Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 168–216

Besprechungen

Nicola Gess Staunen. Eine Poetik. (= Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik. Bd. 11). Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 175 S.

Nicola Gess staunt. Sie staunt über das Staunen, aus einem Prozess, den Gess als Paradigmenwechsel das vom Zaubertrick bis zum Spezialeffekt die beschreibt. Während das epistemische Staunen, das Alltagskultur ebenso prägt wie die Experimental- in Philosophie und vor allem Naturphilosophie bis kunst der Gegenwart, von der Gess’ Studie ihren zum Ende des 17. Jahrhunderts Karriere gemacht Ausgang nimmt. Am Anfang des Staunens war hat, an Bedeutung verliert, macht das ästhetische nicht von ungefähr die Kunst. Denn für Gess steht Staunen im Zuge der Aufwertung der Sinnlichkeit mit dem Staunen eine ästhetische Emotion zur gegenüber dem Verstand Karriere, so lässt sich Gess’ Diskussion. Ausgelöst wird sie „durch Phänomene, Gegennarrativ zu Lorraine Dastons Wissenschafts- die die Grenzen des Gewöhnlichen in Richtung des geschichte2 auf den Punkt bringen. Unerwarteten, des Außergewöhnlichen oder des Seitdem steht Staunen plötzlich nicht mehr Unmöglichen überschreiten“ (S. 15). Dass mit dieser nur wie bei Platon oder Aristoteles am Anfang des radikalen Offenheit aber nicht nur eine ästhetische Philosophierens,3 sondern bedingt als ästhetische Einstellung zur Welt, sondern auch eine politische Emotion eine Erkenntnis, die nicht auf Begriffe einhergeht, ist die Pointe der Argumentation. Gess abzielt, sondern die Aufmerksamkeit auf die Dinge leistet mit ihrer Erforschung des Staunens daher in der Welt richtet. Dafür muss das Organon der einen genuinen Beitrag zur politischen Ästhetik. Erkenntnis – die Seele – sich diesen Gegenständen Dementsprechend verbindet Gess den äs- radikal öffnen, sie muss sie staunend empfangen thetischen Diskurs, dessen Geschichte seit dem können. In den Anfangsgründen aller schönen 18. Jahrhundert mit dem poetologischen eine Künste und Wissenschaften (1748–50), die Baum- Doppeleinheit bildet (Kap. 3, 4, 7 und 8), und den gartens Schüler Georg Friedrich Meier zeitgleich politischen Diskurs des 20. Jahrhunderts (Kap. 5 mit der Aesthetica (1750/58) in unmittelbarer und 6). Den Auftakt bildet der Begriff des Staunens Auseinandersetzung mit den Literaturtheoretikern selbst (Kap. 2): Staunen, Erstaunen, Bewunderung Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitin- und Verwunderung bilden ein Wortfeld, dessen ger ausarbeitet, bildet Staunen das Relais, das semantische Komplexität Gess nicht beschneidet, Verstand und sinnliche Wahrnehmung in einem sondern typographisch durch die Verwendung Modus anschauender (intuitiver), genauer gesagt: von Kapitälchen aushält und ausstellt, um philo- lebendiger Erkenntnis verschaltet – ein Modus, sophische, wissens- und ideengeschichtliche sowie den jeder alltägliche Gegenstand staunen macht. literaturwissenschaftliche Ansätze des Staunens Davon legt vor allem die Literatur ein beredtes in einen Dialog zu bringen. In Anlehnung an Zeugnis ab, die Meier wie Baumgarten nicht nur Jesse Prinz unterscheidet sie drei Dimensionen: als Beispiel dient, sondern deren Potenzial in der eine kognitive, eine sinnliche und eine spirituelle.1 mittleren Aufklärung zur Revolution poetologi- Mit der Diskursivitätsbegründung der modernen scher Kategorien führt: das Neue, das Wunderba- Ästhetik rückt Staunen im 18. Jahrhundert ins re, das Erhabene und vor allem das Phantastische Zentrum der modernen Wissensordnung. Alexander bezeichnen sowohl die literarischen Gegenstände Gottlieb Baumgarten hat der „Kunst der Staunenser- als vor allem auch deren Darstellungsverfahren. zeugung“ (S. 7; thaumaturgia aesthetica) einen festen Daher wundert es nicht, dass die Literatur eine Platz in seiner Wissenschaft der sinnlichen Erkennt- regelrechte Schule des Staunens ausgebildet hat nis eingeräumt. Damit zieht er philosophisch Bilanz und verschiedene Stilmittel zur Störung oder

© 2021 The author(s) - http://doi.org/10.3726/92168_168 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Besprechungen | 169

Erweiterung der Wahrnehmung trainiert, wie „Lähmung des Augenblicks“ wendet das politische z. B. das Arsenal der bildgebenden Verfahren. Gess Engagement ins Geschichtsphilosophische, so dass analysiert die beiden wichtigsten Schauplätze des sich die ästhetische als „dialektische Emotion“ Staunens, die eine lange Tradition sowohl in der (S. 124) entpuppt. ästhetisch-poetologischen Rezeption als auch in In ihrer Bewertung der Aktualität des Staunens der literarischen Produktion haben: das Erhabene widerspricht Gess vor diesem Hintergrund schließ- und das Wunderbare. Sie prägen die Literatur lich entschieden Andreas Reckwitz’ Befund, dass bis heute, wie Gess einerseits an Raoul Schrotts Staunen als „der Affekt unserer Zeit“ (S. 148) dem Tropen. Über das Erhabene (1998) und Erste Erde „Regime des kulturell Neuen“4 entspricht. Dagegen Epos (2016) herausarbeitet, in denen die Staunen macht sie insbesondere die kognitive Dimension erregenden Erkenntnisse der Literatur reflektiert des Staunens stark, die sich nicht im Augenblick werden. Felicitas Hoppe zieht es in Paradiese, Über- erschöpft, sondern in der Zeit ein revolutionäres, see (2003) und Sieben Schätze (2009) andererseits d. h. ein eminent politisches Potenzial entfaltet. vor, das Wunderbare im imaginativen Staunen in Denn Staunen sorgt nicht nur für die vielen klei- Szene zu setzen. neren oder größeren lustvollen Kicks, sondern im Dass sowohl die Produktion als auch die Re- Gegenteil: für „Gefühle[] der Verunsicherung, der zeption von Literatur im Modus des Staunens Unlust und sogar der Bedrohung“ (S. 151). Und die Welt aus den Angeln hebt und alternative genau in der Irritation, die das Staunen auslöst, Wirklichkeiten entwirft, die nicht der rationalen, liegt seine Kraft die Welt zu verändern, indem sondern einer eigenen Wahrheit entsprechen, führt diese – staunend – in ihre Bestandteile zerlegt zu den verschiedenen Politisierungen des Staunens und neu zusammengesetzt wird. Nichts ist not- im 20. Jahrhundert. Denn mit der ästhetischen wendig so, wie es ist, alles kann auch anders und Emotion geht die Gewissheit der Veränderbarkeit vieles möglich sein. Mit der Ästhetik und Politik gesellschaftlicher Zustände einher. Ernst Blochs geht in Gess’ Studie deshalb vor allem eine Ethik Geist der Utopie (1918/23) und sein Prinzip Hoff- des Staunens einher. Sich dem Sturm der Un- und nung (1954–1959) führen direkt in die Politik, Unterbestimmtheit zu stellen, den Staunen ent- „weil sich im Staunen für Bloch ein Ahnen des facht, fordert Gess daher mit Bezug auf Mary-Jane Möglichen im Wirklichen manifestiert“ (S. 89). Rubenstein.5 Dergestalt erweist sich die Kunst als Medium der Die Poetik des Staunens hat bei mir nicht nur Utopie, d. h. der sozialistischen Revolution, auf die einen ‚WOW-Effekt‘ ausgelöst, sondern nachhal- Bloch hofft, dessen staunender, nicht auf Begriffe tige kognitive Prozesse in Gang gesetzt. Vorbei setzender, sondern Stimmungen erzeugender Stil sind die Zeiten, in denen die politische Ästhetik dieser Hoffnung Ausdruck verleiht. notorisch auf Jacques Rancières Theorie über In der engagierten Literatur hat das Staunen die Aufteilung des Sinnlichen verweist. Es ist, so dementsprechend nicht nur viele theoretische zeigt Gess, nämlich das Staunen in der Mannig- Vertreter*innen, sondern vor allem auch ästhe­ faltigkeit seiner diskursiven Bezüge zwischen tiko-politische Programme, von denen Gess exem- Vormoderne und Gegenwart, das die Bereiche plarisch drei in das neue Licht des Staunens stellt: des Ästhetischen und Politischen verbindet. Das Bertolt Brechts Theorie der Verfremdung, Viktor hoch verdichtete, dabei aber klar, anschaulich Šklovskijs Theorie der Abweichung und Walter und brillant geschriebene Buch lohnt sich zu lesen Benjamins Theorie der Unterbrechung. Alle drei und bestätigt die Unhintergehbarkeit ästhetischer verbinden – wie ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert Reflexionen für die politische Theorie. – die Schärfung, ja Intensivierung der Wahrneh- mung mit der Störung der Darstellung, wobei es ihnen mit der sinnlichen um eine historische Anmerkungen Erkenntnis geht. Mit dem Staunen zielen sie auf die Intervention in die Wirklichkeit ab. Doch vor 1 Jesse J. Prinz: Works of Wonder. A Theory of Art. allem Benjamin geht einen Schritt weiter, indem Oxford (Ms.). er Plötzlichkeit mit Retardierung in einer ästheti- 2 Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. schen Eigenzeit des Staunens zusammenführt. Die Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt a. M. 2001.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 170 | Besprechungen

3 Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideen- Frauke Berndt geschichtliche Analyse. Tübingen 1991. Universität Zürich 4 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singulari- Deutsches Seminar täten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin Schönberggasse 9 2017, S. 25. CH–8001 Zürich 5 Mary-Jane Rubenstein: Strange Wonder. The Clo- sure of Metaphysics and the Opening of Awe. New York 2008.

Carlo Brune Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientie- rung und Bildungsideal. transcript Verlag, Bielefeld 2020, 389 S.

Seit den großen empirischen Lesekompetenzstu- als Orientierung für den Unterricht dienen soll. dien (vor allem PISA, IGLU und VERA) gibt es in Dieses Modell umfasst die Stufen der sinnlichen der Deutschdidaktik eine intensive Auseinander- Wahrnehmung, der Vorstellungsbildung und der setzung über das Verhältnis von Lesekompetenz Reflexion und wird damit der Prozessualität der und Literaturunterricht. Dabei geht es u. a. um ästhetischen Rezeptionsweise gerecht. Brune er- die Frage, ob durch die Dominanz der Lesekom- läutert die drei Ebenen ausführlich mit Bezug auf petenzdiskussion die Bedeutung von literarischen die einschlägige Fachdiskussion und zeigt, wie es Texten im Unterricht herabgestuft werde. Carlo für jede Ebene Vorgehensweisen im Unterricht Brune hat nun eine große Untersuchung vorgelegt, gibt, die ihr jeweils besonders gerecht werden. in der er umfassend die entsprechende Diskus- Für die Ebene der Wahrnehmung beruft sich sion darlegt und ein eigenes Modell vorstellt, das Brune vor allem auf die ästhetischen Theorien von Lesekompetenz und literarästhetische Literalität Alexander Gottlieb Baumgarten und von Martin miteinander vermittelt. Er zeigt ausführlich und Seel. Eine wichtige Rolle spielt bei Brune in diesem überzeugend die Grenzen des Lesekompetenzbe- Zusammenhang der Begriff der Verfremdung, den griffs, wie er vor allem durch Weinert geprägt wor- er mit Rückgriff auf die russischen Formalisten den ist, auf und weist anhand genauer Analysen (Šklovskij u. a.) entwickelt und der mit der Kate- von Testaufgaben zu literarischen Texten (z. B. aus gorie der Polyvalenz und dem literarischen Verste- den PISA- und VERA-Studien und den Aufgaben- hen als unabschließbarem Prozess in Verbindung beispielen der KMK zu den Bildungsstandards) steht. Mit dem Verfremdungsbegriff lässt sich nach, dass sie ästhetischem Verstehen nicht gerecht ästhetische Erfahrung von automatisierten Wahr- werden und den Schülerinnen und Schülern des- nehmungsweisen abgrenzen, die dem Prinzip der halb keinen Zugang dazu öffnen können. Funktionalität folgen und die, wie Brune ausführt, Brune setzt den Kompetenzbegriff insbeson- in der Gegenwart immer mehr dominieren. Ver- dere auch in ein Verhältnis zum Bildungsbegriff, langsamung der Rezeption und Aufmerksamkeit den er ausführlich erörtert mit Rückgriff u. a. für die sprachliche Form und für die Materialität auf Kant und Humboldt. Den grundlegenden eines Textes sind wesentliche Wirkungen der Ver- Unterschied zwischen dem Kompetenzmodell und fremdung. Als Beispiel für Vorgehensweisen im dem Bildungsbegriff sieht er darin, dass ersteres Unterricht, die den Aspekt der Wahrnehmung vor allem auf die Bewältigung äußerer Aufgaben in den Vordergrund rücken, geht Brune auf die zielt, letzterer dagegen den Menschen als Subjekt Hördidaktik ein, speziell auf das literarästhetische im Blick hat. In diesem Zusammenhang betont Hören (Beschäftigung mit Hörbüchern, münd- Brune die Autonomie des Ästhetischen, dem ein licher Vortrag von literarischen Texten) und auf eigenes Erkenntnisvermögen entspreche. Ausge- das hörende Lesen (nach Hans Lösener). hend davon entwickelt er ein Mehrebenenmodell In den Ausführungen zur Vorstellungsbildung der literarästhetischen Literalität, das die Spezi- setzt sich Brune ausführlich mit der literaturdi- fika des literarischen Lernens herausstellt und das daktischen Diskussion um das verlangsamte Lesen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 171 auseinander; hier referiert er auch eine kleine em- Insgesamt ist Brunes umfangreiche Studie (fast pirische Untersuchung zu Lektüreprotokollen, die 400 Seiten) überaus kenntnisreich, scharfsinnig Schülerinnen und Schüler zum Text Heimkehr von in der Kritik und einleuchtend in den eigenen Kafka erstellt haben. Sie sollten den Text dreimal Vorschlägen. Es ist spannend, wie Brune viele lesen und alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, ästhetische und literaturdidaktische Theorien Gedanken und Assoziationen notieren. Zur be- miteinander in Verbindung bringt, was manch- griffsgebundenen Kognition, der dritten Ebene mal durchaus auch etwas gewagt erscheinen mag. in seinem Modell, präsentiert Brune eine Einheit Brune arbeitet umfassend die pädagogische und zu einer Erzählung von Kafka (Ein altes Blatt); deutschdidaktische Diskussion um den Lese- dabei analysiert er insbesondere den Aspekt der kompetenzbegriff auf, zeigt dessen Grenzen auf (Un)Zuverlässigkeit der Erzählinstanz. In den und macht sich stark für ästhetisches Erfahren didaktischen Vorschlägen zum Text sieht er ent- und Verstehen als Aufgabe von Unterricht in einer sprechend eine entscheidende Verstehensvorausset- Zeit, in der eine pragmatische Zweckorientierung zung darin, dass die Schülerinnen und Schüler die einseitig die Oberhand zu gewinnen droht. Unzuverlässigkeit des Erzählers erkennen. Das ist ein Aspekt, der seit einigen Jahren verstärkt in der Kaspar H. Spinner Literaturwissenschaft diskutiert wird. Man mag Universität Augsburg sich fragen, ob ein Unterricht, der diesen Aspekt Germanistik in den Vordergrund rückt, den Schülerinnen und Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur Schülern den Zugang zum Kafka-Text wirklich Universitätsstr. 2 erleichtert. D–86159 Augsburg

Frieder von Ammon, Dirk von Petersdorff (Hrsg.) Lyrik/lyrics. Songtexte als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 424 S.

Auch zur Topik der Beschäftigung mit „Songtex- hat, ist dem diesbezüglich profilierten Personal des te[n] aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“ Bandes anzusehen. gehört es, den „überrasche[n] Mangel an Unter- Dennoch ist es richtig, dass die Ende der suchungen“ (S. 7) hervorzuheben, der dem eigenen 1970er Jahre unternommenen, ersten Vorstöße in Beitrag vorausgegangen ist. Die Einleitung des von Richtung einer literaturwissenschaftlichen Ana- Frieder von Ammon und Dirk von Petersdorff lytik von Songtexten1 in Deutschland lange Zeit herausgegebenen Sammelbands, der auf eine 2016 folgenlos blieben und gerade die germanistische in Leipzig veranstaltete Tagung zurückgeht, bildet Literaturwissenschaft besondere Berührungsängste hierin keine Ausnahme. Sechs Seiten und einen mit Songs zu haben schien. Woran lag das? Folgt Forschungsüberblick später kommen die Heraus- man Eric Achermann und Guido Naschert in der geber allerdings zum Schluss, dass „die Songpoesie Einleitung zu den von ihnen herausgegebenen Mit- als Forschungsgegenstand jetzt also endlich im teilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2005, Fach angekommen“ (S. 13) sei. Zurecht: Dass die hat es zum einen mit „ästhetische[n] Vorbehalten“2 germanistische Beschäftigung mit Popsongs zwar zu tun, womit ein Dünkel umschrieben ist, den die noch ein gutes Stück von Geschlechteregalität ent- Germanistik Texten wie Peter Handkes Der Text fernt ist (auf 16 Beiträger kommt in diesem Band des rhythm-and-blues (1966) abgeschaut hat.3 Zum eine Beiträgerin; die gründlich in den Forschungs- anderen mit einem Respekt gegenüber der musi- stand einführende Einleitung zitiert keine einzige kalisch-textlichen Aggregatsform des Songs; einer Autorin), sich bei genauerem Hinsehen aber in- untypischen Zurückhaltung für die etwa in der zwischen doch zu einem muskulösen Standbein Sache der Film- und Medienanalyse auch um keine literaturwissenschaftlicher Forschung ausgebildet Kompetenzsimulation verlegene Germanistik.4

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 172 | Besprechungen

Der Band verhält sich entsprechend in zweifa- die die Reihe der Beiträge eröffnet. Der Begriff des cher Weise zu dieser Distanz: Einerseits mit einem Songs, so Achermann, biete sich im Deutschen zur Appell in Richtung der Disziplin. Denn geht man Designation „derjenigen vokalen Darbietungen davon aus, dass Songtexte und Lyrik entscheiden- von Texten“ an, „deren rhythmische Gestaltung de Gemeinsamkeiten aufweisen oder sogar nicht dem afro-amerikanischen beat verpflichtet“ sind wesentlich unterscheidbar sind, dann wären es „und nicht der seit dem 17. Jh. in der westeuro- schlicht – zu Recht oder zu Unrecht in Anschlag päischen Musik vorherrschenden Taktregulierung“ gebrachte – Selektionskriterien, die für das Zögern (S. 25). Anhand der Unterscheidung der deutschen der Germanist*innen verantwortlich waren und Metrik zu der (auf dem Jambus als Normalfigur die nun zu revidieren wären. Dafür, dass sich der basierenden) englischsprachigen Versifikation Band dieser Revision verschrieben hat, spricht die (S. 31–39) sowie der Unterscheidung des ‚beats‘ in der Covergestaltung (von Lisa Greifenstein und zum Takt als organisatorischer Einheit (S. 27–31) Susanne Gerhards) und den Beiträgen von Walter weist Achermann minutiös die Bedingungen der Erhart (S. 64), Martin Rehfeldt (S. 94) und „Emanzipation oder gar Priorisierung des Rhyth- Klaus Birnstiel (S. 318 ff.) aufgerufene etymo- mus, die den Song vom Lied trennen“ (S. 47), nach. logische Ableitung des Wortes ‚Lyrik‘ von ‚lyra‘, Folgt man Achermanns überzeugender Ar- zu deren Begleitung im antiken Griechenland gumentation, stellt sich aber die Frage, ob die Versdichtungen vorgetragen wurden. Vor allem hiermit konturierte Kategorie des Songs dann spricht dafür aber die Reihe an Argumenten, mit auch in gleicher Weise etwa für das Wiegenlied denen der „Lyrikforschung“ (S. 9) Songtexte an- Geltung beanspruchen kann, dessen Systematik empfohlen werden, darunter etwa der Hinweis der Beitrag Kai Sinas besonders um dessen tria- darauf, dass man allein „quantitativ“ (S. 10) nicht dische Sprechsituation entwickelt, oder für die mehr an Lyrics vorbei komme, dass aber mit den Moritat, deren Tradition Dieter Burdorf in Texten Jochen Distelmeyers (Blumfeld), Judith Nick Caves Murder Ballads wiederaufgegriffen Holofernes’ (Wir sind Helden) und Sven Regeners sieht – mit anderen Worten: ob Lyrics tatsäch- (Element of Crime) – „um […] nur einige […] zu lich schlicht eine „handlicher[e]“ Formulierung nennen“ (S. 9) – mittlerweile auch Songtexte an für „deutschsprachige[] Liedtexte“ (S. 303) ist der Hand seien, die den Vergleich mit Gedichten oder aber etwas anderes bezeichnet. Unter den nicht zu scheuen bräuchten. Andererseits adressiert Beiträgen finden sich neben Achermanns, auf der Band die Problematik, dass Songtexte eben den ersten Blick, formaler Lösung unterschied- immer auch im Verbund mit den sie realisierenden liche Anläufe der Bestimmung des Gegenstands musikalischen Darbietungen zu verstehen sind. ‚Song‘; so etwa in Frieder von Ammons Beitrag, Vor diesem Hintergrund wird dafür plädiert, sich der den Auftritt des Songs im Einzugsbereich des zur Ausleuchtung der für die Literaturwissen- Bandes auf den Moment datiert, in dem erstmals schaft unzugänglichen Stellen interdisziplinäre „genuin deutsche Konzepte von Lyrik mit dem Verstärkung zu rufen, wobei „insbesondere die Phänomen des (populären) Songs konfrontiert Musikwissenschaft in die Diskussionen mitein- wurden“ (S. 243) – als Walter Mehring die zubeziehen“ sei (S. 11), was in den Beiträgen von Gattungsbezeichnung ‚Song‘ beanspruchte. Im Andreas Puhani und Christiane Wiesenfeldt Gegenlicht dieser wichtigen, aber eher beiläufig auch eingelöst ist. getroffenen Bestimmungen wird deutlich, dass Das Plädoyer für eine literaturwissenschaft- die Stärke von Achermanns Entwurf besonders liche Beschäftigung mit Songtexten, das der Band darin liegt, aus einer formalen Analytik historische formuliert, ist damit zunächst eines für die starke Spezifizität zu gewinnen. Denn was das Kriterium Disziplinarität einer philologisch orientierten des ‚beats‘ bezeichnet, ist insofern eine historische Literaturwissenschaft, nicht eines für eine kultur- Marke, als mit ihm die Kombination von sprach- wissenschaftliche Ausrichtung des Fachs. Dass lichen Formen mit einer freie Phrasierungen dieser Zugang Erhebliches zu leisten imstande ist, und Improvisation ermöglichenden Realisierung führt die bereits 2005 als Desiderat erkannte5 und „sämtliche[r] Schläge durch den Grundrhythmus“ nicht anders als imposant zu nennende Gattungs- (S. 29) angezeigt ist, die in Blues und Jazz etabliert theorie des Songs Eric Achermanns (15–56) vor, wurde: „Mag die Freiheit auch aus weiten Teilen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 173 der Popmusik verschwunden sein, so prägen ‚ir- geprägter Lyrics-Forschung als solche erkennbar reguläre‘ Phrasierungen nach wie vor sowohl die bleiben, trägt der Band entschieden zum Ausbau melodische ‚Idee‘ einer Komposition als auch den des Grenzverkehrs bei.7 ‚feel‘ der Interpretation.“ (S. 37) Stellt sich zuletzt die Frage, ob diese Verbin- Im Umfeld dieser spezifischen Konfiguration dung nicht auch davon profitieren könnte, wenn von Musik und Text findet also die Geburt von sich ein künftiger Forschungsdiskurs auch solchen Popmusik statt, worauf Achermann gegen Ende deutschsprachigen Künstlern widmete, die sich seines Beitrags nur vergleichsweise zurückhaltend nicht immer schon, mehr oder weniger ostentativ, zu sprechen kommt. Obwohl etwa das bereits er- zum Lyrizitätsverdacht (zumal im Sinne des ‚ge- wähnte Cover des Bandes eine farbliche Variation nuin deutschen Konzeptes von Lyrik‘) verhalten in Warhol’scher Anmutung zeigt und es in bei- wie die inzwischen vielfach untersuchten Bands nahe allen Beiträgen um Popsongs geht, gehört der sogenannten Hamburger Schule. Zu denken es erkennbar nicht zu den Anliegen des Bandes, wäre dabei nicht nur an die Neo-Primitivismen an den stark ausdifferenzierten Diskurs um ‚Pop‘ von Teilen der Neuen Deutschen Welle, an Post- in systematischer Weise anzuschließen. Dass die Punk, Art-Punk und No Wave der 1980er Jahre, Qualifikation ‚Pop‘ für einen Song jedoch nicht so sondern auch an die gewichtigen migrantischen selbstverständlich bzw. zu vernachlässigen ist, wie Beiträge zur deutschsprachigen Poetik des Songs, verschiedentlich der Anschein erweckt wird, zeigt dies- und jenseits des Raps.8 der herausragende Beitrag von Moritz Bassler. Es bleibt kompliziert – bzw. genauer: Es wird Hier drängt sich die Einsicht auf, dass über einzel- komplizierter werden, und diese erfreuliche Ent- ne Popsongs und -lyrics, z. B. solche, die von Elvis wicklung erheblich befördert zu haben ist eine Costello und Linda Ronstadt interpretiert worden der maßgeblichen Leistungen dieses lesenswerten sind, schlicht deutlich mehr herauszufinden ist, Bandes. wenn die Untersuchung auch Dinge wie die ver- schiedenen Albumcover, Stilgemeinschaften oder die Persona der Interpretin, kurz: den gesamten Anmerkungen „Medienverbund Pop“ (S. 131 u. ö.) heranzuziehen geneigt ist. Für Baßler mündet die Prüfung der Ly- 1 Vgl. besonders Werner Faulstich: Rock – Pop – Beat rizität der Lyrics in das Urteil, diese gehörten „einer – Folk. Grundlagen der Textmusik-Analyse. Tübin- anderen Ordnung an als Literatur“6 und seien „nur gen 1978; Peter Urban: Rollende Worte – die Poesie zu verstehen […] im Rahmen eines umfassenden des Rock. Von der Straßenballade zum Pop-Song. Dispositivs zwischen Warenförmigkeit und den Eine wissenschaftliche Analyse der Pop-Song-Texte. neuen globalen Medienverbünden mit ihren Ver- Frankfurt a. M. 1979. wertungsketten, verbunden mit einer Ästhetik des 2 Eric Achermann, Guido Naschert: Einleitung. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes Spektakulären.“ (S. 145) Die Entschiedenheit, mit 52 (2005), Nr. 2, S. 210–213, hier S. 210. der Baßler den „kulturelle[n] Text“ in den Vorder- 3 Till Huber zitiert im jüngst erschienenen Handbuchs grund rückt, „als dessen Funktionsmoment die Ly- Literatur & Pop Georg Klein, der 2010 noch davon rics von Pop-Musik stets gelesen werden müssen“ ausgeht, dass es „im Popsong vor allem um die Liebe (S. 146), wird von keinem der übrigen Beiträge unter jungen Leuten zu gehen“ habe „und dass dieses geteilt, wenngleich die veranschlagten Grenzen Thema in sofort erkennbaren Grundsituationen des Untersuchungsgegenstands zwischen enger und Stimmungslagen verhandelt werden“ müsse (so bei Wolfram Ette und Dirk von Peters- (Till Huber: Lyrics als Literatur. In: M. Baßler, E. dorff), weiter (z. B. im Beitrag von Till Huber Schumacher [Hrsg.]: Handbuch Literatur & Pop. und Philipp Pabst) und sehr weit (der sogar „geo- Berlin, Boston 2019, S. 229–246, hier S. 230). 4 Vgl. Achermann, Naschert (wie Anm. 2), S. 210. politische“ [S. 177] Kontexte berücksichtigende 5 Vgl. Achermann, Naschert (wie Anm. 2), S. 212. Beitrag von Lars Eckstein) variieren. Damit ist 6 Vgl. dagegen zuletzt auch, anders gewichtet, Moritz mithin auch die Suchbewegung nachgezeichnet, Baßler: Die Manifestation des Kapitalismus in die der Band, wenn auch implizit, beschreibt: unserem Leben. Diskurspositionen im neuesten Obwohl die unterschiedlichen Kalküle von phi- deutschen Pop-Song (Ja, Panik / Messer / Trüm- lologischer und stärker kulturwissenschaftlich mer). In: I. Irsigler, O. Petras, C. Rauen (Hrsg.):

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 174 | Besprechungen

Deutschsprachige Pop-Literatur von Fichte bis sprachigkeit in Gabi Delgado-Lopez’ Kebabträume Bessing. Göttingen 2019, S. 305–322. (1980). In: DVjs 87 (2013), H. 3, S. 405–429. 7 Vgl. dazu den auch im Band vertretenen Ole Petras: Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschrei- Patrick Hohlweck bung popmusikalischer Zeichenverwendung. Bie- Humboldt-Universität zu Berlin lefeld 2011; sowie Jens Reisloh: Deutschsprachige Institut für deutsche Literatur Popmusik. Zwischen Morgenrot und Hundekot. Unter den Linden 6 Von den Anfängen um 1970 bis ins 21. Jahrhundert. D–10099 Berlin Münster 2011. 8 Vgl. dazu z. B. Marcus Hahn: Ein türkischer Spion im deutschen Kalten Krieg. Migration und Mehr-

Jochen Vogt Schema und Variation. 13 Versuche zum Kriminalroman. Wehrhahn Verlag, Hannover 2020, 373 S.

