski? Heiko Hau- mann hat eine langjährige mühsame Spurensuche hinter sich. Wie oft musste

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 120 12.12.12 10:51 Buch des Monats 121

Hermann Diamanski seine Identität wechseln oder sie zumindest gegenüber Verfolgern, gegenüber ungeliebten Mitwissern, vielleicht auch zum Schutz geliebter Personen verschleiern? Wer ist jemand schließlich, der zwischen seinem 23. und 35. Lebensjahr durch ganz Europa gereist und geflüchtet ist, die Fronten mehrfach durchqueren musste, der unterzutauchen und wieder aufzutauchen verstehen musste?

Ein dünnes Netz aus Solidarität und Unterstützung

Gründe für historische Unschärfen gibt es viele. Dazu gehören auch die Behörden, ohne deren Feststellung und Anerkennung kein Datum, kein Name und letztlich keine Tatsache etwas gilt. Um die Lücken in der Doku- mentation und Selbstauskunft seiner Hauptperson zu schließen, lässt Hau- mann eine Schar von Zeitgenossinnen und -genossen auftreten, die ähnliche Schicksale hatten und mit Diamanski auf die eine oder andere Weise zusam- menkamen. So entsteht auf den Seiten dieses Buches noch einmal das Netz von Beziehungen, von Solidarität und Unterstützung, das einen wie Dia- manski zwar immer wieder gehalten hat, das aber doch so dünn und rissig war. Haumanns Geschichte scheint für die Zeit der Lektüre die realen Kräf- teverhältnisse umzukehren und ein anderes Deutschland auf den Plan zu rufen. Wo der Mantel der Geschichte Löcher hat, stopft sie der Autor mit dem Wissen um die weitere historische Umgebung. Wo die Zeugen schweigen, ruft er diejenigen in den Zeitzeugenstand, die die Kraft und die Stimme hat- ten und die nicht überhört werden konnten – so einen Wolfgang Abendroth, von dem wir nicht wissen, ob Diamanski ihm begegnet ist, dem er aber unbe- dingt begegnet sein könnte, weil sich ihre Zeitgenossenschaft an mehreren Orten ineinander verschlingt, von der Nazizeit bis in die Zeit der Außerpar- lamentarischen Opposition und der Studentenbewegung. Nicht nur, dass der Autor immer wieder selbst das Wort ergreift, sich bei der Deutung der Quellen über die Schulter schauen lässt, Stellung bezieht und wertet, nein – in der Verwebung der individuellen Geschichte seines Antihelden in die deutschen Nachkriegsgesellschaften werden wir, die Leser und Leserinnen, unwillkürlich zu Koproduzenten. Darf Zeitgeschichte das? Taucht sie die so umstrittenen Abschnitte der deutschen Geschichte, im Modus einer politischen Biographie, nicht ins Sub- jektive? Verstößt sie mit der unübersehbaren Parteilichkeit der Darstellung nicht gegen das Grundgesetz der Historikerzunft? Am Ende seines Buches nimmt Heiko Haumann zu diesen Fragen Stellung. Die komplexe Geschichte Deutschlands in einer Biographie einzufangen, bedeutet, Strukturgeschichte und Einzelerleben ins Verhältnis zueinander zu setzen. Eins zu eins ginge das nur um den Preis der falschen Verallgemei- nerung oder der Subjektivierung der übergreifenden Zusammenhänge. Die Alternative ist anstrengend in einer Zeit, da Auschwitz, SS, DDR, Stasi aus der Entfernung immer mehr auf Abziehbilder in schwarz-weiß einschrump- fen. Sie fordert den Lesern ab, den andauernden Wechsel der Ebenen mitzu-

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 121 12.12.12 10:51 122 Buch des Monats

machen, sich auf die Vielfalt der Perspektiven einzulassen und auf die eine, glatte Geschichte zu verzichten, zugunsten mehrerer Geschichten mit ihren Lücken, Brüchen und Widersprüchen.

