Sachbuch Psychiatrie Die Brautbriefe zwischen Martha Bernays und Sigmund zeigen beide als starke Persönlichkeiten mit ganz neue Seiten Eifersüchtig Liebender

Sigmund Freud, Martha Bernays: Sei mein, wie ich's mir denke. Die Brautbriefe Bd. 1, Juni 1882–Juli 1883. Hrsg. Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis, Albrecht Hirschmüller. S. Fischer, Frankfurt 2011. 625 Seiten, Fr. 63.90.

Von Sabine Richebächer

Martha Bernays und kannten einander erst wenige Wochen, bevor sie sich am 17. Juni 1882 heimlich verlobten. Die 20-jährige Braut kam aus einer deutsch-jüdischen Gelehrtenfami- lie; ihr Vater, ein Kaufmann, hatte Kon- kurs gemacht und war verstorben, so- dass sie keine Mitgift hat. Der 26-jährige Bräutigam hatte beim Medizinstudium gebummelt; jetzt macht er vielverspre- chende neuro-histologische Studien am Physiologischen Institut in Wien; er ist völlig mittellos und wohnt bei seiner verarmten Familie. Briefe mehrmals täglich Gerade einmal zwei Tage nach der heimlichen Verlobung muss Martha Bernays mit Mutter und Schwester für die Sommermonate nach Wandsbek bei reisen. Im Frühsommer 1883 – die Verlobung ist inzwischen bekannt gegeben – übersiedeln die Bernays ganz nach Wandsbek. Ehe sie sich kennen ler- nen, als Paar finden können, sehen die Verlobten sich den Härten einer Tren- nung von unvorhersehbarer Dauer aus- ONE Sigmund Freud und YST KE

gesetzt, der sie mithilfe von mitunter Martha Bernays /

mehrmals täglich geschriebenen, einan- schrieben sich 1500 ION der überholenden Briefen zu begegnen Briefe während CT ihrer vierjährigen suchen. «Such a torture», so wird noch Verlobungszeit. Hier COLLE die 86-jährige Martha Freud diese Situa- das Verlobungsbild ERETT

tion im Rückblick charakterisieren. von 1882. EV

Politik Winfried Kretschmann, Deutschlands erster grüner Ministerpräsident, locker porträtiert Umweltschützer mit Schwaben-Gen

ner Ministerpräsident Deutschlands am sich gar dem Papst nahe fühlt. Doch Peter Henkel, Johanna Henkel-Waidhofer: 12. Mai entstanden ist. Ein Porträt, das stets war der Pädagoge auch mit «einer Winfried Kretschmann. Das Porträt. dennoch in die Tiefe geht, zurück in die ordentlichen Portion Rauflust» ausge- Herder, Freiburg i. Br. 2011. 160 Seiten, Anfänge der Protestpartei, ins katholi- stattet, wenn es um die Natur geht. Fr. 21.90. sche Elternhaus Kretschmanns, in seine Seine zwei Jahre Mitgliedschaft im Heimat, die Donau-Quellregion. Kommunistischen Bund Westdeutsch- Von Urs Rauber Dass der 63-jährige Winfried Kretsch- lands zu Beginn der Siebzigerjahre sieht mann mit dem weissen Bürstenhaar- Kretschmann heute als «schweren Irr- Sechzehn Tage nachdem in Japan ein schnitt und den schweren Augenlidern tum». Mit Überzeugung bekennt er sich Tsunami den Atommeiler von Fukushi- so landesväterlich wirkt, ist keine Atti- hingegen zu seinen philosophischen ma überrollt hat, spült im deutschen tüde. «Kretsch» war in seinen 30 Jahren Lehrmeisterinnen Hanna Arendt und Bundesland Baden-Württemberg eine politischen Engagements bei den Grü- Jeanne Hersch. Henkel und Henkel be- politische Monsterwelle jene Kraft in nen weder linker Ökofreak noch Stras- schreiben, wie der Grüne das typische die Regierung, die total auf Atomaus- senkämpfer wie Joschka Fischer. Son- Schwaben-Gen in sich trägt, das ihn mit stieg setzt. «Auch das ist Globalisie- dern immer ein Wertkonservativer aus Christdemokraten verbindet: Fleiss und rung», leitet das badensische Journalis- dem südbadischen Sigmaringen. Ein Sparsamkeit. «Wir haben viel von Ihnen tenpaar Peter und Johanna Henkel sein Lehrer, der an den Dialog mit dem Bür- gelernt», erklärte er einmal dem frühe- rasch und locker geschriebenes Buch ger glaubt, dabei gerne und ausführlich ren Ministerpräsidenten Lothar Späth. ein, das zwischen der Landtagswahl redet. Kein Volkstribun, eher ein Lang- Hätte das Wahlpech die CDU im Früh- vom 27. März 2011 und der Vereidigung weiler, mit einem Zug ins Libertäre. Ein ling weniger stark getroffen, wäre Winfried Kretschmanns als erster grü- prinzipientreuer, frommer Mann, der Kretschmann wohl lieber Juniorpartner