Das Feuilleton greift in den Rezensionen zu ak- Frage nach dem ästhetischen Wert des Genres. Mit tuellen Kriminalromanen immer wieder zu der Marjorie Nicholson und Bertolt Brecht fasst Vogt ambivalenten Floskel, es handele sich bei dem im Blick auf die intellektuellen Eliten den Kri- vorliegenden Text um ‚(viel) mehr als (nur) einen mi-Konsum als bewusste Entscheidung für „eine Krimi‘1 – eine Aussage, die den gegenwärtig un- alternative Literatur der Moderne“ (S. 84; Hervorh. sicheren Status des Genres zwischen literarischer i. O.), die in ihren narrativen Verfahren gerade Aufwertung und Löschung exemplarisch verdeut- nicht einer Ästhetik des Bruchs, der Einmaligkeit licht. Jochen Vogts Aufsatzsammlung Schema und der Regelverletzung verpflichtet ist, sondern und Variation, die zu etwa gleichen Teilen Ori- auf ein Schema und seine Variation setzt. Gleich- ginalbeiträge und Wiederabdrucke enthält, stellt wohl „sickern im Lauf der Zeit Themen, Motive denn auch „die poetologische und literatursozio- und literarische Techniken aus der Hochkultur logische Frage nach dem Ort der Kriminalliteratur ins Genre ein, wie generell in die mittlere Kultur, im literarischen Feld“ (S. 16) in ihr Zentrum. und erweitern deren thematisches wie formales In spielerischer Anverwandlung der bekannten Repertoire.“ (S. 117) Wie der Aufsatz Triumph produktionsästhetischen Regelkataloge des Genres des Thrillers und Wege zum Geschichtsroman in – zu denken ist etwa an S. S. van Dines Twenty einer genauen erzählstrukturellen Analyse von Rules for Writing Detective Stories (1928) – wird Henning Mankells Vor dem Frost (2002, dt. 2003) der Band mit der programmatischen Ankündi- exemplarisch präzisiert, ist diese Verwendung gung eröffnet, „fast Alles über Krimis … in 13 im Kontext der klassischen Moderne geprägter einfachen Sätzen“ zu sagen. Die ernsten Scherze literarischer Verfahren zurückgebunden an Ent- einer selbstreflexiven Genrepoetik vom Anfang wicklungsprozesse im Genre wie im literarischen des 20. Jahrhunderts aktualisiert Vogt, um ein Feld – einerseits an narratologisch zu beschreiben- Spannungsfeld für seine Leitthesen aufzuspannen, de Entgrenzungen kriminalliterarischen Erzählens die in den versammelten Beiträgen nicht einzeln von der Fallgeschichte zum Roman, ja bis hin zur abgearbeitet, sondern aus je unterschiedlichen Per- Ausweitung des Kriminalromans zum hybriden spektiven in ihrer Verflechtung diskutiert werden. „Allzweck-Genre“ (S. 27), andererseits an einen So wird einleitend ein Genre vorgestellt, das „eine genreinternen Variationsdruck, der u. a. in der vormoderne Ästhetik mit inhaltlicher Modernität“ „Kombination aus Detektivroman und Thriller“ (S. 18; Hervorh. i. O.) verbindet. Aufgegriffen, (S. 149) als neuem, mittlerweile selbst standardi- erläutert und differenziert wird diese These im sierten Idealtypus deutlich werde. Angesichts der historischen Rückblick auf die Debatten um die Einschreibung abgegoltener Genremodelle in den Gefahrenpotentiale und den Wert kriminallite- Kriminalroman und der „nachholende[n] Moder- rarischer Fiktionen und verbindet sich so mit der nisierung“ (S. 326) kriminalliterarischen Erzählens

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 175 speziell seit den 1990er Jahren erweist sich das Jochen Vogts Aufsatzsammlung durchmisst mit Bemühen um eine distinkte Unterscheidung eindrucksvoller Textkenntnis und einem genauen zwischen Kriminalroman und „Nicht-Kriminal- erzählstrukturellen Blick in so souveräner wie über- Roman“ (S. 319) als wenig erfolgversprechend. zeugender Strukturierung das weite Feld kriminalli- Stattdessen plädiert Vogt für eine genaue Be- terarischen Erzählens von den Kriminalerzählungen trachtung des Genres in seiner ästhetisch-literari- der Spätaufklärung über die Popularisierung eines schen Spannbreite und rekurriert zur Bestimmung Standardmodells bis hin zu den Genreexperimen- dieses Feld-im-Feldes auf Pierre Bourdieus Konzept ten der Gegenwart mit argumentativer Präzision einer l’art moyen, oszillierend zwischen dem am und sprachlicher Klarheit. Die Konzentration ökonomischen Kapital orientierten Pol standardi- auf kanonische Autor*innen des Genres und ihre sierter und serieller Massenproduktion und dem Positionierung im literarischen Feld ist dem ana- Pol der Kunstautonomie, an dem sich vornehmlich lytischen Erkenntnisinteresse des Bandes geschul- symbolisches Kapital erwirtschaften lässt.2 Die det; die pointierten Bemerkungen zu David Peace Fruchtbarkeit des an diese Perspektive anknüpfen- oder Andrea Maria Schenkel belegen zudem, dass den Vorschlages von Jacques Dubois, der die nicht Vogt – auch in seiner Position als Jurymitglied der als Kunst formierte Kriminalliteratur als „eine Art Krimi-Bestenliste – ebenfalls bestens vertraut ist mit von Insel […] im Innern des allgemeinen Feldes den thematischen und formalen Entwicklungen im der Literatur“ (S. 115) vorstellt,3 und den Vogt internationalen Feld der Kriminalliteratur. Einzig bereits in seiner Einladung zur Literaturwissenschaft der These Vogts von einer fortgesetzten Miss- und aufgenommen hat,4 zeigt die Aufsatzsammlung Verachtung des Genres von Seiten der Literatur- selbst, indem sie ihre Lektüre von Uta-Maria Heims wissenschaft, namentlich der deutschsprachigen ästhetisch avancierten Romanen zwischen Krimi- Germanistik, vermag ich mich nicht so recht an- nalroman, Familienroman, historischem Roman schließen. Seit der von Vogt 1971 publizierten Aus- und weiblicher Ich-Findung neben eine Deutung wahlsammlung Der Kriminalroman. Zur Theorie von Hans Henny Jahnns Das Holzschiff als „alle- und Geschichte einer Gattung5 hat sich eine durchaus gorische[m] Detektivroman“ (S. 240) stellt. Vor beachtliche Forschungstätigkeit rund um das Genre dem Hintergrund dieser Überlegungen erhöhen die entfaltet, die neben Qualifikationsschriften – wie vermeintlich rein anekdotischen Einflechtungen zu meiner eigenen – etwa das im Metzler-Verlag ver- Paul Celans Maigret-Übersetzung (S. 273 f.) und öffentlichte Handbuch Kriminalliteratur oder den Charles Baudelaires Poe-Übersetzung (S. 105), bei de Gruyter erschienenen Band Contemporary zu Hans-Georg Gadamers Lieblingsserie Derrick German Crime Fiction umfasst.6 Die literatur-, (S. 330), zum scheiternden Krimiprojekt Bertolt medien- und kulturwissenschaftliche Forschung zu Brechts und Walter Benjamins (S. 227–230) oder einem der erfolgreichsten Genres der Gegenwarts- zu dem Rezeptionshinweis, dass George Simenon literatur hat sich dank Jochen Vogt etabliert. Hoffen „mehr als ein halbes Dutzend“ Literaturnobelpreis- wir, dass es so bleibt. träger zu „seinen Lesern und Bewunderern“ zählen konnte (S. 135), nicht nur die Lesbarkeit, sondern erhalten auch analytisches Gewicht. So stellen die Anmerkungen versammelten Aufsätze ihren Gegenstand stets in einer doppelten Bezogenheit vor: sowohl im Genre- 1 Andrea Gerk: Paulus Hochgatterer: „Fliege fort, fliege kontext als auch im Blick auf den zeitgenössischen fort“. Mehr als nur ein Krimi. Deutschlandfunk Kul- Pol des l’art pour l’art. Programmatisch ist in dieser tur, 09.1.2020, , Low? Modern oder vormodern? Der Kriminalroman zuletzt: 13.7.2020. als „mittlere Literatur“ und einige Musterstücke aus 2 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Ge- den Dreißiger Jahren. Besser nachvollziehen ließen nese und Struktur des literarischen Feldes [11992]. sich diese persönlichen Austauschbeziehungen und Frankfurt a. M. 2019. Krimi-Konstellationen allerdings mit einem Index, 3 Jacques Dubois: Le roman policier ou la modernité. auf den leider verzichtet wurde. Paris 1992, S. 75.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 176 | Besprechungen

4 Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. (Hrsg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien Mit einem Vertiefungsprogramm im Internet. 7., – Geschichte – Medien. Stuttgart 2018; Thomas erw. und akt. Aufl. Paderborn 2016, S. 203 f. Kniesche (Hrsg.): Contemporary German Crime 5 Jochen Vogt (Hrsg.): Der Kriminalroman. Zur Fiction. A Companion. Berlin, Boston 2019. Theorie und Geschichte einer Gattung. 2 Bde. München 1971; aktual. u. erweit. Ausgabe: Ders. Sandra Beck (Hrsg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Universität Mannheim Geschichte. München 1998. Seminar für deutsche Philologie, Schloss 6 Sandra Beck: Narratologische Ermittlungen. Muster D–68131 Mannheim detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg 2017; Susanne Düwell u. a.

Niklas Holzberg, Horst Brunner (Hrsg.) Hans Sachs. Ein Handbuch. Mit Beiträgen von Eva Klesatschke, Dieter Merzbacher und Johannes Rettelbach. 2 Bde. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2020, 1165 S.

„Wer all ding west, thet nit unrecht.“ (KG 5, jeweils vorweg zusammenfassend charakterisiert. 254,4),1 lautet ein Vers von Hans Sachs. Dieses Zudem werden, graphisch abgesetzt und fortlau- Diktum könnte das Motto sein für das in jeder fend chronologisch, zwischen die Werknummern Hinsicht gewichtige zweibändige Handbuch in aller Kürze eingearbeitet: lebensgeschichtlich Hans Sachs, das alles bietet, was zum Werk von bedeutsame Daten zur Familie und ihrem Immo- Hans Sachs heute zu wissen möglich ist, und die bilienbesitz, zu Sachsens Ausbildung und Karriere Hoffnung nährt auf längst fällige Erkenntnisfort- in Handwerk, Meistersinger- und Dichtkunst, zu schritte in der Hans-Sachs-Forschung. Es handelt seinen Publikationsstrategien; Ratsverlässe zu Ge- sich um ein Repertorium, neudeutsch Findebuch. und Verboten, etwa Aufführungsgenehmigungen, Sämtliche etwa 6200 bezeugte Sachsdichtungen auch Warnungen des Nürnberger Regiments an sind chronologisch nach Nummern verzeichnet; Sachs persönlich; einschneidende Katastrophen Bd. II, S. 1062 f. listet auf, welche ca. 500 davon für die Stadt. verloren gegangen sind. Möglicherweise ist einiges, Der Anhang systematisiert in chronologischen was tagespolitisch brisant war, durch die Nürnber- Tabellen die Produktionsdichte nach gattungs- ger Zensur undokumentiert vernichtet worden, hat typologischen Kriterien und führt bekannte doch ein Ratsverlass bereits einen Tag nach dem Quellen an. Selbstverständlich gibt es auch eine Tod von Hans Sachs am 19.1.1576 angeordnet, aktualisierte Bibliographie im Anschluss an seinen Nachlass zu überprüfen und Unerwünsch- Holzberg 1976/77. Nachwuchsforschern bietet tes, bisher nicht Gedrucktes einzukassieren (Bd. Holzberg bereits vorsortierte Motivkomplexe an II, S. 1058, nach Nr. 6169). (Bd. II, S. 1112 ff.), bspw. zu Traumsequenzen im Zu jeder Nummer [Regest] werden Titel, Gesamtwerk; für Krimi-Fans listet er Werke auf, Entstehungs- und Druckdaten, gattungsspezifi- die eine aussichtsreiche Vorlagensuche versprechen sche Angaben – zu Meisterliedern etwa Ton und (‚Wartetexte‘, Bd. II, S. 1088 ff.). Namen- und Strophenzahl, zu übrigen Werken die Versanzahl Zahlenkolonnen ohne Ende, die der kreativen –, Inhaltsangabe – bei Spielen auch Szenen- Phantasie reiche Nahrung bieten, um daraus in- übersicht –, Stoffangabe und ggfs. Mehrfach- novative Forschungsperspektiven zu entwickeln. bearbeitungen, soweit ermittelbar Quellen und Sämtliche Originalbeiträge stammen von wichtige Forschungsliteratur verzeichnet – zu jeder Niklas Holzberg. Integriert sind die bereits Nummer also alles, was bekannt ist und für eine 1986/87 von Horst Brunner herausgegebenen Interpretation der Dichtung nützlich sein könn- Bände 9–11 des ‚Repertoriums der Sangsprüche te. Das Gesamtwerk von Sachs ist überdies in 9 und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts‘ Schaffensphasen gegliedert. Diese Phasen werden (RSM), weshalb es mitunter etwas im Gebälk

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 177 knirscht, z. B. wegen der im RSM unsystematisch Seine Lied-, Spruchgedicht- und Dramentexte wiedergegebenen Namen (Bd. I, S. VIII f.). inkl. Fastnachtspiele hat Sachs selbst zeitlebens Wer absichtslos im Repertorium oder Anhang akkurat verzeichnet. Neben einer Reihe von Lie- blättert, wird staunen, welch ungeheure religiöse, besliedern dichtet er in Phase 1 auch ziemlich viele politische, literarische Kenntnisse dem Werk von Meisterlieder geistlichen Inhalts, darunter noch Hans Sachs innewohnen, wie Alltags- und Welt- katholische Stoffe wie ein Katharina- und ein Ma- wissen sich verdichten unter den Bedingungen rienmirakel (Nr. 67, 68); eine Schulkunst (Nr. 34), eines strengen reichsstädtischen Regiments, das eine Meistergesangursprungsage (Nr. 36); weitere sich zu behaupten sucht gegen Kaisertum und Lieder und Spruchgedichte, 2 Fastnachtspiele – territoriale Potentaten unter den Bedingungen alles Werke, die noch der Tradition der Nürnber- zunehmend plurikonfessionell aufgeladener ger Handwerkerdichtung zuzuordnen sind. Ein Spannungsfelder. Die Lebenszeit von Hans Sachs kolossales Pensum! (1494–1576) war nicht gerade ereignislos, es Die Aufmerksamkeit sei gelenkt auf Nr. 32, fehlen aber, von seinen Dichtungen abgesehen, 7.4.1515, Historia. Ein kleglich geschichte von zweyen belastbare Zeugnisse über persönliche Befind- liebhabenden. Der ermört Lorenz: „Der spruch der lichkeiten. Sogenannte Ego-Dokumente wie eine ist mein erst gedicht Das ich sprüchweiß hab zu Autobiographie oder Privatbriefe liegen nicht vor. gericht.“ Aus der Paraphrase und weiteren Angaben Gewöhnlich wird Sachs als Dichter apostrophiert, erfahren wir: Eine klassische Ehrenmordgeschichte der sein Schaffen überwiegend in den Dienst der von Brüdern an dem Liebhaber ihrer Schwester, Reformation gestellt habe. Die Sicht auf seine ein Liebestod der Schwester. Verwiesen wird wie Anfänge dokumentiert dagegen eine völlig offene immer, soweit existent, auf weitere Bearbeitungen religions- und gesellschaftspolitische Situation in des Stoffs, was zu Vergleichen anregen könnte. Nürnberg. Niemand konnte vorhersehen, wie sich Quelle: Boccaccio. der Rat zu Reich, Papst und Luther stellen würde, In Nr. 33, 1.5.1515, geht es wieder um einen und auch nach der offiziellen Einführung der Re- Liebestod, präsentiert als Dialog zwischen einem formation in Nürnberg 1525 durfte sich niemand alten Mann und einem Ritter, den der Dichter sicher fühlen, wie Zensurmaßnahmen, auch gegen an einem ‚locus amoenus‘ belauscht. Zitiert wird Hans Sachs, zeigen. Die Rede von ‚in den Dienst Ovid, aufgerufen der abendländische Kanon un- der Reformation gestellt‘ ist irreführend, denn glücklicher Liebender, womit über Texte mit den Sachs wusste vor, in und nach der Reformation, enumerierten Helden (prominent z. B. Nr. 133, was er für richtig hielt, und sein Engagement für Tragedia von der Lucretia) und deren Anhang die geschundenen Bauern, die Stadtarmut und wi- vielerlei Frageansätze vorgeschlagen sind: der frühkapitalistischen Eigennutz hätte in dieser „Achill / Polyxena, Samson / Delila, Jason / Form Luther kaum gefallen. Medea, Pyramus / Thisbe, David / Bathseba, Vir- Als Anregung zur Benutzung des Handbuchs gilius, Guisgardus / Gismunda, Tristan, Leander / werde ich einige Beispiele aus der frühen Schaf- Hero, Florio / Biancefiora, Euryalus / Lucretia, fenszeit von Sachs geben. Paris / Helena“ (zu Nr. 33). 1. Schaffensphase 1513–1520. Sachs wird 1494 Den Aufschreibeprozessen müssen Lektürepro- als Sohn eines Schneiders und einer wiederver- zesse und meisterliche Lektionen vorausgegangen heirateten Schneiderwitwe in Nürnberg geboren, sein. In einer Epoche, der generell Wiederholungs- absolviert 1509–1511/12 seine Schuhmacherlehre lektüre nachgesagt wird, darf bei Sachs von einem und nimmt bei Lienhart Nunnenbeck Unterricht phänomenalen Gedächtnis und einem rasanten im Meistergesang, macht sich 1511/12 auf die Lesetempo ausgegangen werden. Typologisch hat Walz, heiratet 1519 Kunigunde, weshalb seine sich der Terminus ‚kreatives Lesen‘ eingebürgert, Eltern ihm sein Geburtshaus überschreiben; 1520 der eine Lesehaltung charakterisiert, die auf pro- wird ihm die Meisterwürde verliehen. Alles, wie duktive Verwertung des Rezipierten zielt. Passend es sich gehört. Lebenslang wird er die Parallel- wäre auch der Begriff eines ‚ausschweifenden laufbahn im Schuster- und Dichterhandwerk Lesens‘, das abenteuerlich experimentiert. beibehalten. Wie viele Schuhe er in dieser Zeit Eines Spruchgedichts muss noch gedacht hergestellt oder repariert hat, ist nicht bekannt. werden, das Sachs selbst retrospektiv in seine

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 178 | Besprechungen

Wanderzeit einordnet und das in Sachs-Bio- neue Medienformate und wird schlagartig über die grafien entsprechend in München verortet wird: Stadtmauern hinaus bekannt. Neben zeitpolitischen Nr. 2727 vom 9.5.1548, Gesprech frau Ehr mit Texten, besonders gegen den Markgrafen Albrecht, eynem jüngling, die wollust betreffend. Das Dichter- gehören antipapistische Polemiken zu den wenigen Ich will sich damals unsterblich in eine ganz und Dichtungen, in denen Sachs – von heiligem Zorn gar eheuntaugliche Jungfer verliebt haben und gepackt? – ganz unversöhnlich formuliert, allein sei von seinem Vater umgehend nach Nürnberg schon wegen der behaupteten Unfehlbarkeit des zurückbeordert worden; gewissermaßen ein von Satans auf dem Petrusstuhl (vgl. Nr. 93). Frau Ehre gerade noch verhinderter Liebestod. Die Reformationspublizistik Sachsens ist Daraus kann man einen Kitschroman vom armen umfangreich wissenschaftlich erschlossen. Viel Wandergesell machen („ihn tief erschütternde diskutiert ist auch der illustrierte Einblattdruck Liebe“, so Bernstein 1993, 28; vgl. die bekannte Nr. 117a, Der arm gemain esel, der m. E. dennoch Operettennummer), ein Adoleszenzdrama bzw. eine Neubewertung verdiente, jedoch führte das eine coming-of-age-story oder ein rhetorisches hier zu weit. Feuerwerk mit klassischen Persuasionstechniken, Im vorgestellten Handbuch sind Anlage und ‚locus amoenus‘, Traumgespräch, Metanoia und Vorgehensweise prägnant und luzide dargestellt Belehrung, wie bereits seit 1515 belegt – je nach und, soweit in Holzbergs eigener Regie ver- literaturwissenschaftlicher Kompetenz. antwortet, auch durchgeführt. Wer immer sich 2. Schaffensphase 1523–März 1527. Zwischen wissenschaftlich mit Sachs beschäftigen will, ob 1520 und 1523 verzeichnet Sachs kein Werk. Er mit einem Einzeltext, einem Spezialproblem oder widmet sich neben seinem Handwerk und Haus- übergreifenden Fragestellungen, wird dieses Hand- stand offenbar dem Studium reformatorischer buch konsultieren müssen. Predigten und Schriften. 1523 entsteht noch ein einziges Meisterlied, Nr. 81, Die nachtigal, offen- bar ein Probelauf, danach stellt Sachs die Meister- Anmerkungen liedproduktion bis 1526 ein (Bd. I, S. 17). Am 8.7.1523 der Einzeldruck mit Titelholzschnitt und 1. Alle Nachweise sind leicht zu ermitteln im Hand- Prosavorrede, eine Allegorie und ihre Auslegung: buch, das auch digital zugänglich ist. Die wittembergisch nachtigall – eine prolutherische Sensation. Es folgen die vier Prosadialoge. Sachs Maria E. Müller erobert für die Nürnberger Handwerkerdichtung

Klaus Garber Der Reformator und Aufklärer Martin Opitz. Ein Humanist im Zeitalter der Krisis. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2018, XXI u. 846 S.

Die Opitz-Forschung hat in der letzten Zeit ge- Dem Desiderat einer größeren, sich auf dem waltige Schritte nach vorne gemacht, und das ist aktuellen Stand der Forschung bewegenden, nicht zuletzt dem Aufschwung der editorischen monographischen Aufarbeitung von Opitzʼ Leben Bemühungen um das Opitz’sche Gesamtwerk zu und Werk begegnet nun Klaus Garber in seiner verdanken: Zu nennen sind hier die Gesamtedition umfangreichen Darstellung zum „Reformator“, der lateinischen Werke durch Veronika Marschall „Aufklärer“ und „Humanist im Zeitalter der Kri- und Robert Seidel,1 die Briefausgabe von Klaus sis“. Die Schlagwörter des Titels weisen bereits auf Conermann2 sowie, aktuell, die im Entstehen be- die konzeptuellen Pflöcke, zwischen denen Garber griffene Tübinger Hybridedition, die die Ausgabe seinen Gegenstand einspannt: Wenn ein Barock- der (deutschsprachigen) Werke, die von George forscher an prominenter Stelle den Barockbegriff Schulz-Behrend begründet wurde, zu einem Ende vermeidet, wenn er auch nicht, wie es aktuell bringt.3 gern getan wird, möglichst wertungsfrei vom

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 179

‚17. Jahrhundert‘ oder der ‚Frühen Neuzeit‘ spricht, frühere Literaturkunde des Verfassers eingebaut.4 so ist das ein deutliches Signal – ein Signal dafür, Dass man stattdessen nun auf die kommentierte welch große Linien der europäischen Geistesge- Literaturkunde trifft, ist kein Nachteil, im Gegen- schichte Garber in der Person Opitz zusammen- teil: Zu oft wissen Großdarstellungen nicht um die fließen lässt, und zugleich, welche Fragehorizonte Gebote der Leserfreundlichkeit und wissenschaft- er aufspannt und welche Interpretationsangebote lichen Benutzbarkeit, denen die strukturierte und er macht: Es geht ihm ganz maßgeblich um die kommentierte Aufbereitung der Literatur, wie sie kultur- und literaturgeschichtlich adäquate Kon- Garber präsentiert, gerecht wird. textualisierung und kritische Perspektivierung Garber baut, aus der Warte der Rezeptions- der für das deutschsprachige 17. Jahrhundert so geschichte heraus (Kap. I) und nach Klärung des übermächtigen Identifikationsfigur, aber auch um „Ideen-Panorama[s] um 1600“ (Kap. II), seine ihren Platz in der longue durée. Garber selbst nennt Darstellung nach Lebensstationen auf, die zu- den „Titel eines Aufklärers“ „ungewöhnlich[]“ gleich auch geographische Stationen sind. Damit (S. XVII) – und das ist er mit Sicherheit auch – nimmt er eine ‚raumkundliche‘ Perspektive ein und betont doch mit Nachdruck, dass Opitz im (vgl. S. XVI), die forschungsgeschichtlich nicht „gewaltigen Transformationsprozeß“ der Zeit um zuletzt seit den ersten sozialgeschichtlichen An- 1600, der „vorausweis[t] auf das Zeitalter der Auf- sätzen eine starke Tradition hat, die aber zugleich klärung“ (S. XVII), seinen bedeutsamen Ort habe. an aktuelle Bestrebungen anknüpft, Literatur über Nicht nur in gedanklicher Hinsicht ist Garbers soziale oder geographische Räume (u. a. im spatial Buch monumental: Auf gut 800 Seiten liefert es turn), über ‚Konstellationen‘ sowie die in ihnen mit einen umfassenden Überblick über die Biographie den Texten agierenden Akteure zu greifen. Garber des gelehrten Dichters, und zwar in einer Form, verbindet die wissens-, kultur-, ideen- und sozial- wie sie nur eine jahrzehntelange extensive und in- geschichtlichen Kontextualisierung von Opitzʼ tensive Forschungstätigkeit zur Literatur- und Kul- Leben und Schaffen stets mit der eingehenden turgeschichte des 17. Jahrhunderts hervorbringen Beschäftigung mit ausgewählten Textzeugnissen, kann. Das Buch synthetisiert und archiviert in ge- die in besonderem Maße als repräsentativ für eine wissem Sinne Garbers eigene langjährige Arbeit am bestimmte biographische Station oder Phase zu Gegenstand; hierbei operiert der Verfasser durch- gelten haben. Auch wenn diese Engführung des gängig auf dem Stand der aktuellen Forschung und Blicks auf die Detailfaktur eines Textes zumal bietet eine umfassende Dokumentation des biblio- unter dem Eindruck der großen Linien, die Garber graphischen status quo: Er liefert im Anhang eine zeichnen will, ihren eigenen Reiz und gewisser- „kommentierte Literaturkunde“, die, will man mit maßen dialektisch befeuerten Erkenntniswert hat; Opitz in Erstkontakt treten, für die Aufarbeitung auch wenn es programmatisch für ihn ist, Opitzʼ der langen Forschungsgeschichte von unschätz- Stimme zum Klingen zu bringen (vgl. S. XVII), barem Wert ist. Auf 53 Seiten kann man sich im so verweilt doch die Analyse stellenweise, etwa Bereich der Quellenkunde, also zu ‚historischen‘ im Falle der Trostgedichte In Widerwertigkeit Deß Bibliographien, Sammlungsverzeichnissen und Krieges, sehr im close reading – hier wären stärkere besonders wichtigen Bibliothekskatalogen, sowie Verschnürungen und Pointierungen dem glatten über die „Wege zur wissenschaftlichen Literatur“ Leseeindruck sicher zuträglich gewesen. Auf der (S. 805) belesen, auf denen man von Biographica anderen Seite erlaubt ein solches Vorgehen, dass und Bibliographica über die Editionen bis hin zu man, sucht man zu einzelnen Texten zusammen- einer kleinen Auswahlbibliographie voranschreitet, hängende Interpretationsvorschläge, schnell und in der klassische und aktuelle Beiträge der Opitz- gezielt fündig wird. Forschung versammelt sind. Garber gelingt über alledem das Kunststück, An dieser Stelle mag man eine umfangreiche eine biographisch orientierte Gesamtdarstellung Gesamtbibliographie erwarten, die sicherlich eben- zu einer ohne Zweifel großen und wirkmächtigen falls von Wert gewesen wäre. Wohl auch aus Grün- Dichterfigur zu schreiben und gleichzeitig – auch den des Gesamtumfangs des Buches wurde darauf dies in Übereinstimmung mit jüngerer Forschung, verzichtet und lediglich der Verweis auf die in den die sich kritisch gegenüber dem ‚Opitz-Paradigma‘ Fußnoten nachgewiesene Literatur sowie auf eine verhält5 – eben diese Größe durch konsequente

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 180 | Besprechungen

Kontextualisierung (des sprach- und literaturre- neuphilologie/deutsches-seminar/abteilungen/ formatorischen Projekts) kritisch auszuleuchten. neuere-deutsche-literatur/mitarbeitende/prof- Als Summa der Forschung setzt die Studie eigene dr-joerg-robert/forschung/projekte/dfg-projekt- Akzente und wird noch für lange Zeit das Stan- hybrid-edition-der-deutschsprachigen-werke- dardwerk zu Opitz Leben und Werk bleiben. des-martin-opitz/>, zuletzt: 1.9.2020. ʼ 4 Vgl. Klaus Garber: Verzeichnis bio-bibliographi- scher handschriftlicher und gedruckter Hilfsmittel zur schlesischen Personenkunde der Frühen Neuzeit Anmerkungen unter besonderer Berücksichtigung des Späthuma- nismus. In: Ders.: Martin Opitz – Paul Fleming 1 Martin Opitz: Lateinische Werke. 3 Bde. Hrsg. v. – Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts V. Marschall u. R. Seidel in Zusammenarbeit mit in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas. Köln u. a. W. Kühlmann, H.-G. Roloff u. zahlreichen Fach- 2013, S. 97–157. gelehrten. Berlin, New York 2009–2015. 5 Vgl. etwa Sylvia Brockstieger: Sprachpatriotismus 2 Martin Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse. und Wettstreit der Künste. Johann Fischart im Kritische Edition mit Übersetzung. 3 Bde. Hrsg. Kontext der Offizin Bernhard Jobin. Berlin, Boston v. K. Conermann unter Mitarbeit von H. Bollbuk. 2018. Berlin, New York 2009. 3 Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Aus- Sylvia Brockstieger gabe. 4 Bde. Hrsg. v. G. Schulze-Behrend. Stuttgart Universität Heidelberg 1968–1989. Zum aktuellen Editionsprojekt unter Germanistisches Seminar der Leitung von Jörg Robert (in Kooperation mit der Hauptstraße 207–209 HAB Wolfenbüttel) vgl.

Nils Gelker, Manuel Zink (Hrsg.) „Meister in der Kunst des Amalgamirens“. Untersuchungen zu August Klingemanns Werk. Wehrhahn Verlag, Hannover 2020, 216 S.