„Es braucht Raum für das Unverständliche, das Dunkle, das Unbestimmte“

Das verunsichert. Wie kann Diamanski, derselbe, der sich für die „Zigeu- ner“ in Auschwitz in die Bresche wirft, sein Weihnachtspäckchen mit einem SS-Mann teilen? Wie kann er während des Auschwitz-Prozesses mit seiner Position als Kommunist im Lager hinterm Berg halten? Und wie kann ein Autor mit seiner Figur umgehen, die ihm selbst teils unverständlich, wenn nicht mitunter unheimlich werden muss? „Es braucht Raum für das Unver- ständliche, das Dunkle, das Unbestimmte.“ Der Historiker muss verstehen wollen, muss seiner Figur ganz nahe kommen, und er muss Distanz halten können und jene an den Maßstäben der übergreifenden Zusammenhänge messen. In die Lücken, in das Stottern der Geschichtserzählung strömt Wahr- heit ein. „Gerade in den Augenblicken der Fassungslosigkeit kommt uns Geschichte besonders nahe.“ Auf schwierigem Gelände hält der Historiker Kurs durch die unbeirrte Anwendung seines Handwerks. Wer sich für dieses Handwerk näher inter- essiert, findet in zwei weiteren Bänden des Autors reichliches und spannen- des Material. Das eine (Lebenswelten und Geschichte. Zur Theorie und Pra- xis der Forschung, Böhlau Verlag, Köln 2012, 533 S.) enthält die reflektierte Summa eines Historikers, der vor Jahrzehnten schon mit dem „Räuber Hot- zenplotz“ durch den regional- und alltagsgeschichtlichen Ansatz die Vogel- perspektive der „großen Geschichte“ mit den scheinbar kleinen Geschichten der Leute tauschte. Das andere (Schicksale. Menschen in der Geschichte. Ein Lesebuch, Böhlau Verlag, Köln 2012, 468 S.) breitet das Material von Hau- manns Beschäftigung aus – von den Stachanovarbeitern über die ausgewan- derten osteuropäischen Juden bis zu den Menschen im Dreiländereck. Haumanns „Diamanski“ aber ist ein Hochamt der Geschichtswissen- schaft: stupende Belesenheit, penible Gewichtung der Quellen, souveräner Überblick. Autoreneitelkeit – ein Fremdwort für Haumann, der seine Kol- leginnen und Kollegen, seine Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen lässt, der die vielen helfenden Zeitzeuginnen und Archivare herbeizitiert und mit Dank würdigt. Gewiss mögen manche Leser doch etwas ungeduldig werden, wenn alle paar Seiten in den Fußnoten auf vorangehende oder noch kommende Kapitel und Abschnitte des Buches verwiesen wird, wenn sich die Verweise auf Zeiten und Orte häufen, an denen Personen schon einmal auftauchten. So aber spinnt sich um eine Geschichte, die von ihrem Gegen- stand und ihren objektiven Bedingungen her prekär bleibt und auseinander- zufallen droht, ein immer dichteres Netz, eine Art Kokon von Bezügen und Bedeutungen, der uns, die wir nachgeboren sind, bei aller Kälte der in Frage stehenden Zeit, fast heimisch werden lässt. Da könnte so etwas wie Sinn ent- stehen in einem Leben, dessen Sinn mehr als einmal in Frage stand.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 122 12.12.12 10:51 Anzeige

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 123 12.12.12 10:51 dOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Freiheit braucht Beistand« Aufruf der Nichtregierungsorganisation Medico International und der Kampagne Adopt a Revolution zur Unterstützung des zivilen Widerstandes in Syrien, 10.12.2012

• »Umstrittene Minijobs« Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu Minijobs, 10.12.2012

• »Ich bin stolz, Europäer zu sein« Rede des Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, anlässlich der Ver- leihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union, Oslo, 10.12.2012

• »Ja, ich bin stolz, ein deutscher Sozialdemokrat zu sein« Rede des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück auf dem SPD-Parteitag in Hannover, 9.12.2012

• »Was wir geschafft haben, das sucht seinesgleichen« Rede der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden Angela Merkel auf dem CDU-Partei- tag, 4.12.2012

• »Nein zur Ratifizierung des Freihandelsabkommens« Offener Brief verschiedener Nichtregierungsorganisationen an die Abgeordneten des EU-Parlaments anlässlich der Abstimmung zum geplanten Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien, 3.12.2012

• »Keine konkreten Fortschritte« Bericht der Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (GRECO) zu Deutschland, 28.11.2012