20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. August 2011 Der Briefwechsel zwischen Martha während der ersten beiden Jahre der Ta gebuch Das Notizheft Mani Matters aus Bernays und Sigmund Freud während Verlobungszeit umzugehen. «Ich sehe in ihrer vierjährigen Verlobungszeit ist mit Deiner Liebe den einzigen festen Punkt dem Jahr 1968 stimmt traurig 1500 Dokumenten die umfangreichste in meinem Leben, denn dass Du mich seiner Korrespondenzen. Dass sie geret- liebst, das weiss ich, und dass ich taug- Ihm kam es auf tet und 1939 ins Londoner Exil mitge- lich bin, in der Wissenschaft Wertvolles nommen worden war, wusste man lange zu leisten, das hoffe ich nur…», schreibt nur im engsten Familienkreis. Als ihre Freud ihr wenige Tage nach der Verlo- die Details an Existenz sich unter den Spezialisten bung, um sie im nächsten Moment zu herumsprach, wurde der Mythos «Die quälen mit seinem tyrannischen An- Brautbriefe» geschaffen. 1960 veröffent- spruch auf Ausschliesslichkeit – «Sei lichte Ernst Freud, jüngster Sohn von mein, wie ich’s mir denke», mit Selbst- Martha und Sigmund Freud, eine Aus- morddrohungen und wilder Eifersucht Mani Matter: Das Cambridge-Notizheft. wahl von 93 Dokumenten aus der Verlo- auf Familienangehörige und vermeintli- Tagebuch 1968. Zytglogge, bungszeit: sie zeigen Freud als zärtli- che Rivalen. Die Zwanzigjährige reagiert Oberhofen 2011. 135 Seiten, Fr. 29.–. chen, glücklichen Liebenden, als überra- verletzt und ratlos, begreift aber intuitiv genden Schilderer von Kunstwerken, die innere Gefährdung des Mannes. Lie- Von Kathrin Meier-Rust Städten und Landschaften, von Persön- bend und zunehmend selbstsicher be- lichkeiten und Institutionen. Dabei war steht sie auf ihrem Anderssein: «Dann «Dass unser kleines, reiches Land wich- Ernst Freuds Briefauswahl auf die Aus- willst Du, ich solle Dich rücksichtslos tigere Aufgaben hätte als das Bankge- sparung alles Düsteren, Abgründigen, lieb haben, das gibt’s nicht, Liebster, für heimnis zu verteidigen und deutschen Verstörenden hin angelegt; und auch die mich wenigstens nicht. Für mich ist Industriemagnaten ein Steuerparadies Braut bleibt stumm. Die Anthologie Liebe und Rücksicht eins.» abzugeben…» Schade, dass Mani Matter wurde seinerzeit begeistert rezipiert Die Brautbriefe sind ein eigentliches kein Lied gemacht hat aus diesen Zeilen! und sozusagen über Nacht wurde Freud Universum, das auf unterschiedlichste Jedes Schweizer Schulkind würde sie einer breiten Öffentlichkeit als überra- Weisen gelesen werden kann: Sie doku- heute singen. Geschrieben hat er sie vor gender Briefschreiber bekannt. mentieren Mentalitäts- und Wissen- über 40 Jahren in einem Notizheft aus schaftsgeschichte einer ganzen Epoche, dem Jahr 1968, als er mit seiner jungen Martha mit neuer Stimme Selbstverständnis und Alltagswirklich- Familie in Cambridge weilte und an sei- Die Psychoanalytikerin Ilse Grubrich- keit der Mittelschicht, insbesondere des ner Habilitation arbeitete. Simitis und die Medizinhistoriker Ger- zentraleuropäischen Judentums, die Das Kinoull Note Book, das nun fast hard Fichtner und Albrecht Hirschmül- Funktionsweise des Wissenschaftsbe- 40 Jahre nach Mani Matters Tod zum ler, alle drei versierte Freud-Forscher, triebes. Die Freud-Biografik wird um ersten Mal erscheint, ist ein schmales arbeiten seit über zehn Jahren an der einzigartiges Quellenmaterial aus seiner Bändchen, aber es schliesst eine grosse Herausgabe aller Brautbriefe. Die Edi- voranalytischen Zeit bereichert, wo sich Lücke, da ausgerechnet das Jahr 1968 in tion ist auf fünf Bände angelegt und soll die Entwicklung des Neurowissenschaf- den bisher edierten Sudelheften fehlt. alle Informationen bereitstellen, die der ters Freud zur späteren Psychoanalyse Tatsächlich setzt das Cambridge-Tage- Leser zum Verständnis benötigt. Band I als einer Wissenschaft der unbewussten buch im Mai 68 mit der Studentenrevol- der Brautbriefe ist nun erschienen. Wir seelischen Prozesse bereits andeutet. te ein: Richtig an «den Leuten, die nach lernen einen ganz neuen Freud kennen, Überraschend ist, dass diese Vorformu- Revolution rufen», sei «das Anrennen einen