„Klingemann ist ein geistiger Mechanikus, der Es gibt kaum eine Gattung seiner Epoche, aus unendlich, aber nicht unbeschreiblich ist. Seine der Klingemann nicht Inspiration für ein eigenes Kunst ist mehr Astronomie als Poesie der Stern- Werk gezogen hat: Schauerroman, frühromanti- bilder“.1 In diesen Worten Clemens Brentanos scher Roman, Trauerspiel, Lustspiel, historisches klingt ein Vorwurf an, der die Rezeption des Drama, und die Liste könnte noch länger werden. literarischen Werks August Klingemanns lange Für jede dieser Gattungen zeigt Klingemann eine Zeit stark geprägt und sie an einer Konstellation außergewöhnliche Bereitschaft, sich der neuesten von Vorbildern orientiert hat. Zu den Haupt- Tendenzen und Theorien im Bereich der Kunst, gründen, die – mit Ausnahme der Diskussion Literatur, Theatertheorie und -praxis zu be- hinsichtlich der Nachtwachen von Bonaventura dienen und alle Antriebe in einem neuen Werk (1804) und der Uraufführung von Goethes Faust kristallisieren zu lassen. Was daraus resultiert, I (1829) in Braunschweig – zur Geringschätzung ist das Bild einer „Übergangsfigur zwischen dem von Klingemanns Schaffen beigetragen haben, wirklichkeitsverliebten Unterhaltungstheater zählen Mangel an Originalität, Epigonalität als der Aufklärung (Iffland, Kotzebue), der kunst- Epochensymptom, Neigung zur Übernahme von voll distanzierenden Weimarer Klassik (Goethe, Figuren, Motiven und Zitaten von den bekanntes- Schiller) und der romantischen Bühnenkunst ten literarischen Persönlichkeiten seiner Zeit. Der (Brentano, Tieck)“.3 selbstgeprägte Begriff „Meister in der Kunst des Dass Klingemann ein Hauptkenner der deut- Amalgamirens“2 erscheint so in der Tat besonders schen Literatur seiner Zeit war, beweisen seine treffend für Klingemann. frühe Beteiligung an den Debatten um eine Reform

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 181 des Theaterwesens, der Kontakt zu den jungen ersten literarischen Produktionsphase Klinge- Frühromantikern in Jena und mit der goetheschen manns (1797–1802) gewidmet, in der die Merk- Theaterpraxis in Weimar sowie die Einmischung male seiner späteren Leistungen schon sichtbar in die Literaturfehde zwischen Frühromantik und sind. Das gilt für die ‚Arabeske‘ Die Ruinen im Berliner Spätaufklärung – die sogenannte „Ästhe- Schwarzwalde (Manuel Zink), das Trauerspiel tische Prügeley“, deren Produkt die auf Kotzebues Die Maske (Alexander Košenina), die auf eine Expectorationen anspielende Satire Freimüthigkeiten theatralische Reform orientierten Briefe über Men- (1804) war. Nicht zuletzt forderte die 35 Jahre schendarstellung (Bastian Dewenter) und den lange Führung der Bühne seiner Heimatstadt Schauerroman Albano (Nils Gelker). Alle Werke Braunschweig von Klingemann das notwendige werden mit Blick auf die jeweiligen Vorbilder be- Augenmaß für eine Umsetzung ästhetischer Muster sprochen – Schiller und Iffland an erster Stelle. auf der Bühne, im Rahmen einer hauptsächlich auf Die Jahre 1806–1815 sehen Klingemann vor- Unterhaltung, Aktion und Belehrung setzenden wiegend mit historischen Stoffen beschäftigt. Theaterauffassung. Seinem theaterpraktischen Unter den in dieser Zeit entstandenen Stücken be- Vorgehen liegen eine unübersehbare Referenz an finden sich das dramatische Gedicht Martin Luther das Original sowie der für Klingemann charak- (Johannes Schmidt), Columbus und Ferdinand teristische Versuch zugrunde, bereits vorhandene Cortez (Timm Reimers), ursprünglich Teile des Stoffe zu erweitern. unvollendeten Projekts einer Südamerika-Trilogie, Die Frage, ob es sich bei der Vielzahl von die das weitere Stück Pizarro konstituieren sollte, Anspielungen und intertextuellen Bezügen um und die Posse Schill oder das Declamatorium in ein Zeichen für mangelnde Originalität und Krähwinkel (Hans-Joachim Jakob), welche mittels literarische Qualität oder vielmehr um das poeti- der Anspielung auf eine ambivalente historische sche Prinzip eines Autors handelt, der schon von Figur mehrfach Kotzebues Rührstücke parodiert. seinem Freund August Winkelmann als „Treff- Klingemanns Faszination für das Schicksal be- licher Spiegel“4 seiner Epoche bezeichnet wurde, kannter Persönlichkeiten der literarischen oder steht im Zentrum des von Nils Gelker und volkstümlichen Tradition bezeugen die in den Manuel Zink herausgegebenen Sammelbandes. 1810er Jahren verfassten Schauspiele, etwa das Die Beiträge setzen sich das Ziel, das in den letzten Trauerspiel Faust (Monika Fick), welches Motiv- Jahren im Rahmen einer Reihe neuer Editionen ähnlichkeiten mit Klingers Faustroman und wört- gesteigerte Interesse am Romancier, Theater- liche Zitate aus Goethes Meisterwerk aufweist, direktor und Dramatiker August Klingemann und die ebenfalls auf der goetheschen Behand- aufzugreifen und erstmals ein umfassendes Bild lung des Themas in Wilhelm Meisters Lehrjahren seines eklektischen Schaffens zu skizzieren. Die basierende, aber wie üblich bei Klingemann in Diskussion fokussiert sich auf bis heute von der Richtung einer bühnenpraktischen Wirksamkeit Forschung vernachlässigte Werke sowie auf das er- veränderte Hamlet-Bearbeitung (Anke Detken). giebige Verhältnis des Autors zu marktorientierten Das Reisetagebuch Kunst und Natur (Martina und vom zeitgenössischen Publikum abhängigen Gross) positioniert sich schließlich zwischen Strategien und Reflexionspunkten. Berücksichtigt Reisebericht und Theatergeschichtsschreibung werden unterschiedliche Aspekte, Gattungen und und stellt Klingemanns jahrelange Suche nach Lebensabschnitte innerhalb Klingemanns breiter einem deutschen Nationaltheater dar. Literatur- und Schauspielproduktion, die „mehr Allen Beiträgen gemeinsam ist die Feststellung, als 30 Dramen […][,] eine Reihe von Romanen, dass Klingemann sich keinesfalls auf bloße Nach- zahlreiche Zeitschriftenbeiträge, theoretische ahmung beschränkt. Seine Produktion spricht im Abhandlungen sowie de[n] dreibändige[n] Reise- Gegenteil von Erweiterung, Differenzierung und bericht Kunst und Natur“ (Einleitung, 12) umfasst. Auseinandersetzung mit literarischen Mustern, Nach einer Einführung zur Positionsbestim- die zu Gegenständen einer kritischen Lektüre mung Klingemanns und seines bekanntesten werden. Das wird bspw. von Bastian Dewenter im Werkes – Die Nachtwachen – in der Endphase Hinblick auf die Wiederaufnahme von Ifflands der Frühromantik und der Transzendentalpoesie Prinzip der Menschendarstellung auf der Bühne (Steffen Dietzsch), ist ein Teil der Beiträge der oder von Johannes Schmidt in seiner Analyse des

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 182 | Besprechungen

Trauerspiels Martin Luther überzeugend betont, Anmerkungen die zeigt, wie Klingemann die Werners Dramen zugrunde liegende religiöse Gattungsdefinition 1 Brief vom 1.12.1801. In: Clemens Brentano: Sämt- unter dem Einfluss Schillers und der romantischen liche Werke und Briefe. HKA, 38 Bde. Hrsg. v. J. Bewegung in eine historische Charaktertragödie Behrens u. a. Bd. 29, Briefe I, 1792–1802. Stuttgart in der Tradition Shakespeares verwandelt. Auch u. a. 1988, S. 396. 2 August Klingemann: Romano. Hrsg. v. M. Zink. Klingemanns Faustfigur erweist sich als Um- Hannover 2015, S. 71. setzung des traditionellen Stoffes im Licht der 3 Alexander Košenina: Nachwort. In: August Klinge- pessimistischen lutherischen Anthropologie und mann: Theaterschriften. Hrsg. v. A. Košenina. ihrer Eröffnung einer neuen Dimension des Un- Hannover 2012, S. 184. bewussten, wie im Beitrag von Monika Fick auf- 4 Vgl. Clemens Brentano (wie Anm. 1), Bd. 16, Prosa I, schlussreich diskutiert wird. Godwi, S. 566. Die Besprechung bisher meist vergessener Werke und die ausführliche Literatur, die die ein- Margherita Codurelli zelnen Beiträge abschließt, sollen zu einer neuen Katholische Universität Mailand Auseinandersetzung mit Klingemanns Texten bei- Fakultät für Fremdsprachen und Literatur tragen, deren auf eine systematische Kenntnis des Largo Gemelli 1 Zeitgeschmacks gestützte Position anzuerkennen ITA–20123 Mailand ist, und die wichtigen Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchung liefern.

Lore Knapp (Hrsg.) Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2019, 339 S.

‚Netze‘ und ‚Netzwerke‘ sind zu paradigmatischen verweist Knapp darauf, dass es drei Formen der Leitmotiven in der Wissenschaft geworden. Bruno literaturwissenschaftlichen Arbeit im Netzwerk- Latours umfassende Akteur-Netzwerk-Theorie Kontext gibt: das Netzwerk als theoretischer (ANT), die sich seit den 1980er Jahren stetig Rahmen aus der Soziologie, die empirische weiterentwickelt, wurde ausgehend von den Sci­ Datenanalyse in Bezug auf Akteure sowie den ence Studies artikuliert und hat transdisziplinär metaphorischen Sprachgebrauch. Hieraus kons- Anschluss gefunden. Sie wird vielfach in der Lite- tituieren sich die drei Teile des Sammelbandes. raturwissenschaft und der Soziologie angewendet Knapp legt dar, dass die Aktualität des Netzwerks und stark diskutiert. Latours ANT stellt einen als leitmotivische Vorstellung der Wirklichkeit zugleich besonderen wie auch prominenten An- in der Bedeutung des Internets, den globalen satz dar, der u. a. nichthumanen Aktanten einen Vernetzungen und der Forschung an neuronalen Akteursstatus zuspricht und die Dualismen von Netzen begründet liegt. Die Ursprünge der lite- Subjekt/Objekt sowie Kultur/Natur nivelliert. raturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Der von Lore Knapp herausgegebene Sam- Netzwerken liegen in der Soziologie. Hier handelt melband verortet sich an dieser Schnittstelle und es sich primär um deskriptive und metaphorische verhandelt das Netzwerk-Potential in literatur- Verwendungen. Es gibt diverse Netzwerk-Modelle wissenschaftlichen und literatursoziologischen zumeist biologischen und mechanischen Ur- Beiträgen, die Latours ANT und Gisèle Sapiros sprungs. Knapp sieht in Latours ANT Potential, literarische Feldtheorie zugrunde legen. Der Band um Literatur und den Literaturbetrieb zu unter- setzt sich aus 15 Beiträgen zusammen,1 dazu kom- suchen, da auch nichthumane Aktanten handeln men zwei Erst-Übersetzungen von Texten Latours können bzw. Netzwerke bilden, was häufig als und Sapiros.2 Alleinstellungsmerkmal der ANT hervorgehoben In der Einleitung Literarische Netzwerke im wird. Mit dem Exempel eines Briefnetzwerks ver- 18. Jahrhundert: theoretisch, empirisch, metaphorisch deutlicht Knapp jedoch, dass auch sie primär einen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 183 metaphorischen Netzwerkbegriff zugrunde legt, literaturwissenschaftlichen Bezugnahme und der zur Deskription sozialer Beziehungsgeflechte bietet historische Fallstudien. Er wird mit einem und deren Kommunikationsform dient. Es sei das Beitrag von Gustav Rossler, dem Latour-Exper- symmetrische Denken Latours, in dem Akteure ten und -Übersetzer eröffnet. In Über die Akteur- nicht hierarchisiert werden, das sich für Analysen Netzwerk-Theorie werde von Latour „eine klare über Fiktion, Ästhetik und Kunst anbiete, da Differenzierung der verschiedenen Dimensionen auch reale und fiktive Wesen Akteure respektive der Akteur-Netzwerke [ge]liefert“ (S. 35). Anhand Aktanten sein können, weswegen der Ansatz für dieser – mit Latour gesprochen – „Forschungszwei- die Auseinandersetzung mit Literatur und Theater ge“ (S. 35, 53) präsentiert Roßler die semiotische, besonders fruchtbar erscheine. ontologische und methodische Dimension von La- Latours ANT stellt „[d]em gängigen Model tours ANT und betont ihr integrales Vorgehen, da diffundierender Macht“ (S. 18) ein Übersetzungs- alle drei Dimensionen verknüpft werden müssen. modell entgegen, das einer permanenten Transfor- Dienlich erscheint Roßlers vorläufige, aber kon- mation unterliegt und somit nie statisch, sondern krete Definition: „Eine Untersuchung im Sinne immer dynamisch ist. Vom Übersetzungsmodell der Akteur-Netzwerk-Theorie rekonstruiert und und der darin immanenten Performativität aus- interpretiert das Soziale ausgehend von Assoziati- gehend liegt hierin das Potential für literaturwis- ons- oder Übersetzungsketten, die sich semiotisch senschaftliche Analysen, Aspekte wie Autorschaft und ontologisch verstehen lassen“ (S. 43). und Werk anders zu perspektivieren. So kann Es folgt die Übersetzung von Bruno Latours Literaturgeschichte neu dargestellt werden, da in Über die Akteur-Netzwerk-Theorie. Einige Klarstel- Akteur-Netzwerken auch nicht-kanonische Werke lungen aus dem Englischen. Latour verweist darauf, stärker fokussiert werden. Netzwerke dienen für dass die Netzwerktheorie vielfach missverstanden Knapp ferner zur Deskription von Wissenstrans- und sogar missbraucht werde. Er betont, dass fers und Vermittlungen. Wenn sie aber „Latours der Terminus ‚Netzwerk‘ sich nicht nur auf eine Vermeidung der herkömmlichen Modelle von Ge- technische Bedeutung beschränkt und sogar „alle sellschaft“ als „bezeichnend für die Theorieferne charakteristischen Eigenschaften eines technischen seiner Methode“ versteht (S. 21), wird das Potential Netzwerks fehlen“ (S. 46) können. Außerdem der Latour’schen ANT unterminiert. Schließlich konzentriere sich die ANT nicht auf soziale Ver- ist es gerade der autarke Charakter der ANT, der bindungen im Sinne individueller menschlicher die Beschreibungen neuer Verflechtungen er- Akteure, sondern wolle „die Sozialtheorie aus möglicht und dadurch neue Perspektivierungen Netzwerken aufbauen“ (S. 46), da sie nicht nur generiert, losgelöst von theoretischen Vorbauten Soziologie, sondern auch Ontologie ist. Latour geht und emanzipiert von spezifischen disziplinären auf die Etymologie des Wortes ‚Netzwerk‘ ein – er Ansätzen. verweist auf den Ursprung in Diderots Wort réseau, Knapp geht davon aus, dass die Netzwerkana- das sich dem cartesianischen Dualismus entziehen lyse mit einer auf empirischen Daten basierenden will und eine ontologische Komponente imma- Feldtheorie zusammengeführt werden muss, um nent hat, die konstitutiv für die ANT ist. Es wird für eine literaturhistorische Untersuchung als theo- deutlich, dass die ANT einen reduktionistischen retisches Fundament dienen zu können. Dieses er- und relativistischen theoretischen Ansatz verfolgt, kennt sie in Sapiros Ansatz, in dem „die Parameter der jedoch dazu dient, daran anschließend die quantitativer Analysen des literarischen Feldes nicht-reduktionistischen und relationistischen nach Pierre Bourdieu durch Aspekte individueller Ontologien herauszuarbeiten. Für Latour ist Beziehungen“ (S. 22) ergänzt werden. Der soziolo- die ANT primär ein Werkzeug, um „den Sinn gische Ansatz Sapiros reduziere die Komplexität im für Heterogenität wiederzugewinnen, und um Sozialen, wohingegen die Latour’sche ANT darauf Interobjektivität in den Mittelpunkt“ (S. 66) von ziele, die Komplexität der Realität abzubilden, in- Untersuchungen zu stellen. dem sie prinzipiell unabschließbar ist. Der Germanist Walter Erhart beleuchtet in Der erste Teil Zur Akteur-Netzwerk-Theo- seinem als „Kommentar“ eingeordneten Beitrag rie von Bruno Latour fokussiert die spezifische Strategien, Kalküle und Existenzweisen – Literatur- ANT von Latour, diskutiert das Potential der wissenschaft und Netzwerktheorie das Verhältnis der

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 184 | Besprechungen

Philologie zur ANT und sieht darin innovatives beschreiben. Kramer spricht von einem „heu- Potential. Er argumentiert, dass der Terminus ristischen Zugewinn“ (S. 80), den das neue ‚Netzwerk‘ eine Organisationsform darstellt, die methodische Instrumentarium biete, das gegen- nicht vom Inneren ausgeht, sondern Äußeres be- über traditionellen Beschreibungsansätzen neue schreibt. Erhart hebt positiv hervor, dass durch die Potentiale von Literatur offenlege. Sie stellt ihren „netzwerkartig formatierten Organisation- und Artikel in den Kontext der neuen Kulturtechnik- Kommunikationsstrukturen“ (S. 68) neue „Ver- forschung, die sich aus methodischen Grundlagen bindungslinien“ fokussiert werden, wodurch das der ANT entwickelt hat, und legt dar, dass bereits Zentrum-Peripherie-Modell zugunsten von „Zir- die frühneuzeitliche, voraufklärerische Lyrik Spa- kulationen, Verflechtungen und Vermittlungs- niens als „Kulturtechnik der Welterschließung“ instanzen“ aufgegeben wird und eine „Geschichte (S. 80) zu begreifen ist, die als eine auf Zeichen der Peripherien“ (S. 69) geschrieben werden kann. gestützte Netzwerktechnik verstanden werden Er betont, dass soziale Netzwerke menschliche Be- kann, indem sie in Verbindung mit Akteur-Netz- ziehungsnetzwerke sein können, pointiert jedoch werken der Wissenschaft und Technik steht. Um kritisch, dass etwa die Bezeichnung der deutschen 1600 fasst dies globalhistorische, kulturgeschicht- Autorin Elisa von der Recke (1754–1833) als ‚stra- liche und soziale Entwicklungen, die sich mit der tegische Netzwerkerin‘ (so der Beitrag von Valerie Erforschung und Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ Leyh, S. 225–250) legitim, aber rein metaphorisch befassen. Kramer verweist auf die ‚symmetrische ist und wesentliche Aspekte der ANT ausblendet. Anthropologie‘ Latours, in der heterogene Entitä- Erhart legt drei Zugangsweisen für eine durch die ten in einer Homologie bzw. einer Kontinuität be- ANT inspirierte Literaturwissenschaft dar: die Be- trachtet werden. Netzwerke definiert Kramer mit leuchtung vielfältiger Kontexte, ähnlich dem New Latour „als relationale Gefüge von ‚Assoziationen‘ Historicism, wobei Handlungsketten, Akteure und und ‚Konnektionen‘, die komplexe Austauschpro- Quasi-Subjekte als „Gestaltungs- und Struktur- zesse zwischen unterschiedlichen Elementen oder elemente“ (S. 75) von Texten beschrieben werden; Entitäten umfassen“ (S. 81) und auf einem Modell auf diese müssten im zweiten Schritt das ‚System‘ der ‚Semiotik der Dinge‘ beruhen, die über die und die darin inhärente Funktion der Literatur linguistische Semiotik hinausgeht. Die Operatio- dargestellt werden, um agencies neu zu bestimmen nalisierung der Entstehung von Kultur impliziert und (fiktionalen) Texten einen Aktantenstatus zu- dabei drei Entitäten: materiell-technische Artefakt, zusprechen. So werde Literatur nicht nur passives Zeichen und Personen; eine Trias heterogener Produkt, sondern gestalte aktiv. In einem dritten Elemente, die als übergreifende Operationsketten Schritt würde dann die Disziplin der Literatur- keine isolierten Einheiten darstellen. Kramer wissenschaft selbst weiterentwickelt – die Über- exemplifiziert dies am Beispiel der Dichtung von windung starrer Trennungen wie Kultur/Natur Luis de Góngora, die „als Schauplatz umfassender und Subjekt/Objekt führe zu neuen Perspektivie- gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und kulturel- rungen. Eine literaturwissenschaftliche ANT böte ler Transformationsprozesse“ fungiere (S. 86) und demnach Erhart zufolge mehr Potential als nur dies in der Erschließung und Aneignung der Welt eine erneuerte Auflage der sozialen, kommunika- deutlich mache. In Góngoras Soledades artikuliere tiven und medienhistorischen Literaturgeschichte sich dies in Form einer semantischen wie syntakti- des 18. Jahrhunderts. schen Komplexität und einer artifiziellen Sprache, Kirsten Kramer betont in ihrem Beitrag Arte- die sich dem Sprachgebrauch der Zeit entgegen- fakte, Personen, Zeichen – Zur Akteur-Netzwerk- stelle. Auf inhaltlicher Ebene seien es operative Theorie und Kulturtechnikforschung am Beispiel der Verflechtungen in der Seefahrtrede der Soledades, spanischen Barocklyrik, dass in der ANT (Latours „die als enzyklopädisches Kompendium des zeit- Existenzweisen zufolge) Grundlagen und Begriffe genössischen Weltwissens lesbar sind und neben auf Konzepte und Kategorien der Ästhetik-, Kunst- mythologischen und kosmologischen Bildele- und/oder Literaturtheorie zurückgehen. Zugleich menten ein breites Spektrum von Wissensfiguren lasse sich die ANT als Methode verwenden, um entfalten, die auf die zeitgenössische Natur- und Literatur(-formen) als Netzwerktechniken zu Experimentalwissenschaften verweisen“ (S. 88).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 185

Der Kompass ist von besonderer Bedeutung, da er feldtheoretisch untersucht, aber um netzwerkana- als kulturtechnisches Artefakt „die grundlegende lytische Parameter erweitert. Funktionslogik frühneuzeitlicher Kulturtechniken Der sich direkt anschließende aus dem Fran- der Welterschließung“ (S. 90) offenlegt, indem er zösischen übersetzte Aufsatz Gisèle Sapiros Netz- mehrere Wahrnehmungsverschiebung verdeut- werke, Institution(en) und Feld skizziert zunächst licht: Vom Blick des Beobachters auf die Natur die Entwicklung des Netzwerkparadigmas in erfolgt der Blick auf das technische Artefakt, das den Geisteswissenschaften, um sich dann dem als experimentelle Ordnung eine andere Natur Potential zuzuwenden, dass die „Methode der konstruiert, die die Natur zum wissenschaftlichen Netzwerkanalyse“ (S. 208) für eine soziologische Beobachtungsgegenstand macht. Dadurch wird Betrachtung der Literatur bzw. literarischer Mi- die Lyrik selbst zur „Kulturtechnik der Welt- lieus berge: Literatur sei eine Welt der Mikromi- erschließung“ (S. 92). lieus, bei denen Grenzen fließend und durchlässig Es folgen fünf Historische Fallstudien mit Bezug sind, keine Institution dominiert und die Bedin- auf Latour, die jeweils eine spezifische theoretische gungen für den Zugang nicht eindeutig kodifiziert Einführung anbieten, aber wesentliche Aspekte sind. Neben kulturellem sei vor allem soziales vermissen lassen, die Latour in seiner Klarstellung Kapital relevant, um partizipieren zu können. fordert. Beschrieben werden primär Beziehungs- In der Folge akzentuiert Sapiro die Unterschiede netzwerke bzw. Netzwerke, in denen nur der zwischen pluralistischen soziologischen Netz- Mensch Akteur ist und Gegenstände anthropo- werktheorien und der Bourdieu’schen Feldtheorie. morphisiert werden. Der Beitrag von Jan Alber Entscheidend sei, dass „die Netzwerkanalyse als et al. geht auf die Übersetzung seines Aufsatzes Methode und nicht als Theorie der Sozialwelt aus dem Jahr 2014/15 zurück, der Neuwert ist aufgefasst“ (S. 209) werde und die Feldtheorie hier fraglich. aufgrund ihres Verständnisses von Gesellschaft Teil 2 des Sammelbandes fokussiert den An- holistisches Potential besitze. Für die Feldtheorie satz Gisèle Sapiros, die die Feldtheorie Bourdieus sei eine „multivariate Korrespondenzanalyse“ um methodische Aspekte der Netzwerkanalyse (S. 212) angebracht, die die Interrelationen erweitert und die quantitative Analyse auf Basis zwischen Individuen und Variablen (u. a. Alter, empirischer Daten um individuelle Handlungen/ soziale Herkunft und schulischer Werdegang) Interaktionen von und zwischen Akteuren ergänzt. grafisch in einer Matrix darstellt. Die Methodik Eine Einführung von Daniel Ehrmann und Nor- der Netzwerkanalyse ergänze dies, indem sie die bert Christian Wolf verweist darauf, dass Sapiro Beziehung zwischen den Akteuren berücksichtige. sich nicht auf Latours Netzwerk-Begriff bezieht Sapiro streicht heraus, dass die Begriffe ‚Netze‘ und in ihrem Ansatz Netzwerk- und Feldtheorie und ‚Netzwerk‘ in den Geisteswissenschaften viel- zusammen führe, wobei sie aber zugleich die fach metaphorisch und approximativ bleiben und Differenzen betone. Dass bei Latour sogar nicht- schlägt acht methodologische Grundsätze vor, wie humane Aktanten einbezogen werden, kann als der Begriff des Netzwerks in der Literatursozio- „Radikalisierung des Netzwerksbegriffs“ (S. 191) logie genutzt werden könne. Deutlich wird, dass gesehen werden, die die ANT aus der Soziologie die Aspekte Hierarchisierung und Macht aus Bour- heraus in einen transdisziplinären Raum trans- dieus Feldtheorie auch konstitutiv für die Netz- feriert. In der soziologischen Feldtheorie dagegen werk-methodische Feldtheorie Sapiros sind. Diese geht es im Kontext einer Netzwerk-Methodik vor Methodik erweitert die Feldtheorie, indem sie das allem um Sozialbeziehungen. Die Feldtheorie interaktionistische Konzept der sozialen Beziehung unterscheidet sich damit deutlich von der ANT, strukturell im Netzwerk beschreibt. Eine soziolo- da die Akteure und die Verhältnisbeziehungen zu gische Netzwerkanalyse reicht nach Sapiro jedoch differenzieren sind. Akteure sind dabei aber nicht nicht „zur Erklärung des literarischen Faktums in an einen physischen Körper gebunden, sondern seiner Besonderheit“ (S. 221) aus, und die theoreti- können auch als Symbole fungieren, die keine schen Vorannahmen der ANT seien inkompatibel persönliche Beziehung implizieren. Das soziale mit der literarischen Feldtheorie. Die methodische Feld der Literatur wird in Sapiros Ansatz somit Anpassung der Netzwerkanalyse, als eine Methode

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 186 | Besprechungen in der Untersuchung des literarischen Feldes, die rekurriert, ohne das wesentliche Aspekte in den vielfache Reflexion und Systematisierung determi- Analysen umgesetzt werden; hier handelt es sich niert, kann methodologische Fragen generieren, primär um eine rein deskriptiv-metaphorische Ver- die sich in der Analyse der positionsspezifischen wendung des Netzwerkbegriffs. In diesen Fällen Beziehungen – dem Axiom der literarischen Feld- bleibt innovatives Potential auf der Strecke. theorie – als fruchtbar erweisen. In Teil 3. Europäische Netzwerke im Literatur- betrieb der Aufklärung folgen fünf Beiträge, die Anmerkungen zur Deskription sozialer Beziehungen einen me- taphorischen Begriff von ‚Netzwerk‘ verwenden. 1 Über die Akteur-Netzwerk-Theorie. Einige Klar- Netzwerke konstituieren sich dabei im Kontext stellungen von Bruno Latour [11996 auf Englisch], der Entstehung literarischer Werke sowie der Ver- übersetzt von Eike Kronshagen sowie Netzwerke, 1 öffentlichung und Rezeption; der Literaturbegriff Institution(en) und Feld von Gisèle Sapiros [ 2006 auf Französisch], übersetzt von Bernd Schwibs. ist weit gefasst. Es werden primär Kommunika- 2 Ein Teil der Beiträge geht auf den Workshop Bruno tionsstrategien- und Wege nachgezeichnet, para- Latour und die Aufklärung. Literarische Netzwerke im textuelle Bezüge in ihrer Vernetzung präsentiert 18. Jahrhundert zurück (vgl. den Konferenzbericht sowie intertextuelle Bezüge herausgestellt. Der in ZFGerm NF, 28. Jg. [2018], H. 2). Sammelband zeigt somit anhand zweier unter- schiedlicher Netzwerk-Ansätze eine Diversität Oliver M. Pawlak an Möglichkeiten für die Literaturwissenschaft Universität Bielefeld auf, die am Beispiel der Literaturgeschichte des Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft 18. Jahrhunderts demonstriert werden. Zugleich Abteilung Literaturwissenschaft verdeutlicht die methodische Herangehensweise Universitätsstraße 25 jedoch auch, dass der Netzwerkbegriff aufgrund D–33615 Bielefeld seiner Aktualität partiell einem Framing dient. In diesem Kontext wird vielfach auf Latours ANT

Volker Giel, Norbert Oellers (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. Briefe 1791–1793, Bd. 9/I: Texte, Bd. 9/II: Kommentar. Unter Mitarbeit von Gerhard Müller und Yvonne Pietsch. Verlag Walter De Gruyter, Berlin 2020, XXIV: 318 S., 25 Abb., LXII: 730 S., 11 Abb.

Jutta Eckle, Georg Kurscheidt (Hrsg.) Johann Wolfgang Goethe. Briefe 1794–1795, Bd. 10/I: Texte, Bd. 10/II: Kommentar. Verlag Walter De Gruyter, Berlin 2019, XX: 325 S., 25 Abb., LXIV: 675 S., 4 Abb.