• »Internationale Anwaltselite verdient Millionen mit Klagen gegen Staaten« Studie der Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory zu Investitions- schutzklagen gegen Staaten, 27.11.2012 (engl. Originalfassung)

• »Die Freiheit im Internet ist in Gefahr« Petition des Internationalen Gewerkschaftsbundes gegen die Einschränkung der Rechte der Internetnutzer, 27.11.2012

• »Daran kann keiner ein Interesse haben« Stellungnahme des Max-Planck-Instituts zum Gesetzesentwurf für ein Leistungsschutz- recht für Verleger, 27.11.2012

• »Menschenrechte mit nationalen Sicherheitsinteressen abwiegen« Menschenrechtserklärung der Südostasiatischen Staatengemeinschaft (ASEAN), Phnom Penh/Kambodscha, 19.11.2012 (engl. Originalfassung)

• »Eine Erderwärmung um vier Grad Celsius muss verhindert werden« Bericht des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung im Auftrag der Weltbank, November 2012 (engl. Originalfassung)

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 124 12.12.12 10:51 Chronik des Monats November 2012

1.11. – Syrien-Konflikt. Während sich UN- ausländischer Diplomaten heißt es, auch an- Vermittler Brahimi weiter um einen Waffen- dere Repräsentanten der Autonomiebehörde stillstand bemüht (vgl. „Blätter“, 12/2012, hätten schon mehrfach das Rückkehrrecht als S. 109), halten die Kämpfe zwischen Regie- Verhandlungsgegenstand bezeichnet. – Am rungstruppen und der bewaffneten Opposi- 14.11. löst Israel mit der gezielten Tötung tion in Syrien unvermindert an. Die Luftwaf- eines führenden Hamas-Funktionärs durch fe greift Ziele in verschiedenen Teilen des eine Drohne mitten in Gaza-Stadt eine Spi- Landes und in den Vororten der Hauptstadt rale der Gewalt aus. Auf israelischem Gebiet Damaskus an. Die Organisation Syrischer gehen zahllose Raketen aus dem Gazastrei- Menschenrechtsbeobachter veröffentlicht fen nieder, die auch die Umgebung von Tel ein Video, das die Hinrichtung gefangener Aviv und Jerusalem erreichen. Die israeli- Soldaten durch eine Rebelleneinheit zeigen sche Armee antwortet mit einem Bombenha- soll. Das Internationale Komitee vom Roten gel aus der Luft und von See her („Operation Kreuz (IKRK) in Genf beklagt am 8.11. die Wolkensäule“), der vor allem in Gaza-Stadt kritische Lage der Menschen, die sich trotz verheerende Schäden anrichtet und zahl- verstärkter Hilfseinsätze immer mehr ver- reiche Tote und Verletzte fordert. In Tel Aviv schlechtere. – Am 9.11. verbreitet der Fern- wird in der Nähe des Verteidigungsministe- sehsender „Russia Today“ das längere Ge- riums ein Bombenanschlag auf einen Linien- spräch einer Journalistin mit dem syrischen bus verübt. Der