verstörten, jungen Mann, düster, lierungen im Dialog mit Martha Bernays gegen den Immobilismus», schreibt schroff, von grosser, innerer Verletzlich- entstehen, welche im Briefwechsel auch Matter. Doch «Revolution – und was keit, dabei auf unbedingte Offenheit und als Erste den Begriff «unbewusst» ver- dann? Man verweist auf Marx und glaubt Wahrheitsliebe bedacht. Die in der bis- wendet. sich weiterer Details enthoben. Aber ge- herigen Freud-Biografik stets blasse Vor allem aber entfaltet sich im inti- rade auf die Details kommt es an.» Hintergrundfigur von Martha Bernays men Zwiegespräch der beiden Lieben- Auf die Details kam es Mani Matter tritt gründlich verändert hervor: Mit den facettenreich und berührend einer immer an, das wird in diesen gedanken- ihren Briefen erhält sie eine unerwartet der schönsten Liebesbriefwechsel der reichen Notaten überdeutlich. Auch farbenreiche, kräftige Stimme, litera- Weltliteratur, wobei die Braut ganz we- wenn es die Details sind, die dann in die risch versiert, voller Humor und zärtli- sentlich zum schliesslichen Gelingen Ambivalenz führen. Etwa in den langen cher Vernünftigkeit – all das wird sie gut einer gefährdeten Liebe beiträgt. ● Passagen zur Totalrevision der Bundes- brauchen können, um mit den Stim- Sabine Richebächer lebt als Psycho- verfassung, die dem politisch hellwa- mungsschwankungen des Bräutigams analytikerin und Autorin in Zürich. chen Matter auch fern von Bern keine Ruhe lässt. Einerseits hält er das Unter- nehmen für Selbstbetrug: «Man glaubt etwas zu tun, indem man betriebsam ist.» Aber dann listet er doch säuberlich einen Katalog von Postulaten auf: Recht auf Bildung, Bürgerrecht, Berufsparla- ment, Verbandsrecht. Auch Liedentwürfe sind da, literari- einer schwarz-grünen Koalition gewor- fünf Prozent Wähleranteil; diese Regie- sche Skizzen, Gedanken zu Beruf und den, als das schwierige Bündnis mit der rung ziehe «endlosen Unmut» auf sich, Berufung: «Nein, ich glaube doch ein- SPD anführen zu müssen. da sie nicht zur «Tiefengrammatik» des fach: das Singen ist das Beste an mir, so Denn zu den Roten unter Finanzmi- deutschen Musterländles passe. wenig es ist.» Doch das wohl erstaun- nister Nils Schmid haben die Grünen Die Verfasser begegnen dem Porträ- lichste am Notizheft ist der Raum, den unüberbrückbare Differenzen, wie der tierten mit grossem Wohlwollen, pro- ein Thema einnimmt, das im Jahr 68 Streit um «Stuttgart 21» zeigt. Während phezeien indes, dass der Zauber des Re- wahrlich nicht populär war: die Frage die SPD mehrheitlich das Bahnhof-Pro- gierungsbündnisses bald verfliege. Ob nach Gott. Matter war nicht gläubig, jekt befürwortet, kämpfen die Grünen Kretschmann dann von der Villa Reit- doch er las die grossen Theologen, vor mit Kretschmann strikt dagegen. Mit zenstein, dem Regierungssitz hoch über allem Karl Barth, und liess sich intensiv der Sanierung des Haushalts, der Ener- Stuttgart, hinunter zu seinen Bürgern von dessen Fragen bewegen. «Denn so gie- und Bildungspolitik, den Sorgen der steigt, um ihnen zuhören, aber auch um einfach, wie es sich’s der Russell macht, Autoindustrie und der Aufnahme von ihnen durch geduldiges Überzeugen ist es dann doch nicht.» Flüchtlingen stehen dem grünen Minis- Zumutungen abzuverlangen, bleibt Und weil fast nichts einfach ist, terpräsidenten weitere Streitpunkte ins offen. Immerhin – so Henkel und Henkel stimmt das kleine Notizbuch samt dem Haus. Bereits zweifeln Weggefährten – stehe mit Kretschmann einer an der wunderbar klugen Essay von Urs Frau- wie Elmar Braun, der vor 20 Jahren als Spitze des Landes, «der integer ist, klug chiger so traurig. Für einmal nicht der erster grüner Bürgermeister in Deutsch- und weit mehr auf das Wohl des Ge- Lieder wegen, die Matter vielleicht noch land gewählt wurde, am Erfolg. Er hält meinwesens bedacht als auf das eige- geschrieben hätte. Sondern weil die es für möglich, dass die Grünen 2013 ne». Das sei in Zeiten der Politikver- Schweiz diesen intellektuellen Kopf dort landen, wo heute die FDP steht: bei drossenheit doch schon viel. ● noch lange gebraucht hätte. ●

28. August 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21