Die Bände 9 und 10 der historisch-kritischen Vulpius (1765–1816) persönlich kennenlernte. Ausgabe von Goethes Briefen dokumentieren Das Paar hatte zunächst das Gartenhaus an der Goethes zunehmende Vorliebe für das Briefdiktat. Ilm (9/II, S. 312) und von Ende Dezember 1789, Mit der Rückkehr aus Italien im Mai 1788 „ging kurz vor Christianes Niederkunft, bis zu Goethes Goethe immer mehr dazu über, seine Briefe zu Heimkehr vom Feldzug gegen Frankreich An- diktieren“ (Bd. 9/I, S. 42).1 Auch der Wiederbezug fang Dezember 1792 eine größere Wohnung be- des Hauses am Frauenplan Ende 1792 beförderte zogen. Seither lebte Goethe wieder im Haus am diesen Übergang vom Schreiben zum Diktieren. Frauenplan, das 1794 in seinen Besitz überging. Goethe hatte seit 1782 am Frauenplan nur einzel- Spätestens nach den von Johann Heinrich Meyer ne Räume zur Miete bewohnt, die nicht mehr geleiteten Renovierungs- und Verschönerungs- genügten, als er nach seiner Italienreise Christiane maßnahmen, die 1794 das auf der Gartenseite

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 187 liegende Arbeitszimmer erfassten, war eine für lässt sich in den 1780er Jahren nicht sagen, ob der das Diktieren förderliche Umgebung geschaffen Brief diktiert wurde oder nicht (das Personal dazu worden. Wie man auf Johann Joseph Schmellers hatte Goethe), da das Mundum meist aus Goethes Bild Goethe seinem Schreiber John diktierend von Hand ist. Noch etwas anderes fällt auf. Ab 1795 1834 sehen kann, standen in der Mitte Tisch und begegnen mehr Munda aus Schreiberhand. Offen- Stuhl für den Schreiber. Goethe konnte sich wäh- sichtlich hatte Goethe immer weniger Scheu davor, rend des Diktats bewegen. Die exklusive Funktion seine Briefe abschreiben zu lassen. des 27 Quadratmeter großen Arbeitszimmers Nur für die ersten Briefe an Christiane lässt als Diktierzimmer wird daran deutlich, dass die sich ziemlich sicher sagen, dass sie Goethe nicht Reinschriften (Munda) der diktierten Konzepte vor einem Dritten formuliert, sondern für sich in einem anderen Raum erfolgten.2 geschrieben hat. Der Briefwechsel mit Christiane Die Zahl der diktierten Briefe nahm 1795 begann, als Goethe Anfang August 1792 Weimar gegenüber den Vorjahren zu, wobei nur diejeni- verließ, um seinen Herzog im Koalitionsfeld- gen Briefe als diktierte Briefe identifiziert werden zug gegen Frankreich zu begleiten, und wurde konnten, von denen entweder das Mundum vom fortgesetzt, als er ein Jahr später die Belagerung Schreiber stammt oder zu denen es ein Konzept von Mainz mitmachte. Man erkennt schnell am gibt. Teilweise hat Goethe diktierte Briefe selbst intimen und recht unmittelbaren, auf keinen abgeschrieben. Andere Briefe sind nur als Konzept Fall förmlichen Duktus der Briefe, dass sie von überliefert und wurden nach diesem gedruckt, Goethe direkt auf das Papier geschrieben wurden. so dass nicht klar ist, von wem tatsächlich das Für die Briefe an seine Mutter hingegen verhält Mundum stammte. So sind für die zwei Jahre es sich anders. Diese erhielt am 24.12.1792 (9/I, unmittelbar nach der Italienreise bis 1790 (Bd. 8) S. 128 f.) zwar einen Brief aus Goethes Hand, aber keine Briefe aus Schreiberhand überliefert, aber die Grundlage des Briefes bildete ein Konzept, das Konzepte, die auf das Diktat verweisen (z. B. in Friedrich Wilhelm Schumann (1765–1850) nach Bd. 8 die Briefe Nr. 4 und 88),3 wobei zwei ver- Diktat geschrieben hatte (9/I, S. 221). lorene Briefe an die Herders (Bd. 8, Nr. 31 und 32) Was die nachweislich diktierten Briefe der in der Weimarer Ausgabe noch Schreiberhänden Jahre 1791 und 1792 betrifft, die hauptsächlich zugewiesen werden konnten. Dass Goethe, der vor die Zeit der beiden Reisen in den Westen bereits als Kind dem Sekretär seines Vaters dik- Deutschlands zu datieren sind, fällt die Pluralität tierte,4 vor der Italienreise einige Briefe diktiert der Schreiber auf. Bisweilen kann eine Handschrift hatte, lässt sich ebenfalls belegen.5 Ab den 1790er nicht zugeordnet werden (Brief Nr. 8, 4.2.1791 Jahren mehren sich die Diktatzeugnisse. In den an J. G. I. Breitkopf): Mal wird für ein Konzept Jahren 1791 bis 1792, also unmittelbar vor dem Christoph Erhard Sutor (1754–1838, Konzept Wiedereinzug in das Haus am Frauenplan, zählt zu Brief Nr. 9), mal Paul Goetze (1761–1835, man 21 Briefe aus Schreiberhand oder (bzw. und) Konzept zu Brief Nr. 29), öfters Schumann (Kon- nach diktiertem Konzept. Entscheidend war die zept zu Brief Nr. 64, Brief und Konzept Nr. 95, Renovierung des Arbeitszimmers 1794. Noch S. 100, 213) angegeben. Auffällig ist, dass Goetze, für das Jahr 1794 waren es zwölf Briefe, deren Schumann und Sutor im neuen Arbeitszimmer überlieferte Munda oder Konzepte auf das Diktat nicht mehr heimisch wurden. Goetze tauchte verweisen. Im Folgejahr 1795 stieg deren Anzahl als Konzeptschreiber 1794 nur noch zweimal mit 32 deutlich an. Von da an – das lässt sich an auf (Nr. 38, S. 57), ansonsten diktierte Goethe den Briefbänden der Weimarer Ausgabe ablesen Schumann, der dann 1795 mit einer Ausnahme und wird von den noch erscheinenden Bänden der (1.7.1795) nicht mehr erschien. Der Befund, historisch-kritischen Ausgabe bestätigt werden – dass Goethe vor 1795 mehreren Männern dik- nahmen die Diktate kontinuierlich zu. Zum Teil tiert hatte, wird durch einen weiteren Schreiber handelt es sich um einen Überlieferungseffekt. bestärkt, der nicht zu Goethes festangestellten Weil ab 1795 die Konzepte lückenloser überlie- Sekretären und Dienern gehörte. Die Rede ist von fert sind und ab 1815 nahezu vollständig,6 ist die Christian August Vulpius (1762–1827), Goethes Diktatpraxis offensichtlicher. Mit anderen Worten späterem Schwager. Zwischen dem 30.5. und dem

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 188 | Besprechungen

12.10.1791 sind nachweislich 9 Reinschriften oder nachdem Goethe auf der linken Spalte seine Kor- Konzepte von Vulpius geschrieben worden. rekturen eingetragen hatte, das Konzept ein zwei- Goetze, Schumann und Sutor wurden durch tes Mal abschreiben, wofür es nur einen Grund Johann Jacob Ludwig Geist (1776–1854)7 ersetzt. geben konnte. Goethe entschied sich – wie auch im Es scheint, als habe Goethe für den neuen Raum Fall des Briefes an Fichte –, die Reinschrift selbst das Personal ausgetauscht. Im Zentrum des Dik- zu besorgen, und dafür bedurfte es einer sauberen tierzimmers saß die nächsten neun Jahre (bis 1804) Vorlage. Tatsächlich sind sowohl der erste Brief an Geist, der mit Band 10 eingeführt wird und angeb- Schiller als auch der Brief an Fichte von Goethes lich bereits im November 1794 Konzepte notiert Hand – ein, wie gesagt, für die Schreiben des hat (Nr. 63 und 64). Dass der Kommentar des 9. Jahres 1794 noch repräsentativer Befund. Bandes ihm jedoch zwei Konzepte aus den Jahren Im Laufe der folgenden 18 Monate, also bis 1791 und 1793 zuweist (Brief Nr. 5 und 93), will zum Ende des Bandzeitraumes (30.12.1795), man kaum glauben – war der 1776 geborene Geist mehrten sich jedoch die Fälle, in denen Goethe zum Zeitpunkt der angeblichen Diktate doch 14 auf ein Mundum aus eigener Hand verzichtete. bzw. 16 Jahre alt. Zumindest wäre hier eine kurze Für das Jahr 1794 hatte sich Goethe noch für zwei Erklärung angebracht gewesen, auch weil in Band (an Johann Heinrich Meyer und Samuel Thomas 10 Geists Dienstbeginn mit 1795 angegeben wird Soemmering, Nr. 28 und 30) der insgesamt 78 (10/II, S. 623). Reinschriften der Schreiberhand bedient. Im Fol- Der zunehmenden Neigung zum Diktat gejahr 1795, für das 122 Briefe überliefert sind, entspricht, dass sich Goethe immer stärker als waren es 29 (Nr. 109–111, S. 121, 123 f., 137 f., öffentliche Person sah, bemüht, vor seinen Kor- 140, 162, 173, 176, 180–184, 188–196, 198, 200 f.). respondenten die von ihm erwartete öffentliche Zwei Drittel davon (17) sind Briefe an Schiller. Nur und vor allem einheitliche und kohärente Rolle neun fielen in die Dienstzeit von Schumann; die darzustellen. Die neue Wohn- und Arbeitsumge- zwanzig anderen Reinschriften, ab dem 10.10.1795, bung unterstützte diese Neigung. Obgleich noch verantwortete Goethes neuer, bereits erwähnter in wilder Ehe lebend, war Goethe nach seiner Ita- Schreiber Geist. Da nicht für alle Briefe der Jahre lienreise und mehreren Umzügen endlich sesshaft 1794 und 1795 ein Konzept überliefert ist, wird geworden und begann, in seinem neuen Haus zu man unmöglich sagen können, wie hoch der Anteil residieren und zu repräsentieren. Friedrich Schiller der ursprünglich diktierten (oder vielleicht sogar war einer der ersten, der mit dem Herrn vom wie- selbst vom Schreiber verfassten) Briefe Goethes derbezogenen Frauenplan in Korrespondenz trat. ist. Jedoch kann der Anteil der Reinschriften aus Goethes erster, auf den Seiten 56 und 57 fak- Schreiberhand genau bestimmt werden. Diktat similierter Brief vom 24.6.1794 ist eine Antwort oder nicht Diktat ist damit nicht die Frage. Abge- auf Schillers Einladung zur Mitarbeit an der Zeit- sehen davon, ist ohnehin fast immer von einer Mit- schrift Die Horen (Brief 24). Zu diesem Brief sind wirkung Dritter auszugehen. Briefeschreiben ist für zwei faksimilierte Konzepte aus der Hand Schu- Goethe eine kollaborative Schreibpraxis. Fraglich manns erhalten (S. 212–217). Niedergeschrieben ist nur, wie lange sich Goethe die Mühe machte, sind diese Konzepte auf Blättern, die etwas höher das Mundum selbst zu schreiben und dadurch den als das heutige A4-Format sind. Der vom Schrei- Schein eines singulären Schreibaktes zu wahren, ber festgehaltene Text steht, „wie bei Behörden oder aus welchen Gründen er darauf verzichtete. üblich“8, auf der rechten Hälfte der Seite. Links Für seine Briefpartner sah es so aus, als habe er wurde Raum für Goethes Korrekturen gelassen. nur jene Briefe diktiert, deren Mundum Schreiber Schumann wirkte am 24.6.1794 ebenfalls an wie Schumann oder Geist schrieben. Im ersten der Beantwortung eines Briefes von Johann Gott- Brief vom 24.6.1794 an Schiller verschweigt lieb Fichte mit. Es handelt sich um ein Dankes- Goethe bspw., dass das Konzept bereits diktiert schreiben für die Übersendung des ersten Bogens war. Schiller konnte glauben, Goethe habe den der Wissenschaftslehre (Brief 23). Das Konzept Brief geschrieben und nicht diktiert. Im Brief für Fichte ist zwischen den beiden Konzepten an Schiller hingegen, den Goethe erstmals unter zum Schiller-Brief platziert. Schumann musste, Mithilfe seines neuen Schreibers Geist verfasste,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 189 wird ausdrücklich das Diktieren mit der fremden Briefe keinesfalls bloß diktiert, sondern auf schrift- Hand in Verbindung gebracht. licher Basis konzipiert und redigiert. Das Diktat Der in Frage stehende Brief vom 6. und ist eine Arbeitsstufe unter anderen innerhalb einer 10.10.1795 kann als Beispiel dienen, dass sich das mehrstufigen Formulierungskunst, mittels derer auf Konzepten beruhende Diktat und die persön- die Briefe hinsichtlich gedanklicher Gliederung, lich-direkte Niederschrift stilistisch voneinander Rhetorik, Wortwahl, d. h. ihres Stils, komplexer unterscheiden. Goethe ‚schrieb‘ anders, wenn er werden. Damit sei nicht gesagt, Goethe habe durch diktierte. Man nehme nur den Anfang des diktier- das Diktieren notwendig komplexer geschrieben ten Briefes an Schiller: „An statt gestern von Ihnen als Zeitgenossen, denen weder Schreibwerkstatt fortzueilen, wäre ich lieber geblieben und die Un- noch Personal zur Verfügung standen. Die einsame behaglichkeit eines unbefriedigten Zustandes hat handschriftliche Selbstüberarbeitung erlaubt eine mich auf dem ganzen Wege begleitet. In so kurzer nicht weniger komplexe Ausdrucksform als das Zeit giebt man vielerley Themata an und führt Diktat in der Schreibwerkstatt.11 keins aus und so vielerley man auch rege macht, Teilweise ist Goethes Arbeit am Brief vergleich- kommt doch wenig zur Runde und Reife.“ (10/I, bar mit der an seinen poetischen Werken. Anne S. 164) Mit dieser doch ein wenig gestelzt wirken- Bohnenkamp hat Goethes Arbeitsweise am Bei- den Bezugnahme auf das Gespräch vom Vortag spiel der Paralipomena zum Faust rekonstruiert.12 leitet Goethe eine kurze Charakteristik einiger Diese bestehen aus eigenhändigen Exzerpten und Gedichte Schillers ein. Der nicht mehr diktierte Sammelblättern, diktierten Schemata und Kon- Schluss des Briefes ist einfach gehalten, geradezu zepten, vorläufigen Arbeitsmunda, definitiven kolloquial: „Soweit hatte ich vor einigen Tagen Munda, aber auch aus autographen Reinschriften, dicktirt, nun sage ich Ihnen nochmals Adieu, ich die Goethe aus Nettigkeit für andere Personen gehe erst morgen frühe weg.“ (10/I, S. 165) Spricht herstellte. Bezugnehmend auf eine Mitteilung von aus dem ersten Zitat der öffentliche Goethe zu Goethes Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer, weist Schiller, so aus dem zweiten ein Schreibender, Bohnenkamp darauf hin, dass Goethe viele seiner der weniger Rücksicht auf die Repräsentation poetischen Diktate vorher schon mit Bleistift für seiner Person und die Förmlichkeit im Ausdruck sich niedergeschrieben habe, das Diktat also Folge nimmt. Behandelt jener diktierte Teil den Brief und nicht Ursache sei.13 als Distanzrede im Sinne konzeptioneller Schrift- Dieser Befund des Diktats als sekundärer lichkeit, so der eigenhändig geschriebene Nach- Arbeitsstufe gilt jedoch nur für die poetischen satz den Brief als Nähekommunikation im Sinne Werke. Er ist für die Briefe schon allein deshalb konzeptioneller Mündlichkeit.9 Wenn Goethe kaum feststellbar, da sie entstehungsgeschichtlich selbst schreibt, gelingt ihm das Gespräch; sobald nicht weiter zurückgehen als bis auf das diktierte er diktiert, verlässt er das Gebiet der Mündlichkeit. Konzept. Die Überschneidungen zwischen der Und so ist auch Goethes Hinweis aus dem Brief an poetischen Arbeitsweise und dem Verfassen von Schiller vom 14.10.1797 verdächtig, er unterhalte Briefen können nicht darüber hinwegtäuschen, sich vom Bett aus mit seinem Briefpartner: „An dass der Stellenwert des Diktats für die Briefe einem sehr regnichten Morgen bleibe ich, werther ein grundsätzlich anderer ist als für Goethes Freund, in meinem Bette liegen, um mich mit Dichtung. Briefe zählen zur bilateralen Kommu- Ihnen zu unterhalten und Ihnen Nachricht von nikation. Anders als Goethes Naturwissenschaft unserm Zustande zu geben, damit Sie, wie bisher oder Dichtung ist ein Brief in Regel weder für uns mit Ihrem Geiste begleiten, und uns von Zeit ein fachliches noch für ein allgemeines Publikum zu Zeit mit Ihren Briefen erfreuen mögen.“10 Tat- bestimmt. sächlich ist der Ausdruck zu durchdacht, um noch Die Besonderheit von Goethes Briefstil ist wirklich mündliche Unterhaltung zu sein. weniger in der sprachlichen Komplexität oder der Im Sinne der Vorstellung, der Brief sei ein Arbeitsweise als in der Einbindung einer dritten Gespräch, könnte man meinen, das Diktat sei die Person in die Briefkommunikation zu sehen. Die angemessene Ausdrucksform, um das mündliche Vergemeinschaftung qua Brief ist normalerweise Briefideal zu realisieren. Doch hat Goethe die dualistisch. Hergestellt wird eine Beziehung zum

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 190 | Besprechungen

Adressaten. Der Verfasser stellt sich auf diesen ein, „Da Geist das Gehörte oft fortlaufend notierte, was idealerweise dazu führt, dass Briefeschreiber ohne Sätze durch Interpunktion zu trennen, hat je nach Briefpartnerin oder Briefpartner verschie- Goethe in vielen Fällen Satzzeichen ergänzt. So dene Briefstile pflegen. Der Adressatenbezug ist geschah es oft, dass er einen Satz mit einem in ein wichtiger Faktor für die Wahl des Briefstils der Zeile ergänzten Punkt abschloss und den neben der Briefgattung und der Sprecherrolle. Es folgenden Satzanfang durch nachträgliche Groß- versteht sich, dass viele sprachliche Eigenschaften schreibung kenntlich machte. Solche und andere von Goethes Briefen auf die Gattung (amtlich, Interpunktionskorrekturen sind allerdings nicht privat, geschäftlich usf.) und auf seine Sprecher- in jedem Einzelfall völlig sicher Goethe bzw. Geist rolle (Freund, Dichter, Lehrer, Untertan usf.) zuzuordnen.“ (10/II, S. 368)16 Goethe hat den ers- zurückzuführen sind. ten Teil vom 6.10.1795 wohl direkt ins Mundum Der Adressatenbezug ist also nicht der einzige diktiert, worauf die vielen Korrekturen hindeuten. Faktor. Aber er unterscheidet sich in diktierten Die rechtfertigende Thematisierung des Diktats Briefen durch eine eigentümliche Störung der („Soweit hatte ich vor einigen Tagen dicktirt“ [10/I, Adres­sierung. Goethe stellte sich sprachlich nicht S. 165]) im zweiten Teil des Briefes vom 10.10.1795 nur auf die Person ein, mit der er die Briefgemein- ist nicht untypisch. Sie ist nicht Folge des Diktats, schaft pflegte. Er nahm immer auch Rücksicht auf sondern des fremden Mundums. Goethe war klar, den anwesenden Schreiber, dessen Individualität im dass seine Adressaten lieber seine eigene Hand ge- Brief zwar nicht zur Sprache kommt, der aber dafür lesen hätten. Viele Reinschriften aus fremder Hand als objektive Instanz die Rede kontrolliert, sie davor tragen deshalb zwecks Individualisierung noch schützt, zu subjektiv und persönlich zu werden. einen autographischen Zusatz oder reflektieren Durchaus ist mit der Adressaten-Fiktion der ‚Nach- das Diktieren. Im Brief an die Gräfin O’Donell welt‘ auch jenen ein zweiter Adressat gegeben, die vom 24.11.1812, der gern im Kontext des Diktier- allein schreiben. Doch bleibt ein solcher Adressat problems zitiert wird, entschuldigt er sich dafür, abstrakt, wird eher unbewusst imaginiert, ist eine dass seine Briefpartnerin und Freundin eine fremde affektive Bezugsgröße, die situativ und kontingent Hand lesen müsse. Als Trost – wie im Schiller-Bei- bleibt. Der reale Diktatnehmer dagegen schafft spiel – setzt er daher ans Ende des Briefes eigenhän- Objektivität und Gleichmäßigkeit des Ausdrucks. dige Zeilen: „Möchten Sie in vorstehenden fremden Will man Goethes Briefkommunikation an- Zügen die eigensten Gesinnungen eines wahrhaft gemessen beurteilen, müsste man sie als einen tria- ergebenen Freundes erkennen!“17 Der Erstheraus- dischen kommunikativen Akt beschreiben, wobei geber dieses Briefes, Richard Maria Werner, hatte der Schreiber als konstante Instanz und Korrektiv sich 1884 die Mühe gemacht, den Unterschied fungiert. Anders als in der poetischen Arbeit, durch Sperrdruck typographisch zu markieren. die immer schon an das gesamte Lesepu­blikum Zwar gibt in der vorliegenden Ausgabe der text- adressiert ist und bei der der Schreiber nicht als kritische Kommentar zur Überlieferung denen, die zusätzlicher Adressat fungiert, weil er Teil dieses es unbedingt wissen wollen, genaue Auskunft dar- Gesamtpublikums ist, nimmt innerhalb der Brief- über, was in einem Brief von Goethe und was vom kommunikation der Schreiber als Diktatnehmer Schreiber geschrieben wurde, aber typographisch eine eigene Adressierungsposition ein. wird dieser Unterschied leider nicht markiert – wie Für die Erkenntnis von Goethes Briefstil14 ist schon in der Weimarer Ausgabe. Angesichts der die historisch-kritische Briefausgabe von unschätz- Tatsache, dass Goethes Hand in der zweiten Lebens- barem Wert. Band 10 trägt Goethes Diktatpraxis hälfte seltener zu sehen ist, wäre es wünschenswert, sogar Rechnung, wenn der Kommentar just den wenn die künftigen Bände den Wechsel von Schrei- hier diskutierten Brief vom 6.10.1795 an Schiller ber- und Goethehand typographisch ausstellten. hinsichtlich seiner Eigenschaft, diktiert zu sein, er- Im Rahmen der Rezension konnte das Paradox läutert. Neben den unterlaufenen Hörfehlern – ein nur hypothetisch bleiben, Goethe schreibe Briefe, Problem, über das sich Goethe 1820 in einem Auf- wenn er sie diktiert, und rede, wenn er die Briefe satz äußerte15 – wird auf den nachträglichen Inter- selbst und für sich schreibt. Um in einem größeren punktionsvorgang durch Goethe hingewiesen: Rahmen den hier bloß skizzierten stilistischen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 191

Unterschied zwischen dem selbst geschriebenen und sind, vgl. Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goe- dem in Goethes Schreibwerkstatt gemeinsam mit the. München 2015, S. 425 f. Schreibern entstandenen Briefwerk zu untersuchen, 7 Zu Geist vgl. Walter Schleif: Goethes Diener. stellte es jedenfalls eine große Erleichterung dar, Weimar 1965, S. 133–156, und das Nachwort von wenn erstens der Status der Briefe (diktiert, eigen- Barbara Schnyder-Seidel. In: J. J. Ludwig Geist: Tagebuch einer Reise durch die Schweiz. Die Auf- händiges Mundum oder Schreiberhand, auf Basis zeichnungen von Goethes Schreiber 1797. Hrsg. v. eines Konzepts) noch transparenter gemacht würde B. Schnyder-Seidel. Stäfa 1982, S. 71–82. und wenn zweitens typographisch evident würde, 8 Schöne (wie Anm. 6), S. 425. ob der Brief in Goethes Handschrift oder in einer 9 Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe anderen abgeschickt wurde. – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schrift- lichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 Anmerkungen (1986), S. 15–43. 10 Johann Wolfgang Goethe, Brief an Friedrich Schil- 1 Vgl. die Besprechung des Verfassers der Neuedition ler. In: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe: des Goethe-Schiller-Briefwechsels im Reclam-Ver- Der Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. lag: ZfGerm NF, 20. Jg. (2010), H. 2, S. 443–445, Bd. 1: Text. Hrsg. v. N. Oellers. Stuttgart 2009, sowie zu den erschienenen Bänden 1–3 und 6–8 der S. 494–498, hier S. 494. historisch-kritischen Briefausgabe: ZfGerm NF, 19. 11 Es besteht also keine prinzipielle Überlegenheit des Jg. (2009), H. 3, S. 676–679 [Bd. 1–2]; ZfGerm NF, Diktats gegenüber dem Für-sich-Schreiben, wie dies 26. Jg. (2016), H. 1, S. 164–169 [Bd. 3]; ZfGerm die gleichwohl instruktiven Überlegungen nahe- NF, 21. Jg. (2011), H. 2, S. 390–393, bes. S. 391 legen von Cornelia Epping-Jäger: Die Diktatszene. [Bd. 6]; ZfGerm NF, 23. Jg. (2013), H. 3, S. 677 f., Aufschreiben Einschreiben Vorschreiben. In: Bin­ bes. S. 677 [Bd. 7], ZfGerm NF, 29 Jg. (2019), zcek, Epping-Jäger (wie Anm. 4), S. 17–30. Epping- H. 3, S. 640–642 [Bd. 8] sowie die Besprechung zu Jäger versteht das Diktat als „Ressource kognitiver Al­brecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe, Mün- und ästhetischer Produktivität“ (S. 18). Sie betont chen 2015 (ZfGerm NF, 26. Jg. [2016], S. 156–159). die mit ihm verbundene reflexive Kraft der Distanz 2 Erich Trunz: Ein Tag aus Goethes Leben. München zur eigenen Rede, jenes Sich-Selber-Lesen, und 1990, S. 44. folgert, dass das Diktat als „Aufschreibesystem insge- 3 Vgl. ZfGerm NF, 29. Jg. (2019), H. 3, S. 640. – Die samt“ die „Möglichkeit der ‚Distanznahme‘“ (S. 23) Möglichkeit, Goethe habe bisweilen Briefe vielleicht eröffne. Das Moment der „Distanznahme“ qua nicht einmal diktiert, sondern sie in seinem Sinn Diktat, das Epping-Jäger Sandro Zanetti entnimmt, beantworten lassen – wie es für Briefschreiber mit bezieht dieser spezifischer auf Goethes Arbeit am Sekretariat durchaus üblich ist –, wurde von der Faust, vgl. Sandro Zanetti: Sich selbst historisch wer- Forschung meines Wissens noch nicht in Betracht den: Goethe – Faust. In: Davide Giuriato, Martin gezogen. Auch wenn es unklar bleibt, inwieweit die Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.): Schreiben heißt: Schreiber für die Formulierungen verantwortlich sind, sich selber lesen. Schreibprozesse als Selbstlektüren. ist es doch offensichtlich, dass Goethes Schreiber einen München 2008, S. 85–113, hier S. 111. – Vgl. ferner wesentlichen Anteil an seiner Briefproduktion hatten. Jens Loescher: Schreiben. Literarische und wissen- 4 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dich- schaftliche Innovation bei Lichtenberg, Jean Paul, tung und Wahrheit. In: Goethe. Berliner Ausgabe, Goethe. Berlin 2014, S. 355–373, der das Diktieren Bd. 13: Autobiographische Schriften I. Berlin, Weimar bei Goethe als ein Schreiben versteht, das von der 1967, S. 157. Zur Inszenierung des Knaben als Diktat- motorischen Umsetzung des Schreibens befreit sei. nehmer im 4. Buch des ersten Teils von Dichtung und 12 Anne Bohnenkamp: „…das Hauptgeschäft nicht Wahrheit vgl. Stephan Kammer: Dichterwort. Die ausser Augen lassend“. Die Paralipomena zu Goethes poetische Okkupation der Diktat-Szene. In: Natalie Faust. Frankfurt a. M. 1994, S. 809–841. Binczek, Cornelia Epping-Jäger (Hrsg.): Das Diktat. 13 Bohnenkamp (wie Anm. 12), S. 832. Phonographische Verfahren der Aufschreibung. Pader- 14 Jürgen Schmidt: Goethes Briefstil in den Jahren born 2015, S. 171–185, hier S. 180–182. 1805–1814. Unveröff. Diss. Hamburg 1957. 5 Vgl. ZfGerm NF, 21. Jg. (2011), H. 2, S. 391. In der 15 Johann Wolfgang von Goethe: Hör-, Schreib- und damaligen Zählung wurden die nur als Konzept Druckfehler. In: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, überlieferten Briefe nicht berücksichtigt, zu denen Bd. 17, Weimar, Berlin 1970, S. 558–562. z. B. Nr. 107, 372, 373 gehören. 16 Vgl. Verf. in ZfGerm XX (2010), H. 2, S. 443 f. 6 Wodurch auch sämtliche Briefe von Goethe bekannt 17 Johann Wolfgang Goethe, Brief an Gräfin O’Donell

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 192 | Besprechungen

vom 24.11.1812. In: Goethe und Gräfin O’Donell. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Ungedruckte Briefe nebst dichterischen Beilagen. Institut für Germanistik Hrsg. v. R. Maria Werner. Berlin 1884, S. 70–75, Universitätsstraße 1 hier S. 75. D–40225 Düsseldorf Alexander Nebrig

Claudia Liebrand, Thomas Wortmann (Hrsg.) Zur Wiedervorlage. Eichendorffs Texte und ihre Poetologien. Verlag Wilhelm Fink, Pader- born 2020, 329 S.