ägyptische Präsident Mursi Präsidenten Assad. Zu im Ausland umlau- erreicht einen Waffenstillstand, der am 21.11. fenden Gerüchten erklärt Assad, er werde in Kraft tritt. In die tagelangen Verhandlun- in Syrien leben und auch sterben. Er rech- gen schalten sich vor Ort auch US-Außen- ne nicht mit einer Militärintervention des ministerin Clinton und UN-Generalsekretär Westens. Die Kosten wären nicht tragbar Ban ein. Präsident Obama telefoniert mit Re- und „würden einen Dominoeffekt haben“. gierungschef Netanjahu, um Israel zum Ein- Gleichzeitig wird berichtet, in den letzten lenken zu bewegen. – Am 26.11. vermittelt Tagen hätten sich 26 Offiziere, darunter zwei Ägypten in Kairo indirekte Gespräche zwi- Generäle, mit ihren Familien vom Regime schen Israel und der Hamas-Regierung, bei losgesagt, mehr als 120 000 Flüchtlinge hät- denen es um die israelische Blockade des Ga- ten im Nachbarland Türkei Schutz gefun- zastreifens, um die Öffnung der Grenzüber- den. – Am 11.11. einigen sich verschiedene gänge für Personen und den Güterverkehr Oppositionsgruppen nach einwöchigen Ver- geht. – Am 30.11., einen Tag nach der An- handlungen in Katar auf die Gründung einer erkennung der Staatlichkeit der Palästinen- Dachorganisation. Den Vorsitz des neuen ser durch die UN-Generalversammlung, kün- Gremiums („Syrische Nationale Koalition digt Israel den Bau von 3000 neuen Wohnein- für oppositionelle und revolutionäre Kräfte“) heiten in den besetzten Gebieten an. übernimmt der Islamwissenschaftler Maath 6.11. – USA. Barack Obama, der 44. Präsi- al-Khatib, der am 13.11. die Staaten Europas dent der Vereinigten Staaten von Amerika, auffordert, die Koalition als legitime Regie- wird für eine zweite Amtszeit gewählt. Nach rung Syriens anzuerkennen und das Bündnis Auszählung in den Bundesstaaten entfallen mit Mitteln zu versorgen, um Waffen für den von den 538 Elektorenstimmen 332 auf Oba- Sturz Präsident Assads zu kaufen. ma (Kandidat der Demokraten) und 206 auf 2.11. – Naher Osten. Das israelische Fernse- Mitt Romney (Kandidat der Republikaner). hen gibt eine Äußerung von Palästinenser- Das vorgeschriebene Minimum liegt bei 270 präsident Abbas wieder, Palästina bestehe Elektorenstimmen. Bei zeitgleichen Teilwah- für ihn aus dem Gazastreifen, dem Westjor- len zum Kongress können die Demokraten danland und Ostjerusalem. Die Hamas-Füh- im Senat und die Republikaner im Repräsen- rung protestiert: diese Stellungnahme be- tantenhaus ihre bisherige Mehrheit verteidi- deute einen Verzicht auf das Rückkehrrecht gen. (Zum Ergebnis der Wahl von 2008 vgl. für palästinensische Flüchtlinge. In Kreisen „Blätter“, 1/2009, S. 125.)