Der von Claudia Liebrand und Thomas Texte nicht nur keineswegs ‚ausinterpretiert‘ sind, Wortmann herausgegebene Band vereint zwölf sondern vielmehr immer noch Forschungslücken Aufsätze zu Joseph von Eichendorff und beruht aufweisen, zumindest einige von ihnen (S. 4). – auf einer Konferenz, die im Dezember 2017, 160 Damit ist die Absicht des Bandes formuliert: Er Jahre nach dem Tod des „letzten Romantikers“1, in möchte eine neue Bewertung des vermeintlich Kooperation mit der Universität Köln an der Uni- bekannten Dichters vornehmen und ihn ins Be- versität Mannheim stattfand (S. 10). Die Beiträge wusstsein der Literaturwissenschaft als einen viel- widmen sich einem kanonischen Autor, dessen schichtigen Autor zurückholen, dessen Texte nur Werk gegenwärtig gleichwohl vergessen zu werden oberflächlich idyllisch scheinen, bei genauerem droht, nicht zuletzt, weil es „ausinterpretiert“ (S. 1) Hinsehen aber von den Brüchen, Ambivalenzen, wirkt. Generell, so der Befund der Herausgeber, Uneindeutigkeiten und Abgründen geprägt wer- ist das Interesse für den Spätromantiker, dessen den, die für die Moderne charakteristisch sind. vermeintlich einfache Texte der Literaturwissen- Hier stützt sich der Band freilich auf einen Inter- schaft den Zugang eher verschlossen denn geöffnet pretationstopos, der nicht ganz neu ist, sondern auf haben (S. 2), nur noch gering. Als Beleg für diese eine Lesart zurückgeht, die Adorno bereits 1958 in Entwicklung führen sie die Forschungslage an: seiner Schrift Zum Gedächtnis Eichendorffs 2 aus- In den letzten Jahren – zu Grunde gelegt wird geführt hat, und auf die sich sowohl Liebrand und der Zeitraum seit 2010 (S. 1) – sei Eichendorff Wortmann in der Einleitung (S. 3) als auch Stefan von der Literaturwissenschaft stiefmütterlich Scherer (S. 20–21, S. 26), Achim Geisenhanslücke behandelt worden; so werfe die International (S. 96) und Lutz Ellrich (S. 293) in ihren Spezial- Bibliography der Modern Language Association beiträgen als Kronzeugen berufen. – Die Bezug- für die genannte Zeit lediglich 43 Treffer aus nahme auf Adorno ist dabei nur ein Verweis auf die (S. 1). Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Eichendorff-Forschung, die nicht nur wiederholt eine entsprechende Suche für denselben Zeitraum reflektiert wird (neben Adorno werden z. B. Oskar in der für den germanistischen Bereich einschlä- Seidlin [S. 213, 217], Wolfgang Frühwald [S. 88] gigeren Bibliographie der deutschen Sprach- und sowie Gerhard Kaiser [S. 89] genannt), sondern Literaturwissenschaft (BDSL Online) wesentlich sich geradezu als Metaebene durch den gesamten mehr Ergebnisse erzielt, ist doch Liebrands und Band zieht. Im Einzelfall entspricht das der guten Wortmanns Diagnose richtig, dass auch weitere wissenschaftlichen Praxis, die eigene Position in Umstände der Eichendorff-Forschung in den einen weiteren Forschungszusammenhang einzu- letzten Jahren ungünstig waren. So wurde das ordnen. Belegt wird durch die Wiederholung aber Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft eingestellt auch das Grunddilemma, nach dem Eichendorff (S. 1), und ein Eichendorff-Handbuch gibt es in zwar nicht unbedingt als ‚ausinterpretiert‘ gelten keiner der renommierten Handbuchreihen bei darf, wohl aber als Autor, hinter dem eine lange de Gruyter oder Metzler (S. 2). Interpretationsgeschichte steht. Vor diesem Hin- Diesem Missstand abzuhelfen hat sich der tergrund ist es – mit den Worten der Herausgeber vorliegende Sammelband vorgenommen. Die – der Anspruch des Bandes, in seinen Beiträgen Herausgeber machen deutlich, dass Eichendorffs „neue Fragestellungen“ (S. 5) zu eröffnen, die

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 193

„[u]nter dem Firnis des Harmonisch-Idyllischen bekannten Gattung der Entführungstexte Eichen- […] Abgründe auf[tun]“ (S. 3). dorffs Novelle Die Entführung in einen neuen Eingelöst wird diese Absicht durch die Kon- Bezugsrahmen zu stellen. zentration auf ein vergleichsweise homogenes Schließlich modernisiert der Beitrag von Ursula Themenspektrum, durch das Eichendorff als Regner Eichendorffs Gedichte und ihre Auslegung moderner Autor vorgestellt werden soll und das dergestalt, dass sie sie in das Zeitalter der ‚Digital teils aktuelle literarturwissenschaftliche, teils Humanities‘ überführt. Regner bietet mehrere klassische philologische und literarhistorische Fra- Tabellen, in denen sie einige von Eichendorffs Zen- gestellungen aufgreift. Am deutlichsten ausgeprägt tralgedichte (neben dem Waldgespräch auch Das ist in Hinsicht auf gegenwärtig besonders virulente zerbrochene Ringlein u. a.) auf bestimmte Schlüs- Themen die Auseinandersetzung mit Eichendorffs selwörter hin auswertet, ihre Rhizomstruktur Geschlechts- und Genderverständnis, das Stefan visualisiert und mit diesem Verfahren zeigt, „dass Börnchen, Irmtraud Hnilica, Vanessa Höving, die in der Eichendorff-Forschung festgefahrene Thomas Wortmann und auch Sandra Beck, letz- These von seiner Formelhaftigkeit ausdifferenziert tere zumindest in einer Nebenbemerkung, in ihren werden kann“ (S. 121). Beiträgen behandeln. Die genannten Themen werden in erster Linie Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Ein- auf der Grundlage von Eichendorffs bekannteren ordnung Eichendorffs in die (Kultur)Geschichte Texten (für die die meisten Beiträger*innen die seiner Zeit. Hiermit beschäftigen sich Stefan Studienausgabe des Deutschen Klassiker-Ver- Scherer, der Eichendorffs epochaler Stellung für lages,3 die wenigsten die historisch-kritische die Zeit ‚um 1830‘ (S. 24 u. ö.; eine Gemengelage Werkausgabe4 benutzen) behandelt. Mit anderen aus Romantik, Vormärz, Jungem Deutschland, Worten: Interpretiert werden vor allem seine Biedermeier und Resten klassischer Autonomie- Gedichte (Mondnacht: Achim Geisenhanslücke, ästhetik) umfassend und erfreulich differenziert Waldgespräch: Ursula Regener, Nach dem Balle: nachgeht, Ursula Regner, die den zeithistorischen Christine Falk), die Novellen (Stefan Börnchen: Hintergrund von Eichendorffs Romanze Waldlied Das Marmorbild, Claudia Liebrand und Vanessa ausleuchtet (S. 114), Vanessa Höving, Irmtraud Höving: Schloss Dürande und Meerfahrt, Vanessa Hnilica und Claudia Liebrand, wobei auch die Höving und Irmtraud Hnilica: Die Entführung, beiden letztgenannten Eichendorff als den Autor Thomas Wortmann: Das Wiedersehen) sowie der einer Übergangszeit darstellen und somit seine Roman Ahnung und Gegenwart (Christine Falk). Modernität in historischem Kontext betonen. Immerhin widmet sich der Aufsatz von Stefan Ergänzt wird dieser Ansatz durch eine Ein- Scherer dem bisher wenig bekannten Dramatiker ordnung Eichendorffs in literarhistorische Zu- Eichendorff. Sandra Beck untersucht den eben- sammenhänge. Im Vordergrund steht hier das falls relativ unbeachteten Literarhistoriker. Stefan Bemühen, seine Texte in Bezug auf ihr Genre zu Börnchen widmet sich dem Versepos Julian, einer kontextualisieren. So stellt Ursula Regner einen Gattung, die weder im Fokus der bisherigen For- Vergleich zwischen Eichendorffs Balladen und schung stand noch in dem des Konferenzbandes denjenigen seines Jugendfreundes Otto Heinrich steht. Lutz Ellrich bemüht sich um Eichendorffs von Loeben an, den sie in die allgemeine Bal- politische Schriften – von ihm „amtliche Schriften“ ladendiskussion (Schiller, Goethe, Bürger) des (S. 295) genannt, eine Bezeichnung, die insofern ausgehenden 18. Jahrhunderts einordnet. Claudia irreführend ist, als dass sie weniger für Eichendorffs Liebrand zieht gleich mehrere Gattungen heran historisch-politische Schriften verwendet wird als und untersucht Eichendorffs Texte in Verbindung vielmehr für seine Verwaltungsschriften, die in dem mit dem bürgerlichen Trauerspiel, der Novelle und bisher noch nicht erschienen Band XVII der HKA dem (typisch romantischen) Nachtstück. Dass publiziert werden sollen –, wobei einschränkend zu sich in diesem Zusammenhang auch der Blick bemerken ist, dass Ellrich sich hauptsächlich auf über die Grenzen der deutschen Literatur hinaus zwei neuere Arbeiten5 zu diesem Thema stützt und lohnt, zeigt eindrücklich Irmtraud Hnilica, der von dort auch eingebettete Eichendorff-Zitate über- es gelingt, durch den innovativen Vergleich mit nimmt (z. B. S. 311 f.). Dadurch liest sich sein Bei- der hauptsächlich im angelsächsischen Raum trag passagenweise weniger als Eichendorff-Exegese

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 194 | Besprechungen als vielmehr als Interpretation einschlägiger Sekun- 2 Theodor W. Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs. därliteratur, was die Grundproblematik des Bandes In: Ders.: Noten zur Literatur I. Gesammelte Schrif- abermals hervorhebt, hier allerdings ohne die an ten. Hrsg. von R. Tiedemann, Bd. 11. Frankfurt anderen Stellen durchaus vorhandene Reflexions- a. M. 1974, S. 69–94, hier: S. 78 (ursprünglich Vor- distanz. Die autobiografischen Schriften, sofern trag zum hundertsten Todestag im Westdeutschen Rundfunk, November 1957. Erschienen in: Akzente man das Fragment Das Wiedersehen nicht zu ihnen (1958), H. 1, vgl. hierzu die Editorische Nachbemer- zählt, Tagebücher und Briefe werden im Einzelfall kung, S. 697). argumentativ herangezogen, aber nicht eigenständig 3 Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. behandelt. Weiterhin unbekannt bleibt Eichendorff Hrsg. v. W. Frühwald, B. Schillbach, H. Schultz. als Übersetzer, dessen Übertragung spanischer Tex- Frankfurt a. M. 1985–1993. te ins Deutsche ebenso wenig durch einen eigenen 4 Joseph von Eichendorff: Sämtliche Werke. Histo- Beitrag gewürdigt wird wie der Roman Dichter und risch-kritische Ausgabe. Begründet von W. Kosch ihre Gesellen. und A. Sauer. Fortgeführt und hrsg. v. H. Kunisch Damit ist die Wiedervorlage im Wortsinne ge- (†) und H. Koopmann. Regensburg 1962–1970, lungen. Eine Neuentdeckung wird vielleicht 2027, Stuttgart u. a. 1975–1994, Tübingen 1996–2007, Berlin, Boston 2012. wenn sich Eichendorffs Todestag zum 170. Mal 5 Klaus Lüderssen: Eichendorff und das Recht. jährt, stattfinden. Ins Bewusstsein der Literatur- Frankfurt a. M., Leipzig 2007; Reinhard Siegert: wissenschaft zurückgebracht ist sein Werk bis Die Staatsidee Joseph von Eichendorffs und ihre dahin mit dem vorliegenden Band in jedem Fall. geistigen Grundlagen. Paderborn u. a. 2008.

Antonie Magen Anmerkungen Bayerische Staatsbibliothek, München Ludwigstr. 16 1 Armin Gebhardt: Eichendorff. Der letzte Roman- D–80539 München tiker. Marburg 2003.

Norbert Otto Eke (Hrsg. im Auftrag des Forum Vormärz Forschung) Vormärz-Handbuch. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2020, 1051 S.

Es hat lange gedauert, bis den dreitausend nach zahlreichen wissenschaftlichen Tagungen, Seiten von Friedrich Sengles Biedermeierzeit deren Ertrag regelmäßig im eigenen Jahrbuch (1971–1980) ein vergleichbares Schwergewicht nachzulesen war, offenbar das Bedürfnis einer zur Großepoche 1815–1848 gegenübertrat. Das systematischen Präsentation seines stark sozial- jetzt von Norbert Otto Eke herausgegebene geschichtlich und unterschwellig auch politisch Vormärz-Handbuch bietet sich nicht nur dem geprägten Forschungsansatzes verspürt und im Umfang nach (mit über eintausend Seiten im Paderborner Germanisten Eke den Idealfall einer Zweispaltendruck), sondern in seiner ganzen Herausgeberpersönlichkeit gefunden, die 117 Ein- Anlage als ernsthaftes Gegengewicht dar. Denn zelbeiträge von über hundert Beiträgern durchaus es handelt sich hier offenkundig nicht um eines unterschiedlicher Alters- und Erfahrungsstufen jener oft flüchtig gearbeiteten Handbücher, mit einzuwerben verstand und dabei selbst schon – denen primär der Orientierungsbedarf einer neuen vor allem mit der Einführung in die Literatur des Studierendengeneration abgedeckt werden soll Vormärz (2005) – als Kenner der Epoche und (was damit natürlich auch möglich ist), sondern Verfechter einer offenen Namensgebung hervor- um die Bilanz eines Forschungsnetzwerks, ja einer getreten war. Wissenschaftlergeneration. Das 1994 in enger Das Handbuch trägt dem sozialwissenschaft- Verbindung mit dem Aisthesis Verlag in Biele- lichen Zugang schon in der Rekrutierung seiner feld gegründete Forum Vormärz Forschung hat Mitarbeiter Rechnung. Vor allem in den ersten drei

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 195

Themenkreisen erkennt man dankbar die Kompe- der Porträtgalerie des Handbuchs auch dezidiert tenz fachlich zuständiger Historiker, Philosophen, oder mehr oder weniger konservative Autoren wie Theologen, Skandinavisten, Theater- und Musik- Eichendorff oder Görres, Alexis oder Droste, Grill- wissenschaftler. Entsprechend vielstimmig infor- parzer und Stifter. Allerdings gewinnt man ver- miert der „historische Abriss“ über das „Zeitalter schiedentlich den Eindruck, als würden mehrere der Revolution(en)“ vom Wiener Kongress bis zum Beiträger dem neugefassten „Vormärz“-Verständnis Paulskirchenparlament, ein zweiter Themenkreis des Herausgebers nicht recht folgen. So beschränkt über „Übergreifende Fragestellungen“ wie Natio- sich Philipp­ Hubmanns Görres-Artikel auf die nalismus, Exil und Gruppenbildungen (darunter ‚progressive‘ Frühphase des Publizisten bis ca. überragend der Artikel über die Burschenschaften 1820, deckt also von der behandelten Großepoche von Harald Lönnecker) und ein dritter Schwer- gerade einmal das erste Siebentel ab. Ein so heraus- punkt über „interdisziplinäre Implikationen“: von ragendes publizistisches Großereignis wie Görres’ der Oper über die Hegel-Schule bis zum Kultur- prokatholische Intervention in den Kölner Kir- austausch mit den Nachbarländern einschließlich chenstreit mit der Athanasius-Schrift von 1838 und Italien. Dominant germanistisch wird das Hand- seine Agitation zugunsten der Trierer Wallfahrt buch erst ab Seite 455 mit dem Themenkreis IV 1844 (ein Hauptangriffspunkt der liberalen Kritik) „Literaturverhältnisse, Literaturkonzepte und fallen damit sang- und klanglos unter den Tisch. literarische Gattungen“, der mit einem Artikel zur Die Kühnheit dieses vorzeitigen Abschnappens ist Literaturgeschichtsschreibung von Holger Dai- nur vergleichbar mit der Scheuklappen-Mentalität nat endet, und dem abschließenden und (mit über des Artikels über Flugblätter und Flugschriftenli- dreihundert Seiten) umfangreichsten Großkapitel teratur von Christoph Manasse, der einleitend „Autoren – Autorinnen – Gruppen“. zwar Arbeiten und Sammlungen zur Flugblattlite- Von Alexis bis Wirth werden hier – einschließ- ratur des Revolutionsjahrs erwähnt, in der eigenen lich der Opernkomponisten Lortzing und Wagner Darstellung aber – in missverstehendem Wört- – rund fünfzig Autor(inn)en in alphabetischer lichnehmen der Prägung „Vormärz“? – lediglich Folge vorgestellt, wobei sich Laube, Mundt und auf die vergleichsweise schüttere Produktion vor Wienbarg in Hartmut Steineckes Beitrag „Das 1848 eingeht und damit das Wesentlichste auslässt. Junge Deutschland“ verstecken – was man be- Andere Autoren-Artikel finden sich bemüßigt, dauern mag, denn dadurch werden sie auf ihre das Verhältnis der von ihnen behandelten bisher kurzzeitige Mitarbeit an dieser Konstellation dem Biedermeier zugerechneten Schriftsteller zu festgelegt. So üppig die Zahl der Ausgewählten einem eher politischen oder liberalen Vormärz zu wirkt, so reichhaltig ist doch die ‚Ersatzbank‘, klären oder herauszustellen – was den sehr lesba- die man sich vorstellen könnte: Auch die Gräfin ren Beiträgen von Jochen Grywatsch zu Droste Hahn-Hahn, Fürst Pückler oder Varnhagen von oder Michael Perraudin zu Mörike Fokus und Ense (wenn man die Adligen vorziehen darf), intellektuelle Spannung verleiht, freilich auch auch Carus, Chamisso, Gerstäcker, Hackländer, dazu führt, dass üblicherweise vorzustellende Harring, Hauff, Kurz, Rückert, Scherenberg, Hauptwerke an den Rand rücken. Ein Gegenbei- Ungern-Sternberg oder Willkomm hätten wohl spiel bildet der Stifter-Artikel Maria Famulas, ein Einzelporträt verdient. Dass sich manche der der ganz kanontreu die Studien-Erzählungen der hier Nominierten politisch nicht stärker engagiert 1840er Jahre ins Zentrum stellt und darüber den oder eher konservativ geäußert haben, wäre kein Publizisten Stifter völlig vergisst, obwohl dessen Gegenargument, denn – und damit kommen wir maßgebliche Beteiligung am Sammelwerk Wien zu einem grundsätzlichen Punkt – der Heraus- und die Wiener (1844) doch seit einiger Zeit geber Eke favorisiert eine neutrale Handhabung schon die Aufmerksamkeit der Fachwissenschaft der Epochenbezeichnung „Vormärz“ in jenem gefunden hat und als Auseinandersetzung mit der umfassenden Sinn, den schon Peter Steins Metz- Großstadtthematik in jedem Fall das Interesse der ler-Bändchen 1974 erprobt hat, und geht hier in Vormärz-Forschung verdient. der Auswahl der behandelten Autoren noch über Es ist offenbar nicht ganz einfach, die her- seine eigenen Dispositionen in der oben genann- kömmliche Zuwendung zu Ästhetik und narrativer ten Einführung hinaus. So finden wir denn in Fiktionalität mit der Analyse und Dokumentation

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 196 | Besprechungen eines journalistischen oder eingreifenden Schrei- bevormundenden Vereinheitlichung oder Lücken- bens zu verbinden. Das belegen in gewisser Weise schließung vorzuwerfen. Gerade in ihrer Poly- auch die verdienstvollen Artikel über Arnold perspektivität und divergierenden Fokussierung Ruge und den ‚Hambacher‘ Johann Georg August spiegelt die hier aufmarschierte Hundertschaft Wirth. In beiden vermisst man einen Hinweis auf von Beiträgen den Diskussionsstand nach einem den autobiographisch unterfütterten Roman, in Vierteljahrhundert selbstbenannter Vormärz-For- dem sich Wirth (nämlich mit Walderode, 1845) schung und wird sie auch in Zukunft als authen- und Ruge (Der Demokrat. Novelle aus unserer tisches Referenzwerk be- und geachtet werden. Revolution, 1849) mit dem politischen Geschehen und ihrer eigenen Rolle darin auseinandergesetzt Peter Sprengel haben. Freie Universität Berlin Der Rezensent spürt freilich, dass er mit diesen Institut für Deutsche und Niederländische Philo- Bemerkungen zunehmend in die Rolle eines redi- logie gierenden Herausgebers rutscht, und bricht hier Habelschwerdter Allee 45 ab. Denn es ist beileibe nicht seine Absicht, dem D–14195 Berlin wahren Herausgeber Versäumnisse im Sinne einer

Holden Kelm (Hrsg.) Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik (1832/33). Über den Begriff der Kunst (1831–33). Mit einer Einleitung, Bibliographie und Registern. (= Philosophische Bibliothek 696). Verlag Felix Meiner, Hamburg 2018, LXXVII, 561 S.

Zu den Gemeinsamkeiten der oft als Antipoden Universitätsgründung, die Form des lebendigen beschriebenen Philosophen Hegel und Schleier- Kathedervortrags zum medialen Zentrum der macher gehört, dass ihr philosophisches Werk durch die Philosophie legitimierten Universität vornehmlich in Form nachgeschriebener und erklärt. Noch Kant hatte ja vornehmlich kanoni- erst nach ihrem Tod von ihren Schülern heraus- sierte Lehrbücher gelesen und kommentiert; erst gegebener Vorlesungen überliefert ist. Im Falle der an der Jenaer Universität wurden um 1800 mit hegelschen, vom „Verein von Freunden des Ver- Schiller und Fichte Vorlesungen zum medialen ewigten“ edierten 18-bändigen Ausgabe machen Ereignis. Die Aura, die zeitgenössisch offenbar die nachgeschriebenen Vorlesungen immerhin von den Vorlesungen ausging, zeigen nicht zu- die Hälfte der Bände aus, bei Schleiermacher ist letzt die oft penibel in wörtlicher Kurzschrift ver- es noch gravierender: Von seiner systematischen fassten Mitschriften. Von den Vorlesungen hatte Philosophie war zum Zeitpunkt seines Todes Schleiermacher die Tätigkeit an den Akademien 1834 fast nichts publiziert; die nahezu 30 Jahre unterschieden: Der Universitätslehrer sollte den zuvor erschienenen Grundlinien einer Kritik der Studenten vor allem den spekulativen Zusammen- Sittenlehre waren neben den Akademieabhand- hang allen Wissens lebendig darlegen. Dagegen lungen die einzige und letzte große, aber kaum sah Schleiermacher die Aufgabe der Akademie ein größeres Publikum erreichende philosophische darin, auf Spekulation gerade zu verzichten und Veröffentlichung. Anders als im Falle von Hegels sich auf die präzise Darstellung des Einzelnen zu Freundesausgabe, die schon 1845 abgeschlossen konzentrieren. war, erschien der letzte Band der Sämmtlichen Auch Schleiermachers Ästhetik liegt in dop- Werke Schleiermachers erst 1864, also dreißig Jahre pelter Form vor: als Vorlesungen sowie – unter nach seinem Tod. Das trug dazu bei, eine adäquate dem Titel Über den Umfang des Begriffs der Rezeption seiner Philosophie zu verhindern. Kunst in Bezug auf die Theorie derselben – als Schleiermacher hatte selbst in den Gelegent- eine Folge von drei Akademieabhandlungen. Als lichen Gedanken über Universitäten von 1808, Herausgeber seiner Ästhetikvorlesungen hatte seiner Reformschrift im Vorfeld der Berliner Schleiermacher in den letzten Lebenstagen seinen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 197

Schwiegersohn, den Berliner Gymnasialprofessor Seit Lommatzsch Publikation galt Schweizers Karl Lommatzsch, beauftragt. Er und die anderen Nachschrift als verschollen und ist erst jüngst Herausgeber der Sämmtlichen Werke betraten mit wieder aufgefunden worden. Es ist das Verdienst den Vorlesungen auch editorisches Neuland. Im von Holden Kelm, diese Nachschrift erstmals Falle der Ästhetik standen sie vor der Schwierig- textkritisch in ihrer ursprünglichen Gestalt ediert keit, dass Schleiermacher seine Vorlesungen als und zusammen mit den Akademieabhandlungen Work in Progress drei Mal (1819, 1825, 1832/33) in veröffentlicht zu haben. Mit der Ästhetikvorlesung unterschiedlicher Form gehalten hatte. Neben den von 1832/33 und den Redemanuskripten der drei Notizen Schleiermachers liegen dazu verschiedene Akademieabhandlungen Über den Begriff der Mitschriften vor. Lommatzsch konzentrierte sich Kunst (1831–33) hat der Herausgeber alle Texte der auf das letzte Ästhetik-Kolleg von 1832/33, wähl- letzten Ausarbeitungsstufe der Ästhetik Schleier- te drei Nachschriften, darunter die sehr genau machers in einem Band zusammengestellt. Bei der verfahrende des Zürcher Theologen Alexander dritten Akademierede, die Schleiermacher nicht Schweizer, aus und kompilierte sie freihändig mehr gehalten hat und die Fragment geblieben und ohne Dokumentation. Weil Schleiermacher ist, konnte Kelm in der Ausgabe das von Jonas vor seinem Tod selbst noch die Herausgabe dieser fälschlich eingefügte Ende der Rede als ein Stück und anderer Vorlesungen verfügt hatte, ist es aus den Gedankenheften rekonstruieren. Kelms nicht ganz von der Hand zu weisen, dass ihnen – Studienausgabe beruht auf den Editionsarbeiten vielleicht mitsamt der Idee, wie die verschiedenen für den entsprechenden Band der historisch-kri- Textzeugen zu kompilieren seien – ein Autorwille tischen Gesamtausgabe (Kritische Gesamtausgabe, zugrunde lag, der in seinen konkreteren Anwei- Abt. 2, Vorlesungen, Bd. 14). Die wird dann auch sungen freilich nicht rekon­struierbar ist. Den eine weitere, erst 2017 identifizierte Nachschrift Editionen seiner Schüler liegt die vor allem auf des Kollegs von 1825 von F. A. Trendelenburg Schleiermacher selbst zurückliegende hermeneu- enthalten. Die Ausgabe von Holden Kelm soll tische Maxime zugrunde, den Autor möglichst dabei offenbar nicht die in der Philosophischen besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, Bibliothek 1984 erschienene von Thomas Lehnerer also die Hinterlassenschaften vor allem als Quelle ersetzen – die Ausgaben sind als Philosophische einer ihnen zu Grunde liegenden Idee zu nutzen. Bibliothek Bd. 365 und Bd. 696 parallel im Das gleiche gilt für die von Rudolf Odebrecht Programm. Neben der Printausgabe gibt es eine herausgegebene, nun aber die Textstufen kenntlich Online-Publikation der Vorlesungsnachschrift, machende Edition von 1931, die jedoch fälsch- die auf sehr benutzerfreundliche Art die verän- licherweise eine Mitschrift der Vorlesungen für derten Lesarten bzw. Varianten im Vergleich mit Schleiermachers eigenes Manuskript hielt (auf Lommatzsch durch Hyperlinks sichtbar macht. dieser falschen Zuschreibung beruht auch noch Holden Kelm stellt der Edition eine siebzigseiti- die 1984 ebenfalls im Meiner-Verlag erschienene ge Einleitung voran, die Schleiermachers Ästhetik Ausgabe der Ästhetik von Thomas Lehnerer). biographisch, werkgeschichtlich und historisch Wie die durchaus reflektierten editorischen verortet. Dem ebenso langen Anmerkungsapparat Maximen bei Lommatzsch zeigen, hat sich seitdem mit 330 Stellenkommentaren gelingt es beein- vielleicht weniger das Problembewusstsein verän- druckend, die historischen, vor allem kunsthisto- dert als die gesetzten Maßstäbe von Editionen. Die rischen Anspielungen Schleiermachers zu eruieren. so entstandenen Bände sind aus heutiger editions- Dieses Material erlaubt neue Rückschlüsse auf die kritischer Perspektive nicht hinreichend, die sich Material- und Anschauungsbasis, die der Ästhetik vom hermeneutischen Ideal längst verabschiedet Schleiermachers zugrunde liegt. hat und nach dem Ideal möglichst getrennter Re- In seiner Einleitung verortet der Herausgeber produktion der einzelnen materialen Textzeugen Schleiermachers Ästhetik in den zeitgenössischen (von Schleiermachers Heften über einzelne Zettel Debatten. Schweizers Nachschrift ist inhalt- bis zu den Nachschriften) verfährt. Konsequen- lich auch deswegen besonders interessant, weil terweise müssten solche Vorlesungsnachschriften Schleiermacher zu Beginn dieser Vorlesungsreihe dann eigentlich nicht den Namen Schleiermachers, seine Ästhetik selbst historisch verortet und sie in sondern den Schweizers als Autor nennen. eine Entwicklungslinie stellt, die in der jüngeren

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 198 | Besprechungen

Entwicklung von Alexander Baumgarten bis zu und Religion in Schleiermachers Systematik (vgl. seinen Zeitgenossen Hegel und Schelling reicht. den Zusammenhang zwischen ‚Begeistung‘ und Wenn also Wilhelm Dilthey unterstellte, dass ‚Begeisterung‘ im Sinne einer Gefühlserregung, Schleiermachers Ästhetik die frühromantische S. XXIV). Wie Hegel arbeitet also auch Schleier- Ästhetik sei, so zeigt dessen Selbstverortung, dass macher zentral mit einer Geistform und ist damit er selbst die Positionen der später als klassische dessen idealistischer Ästhetik nicht so fern. Wie deutsche Philosophie bezeichneten Denker nicht Schleiermacher über die Begriffe der Besonnenheit weniger im Blick hatte (1. Kant und Schiller, 2. und der Stimmung (Kunsttrieb, S. XXXIX) als Fichte und Schelling, 3. Hegel). Wie aus dem reflexive Momente die Formen der ästhetischen historischen Abstand die Unterschiede zwischen Darstellung, Wahrnehmung und das System Schleiermacher und Hegel heute ohnehin weniger der Künste ableitet, entfaltet Kelm souverän in gravierend erscheinen, so arbeitet auch Kelm Ge- seiner instruktiven Einleitung. In ihr werden das meinsamkeiten der beiden Philosophen heraus, Verhältnis von Kunst und Natur, die Theorie der die an der Berliner Universität alternierend über einzelnen Künste, der systematische Zusammen- Ästhetik lasen. Dennoch hat Schleiermacher eine hang zwischen Ethik, Kunst und Religion sowie spezifische Perspektive auf die Kunst: War Kant Schleiermachers Rezeption von Antike, Weimarer in der Kritik der Urteilskraft vom rezipierenden Klassik und Frühromantik behandelt. Subjekt ausgegangen, bezeichnet man Hegels Äs- Der in Leinen gebundenen und dennoch be- thetik als Werkästhetik, so ist Schleiermachers eine zahlbaren Studienausgabe ist ein Personenregister produktionsästhetisch orientierte Kunsttheorie angefügt – und es ist vielleicht ein Fall später aus- (das Schöne als ‚freie menschliche Production‘). gleichender Gerechtigkeit, dass der Registereintrag Die Rezeptivität wird dabei selbst auf die ästhe- für den Schleiermacher eher ignorierenden Goethe tische Produktivität zurückgeführt; eine These, nun seinerseits vergessen wurde. die einiges vorwegnimmt, was dann später in der Rezeptionstheorie entwickelt wurde. Ernst Müller Den inhaltlichen Fokus legt Kelm in seiner Leibniz-Zentrum für Literatur- und Einleitung auf die „genuine Tätigkeit des künst- Kulturforschung lerischen Subjekts im Ausgang von der begeisterten Schützenstr. 18 Stimmung und deren organische Darstellung“ D–10117 Berlin (S. IX) sowie auf Verbindungen zwischen Kunst

Petra S. McGillen The Fontane Workshop. Manufacturing Realism in the Industrial Age of Print. (= New Direc- tions in German Studies Bd. 26). Bloomsbury Verlag, New York u. a. 2019, 328 S.

„Die Handschrift redet“ – auf diese prägnante Kurator*innen von Ausstellungen von Interesse Formel hat Malcom Pasley die Bedeutung des sein kann. Wer, wann, wo und mit welchem Ma- Schreibprozesses für die Interpretation der Texte terial seine Texte notiert hat, welche ideale Schreib- Franz Kafkas gebracht. Das Schwanken zwischen szene (Rüdiger Campe) oder problematische Schreibstrom und Werkideal (Gerhard Neumann) Schreib-Szene (Martin Stingelin) das Schreiben war für Kafkas Schreiben zentral. Am Beispiel sei- von Autor*innen geleitet oder beeinflusst hat, ist ner Notizbücher hat die Forschung – neben Pasleys in den letzten Jahren von der literaturwissenschaft- und Neumanns Arbeiten sind diejenigen Roland lichen Schreibprozessforschung für unterschied- Reuss’ zu nennen – eindrücklich gezeigt, dass die liche Autor*innen aufgearbeitet worden: Neben Beschäftigung mit dem schriftstellerischen Ma- (inzwischen kanonischen) Studien zu Hölderlin terial nicht nur für Editionsphilolog*innen oder und Kafka gibt es entsprechende Arbeiten zu

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 199

Georg Büchner und Robert Walser, zu Gottfried preußischen Postwesens bzw. die Beschleunigung Keller und Annette von Droste-Hülshoff, um nur des Briefverkehrs ein solches Projekt, einen solchen einige zu nennen. Austausch zwischen Produzent und Rezipient*in- Petra McGillens Band schließt an diese Vor- nen überhaupt erst möglich machte. arbeiten an und widmet sich dem Schreibprozess Dem produktiven Konnex zwischen Autor und Theodor Fontanes. Es geht dabei um das, was man Publikum, zwischen populären Medien und Fon- gemeinhin als ‚Blick in die Werkstatt‘ bezeichnet. tanes Romanproduktion, der McGillen interes- Wie treffend diese Wendung in Fontanes Fall siert, hat sich die Fontane-Forschung in den letzten ist, zeigt McGillen in ihrer Studie eindrücklich: beiden Jahren durchaus gewidmet. Verwiesen sei Sie beschreibt Fontanes Textproduktionsprozess in diesem Zusammenhang auf die Publikationen als ‚Workshop‘, mit dessen Einrichtung der freie, Manuela Günters, Hugo Austs und Rudolf Helm- auf den Erfolg seiner Texte angewiesene Autor stetters. Und auch Fontanes Schreibprozess selbst auf den Aufstieg von Zeitungen und Journalen ist von der Forschung in den Blick genommen wor- zu (literarischen) Massenmedien reagiert. Im den, exemplarisch anzuführen sind hier Gabriele Gegensatz zu Autor*innen, die mit den neuen Radeckes textgenetische und editionsphilologische Publikationsformen haderten (McGillen verweist Arbeiten, als deren jüngstes Beispiel die digitale auf das prominente Beispiel Gottfried Kellers, Edition von Fontanes Notizbüchern zu nennen der mit seinem letzten Roman Martin Salander ist. Auf die Ergebnisse dieser Forschungsbeiträge an den Anforderungen des Mediums bzw. an bezieht sich McGillen immer wieder, um gleichzei- den Verpflichtungen eines Journalautors schei- tig die eigene Agenda sehr präzise zu beschreiben: terte), richtete Fontane seinen Arbeitsprozess „Exploring and reconfiguring the intersection of konsequent an diesen Medien aus – und das im technology and creativity, the book reconstructs doppelten Sinne. Erstens: Rückgreifend auf seine concretely how Fontane’s ‚media realism‘ came into eigene journalistische Erfahrung als Kritiker und being – and ‚concretely‘ here means on the level Korrespondent bezog er aus den Zeitungen und of paper, ink, pencil, scissors, and glue. In light Zeitschriften seiner Zeit die Stoffe, auf denen er of the material evidence of Fontane’s paper tools, seine Erzählungen aufbaute, fand in den Journalen it provides a link between two concepts that the die Figuren, um die er seine Handlungen entwarf. Fontane scholarship has researched individually Dazu legte Fontane umfassende Exzerpte an, but not sufficiently connected, namely, the media- notierte kurze Figurencharakterisierungen und historical conditions under which he worked and kuriose Ereignisse, schrieb Listen und hielt sprach- his poetics of the novel.“ (S. 20) liche Idiosynkrasien fest. In seinem privaten Archiv McGillen interessiert sich also für die Genese sammelte der Autor diese Materialien, stellte sie und die Materialität der Texte, für die ‚Arbeit thematisch in einzelnen Zettelsammlungen, in am Manuskript‘, mithin für den Konnex von Kästen und Papierrollen zusammen. Diese Kompi- Produktionsbedingungen und Poetik. Sie bringt lationen nutzte er, sobald es um ein neues Schreib- daher Textgenetik und medienhistorische Kon- projekt ging. Zweitens: Fontane richtete seine textualisierung zusammen. Fontanes letzten Be- Produktion sehr gezielt auf die Leserschaft des ruf als Autor literarischer Texte sieht McGillen jeweiligen Journals aus – und bezog sein Publikum dabei nicht getrennt von seinen vorherigen als teilweise in den eigenen Schreibprozess ein. Im Apotheker und Journalist. Im Gegenteil: Bei den Falle der Wanderungen durch die Mark Branden- Wanderungen etwa zeigen sich, vor allem während burg etwa setzte Fontane auf die Mitwirkung der der Arbeit an den Bänden, die dem ersten folgen, Leser*innen, die dem Autor eigene Geschichten stupende Parallelen zu Fontanes Engagement als und historische Anekdoten schicken sollten, um England-Korrespondent der Kreuzzeitung. Als Stoff für die projektierte Sammlung zu liefern. Das ‚Korrespondent‘ nahm Fontane bekanntermaßen Wanderungen-Projekt basierte mithin auf einem Berichte aus England aus anderen Zeitschriften literarischen crowdsourcing (S. 125), wie McGillen auf, bearbeitete sie mit Schere und Kleber, schrieb es pointiert fasst. Möglich wurde ein solches Unter- einzelne Passagen um und aus – und vermittelte nehmen, weil Fontane die ‚neuen‘ Informations- auf diese Weise den Eindruck von Augenzeugen- techniken seiner Zeit konsequent nutzte. Luzide schaft. Genau so verfuhr er auch bei einzelnen zeigt McGillen, inwiefern die Modernisierung des Passagen der Wanderungen: Auch hier nahm der

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 200 | Besprechungen

Autor das von Leser*innen gelieferte Material als am Beispiel seiner Protagonistin reflektiert und Grundlage, nutzte ein copy-und-paste-Verfahren, gleichzeitig ironisch in den Blick nimmt. um schnell Texte liefern zu können. Angewen- Von Fontanes letztem Roman zurück zum det wurden dabei gleichzeitig pharmazeutische Anfang der vorliegenden Studie und damit zum Grundoperationen wie das Zertrennen und Zer- Schluss dieser Besprechung: Das Cover des Bandes setzen, das Vermischen und Versetzen (vgl. S. 192), ziert die berühmte Fotografie, die Fontane an sei- alles Verfahren, die McGillen in die Nähe von Re- nem Schreibtisch zeigt. Das Bild ruft, so erläutert mix-Strategien setzt: „Fontane’s achievement as an McGillen in ihrer Einleitung, alle Versatzstücke artist lies […] in two innovations: in his develop- der Ikonographie des schreibenden Künstlers auf: ment of an artistic practice and notion of ‚making‘ Den Stift in der Hand, das Papier vor sich liegend, that reconciled individual creation with mass geht Fontanes Blick in die Ferne. Dass dieses Bild production, and in the radical model of material nur wenig mit der Realität zu tun hat, ist nach der textuality operant in his work. Fontane’s practices Lektüre von The Fontane Workshop klar. Auf den of remix hinged on material sources.“ (S. 20) letzten beiden Seiten der Studie beschreibt McGil- Interessant ist nun, dass dieses Prinzip nicht len, wie ein realistischeres Bild Fontanes aussehen auf die Wanderungen beschränkt ist. Dass die groß würde: Es zeigte Emilie Fontane, die großen Anteil angelegte Reisebeschreibung die Grundlage für an den Projekten ihres Mannes, am Funktionie- Fontanes Engagement als Romancier bildet, ist ren des ‚Workshops‘ hatte, und andere Helfer; es communis opinio der Fontane-Forschung. McGillen zeigte Stapel von Zeitungen, Zeitschriften und widerspricht in ihrer Studie dieser Annahme nicht, Journalen, es zeigte die Kästen, in denen Fontane vielmehr zeigt sie, wie man auf Basis der Auseinan- das Material zu seinen Romanprojekten verwahrte dersetzung mit dem Archivmaterial diesen Befund und die Listen, die er dazu führte. noch konsequenter formulieren muss. Denn wie Was McGillen hier auf anderthalb Seiten skiz- Fontane die Wanderungen kompilierte, aus seinen ziert, ist auch das Programm des Bandes selbst: Er Aufzeichnungen und Notizen zusammenstellte, so modifiziert das Bild von Fontane, er entwickelt ging er auch bei seinen anderen Projekten vor, was neue Perspektiven auf einen so oft beschriebenen McGillen exemplarisch am überlieferten Material Autor und seine von Forschungsbeiträgen gerade- zu Vor dem Sturm und Schach von Wuthenow vor- zu umstellten Texte. Und nicht zuletzt zeigt die führt. Auch hier griff Fontane auf bereits vorhan- Untersuchung, wie nahe Fontanes Schreibver- denes Material zurück, setzte auf das Finden statt fahren heutigen kreativen Produktionsprozessen auf das Erfinden, auf die Zusammenstellung und stehen. Petra McGillen hat eine brillante, material- den Remix. Inwiefern dieser spezifische Schreib- reiche, wunderbar geschriebene Studie vorgelegt, prozess in den Texten selbst thematisch wird, zeigt die den Blick auf Fontane verändert. McGillen in einem als Coda betitelten Schluss- kapitel am Beispiel von Fontanes letzten Roman Thomas Wortmann Mathilde Möhring. In einer spannenden Neupers- Universität Mannheim pektivierung liest McGillen den Roman als einen Seminar für deutsche Philologie poetologischen Text, als Schreibprojekt also, dem Lehrstuhl für Neuere Germanistik II seine Entstehungsbedingungen eingeschrieben D–68131 Mannheim sind und in dem der Autor seinen Schreibprozess

Bettina Hitzer Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020, 540 S.

Ernst Jünger schrieb, „[d]ie großen Leiden nehmen wechselt ihr Objekt.“1 Anfang des 20. Jahrhun- ihren Gang wie die Kulturen; sie erscheinen, haben derts wechselte diese besondere Furcht vom Feld ihre Blüte, regieren lange und sterben ab. […] Die der Infektions- auf das der Krebserkrankungen. Furcht […] verteilt sich nun auf andere Felder, Die Historikerin Bettina Hitzer spürt in ihrer

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 201 jüngst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse die Autorin selbst im Fazit an, das zugleich den ausgezeichneten Monographie dem „König aller Versuch einer Synthese leistet; Emotionsgeschichte Krankheiten“2 nach. Im Vordergrund steht dabei sei aber gerade „angewiesen auf viele andersfar- allerdings nicht die Geschichte der Krankheit bige Fäden.“ (S. 393 f.) Die präsentierte, um die Krebs, ihrer Diagnose und Therapie, sondern eine Jahrtausendwende keineswegs einen definierten ‚Emotionsgeschichte‘ der „historisch geprägten Abschluss findende Emotionsgeschichte verläuft Fühlweisen“ am Beispiel des Krebses, der im nicht linear, sie operiert auf vielen Feldern gleich- 20. Jahrhundert paradigmatisch für Leiden und das zeitig und verbindet sie zu einem eindrucksvollen Böse schlechthin, zur „Leitkrankheit“ wird (S. 15). Panorama von Kultur-, Sozial- und fundierter Neben umfassenden Verschiebungsprozessen Medizingeschichte. Dabei ist das aus Hitzers in Ursachenforschung, Diagnose und Therapie Habilitationsschrift hervorgegangene Buch außer- der um 1900 unergründeten und „fast immer töd- gewöhnlich gut formuliert und strukturiert. Im lichen Krankheit“ (S. 9) widmet die Monographie Kontext der Transformationen, die das Denken sich hauptsächlich der Grenzziehung zwischen über den Krebs etwa mit der epidemiologischen Sag- und Unsagbarem – etwa im Kontext des syste- Wende oder der Psychoanalyse (die für die Wahr- matischen Verschweigens von Diagnosen bis in die nehmung der Krankheit von ebenso fundamen- 1970er Jahre oder der öffentlichen Popularisierung taler Bedeutung ist wie andersherum, man denke medizinischen Fachwissens zu Zwecken der Auf- an die langen Krebsleiden und -ängste Freuds) klärung und Prophylaxe. Gefühle sind für all diese gerade um die Jahrhundertwende durchlaufen Fragen von eminenter Bedeutung, z. B. im Bereich hat, ist es bedauerlich, dass Hitzers Analyse erst der Psychosomatik, die einen entsprechend großen nach 1900 einsetzt. Teil des Buchs einnimmt. Die Leitfrage nach der Im Detail gelingen außergewöhnliche Ent- „Art und Weise, wie sich die Angst anfühlte“ deckungen, die tief in die Archive führen: von (S. 14), fußt auf der Prämisse, dass das Gefühl Gerichtsbeschlüssen und Krankenakten über me- – definiert als „eine Empfindung des Menschen, dizinische Fachliteratur, persönliche Zeugnisse von die sich auf der historisch variablen Grenze von Erkrankten bis zu Werken der bildenden Kunst, Körper und Nicht-Körper bewegt“ (S. 13) – von Plakaten, Broschüren und Aufklärungsfilmen. den dasselbe repräsentierenden Medien zu schei- Eingewebt finden sich immer wieder Beispiele den und als diskursanalytische Quelle nutzbar ist. aus dem Feld der Literatur, von Storms Novelle Emotionen seien „universal […], individuell […] Ein Bekenntnis oder Gottfried Benns Krebsbaracke und historisch“ zugleich (S. 14) und damit weder bis zur autobiographisch geprägten Literatur der irrational noch rein subjektiv, sondern historisier- ‚Neuen Subjektivität‘ seit den 1970er Jahren oder bar, sozial zu verorten und zu verhandeln. Dass Solschenizyns Krebsstation. Gerade die panorama- diese Prämisse der grundlegenden Darstellbarkeit, tische Anlage und die Zugänglichkeit aber stehen Historisierbarkeit und Objektivierbarkeit von einer kritischen, fundierten Analyse und Kontex- Gefühlen durchaus abweichend bewertet werden tualisierung der literarischen Einzeltexte im Weg: kann, verdeutlicht etwa Jean Améry: „Gefühlsqua- als historische Quelle unter vielen erscheinen sie len sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie allzu oft als passender Stichwortgeber, außerhalb markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungs- ihres Werkzusammenhangs so gedreht, dass sie vermögens. Wer seinen Körperschmerz mit-teilen sich der historischen Darstellung möglichst kon- wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen“.3 fliktfrei einpassen. Den Texten, die sich häufig Anstelle einer strikt chronologischen Darstel- nicht mit dem beschriebenen Mainstream der lung setzt Hitzer viermal an, um das 20. Jahrhun- Gefühle zu decken scheinen und gerade daraus dert anhand dieser ‚Fühlweisen‘ des Krebses aus ihre Sprengkraft gewinnen, wird das nicht gerecht. vier spezifischen Perspektiven zu vermessen: Krebs Im Fall Fritz Zorn ist etwa die in Hitzers Unter- erklären und erforschen, Krebs erkennen, Über Krebs suchung nicht berücksichtigte Differenz zwischen sprechen und Krebs erfahren. Dass dieser „rote Fa- den Gesellschaften der BRD und der Schweiz den […] an manchen Stellen verblasst und fast im konstitutiv für Zorns Kritik an der bürgerlichen Gewebe anderer Fäden verschwunden“ ist, merkt Gesellschaft; die Behauptung, Gottfried Benns

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 202 | Besprechungen

Gedicht Krebsbaracke beschreibe explizit, was Formen der ars moriendi im 20. Jahrhundert – die dieser „sah, als er die Krebsbaracken vermutlich für ihre literarischen Quellen oft von eminenter mit Mitte 20 als junger Unterarzt der Charité Bedeutung sind – bleiben aber unbeachtet. Tho- das erste Mal betrat“ (S. 331), wird erst in den mas Macho hat bereits 1986 darauf aufmerksam Endnoten relativiert; Susan Sontags Krankheit als gemacht, dass „[d]er Krebs sich zum Synonym für Metapher gewinnt, in Verse gesetzt (S. 178), einen alles ‚Böse‘ [entwickelt], das wir verabscheuen und lyrischen Ton, der dem aufklärerischen Impetus zugleich mit großer Faszination aufspüren“; er habe des Originaltexts diametral gegenüber steht. Wenn sich „zur umfassenden Repräsentation des ehemals literarische Autopathographien, die oftmals auch ‚Widersacherischen‘“ entwickelt: „zur Signatur des testamentarische oder werkpolitische Funktionen Teufels.“4 erfüllen, als historische Quellen verwendet und Mit der gekonnten Synthese von Kultur-, Me- an ihnen konkrete ‚Fühlweisen‘ expliziert werden dizin- und Sozialgeschichte zu einem weit über die sollen, muss eine quellenkritische Betrachtung ihre Realitäten und Phantasmen des Krebses hinaus oft elaborierten Inszenierungsstrategien in den reichendem Fragment einer Kulturgeschichte von Blick nehmen. Ein Leitmotiv vieler Krebs-Autopa- „Angst, Hoffnung und Ekel“ (S. 415) im 20. Jahr- thographien ist das Gefühl eines Integritätsverlusts hundert erlaubt Bettina Hitzers gleichwohl über- und des davon induzierten, oft autofiktionalisie- aus anregendes Buch vielfach neue Entdeckungen. renden Schreibens als Möglichkeit der Subjektivie- Gleichzeitig eröffnet sie einen Diskussionsraum, in rung und Selbstvergewisserung. Auch im Kontext dem sie die fundierte Reflexion der spezifischen eines in der literarischen Welt inzwischen oftmals Potentiale und Grenzen der ‚Emotionsgeschichte‘ als ‚Performance‘ wahrgenommenen Sterbens und und ihrer Quellen ermöglicht. dem gerade in der psychosomatischen Ätiologie virulenten Versuch des ‚Schreibens als Therapie‘ finden sich in den untersuchten Texten vielfach Anmerkungen Strategien der Inszenierung, Distanzierung und Autofiktion, die Hitzer nicht berücksichtigt. 1 Ernst Jünger: Krankheit und Dämonie. Notizen zu In den vier Hauptteilen der Monographie er- Walters Missgeschick. In: Ders.: Sämtliche Werke, gründet Hitzer wohlstrukturiert „die Räume des 22 Bde., hier Bd. 13. Stuttgart 2015, S. 442–452, Forschens, die Räume der Früherkennung, die hier S. 449. 2 Vgl. Siddhartha Mukherjees 2011 mit dem Pulitzer- Räume der Diagnosemitteilung sowie schließlich Preis ausgezeichnete Monographie Der König aller die Räume der Behandlung, des Weiterlebens oder Krankheiten. Krebs – eine Biografie (übers. v. B. Sterbens“ (S. 22). Damit erfasst sie die Perspektive Schaden. Köln 2012). der Betroffenen, vor allem aber die professionellen 3 Jean Améry: Die Tortur [11966]. In: Ders.: Werke, Diskurse der Medizin und Psychologie. Um der Bd. 2. Hrsg. v. G. Scheit. Stuttgart 2002, S. 55–85, Stigmatisierung der Krankheit aber noch weiter hier S. 74. auf den Grund zu gehen, hätten nicht nur die 4 Thomas Macho: Ein zweites Leben in uns – Drei Rhetorik der Krankheit, etwa die u. a. von Sontag Fragen zum Krebs. In: Krankheitsbilder – Lebens- in Krankheit als Metapher beklagten Kriegs- und zeichen. 3. Kolloquium zur Philosophischen Praxis. Kampfmetaphern (vgl. S. 90 f.), sondern auch die Hrsg. v. M. Moser. Wien 1987, S. 85–118, hier S. 105. Zuschreibungen durch nicht direkt Betroffene expliziter einbezogen werden müssen: etwa Krebs Diego León-Villagrá als Metapher in politischen Diskursen oder als un- Humboldt-Universität zu Berlin spezifisches, absolut ‚Böses‘. Zwar attestiert Hitzer Institut für deutsche Literatur der Gegenwart durchaus eine „Rationalisierung Unter den Linden 6 der Gefühle […] auf einem bisher unerreichten D–10099 Berlin Höhepunkt“ (S. 431). Prozesse der Säkularisierung und die zunehmende Dysfunktionalität tradierter

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 203

Mareike Schildmann Poetik der Kindheit. Literatur und Wissen bei Robert Walser. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 504 S.

Es ist die ambivalente und für Robert Walsers wissen, „dem Kleinheit und Kindlichkeit per se als Werk zentrale Figur altersunabhängiger Kind- Gesten der Subversion gelten“ (S. 30). Im Gegenteil lichkeit, auf die Mareike Schildmann in ihrer interessiert sich Schildmann insbesondere dafür, wie eindrucksvollen Studie blickt. Sie untersucht ent- Walser am Wissen um das Kind teilhat. Lange hat gegen dem Trend zum Spätwerk primär Texte aus man Walsers Texten – gleichermaßen wie dem Kind Walsers frühen Schreibjahren, die sicherlich auch – unterstellt, unberührt von Wissensdiskursen zu seine bekanntesten Publikationen sein dürften: sein; beides wird hier konsequent und überzeugend Fritz Kochers Aufsätze (1904), die drei Romane in Frage gestellt. Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und In einem ersten Schritt (I. Kinderkult/ur) steht Jakob von Gunten (1909) sowie etwa das Prosastück dann auch die schwedische Pädagogin Ellen Key Die kleine Berlinerin (1909). Schildmanns Studie im Mittelpunkt der Untersuchung, die 1900 das zeichnet aus, dass sie eine große Zahl an päda- Das Jahrhundert des Kindes ausrief. Als Teil dieser gogischen, psychologischen und psychiatrischen Aufwertung und Verzauberung des Kindes begreift Quellen aus derselben Zeit ins Verhältnis zur Li- Schildmann auch Walsers „Imitation eines kindli- teratur setzt, die gemeinsam allesamt Wissen über chen Nicht-Wissens und Nicht-Könnens“ und seine das Kind um 1900 produzieren und umschreiben. „Ästhetik des Infantilen“ (S. 65). Insofern Kindlich- Bereits auf den ersten Seiten der umfassenden keit nicht nur den Stoffgehalt Walsers maßgeblich Studie werden die drei Hypothesen benannt, die bestimmt, sondern ebenso als poetologisches Prinzip der Untersuchung zu Grunde liegen. Gemäß der begriffen werden muss, das den eigentümlichen Wal- ersten Hypothese unterlaufen Walsers Protagonisten ser-Sound mitkonstituiert, erscheint der Gegenstand die Grenze zwischen Kind und Erwachsenem. Sie des Buches denn auch als grundlegend. tun dies gerade deshalb, weil in ihnen die Idee von Analog zu Walsers anachronistischen Kindern Entwicklung ausgesetzt wird (S. 14). Während die zielt auch Key auf das „‚Kind‘ im Erwachsenen“ Vorstellung von Kindheit seit dem 18. Jahrhundert (S. 14), das – paradoxerweise durch Erziehung eine ebensolche Entwicklung im Sinne einer Zunah- – wiedererlangt werden müsse (S. 441). Anhand me von Bildung und Wissen impliziere, widersetzen konkreter Lektüren von etwa Die kleine Berlinerin sich Walsers erwachsene Kinder – so Schildmann oder Fritz Kochers Aufsätze zeichnet Schildmann in vielfacher Übereinstimmung mit der Forschung stichhaltig nach, inwiefern sich Walsers Texte in –jeglichem Entwicklungsnarrativ. Inwiefern diese ihrer Nobilitierung des Kindlichen aber nicht nur ausgesetzte Entwicklung und Gleichzeitigkeit von in einen reformpädagogischen Diskurs einschrei- Kind und Erwachsenem an Kindheits-Diskursen ben, sondern zugleich in ihm enthaltene Parado- um 1900 partizipieren, wird vor allem in den xien aufdecken und diesen Diskurs somit kritisch Kapiteln I. Kinderkult/ur und III. Entwicklungsano­ reflektieren. Einerseits entsprechen die Texte dem malien verfolgt. Die zweite Hypothese zielt auf die reformpädagogischen Ziel, das Kindliche im Er- Verbindung von Kind und Natur: Das Kind wird wachsenen wiederzuerlangen, da sie ja selbst eine bei Walser, so die Annahme, die ebenso fortlaufend kindliche Schreibweise imitieren und affirmieren. entfaltet und belegt wird, gerade nicht zum Ort des Doch andererseits sind etwa die Sätze und Haltun- Ursprünglichen, Natürlichen und Ungeformten. gen der zwölfjährigen Tagebuchschreiberin aus Die Stattdessen wird aufgezeigt, inwiefern Walsers Texte kleine Berlinerin weder unschuldig noch originär. dabei vielmehr – so die dritte Hypothese – Institu- Das macht Schildmann z. B. daran deutlich, dass tionen wie etwa die Schule als Ort ausweisen, „die die Schreiberin mitunter selbst reflektiert, woher das Kind und seine Entwicklung um 1900 umfassen ihre Ansichten stammen: „Wer sagt das? Nun, [und] den Kindheitsdiskurs hervorbringen“ (S. 14). natürlich Papa.“1 (S. 70) Walser imitiert das Kind, Anders als die bisherige Forschung will die Studie das selbst wiederum den Erwachsenen nachahmt Kindheit und Kindlichkeit nicht primär als Aus- und sich somit weder als authentisches noch als druck eines „poetischen Minimalismus“ verstanden ursprüngliches Wesen erweist (S. 65–73).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 204 | Besprechungen

Während die Aufwertung des Kindes um 1900 Abwesenheit des Ursprungs auch die Form des mit seiner zunehmenden Vermessung und Durch- Romans transformiert, verweist auf die hochgradig leuchtung Hand in Hand geht (S. 158 f., 190), blei- poetologische Bedeutung dieses sistierten Para- ben Walsers Figuren – Die kleine Berlinerin, Fritz, digmas: „Indem die Aufzeichnungen von Walsers Simon, Joseph, Jakob oder der Räuber – vielerorts Protagonisten die Szene der eigenen Herkunft aus- „opake Wesen“ (S. 192). Sie sind altklug, (taktische) sparen oder durchstreichen, werden sie zu Parodien Nicht-Wisser oder freudige Dilettanten jenseits der der Gattung, deren Form sie zitieren.“ (S. 288) üblichen Entwicklungs- und Bildungserwartungen. In Kapitel VI. (Wieder) Schreiben lernen wird Dabei versteht Schildmann die Abweichung von dargelegt, inwiefern die abwesende Ursprungszene der Entwicklungsnorm nicht als das Außen des nicht nur die Form des Romans und die roman- Diskurses. Noch in ihrer Devianz entsprechen internen, erzählten Welten, sondern ebenso ihre Walsers Protagonisten einem dieser Vermessung Schreibszene betrifft. Über Robert Walsers schein- als Kehrseite eingeschriebenen Konzept der Ano- bare Schreibkrise wurde viel spekuliert. Die Studie malie, das sie als Frühreife, Zurückgebliebene und stellt eine Deutung von Walsers „Schreibkrampf“ Regredierte subjektiviert (S. 153). Dass Walsers vor, indem sie ihn sehr schlüssig ins Verhältnis zu Texte diese institutionellen Verfahren zugleich medizinischem Wissen über dieses Phänomen um ausweisen und so entgegen der Naturalisierung 1900 setzt, das den Schreibkrampf eindeutig als des Kindes eine „Genealogie der Kindheit“ (S. 445) „motorische[] Störung“ (S. 331) beschreibt. Walsers unternehmen, ist eine ausgesprochen bedeutungs- eigener Wechsel des Schreibstifts sowie der Schreib- volle Erkenntnis der Untersuchung. praxis wären in diesem Sinne Reaktionen auf eine Diskurse um den Begriff des Kindes implizieren vielmehr physische als psychische Verkrampfung. bestimmte Zeitlichkeiten: So wurde das Kind in Walsers ‚erwachsene Kinder‘ sind Kopisten und einem onto- wie phylogenetischen Sinne mit dem professionelle Schönschreiber. Gerade deshalb sind Anfang verbunden. Gerade in dieser doppelten sie, so argumentiert Schildmann überzeugend, wie Ursprünglichkeit schrieb man dem Kind historisch Kinder im Allgemeinen, deren Schrift lediglich immer wieder eine herausragende Stellung zur die Lernpraxis der Schule spiegelt, nicht durch Kunst zu.2 Die – so Schildmann – insbesondere in die neu aufkommende Graphologie als Individuen der Romantik etablierte Nähe von Kind und Künst- subjektivierbar. Ihr Charakter zeigt sich in ihrer ler beeinflusste nicht nur die Reformpädagogen Schrift gerade nicht (S. 378 f.). Die Poetik der bei (S. 22 f., 59), sondern ebenso die zeitgleiche Kunst, Walser also durch und durch künstlichen Kind- die die kindliche Perspektive imitiert (S. 90 f.). heit löscht den Ursprung aus – das verdeutlicht Insbesondere in der Form des Märchens, welche die Studie schließlich auch an Walsers eigenem Walsers Poetik maßgeblich prägt, lässt sich diese Abschreibsystem, das die „Abschrift[] zu einer poe- dem Kind zugeschriebene Kopplung von onto- und tologischen Ermöglichungsfigur des Literarischen“ phylogenetischem Anfang wiederfinden (S. 83). Als macht und „Autor- und Urheberschaft konsequent generatives Prinzip von Walsers Schreibens identifi- verleugnet“ (S. 380). ziert Schildmann auch die um 1900 vorherrschende Die hier nur skizzenhaft angedeuteten, überaus Konzeption einer kindlichen, (noch) ungebändigten vielschichtigen Verbindungen von Diskurs und Aufmerksamkeit, wie sie etwa Ernst Meumann in pädagogischer Praxis um das Kind um 1900 sowie seiner Einführung in die experimentelle Pädagogik deren poetologische Implikationen werden durch (1911) beschreibt. In ihr nämlich entdeckt Schild- die Studie nicht nur evident; ihre Darstellung mann sehr interessante Entsprechungen zu dem gelingt ebenfalls beeindruckend leichtfüßig und für Walser so typischen Stil der Abschweifung oder ungezwungen. Während die einzelnen Kapitel Zerstreuung, der auf das Kleine zielt (vgl. Kapitel IV. wissenschaftliche Diskurse immer bereits in Aus- Psychometrik, Psychotechnik). einandersetzung mit Walsers literarischen Texten Für Walsers Figuren jedoch bleibt der Anfang behandeln (und die leidige Frage, was denn nun abwesend, so Kapitel V. Genealogien. Geschichte/n von wem gelesen wurde, glücklicherweise mehr- der Kindheit. Ihre Geschichten werden weder heitlich aussparen), lässt sich im Buch eine zu- von ihrem Ursprung her erzählt noch bewegen nehmende Hinwendung zu poetologischen Fragen sich die Erzählungen an diesen zurück. Dass die beobachten. Dabei zieht neben dem sechsten vor

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 205 allem das siebte und letzte Kapitel (VII. Pathologien Anmerkungen der Kindheit) Verbindungen zu Walsers Leben und endet mit Walsers Entmündigung, die hier auch 1 Robert Walser: Die kleine Berlinerin. In: Ders.: als Entmündlichung gelesen wird (S. 432). Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hrsg. v. J. Die Struktur stellt bei einer solch facetten- und Greven. Bd. 3 (= Aufsätze). Zürich, Frankfurt a. M. materialreichen Studie eine Herausforderung dar. 1985, S. 88–97, hier S. 93. 2 Vgl. Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kin- Erst nach vertiefter Lektüre gewinnt man den der und Wahnsinnige in der literarischen Moderne Überblick. Dass die Untersuchung selbst jedoch (Müller Musil, Benn, Benjamin). München 2013. die Übersicht behält, zeigt das in dieser Hin- sicht besonders hervorzuhebende und erhellende Ruth Signer Schlusswort, welches die Fäden gekonnt zusam- Université de Genève menführt. Generell schließt Schildmanns Poetik Faculté des lettres der Kindheit höchst kompetent und nahtlos an Département de langue et de littérature die aktuelle Walser-Forschung an, vertieft das allemandes ihr bereits bekannte Phänomen des puer aeternus UNI-Bastions entscheidend und erschließt Walsers Werk als poe- 5, rue De-Candolle tologisch-produktiven Bestandteil eines Kindheits- CH–1211 Genève Wissens um 1900. Inwiefern das Programm einer Poetik der Kindheit mit jeweils charakteristischen Unterschieden auch bei zeitgleichen Autoren wie etwa bei Franz Kafka aufscheint, deutet Schild- mann am Ende aussichtsvoll an.