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 125 12.12.12 10:51 126 Chronik

– EU. Der Europäische Gerichtshof zweitägiger Generalstreik statt, zu dem die (EuGH) in Luxemburg verurteilt Ungarn Gewerkschaften aufgerufen hatten. wegen des Verstoßes gegen das Diskrimi- 8.-15.11. – China. In der Pekinger Großen nierungsverbot. Die EU-Kommission hatte Halle des Volkes stellt die Kommunistische gegen ein Gesetz der Regierung Orban ge- Partei die Weichen für einen Führungs- und klagt, das die vorzeitige Pensionierung von Generationswechsel. Der scheidende Vor- Richtern und Staatsanwälten erlaubt. – Am sitzende Hu Jintao würdigt in seiner Eröff- 19.11. begrüßen die Außenminister bei nungsrede vor dem 18. Parteitag die Errun- einem Treffen in Brüssel die Bildung der Na- genschaften des „Sozialismus chinesischer tionalen Koalition der syrischen Opposition Prägung“. Hu warnt vor der grassierenden als „legitimen Vertreter der Wünsche des sy- Korruption als tödliche Gefahr für Staat und rischen Volkes“. – Am 22. und 23.11. befasst Partei. Die 2270 Delegierten wählen in gehei- sich ein Sondergipfel der Staats- und Regie- mer Abstimmung ein neues Zentralkomitee rungschefs in Brüssel mit dem Finanzrahmen und eine neue Kommission für Disziplin und der Europäischen Union für die Jahre 2014 Inspektion und beschließen Änderungen an bis 2020 in Höhe von über einer Billion Euro. den Parteistatuten. Neuer Parteivorsitzender Wegen tiefgreifender Differenzen zwischen wird Xi Jinping, der von Hu auch das Amt den Nettozahler- und Empfängerstaaten des Staatsoberhaupts übernehmen soll. wird die Entscheidung vertagt. – Am 27.11. 9.11. – Ägypten. Auf dem Tahrir-Platz in Kai- einigt sich die Euro-Gruppe mit der Euro- ro beginnen die Salafisten mit einer Groß- päischen Zentralbank (EZB) und dem Inter- kundgebung eine Kampagne für die strikte nationalen Währungsfonds (IWF) auf die Anwendung der islamischen Scharia. In der Freigabe weiterer Hilfszahlungen für Grie- neuen Verfassung dürfe nichts stehen, „was chenland im Gesamtumfang von zunächst dem Koran widerspricht“. – Am 22.11. greift 44 Mrd. Euro. Dazu gehören eine Fristver- Präsident Mursi massiv in die Kompetenzen längerung für Sparauflagen und verlängerte der Justiz ein, entlässt den Generalstaatsan- Laufzeiten für Darlehen mit Zinssenkungen. walt und erklärt seine Dekrete bis zur Wahl Außerdem wird ein Rückkaufprogramm eines neuen Parlaments für gerichtlich unan- für griechische Staatsanleihen aufgelegt. fechtbar. Die Oppositionsparteien formieren Details bleiben offen. – Am 28.11. erläutert sich, um gemeinsam die „diktatorischen“ Kommissionspräsident Barroso Reformpläne Vollmachten des Präsidenten zu bekämpfen für die Wirtschafts- und Währungsunion und und deren Rücknahme zu verlangen. Der plädiert für einen Schuldentilgungsfonds so- Hohe Justizrat, Ägyptens höchste Justizins- wie kurzfristige gemeinsame Staatsanleihen tanz, bezeichnet Mursis Vorgehen am 24.11. der Euro-Staaten (Eurobills). Ein EU-Schatz- als beispiellosen Angriff auf eine unabhän- amt solle die Haushaltskontrollen überneh- gige Rechtsprechung, der Präsident spricht men. Das Ziel könne ein eigener Etat der von einer befristeten Maßnahme zur Durch- Eurozone sein. – Am 30.11. teilt das EU-Sta- setzung von Reformen. Auf dem Tahrir-Platz tistikamt in Luxemburg mit, die Arbeitslosig- findet am 27.11. die größte Kundgebung seit keit im Euroraum habe im Oktober d.J. mit Beginn der Revolution im Januar 2011 statt 18,8 Millionen und einer Quote von 11,7 Pro- (vgl. „Blätter“, 3/2011, S. 127). „Das Volk will zent einen Höchststand erreicht. Besonders den Sturz des Regimes“, rufen die Demons- betroffen seien Griechenland und Spanien. tranten, und auf Transparenten ist zu lesen: 7.11. – Libyen. Das Parlament regelt mit „Die Muslimbrüder haben die Revolution einem Gesetz die Demonstrationsfreiheit. gestohlen.“ – Am 29./30.11. entscheidet die Künftig müssen die Veranstalter einer Kund- nach dem Rückzug der Opposition von Is- gebung die Behörden 48 Stunden im Voraus lamisten dominierte Verfassunggebende informieren und drei Verantwortliche für die Versammlung in einer Nachtsitzung im Eil- Organisation benennen. In Ausnahmefällen verfahren über die 234 Artikel einer neuen kann eine Demonstration verboten werden. Verfassung. Die „Prinzipien der Scharia“, so 7./8.11. – Griechenland. In nächtlicher Sit- heißt es darin, seien die „wichtigste Quelle zung stimmt das Parlament mit knapper der Gesetzgebung“. Mehrheit (153 von 300 Abgeordneten) neuen – OSZE. Das Büro für Menschenrechte drastischen Sparbeschlüssen im Umfang und Demokratische Institutionen der Organi- von 13,5 Mrd. Euro zu. Landesweit findet ein sation für Sicherheit und Zusammenarbeit in

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 126 12.12.12 10:51 Chronik 127

Europa übt in einem Bericht über die Parla- 22.11. – NATO. Generalsekretär Rasmussen mentswahlen in der Ukraine am 28. Oktober befürwortet in einem Vortrag an der Univer- d.J. Kritik. Bei 77 der 161 von Wahlbeobach- sität Zürich eine engere Zusammenarbeit tern besuchten Bezirke sei die Verarbeitung der Allianz mit der neutralen Schweiz. Die und Auswertung der abgegebenen Stimm- „Neue Zürcher Zeitung“ berichtet, die Re- zettel intransparent gewesen, u.a. habe man gierung habe Rasmussen bei einem Arbeits- die Existenz von blanko unterzeichneten besuch in Bern Interesse an einem engeren Protokollen festgestellt. Die regierungsnahe Dialog signalisiert. Zeitung „Kyiv Post“ richtet heftige Angriffe 26.11. – Ungarn. Gegen den Widerstand der gegen die OSZE-Vertreter. Die Ukraine soll Oppositionsparteien beschließt das Parla- im Jahr 2013 den Vorsitz der Organisation ment eine im In- und Ausland heftig kriti- übernehmen. sierte Wahlrechtsreform. Die Vorlage der 13.11. – Bundesregierung. Bei einem Besuch Regierung Orban wird mit 251 gegen 91 in Mazar-i-Sharif äußert sich Bundesverteidi- Stimmen bei einer Enthaltung angenommen. gungsminister de Maiziere vor Journalisten Die Wähler müssen sich künftig alle vier Jah- zum künftigen Engagement der Bundeswehr re für die Stimmabgabe registrieren lassen, in Afghanistan: „Es kommt zu einer deut- Wahlwerbung wird eingeschränkt, Werbe- lichen Reduzierung.“ Das Anfang nächsten spots im privaten Fernsehen sind verboten. Jahres fällige neue Mandat sehe zunächst 27.11. – Portugal. Mit Regierungsmehrheit eine Truppenstärke von 4400 vor: „Wie das und gegen das Votum der Opposition verab- neue Mandat Anfang 2014 endet, da müssen schiedet das Parlament den angekündigten Sie sich noch ein bisschen gedulden.“ Sparhaushalt für 2013 mit Steuererhöhun- 14.11. – Russland. Mit der Veröffentlichung gen und Einschnitten im Sozialbereich. Vor in der „Rossijskaja Gaseta“ tritt ein Gesetz in dem Parlamentsgebäude in Lissabon protes- Kraft, das die Zusammenarbeit mit interna- tieren Tausende. tionalen Organisationen mit Strafe bedroht, 29.11. – UNO. Palästina wird „Beobachter- wenn Sicherheitsinteressen des Staates staat“ (Non-Member Observer State) in den betroffen sind. Nach Meinung von Bürger- UN-Organen. Die Resolution „Der Status rechtlern soll das Gesetz der Unterdrückung Palästinas in den Vereinten Nationen“ erhält und Einschüchterung der Opposition dienen. 138 Stimmen, neun Gegenstimmen, darunter 19.11. – Türkei. Justizminister Sadullah Ergin die USA und Israel, bei 41 Enthaltungen. Von bestätigt Berichte über vertrauliche Kontakte den 27 Mitgliedern der Europäischen Union mit dem inhaftierten Vorsitzenden der ver- stimmen 14 dafür, nur Tschechien stimmt da- botenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Ab- gegen, zwölf EU-Mitglieder enthalten sich, dullah Öcalan. Ein PKK-Sprecher erklärt, die darunter Deutschland. Vor der Abstimmung kurdische Frage könne durch einen Dialog wirbt Palästinenserpräsident Abbas vor den gelöst werden: „Wir sind zum Dialog bereit.“ Vertretern der 193 Mitgliedstaaten, die Ver- – Kongo. Bewaffnete Milizen verdrän- sammlung sei aufgerufen, die „Geburts- gen die Regierungstruppen aus der Stadt urkunde“ eines Staates auszustellen. Die Goma an der Grenze zu Ruanda und erobern Resolution erinnert an den Antrag der Paläs- auch den Flughafen. Der UN-Sicherheitsrat, tinenser auf Vollmitgliedschaft, der seit Sep- der schon am 19.10. die „destabilisierenden tember 2011 dem Sicherheitsrat vorliegt (vgl. Aktivitäten“ des Mouvement du 23. mars „Blätter“, 11/2011, S. 126). (M23) im Osten der Demokratischen Repu- 30.11. – Bundestag. Das Parlament stimmt blik Kongo verurteilt hatte, ruft am 20.11. zu dem neuen 44 Mrd. Euro Hilfspaket für Sanktionen gegen die M23 auf. Ohne die Griechenland mit 473 Stimmen bei 100 beiden Nachbarländer Uganda und Ruanda Gegenstimmen und elf Enthaltungen zu. namentlich zu nennen, fordert der Rat ein En- Gegenstimmen kommen aus allen Fraktio- de der ausländischen Unterstützung der Re- nen, die Linke stimmt geschlossen mit Nein. bellenbewegung. Jean-Marie Runiga, Chef Bundesfinanzminister Schäuble verteidigt von M23, deutet am 27.11. die Bereitschaft zu das Paket, sollte die Eurozone zerbrechen, Verhandlungen mit der Regierung, und zum würde dies eine weltweite Wirtschaftskrise Rückzug aus Goma an, um einer Forderung auslösen. Im kommenden Jahr werde der der Konferenz der Großen Seen, eines regio- Bundeshaushalt mit Mindereinnahmen von nalen Machtblocks, nachzukommen. 730 Mio. Euro belastet.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 127 12.12.12 10:51 Zurückgeblättert... In der Januar- und Februar-Ausgabe 1953 analysierte der Rechtsprofessor und spätere Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP) die „Spiegel“- Affäre vor dem Hintergrund des langen Kampfes um die Pressefreiheit und ihrer immer wiederkehrenden Gefährdungen (Pressefreiheit und Landesver- rat, Teil I, „Blätter“, 1/1953, S. 26-34; Teil II, „Blätter“, 2/1953, S. 107-112).