Barbara Wiedemann (Hrsg.) Paul Celan. „etwas ganz und gar Persönliches“. Briefe 1934–1970. Suhrkamp Verlag, Frank- furt a. M. 2019, 1286 S.

Über Paul Celans Leben lag Unglück. Die Selbst- der Lyrik Celans vorgelegt: makellos wie alles, tötung, mit dem es endete, spiegelt die Kapitula- was diese Editorin für das Werk des Dichters tion vor seiner Ausweglosigkeit. Da war niemand geleistet hat.1 Das einem unglücklichen Leben und nichts, das ihm weiterleben lohnte. In seinem Abgerungene geriet in glückliche Hände. Sie letzten Brief, den Barbara Widemanns Edition widmen sich dem fremden Überlieferten mit einer abdruckt, zitiert Celan Franz Kafka: „Die Welt ins Unbedingtheit, als hinge daran das eigene Heil, Reine, Unabänderliche, Wahre heben“. Gerichtet und bewahren das, was Celan Wahrheit war und ist der Brief an die in Israel lebende Geliebte Ilana dessen Verlust er verzweifelt fürchtete. Wiedemann Shmueli und schließt mit den Worten: „Du weißt, hat der akribischen Ausgabe der Gedichte nun was meine Gedichte sind – lies sie, das spüre ich eine Auswahl aus den überlieferten Briefen folgen dann.“ (S. 894) Was glaubte Celan, seien seine lassen, wie sie allein es nur vermochte. Gedichte? Wortgewebe des Realen in mystischen In den letzten Jahren sind wichtige Briefwechsel Welten? Solche Wendungen irritieren, sie wider- Celans erschienen – etwa mit Nelly Sachs, mit sprechen seiner Poetik. „Dir darf ich es sagen, ohne Franz Wurm, mit Peter Szondi oder mit Klaus befürchten zu müssen, daß Du es für Selbstgefäl- und Nani Demus. Der vielleicht wichtigste mit ligkeit hältst“, äußerte er im Januar 1970 gegenüber der österreichischen Dichterin Ingeborg Bach- Gustav Chomed, „ich habe in meinen Gedichten mann hat es sogar in die Bestseller-Listen gebracht. ein Äußerstes an menschlicher Erfahrung in dieser Jeder Band für sich barg die Gefahr, dass Celans unserer Zeit eingebracht.“ (S. 877) Lebensnot das poetische Werk, das einzig Gültige, Vor zwei Jahren hat Barbara Wiedemann eine auf das es ankommt, überblendete. Wehrlos wurde erweiterte und neu kommentierte Gesamtausgabe diese Not missbraucht und zum Erzählstoff für

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 206 | Besprechungen

Erfolgsbücher von Journalisten. Man glaubt viel Zeitungsartikel hat Barbara Wiedemann am Bei- über Celan zu wissen und kennt kaum noch einen spiel von „Hannele“, an die Celan 1951 fünf Briefe Vers von ihm. Allein Todesfuge, ein wirkungsstar- schrieb und deren Existenz der Forschung bislang kes, aber stark anfechtbares Gedicht, hat sich ins unbekannt gewesen war, einen kurzen Blick hinter breitere kulturelle Gedächtnis geschrieben. die Kulissen ihrer akribischen Herausgebertätig- Die Briefauswahl von Wiedemann weist einen keit gewährt (Süddeutsche Zeitung, 10.12.2019). anderen Weg. In ihrem Begleittext bekennt sie Ihr gelang es, die Frau als Hannelore Scholz zu sich zu Prämissen, wie sie Martin Buber bei identifizieren und mit Hilfe des Deutschen Lite- seiner 2-bändigen Ausgabe der Briefe Gustav raturarchivs Marbach (Dr. Ulrich von Bülow) die Landauers 1929 formuliert hat: „Die Briefe sind frisch erworbenen Autographe in ihre Auswahl so ausgewählt, daß die Schritte des Lebensgangs aufzunehmen. Ausnahmslos handelt es sich um von ihnen abzulesen sind. Die Auswahl versucht, elementare Lebenszeichen und -zeugnisse, die für äußere und innere Biographie zu verknüpfen.“ (zit. sich stehen und doch erst im Verbund mit allen S. 897) Jedem Brief soll Bedeutsames anhaften, er anderen ihre Eigenart entfalten. Mit wünschens- soll Teil eines organisch Ganzen sein. Ihr selbst, werter Prägnanz informiert der ebenso kompakte so Wiedemann, sei daran gelegen gewesen, das wie komprimierte Kommentar über Aufbewah- Leben Celans „möglichst umfassend durch Briefe rungsort, Textträger, Kuverts und, falls gedruckt, abzubilden und dabei die große Vielfalt seiner den Publikationsort (eingegrenzt auf den Abdruck Kontakte mit Menschen aller Altersgruppen und des kompletten Textes). Frei von Überflüssigem, Geschlechter aus Familie, Freundeskreis und Beruf bietet die Kommentierung unerlässliche Details sowie die Entwicklung und Vielfalt seiner sprach- im Überfluss. Die Herausgeberin widerstand der lichen und stilistischen Möglichkeiten und nicht Versuchung, alles Wissen, über das sie verfügt, zu zuletzt die Vielfalt der ihn bewegenden Themen Wissenswertem zu erklären und damit die An- erfahrbar zu machen.“ (S. 897) Dreimal „Viel- merkungen zu fluten. Ihre editorische Erfahrung falt“ – und offenkundig kein Versehen. Hier wird weiß unerlässliche von unnötigen Informationen der verdichtete und höchste Anspruch fixiert, an zu scheiden. Das geht einher mit professioneller dem die Zusammenstellung der Briefzeugnisse Formulierungssicherheit, die sich durch Klarheit und jedes Dokument für sich gemessen sein will. auszeichnet. Das sind 691 Briefe an 252 Menschen, mit denen Da vermieden worden ist, hintereinander Celan auf diese Weise in Verbindung trat. Mit Be- mehrere Briefe an ein und denselben Adressaten dacht beschränkt sich die Auswahl nicht auf das zu reihen, entfaltet sich ein abwechslungsreiches Literarische oder auf das Private. An beidem ist Bild des Epistolographen Celan. Der gerade noch kein Mangel. Sie bezieht aber gleichfalls Schreiben Erschütterte, sich in äußerster Seelennot Offen- an Behörden ein und klammert den Schriftverkehr barende war am selben Tag zu scharfem Kalkül mit Institutionen nicht aus. Aufnahme haben auch und noch schärferer Strategie in der Lage. Seine nicht abgesandte Briefe gefunden, sehr oft Blitz- verbindliche Bemerkung gegenüber Karl Schwed- lichter, in denen Celans schwer zu fassendes Wesen helm, er habe „früh an potenzierte Wirklichkeiten plötzlich klar und ungeschützt aufscheint. In der glauben“ gelernt (6.11.1952, S. 137), erlaubt tiefes Rückschau legen sie frei, was vor den Zeitgenossen Loten und rührt an hehre wie heikle Züge Celans. verschlossen blieb. Weit über 300 Briefdokumente Dessen Bekenntnis – ebenfalls an Schwedhelm werden zum ersten Mal veröffentlicht. Um nur (5.7.1957) – einer „recht geduldlos gewordenen anzudeuten, an wen das bisher Unveröffentlichte Feder“ (S. 241) war nicht Koketterie. Spuren dieser gerichtet war: an Friederike Antschel, die Mutter, Ungeduld finden sich in den unterschiedlichen an Ruth Kraft, eine der frühsten Geliebten, an Phasen der Auswahl, vor allem aber in den Jahren Max Rychner, Hilde Spiel, Joachim Moras, Walter der sogenannten „Goll-Affäre“. Obwohl Selbst- Jens und, ja, an Ingeborg Bachmann (Entwurf, kritik nicht zu Celans Charakterzügen gehörte, S. 228). Adressaten von Rang und Bedeutung. musste er Mitte der sechziger Jahre einräumen, Aber daneben finden sich auch gänzlich un- „ein schlechter Briefschreiber geworden“ zu sein bekannte Personen, deren Spuren im Wind (an Wolfgang Bächler, 12.12.1964, S. 682). Ange- wechselnder Zeiten verweht scheinen. In einem sichts dieser Sammlung möchte man ihn vor dem

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 207 eigenen Urteil in Schutz nehmen, unbegründet sich, welche Durchdringungs- und Urteilskraft jedoch ist es nicht. So sicher Celan auch dieses notwendig war, den Gesamtbestand des Über- Terrain beherrschte, war er kein origineller, kein lieferten derart zu sichten, dass eine Präsentation großer, kein bedeutender Briefschreiber. Die seiner Briefschaft in dieser Gestalt zustande kam. Gattung, zu der er im Verlauf seiner letzten Jahre Wie wählt man aus den 334 Schreiben an Celans zunehmend den Bezug verlor, blieb ihm etwas Ehefrau Gisèle Lestrange 43 aus? Wie kompensiert Funktionales. Mit ihr verfolgte er Absichten, mit man hier und überall das ‚Schweigen‘ der anderen ihr kämpfte er für seine Dichtung, mit ihr rang Seite, der Korrespondenzpartner? Wie filtert man er um sich: Sprache, Poetisches, Nachdichten aus dem Wissensmeer eben die Partikel, die das waren ihm eigentliche und letzte Wesensinhalte. Dokument in neuem Kontext verständlich macht? Nirgends ist dem Solitär Celan eindrucksvoller zu Und endlich: Kann es überhaupt gelingen, ein begegnen als in den Sprachen, die ihm alles waren „Leben“ aus Briefen zu rekonstruieren? Die Ant- und er ihnen.2 In den Briefen aber kann man sich wort ist wohlfeil: gewiss nicht. Ein (misslicher) kaum des Eindrucks erwehren, dass Celan aus- Verlagstrend glaubt an die Wirkungskraft von schließlich seine Intentionen im Blick hatte. Der Zitatbrocken im Buchtitel. Der für die Edition Briefschreiber ist Kläger, Ankläger und Richter – auserkorene wurde, anspielungsvariabel, dem die Welt, über die er korrespondierend verfügte, Schreiben Celans an Gideon Kraft vom 7.5.1968 die ihn verletzte, kränkte und im Stich ließ, war entnommen. In ihm erklärte Celan apodiktisch, ihm die Welt. Ihm angetanes Unrecht verstellte dass dieser Brief „ein Brief an Sie“ sei, „etwas den Blick auf Unrecht, das er anderen antat. Nur ganz und gar Persönliches also, er hätte“, fuhr er eingeschränkt bewegten ihn die Daseinsumstände fort, „ohne diesen persönlichen Impuls, diese be- des Adressaten, der Adressatin. Kaum fähig zur stimmte Richtung, diese […] Verständnisinnigkeit Empathie, verlangte er – in einer Verzweiflung, gar nicht erst zu sich selbst kommen können. Ihn die ihm zunehmend jeden Ausweg verstellte – vom veröffentlichen, hiesse gerade das extrapolieren anderen Unbedingtheit für sich und das Seine. Für wollen was er […] von Haus aus ist.“ (S. 813) sich – das hieß kompromissloser Widerstand gegen Doch was nur irgend möglich war, um aus jener jede Form des Antisemitismus, und das Seine – das heterogenen Hinterlassenschaft am Ende doch hieß für die poetische Arbeit, die alles von Wert ein homogenes, kein harmonisierendes Porträt zu retten vermochte. dieses außerordentlichen Menschen aufscheinen Ein Briefwerk hat Celan nicht hinterlassen, so zu lassen, ist der Herausgeberin geglückt. Formal kostbar diese Hinterlassenschaft ist. Alle Briefe wie inhaltlich darf diese Briefauswahl ein Muster ersehnen, erbitten oder fordern Anteilnahme an ihrer Gattung genannt werden. seinem literarischen Werk, Teil von ihm sind sie nicht. Sie begleiten es und sind ihm Geleitschutz, nicht mehr, nicht weniger. Wer diese kenntnisreich Anmerkungen und behutsam zusammengestellte Auswahl liest, gewinnt etwas zurück, was der Celan-Forschung 1 Barbara Wiedemann (Hrsg.): Paul Celan. Die und Celans Leserschaft nötig ist: Unbefangenheit, Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Umgangsfreiheit. Hier wird kein Kult bedient und Frankfurt a. M. 2018. [1262 S.] keine Heiligenverehrung betrieben. Die Editorin, 2 Der Marbacher Katalog 50 Paul Celan als Übersetzer gehört bis auf den Tag zu den wesentlichen Publi- die liebt, was sie tut, agiert nicht als Hagiographin. kationen über den Dichter (hrsg. v. A. Gellhaus, R. Sie stellt in dieser Ausgabe ihr Celan-Wissen zur Bücher, B. Wiedemann u. a. Marbach a. N. 1997). Verfügung. Ihr liegt nicht daran, an einem Bild des Dichters manipulierend mitzuwirken. Dass Roland Berbig sie einen äußerst differenzierten Begriff von des- Humboldt-Universität zu Berlin sen Person und seiner Dichtung hat, spricht nicht Institut für deutsche Literatur dagegen. Es gibt derzeit niemanden, der über den Unter den Linden 6 Nachlass Celans derart profund und detailliert D–10099 Berlin unterrichtet ist wie Wiedemann. Nur ahnen lässt

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 208 | Besprechungen

Peter Braun Ilse Schneider-Lengyel. Fotografin, Ethnologin, Dichterin. Ein Porträt. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 284 S.

Peter Brauns Buch ist der Höhepunkt einer Lengyel kennen, den sie 1933 heiratet. Im selben kleinen, erfreulichen Forschungskonjunktur zum Jahr eröffnet sie in München ein eigenes Studio Werk Ilse Schneider-Lengyels, die seit einiger Zeit für Gebrauchsgraphik, dessen Typo klar den zu beobachten ist und an der der Autor bereits Bauhauseinfluss verrät. Von sich reden macht partizipiert hat.1 Kanonisiert war Ilse Schneider- sie aber zunächst mit einer opulenten Buchpu- Lengyel zuvor nur als berühmteste Gastgeberin der blikation, die 1934 im Münchner Piper Verlag frühen bundesrepublikanischen Literaturgeschich- erscheint: Die Welt der Maske. Das Buch gestaltet te. In ihrem Haus am Bannwaldsee bei Füssen sie vollkommen eigenständig, fotografiert Masken hatte 1947 eine Schriftstellerzusammenkunft unterschiedlicher Kulturen und Zeiten, schreibt stattgefunden, die sich später als das Gründungs- einen ethnologischen Essay über die Bedeutung treffen der Gruppe 47 herausstellte. Vermutlich der Masken im Ritual und übersetzt die Begleit- wäre ihr Name und auch ihr vielfältiges, in man- texte der Bilder ins Französische und Englische: cher Hinsicht symptomatisches Werk vergessen, ein Buch als Gesamtkunstwerk, die Summe hätte es dieses Treffen nicht gegeben, konstatiert ihrer Begabungen im Medienverbund. Die Art, Braun (S. 140). So aber hat sich ein Teilnach- wie sie die Masken fotografisch ins Szene setzt, lass der 1972 in einer psychiatrischen Klinik zeigt ersichtlich den Einfluss von Moholy-Nagys in Konstanz verstorbenen Autorin, Fotografin, Porträt- und Walter Heges Kunstfotografie. Eng Ethnologin erhalten, der dem hier vorgelegten sind die Masken kadriert, stoßen an den Bildrand, „Porträt“ zugrunde liegt. Peter Braun will sein Ver- sind keine starren, sondern kinetisch-dynamische fahren – einem Dokumentarfilmer gleich – als ein Gegenstände. Braun erkennt darin die bildkünst- „Erzählen nach Dokumenten“ (S. 12) verstanden lerische Entsprechung für das, was Carl Einstein in wissen. Zu groß seien die Lücken im Nachlass, um seiner Schrift zur Negerplastik (1915) die „fixierte dem Anspruch einer Werk-Biographie gerecht zu Ekstase“ der Maske genannt hatte. Wilhelm Hau- werden. Das erzählende Ich des Porträtisten ist senstein lobt das Buch in der Frankfurter Zeitung, dabei relativ präsent, aber auf eine bescheidene, aber auch der Verriss im Völkischen Beobachter gleichsam erzählethische Weise, vor allem um zu lässt nicht lange auf sich warten: Die Autorin markieren, wo Leerstellen innerhalb des Porträts sei dem „natürlichen Pathos des gefühlsbedingt spekulativ überbrückt werden oder weiterer Kon- Primitiven“ erlegen und ihr Buch eine „Vernei- text mobilisiert werden muss, um die Fragmente nung der urgegebenen Qualitätsunterschiede von dieses Teilnachlasses sprechend zu machen. Persönlichkeiten, Völkern und Rassen.“ Im selben Das Bild von Ilse Schneider-Lengyel, das Jahr 1934 geht Ilse Schneider-Lengyel mit ihrem auf diese Weise zustande kommt, erweist sich jüdischen Mann nach Paris ins Exil. Es gehört zu als ausgesprochen facettenreich. 1903 geboren, den Ambivalenzen eines Exilschicksals, dass sie entstammt sie einer wohlhabenden Münchner die Existenz des Paares in Paris u. a. mit Fotobü- Familie, die nicht nur über Seenbesitz im All- chern im Münchner Traditionsverlag Bruckmann gäu verfügt, sondern auch der Tochter in den sichert, dessen Verleger schon in den 1920er Jahren 1920er Jahren ein Studium der Malerei in Paris, zu den Förderern von Adolf Hitler gehört hatte. der Kunstgeschichte in München (bei Wilhelm Ihr Buch Das Gesicht des deutschen Mittelalters Pinder) und Ethnologie in Berlin ermöglicht. In von 1935 zeigt ‚deutsche Köpfe‘ von Romanik bis der renommierten Photographischen Lehranstalt Spätgotik, die sich auf Doppelseiten gegenüber- des Lette-Vereins in Berlin absolviert sie überdies stehen, ungewöhnlich randabfällig gedruckt sind eine Lehre als Fotografin, die sie mit dem Bau- und dadurch in bildrhythmischen, fast szenischen haus und Laszlo Moholy-Nagy in Verbindung Dialog zueinander treten. Einerseits sind die Bild- bringt. In Berlin lernt Ilse Schneider auch den unterschriften nun in der NS-konformen Fraktur ungarischen Juden und Bauhaus-Schüler Laszlo gehalten, andererseits wecken die fein abgestuften

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 209

Grautöne der Objekte und die Lichtführung von wurden. Interessant, dass hier bereits in der ini- Ilse Schneider-Lengyels Fotografie nun Assozia- tialen Selbstbeschreibung der lyrischen Tätigkeit tionen an das französische Kino des poetischen jener Surrealismus-Bezug aufscheint, der später Realismus. Im Bruckmann Verlag erscheint noch – nachdem sie bei der Gruppe 47 gelesen hatte ein weiteres Buch mit Fotos griechischer Terra- und ihr Gedichtband september-phase in Alfred kotten. Danach darf Ilse Schneider-Lengyel „auf Andersch renommierter Buchreihe studio frankfurt Grund ihrer Verehelichung mit einem jüdischen erschien – mit ihrer Lyrik immer wieder identifi- Mann“ dort nicht länger publizieren. Dafür ver- ziert wurde. Braun führt diesen Einfluss plausibel öffentlicht sie jetzt auch im Umkreis der Pariser auf das Pariser Exilumfeld zurück. Während die Surrealistenszene, erhält sogar einen Fotopreis in Fotografin Schneider-Lengyel den reichsdeutschen Frankreich, geht andererseits für den Phaidon Ver- Buchmarkt mit Kunstfotografie beliefert, erfindet lag in Wien nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs auf sie sich als Dichterin im Umfeld von Verve und Reisen durch Frankreich und nach Italien, foto- Minotaure, von Breton, Malraux und der poésie grafiert Rodin, Donatello und Michelangelo und pure Valerys, dessen Vorlesungen in der Ecole du veröffentlicht zwischen 1939 und 1941 insgesamt Louvre sie begeistert besucht. Die Tatsache, dass fünf Bände mit kunstreproduzierender Fotografie sie in Paris verbleibt und Zeugin eines befreiten auf dem reichsdeutschen Buchmarkt. Unterdessen Kulturlebens wird, dass sie den Aufstieg Sartres hat die deutsche Wehrmacht längst Paris besetzt. und der existentialistischen Bewegung miterlebt Braun zeigt sich indigniert, dass der Nachlass eine und die Erneuerung des Surrealismus durch Bre- Publikation entbirgt, die Schneider-Lengyel, deren tons ethnographische Erfahrungen bei den Hopi jüdische Verwandte in Ungarn bald schon Opfer und auf Haiti, macht sie nach Kriegsende auch in des Holocaust werden sollten, in Gesellschaft von Deutschland interessant für die vom NS befreite Erna Lendvai-Dircksen, einer der berüchtigtsten Nachkriegspresse. Ab Ende 1946 schreibt Schnei- Fotografinnen während des ‚Dritten Reiches‘, der-Lengyel Paris-Feuilletons für die Süddeutsche zeigt. Eine Fotostrecke in dem illustrierten Wehr- Zeitung. Das macht Andersch und Hans Werner machts-Frontmagazin Luftflotte West stellt Schnei- Richter auf sie aufmerksam, die in ihr eine der für der-Lengyels Mittelalter-Köpfe Lendvai-Dircksens den Ruf und das Projekt einer Erneuerung Europas Porträts realer bäuerlicher Menschen gegenüber durch die junge Generation dringend benötigten („Tochter aus friesisch-niedersächsischem Blut“) – Kulturvermittlerinnnen erkennen (zudem eine mit nebst vaterländischen Ernst-Moritz-Arndt-Zitaten französischen Sprachkenntnissen, über welche die und einem propagandistischen Text von Wolf von gerade aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft Niebelschütz. Braun fragt nicht ohne Vorwurf, wie zurückgekehrten Sartre-Fans Richter und An- es dazu kommen konnte und warum Schneider- dersch seinerzeit nicht verfügten)2. Braun zitiert Lengyel dieses kompromittierende Dokument den Brief Richters an Ilse Schneider-Lengyel, in überhaupt aufbewahrt hat. Hier hätte man sich dem er ihr im Februar 47 eine ständige Mitarbeit – in diesem ansonsten überaus empathischen beim Ruf anbietet: „Dem Rufkreis fehlen noch ein Porträt – ein wenig mehr Ambivalenztoleranz paar gut schreibende Frauen, die keine sein wol- gegenüber einem Exilschicksal gewünscht. Unter len.“ (S. 123) Das junge Europa soll sein Gesicht den prekären Umständen einer Existenz ohne formen, das Geschlecht aber verleugnen (sofern reguläre Arbeitserlaubnis ließ sich im besetzten es weiblich ist): Frauen beim Ruf müssen schon Paris das gewünschte Publikationsumfeld gewiss echte Kerle sein.3 nicht immer garantieren. Wovon das Paar bis zur Als die Zeitschrift dann unter alliierten Zen- Befreiung von Paris durch die Amerikaner im surstress gerät und das Gruppe-47-Projekt sich August 1944 überhaupt lebte, gibt der Teilnach- abzeichnet, ist Ilse Schneider-Lengyel immer noch lass nicht zweifelsfrei zu erkennen. Wohl aber, dass dabei. Ihr Haus am Bannwaldsee bietet sich an für sich Ilse Schneider-Lengyel in dieser Zeit einer ein konstituierendes Treffen. Es gehört zu den Hö- für sie neuen Kunstform zuwandte: der Lyrik. Im hepunkten in Brauns Porträt, wie er dieses Grün- Nachlass hat sich eine Vielzahl von Gedichten dungstreffen beschreibt: einer Erniedrigung durch erhalten, die ab 1942 datieren und von ihr selbst Hans Werner Richters Gruppengeschichtsschrei- bereits unter dem Titel Capriole. Phantastische bung, die Ilse Schneider-Lengyel auf ihre Rolle Verse. Ein surrealistisches Brevier zusammengestellt als tüchtige Gastgeberin und Köchin reduziert

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 210 | Besprechungen

(„Gell, Ilse, du bist jeden Morgen um vier auf Ernst Schnabel oder Ruth Landshoff-Yorck, auch den See gefahren und hast gefischt“, sagt Richter Arno Schmidt und die Bachmann wurden hier 1965 im TV, und bis zum Umschnitt darf sie nur publiziert – lehnt Andersch ihre Idee für eine noch sagen: „Ja“ – und dass es Krebse und Zander Titelfotografie ab. Schneider-Lengyel wollte in gab…), stellt Braun eine Überhöhung durch den der Tradition surrealistischer Zeitschriften wie geistesaristokratischen Richter-Verächter Nikolaus Minotaure ihre Gedichte als Kommentare zu Sombart gegenüber, der Schneider-Lengyel als ge- ethnologischen Objekten verstanden wissen. Statt heimnisvolle, undinenhafte „Zauberin“ verkennt, diese für das Verständnis ihres Werks gewiss nicht die einer fremden „kosmopolitischen Kultursphä- unmaßgebliche Peritextidee der Autorin aufzugrei- re“ angehört habe und „aus dem Anderswo“ in fen, lässt Andersch das Buchcover lieber von seiner das verwüstete Nachkriegsdeutschland verpflanzt Frau Gisela entwerfen – wie im Übrigen alle Titel worden sei. (S. 149). Über ihre surrealen Gedichte, der Reihe studio frankfurt. Nur bei Ilse Schneider- die sie während dieses ersten Treffens vorlas und Lengyel ist der Autorinnenvorname weggestaltet: die zu der Prosa Wolfdietrich Schnurres und Wal- „schneider-lengyel / september-phase“. Wer ihren ter Kolbenhoffs einen irritierenden Kontrapunkt ersten Gedichtband in der Buchauslage sah, konnte abgegeben haben müssen, sagen beide bezeich- nicht erkennen, ob er von einem Mann oder einer nenderweise kein Wort. Welche ihrer Gedichte sie Frau geschrieben war: Peritext-Mikropolitik als In- auswählte, lässt sich aus den Quellen nicht mehr diz frühbundesdeutscher Geschlechterordnungen. rekonstruieren, lediglich ein Satz aus den Tage- Neuland der Forschung betritt Brauns Buch buchaufzeichnungen von Freia von Wühlisch ist dort, wo es aus dem Teilnachlass Schneider-Len- überliefert: „Frau Schneiders surrealistische Dich- gyels immense literarische Produktivität auch tung stieß auf Zweifel und Unverständnis, keiner jenseits der surrealistischen Nachkriegslyrik do- konnte sich aber einer gewissen dichterischen Kraft kumentiert: Sie kann – lange vor Hubert Fichte und Schönheit verschließen.“ (S. 144) Es gehört – als eine Pionierin der Ethnopoesie gelten, die zu den Vorzügen von Brauns Darstellung, dass sie dem Hanser-Verlag bereits 1956 anhand ethno- über den Fall Schneider-Lengyels hinaus Einblick linguistischer Quellen angefertigte Übersetzun- gibt in das frühe Urteilsregime der Gruppe 47 gen oraler Literaturen aus aller Welt anbot. Weil und darüber, welche Art von Literatur vielleicht sie ihre Arbeitsweise nicht offenlegt (die dafür gerade deswegen begünstigt wurde, weil sie sich minutiös von Braun rekonstruiert wird), stoßen besser bereden ließ, weil sie der Gruppe unter der ihre Texte, die explizit keine Nachdichtungen sein verabredeten Spontaneitätszumutung instantaner wollen, sondern sich einem ethnologischen Ethos mündlicher Kritik mehr Angebote machte. Vom verpflichtet wissen, auf Unverständnis. Sie parti- dritten Treffen der Gruppe 47 in Altenbeuren sind zipiert an der ‚Kampf-dem-Atomtod‘-Kampagne sowohl die setlist der von Ilse Schneider-Lengyel bundesdeutscher Schriftsteller und Intellektueller vorgelesenen Gedichte überliefert (von Und Gott mit einem apokalyptisch-avantgardistischen lachte bis hin zu dem später titelgebenden Text Drama Hier Welle Nullpunkt, das den Untertitel ihres ersten Gedichtbandes september-phase) als „Achtung Stickstoff. Ein Atomdrama“ trägt und auch ihre Notizen zu den (dürren) Reaktionen von ihr als „magisches Tonrelief mit Elektronen- aus der Gruppe: „Kritik: Französisch gedacht musik“ bezeichnet wird. Kein Sprechtheater, – nur für einen kleinen Kreis – französisch vor- sondern ein „kultisches Theater früherer Kulturen“ gelesen, mit der Hebung der Stimme am Ende schwebt ihr vor, in dem die „sechs Phasen“ zwi- // Begriffen: von Soehring, Brenner u. Görtz / schen dem Abschuss einer Atombombe und der Gegner: Kolbenhoff, Eich, Müller, Richter und Zerstörung der Erde dargestellt werden. Sie liest sämtl. Übrigen“) (S. 151). Und wieder eine subtile daraus auf dem Treffen der Gruppen 47 in Ulm, Verleugnung, Zurückweisung in dem Moment, wo passenderweise die radiophonen Formen der als man denkt, Schneider-Lengyel habe es als Au- Literatur im Zentrum stehen. Das Atomthema torin nun wirklich geschafft: Als Andersch ihrem indes hatte dort schon seinen zeitaktuellen Zenit ersten Gedichtband 1952 einen Auftritt in seiner überschritten, als der Nato-Rat der BRD die schon nachmals legendären studio frankfurt-Buchreihe vom Bundestag beschlossene Atomaufrüstung verschafft – im Umkreis von Texten wie von Böll, einfach verbot. Es sollte Ilse Schneider-Lengyels