Die Texte finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de.

Die Blätter für deutsche und internationale Politik erscheinen als Monatszeitschrift.

Verlag: Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, Torstraße 178, 10115 Berlin; Postfach 540246, 10042 Berlin Amtsgericht Berlin Charlottenburg HRB 105991 B Finanzamt für Körperschaften II, Berlin St.-Nr. 37/239/21010 Gesellschafter: Daniel Leisegang, Albrecht von Lucke, Annett Mängel, Dr. Albert Scharenberg Geschäftsführerin: Annett Mängel, Telefon 030/30 88 - 36 43, Fax 030/30 88 - 36 45 Bankverbindung: Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Kto. 147 993-502 IBAN: DE543701 0050 0147 9935 02 Vertrieb: Berit Lange-Miemiec, Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 54 02 46, 10042 Berlin

Telefon 030/30 88 36 44, Fax 030/30 88 - 36 45 E-Mail: [email protected], Internet: www.blaetter.de Redaktion: Daniel Leisegang, Albrecht von Lucke, Annett Mängel Anne Britt Arps (Volontärin) Anschrift: Torstraße 178, 10 115 Berlin; Postfach 54 02 46, 10 042 Berlin Telefon 030/30 88 - 36 40 (Zentrale), - 36 41 (Arps),- 36 42 (v. Lucke), - 36 43 (Mängel), - 36 46 (Leisegang) Fax 030/30 88 - 36 45, E-Mail: [email protected] Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung des Verfassers wieder und stellen nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion dar. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Bücher etc. keine Gewähr. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Auflage: 10000 Anzeigen: Telefon 030/30 88 - 36 44. Es gilt Anzeigenpreisliste Nr. 22. Druck: LOCHER Print- & Medienproduktion, Lohmar

An dieser Ausgabe wirkten als Praktikantinnen Nona Bledow und Jana Holz mit.

Blätter-Gesellschaft: Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., vormals abgekürzt „Blätter-Förderverein“, gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die Blätter für deutsche und internationale Politik heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die „Blätter“ erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 10 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 54 02 46, 10042 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank (BLZ 500 333 00), Kto. 1028 171 700. Preise: Einzelheft 9,50 Euro, im Abonnement jährlich 79,80 Euro (ermäßigt 62,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint jeweils im Dezemberheft. Heft 2/2013 wird am 1.2.2013 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013

201301_Blätter.indb 128 12.12.12 10:51 Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Susanne Baer, geb. 1964 in Saar- Uli Gellermann, geb. 1945 in Düssel- brü cken, Dr. iur., Professorin fü r Öf- Anzeige dorf, Journalist und Filmemacher. fentliches Recht und Geschlechter- studien an der Humboldt-Universität Patrick Hönig, geb. 1966 in Köln, Berlin und Professorin an der Michi- Dr. iur., Gastprofessor an der Akade- gan Law School, Richterin am Bundes- mie für Internationale Beziehungen AUSSCHREIBUNG verfassungsgericht. Jamia Millia Islamia in Neu Delhi (2006-2012) und freier Publizist. Florian Bernhardt, geboren 1974 in Die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Berlin, Dr. phil., Islamwissenschaftler. Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, Erwachsenenbildung (GPJE) lobt aus: freier Journalist in Berlin. Reinhard Blomert, geb. 1951 in Rhei- ne/Westfalen, Dr. rer. pol. habil., wiss. Daniel Leisegang, geb. 1978 in Unna, Ursula-Buch-Preis 2013 Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Politikwissenschaftler, „Blätter“-Re- Berlin, Redakteur der Zeitschrift „Le- dakteur. viathan“. Der Preis wird ausgelobt für herausragende Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- politikdidaktische Dissertationen und Forschungsarbeiten von Siegfried Broß, Prof. Dr. Dr. h.c., geb. gelheim am Rhein, Jurist und Politik- promovierten Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. 1946 in Stuttgart, Richter des Bundes- wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. verfassungsgerichts a.D. und Honorar- professor an der Universität Freiburg. Claus Offe, geb. 1940 in Berlin, Dr. rer. Die Bewerbungen richten Sie bitte bis zum 15. März 2013 pol., Professor em. fü r Politikwissen- an den Sprecher der GPJE. Micha Brumlik, geb. 1947 in Davos/ schaft an der Humboldt-Universität Schweiz, Dr. phil., Professor fü r allge- Berlin, lehrt an der of Die Bewerbung umfasst folgende Unterlagen: Lebenslauf über den meine Erziehungswissenschaft an der Governance in Berlin. Universität Frankfurt a. M., Mither- wissenschaftlichen Werdegang, Publikationsverzeichnis, Publikation der ausgeber der „Blätter“. Hermannus Pfeiffer, geb. 1956 in Dissertation/des Forschungsprojektes (4x), Kopie der Promotionsurkunde Nordhorn, Dr. rer. pol., Soziologe und (fordert bei Fremdvorschlägen die Jury-Kommission des Ursula-Buch- Gisela Burckhardt, geb. 1951 in Wirtschaftswissenschaftler, freier Pu- Preises an). Selbstbewerbungen sind möglich. Aachen, Dr. phil, entwicklungspoliti- blizist in Hamburg. sche Gutachterin, Vorstandsvorsitzen- Weitere Informationen zum Ursula-Buch-Preis sowie dessen Satzung fi nden de von FEMNET e.V. und deren Ver- Franz Segbers, geb. 1949 in Gelsen- Sie auf der Homepage www.gpje.de. treterin bei der Kampagne für Saubere kirchen, Dr. theol., Pfarrer, Referent Kleidung. fü r Ethik des Diakonischen Werks in Hessen und Nassau, apl. Professor fü r Bewerbungen bitte an den Gestiftet von Wieland Elfferding, geb. 1950 in Ber- Sozialethik an der Universität Mar- lin, Politikwissenschaftler, Lehrer und burg. WOCHEN Publizist, lebt in Berlin. SCHAU Guido Speckmann, geb. 1978 in Tim Engartner, geb. 1976 in Mön- Georgsmarienhü tte, Politikwissen- VERLAG chengladbach, Dr. phil., Professur für schaftler, Lektor im VSA Verlag in Didaktik der Sozialwissenschaften an Hamburg. Sprecher der GPJE der Goethe-Universität Frankfurt am Prof. Dr. Thomas Goll Main. Charlotte Wiedemann, geb. 1954 in Technische Universität Dortmund Mönchengladbach, Journalistin und Fakultät 12 Ernst Engelberg, geb. 1909 in Has- freie Autorin mit dem Schwerpunkt lach/Kinzigtal, gest. 2010 in Berlin, islamische Länder. Erziehungswissenschaft und Soziologie Dr. phil., Prof. für Geschichtswissen- Emil-Figge-Str. 50 schaften, langjähriger Direktor des Naomi Wolf, geb. 1962 in San Fran- 44227 Dortmund Akademieinstituts für deutsche Ge- cisco, Literaturwissenschaftlerin und schichte in Leipzig. Schriftstellerin, ehemalige Rhodes- Stipendiatin, Wortfü hrerin der „Drit- Heiko Flottau, geb. 1939 in Werni- ten Welle“ der feministischen Bewe- gerode/Harz, Politikwissenschaftler, gung. langjähriger Nahost-Korrespondent der „Sü ddeutschen Zeitung“, lebt in Ursula-Buch-Preis_A5.indd 1 23.11.2012 09:10:57 Berlin.

00_201301_U2-U3.indd 1 11.12.12 13:03