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 211 letzter Auftritt bei der Gruppe 47 werden. von den Nazis zurückgepfiffen, als Kunstfotogra- Das Stück bleibt ungedruckt und unaufgeführt. fin heimatlos zwischen reichsdeutschem Bücher- In den sechziger Jahren kommt Ilse Schneider- markt und Pariser Avantgarde, als surrealistische Lengyel in große finanzielle Schwierigkeiten. Lyrikerin zur falschen Zeit am falschen Ort (im Von ihrem Mann Laszlo ist sie längst geschieden. Männerbund der bundesdeutschen Spontankri- Sie muss ihren geliebten Bannwaldsee, an den tik), als Vorreiterin der Ethnopoesie gescheitert sie nach der Rückkehr aus Paris zurückgezogen und enttäuscht aus der Gruppe 47 ausgeschieden, ist, verkaufen. Wohnrecht im oberen Stock ihres kurz bevor sie 1964 in Sigtuna in Hubert Fichte Hauses bleibt ihr gewährt, das Untergeschoss wird auf einen ersten wirklichen Vertrauten innerhalb zur Ferienwohnung. Umgeben ist sie von da ab der Gruppe hätte stoßen können. Kultisches Atom- von einem riesigen Campingplatz, der auch heute Theater in einer Zeit, als auf bundesdeutschen noch den Bannwaldsee prägt. In dieser Atmo- Bühnen eher die Biedermänner Brände stifteten. sphäre entsteht 1964 noch das Manuskript eines Zuletzt eine ersichtlich verbitterte Gartenzwerg- „experimentellen Kurzromans“ Der Gartenzwerg Prosa als (vergebliches) Spiegelgefecht mit den (242 S.), der die surreale Begegnung eines Garten- Zeitläuften und dem ihrer Produktivität gegen- zwerges mit der Pygmäenkultur schildert. Darin über akkumulierten Unverständnis. Brauns Buch erweist sie einer spekulativen Theorie der frühen legt nahe, dass es heute anders sein könnte. Man deutschen Ethnologie erzählerische Referenz, wünschte sich jetzt eine kleine, gediegene Werk- die in den Pygmäen die menschliche Ur-Kultur edition, in dem die verstreut publizierten und die zu erkennen vermeinte. In der Prosa Schneider- aus dem Teil-Nachlass gehobenen Werkbestand- Lengyels ist es dann ein Pygmäen-Publizist, der teile zusammengeführt und kommentiert würden nach dem Muster von Montesquieus Persischen (am besten von Peter Braun). Briefen eine Ethnographie der bundesdeutschen Kultur der 1960er Jahre schreibt: „Alle Männer sind gleich gekleidet /mit ausgestopften Schultern Anmerkungen und ganz ohne Farbe /ein ganz klappriger wird ein breitschultriger Riese /und ein kugeldicker sieht 1 Vgl. Ulrike Leuschner: Ilse Schneider-Lengyel, die schlank aus wie ein Strich /das sind die Künste der Frau „aus dem Anderswo“. In: Treibhaus 6 (2010), berühmten Schneider / es kann aber manchmal zu S. 125–157; Peter Braun: „Die kleine gebliebene Enttäuschung unter den Frauen führen“ (S. 237). Hoffnung ist ein Anfang“. Hans Werner Richter und Ilse Schneider-Lengyel. In: C. Gansel, W. Nell Wolfgang Weyrauch, der Lektor des Rowohlt (Hrsg.): „Es sind alles Geschichten aus meinem Verlages, lehnt das Manuskript ab, weil es für ein Leben“. Hans Werner Richter als Erzähler und „Epos in freier rhythmischer Prosa“ keinen Markt Zeitzeuge, Netzwerker und Autor. Berlin 2011, gebe. 1969 wird Ilse Schneider-Lengyel verwirrt S. 211–223; Felix Thürlemann: Erkenntnisse des in Konstanz aufgegriffen und in die dortige Lan- Auges. Ilse Schneider-Lengyel und Ludwig Gold- despsychiatrie verbracht, wo sie drei Jahre später scheider verwandeln Michelangelos Skulpturen stirbt. In der Zwischenzeit werden ihre Biblio- in ein Buch. In: C. Hirschi, C. Spoerhase (Hrsg.): thek und die Kunstschätze in ihrer Wohnung am Bleiwüste und Bilderflut. Geschichten über das Bannwaldsee geplündert (ein Picasso-Original geisteswissenschaftliche Buch. Wiesbaden 2015, soll darunter gewesen sein). Braun reist sogar in S. 161–182; Alfons Maria Arns, Heike Drummer: Ich bin als Rebell geboren. Ilse Schneider-Len- das Archiv der Psychiatrie, um ihre Kranken- gyel. Fotografin, Kunsthistorikerin, Ethnologin, akte einzusehen: vergeblich. Auch diese Akte ist Dichterin … und die Gruppe 47 in Schwangau. verschwunden (nach der zuvor nur der Allgäuer Hrsg. v. der Gemeinde Schwangau 2017; Kay Wol- Schriftsteller Gerhard Köpf, ein später Vertrauter finger: september-phase surreal. Thesen zur Lyrik und selbst ernannter ‚Schüler‘ Schneider-Lengyels, Ilse Schneider-Lengyels. In: Treibhaus 13 (2017), gesucht haben soll…).4 S. 137–151; Wiebke Lundius: Die Frauen in der Insgesamt zeichnet das Buch das anrührende Gruppe 47. Berlin 2017, darin: S. 135–152. Bild einer beschädigten, unvollendeten Produktivi- 2 Vgl. Jörg Döring: Westdeutscher Nachkriegsexisten- tät (das ist die Kunst des Werkbiographen und Por- tialismus im Frühwerk von Alfred Andersch. In: S. trätisten Peter Braun): als ethnologische Fotografin Braese, R. Vogel-Klein (Hrsg.): Zwischen Kahlschlag

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 212 | Besprechungen

und Rive gauche. Deutsch-französische Kulturbe- Jörg Döring ziehungen 1945–1960, Würzburg 2015, S. 125–152. Universität Siegen 3 Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Ge- Germanistisches Seminar sicht. In: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Hölderlinstr. 3 Generation, 1. Jg. (1946/47), H. 1 (15.8.1946). D–57068 Siegen 4 Vgl. Gerhard Köpf: Eine Asphodele. Über Ilse Schneider-Lengyel. In: Literatur für Leser 1 (1996), S. 32–45.

Axel Dielmann, Stefan Schöttler (Hrsg.) Victor Otto Stomps als Schriftsteller. [Gesamt-Ausgabe]. Bd. 1: Prosa; Bd. 2: Romane; Bd. 3: Gedichte und Dramen; Bd. 4: Essays und Portraits. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2020, 376, 320, 352, 640 S.

Unter Verlegern war er ein rückwärtsgewandter Drucken rabenflügelartig erscheinenden Hebeln Avantgardist und unter Literaten ein bekannter von Stomps Handpresse. Die Zeitschrift Der Unbekannter: Victor Otto Stomps (1897–1970), Fischzug (1926), in der auch Texte von Benn und nach seinen Initialen allgemein VauO genannt, Brecht erschienen, führte den programmatischen stand noch lange an seinen Handpressen, als der Untertitel „Monatsblätter zur Förderung werden- Offsetdruck schon längst den Bleisatz abgelöst der Literatur“. Und Der weiße Rabe. Zeitschrift für hatte. Handwerklich gediegen verlegte er so Ador- Vers und Prosa brachte zwischen 1932 und 1934 no, Eich, Huchel, Kolmar, Loerke, Wohmann, Beiträge von Werner Bergengruen, Max Hermann- Zech und viele andere, anfangs noch unbekannte Neiße, Peter Huchel, Gertrud Kolmar oder Paul Autorinnen und Autoren. Eigene Texte, die seine Zech. Auch die 1949 in Frankfurt gegründete Freunde jetzt zum 50. Todestag in vier umfangrei- Eremiten-Presse, die 1954 nach Stierstadt im Tau- chen – mit Bibliographie und Register versehenen nus ins „Schloss Sanssouris“ umzog (‚ohne Mäuse‘ – Bänden edierten, wollte er hingegen nur selten wohl im Sinne schmaler Mittel), sowie die Neue selbst herausbringen. Denn erstens hatte er sich der Rabenpresse ab 1967 in Westberlin verschrieben Entdeckung und Förderung junger Talente ver- sich dem gleichen Ziel – sie brachten junge Au- schrieben, wozu er sich selbst nicht mehr rechnen toren wie Dieter Hoffmann, Christoph Meckel, durfte; und zweitens wusste er als Verleger, „daß Ernst Meister, Hans Neuenfels, Klaus Staeck oder es keinem Schriftsteller nützt, wenn man merkt, Guntram Vesper in die Öffentlichkeit. daß hinter dem Anlaß, ihn zu bringen, anderes Als Stomps 1965 den Fontane-Preis der Stadt steckt als die Bewertung seines Manuskriptes.“ Berlin erhielt – unmittelbar nach Arno Schmidt (IV, S. 535) In einem alphabetischen Poesie-Al- und vor Walter Höllerer – wunderte sich ein bum für Verleger (1965) heißt es dazu unter dem Kritiker über das kaum sichtbare, relativ schmale Buchstaben V: „Sei als Verleger vielerlei, / verant- literarische Werk. Tatsächlich waren da neben wortungsverbissen, / von Vorurteilen völlig frei, / zwei Erzählbänden, Fabeln und Gedichten in gewohnt, dich zu verpissen. / Sinnt ein Verfasser Kleinstauflagen kaum mehr als zwei längere Pro- wie ein Vieh, / dann sag dir selbst, ihm vis à vis: / satexte erschienen. In der ziemlich eigenwilligen friß Vogel oder stirb.“ (III, S. 171) „poetischen Biographie“ Gelechter (1962), die sich Entsprechend existiert Stomps in der öf- auch „Roman“ nennt, spielt die dialogische Aus- fentlichen Wahrnehmung – gespiegelt etwa in einandersetzung mit Peter Lech, einer Art Alter Walther Killys Literaturlexikon – nur noch als Ego, die Hauptrolle. Dieser „Kerl, der mich seit Verlegerpersönlichkeit. Mit der 1926 in Berlin am Jahren in meinen Träumen verfolgte“ (II, S. 15), Spittelmarkt – so Günter Eich im gleichnamigen trägt passend zum Titel Gelechter Namen wie Gedicht – gegründeten Rabenpresse eröffnete Lechler, Lechlein, Lechze, Lechelmyer, Lechini, er ein neues Forum der Literaturszene. Der Ver- Slechszgodda. Stomps setzt seine Wegbegleiter und lagsname verdankt sich den beim nächtlichen Freunde zu diesem facettenreichen Traumgesicht

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 213 in Beziehung, etwa Paul Zech – „warum klingt S. 101) von Sebastian Brants Narrenschiff – mit dieser Name so ähnlich wie Peter Lech“? (II, S. 36) dem Bibliomanen am Bug – hält er sich 1947 Der verwirrende „satirische Roman“ Babylo- selbst einen rückwärtsgewandt-modernisierenden nische Freiheit (1964) ist von ähnlich skurrilem Spiegel vor. Oder er erzählt unter dem Titel Der Spieltrieb und Übermut geprägt: Dessen Erzähl- streitbare Pegasus (1955) eine Geschichte der Lite- grundlage ist ein lehmverdrecktes Buch in fremden raturparodie vom barocken Sprachreiniger Bal- Zeichen, das der fiktive Herausgeber nach dem thasar Schupp bis zu Karl Kraus (IV, S. 90–122). Krieg ausgegraben, in einer Nacht gelesen und Stomps selbst teilt diese streitbare Haltung. Sein gleich darauf verloren haben will. Es handelt sich Vergnügen, zeitgenössische Dichter in einer Liste um eine schräge Parodie politischer Systeme und von Treffenden Genitiv-Metaphern mit Angabe von wunderliche Dystopie über eine nach Bombarde- Titel und Verlag vorzuführen (III, S. 124–129), ments und Verstrahlung der Welt übrig gebliebene teilten wohl nicht alle Betroffenen. Walter Höllerer Insel Zwangsala und die gestürzte Monarchie Ado- kommt darin mit der bildlichen Wendung „Atem larnesien, wo ein Professor Klux Menschenexperi- des Aufenthalts“ aus dem Gedicht Der Teppich mente durchführt. Schon in Stomps Jugenddrama vor und mag darauf mit dem Vorwurf poetischer Menschengesellschaft (1947) tritt Klux neben den Zahnstocherei reagiert haben. In einem höchst Professoren Edison und Wunderstiel auf – „ver- ironischen Brief greift Stomps jedenfalls Höllerers mutlich 300 Jahre nach unserer Zeit“ (III, S. 278) „Zahnstocher-Gleichung“ auf und an, indem er –, um sich gegen einen Stern-Affen zu verteidigen, beschreibt, wie ein gegenübersitzender Fahrgast der das menschliche Geschlecht der Anmaßung im Zug sich gerade im Mund herumpuhlt und und Überheblichkeit anklagt. Oft denkt man „das Herausgestocherte liebevoll abschätzt“ – eben bei diesen Texten an den phantastischen Roman ähnlich wie Stomps poetisch „an der Genitiv- Die andere Seite (1909) von Alfred Kubin, der Metapher“ anderer Dichter gerochen habe (IV, für Stomps Fabeln der Begegnung (1948) auch ein S. 323 f.). Die Fabel von der Metapher und ihrem Titelbild schuf. Genitiv (1955), worin grammatische Fälle wie der Die Vor- und Nachworte der Freunde wie auch Genitiv oder Frau Metaphora als Personifikationen ein flankierender Essay Zwischen den Zeilen von auftreten (III, S. 130–134), bereitet den aparten Harry Oberländer (2020 im gleichen Verlag, zwei Einfall vor und erscheint noch dazu in einem bizar- fadengeheftete Bogen, 32 Seiten) beschränken sich ren Hochformat von 5x20 Zentimeter als Büchlein. leider auf persönliche Erinnerungen und biogra- Damit tritt der Kritiker Stomps im vierten, phische Würdigungen des Verlegers. Gewünscht umfangreichsten Band der Ausgabe auf den Plan. hätte man sich darüber hinaus eine bessere Ein- Er erweist sich darin als vielseitiger und wendiger ordnung und Durchdringung des jetzt erstmals Publizist, der Essays über die Frankfurter Schul- vorliegenden literarischen Werks, das teilweise so geschichte seit dem 16. Jahrhundert (IV, S. 83–89) arkan überliefert ist wie ein von der US-Armee ge- oder die Rolle des Lektors im Literaturbetrieb nehmigter Wachsmatritzenabzug der Menschlichen (IV, S. 123–125) ebenso souverän wie Porträts Fabel (1946) aus der Deutschen Nationalbiblio- und Vorworte über Abraham a Sancta Clara, Ca- thek. Die Gedichte wirken nicht weniger wortspie- sanova, Pope oder Rimbaud zu verfassen versteht. lerisch schalkhaft als die Kurzprosa und Romane. Mit vielen Besprechungen (zu Büchern von Böll Da gibt es etwa avantgardistische Formen wie ein über Grass, Kästner, Kollwitz, Mommsen bis zu Artistisches ABC (1926), das der Lyriker zu Beginn Simmel oder Tucholsky) begleitet er zudem das selbst mit VauO „zeichnet“ (III, S. 138) und in literarische Leben seiner Zeit. Als Verleger muss er das er sich unter dem Buchstaben S – nicht eben seinen jungen Autoren weniger als Kritiker denn bescheiden – einschreibt: „Saloppes S, St, Sceha, als unendlich vertrauensvoller und entgegenkom- / Schiller und Stomps / und Seneca“ (III, S. 156). mender Förderer begegnet sein. Christoph Meckel Stomps, der Theater und kulturelles Leben berichtet in dem ersten und schönsten Vorwort der mied und keine Zeitung las, war zutiefst in die Ausgabe, dass Stomps seinen dritten Gedichtband Literaturgeschichte vergraben. Der Verlagsname bis zum Andruck noch gar nicht gelesen hatte. Er Eremitenpresse könnte dafür kaum passender habe gesagt: „wir drucken, was du mir gibst. Du sein. Mit seiner „sehr freien Nachreimung“ (III, bist verantwortlich für deine Verse, und keiner

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 214 | Besprechungen kann dir diese Last abnehmen. Also, heute Nacht Leibniz Universität Hannover fangen wir mit dem Drucken an. Es war die beste Deutsches Seminar Auskunft, die ich je erhalten habe.“ (I, S. 17) Königsworther Platz 1 D–30167 Hannover Alexander Košenina

Woody Allen Ganz nebenbei. Autobiographie. Rowohlt Verlag, Berlin 2020, 448 S.

Woody Allen wird am 1.12.2020 85 Jahre alt. immer mehr thematisch vor. In Deconstructing In 50 Jahren hat er über 50 Filme abgedreht, Harry (1997) rät der von Allen gespielte Harry im Alleingang als Autor, Regisseur und oft auch eindringlich zum Kauf eines Gewehres. Schauspieler. Die Rücksichtslosigkeit, mit der er Magic in the Moonlight (2014) erklärte den von Film zu Film eilte, ist in Deutschland für Zauberer zum wahren Entzauberer, der zu desil- einen weit kürzeren Zeitraum nur mit Rainer lusionieren vermag, weil er die Tricks kennt. Auch Werner Fassbinder vergleichbar. „Keine Wurzeln das Spätwerk dekonstruiert und desillusioniert schlagen, lieber weitergehen.“ (S. 218) Kein anderer das moderne Leben mit immer neuen Nuancen großer Regisseur vielleicht hat derart viele Filme in starken Filmen, die von großen Schauspielern und Masterpieces geschaffen. und Hollywoodstars getragen werden. Der junge Jüngere Generationen, mit Blockbustern sozia- DiCaprio als Celebrity (1998), Naomi Watts als lisiert, können heute kaum nachvollziehen, was betrogenes Opfer vergeblicher Suche nach dem sein Werk in der Fülle thematischer Variationen „Dark Stranger“ (Shakespeare!) der großen Liebe demjenigen bedeutet, der mit ihm aufwuchs. Seit (You Will Meet a Tall Dark Stranger, 2010), Cate den 1970er Jahren ist Allen als Regisseur welt- Blanchett als Blue Jasmin (2013) oder Scarlett berühmt. 1978 erhielt er seine ersten Oscars. Er Johansson in (2005) sind unvergess- schrieb zudem zahlreiche Theaterstücke, weitere liche Ikonen der Verletzlichkeit und Kontingenz. Bücher und nun also eine Autobiographie, die sich Allens Flucht vor der Publikumsverweigerung literaturwissenschaftlich in die Gattungsgeschich- nach Europa, seine cineastische Reise durch die te stellen lässt, aber auch Fragen zur Intermediali- europäischen Hauptstädte nach London, Paris, tät und zum Ursprung der Kunst und Genealogie Barcelona und Rom ist inzwischen wieder in New des Künstlertums aufwirft. York angelangt. Noch seine letzten beiden New Vittorio Hösle deutete Allen schon 2001 in York-Filme sind dem Bewohner seines Midsummer einem philosophischen Essay als modernen Aris- Nights-Welttheaters unverzichtbar. Das Denkbild tophanes.1 Von Film zu Film sezierte Allen im des Wonder Wheel (2017) ist hier ein Gegenbild der Jahrestakt das urbane Leben. Schien sein New frühen Verheißung des Feuerwerks von Manhattan Yorker Frühwerk in den 1970er Jahren noch an (1979). Den Gershwin-Swing der alten Idolisie- Liebe, Witz und Unterhaltung zu glauben, for- rung räumte Allen mit A Rainy Day in New York mulierten (1978) und (2019) zuletzt definitiv ab: Der Gatsby-Spieler (1980) bereits erste sperrige Dementi. Broadway steigt hier aus der romantischen Kutschenfahrt Danny Rose (1984) ersetzte den Psychoanalytiker durch den aus, die Manhattan einst dann durch den Wahrsager. Es folgten immer neue zum Feuerwerk des Lebens verklärt hatte. Der desillusionierende Variationen auf das Leben als Kuss im Regen ist am Ende nur noch Phrase und Schmierenkomödie im falschen Schein. Allens so Zitat. Alle alten Träume und Illusionen sind zer- unvergleichlich keusches Werk zeigt bis heute kein stört, es bleibt nur das Pokerspiel. nacktes Fleisch und keinen brutalen Mord. Aggres- Seit Jahrzehnten ist Allens Werk vom Vorwurf sion und Gewalt drangen aber seit Verbrechen und des sexuellen Missbrauchs überschattet. Allen andere Kleinigkeiten (, wurde zwar niemals verurteilt, gilt also nach 1989) und (1993) liberalem Rechtsverständnis als unschuldig, wird

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang Besprechungen | 215 aber dennoch von Teilen seiner Familie, der Presse mörderische Spinne, die ihn strategisch ausbeutete, und Weltöffentlichkeit weiter verdächtigt und ge- ihre Kinder einer „Gehirnwäsche“ unterzog und ächtet. Weil die Vorwürfe in der Me Too-Debatte sie als „Racheinstrument“ missbrauchte. Seine erneuert wurden, gelangte A Rainy Day in New „Affäre“ trotz aller „Warnsignale“ erklärt Allen sich York nicht mehr in den amerikanischen Verleih. als optische Verwechselung mit seiner zweiten Frau Allens Autobiographie konnte Louise. Er stellt klar: „Aber es gab keinen Straf- auf dem amerikanischen Markt nur über Umwe- prozess. Man hat mich nie eines Vergehens an- ge publiziert werden und ist mit dem deutschen geklagt, weil den Ermittlern klar war, dass nichts Titel Ganz nebenbei nicht treffend übersetzt: geschehen war.“ (S. 296) Allen schildert sich als Nichtige Anekdoten, Nichtigkeiten oder Aperçus treusorgenden Vater, Adoptivvater und liebenden eines Nichtswürdigen trifft das Gemeinte vielleicht Ehemann Soon-Yis, der eigentlichen Heldin, die besser. Mit Heidegger pathetisch formuliert: „Das als Straßenkind in Seoul aufwuchs, von Farrow Nichts nichtet.“ ungefragt adoptiert wurde und der gewalttätigen Das Buch wurde in der ersten Resonanz sehr und tyrannischen „Mia die Stirn bot“ (S. 271). zwiespältig und negativ aufgenommen und ist Einerseits erzählt Allen voll geschwätzigem tatsächlich so verwunderlich und verstörend wie Stolz und falschem Understatement von einer einige von Allens besten oder schlechtesten Filmen, merkwürdigen Celebrity-Success-Story, einem wie (1991) oder Husbands and „kometenhaften Aufstieg in unverdiente Höhen“ Wives (1992) vielleicht. Während Allen die Arbeit (S. 237), und andererseits ergeht er sich in ver- des Cutters im Film immer wieder betont, scheint ehrungsvollen Liebeserklärungen an Kohorten es hier keinen Cutter, keine redaktionelle Be- von Geliebten, Freunden, Kollegen, Förderern arbeitung und reflexive Durchformung des Textes und Schauspielern. Was bei der witzigen Be- gegeben zu haben. Er ist so roh und ungefüge wie schreibung des Aufstiegs zum Comedian-Star ein dänischer Dogma-Film Lars von Triers. Im noch unterhaltsam ist und Einblicke in die Szene März 2020 erschienen, ist er ein Corona-Buch zur bietet, für Insider gewiss interessanter als für den Corona-Zeit. Der furchtbare Bruch im Leben des europäischen Leser, wird mit Allens Aufstieg zum Allen Stewart Konigsberg, der laut Autobiographie Star-Regisseur immer banaler, ermüdender und nur durch die unerschütterliche Liebe und Ehe trauriger. Bezeichnend ist hier schon der Schluss- mit Soon-Yi erträglich wurde, zeigt sich im Buch satz der Autobiographie: „Statt in den Köpfen und im krassen Stil- und Tonwechsel von der lustigen Herzen der Menschen würde ich lieber in meiner Erzählung des Aufstiegs eines Stand-up-Come- Wohnung weiterleben.“ (S. 443) Man mag hier dians zum erfolgreichen Regisseur einerseits und an Pascal denken oder Trauer über Kontingenz der apologetischen Rechtfertigung und Rechen- und Sterblichkeit herauslesen, kann sich aber auch schaft vom Leben mit der Verleumdung und den über die spießige Negation des eigenen Werkes Prozessen andererseits. Wie überflüssiges Beiwerk empören. Dann findet der geneigte Kritiker einen dazu wirken die fahrigen Kommentare zur Entste- Rettungsanker zur Verklärung dieser Autobiogra- hung des filmischen Werkes, die sich mitunter im phie, den er gerne ergreift. formel- und phrasenhaften Lob der Schauspieler Was, bitte, veranlasste den großen Künstler, im Stile der Twitter-Superlativismen eines Donald Aristophanes unserer Zeit, zur Negation seines Trump ergehen. Alle machten eigentlich einen Werkes und Verleugnung seiner künstlerischen Be- großartigen Job, nur der Regisseur nicht! deutung in dieser flüchtigen, hingepfiffenen oder Allen fürchtet zwar, seine Leser seien nur an -gerotzten Form? Warum nennt er sich – in der der Skandalgeschichte interessiert. „Ich hoffe, Übersetzung – „Assel“, „Kretin“, „Strauchdieb“, Sie haben das Buch nicht bloß wegen dieser Ge- „armer Teufel“, „Würstchen“, „Schweinehund“, schichte gekauft.“ (S. 220) Ganz irrtümlich meint „aufgeblasener Arsch“ und vieles mehr? Warum er aber, seine Autobiographie habe durch den kommentiert er sein Denkmal im spanischen „Boulevardskandal“ (S. 439) an Substanz gewon- Oviedo mit den Worten: „Oviedo wäre ein perfek- nen. Die bittere Abrechnung mit Mia Farrow und tes kleines Paradies, stünde da nicht unnatürlicher- den Vorwürfen ist peinlich und degoutant. Für weise dieses Abbild eines Schlemihls in Bronze.“ Allen ist Farrow die „Schwarze Witwe“ (S. 261), (S. 74) Was bringt ihn zu Sätzen wie folgenden:

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) 216 | Besprechungen

„Leute, das hier ist die Autobiographie eines mis- -vernichtung des eigenen Werkes findet sich in der anthropischen, ungebildeten Gangster-Fans: eines Kunstgeschichte immer wieder: ob bei Botticelli kulturlosen Eigenbrötlers, der vor dem Spiegel übt, oder bei Kafka, dem Allen bekanntlich nahesteht. unbemerkt ein Pik-Ass im Ärmel verschwinden zu Allen will aber keinesfalls ein Intellektueller sein, lassen, um seine Freunde auszunehmen.“ (S. 13) erzählt vom Aufstieg des Stand-up-Comedians Warum rekapituliert er seinen Bildungsgang zum Regisseur und Autor fast als Treppenwitz und folgendermaßen: „Ich war gesund, beliebt, sehr Irrtum. Sein filmisches Werk redet er klein. Dem sportlich, wurde immer als Erster in die Mann- Comedian bestätigt er dagegen immer wieder ein schaft gewählt, spielte Ball als Läufer, und doch natürliches Talent und Ingenium. „Entweder ist entwickelte ich mich irgendwie zu einem ängst- man komisch oder man ist es nicht; das ist keine lichen, nervösen emotionalen Wrack, das gerade Sache oder psychische Störung, die man verlieren so den Kopf über Wasser hält, menschenfeindlich, kann. Sollte ich einmal aufwachen und nicht mehr klaustrophob, abgeschottet, verbittert und pessi- komisch sein, wäre ich nicht mehr ich.“ (S. 373) Die mistisch bis in die Haarspitzen.“ (S. 18) quälende Bitternis von Apropos of Nothing führt Als Filmregisseur sei ihm „nie ein großer Wurf an diesen nihilistischen Rand. Der Stand-up-Co- gelungen“ (S. 443), bemerkt Allen. Immerhin median ist der Harlekin und Hanswurst. Goethe habe er sich vom Stand-up-Comedian zum un- erzählte gerne vom Ursprung der Kunst aus dem abhängigen „Autor“ entwickelt, dem es eigentlich Stegreifspiel der Hanswurstiade: im Jahrmarkts- genüge, auch ohne Publikum nur für die Schub- fest von Plundersweilern ebenso wie im Wilhelm lade zu schreiben. Meister oder in Dichtung und Wahrheit. Mit dem Allen Konigsberg legte seinen Nachnamen ab. Faust erhob er das volkstümliche Puppenspiel zum „Konigsberg hat einen so ernsten teutonischen Welttheater. Woody Allen erniedrigt und entwertet Klang. Kant stammte aus Königsberg.“ (S. 73) Kant sein Werk autobiographisch zur Schmierenkomödie wählte sich Hiob als Identifikationsgestalt. Das tut und zum Possenspiel für ein Veto aus dem Chor auch Allen leise: „Und irgendwo im Himmel war oder Off. Es bleibt ein wahrhaft großes Welttheater. die gleiche Person, die ihr sadistisches Spiel mit Hiob getrieben hatte, in den Akten auf mein Bild gestoßen und hatte sich voller Vorfreude die Hände Anmerkungen gerieben.“ (S. 136 f.) Erzählt er sein Leben als Hiob- Schicksal? Wartet er auf eine Stimme aus dem Off, 1 Vittorio Hösle: Woody Allen. Versuch über das die die Selbstentwertung korrigiert und Allen in Komische. München 2001. den Olymp erhebt, den Stardust Memories schon als Müllhalde (S. 235) imaginierte? Will man diese Reinhard Mehring Autobiographie retten, so erneuert sie die Gattung Pädagogische Hochschule Heidelberg der religiösen Konfessionen und Lebensbeichten Institut für Gesellschaftswissenschaften seit Augustinus, Rousseau und Dostojewski in der Abt. Politikwissenschaft Camouflage der Formlosigkeit. In der Gattung Postfach 10 42 40 der Künstlerautobiographien steht sie würdig 69032 Heidelberg etwa neben Anselm Feuerbach (Ein Vermächtnis,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang