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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 18. Januar 1999 Betr.: Erster Weltkrieg, Titel

wei Schüsse veränderten die Welt. Ihr Hall klingt seit mehr als acht Jahrzehn- Zten nach. Am 28. Juni 1914 ermordete der 19jährige serbische Nationalist Gavrilo Princip das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo. Der Anschlag war will- kommener Anlaß, nicht Grund dafür, daß Deutschland den Ersten Weltkrieg los- trat. Mehr als 65 Millionen Soldaten fielen schließlich übereinander her, rund 10 Mil- lionen Menschen starben. Damals habe die zivilisierte Welt in ihren Grundfesten Schaden genommen, sich „für immer zum Schlechten verändert“, schreibt der britische Historiker John Keegan, 64, in seinem Beitrag für die SPIEGEL-Serie „Spiegel des 20. Jahrhunderts“ (Seite 102). Den blutgetränkten Schlachtfeldern sei letztlich auch entwachsen, was später im Namen Hitlers und Stalins an Ent- setzlichem folgen sollte: „Die Organisa- tion von Massentötungen aus ideologi- schen Motiven hatte ihren Ursprung im massenhaften Abschlachten von oft hilf- J. GILBERT J. M. ZUCHT / DER SPIEGEL losen jungen Soldaten.“ Bereitete also Augstein Keegan der Horror von Verdun mit seiner „indu- striellen Kriegführung“ (Keegan) den Weg zur industriellen Vernichtung von Menschen in Auschwitz? „Das kann man nicht miteinander vergleichen“, sagt SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein, 75. „Die unterschiedslose Ermordung Millionen jüdischer Kinder, Frauen und Greise war etwas völlig anderes als die Kriegshandlungen zwischen 1914 und 1918.“ Darin aber stimmt Augstein mit Keegan überein: „Der erste große Krieg hat Folgen bis auf den heutigen Tag“ (Seite 114).

or zweieinhalb Jahren berichtete der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael VDiestel dem SPIEGEL-Redakteur Michael Sontheimer, 43, freudestrahlend, er habe eine ganze Serie von Prozessen gegen Journalisten gewonnen. Diese hatten behauptet, Diestel habe die Vernichtung von Akten der DDR-Auslandsspionage, der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA),angeordnet. Das war tatsächlich falsch – aber wo sind die geheimen Dokumente geblieben? Sontheimer suchte nach Spuren und fand auch einen früheren Ge- heimdienstoffizier, der entscheidende Dokumenten-Filme Ende 1989 einem KGB-Mann übergeben haben will. Eini- ges Material gelangte auch in die USA. Die meisten Akten wurden aber vernichtet. Dabei gab es reichlich Pannen. Nicht alles war so sauber entsorgt, wie die DDR-Geheim- dienstler gehofft hatten. Jetzt hat ein EDV-Experte der Gauck-Behörde eine bislang unbekannte Datenbank ent- deckt und decodiert. Sontheimer und sein Kollege Georg Mascolo, 34, bekamen Wind von dem sensationellen Fund und recherchierten weiter: Bislang dachte man, daß die

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. HVA weltweit 2500 Quellen hatte – nun weiß man, daß es HVA-Magnetbänder gut 4000 waren. Sie sind mit Decknamen und Hinweisen auf ihre Tätigkeit in der Datenbank registriert (Seite 32). Gut möglich, daß nun die CIA ihr Material zugänglich macht – der Geheimdienst hat verfilmte Karteikarten, auf denen die richtigen Namen der ehemaligen Spione stehen. Nur, was die getan haben, wissen die Amerikaner bislang nicht. Hier könn- te der Fund in Deutschland helfen.Wenn beide Seiten es wollen, ließe sich jetzt die Arbeit der HVA-Maulwürfe in aller Welt rekonstruieren.

der spiegel 3/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Das Computer-Archiv der Stasi ...... 32 Europa: Auf dem Weg zur Demokratie Seiten 22, 24 Nach der Wende verwischte die DDR-Spionage ihre Spuren – aber nicht alle ... 40 Das Mißtrauensvotum der EU-Abgeord- neten gegen die skandalumwitterte Brüsse- Deutschland ler Kommission ist gescheitert, und doch Panorama: Bonn provoziert Europäische steht die Vertretung der europäischen Zentralbank / Eschede-Ermittlungen Wähler stärker da als je in ihrer Geschich- ausgeweitet...... 17 te. Die Kommissare müssen ihr Gebaren Europa: Das Mißtrauen gegen die EU-Kommission bleibt ...... 22 einer unabhängigen Untersuchung unter- Interview mit dem Brüsseler Kommissar werfen. Wettbewerbskommissar Karel Van Karel Van Miert über die Konsequenzen Miert prophezeit im SPIEGEL-Interview: aus den Korruptionsaffären...... 24 „Es wird ein richtiges Parlament.“ Selbst Parteien: Die Unterschriftenaktion rückt Gerhard Schröder plant die Termine seiner

die Union in die Nähe der Rechten...... 26 / MODUS JARDAI EU-Gipfel nun mit Rücksicht auf die Abge- Interview mit dem Werbeberater Schröder, Van Miert, Lafontaine ordneten in Straßburg. Detmar Karpinski über die Imageprobleme der Christdemokraten...... 27 Der Wahlkampf der Hessen-CDU...... 28 PDS: Personalkrise in Schwerin ...... 29 Bildung: Ist jeder dritte Student unfähig?...... 54 Kommunen: Trickreiche Millionengeschäfte auf Kosten des US-Fiskus...... 55 CDU-Wahlkampf mit Unterschriften Seiten 26, 28 Arbeitsmarkt: Jobs für Deutsche in Polen ..... 60 Die CDU in Hessen kann es nicht Bundeswehr: Wehrpflicht oder abwarten: Während die anderen Freiwilligenarmee?...... 64 Politisches Buch: Erhard Eppler sieht sich Landesverbände noch über die durch Rot-Grün bestätigt ...... 68 Aktion streiten, sammeln hessische Beamte: Baden-Württemberg feuert Wahlkämpfer bereits Unterschrif- liberalen Polizeipräsidenten...... 72 ten gegen die doppelte Staatsbür- Kirche: Empörung über angeblich gerschaft. CDU-Chef Wolfgang ehebrecherischen Pastor ...... 73 Schäuble hat sich bei der Kampa- gne vom CSU-Vorsitzenden Ed- Wirtschaft mund Stoiber vorführen lassen. Trends: Poker um Nissan / Mit seinen Modernisierungs-Ideen Telekom schockt Konkurrenten ...... 77 kann sich Schäuble in der Union AP Medien: Gottschalk als Aktie / nicht durchsetzen. SPD-, CDU-Wahlplakat in Hessen Die Deutschlandpläne der „Financial Times“... 78 Geld: Rückkäufe stützen Kurse / Heiße Tips am Neuen Markt...... 79 Wirtschaftspolitik: Lafontaines ehrgeizige Steuerpläne ...... 80 Jobs: Schafft der Abbau von Überstunden Arbeitsplätze?...... 82 Weltwirtschaft in Turbulenzen Seite 86 Haushalt: Tricks vom Vorgänger ...... 84 Nervosität an den Börsen: Rabatte: Lufthansa-Meilen beim Friseur...... 85 Weltwirtschaft: Die Angst kehrt zurück ...... 86 Fast überall sind die Kurse Unternehmen: Banken und Versicherungen eingeknickt, nachdem Brasilien wollen ihre Beteiligungen loswerden ...... 88 den Real abgewertet hat. Jetzt Konzerne: Interview mit Porsche-Chef droht ganz Lateinamerika in Wendelin Wiedeking über das Fusionsfieber... 90 die Rezession abzugleiten – mit gravierenden Folgen für die Gesellschaft USA und Europa. Gleichzeitig Szene: Schlaftherapie gegen Übergewicht / erschüttert China das Vertrau- Minnesänger de Treskow über First Ladies ..... 93 en der Investoren. Peking will Selbstmord: Der rätselhafte Tod nicht für faule Kredite einste- zweier Mädchen im Westerwald ...... 94 hen. Politikern und Bankern Lebensmittel: Soja-Sprossen aus deutschen Landen...... 97 wird plötzlich klar: Die Krise Presse: Erotische „Bild“-Texterin wird der globalen Wirtschaft, die sie

Kultfigur ...... 98 AP erfolgreich verdrängt hatten, ist Händler an der Börse in São Paulo längst nicht gebannt. Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Kriege: John Keegan über den Ersten Weltkrieg .... 101 Standpunkt: Rudolf Augstein über den Beginn des Krieges...... 114 Teenager springen in den Tod Seite 94 Interview: Der französische Historiker Pierre Miquel über „La Grande Guerre“ .... 116 Zwei Schulfreundinnen aus dem Westerwald sprangen von einer 20 Meter hohen Porträts: Die gefallenen Künstler und Klippe in den Tod. Sie kamen aus intakten Familien, es gab einen banalen Anlaß – Autoren...... 118 aber niemand weiß, was die verzweifelten Teenager wirklich bewegte. Churchill, Haber, Suttner...... 120

6 der spiegel 3/1999 Ausland Panorama: Ibn Ladins London-Connection / Einbruchserie in Wahlkampfbüros der israelischen Arbeitspartei ...... 123 Afrika: Kriegerischer Kontinent ...... 124 Fremde Armeen auf Beutezug im Kongo ...... 126 Kolumbien: Aufbaupläne für den Frieden..... 130 Großbritannien: Spekulationen über Blair-Nachfolge...... 133 Brasilien: Justizskandal um Adoptivkinder... 134 Rußland: Dserschinsk – die vergiftete Stadt .. 136 Südostasien: Die Konkurrenten Thailand und Malaysia ...... 140

Sport

AFP / DPA Tennis: Andre Agassis Angriff Nigerianische Truppen in Sierra Leone auf die Nummer eins...... 150 Olympia: PR-Agentur soll Salt Lake City retten ...... 152

Afrika vor dem Kontinentalkrieg Seiten 124, 126 Wissenschaft + Technik Fast ein Drittel der 42 Staaten südlich der Sahara sind in kriegerische Auseinander- Prisma: Schattenseiten des Silicon Valley / setzungen verwickelt. Allein am Kongo kämpfen Truppen aus sieben Staaten. Überlebensschutz durch Vielmännerei ...... 157 Afrikas Regierungen brechen ein Tabu und schicken ihre Streitkräfte über Landes- Prisma Computer: Plüschtiere als Spione / grenzen. Bürgerkriege eskalieren zum Kontinentalkonflikt. Radio mit Wunschprogramm ...... 158 Archäologie: Die Indus-Kultur – eine Händlerrepublik vor 5000 Jahren ...... 160 Astronomie: Hinweise auf Zwillingserde in der Milchstraße ...... 164 Gesundheitspolitik: SPIEGEL-Gespräch mit Ärztefunktionär Ellis Huber über den Hausärzte mit Festgehalt? Seite 165 Wandel des Medizinbetriebs ...... 165 Es gibt nicht zu viele Mediziner, sondern zuviel und zu teure Medizin. Festbesolde- Computer: Roboterkatze mit Kunstgehirn.... 170 te Hausärzte sollten deshalb in Zukunft den Gesundheitsapparat steuern, erklärt Pädagogik: Sollen Taube sprechen lernen?...... 172 der scheidende Berliner Ärztepräsident Ellis Huber im SPIEGEL-Gespräch. Kultur Szene: PDS-Streit um Denkmal für Rosa Luxemburg / Dichter gegen Windkraft-Spargel ...... 175 Agassis Comeback Seite 150 Architektur: Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in wird eröffnet..... 178 Die Karriere des Tennisprofis Andre Agassi ist eine Ge- Walser-Debatte: Pädagoge Hans Däumling schichte vieler Hochs und Tiefs. Nach jedem seiner antwortet der Studentin drei Siege bei Grand-Slam-Turnieren stürzte er ab, zu- Kathi-Gesa Klafke ...... 181 letzt auf Ranglistenplatz 141. Er habe die Triumphe wie Fernsehen: Senta Berger brilliert in ein Teenager genossen und sei oft „nachts unterwegs“ „Liebe und weitere Katastrophen“ ...... 184 Virtualität: Neue Ideen für das Karlsruher gewesen, erinnert sich Agassi. Doch jetzt, mit 28 Jah- Kunst- und Medienzentrum ZKM ...... 186 ren, fühlt sich der Amerikaner gereift, „frei und ent- SPIEGEL-Gespräch mit ZKM-Chef

spannt“. Er trainiert so seriös wie nie zuvor, bei den Au- ALLSPORT Peter Weibel über den Triumph stralian Open gilt er diese Woche als Geheimfavorit. Agassi der Neuen Medien ...... 187 Musik: US-Pianistin Rosalyn Tureck und ihre Bach-Legende ...... 190 Kabarett: Nachruf auf die Münchner „Lach- und Schießgesellschaft“...... 192 Autoren: Andrzej Szczypiorski über Wirre Videos im Museum Seite 196 einen heiklen Liebesroman von Liane Dirks...... 193 Musik-Clips, lange als Augenfutter für Bestseller...... 194 gelangweilte Teenager geschmäht, Pop: Michael Skasa über den Bildersalat gelten mittlerweile als kleine Kunstwer- der Musik-Clips...... 196 ke; jetzt werden sie sogar im Deutschen Fernseh-Vorausschau...... 206 Museum in München präsentiert. Eine neue Ästhetik? Von wegen, meinen nun Kritiker: Es werde bloß „wild gegrabbelt im großen Baukasten der Briefe ...... 8 Formen und Farben“, das Ergebnis sei Impressum...... 14, 200 eine Kakophonie der Beliebigkeit. Leserservice ...... 200 Chronik...... 201 Register...... 202 Musikvideo (der Popgruppe Deee-Lite) Personalien...... 204 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 210

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hierfür hat die Kommission es versäumt, praktikable Regelungen vorzulegen. Wie „Es ist schon erstaunlich, wie sich wäre es mit einem Modell Euro-Shopping, die Masse der einzig ehrlichen dessen niedriger Steuersatz auch künftig preiswerte Ostsee-Ausfahrten für Rentner Steuerzahler, die Gehalts- und und andere einkommensschwache Grup- pen ermöglichte? Brüssel würde endlich ein- Lohnempfänger, diese Abzockerei mal ein bürgerfreundliches Gesicht zeigen und den Betrugssumpf gefallen läßt. und bestimmt auch ein paar mehr Wähler Stellt Euch vor, es kommen Europa- für die kommende Europawahl gewinnen. Gunnar Heinemann wahlen und keiner ginge hin.“ Deutscher Duty-Free-Verband

Horst Himmelhuber aus Oberursel zum Titel „Aufbruch ins Euro-Land“ SPIEGEL-Titel 1/1999 Marktpreise angeboten Nr. 43/1998, Panorama: Europäische Union I Zu einfach gestrickt, die Masche: Die Duty- Sie berichten über Korruptionsfälle bei der Moderner Feudalismus free-Lobby jammert, und die Politik knickt EU-Kommission und Ermittlungen der Nr. 1/1999, Titel: Aufbruch ins Euro-Land – ein. Das Thema hätte es nicht bis zum Wie- Brüsseler Staatsanwaltschaft gegen ehe- Die neue Weltmacht? ner Gipfel gebracht, wenn es nur ein kom- malige Verantwortliche des Sicherheits- merzielles Anliegen wäre. Es geht um euro- büros der Kommission und eine belgische Wir sollten endlich aufhören, über die Ein- paweit 140000 Jobs, davon etwa 10000 bei Bewachungsfirma. Dabei heißt es über un- kommen anderer zu jammern. Wir haben uns. Sie stehen auf dem Spiel, weil einige ser Unternehmen, wir hätten einen Millio- uns für die freie Marktwirtschaft in einem Prinzipienreiter in der EU-Kommission, die nenauftrag zur Bewachung von EU-Ge- demokratischen Staat mit allen Vor- und das eigene Duty-free-Privileg natürlich nicht bäuden erhalten, weil wir ein Angebot weit Nachteilen entschieden. Niemand hat ge- in Frage stellen, partout an einem überhol- unter Marktpreisen abgegeben hätten. Ge- sagt, daß jeder das gleiche verdienen muß. ten Abschaffungsbeschluß von 1991 fest- winne hätten wir aber doch gemacht, weil Schwalbach (Saarland) Nik Merner halten wollen. Damals ging man von einer wir Rechnungen für Leistungen, die nie er- bracht wurden, geschrie- Die nun aufblühende (blähende) Euro- ben hätten. Im Gegenzug kratie ist im kleineren schon erprobt: in seien zwei Beamte ge- Frankreich und in Schweden. In Frankreich schmiert worden. Diese ruft die straffe Zentralsteuerung von Zeit Behauptungen treffen zu Zeit explosive Gegenwehr des galli- nicht zu. Insbesondere schen Volkszorns hervor. In Schweden ist hat unser Unternehmen bereits eine weitgehende Hospitalisierung im Rahmen der Aus- und Stallblindheit auch bei den Bürokraten schreibung kein Preis- erfolgt. Bis vor wenigen Jahren waren die angebot unter dem oberen Ränge dort rechtlich bei Straftaten marktüblichen Niveau im Amt nicht zu belangen, wie es jetzt auch abgegeben. Weder die die Europol-Beamten für sich durchgesetzt Staatsanwaltschaft noch haben. Amtliche Vergehen sind also vor- die Kommission, die eine gesehen. Das ist moderner Feudalismus, interne Untersuchung der die Demokratie außer Kraft setzt. In durchgeführt hat, haben

Europa wird allerdings die kulturelle und LINDBERGH bislang Beweise für die politische Vielfalt zu Reaktionen unbere- Duty-free-Shop am Flughafen: 140000 Jobs stehen auf dem Spiel gegen unser Unterneh- chenbarer Art führen. Die Franzosen und men erhobenen Anschul- Holländer schicken ihre Eliteleute nach Steuerharmonisierung im Jahr 1999 aus. digungen vorlegen können. Wir selbst ha- Brüssel, die Deutschen ausrangierte Ban- Die ist nicht eingetreten, wohl aber eine ben schon Ende 1997 eine Untersuchung in gemänner, die Schweden Leute wie Anita Rekordarbeitslosigkeit von über 18 Millio- Auftrag gegeben und deren Ergebnisse prä- Gradin, die nur in Schweden funktionieren. nen ohne Beschäftigung. Grund genug, die sentiert: Danach treffen die jetzt auch Göteborg Sven Svensson damalige Entscheidung zu revidieren. Jetzt vom SPIEGEL wiederholten Behauptun- geht es um Zeitgewinn für eine arbeits- gen nicht zu. Wir sind dankbar, daß sich der Bundes- platzerhaltende Nachfolgeregelung des Brüssel Serge Ghysdael kanzler so stark für die Duty-free-Arbeits- noch geltenden Duty-free-Regimes. Auch Group 4 Securitas plätze einsetzt, denn es gibt an der Küste keine alternativen Beschäftigungsmöglich- keiten. Jede Kündigung bedeutet Langzeit- Vor 50 Jahren der spiegel vom 22. Januar 1949 arbeitslosigkeit. Wir erwarten, daß die Zentrumspartei muß sich entscheiden Für oder gegen . Bundesregierung ihre Präsidentschaft nutzt, Zwei Lager im Kreml Wunschbild oder Wirklichkeit. Der Asienforscher um die wenigen noch zögerlichen Mitglied- Sven Hedin lebt isoliert in Stockholm Sein Leben lang ein Deutschen- staaten für den Duty-free-Erhalt zu gewin- freund. Willi Baumeister über moderne Kunst Plädoyer für die gegen- nen, und werden sie notfalls mit einer standslose Malerei. Auflockerung des Gewerbeaufsichtsgesetzes in US- Zone Neue Lizenzbestimmungen für mehr Gewerbefreiheit. Was wird machtvollen Mitgliederdemonstration in aus den Wagner-Festspielen in Bayreuth? Kopfschmerzen der Gralshüter. Brüssel unterstützen, falls sich die Kommis- Familie Hörbiger auf Deutschlandtournee Paul als Wiener Original. sion weiter stur stellen sollte. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Lübeck Jürgen Klitzschmüller Titel: Zarah Leander und ihr Komponist Michael Jary auf dem Filmball in Frankfurt Gewerkschaft NGG, Vorstand Lübeck

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und Co. die 40 Jahre ihres Lebens nicht Man darf Erinnerung nicht verbieten einfach vergessen und ihre eigene Ge- Nr. 1/1999, Ostalgie: Der erbitterte Streit um schichte auch mit Lenin, Marx, Ulbricht DDR-Straßennamen in Rudolstadt und Honecker verbinden. Wer 40 Jahre in der DDR geschwitzt und gelitten, gelacht Daß in Rudolstadt eine Straße heute noch und geweint hat, der wird doch nicht auf den Namen eines langjährigen SED-Bür- einmal Adenauer oder Brandt als Straßen- germeisters trägt, mutet an wie ein ma- namen akzeptieren. Man kann und darf kabrer Treppenwitz der Geschichte, ist Erinnerung nicht verbieten. aber kein Einzelfall. So ist in Leipzig eine Berlin Daniel Kubiak Schule noch immer (wenngleich im Status eines „ruhenden Namens“) nach dem berüchtigten SED-Bezirkschef Paul Fröh- Vorher nicht bekannt lich benannt. Daß Straßenumbenennun- Nr. 1/1999, Personalien: Johannes Rau gen die politischen Emotionen aufwühlen, zeigte nicht zuletzt die Umbenennung des Sie schreiben: „Johannes Rau läßt sich be- Leipziger Dimitroffplatzes im Jahr 1997. reits als Bundespräsident ankündigen.“ Diese Behauptung ist falsch. Die Tatsache, daß der Europa Verlag in ei- nem Prospekt eine Bio- graphie mit dem Titel „Johannes Rau. Der Bundespräsident“ für Mai 1999 ankündigt, war Johannes Rau vorher nicht bekannt und findet schon deshalb nicht mit seiner Zustimmung oder gar auf sein Betreiben hin statt. Der als Ko- autor der Biographie ge- nannte Wolfgang Klein hatte Johannes Rau im

M. HORACEK / BILDERBERG M. HORACEK November 1998 um Un- Pieck-Denkmal-Gegner in Rudolstadt terstützung für das Buch- Treppenwitz der Geschichte projekt gebeten. Ich habe ihm Anfang Dezember Erstaunlich war hier, wie Dimitroff einzig telefonisch mitgeteilt, daß Johannes Rau und allein auf den Reichstagsbrandprozeß jedenfalls derzeit über diese und ver- reduziert und seine Schuld an der Stalini- gleichbare Anfragen nicht entscheidet. sierung seines Heimatlandes Bulgarien Bonn Christoph Habermann ausgeblendet wurde. Dasselbe Wahrneh- Büro Johannes Rau mungsmuster scheint auch im Fall Wilhelm Pieck zu greifen, wenn dieser als gütiger Großvater verklärt wird, ohne daß man Prunk und Protz nach seiner Rolle als senile Marionette Ul- Nr. 1/1999, Hauptstadt: Regieren auf brichts mit fragwürdiger KPD-Vergangen- der Baustelle Berlin heit fragt. Leipzig Gerd Sklaar Ich komme gerade von einem 300jähri- CDU-Fraktion im Stadtrat gen Urlaub zurück und dachte, die Men- schen seien mittlerweile etwas klüger und Meines Erachtens muß es nicht „Ost gegen gütiger geworden … so von wegen Auf- Ost“, sondern „Ostdissidenten gegen Ost“ klärung, Demokratie und Menschenrech- heißen. Welche lohnenden parteipoliti- te. Das, was ich aber hier in Berlin an schen oder gesellschaftspolitischen Ziele Prunk und Protz sehe, dagegen sind kann eine Straßenschilderaktion, wie Sie Versailles und all die anderen Macht- sie beschreiben, haben? Das Ergebnis wird symbole des Absolutismus ärmliche Hüt- sein, daß ein persönliches Kampfziel eini- ten. Ich dachte, Ihr hättet in Eurer De- ger weniger erreicht sein wird und als Fol- mokratie ein Wachpersonal engagiert, ge wieder eine größere Zahl von Ostbür- bestehend aus rund 670 Frauen und Män- gern der PDS zugetrieben werden. Feh- nern, das solche Prunk- und Protzaus- lender politischer Instinkt von Repräsen- wüchse verhindern sollte. Da hätte ja tanten der großen Parteien ist der beste gleich mein damaliger Chef, der Son- Wahlkampfhelfer der PDS. nenkönig Louis XIV., weitermachen kön- Ilmenau (Thüringen) Dr. Dietrich Schild nen, und die Französische und all die an- deren Revolutionen hätten wir uns ei- Es ist doch nur allzu logisch, daß die Bür- gentlich sparen können. ger von Rudolstadt, Chemnitz, Ost-Berlin Attenkirchen (Bayern) Dr. Walter Gränzer

12 der spiegel 3/1999 Ein Bravo für die Ministerin Nr. 1/1999, DDR: Egon Krenz fühlt sich von Familienministerin Christine Bergmann verunglimpft

Ich hoffe, Christine Bergmann wird sich gegen die zitierte Unterlassungserklärung durchsetzen können. Als ehrenamtlicher Parteisekretär in den Jahren 1987 bis 1989 einer Parteigruppe von 13 Fachschullehrern und Studenten erinnere ich mich mit Grau- sen der Argumentation einer Instrukteurin der Leipziger SED-Stadtbezirksleitung am Vorabend des 9. Oktober 1989, wir müßten davon ausgehen, daß auch geschossen wird. Das war sie doch, die in sorgenvoller Spra- che gehaltene Drohung und der Kern der „beiläufigen“ Äußerung, daß „etwas“ getan werden müßte, um Ordnung wiederherzu- stellen, wie Krenz für Peking und vorsorg- lich für uns feststellte. Meinen demo- euphorischen Studenten empfahl ich im Unterricht daraufhin entschieden, die De- monstration zu meiden. Krenz hatte si- cherlich „nie explizit“ gedroht,Waffenein- satz aber nie öffentlich ausgeschlossen. Ge- rade diese Ambivalenz aber erzeugte die Drohung – und durch sie die Angst. Daß dann tatsächlich nicht geschossen wurde, ist bestimmt auch Krenz zu verdanken. Leipzig Hartwig Runge

Ein Bravo für die Ministerin und ihre auf- rechte und gerade Haltung zu Krenz.Wann hört denn endlich die Beweihräucherung T. HEIMANN T. Honecker-Nachfolger Krenz Durch Ambivalenz erzeugte Drohung der ehemaligen Täter auf, wann wird nicht mehr verharmlost und bagatellisiert, wann werden nicht mehr Topspione zu Beratern und ehemalige Verbrecher großzügig entschädigt? Wozu eine Amnestie der SED- Bonzen, wenn nur wenige der Ermitt- lungsverfahren zu einer Haftstrafe führ- ten? Vielleicht überlegen sich manche Befürworter des Schmusekurses mit der PDS, was ihnen geschehen wäre, wenn die Vorgänger dieser Partei die Macht in Deutschland errungen hätten. Gräfenroda (Thüringen) W. Nöckel Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS)

der spiegel 3/1999 Briefe

Herr Reichholf irrt gewaltig, wenn er be- Gipfel der Albernheit hauptet, in spiele die Aus- Nr. 1/1999, Naturschutz: Streitgespräch über breitung kulturvernichtender Kräuter keine Nutzen und Schaden durch Rolle. Unsere Großväter waren uns weit eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten voraus. Schon die Angst um den Erhalt der Kulturen sorgte dafür, daß auch der Feldrain Ganz ohne Ressentiment, ohne gemäht oder abgeweidet wurde; diese Maß- Rassismus: Tatsache ist, in unse- nahmen schützen ebenso die nicht genutz- ren Floren dominieren die Kana- ten Flächen. Per Gemeindeverordnung dische Goldrute und das ceylone- wurden Aktionen initiiert, wie das Jäten sische Springkraut. Die Liste kann von sich bösartig ausbreitenden Wildkräu- fortgeführt werden, sie ist zu tern und das Absammeln von Kartoffel- umfangreich, aber sie überlagert käfern. unter anderem schon lange viele Königswinter (Nrdrh.-Westf.) Barbara Wilmes Orchideen-Standorte, heimische Fluß- und Bachauen. Gefördert Die Chance wurde vertan, Unterschiede

REUTERS wird dadurch eine – unerwünsch- zwischen harmlosen Tieren und Pflanzen Dessous-Werbung in Kiew (Ukraine): Die Idee lebt te – Floreneinfalt, einhergehend und echten Schädlingen zu ziehen. In Nor- mit einem Artensterben in der wegen wurden ganze Täler wegen der Über- heimischen Insektenfauna. Auch für un- wucherung durch den Bärenklau zu Sperr- Im Schnellzugtempo sere heimischen Pflanzenarten zeigt sich, gebieten. In Tschechien wird zur Bekämp- Nr. 1/1999, Soziologie: Die Globalisierung und das daß wir im Rahmen der Globalisierung fung Militär eingesetzt, wenn Dörfer von Ideal des „flexiblen“ Einzelgängers auf Grenzen stoßen, daß nicht alles mach- der tückischen Pflanze belagert werden. bar ist, ohne Unwiederbringliches zu ver- Frankfurt am Main Jennifer Meyer Die drei Beine von Etzionis Stuhl stehen lieren. immer direkt auf der Bodenebene, egal wie Gaggenau (Bad.-Württ.) Rudolf Krumrey kurz oder wie lang eines der Beine ist. Ein BUND „Vorderes Murgtal“ dreibeiniger Stuhl kann nicht wackeln: Er kann höchstens bei ungünstiger Lage des Wer hier im Kinzigtal mitbekommt, mit Schwerpunkts umkippen. Für die Gesell- welcher Aggressivität die Fremdlinge schaft bedeutet dies: Entweder sie steht Riesenbärenklau und Co. und besonders gesellschaftlich, wirtschaftlich und staat- der Japanknöterich uralte Pflanzengesell- lich als Ganzes (wenn auch schief), oder sie schaften und die daran angepaßten In- fällt als Ganzes um. Die Schwerpunktset- sekten, Vögel und sonstige Kommen- zungen sind es, die das Schicksal der Welt- salen durch Verdrängung ausrotten, den gemeinschaft bestimmen werden. überkommen Beklemmungen. Die War- Nürnberg Oliver Seidl nungen gegen die eingeschleppten Pflan- zen mit der Abwehr gegenüber frem- Bequem und einfach ist es, sich bei der Lö- den Menschen gleichzusetzen ist total sung von Menschheitsproblemen auf den abwegig. technologischen Fortschritt zu verlassen; Wächtersbach (Hessen) Günter Bonifer dieser jedoch kann nur ein Mittel, ein Werkzeug sein. Gegenstand der Verände- Political correctness auch für den Bären-

rung muß der Ursprung aller Probleme klau! Ist der Gipfel der Albernheit damit DPA sein: der Mensch an sich. erreicht, oder kommt’s noch schlimmer? Bekämpfung des Riesenbärenklaus Wedemark (Nieders.) Bastian Lücke Utting (Bayern) Helga Reuter Unsere Großväter waren uns weit voraus

Je gelähmter die Politik dem Koloß auch Es ist in der Tat so, wie Josef Reichholf Als ehemaliger Noxious Plants Officer in gegenüberstehen mag und je unausweich- sagt: Wer festlegt, welcher Ort für eine Tier- Neuseeland kann ich die Befürchtungen von licher Unheil und Isolation auch drohen oder Pflanzenart richtig oder falsch ist, Herrn Disko nur unterstreichen. Ihr Foto mögen: Nie gab es soviel Entfaltungsmög- handelt überheblich. der heldenhaften „Bekämpfung des Rie- lichkeiten für den einzelnen, und zumin- Öhningen (Bad.-Württ.) Dr. Udo von Wicht senbärenklaus“ spiegelt die übliche Ein- dest hier in Europa erleben wir Freiheit stellung gegenüber solchen Pflanzen wider. (wenn wir wollen!). Des weiteren ist der Sie werden erst als Problem erkannt, wenn ethische Impuls weiterhin tätig (der SPIE- sie nicht mehr zu übersehen sind. Dann ist GEL ist hierfür eigentlich ein gutes Bei- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für es oft zu spät. Rechtzeitig als junge Pflanzen Panorama, Europa, Parteien, Titelgeschichte (S. 40), Bundeswehr, spiel). Die Idee lebt. Politisches Buch: Michael Schmidt-Klingenberg; für Parteien (S. 28), erwischt, genügt es, ihnen die Wurzel ab- Rheinbach (Nrdrh.-Westf.) Markus Olberz PDS, Titelgeschichte (S. 32), Bildung, Kommunen, Arbeitsmarkt, zuschneiden. Dazu bedarf es aber der Auf- Beamte, Kirche, Selbstmord, Chronik: Ulrich Schwarz; für Trends, Medien, Geld, Wirtschaftspolitik, Jobs, Haushalt, Rabatte, Weltwirt- merksamkeit und genauen Beobachtung. Wir fahren bereits im Schnellzugtempo auf schaft, Unternehmen, Konzerne, Lebensmittel: Armin Mahler; für Wertheim (Bad.-Württ.) John Salter Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für Panorama Aus- die unsägliche Katastrophe zu. Trotz aller land, Afrika, Kolumbien, Großbritannien, Brasilien, Rußland: Erich Intelligenz, Wissenschaft und Computer Wiedemann; für Tennis, Olympia: Alfred Weinzierl; für Prisma, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Archäologie, Astronomie, Gesundheitspolitik, Computer, Päd- vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu wird der sogenannte moderne Mensch zu agogik: Johann Grolle; für Szene, Presse, Architektur, Walser-De- veröffentlichen. dumm zum Überleben sein. Denn wir ma- batte, Fernsehen, Virtualität, Musik, Kabarett, Autoren, Bestseller, Pop, Fernseh-Vorausschau: Dr. Mathias Schreiber; für die übrigen chen aus diesem einst so schönen Planeten Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohl- eine vergiftete, verpestete, verseuchte, zu- spiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Thomas Einer Teilauflage dieser Ausgabe ist eine Postkarte des betonierte und für alle Lebewesen unbe- Bonnie; für Gestaltung: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg, beigeklebt. Einer Teil- Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Karl-Heinz Körner (sämtlich auflage dieser Ausgabe liegen Beilagen des „manager ma- wohnbare Wüste. Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTO: Jens Rötzsch für den SPIEGEL gazins“, Hamburg, der Firma Biber Umweltprodukte, Krefeld Gerd Wagner Kennelbach, sowie des „Handelsblatts“, Düsseldorf, bei.

14 der spiegel 3/1999 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland

Arbeit an ICE-Fahrwerk, Eschede-Unglück

BUNDESBAHN Besonders peinlich könnte für die Bahn ein Fund werden, den die Er- mittler im ICE-Betriebswerk Mün- Anweisung mißachtet chen machten: Eine Arbeitsanwei- sung vom November 1994 schreibt ie Ermittlungen über das Zugunglück von Eschede brin- zwingend vor, daß Radsätze ausge-

Dgen die Deutsche Bahn in eine prekäre Lage. Die Staats- wechselt werden müssen, die als CITY COM anwaltschaft Lüneburg hat ihre Ermittlungen erheblich aus- „unruhig laufend“ diagnostiziert geweitet, nachdem Sachverständige erste Zwischenergebnisse wurden und eine „Unrundheit“ von 0,6 Millimetern oder mehr ihrer Untersuchungen vorgelegt hatten. So bezweifelt das aufweisen. Der später gebrochene Radreifen überschritt diesen Fraunhofer-Institut in Darmstadt, daß die im ICE-Verkehr Grenzwert in den Tagen vor dem Unglück bei vier routinemäßi- eingesetzten gummigefederten Radreifen ausreichend gete- gen Messungen; in der Nacht vor dem Unglück betrug die Un- stet worden waren, bevor sie zum Einsatz kamen. Um rundheit sogar 1,1 Millimeter. Die Mängel entstanden offenbar, diesen Verdacht zu überprüfen, hat die Soko Eschede bei weil sich in dem Rad bereits ein „Ermüdungsbruch“ ausbreitete. dem Bochumer Hersteller mittlerweile umfangreiche Unter- In Vernehmungen hatten Bahnmitarbeiter beteuert, solche Un- lagen sichergestellt. Ein Bruch eines solchen Radreifens rundheiten seien nur als „Komfort-, aber nie als Sicherheits- führte am 3. Juni vergangenen Jahres zum größten Bahnun- problem“ angesehen worden. Bindende Vorschriften habe es glück in der Geschichte der Bundesrepublik; 101 Menschen nicht gegeben. Die Staatsanwaltschaft will jetzt klären, warum starben. der Radsatz trotz Dienstanweisung nicht ausgetauscht wurde.

Wachstumsverlangsamung auch ebenfalls im Papier. So will sich das in Deutschland an Tempo ein- Kabinett Schröder auf internationaler büßen“. Die Prognose-Experten Ebene für ein System stabiler Wechsel- im Bundesfinanzministerium er- kurse einsetzen. Deshalb werde sich warten im Jahresdurchschnitt un- die Bundesregierung „im Hinblick auf gefähr 4,1 Millionen Arbeitslose. die großen Währungen Euro, Dollar Der Bericht soll in der nächsten und Yen für eine enge währungs- und Woche vom Bundeskabinett ver- wirtschaftspolitische Kooperation abschiedet werden. zwischen den Industrieländern einset- Ärger dürfte der Versuch der Bun- zen“. Einen ähnlichen Vorstoß Lafon-

AP desregierung auslösen, die Europäi- taines hatten die USA vor kurzem Lafontaine, Duisenberg sche Zentralbank (EZB) für mehr zurückgewiesen. Wachstum und Beschäftigung in KONJUNKTUR die Pflicht zu nehmen. Im Bericht for- dert Bonn „vertrauensbildende offene Zitat Lafontaines Handschrift und sachorientierte Strategiegespräche zwischen den für die Wirtschaftspolitik »Wer auf dem ür dieses Jahr rechnet die Bundesre- Verantwortlichen, einschließlich der Bauch kriecht, kann Fgierung mit einem Wirtschaftswachs- EZB“. Die EZB unter Wim Duisenberg nicht umfallen.« tum von rund zwei Prozent. Die Kon- hingegen verbittet sich, wie früher die junktur, so heißt es im noch unveröffent- Bundesbank, jede Einmischung. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Walter Hirche über die positiven Seiten der Oppo- lichten Jahreswirtschaftsbericht, werde Eine andere Lieblingsidee von Finanz- sitionsrolle für die Liberalen 1999 „in Anbetracht der weltweiten minister Oskar Lafontaine findet sich

der spiegel 3/1999 17 Panorama

ATOMPOLITIK Vierter Anlauf in Biblis essens Umweltministerin Priska Hinz (Bündnis 90/Grüne) Harbeitet darauf hin, daß erstmals in der Bundesrepublik ein Kernkraftwerk per Verfügung endgültig stillgelegt wird. Einen Bericht, der gravierende Sicherheitsmängel beim 25 Jahre alten Atommeiler Biblis A aufzählt, haben Spitzenbeamte im Ministe- rium nahezu fertiggestellt, auch der Entwurf einer Stillegungs- verfügung liegt bereits bei Hinz’ Staatssekretär Uwe Günther. Mißstände sieht die Atomaufsicht vor allem beim Brandschutz sowie bei der Erdbebensicherheit. In den vergangenen Jahren hatte die rot-grüne Regierung in Wiesbaden schon drei Anläufe unternommen, Biblis A abzuschalten – jedesmal ging der Betrieb auf Weisung des CDU-geführten Umweltministeriums in Bonn weiter. Hinz rechnet diesmal aber nicht mit einer solchen Inter- vention aus dem Bundesumweltministerium – das leitet ja der

Parteifreund Jürgen Trittin. Dem Biblis-Betreiber RWE bliebe DPA dann nur der Klageweg gegen die Stillegungsverfügung. AKW Biblis (Brennelement-Lademaschine)

MAHNMAL Struck hat zu einer offenen Diskussion seines alten Modells. Naumann hatte für Dienstag abend eingeladen, zu der ihn in seinem Weihnachtsurlaub in Auf Goodwill-Tour auch prominente Befürworter des alten New York für sein Alternativkonzept Eisenman-Modells erwartet werden, gewonnen. er Bonner Kulturbeauftragte Mi- darunter der langjährige Partei- und Eisenman ist bereit, sein Stelen-Modell Dchael Naumann ist diese Woche in Fraktionschef Hans-Jochen Vogel und drastisch zu reduzieren. Auf dem Ge- Berlin und Bonn unterwegs, um in einer die früheren Bundestagsabgeordneten lände zwischen Potsdamer Platz und Goodwill-Tour für den neuen Entwurf Peter Conradi und Freimut Duve. Die Brandenburger Tor soll neben den Ge- des Holocaust-Mahnmals zu werben. In CDU/CSU diskutiert am Mittwoch auf denksteinen oder im Stelenfeld ein Berlin wurde am vergangenen einer Sondersitzung über Haus entstehen, das sich „architekto- Wochenende der New Yorker das Thema. Zuvor lädt Bun- nisch signifikant von den umliegenden Star-Architekt Peter Eisenman destagspräsident Wolfgang Gebäuden unterscheidet“ (Naumann). mit Zeichnungen und Plänen Thierse alle Fraktionschefs Darin will der Kulturbeauftragte der für das Denkmal erwartet, um zu einem Gespräch. Regierung eine ständige Ausstellung gemeinsam mit Naumann Poli- Eisenmans bisheriger Ent- und eine Holocaust-Bibliothek unter- tiker und Vertreter jüdischer wurf für ein großflächiges bringen. Als drittes Element plant er, Kultureinrichtungen zu treffen. Monument aus Betonstelen „dort ein Institut zur Erforschung des Naumann will nicht nur die war bei der neuen Regierung Genozids anzusiedeln“, das zugleich Union, sondern auch die Skep- durchgefallen. Der Architekt die Funktion eines „Genozid-Watch- tiker in den eigenen Reihen für selbst bezeichnet den neuen Institute“ haben und durch entspre-

seinen Vorschlag erwärmen. DPA Plan nicht als Kompromiß, chende Aufklärung weitere Völkermor- SPD-Fraktionschef Peter Eisenman sondern als Verbesserung de verhindern helfen soll. AP J. GIRIBÁS J. Bisheriger Mahnmal-Entwurf Naumann

18 der spiegel 3/1999 Deutschland

ZEITGESCHICHTE Wir wissen aufgrund bestimmter Infor- mationen, daß Egon Bahr der Sowjet- „Sehr dämlich“ union sehr nahe steht und daß er über ziemlich jedes Gespräch seinem so- S-Präsident Richard Nixon und wjetischen Kontaktmann berichtet. Usein Sicherheitsberater Henry Kis- Kissinger bedauerte auch, daß die singer haben der Ostpolitik der Bun- CDU/CSU-Opposition die Bundestags- desregierung unter (1969 wahlen im Herbst 1972 gegen SPD und bis 1974) stärker mißtraut, als bisher FDP verloren hatte.Am 17. Februar 1973 bekannt war. Das belegen amerikani- diskutierte er darüber mit Chinas Par- sche Akten, die jetzt freigegeben wor- teichef Mao Tse-tung in Peking: den sind. Kissinger: Wir haben diese Politik nicht Gegenüber dem französischen Prä- gewollt (die Ostpolitik –Red.). Wir hät- sidenten Georges Pompidou sagte ten die deutsche Oppositionspartei Nixon bei einem Treffen auf den Azoren vorgezogen, die eine andere Politik am 19. Dezember 1971: befürwortete. Deutschland, das Herz Europas, ist Vorsitzender Mao: Ja, das ist auch potentiell immer zum Osten hingezo- unsere Haltung. Auch wir ziehen die gen, trotz seiner kulturellen und wirt- Oppositionspartei in Deutschland vor. schaftlichen Bindungen an den Westen. Kissinger: Sie hat sich sehr dämlich an- Ostpolitik ist ein hübsches Konzept. gestellt. Aber politisch ist es gefährlich, alte Vorsitzender Mao: Ja, sie wurde ge- Freundschaften für Leute aufs Spiel zu schlagen. setzen, mit denen man niemals be- freundet sein wird. Kissinger sprach über die amerikani- schen Bedenken am 11. November 1973 in Peking mit Chinas Premierminister Tschou En-lai: Kissinger: Es ist gefährlich, die Kurz- sichtigkeit der Deutschen zu unter- schätzen. Tschou: Das sagen Sie wahrscheinlich

aufgrund Ihrer Unzufriedenheit mit der H. DARCHINGER J. Brandt-Regierung. Bahr Kissinger: Das auch, aber es ist ein historisches Phänomen. Die Deutschen hatten nur einen Füh- rer mit Statur – Adenauer … Er ließ sich niemals irreführen. Brandt hingegen, wenn er seine jetzige Politik weiterführt, wird der Sowjetunion damit ein Veto- Recht über die deutsche Politik einräumen. Kissinger mißtraute besonders Egon Bahr, dem ostpolitischen Chefunterhändler Brandts. So er- zählte er Chinas Uno-Botschaf-

ter in New York, Huang Hua, am AP 4. August 1972: Kissinger, Tschou, Mao (1973)

AUSSENPOLITIK Symbolische Geschenke um Weltwirtschaftsgipfel in Köln im Juni will Bundesaußenminister Joseph Fi- Zscher bekanntgeben, daß die Bundesregierung verschiedenen Staaten der Dritten Welt einen Teil ihrer Schulden erlassen wird. Das Volumen soll etwa drei Milliarden Mark betragen. Das symbolische Geschenk kostet die Regierung Schröder in Wahr- heit so gut wie nichts, denn die betroffenen Staaten hätten die Kredite ohnehin nie zurückgezahlt. Immerhin verzichtet die Bundesregierung auf ein außenpolitisches Druckmittel. Rußland wird dem Vernehmen nach allerdings nicht unter den Begün- stigten sein.

der spiegel 3/1999 Panorama Deutschland

Am Rande Deutsch genug Vor einigen Jahren hat die Gesellschaft für deutsche Sprache öf- fentlich nach einem Wort suchen lassen, welches aussagt, daß man genug getrunken hat. Also ein Äquiva- lent für „satt“, eben nur nicht beim Essen, sondern beim Trinken. Die Suche blieb völlig er- S. ELLERINGMANN / BILDERBERG folglos, weil es ein solches Wort Herstellung von Krebsmitteln schlicht nicht gibt. Gotthold Ephraim Lessing war schon vor mehr als GESUNDHEIT von den Krankenkassen nicht ersetzt. 200 Jahren in seiner „Antwort eines Bei allen Medikamenten wird die Höhe trunknen Dichters“ darauf gekom- Neue Positivliste der Zuzahlungen voraussichtlich von men, daß es nicht einmal den Zu- der Bedeutung der Arzneimittel ab- stand gibt, den das Wort ausdrücken ie Gesundheitsexperten der Bun- hängen: Bei lebensnotwendigen Me- destagsfraktionen von SPD und dikamenten wären die Patienten von soll: „Zuviel kann man wohl trinken, D Grünen haben sich bei ihrer Klausurta- einem Eigenanteil befreit, für weitere doch nie trinkt man genug.“ gung am vergangenen Mittwoch über wirksame und wirtschaftliche Medi- Nun wird wieder nach einem Wort eine einheitliche Positivliste verständigt, kamente müssen sie ähnlich wie bisher gefahndet, ebenfalls für einen Zu- die für mehr Qualität und Wirtschaft- zuzahlen; für Arzneimittel mit um- stand, den es – zumindest nach gel- lichkeit bei der Arzneimittelverschrei- strittener Wirkung müßte jeder selbst tendem Gesetz – nicht regelmäßig bung sorgen soll. Im Zuge der großen aufkommen. Die Neuregelung der gibt, der aber bald eingeführt wer- Gesundheitsreform der neuen Regie- Zuzahlungen wollen die roten und grü- den soll: Die SPD-Zentrale möchte rung soll es eine einheitliche Liste für nen Politiker allerdings von der Finan- ein neues Wort erfinden für „dop- synthetische Medikamente und Natur- zierbarkeit der gesamten Struktur- pelte Staatsbürgerschaft“. Umfragen heilmittel geben; was darauf fehlt, wird reform abhängig machen. hatten ergeben, daß der Begriff in der Bevölkerung Neid erzeugen kann: Doppelt klinge nach doppelter RECHT wolle er auf eine „internationale Platt- Portion, nach Vorteil und Bevor- form“ ausweichen und das Straßburger zugung. Deshalb solle die SPD- Mehmet will zurück Gericht anrufen. Führungsriege die Phrase nicht mehr verwenden. iner der türkischen Anwälte des Klar: „Doppelt Spaß dank Doppel- ESerienstraftäters Muhlis A., genannt Nachgefragt Paß“ ist kein verständnisfördernder „Mehmet“, will die Bundesrepublik Slogan, „Staatsbürgerschaft mit Dop- vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagen und so Schein oder pelherz“ klingt nach Loyalitätskon- zwingen, den 14jährigen Jungen in flikten. Deutschland bei seinen Eltern leben zu nicht Schein? Aber wie soll man die neuen Staats- lassen. Nach mehr als 60 Straftaten war bürger nennen? „Halbdeutsche“? „Mehmet“ im November von München Seit Anfang des Jahres können Das wäre zwar mathematisch logisch, aus nach Istanbul abgeschoben worden, Konten in Euro geführt werden. und auch der Neidfaktor fiele weg, wo er seither für den Fernsehsender Münzen und Scheine gibt es aber nach vollwertigen Mitbürgern hört „Kral TV“ Musikclips anmoderierte. erst ab 2002. Soll das Bargeld sich das aber nicht an. „Rakideut- Vergangene Woche beschäftigte er die früher eingeführt werden? sche“ würde vom Klang her zwar an Justiz, weil der Sender ihn beschuldigt, Reichsdeutsche erinnern, wäre aber einen Computer und ein Handy gestoh- nein, 2002 ist früh genug 71% len zu haben; mangels Beweisen wur- trotzdem diskriminierend. den die Ermittlungen am Freitag ein- ja, 2001 5% Die SPD sollte die Suche abblasen. gestellt. Sein Anwalt Özkan Arican will Denn wahrscheinlich ist es für die „Kral TV“ nun wegen der „Rufmord- ja, 2000 10% Doppel-Neider ähnlich wie in Les- kampagne“ auf Schadensersatz verkla- sings Erkenntnis: Deutsch genug gen; vor allem aber müsse sein Man- ja, noch in diesem Jahr 8% kann man gar nicht sein – jedenfalls dant „schleunigst nach Deutschland Emnid-Umfrage vom 12. und 13. Januar 1999; rund 1000 nicht als Ausländer. zurück“. Weil das türkische Recht Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe dafür jedoch keine Handhabe biete,

20 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland AP EU-Kommissare bei der Debatte über das Mißtrauensvotum*: „Wie auf der Armesünderbank“

EUROPA Die gute Krise Trotz des gescheiterten Mißtrauensantrags gegen die EU-Kommission ist das Europaparlament der Gewinner des Konflikts. Selbst Bundeskanzler Gerhard Schröder erweist den oft belächelten Abgeordneten seine Reverenz.

as Europäische Parlament „kann tierten Kommissare stehen, unter Füh- Die Gewinner sind – paradox genug – man getrost vergessen“. Dies war rung des früheren Kommissionspräsiden- trotz der Abstimmungsniederlage die EU- Dvor wenigen Monaten noch die ten Jacques Delors. Abgeordneten. Der Bonner Kanzler sah feste Überzeugung Gerhard Schröders. Das Schreckensszenario ist Schröder ein „Stück Emanzipation des Parlaments Seit voriger Woche muß der Kanzler die und der EU-Mannschaft erspart geblieben. gegenüber einer Kommission“, der er EU-Abgeordneten ernst nehmen. Die Par- Das Mißtrauensvotum des Europaparla- „dringend“ riet, „mehr Sensibilität im Um- lamentarier, vorneweg die 30 Rebellen der ments vom vergangenen Donnerstag fand gang mit dem Parlament zu zeigen“. deutschen SPD, hätten beinahe die Eu- mit 232 von 552 Stimmen zwar eine so star- So undurchsichtig die Fraktionen in ropäische Kommission gekippt. Schröders ke Zustimmung wie nie zuvor bei früheren Straßburg vor dem entscheidenden Votum EU-Ratspräsidentschaft und die ersten Mo- Anträgen dieser Art, doch zum Rücktritt mit Anträgen und Kungeleien auch taktier- nate der neuen Euro-Währung wären fast sah sich Santer weder formell noch poli- ten, das Ergebnis bringt mehr Demokratie von der größten Krise der Gemeinschaft tisch gezwungen. in den europäischen Vereinigungsprozeß. überschattet worden. Die gewohnte Selbstherrlichkeit der Die Kommission unterwirft sich endlich der Monika Wulf-Mathies, EU-Kommissa- Kommission ist dennoch schwer erschüt- Kontrolle der Abgeordneten auch bei in- rin und Genossin, hatte vorigen Mittwoch tert. Ihren hochfahrenden Bürokraten und ternen Vorgängen und verpflichtet sich, telefonisch Alarm im Kanzleramt aus- Technokraten werden unabhängige Er- schleunigst einen verbindlichen Verhal- gelöst: Der Sturz der Kommission durch mittler ins Haus geschickt, um den Um- tenskodex für die Kommissare vorzulegen. das Parlament sei womöglich nicht mehr gang mit Betrug, Mißmanagement und Nun rächt sich der Hochmut, mit dem zu vermeiden, die Lage nicht länger kal- Günstlingswirtschaft aufzudecken. „Die die Quasi-Regierung der EU den kleinen kulierbar. Kommission“, räumt Wettbewerbskom- Beamten Paul van Buitenen vom Dienst Für den drohenden Rücktritt des Präsi- missar Karel Van Miert ein, „ist ge- suspendierte, als er ein Dossier über Kor- denten Jacques Santer stellte Schröder ei- schwächt“ (siehe Interview Seite 24). ruption in der Kommission zu den Parla- lends einen Notfallplan auf: Binnen 14 Ta- mentariern trug. gen sollte eine Interims-Kommission ohne * 3. v. l.: Jacques Santer; o. r.: Edith Cresson am ver- Santer mußte vorab zusagen, Verstöße Santer und unter Ausschluß der diskredi- gangenen Donnerstag in Straßburg. gegen die Sauberkeitsgebote mit Entlas-

22 der spiegel 3/1999 DPA EU-Abgeordnete bei der Abstimmung über das Mißtrauensvotum: Das Parlament probte den Aufstand

sung zu ahnden. Den Vorsatz kann er um- Vereinigung verstehen können, die bewußt Tatsächlich aber hatte die Bonner SPD gehend verwirklichen. Schon am Tag nach keine politische Union sein wollte. Je mehr die Genossen in Brüssel zur Ablehnung der Abstimmung hatte die EU einen neu- Macht mit Binnenmarkt und gemeinsamer des Mißtrauensvotums gedrängt, weil ein en Fall von Vetternwirtschaft zu bestäti- Währung dem Brüsseler Zentrum zufällt, Rücktritt der Kommission den ohnehin en- gen: Ein Schwager und die Frau des por- desto dringlicher werden die Probleme der gen Fahrplan Schröders für die Reform von tugiesischen Kommissars João de Deus demokratischen Kontrolle der Exekutive. EU-Agrarpolitik und Finanzen durchein- Pinheiro arbeiten für die Kommission. „Die Krise hat auch ihr Gutes“, freute andergebracht hätte. Auch die Gattin des schon einschlägig be- sich Günter Verheugen, Chef des Bonner Die spannendste Woche in der Ge- kannten spanischen Kollegen Manuel Europa-Ausschusses der Staatssekretäre, schichte des Europäischen Parlaments hat- Marín hat tatsächlich einen Posten in der nach dem Scheitern des Mißtrauensvo- te am Montag für die als zweitklassig Behörde. tums: „Wer die Politische Union in Europa belächelten Abgeordneten mit einer Ge- Die Entlastung beim Haushalt 1996 wur- will, muß auch diese Konflikte wollen.“ nugtuung begonnen. Erstmals hockten alle de, für alle Fälle, von den Abgeordneten Der Konflikt wurde nicht gerade mit den 20 Kommissare samt Präsidenten auf der weiter aufgeschoben. Das Parlament wird feinsten Mitteln ausgetragen. Die ange- engen „Regierungsbank“ im Straßburger zukünftig selbstbewußter als Vollstrecker schlagenen Kommissare Edith Cresson und Parlament. Mehr oder minder ergeben hör- des Willens der europäischen Wähler auf- Manuel Marín, beide im Mittelpunkt der te sie sich die Anklagen der gewählten Kon- treten können. Korruptionsvorwürfe, machten zur Entla- trolleure an. „Allein schon dieses Bild“, Die institutionelle Krise war seit langem stung Stimmung gegen die Deutschen – ergötzte sich Elmar Brok. Der CDU-Mann fällig. Bis zur Einführung des Euro hatte der SPD-Kanzler schütze nur nach außen sah die Damen und Herren Kommissare sich Brüssel immer noch als wirtschaftliche hin die Kommission. „da auf der Armesünderbank“ sitzen. Hintenherum aber be- Doch Santer war keineswegs zur Auf- treibe er, so das gezielt ge- gabe bereit. Am vergangenen Dienstag Anteil der Europa-Abgeordneten, Schweden 65% die für die Abwahl der streute Gerücht, ohne Rück- abend setzte er sein äußerstes Mittel EU-Kommission stimmten Finnland 19% sicht auf Europas Zukunft ein. Beim traditionellen Abendessen mit den Sturz der Kommissare. konservativen Parteiführern sagte er klar: Großbritannien 26% Denn er lasse die deutschen Eine Entscheidung gegen Cresson und Irland 21% Dänemark 75% Europa-Abgeordneten der Marín werde er nicht hinnehmen, und er Niederlande 46% SPD gewähren, die gemein- werde sich auch nicht vom Parlament Deutschland 93% sam mit den CDU/CSU- schimpflich aus dem Amt jagen lassen. Belgien 56% Kollegen am eifrigsten ge- Wenn diese Entwicklung sich abzeichne, Luxemburg 0% Österreich 52% gen die Kommission agitie- werde die gesamte Kommission von sich Frankreich 51% ren würden. Mit dem Druck aus demissionieren. Portugal 14% wolle Schröder niedrige- Die Drohung war ernst gemeint. Den Italien 13% re Netto-Beiträge für die Luxemburger Kommissionspräsidenten Abstimmungsergebnis Deutschen erzwingen – so Santer hatte es tief getroffen, daß inzwi- Spanien 4% Ja-Stimmen 232 Griechenland 30% die besonders in den bisher schen auch er selbst und seine Familie Nein-Stimmen 293 von der EU-Kasse begün- Opfer von allerdings windigen Gerüchten Enthaltungen 27 stigten Südländern gern ge- über Vetternwirtschaft geworden waren. glaubte Begründung. Seine Frau und sein Sohn, so Santer vor

der spiegel 3/1999 23 Deutschland

Aktien kaufen. Dann wäre die Versu- chung groß, bevor Sie eine 200-Millio- nen-Mark-Buße gegen Volkswagen ver- „Das Vertrauen verdienen“ hängen, VW-Anteile abzustoßen. Van Miert: Man kann natürlich nicht sa- Kommissar Karel Van Miert über die Korruptionsaffären gen, ein Kommissar darf keine Aktien halten. Dann müssen aber gegen po- SPIEGEL: Herr Van Miert, sind Sie nach SPIEGEL: Und im Fall Cresson? tentielle Interessenkonflikte vorbeu- dem gerade noch vermiedenen Miß- Van Miert: Im Fall Cresson wird einiges gende Maßnahmen getroffen werden – trauensvotum des Europäischen Parla- weiter untersucht. zum Beispiel müßte er oder sie die Ak- ments gegen die EU-Kommission auch SPIEGEL: Bei solchen Vorwürfen läßt tien einem Treuhänder überlassen, um in Ihrer Autorität als Wettbewerbs- man sein Amt wenigstens für die Zeit nicht in Konflikte zu geraten. Sonst kommissar geschwächt? der Klärung ruhen. wird es immer neue Vorwürfe geben. Van Miert: Wenn ich tatsächlich den Ein- Van Miert: Ich möchte jetzt nicht sagen, SPIEGEL: Hat die Kommission das Recht, druck hätte, daß ich meine Arbeit nicht was ich wahrscheinlich getan hätte. für sich selbst einen verbindlichen Ver- mehr machen könnte, wie es sich gehört, Wenn ich dazu etwas zu sagen habe, haltenskodex zu beschließen? dann würde ich daraus die Konsequen- sage ich das im Kollegium. Van Miert: Sie kann und sollte sich ge- zen ziehen. Aber ich bin davon über- SPIEGEL: Haben Sie es denn gesagt? genüber dem Parlament verpflichten, zeugt: Die Kommission kann weiter Van Miert: Das habe ich natürlich sich an die selbstgewählten Regeln zu hundertprozentig ihre Pflicht als Wett- gesagt. halten, auch in bezug auf Vetternwirt- bewerbsbehörde tun. Allerdings, als In- SPIEGEL: Warum gilt weiter das Prinzip schaft. Das soll im Einvernehmen mit stitution ist die Kommission geschwächt. der gemeinsamen Verantwortung? dem Parlament geschehen. SPIEGEL: Wie können Sie SPIEGEL: Soll ein Regelver- nach diesem Abstimmungs- stoß durch Amtsverlust ge- ergebnis noch Regierungen ahndet werden? und Konzernen vorhalten, Van Miert: Gewiß. Jeder sie würden um ihrer Vor- weiß ja, was er für Ver- teile willen die Gemein- pflichtungen übernimmt. schaftsregeln beugen oder SPIEGEL: In den Verträgen brechen? steht aber nach wie vor, Van Miert: Wir haben gera- die Kommission könne de noch das Vertrauen aus- nur insgesamt gefeuert gesprochen bekommen. werden. Jetzt müssen wir beweisen, Van Miert: Da haben Sie ju- daß wir das Vertrauen auch ristisch recht. Aber in eini- verdienen. Ein Experten- gen Monaten wird es ei- Ausschuß wird untersu- nen neuen Präsidenten ge- chen, was von den Vor- ben. Der sagt: Wir haben würfen gegen die Kom- hier einen Kodex. All die

mission stimmt. Präsident DARCHINGER F. neu Ernannten oder Vor- Jacques Santer hat gesagt: Kommissar Van Miert: „Wer gegen den Kodex verstößt, muß gehen“ geschlagenen werden ge- Wir akzeptieren jetzt fragt: Haben Sie das zur schon die Beschlüsse, die dabei her- Van Miert: Es wäre für Konzernchefs Kenntnis genommen? Es wird mit ih- auskommen. Das ist eine echte politi- und Politiker zu einfach, mich als ein- nen verabredet: Wer dagegen verstößt, sche Verpflichtung. Dazu müssen wir zelnen Kommissar zu attackieren. Bei muß gehen. stehen, auch wenn es schwierig wird. schwierigen Beschlüssen muß ich sa- SPIEGEL: Handelt es sich also doch SPIEGEL: Das heißt, der zuständige gen können: Bitte, ich habe meine Kol- nur um eine unverbindliche Selbstver- Kommissar müßte noch in dieser Amts- legen davon überzeugt. Dann über- pflichtung? zeit die politische Verantwortung über- nimmt das Kollegium gemeinsam die Van Miert: Bei einem Verstoß gegen den nehmen und zurücktreten? Verantwortung, auch politisch. Kolle- Kodex wäre ein politisches Überle- Van Miert: Das sollte man sicher nicht gialität darf aber nicht heißen, alles un- ben fast unmöglich. Dann darf keiner ausschließen. ter den Teppich zu kehren. Der jetzt mehr auf die Solidarität der Kollegen SPIEGEL: Wieso haben dann die beiden versprochene Verhaltenskodex gibt uns rechnen. diskreditierten Kommissare, Edith eine reelle Möglichkeit, nachzubessern. SPIEGEL: Hat die Kommission die Rea- Cresson und Manuel Marín, nicht schon SPIEGEL: Was wird da drinstehen? lität eines selbstbewußteren Parlaments ihren Hut genommen? Van Miert: Als ich vor sechs Jahren Wett- nicht wahrgenommen? Van Miert: Moment! Ich bin nicht ein- bewerbskommissar wurde, hat mir kei- Van Miert: Ich habe schon seit Jahren verstanden mit dem, was man immer ner die Frage gestellt: Was haben Sie für geahnt, daß ein solcher Krach kommt. wieder über Herrn Marín behauptet finanzielle Interessen oder politische Es gibt immer mehr Zuständigkeiten hat.Auch für EU-Kommissare gilt doch Bindungen? Ich habe keine Aktien, aber auf europäischer Ebene. Der Euro hat die Unschuldsvermutung. Jetzt gibt es keiner hat mich auch danach gefragt. seine eigene Logik. Die Macht in Brüs- eine Möglichkeit, daß man das mal Die neuen Kommissare werden gefragt sel wächst. Natürlich ist dann auch alles objektiv untersucht und beurteilt. und müssen klare Antworten geben. mehr Kontrolle notwendig, das Parla- Dann kommen die Konsequenzen, falls SPIEGEL: Aber es kann Ihnen doch nie- ment guckt genauer hin, es wird ein sie dennoch erforderlich sein sollten. mand verbieten, daß Sie auch ein paar richtiges Parlament.

24 der spiegel 3/1999 Vertrauten, seien ihm wich- Und seltsam – ob Soziali- tiger als das Amt. sten oder Christdemokraten: Am selben Abend machte Die Rebellen trugen fast alle der Präsident im Hilton-Ho- deutsche Namen. tel auch der Sozialisten-Che- Natürlich haben alle den fin Pauline Green die Lage Termin der Europawahl am klar. Grüne, Liberale, Links- 13. Juni im Kopf. Green: „Es und Rechtsaußen ließen sich gibt einige, die den Duft von nicht schrecken. Da Cresson Wahlen in der Nase spüren und Marín einzeln nicht zu und für die heimische Gale- packen waren, blieben sie bei rie spielen.“ dem Plan, dann die ganze Die rote Britin meinte Kommission zu opfern. besonders die deutschen Am Donnerstag mittag Schwarzen. Für die ist die war klar: Die Parlamentarier Versuchung groß, als Kampf-

hatten den „Atomschlag“ M.-S. UNGER / MODUS truppe für saubere Verhält- (der irische Liberale Patrick Kommissionspräsident Santer, Schröder*: Notfallplan für den Rücktritt nisse in Europa Vorurteile zu Cox) doch nicht gewagt. bedienen und Stimmen zu „Die Autorität des Parlaments ist gestärkt“, Green hatte ein waghalsiges taktisches sammeln. Das aber macht auch die deut- trumpfte die Sozialistin Green auf – und Spiel mit dem Mißtrauensantrag getrieben. schen Roten anfällig für solche Aktionen. provozierte damit Hohngelächter bei Grü- Eigentlich sollte der mit so großer Mehrheit Die haben Angst, vom politischen Konkur- nen, Teilen der Konservativen und verein- abgelehnt werden, daß er zu einer Vertrau- renten im Wahlkampf als Schutzherren kor- zelt auch bei der eigenen Gefolgschaft. enserklärung für die Kommission würde. rupter Kommissare verteufelt zu werden. Denn der sogenannte Rat der Weisen, Dann aber entwickelte sich der Mißtrauens- Das Europäische Parlament probte den der nun die Verfehlungen untersuchen soll, antrag durch die Affärenvertuschung zu ei- Aufstand – und beeindruckte den deut- ist nicht ein Gremium des Parlaments. ner echten Bedrohung für die Kommission. schen Kanzler so sehr, daß er nun sogar ein Auch Ministerrat und Kommission können Doch die beiden großen Fraktionen der Gipfeltreffen der Staats- und Regierungs- dorthin Vertreter entsenden. Sozialisten und der Konservativen votier- chefs aus Respekt vor der Straßburger In- Die Belgierin Magda Aelvoet, Frak- ten schließlich mit großen Mehrheiten für stitution verschiebt. Beim Treffen in Cardiff tionsvorsitzende der Grünen, wertete des- die Kommission und retteten Santer und im vorigen Sommer noch hatte Helmut wegen das Scheitern des Mißtrauensvo- seine Truppe. In beiden Fraktionen aber Kohl als Datum für den Abschlußgipfel tums, vor allem aber den Einsatz eines au- blieb eine beachtliche Gruppe resistent und der deutschen Präsidentschaft in Köln den ßerparlamentarischen Kontrollgremiums, stimmte stur gegen die Kommission. 3. und 4. Juni 1999 festgesetzt. Bei diesem als „eine Schande“. Damit, empörte sie Sehr verbittert sind die unterlegenen Europäischen Rat soll auch der neue Präsi- sich, hätten die Abgeordneten „sich selbst Abgeordneten, weil es der Kommission im dent der Kommission gekürt werden. das Mißtrauen ausgesprochen“. Zusammenspiel mit der Mehrheit der So- Schröder sind inzwischen Bedenken ge- Schließlich habe das Parlament einen zialisten, unterstützt aber auch von einem kommen: Es mache sich nicht gut, den hochqualifizierten Haushaltskontrollaus- Teil der Konservativen, gelungen ist, alle Kandidaten, der ja vom Parlament gewählt schuß. Der habe hinreichend Material für Rücktrittsforderungen des Parlaments an werden muß, ohne Rücksprache mit den das Versagen zumindest zweier Kommis- die Adresse der besonders belasteten Kom- Abgeordneten wenige Tage vor der Wahl sare ans Licht gezerrt, obwohl ihm die missare Cresson und Marín abzuwehren. am 13. Juni zu bestimmen. Der deutsche Kommission Informationen verweigert hat- Ratspräsident will den Kölner Gipfel te. Die Tätigkeit der eigenen Kontrolleure * Vor dem Palais Schaumburg in Bonn am vergangenen auf die Zeit nach den Europawahlen ver- sei nun desavouiert. Montag. schieben. Winfried Didzoleit, Dirk Koch Deutschland

werden in Hessen bereits die ersten Un- terschriften gesammelt (siehe Seite 28). PARTEIEN Rund hundert Tage nach der Wahlnie- derlage werden in der Union wieder alte Machtkämpfe um die Hegemonie ausge- Auf Bewährung tragen; im Süden eine auftrumpfende CSU, deren neuer Chef mit rechtspopulistischen Die Union im Dilemma: Sie hat zwar mit Edmund Stoiber Parolen auf Stimmenfang geht. Nördlich des Mains eine zerrissene und ideenlose wieder einen starken Mann im Süden, CDU, die mit der Macht auch den Zusam- aber mit Wolfgang Schäuble kein Gegengewicht in Bonn. menhalt verloren hat. Dazwischen ein ner- vöser CDU-Vorsitzender, der sich durch falsche Nachgiebigkeit und ungeschicktes Lavieren selbst beschädigt. Nur aus Rücksicht auf Schäuble hatten Kritiker im Bundesvorstand der Unter- schriftenaktion zugestimmt. Schäuble selbst entschuldigte sich für den Allein- gang. Eine öffentliche Demontage blieb ihm deshalb erspart. „Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt“, sagt ein CDU- Vorständler. Der Krach um die Haltung zum Dop- pel-Paß ist nicht nur die Folge eines Ma- nagementfehlers. Er offenbart auch ein strukturelles Dilemma Schäubles.Als Frak- tionschef von CDU und CSU muß er vor allem integrieren, als Parteichef muß er die CDU modernisieren und voranbringen – und die Meinungsführerschaft gegenüber der CSU untermauern. „Beides schließt sich aus“, glaubt der Göttinger Parteien- forscher Franz Walter. Doch das kommt auf die Persönlichkeit

A. VARNHORN des Amtsinhabers an, wie das Beispiel Hel- CDU-Unterschriftenaktion (in Frankfurt am Main)*: Stimmung gegen Ausländer? mut Kohl zeigt. Der übernahm 1976 nach einer knapp verlorenen Bundestagswahl er bayerische NPD-Vorsitzende test zur SPD über. In Köln ruft der Vorsit- als Parteichef auch die Führung der Frak- Franz Salzberger wollte Vergange- zende der CDU-Arbeitnehmerschaft, Ul- tion. Prompt gab es Krach mit den Bayern. Dnes vergangen sein lassen. 16 Jahre rich Soénius, zu einer Unterschriftenakti- Für den machtbewußten Pfälzer kam, lang habe die Union eine falsche Auslän- on gegen die Unterschriftenaktion auf. anders als bei Schäuble, erst die Partei, derpolitik betrieben und damit „erhebliche Er befürchtet einen Denkzettel bei den dann die Fraktion.Als CSU-Chef Franz Jo- Mitschuld“ auf sich geladen, schrieb er Kommunalwahlen im September: „In Köln sef Strauß mit der Aufkündigung der Frak- letzte Woche an Ministerpräsident Edmund leben 35000 wahlberechtigte EU-Bürger. tionsgemeinschaft drohte und dies auf dem Stoiber (CSU). Dennoch sei die NPD nun Warum sollen die eine Partei wählen, legendären Treffen in Kreuth auch von der bereit, gemeinsam mit den Christsozialen die indirekt Stimmung gegen Ausländer Bonner Landesgruppe der CSU be- Unterschriften gegen die Ausländerpolitik macht?“ schließen ließ, bot ihm Kohl Paroli: Er der rot-grünen Regierung zu sammeln. „Abblasen“, rät der Aachener Kreisvor- drohte, mit der CDU in Bayern einzumar- Stoiber wies die Anbiederung zurück. sitzende Ulrich Daldrup. Der Hamburger schieren. Das wirkte. Die Offerte beweist aber, wo die Unter- Landeschef Ole von Beust will die Kam- Schäuble will den Bruch nicht riskieren. schriftenaktion gegen den Doppel-Paß pagne ebenfalls boykottieren. Zugleich „Fraktionschef bin ich mit Leib und Seele“, Freunde findet: rechts von der CSU. Auch deshalb ist die Mo- bilisierung auf der Straße ge- fährlich für die Union, die sich ja als Partei der bürgerlichen Mitte präsentieren möchte. Nicht nur die üblichen Ver- dächtigen – von Heiner Geißler bis Rita Süssmuth – protestie- ren gegen die Unterschriften- sammlung, die Schäuble im Al- leingang mit Stoiber verabre- det hat. Auch die Basis rebel- liert. Im Berliner Bezirk Neukölln traten CDU-Mitglieder aus Pro- REUTERS (li.); IMO (re.) * Am Freitag vergangener Woche. Unionspolitiker Stoiber, Schäuble, Merkel: Unerträgliche Drohung

26 der spiegel 3/1999 räumte er einmal vor Parteifreunden ein, „Parteivorsitzender aus Pflichtgefühl.“ Rivale Stoiber hingegen will es seinem großen Vorbild gleichtun. Als Ministerprä- sident und Parteichef besitzt er eine Macht- „Im absoluten Tiefschlaf“ fülle wie kein christsozialer Anführer seit Strauß. Wie dieser will Stoiber die CSU SPD-Werbeberater Detmar Karpinski, 39, von der Hamburger zur „Speerspitze der Opposition“ machen, Agentur KNSK/BBDO über die Imageprobleme der CDU notfalls auch gegen die Schwesterpartei und deren geschwächten Vormann. SPIEGEL: Herr Karpinski, Sie haben SPIEGEL: Schröder und Fischer sind ihre Sein Solo zur Staatsbürgerschaft ist für vor zwei Jahren begonnen, das ver- eigenen Werbeträger.Was müßten Par- Parteifreunde ein klares Signal. „Jetzt ist staubte Image der Sozialdemokraten teichef Schäuble und seine Generalse- Schluß mit der Waigelschen Solidarität“, aufzupolieren. Gibt es Parallelen zwi- kretärin Merkel tun, um besser in den meint ein CSU-Abgeordneter, „der starke schen der damaligen SPD und der Medien anzukommen? Mann der Union sitzt wieder in Bayern.“ CDU heute? Karpinski: Man unterstellt Werbe- Wie Strauß hat Stoiber den Drang nach Karpinski: Ja, natürlich. Vor allem ist agenturen ja immer, daß sie am äuße- Höherem – der in jüngeren Jahren „blon- das Erscheinungsbild der CDU drin- ren Erscheinungsbild von Politikern des Fallbeil“ genannte Ministerpräsident gend renovierungsbedürftig. Da ist eine feilen, aber wir haben nie einem Poli- will Kanzlerkandidat werden. Der CDU- Opposition nach der Wahl drei Mona- tiker geraten, sich anders anzuziehen Spitze schwant deshalb auch für die Zu- te lang im absoluten Tiefschlaf gewe- oder eine andere Brille aufzusetzen. kunft aus Bayern nicht viel Gutes. sen. Die Oppositionsrolle hat eigent- Das hat keinen Sinn, weil die Men- „Stoiber ist für uns nur bedingt bere- lich die Presse übernommen. schen sofort merken, wenn etwas auf- chenbar“, meint ein CDU-Fraktionsvize SPIEGEL: Mit ihrer Unterschriftenaktion gesetzt ist. Deshalb kann man auch und erinnert daran, daß Franz Josef Strauß gegen die doppelte Staatsbürgerschaft Frau Merkel nicht raten, zum Friseur die Politik der ständigen Nadelstiche zwei ist die CDU nun spektakulär in Er- zu gehen oder andere Klamotten an- Jahrzehnte lang durchgehalten habe – scheinung getreten. zuziehen. Das würde sofort als Trick ohne allerdings das entscheidende Ziel zu Karpinski: In ziemlich tol- entlarvt. Angela Mer- erreichen. Nicht er wurde Bundeskanzler, patschiger Weise. Die ha- kel ist, wie sie ist, das sondern Helmut Kohl. ben festgestellt, daß laut kann man nicht än- Wolfgang Schäuble versucht Harmonie Marktforschung die Mehr- dern. mit dem Konkurrenten aus dem Süden zu heit der Deutschen gegen SPIEGEL: Im Wahlkampf demonstrieren. Seine Generalsekretärin die doppelte Staatsbürger- glänzte Schäuble durch Angela Merkel zeigt dagegen offen ihren schaft ist. Dann haben sie sehr gute Umfrage- Ärger. Der CDU „eine Korsettstange ein- dieses Thema besetzt, oh- werte. Ist dieser Bonus ziehen“ zu wollen sei eine unerträgliche ne Absprachen und Vorbe- weg? Drohung. reitung. Leute aus der eige- Karpinski: Wolfgang Auch die CSU-Beschimpfung von Hei- nen Führung distanzieren Schäuble konnte im ner Geißler und Rita Süssmuth als „Polit- sich von der Aktion, spre- Wahlkampf davon pro- Omas und -Opas“ will Angela Merkel nicht chen sogar von Heuchelei fitieren, daß sich seine

hinnehmen: „Wenn sich so etwas wieder- – das ist ein Werbe-GAU. H. BAYER kühle Präzision so holt, muß die CDU stärker gegenhalten. SPIEGEL: Sollte die CDU Werber Karpinski wohltuend gegen Hel- Die CDU ist nicht willens, sich alles bieten die Aktion abblasen? mut Kohl abhob. Nun zu lassen.“ Karpinski: Nein, wenn die CDU-Spitze fehlt ihm gewissermaßen die Negativ- Nach den starken Tönen zum Auftakt das jetzt fallenläßt, dann macht sie sich Vorlage, und der Nimbus schwindet. des Ausländerstreits drehten die Bayern komplett unglaubwürdig. SPIEGEL: Angela Merkel inszenierte nur fürs erste bei. Diese Woche soll der ge- SPIEGEL: Für welche Werte steht die einen symbolischen Umzug der neuen meinsame Text für die Unterschriften- CDU zur Zeit? Mitte zurück zur CDU, seit einigen Wo- aktion auch in der Bundestagsfraktion Karpinski: Für gar keine – das ist ihr chen wirbt die Partei mit dem Slogan abgesegnet werden, das Nein zur doppel- Problem. Helmut Kohl stand für be- „Mitten im Leben“. ten Staatsbürgerschaft ist im letzten Satz stimmte Themen und Werte: Europa, Karpinski: So stellt sich Klein Fritzchen versteckt. konservativ, wirtschaftsfreundlich, ver- Werbung vor. Das Plakat „Mitten im In der Sache mußte die CSU Konzes- läßlich. Nachdem er weg ist, ist da das Leben“ kopiert den Leipziger Parteitag sionen machen. Fraktionsvize Jürgen Rütt- Bild der CDU total verschwommen. der SPD, wo die neue Mitte durch ei- gers legte vergangene Woche ein Integra- SPIEGEL: Wenn Sie den Auftrag hätten, nen roten Kreis in blauem Umfeld sym- tionskonzept vor, das die Schwesterpartei die CDU zu vermarkten, wie würden bolisiert wurde. Die CDU-Kopie wirkt noch vor Jahresfrist als viel zu liberal ab- Sie das anfangen? ziemlich Sechziger-Jahre-mäßig. gelehnt hätte. Karpinski: Die CDU muß sich erst mal SPIEGEL: Wenn Sie SPD und CDU mit Der CDU bleibt allerdings nicht viel an- selber hinsetzen, arbeiten, Konturen Werbeprodukten aus der Wirtschaft deres übrig, als ihre mißglückte Kampagne und Profil gewinnen, eigene Begriffe vergleichen … schönzureden. In Otto Schilys Entwurf besetzen. Natürlich hat die CDU noch Karpinski: … dann ist die SPD der Audi zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts Reste von Wirtschaftskompetenz. Sie und die CDU ein Opel. Der Audi steht erblickte Jürgen Rüttgers „den ersten ist aber schwach in allen anderen rele- für Modernität, Tempo, Sicherheit, Spit- Erfolg unserer Kampagne“. Nur auf vanten Bereichen. Selbst in der Euro- zenqualität, ein Opel dagegen ist ein Druck der Union seien Sprachkenntnisse papolitik hat sie nach dem Ausschei- bißchen langweilig. Da sitzt ein alter und ein Bekenntnis zur Verfassungstreue den von Kohl nicht mehr viel Profil. Mann mit Hut am Steuer, und auf zur Voraussetzung für eine Einbürgerung Im Moment ist die CDU im Grunde der Ablage liegt eine umhäkelte Klo- gemacht worden. nicht vermarktungsfähig. papierrolle. Tatsächlich war beides lange geplant. Martina Hildebrandt

der spiegel 3/1999 27 Deutschland

schen Applaus. Beschwingt tragen sich die der Domstadt gegen die doppelte Staats- Anhänger des straff gescheitelten Konser- bürgerschaft mobilisiert. vativen in die bereitliegenden Unterschrif- Der Andrang habe ihn „völlig über- Im Laufschritt tenlisten ein. rascht“, sagt Peuser. „Jede Menge Leute“ Die Mobilmachung der CDU gegen die seien spontan mit der Frage gekommen, Absicht der Bundesregierung, Millionen wo sie denn ihren Protest gegen die dop- zur Wurst Ausländer in Deutschland mit zwei Pässen pelte Staatsbürgerschaft kundtun könnten. zu versorgen, hat begonnen – und Hessen Da er an seinem Infostand zunächst keine Endlich ein Wahlkampfthema dient den Unionsstrategen als Experimen- Listen parat hatte und ein offizieller Aufruf für die hessische CDU: Der tierfeld. Hier findet am 7. Februar eine noch nicht vorlag, habe er improvisieren Kampf um die doppelte Staats- Landtagswahl statt, die erste nach dem Re- müssen: „Es war den Leuten ein Bedürfnis, bürgerschaft soll den Weg zur gierungswechsel vom September in Bonn. einfach zu unterschreiben, kein Mensch hat Roland Koch, Herausforderer des seit nach einem detaillierten Text gefragt.“ Macht in Wiesbaden freimachen. acht Jahren amtierenden SPD-Minister- Vom sorgfältig ausformulierten CDU- präsidenten Hans Eichel, blieb mit seinem Bundesvorstandsbeschluß, in dem viel von outine als Redner hat er ja, der landespolitischen Programm bislang blaß Integration und Toleranz die Rede ist, ehemalige Bundesinnenminister und ziemlich chancenlos (SPIEGEL bleibt auch im offiziellen hessischen CDU- RManfred Kanther (CDU). Und so 53/1998). Jetzt glaubt er, den ersehnten Flugblatt nicht mehr viel übrig. „Keiner spult er bei seinem Wahlkampfauftritt Rückenwind aus der Bundespolitik zu kann auf Dauer in zwei Heimaten leben“, am Donnerstag abend im Wiesbadener spüren. Wenn er überhaupt gewinnen heißt es da, und weiter: „Jeder muß sich „Haus der Heimat“ das volle Programm kann, kalkuliert der CDU-Spitzenkandi- entscheiden – für ein Vaterland.“ Das Wort ab: Die hessischen Schulen – eine Ka- dat, dann nur, indem er die Hessenwahl Toleranz taucht erst gar nicht auf. tastrophe. Die rot-grüne Finanzpolitik – zu einer Abstimmung über das rot-grüne Die Botschaft kommt an – auf beiden Chaos pur. Der Sozialstaat – kaum noch Treiben in Bonn stilisiert. Der geplante Seiten. Vor dem Unterschriftenwagen der zu retten. Doppel-Paß kommt da gerade recht: „Wir CDU auf der Frankfurter Zeil gibt es am vergangenen Freitag lautstarke Rangeleien. Die 80jährige Rentnerin Else Ohsam, die sich gerade in die Liste eingetragen hat, streitet mit drei jungen Ausländern. „Ihr saugt uns aus“, wirft Ohsam den jungen Leuten an den Kopf, „das Boot ist voll.“ Müslüm Gürses, 23, gebürtiger Frankfurter mit türkischem Paß, hält dagegen: „Wenn wir nicht hier wären, wäre Deutschland längst kaputt.“ Gürses hat den Eindruck, daß vor allem die Alten bei der Aktion mitmachen: „Schauen Sie sich doch um, die kommen noch aus der Hitler-Zeit.“ CDU-Organisa- tor Walter Seubert, 24, Vorstandsmitglied des Frankfurter Kreisverbands, kann mit solchen Pauschalurteilen zwar nicht viel anfangen, bestätigt aber: „Junge Menschen sind hier nur sporadisch zu sehen.“ Auch der Bundestagsabgeordnete Hel- mut Kohl ist nicht mehr der Jüngste, aber er gibt sich putzmunter. Im Laufschritt mar- schiert der Bundeskanzler und Parteichef

AP a. D. mit dem hessischen Spitzenmann Koch Wahlkämpfer Kohl, Koch in Frankfurt: Geplauder in der Kleinmarkthalle über die Zeil und durch die Frankfurter Kleinmarkthalle, kauft hier ein paar Prali- Die rund 60 Zuhörer im „Wappensaal“ haben endlich ein Thema“, sagt ein enger nen, futtert dort eine Wurst und plaudert der Vertriebenenverbände verfallen mehr Koch-Vertrauter erleichtert. mit dem türkischen Obst- und Gemü- und mehr in sanftes Dämmern, bis Kanther Doch bis aus dem Thema eine Kampa- sehändler Ali Acur über die Geschäfte. ein zündendes Stichwort nennt: Auslän- gne wurde, produzierte selbst die kampf- Acurs Klage, daß es schon mal besser derpolitik. Die meist älteren Herrschaften erprobte Hessen-Union mehrere Tage lang lief, hört Kohl mit interessierter Miene, recken und räuspern sich erwartungsvoll – ein ziemliches Durcheinander. Weil Koch aber das war’s dann auch – kein Wort dazu, endlich ein Thema, das ins Blut geht. seine Signatur als eigenen Fototermin in- daß der Türke, der seit 18 Jahren in Jawohl, daß die Neuen in Bonn „den szenieren wollte, wurde der Beginn der Deutschland lebt, gern zwei Pässe hätte. deutschen Paß demnächst zu Discount-Be- Aktion zweimal zwischen Donnerstag und Offene Kritik aus den eigenen Reihen dingungen verschleudern wollen“, ist wirk- Samstag vergangener Woche hin- und her- übt im multikulturell geprägten Frankfurt lich der Gipfel. Und wer die Gegner der geschoben. kaum jemand an der CDU-Aktion. Ledig- doppelten Staatsbürgerschaft in die rechts- Dabei hatte sich ein CDU-Provinzfürst lich der langjährige Stadtverordnete Michel radikale Ecke stellt, der soll doch lieber längst vor allen anderen als Unterschrif- Friedman, Präsidiumsmitglied im Zentralrat mal die Sozis fragen, „warum sie in Mag- tensammler hervorgetan. Der Limburger der Juden, prescht wie so oft vor – die Kam- deburg und Schwerin mit den Kommuni- Parteichef und Landtagsabgeordnete Hel- pagne sei „unverantwortlich“. Friedman sten regieren“. mut Peuser behauptet stolz, er habe am bezweifelt zudem, daß die Unterschriften- Für solch kernige Sprüche erntet der vorvergangenen Samstag binnen drei Stun- aktion den Wahlsieg beflügelt: „Die Sache dröge Kanther dann doch noch rhythmi- den 500 Passanten in der Fußgängerzone wird ein Mißerfolg.“ Dietmar Pieper

28 der spiegel 3/1999 von der Bundeswehr entfernt und war in erster Instanz zu sieben Monaten auf Be- währung verurteilt worden. Zu schaffen macht der Partei auch der Fall Torsten Koplin. Der PDS-Landtags- abgeordnete hatte in den achtziger Jah- ren die FDJ in Neubrandenburg für die Stasi bespitzelt. Die CDU fordert bereits seit Wochen, daß Koplin sein Mandat zurückgibt. Die Personalquerelen treffen die Küsten- PDS an ihrer empfindlichsten Stelle: Die Ge- nossen pflegen pingelig ihren Ruf als sozia- listische Gutmenschen mit großem Engage- ment für kleine Leute. Das Image ist nun ramponiert. Holter räumt ein: „An Fraktion und Partei ist Schaden an- gerichtet worden.“ Die Sozialdemokraten macht Holters Ärger vor allem schadenfroh. „Die

FOTOS: T. HAENTZSCHEL / NORDLICHT T. FOTOS: haben die Nase ziemlich Abgeordnete Muth, Parteifreunde*: Unerklärlicher „Blackout“ hoch getragen, seit sie in der Regierung sind“, genüber dem früheren SED-Zentralorgan höhnt ein Spitzengenosse. PDS „Neues Deutschland“, herrsche „Empö- Die SPD nervt, mit wel- rung und Entsetzen“. cher Selbstgefälligkeit sich Der Zauber Unter Tränen trat Muth am Dienstag der Koalitionspartner bis- vom Fraktionsvorsitz zurück. Die Aufre- her an der Macht sonnte. gung um die Kollegin nutzte die Genossin Ministerpräsident Harald Schulz der Genossen Gabriele Schulz, 47, um sich ebenfalls aus Ringstorff ist zwar sauer, der ersten PDS-Reihe zu verabschieden. daß sein Land nur „mit solchen Geschich- Nach elf Wochen an der Macht in Sie gab wegen beruflicher Stasi-Kontakte ten“ in die Schlagzeilen gerät, doch kommt ihren Job als Vizepräsidentin des Landtags ihm der Dämpfer sehr wohl zupaß, um die Schwerin stecken die auf. Schulz war zu DDR-Zeiten 2. Sekretär PDS beim Wähler zu „entzaubern“. „Wir SED-Nachfolger in einer schweren der SED-Kreisleitung in Hagenow und hat- befinden uns auf einmal in der Defensive“, Personalkrise – zur Schaden- te in dieser Funktion stets mit der Staats- schimpft Holter, „das macht mich wütend.“ freude des Koalitionspartners SPD. sicherheit zu tun (SPIEGEL 1/1999). Die zornige Selbstkritik stößt an der ei- Einen Tag später wurde bekannt, daß genen Basis auf ein geteiltes Echo. Kritiker anchmal hilft eben nur noch Gal- die Staatsanwaltschaft Stralsund gegen die werfen Holter vor, ihm sei mehr am genhumor. Als Angelika Gram- PDS-Abgeordnete Kerstin Kassner, 41, we- Gelingen der Schweriner Koalition und der Mkow, 40, derzeit kommissarische gen des Verdachts der Steuerhinterziehung eigenen Ministerkarriere gelegen als am Chefin der PDS-Fraktion im Schweriner ermittelt. Kassner betreibt mit ihrem Mann Wohl der PDS. Schon seine vorsichtige Landtag, am vergangenen Donnerstag seit 1992 ein Hotel auf Rügen. Sie bestrei- Kritik an der aus der Partei geforderten morgen in die Fraktionsräume kam, be- tet jede Unregelmäßigkeit. Amnestie für ehemalige DDR-Funktionä- grüßte sie die Genossen mit bitterem Witz: Am Donnerstag schließlich beantragte re und an dem Plan der Bundestagsfrak- „Ich wach’ morgens auf und denke: Bin das Oberlandesgericht Rostock die Aufhe- tion, den Ex-Spion Rainer Rupp alias heute ich dran?“ bung der Immunität des PDS-Hinterbänk- „Topas“ zu beschäftigen, war manchem Tägliche Hiobsbotschaften aus dem lers Monty Schädel, 29. Gegen ihn läuft böse aufgestoßen. Bei solchen Vorstößen Nordosten sorgten kurz vor dem Berliner ein Revisionsverfahren wegen Fahnen- müsse künftig auch die „Wirkung auf Bundesparteitag am vergangenen Wo- flucht. 1995 hatte sich der Totalverweigerer das Regierungsmodell in Schwerin“ be- chenende für Unruhe bei den Postkom- dacht werden, so Holters munisten. Die Schweriner Fraktionsvorsit- Forderung. zende Caterina Muth, 40, geriet zu Wo- „Im Moment“, erklärt chenbeginn in die Schlagzeilen, weil sie in ein Schweriner PDS-Mann einem Neubrandenburger Drogeriemarkt die Lage, „sind unsere drei als Ladendiebin erwischt worden war: Sie Minister noch stolz, auch hatte einen Eyeliner für 8,95 Mark und von CDU-Abteilungsleitern Wimperntusche für 13,95 Mark mitgehen angelächelt zu werden.“ lassen. Muth berief sich auf einen „Black- Was sie dabei völlig über- out“, den sie sich nicht erklären könne. sähen: „Die Entzauberung PDS-Chef Helmut Holter, 45, ansonsten ist in vollem Gang. Das hat ein eher schwerblütiges Mecklenburger sich die SPD nicht träumen Naturell, brachte der Fehltritt aus der Fas- lassen, daß das so einfach sung. In der Partei, jammerte der stellver- geht.“ tretende Ministerpräsident des Landes ge- Zumindest Ober-PDSler Holter indes hat die Gefahr

* Bei ihrem Rücktritt vom Fraktionsvorsitz mit den PDS- DPA offenbar erkannt. Kollegen Arnold Schoenenburg und Peter Ritter. Partner Holter, Ringstorff: „Auf einmal in der Defensive“ Florian Gless

der spiegel 3/1999 29 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel Das Pharaonengrab der Stasi Sensationsfund in der Berliner Gauck-Behörde: Ein Computertüftler entschlüsselte eine geheime Datenbank der DDR-Auslandsspionage. Jetzt kann erstmals rekonstruiert werden, was die HVA wirklich wußte – und wer es ihr verriet.

m Raum 607 ist alles so wie früher. in den Bits und Bytes der Museumsstücke Resopalschreibtische, Bürostühle aus – und überraschend gelingt ihm der end- IDDR-Produktion, an der Wand zwei gültige Durchbruch: Der 35jährige Tüftler klobige Robotron-Rechner A 5120, die an hat eine auf vier Bändern gespeicherte ge- aufgemotzte Hammondorgeln erinnern. heime Datenbank gefunden und decodiert. Zwischendrin verlieren sich ein paar auch Plötzlich flimmern Zehntausende Na- schon angejahrte Westcomputer, draußen men und Zahlenkolonnen über den Bild- rauscht der Paternoster vorbei – ein Ar- schirm, immer nach dem gleichen Muster: beitsplatz wie im Technikmuseum. Hinter dem Stichwort „Quelle“ stehen Im düsteren Komplex an Registraturnummer und der Normannenstraße in Tarnname. Im Feld „Text“ Berlin-Lichtenberg residier- folgt eine Kurzbeschrei- te einst das DDR-Ministe- bung der Information, samt rium für Staatssicherheit Eingangsdatum und Bu- (MfS), die Stasi. In den Ar- chungsnummer. chiven lagerten die Akten- Listen strenggeheimer stücke Hunderttausender Nato-Dokumente tauchen Ostspitzel und Westspione. auf, die Namen „Helmut Jetzt mühen sich hier Kohl“ und „Gerhard Schrö- die Aufklärer der Gauck- der“ erscheinen in dem Da- Behörde, aus den Daten- tenwust ebenso wie die bergen verwertbare Infor- führender Konzerne. mationen aus der Zeit des Kühl meldete der Hacker Kalten Krieges zu klauben. der Behördenleitung „Er- Die zwei Spezialisten im folge bei der Lesbarma- Raum 607 sind Mitarbeiter chung“ elektronischer Da-

des über 20köpfigen Refe- PHOTO JÜRGENS OST UND EUROPA tenträger. rates AR 7, das sich der Spionagechef Wolf (1985) Das war eine ziemliche Auswertung von Tonband- Untertreibung. kassetten, Filmen und elektronischen Da- Der ehemalige DDR-Bürger hatte einen tenträgern widmet. Ihr besonderes Inter- Fund von historischer Bedeutung gemacht: esse gilt dem weltweiten Agentennetz, das Er hatte die Inventarliste der DDR-Aus- Markus Wolf, Leiter der DDR-Auslands- landsspionage geborgen, das Pharaonen- spionage, geknüpft hatte. grab des Markus Wolf geöffnet. Erstmals Die Suche galt bei Experten als wenig kann nun nachgewiesen werden, was die erfolgversprechend. Zu gründlich schienen HVA wirklich wußte und wer es ihr be- die Offiziere der Hauptverwaltung Auf- schaffte. klärung (HVA) alle Daten in den Wirren Schon bald werden Hunderte Fragen der Wende entsorgt zu haben. und offene Fälle geklärt sein, die Ermittler Zu den wenigen Überresten aus Wolfs und Historiker bis heute beschäftigen: Imperium gehörten auch Stapel von Ma- π Hat der Schriftsteller Günter Wallraff gnetbändern aus der Computer-Steinzeit. unter dem Decknamen „Wagner“ von Doch auf den diskusgroßen Spulen schien 1968 bis 1971 für die HVA spioniert, wie zumeist gar nichts oder allenfalls Wirres es Dokumente nahelegen – oder stimmt gespeichert zu sein. sein Dementi? Am Tag vor Heiligabend stöbert ein ehe- maliger DDR-Telefontechniker, jetzt in HVA-Magnetbänder in der Gauck-Behörde Diensten der Gauck-Behörde, mal wieder „Erfolge bei der Lesbarmachung“

32 der spiegel 3/1999 π Gab es im Umfeld des toten schleswig- holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel (CDU) tatsächlich eine ganze Reihe ostdeutscher Agenten? π Geriet der „Konkret“-Herausgeber Her- mann Gremlitza zu Unrecht unter Spio- nageverdacht? π Was taugen Hinweise, daß Alois Ester- mann, im Mai vergangenen Jahres er- schossener Kommandeur der Schweizer Garde im Vatikan, seit 1979 unter dem Decknamen „Werder“ für Ost-Berlin ar- beitete? Der Papst wartet auf Klärung. π Wußte der Ex-General und spätere Grü- nen-Politiker Gert Bastian, daß die Sta- si Anfang der achtziger Jahre der Pazi- fistengruppe „Generäle für den Frieden“ 100000 Mark per anno zahlte – und hat er sich, wie fünf Jahre nach seinem Tod kurzerhand behauptet wurde, dafür er- kenntlich gezeigt? Schlagartig wurde der Abteilung AR 7 eine nie gekannte Aufmerksamkeit zuteil. In aller Eile mühte sich die Behördenlei- tung in der vergangenen Woche um mo- dernste Hardware mit hohen Speicherka- pazitäten. Geld spielt keine Rolle mehr. Und plötzlich interessieren sich auch il- lustre Herrschaften für die Arbeit des Re- ferats: Generalbundesanwalt Kay Nehm

Computeranlage der HVA (1987) „Vertuschungsversuch gescheitert“

entsandte vergangene Woche einen seiner Staatsanwälte; Peter Frisch, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, melde- te sich bei Behördenchef Joachim Gauck. Für diese Woche hat sich sogar Besuch aus dem Bonner Kanzleramt angesagt: Ge- heimdienstkoordinator Ernst Uhrlau will den Trupp von AR 7 aufsuchen. Für Bun- deskanzler Schröder bahnt sich wohl eine „Chefsache Ost“ der ganz besonderen Art an, für die sich auch US-Präsident Bill Clin- ton brennend interessieren dürfte. Denn der Schatz von AR 7 wird die Po- sition der Deutschen gegenüber den USA gewaltig stärken. Endlich hat Bonn ein Faustpfand für die bisher unerquicklichen Verhandlungen mit den USA. Seit Jahren

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. versuchen Sicherheitsbehörden und Re- 33 Titel gierung vergebens, zumindest eine Kopie DDR-Spionage – in Westdeutschland eben- Aufklärung“, im Dienstgebrauch „Sira“ ge- der vom amerikanischen Geheimdienst so wie im Rest Europas und in Übersee. nannt, birgt das Inhaltsverzeichnis der ge- CIA kurz nach der Wende geraubten HVA- Der 1951 gegründete Auslandsnachrich- samten DDR-Spionage von 1969 bis 1987. Zentralkartei („Operation Rosenholz“) zu tendienst der Stasi gilt bei Experten bis Kurzbeschreibungen der brisantesten Be- bekommen. Jetzt haben sie Gleichwerti- heute als einer der effizientesten der Bran- richte und der gelieferten Geheimdoku- ges zu bieten (siehe Seite 40). che – nicht nur, weil es ihm gelang, mit mente von rund 4500 Agenten speisten die Die USA haben dank „Rosenholz“ zwar Günter Guillaume einen Spion im Bonner Stasi-Offiziere in die interne Datenbank den Schlüssel, die Deutschen halten aber Kanzleramt zu plazieren. Ungezählte Ge- ein – insgesamt 180564 Datensätze. das Schloß in der Hand: Die Amerikaner heimnisse, die die „Kundschafter an der Erstmals liegt eine komplette Übersicht besitzen eine Kartei mit Klar- und Deck- unsichtbaren Front“ ihrem Chef Wolf mel- vor, welcher Spion wann was verraten, wer namen der DDR-Agenten. Aus ihren Un- wen bespitzelt hat. Welche Agen- terlagen geht aber nicht hervor, was die 4500 Agenten lieferten ten berichteten über Kanzler Spione tatsächlich geliefert haben. Die Kohl, wer schnüffelte bei der Deutschen verfügen über eine fast voll- insgesamt 180 564 Informationen Nato, wer beschaffte Blaupausen ständige Datei der Spionagevorgänge – ab- bei der deutschen Großindustrie. rufbar unter den Decknamen der Agen- deten, sind bis heute unbekannt. Auch nach Sira liefert die Auskunft. ten. Beides zusammen macht die HVA Tausenden Ermittlungsverfahren und höch- Zum ersten Mal können die deutschen vollkommen durchsichtig. Angesichts der sten Anstrengungen der westlichen Ge- Sicherheitsbehörden nun auch feststellen, neuen deutschen Materialfülle dürfte die heimdienste blieb die Arbeit der Wolf- welche Geheimnisse Ost-Berlin an das CIA wohl zur Zusammenarbeit bereit sein. Truppe Mythos und Mysterium. KGB weitergab: Fast jede zweite Informa- Aber auch ohne Hilfe des großen Nato- Damit ist es jetzt vorbei. Die vier Ma- tion ging an den sowjetischen Geheim- Partners erlaubt der Fund, kombiniert mit gnetbänder bieten nicht nur ein „Who dienst. Selbst so exotische Ostblockländer bisher entdeckten Aktenresten, erstmals die is Who“ der HVA-Quellen. Die Daten- wie Kuba wurden bisweilen bedient. detailgenaue Rekonstruktion der globalen bank „System, Information, Recherche der Zwar sind Berichte und Dokumente nicht in voller Länge abgespeichert, sondern nur in Form einer Kurzbeschreibung. Das ist so, Späher im Westen In der Bundesrepublik enttarnte DDR-Agenten als seien aus einer Bibliothek zwar alle Bücher verschwunden, ein ausführliches Inventarverzeichnis aber wiedergefunden worden – was eine vollständige Rekon- struktion des Bestands ermöglicht. Damit ist die Datensammlung auch ohne große Quervergleiche für die jüngste Ge- schichtsschreibung von unschätzbarem Wert. „Der Versuch, die Arbeit der HVA zu vertuschen“, sagt Gauck-Behördenleiter Peter Busse, „ist endgültig gescheitert.“ Aber nur manche, die für die DDR spio- nierten und unenttarnt blieben, müssen heute noch zittern. Spionagedelikte sind verjährt. Nur wenn sich der besonders schwerwiegende Tatbestand des Landes- verrats nachweisen läßt, drohen ihnen noch Verfahren. Denn Landesverrat ist noch nicht verjährt. Vorsorglich sichtet der Generalbundesanwalt schon alte Verfah- rensakten. Und je mehr neue Details auftauchen, desto heftiger wird die Diskussion um Am- nestie und Schlußstrich unter die DDR- Geschichte werden. Denn die spektakulären Bänder tauchen AP J. H. DARCHINGER J. just in dem Moment auf, da sich das neue Flick-Lobbyist Kanter Kanzleramtsreferent Guillaume (mit Kanzler Brandt) Deutschland anschickt, die DDR ein für allemal zu begraben, um sie schleunigst zu vergessen. Gleichsam als Geschenk zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls verlangt die PDS, daß Ostspione umgehend in den Genuß einer Amnestie kommen mögen. Brandenburgs Ministerpräsident Man- fred Stolpe (SPD) findet die vom Theolo- gen Friedrich Schorlemmer propagierte Amnestie-Idee schlicht „großartig“. In sei- ner umstrittenen Paulskirchen-Rede hat sich der Autor Martin Walser gar für eine Begnadigung des einstigen Spitzenspions „Topas“ alias Rainer Rupp ausgesprochen. J. H. DARCHINGER J. DPA So schnell, wie sich die PDS es wünscht, SPD-Fraktionsgeschäftsführer Wienand SPD-Pressereferent Michels dürfte sich die Grabplatte wohl nicht über

34 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite DER SPIEGEL Der Apparat Hauptverwaltung Aufklärung, Stand: 1989 35. Jahrestag des MfS (1985), in der Mitte Erich Mielke

Leiter der HVA und Stellvertreter des MfS-Ministers Erich Mielke: 1. Stellvertreter Stellvertreter und Stellvertreter Stellvertreter Stellvertreter Generaloberst Generalmajor Leiter des Stabes Oberst Ralf-Peter Generalmajor Generalmajor Werner Großmann Horst Vogel Generalmajor Devaux Heinrich Tauchert Werner Prosetzky Heinz Geyer

Quelle: Gauck-Behörde diesen Teil der DDR-Vergangenheit sen- Garzau hatten Soldaten Datenträger si- stellte, fürchteten die EDV-Spezialisten ken. Denn eine seriöse Debatte über Am- chergestellt und dem Militärischen Ab- Pannen und zogen Sicherungskopien. Sira nestie wird sich erst führen lassen, wenn schirmdienst der Bundeswehr übergeben. existierte also gleich zweimal. Daran hat klar ist, welche Geheimnisse die Magnet- Auf ihnen fand sich eine Aufstellung, wel- sich in den turbulenten Tagen der Wende bänder noch bergen. cher HVA-Offizier für welche Spionage- wohl niemand mehr erinnert. Ohnehin löst die Meldung von der ge- vorgänge zuständig war. Hektisch mühte sich die Gauck-Behör- knackten Sira-Datei nicht nur Jubel aus. Schon damals hätte den Sicherheits- de in der vergangenen Woche zu klären, Der Geniestreich des Telefontechnikers behörden die Bedeutung der EDV klar- warum die brisanten Daten so lange un- macht Sira auch zum Synonym des Versa- werden müssen: Wie keine andere Abtei- entdeckt blieben, wann und wie die Sira- gens beider deutscher Staaten: Die DDR lung der Stasi hatte die Westtruppe bereits Bänder in ihren Besitz gelangten. glaubte, das elektronische Spionage- seit den siebziger Jahren an einem elek- Ganz einfach ist das nicht. Insgesamt la- gedächtnis sei unwiderbringlich gelöscht tronischen Archiv gearbeitet – und dabei gern im Gauck-Archiv 10876 Magnetplat- worden; die Bundesrepublik schaffte es in irgendwann den Überblick verloren. ten und -bänder. Tausende davon waren zehn Jahren nicht, den Wert der Stasi-Hin- Denn während den HVA-Auflösern die während der Auflösungsphase zur Weiter- terlassenschaft zu erkennen. Vernichtung von Millionen Seiten Doku- verwendung an DDR-Unternehmen wie Dabei hatte, als sich der Arbeiter-und- menten gelang, patzten sie bei der Soft- die Interflug übergeben worden. Etliche Bauern-Staat auflöste, die HVA mit der hatten sich die westdeutschen Ge- Bürgerbewegung Sonderkonditionen aus- In der turbulenten Wendezeit heimdienste gegriffen und kon- gehandelt. Während Bürgerrechtler die trolliert. Immer wieder stellte sich verhaßte Stasi-Zentrale stürmten und jede erinnerte sich keiner an die Kopien dabei heraus, daß weder die Sta- weitere Aktenvernichtung stoppten, durf- si-Einheiten noch die scheinbar te die Auslandsspionage ihr Archiv mit Zu- ware. Offenbar ging das Räumungskom- perfekte HVA in der Eile alles getilgt hat- stimmung der friedlichen Revolutionäre in mando beim Löschen der Bänder streng ten: Mal fanden sich Datenschnipsel, mal eine Dependance auslagern. nach einer internen Inventurliste („Daten- ganze Dateien. 2300 Magnetbänder („Tech- Hier liefen bis zum 9. April 1990 von trägerverwaltungsprogramm“) vor. Fast nische Unterlagen des MfS“) lieferte al- 7 Uhr morgens bis 22 Uhr die Schredder. alle registrierten Kopien, das Kürzel „OA“ lein das Bonner Innenministerium, Dienst- Dann meldete der letzte Kommandant, wies sie als HVA-Bestand aus, wurden mit herr der Verfassungsschützer, an Gauck Oberst Bernd Fischer, Vollzug: Sämtliche Datenmüll überspielt. Vernichtet wurden zurück. Spuren seien getilgt. die Magnettrommeln nur selten – sie wa- Die Stasi-Jäger begriffen jedoch nicht, Als nach der Einheit die Jagd auf die ren teure Mangelware in der DDR. daß die technisch so rückständige Ost-EDV Agenten begann, half schon einmal, 1992, Die jetzt entschlüsselten Sira-Speicher dennoch eine Schatztruhe von höchstem ein Magnetband weiter. In einem atom- waren allerdings nicht registriert. Als die Wert war. Und auch die Gauck-Behörde bombensicheren Bunker der Nationalen HVA ihr Programm 1987 von einem Sie- steht in der Angelegenheit – trotz des spä- Volksarmee (NVA) im brandenburgischen mens-Großrechner auf DDR-Technik um- ten Erfolgs – nicht gerade strahlend da.

36 der spiegel 3/1999 Titel

Busse räumt ein, daß „aus heutiger Sicht sich keine große Mühe bei der Codierung Im Gegensatz zur planlosen Sammelwut ein konzentrierter Einsatz von Experten gegeben, schließlich waren die Bänder da- von Mielkes Stasi wurde im Elektronen- sicher schneller zu diesem Ergebnis geführt mals nur wenigen Spezialisten zugänglich. hirn der HVA nur Wertvolles gespeichert. hätte“. Diese habe es in seiner Behörde Zum Schutz vor internem Mißbrauch hat- Eine erste Qualitätsanalyse bei der Sach- aber nun mal nicht gegeben. ten Wolfs Männer die unterschiedlichen recherche ergab, daß die Wolf-Truppe Hun- Am 2. August 1993 bat die Behörde die Datenfelder rein vorsorglich mit verschie- derte Dokumente, und damit so ziemlich Bundeswehr um eine Überprüfung der Ma- denen Methoden codiert. jedes Detail, kannte, was in der Bundes- gnetspeicher. Bonn ordnete per „Amtshil- Eines Tages tauchten im Archiv überra- republik im Krisenfall geschehen würde. fevereinbarung“ ehemalige Spezialisten schend Sira-Codetabellen für einen soge- Noch dauert eine Sira-Abfrage etwa 45 der Nationalen Volksarmee ab und stellte nannten 6-Bit-Schlüssel auf: der Dietrich Minuten, manchmal auch länger. Die bisher den letzten verbliebenen DDR-Großrech- zum letzten großen Geheimnis der DDR. in der Gauck-Behörde eingesetzten Rech- ner zur Verfügung. Das Modell „Eser“ war Pünktlich zu Weihnachten war es soweit. ner sind träge, noch lahmer sind nur die im Rechenzentrum der ehemaligen DDR- Schon ein erster Probelauf in Raum 607 Drucker. Mit der in dieser Woche anste- Luftwaffe installiert, einer unscheinbaren zeigte die Dimension: Um die Arbeit eines henden Aufrüstung auf Spitzenniveau wird Baracke mit Teerdach in Eggersdorf, kaum Spions zu dokumentieren, gab der Tüftler die systematische Auswertung von Sira er- eine Autostunde von Berlin entfernt. den Tarnnamen eines Agenten ein, über heblich beschleunigt. Hier sollten alle Bänder grob gesichtet den derzeit im Deutschen Bundestag ge- Daß die deutsch-deutschen Verstrickun- und in die Kategorien „leer“, „gelöscht“ stritten wird: „Topas“ alias Rainer Rupp. gen und das brisante Wissen des Ostens und „auswertbar“ eingeteilt werden. Die über den Westen weitgehend im Arbeit ging nur schleppend voran – das dunkeln blieben, war manchem Ungetüm Eser, eine Gemeinschaftspro- in Bonn nur recht. 1994 brachte duktion des Ostblocks, fiel ständig aus. Kohls Regierung sogar eigens ei- Hinter der hochglänzend blau-weiß nen Gesetzentwurf ein, der Sta- lackierten Fassade fand sich ein Sammel- si-Offiziere und ihre Quellen un- surium: Die Plattenlaufwerke stammten ter Strafandrohung am Aus- aus Bulgarien, die Drucker aus Polen, die plaudern pikanter Interna hin- Bänder vom Filmkombinat Orwo – Er- dern sollte. Das Vorhaben schei- satzteile waren schwer zu beschaffen. terte an juristischen Bedenken. So manchem in der Gauck-Behörde ging Schon jetzt gibt Sira Tag für dieser Aufwand schon bald zu weit: Im- Tag neue Geheimnisse preis. mer wieder intervenierte die Zentrale Etwa Details über den Referats- Verwaltungsabteilung der Behörde: Die leiter im brandenburgischen Ju- Sucherei bringe doch ohnehin nichts. Den stizministerium Henning Nase Bürokraten erschien es auch nicht sonder- („Dorn“), der womöglich wie- lich sinnvoll, Bundesbeamte in Zirndorf der um seinen Job fürchten muß. bei Nürnberg zerrissene Einzeldokumente Ein Ermittlungsverfahren gegen zusammenpuzzeln zu lassen. ihn war gegen Zahlung von Tatsächlich blieb der Lohn der Mühe be- 200000 Mark eingestellt worden. scheiden: 368 Magnetbänder wurden bis Nase hatte eine persönliche Er- Mai 1997 so weit bearbeitet, daß sie auf ei- klärung abgegeben, die von den

nem normalen PC zu lesen waren. Aber BECKER & BREDEL Richtern als Geständnis gewertet nur bei 57 gelang es, die Daten zu bergen. Freigänger Rupp: 1037 Meldungen von „Topas“ wurde. Im anschließenden Dis- So fanden sich eine Aufstellung westli- ziplinarverfahren widerrief er je- cher Nachrichtensatelliten und ihrer Posi- Der ehemalige Angestellte im Wirt- doch, bekam seinen Job und sogar die tionen im Orbit, Dateien abgehörter Funk- schaftsdirektorat der Nato in Brüssel galt gekürzten Bezüge zurück. Jetzt werden sprüche und eine Übersicht weltweit agie- als Juwel der HVA. Erst 1993 wurde Rupp „Dorns“ 113 Einträge überprüft. render Rüstungsfirmen. Aber im dunkeln enttarnt und zu 12 Jahren Haft verurteilt. Auch Bernd Michels, früherer Presse- blieb, was wirklich interessierte – das Ge- Seit Dezember ist er Freigänger mit pikan- referent der schleswig-holsteinischen SPD, dächtnis der HVA.Und das, obwohl Gauck ter Mission: Die marketingkundige Bonner ist bei Sira bekannt. 1996 wurde Michels zu sogar das Bundesamt für Sicherheitstech- PDS-Fraktion hat den heimlichen Helden 18 Monaten auf Bewährung verurteilt. Un- nik mit seinen Computerexperten und der DDR als Berater für außen- und si- ter seinen 170 Einträgen findet sich auffäl- Kryptologen einschaltete. cherheitspolitische Fragen verpflichtet. lig oft der Name Uwe Barschel. Ende 1997 wurde das Bundeswehrpro- Mit Rupps Resozialisierung wird es nach Natürlich gibt es zum ewigen Mysterium jekt beendet, der Großrechner stillgelegt. dem Sira-Befund allerdings nicht einfacher: Karl Wienand ebenfalls Neues. Ist der ehe- In der Gauck-Behörde begann eine leb- Daß „Topas“ zu den Spitzenquellen gehör- malige SPD-Fraktionsgeschäftsführer und hafte Diskussion, ob man den vermeintli- te, ist bekannt; daß er aber gleich 1037 Do- Vertraute Herbert Wehners tatsächlich nur chen EDV-Schrott nicht einfach wegwer- kumente verriet, viele mit der höchsten abgeschöpft worden, wie er unermüdlich fen solle. Doch einige Ahnungsvolle setz- Geheimhaltungsstufe, ist neu. beteuert – oder ist das vom Oberlandesge- ten sich durch: Das Material könne noch Die Staatsgeheimnisse des Westens sind richt Düsseldorf verhängte Urteil (zwei- manch brisantes Geheimnis bergen. so präzise katalogisiert, daß „Topas“, wäre einhalb Jahre Haft) doch berechtigt? Im Frühjahr 1998 wurden die Bänder in Sira schon 1990 aufgetaucht, nicht erst 1993 Wienand, der aus gesundheitlichen das Berliner Zentralarchiv zurückgebracht. enttarnt worden wäre. Gründen gerade ein Gnadengesuch an den Der Telefontechniker, der schon beim Was die HVA so alles über westdeut- Bundespräsidenten gerichtet hat und sich Sturm der Bürgerrechtler auf die Stasi- sche Politiker sammelte, zeigte sich am Bei- um die Wiederaufnahme seines Prozesses Zentrale dabeigewesen war, tüftelte ver- spiel eines Berliner Spitzenfunktionärs der bemüht, ist als Lieferant von 393 Informa- bissen weiter – unterstützt von einem der CDU: Mehr als hundert Meldungen, säu- tionen im System verzeichnet – immer ehemaligen NVA-Spezialisten. berlich nach abliefernder Quelle sortiert, wieder auch zu SPD-Spitzenpolitikern. Nach und nach gelang es ihnen, die Sira- finden sich im Elektronenhirn. Bonner Bei Sira gut vertreten ist auch Adolf Dateien zu entschlüsseln. Die HVA hatte Größen bringen es auf ein Vielfaches. Kanter, ein alter Vertrauter Helmut Kohls

der spiegel 3/1999 37 Titel und ehemaliger Flick-Lobbyist. Er leitete in bungen von Dokumenten und Berichten, diesem Bereich jede Kooperation katego- Bonn die „Politische Stabsstelle der Ge- welche die für die Spionage in Nord- risch verweigern, argwöhnen deutsche Si- schäftsführung“ des Konzerns und war in amerika und die deutschen US-Einrich- cherheitsexperten, daß mancher ehemali- der Bundesrepublik für die Pflege der Par- tungen zuständige Abteilung XI einspei- ge HVA-Spion den Arbeitgeber gewechselt teienlandschaft mit Barem zuständig. Den ste. Das dürfte CIA und FBI brennend in- hat und nun für die USA schnüffelt. anderen deutschen Staat belieferte er mit teressieren. Selbst Industrieunternehmen dürften Nachrichten. Gleichsam als Köder und Demonstra- sich für die heißen Bänder des Markus Unter dem Tarnnamen „Fichtel“ war tion der neuen Stärke sollen jetzt die Wolf interessieren. Denn es ist nicht aus- Kanter Wolfs dienstältester Späher. Er Amerikaner über die 33 registrierten Sira- geschlossen, daß sich in den Gewölben der begann damit 1948, kam 1995 im Prozeß Meldungen informiert werden, die James Stasi-Archive noch weitere brisante Daten aber mit zwei Jahren auf Bewährung Michael Clark („Jack“) mit Hilfe eines finden lassen. davon. Spionagerings aus dem US-Verteidigungs- Schon sind erste sogenannte Sira-Teil- Was er wirklich verraten hatte, war bis- ministerium beschaffte. Clark wurde Ende datenbanken aufgetaucht, eine beispiels- lang nur zu erahnen. Sira weiß es zumin- weise über den Sektor Wissen- dest ab 1969 genau. Kanter hat mehr als Die Dateien dürften CIA und FBI schaft und Technik, der Wirt- 1000 Einträge, etliche davon zur Flick-Af- schaftsspionage für die DDR be- färe und zu Kohl. brennend interessieren trieb. Für diese Abteilung existiert Mit dem Wissen von Sira wären die ins- auch eine IM-Registrierung für gesamt 1553 eingeleiteten Strafverfahren Dezember schuldig gesprochen, das Straf- den PDS-Parteichef Lothar Bisky. Der de- gegen die Spione der DDR oftmals anders maß steht noch nicht fest. mentiert jede Stasi-Verstrickung. verlaufen: Nur 181 wurden überhaupt ver- Zugleich muß der US-Geheimdienst um Nach dem Volltreffer des Telefontechni- urteilt, meist zu milden Strafen. Denn was sein bisher exklusives Wissen über das Trei- kers werden die Magnetbänder und Dis- wirklich verraten wurde, ließ sich fast nie ben der HVA in aller Welt fürchten. In Län- ketten ausgewertet. Etliche für immer ver- nachweisen. dern wie Syrien, Jemen, dem Irak und et- schwunden geglaubte Geheimnisse der Sta- Von erheblicher Bedeutung ist der Fund lichen anderen sozialistischen Regimen si werden sich dort allemal noch finden. für das Verhältnis Deutschlands zu den hatte Wolf seine Kundschafter plaziert. Allein der Traum, in Zimmer 607 den Amerikanern. Die Bittsteller aus dem Auch Bewegungen wie Arafats PLO gesamten HVA-Aktenbestand auf EDV zu Kanzleramt, die bislang höflich, aber ver- oder der südafrikanische ANC wurden be- finden, gilt noch als zu kühn. Sonst ist al- gebens um eine Kopie der geraubten obachtet. Etliche der Agenten warb die les möglich. HVA-Agentenkartei nachsuchten, verfü- HVA während ihres Studiums in der DDR Georg Mascolo, Heiner Schimmöller, gen nun allein über 11 107 Kurzbeschrei- an. Da die amerikanischen Behörden in Hajo Schumacher

Ein fröhlicher Jäger Seine Spione kämpften an der „unsichtbaren Front“, daheim sorgte er für gute Laune: Stasi-Chef Mielke FOTOS: DER SPIEGEL FOTOS: Mit geschenktem Jagdgewehr am 60. Geburtstag (1967) Bei einer Traditionsveranstaltung des BFC Dynamo (1987)

Feier zum 20. Jahrestag des MfS in Ulbrichts Arbeitszimmer (1970) Ernennung von Generälen in Honeckers Arbeitszimmer (1989)

38 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite Gebäude der HVA

ULLSTEIN BILDERDIENST Ehemaliger Stasi-Gebäudekomplex in Berlin-Lichtenberg (1995): Die HVA als Elite in Mielkes Schattenreich Das Ende einer Legende Als die DDR unterging, versuchten Offiziere der HVA, möglichst alle Dokumente, Dateien und Akten spurlos verschwinden zu lassen. Sie wollten ihre Spione im Westen vor Enttarnung schützen. Doch bei der „Operation Reißwolf“ unterliefen ihnen verhängnisvolle Fehler. m Abend des 3. Oktober 1990, dem die Zelle aus: knapp vier mal elf Schuh- Hektar großen Areals. Die Vopos hatten Tag der Wiedervereinigung, saß längen, Größe 42. die DDR-Embleme von ihren Uniformen ABernd Fischer vor dem Fernse- Fischer wußte, daß sein ehemaliger Chef abgetrennt – der Arbeiter-und-Bauern- her. Der Nachrichtensprecher meldete, Großmann ebenfalls in einer der Zellen Staat war nach 40 Jahren, 11 Monaten und Werner Großmann, der ehemalige Chef des düsteren wilhelminischen Baus saß. 26 Tagen verendet. der DDR-Auslandsspionage, sei verhaftet Er wußte auch, daß Markus Wolf, der Die HVA hatte sich unter Markus Wolf worden, und Fischer ahnte, was ihm be- langjährige Leiter der für die Auslands- zu einem Geheimdienst entwickelt, dem vorstand. spionage der DDR zuständigen Hauptver- sogar die westliche Konkurrenz Respekt Ein knappe Stunde später bekam er Be- waltung Aufklärung (HVA), sich gerade zollte. Besonders in England und den USA such in seiner Wohnung in Berlin-Karls- nach Moskau abgesetzt hatte. wurde „Mischa“ Wolf – zuletzt im Rang horst. Der Erste Kriminalhauptkommissar Am Tag der Wiedervereinigung ließ die eines Generaloberst und Stellvertreter Ostermann hatte zur Verstärkung 14 Be- Bundesanwaltschaft nicht nur die ehema- Erich Mielkes – als „Man without face“ amte von Staatsschutz und Bundesgrenz- ligen HVA-Offiziere Fischer und Groß- zur Legende. Erst 1978 gelang es westli- schutz mitgebracht. Sie verhafteten Fischer mann verhaften, der West-Berliner Innen- chen Aufklärern, den Sohn des Schriftstel- wegen des Verdachts auf geheimdienstli- senat schickte auch etliche Polizisten zur lers Friedrich Wolf und Bruder des Filmre- che Agententätigkeit. Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Sie gisseurs Konrad Wolf in Stockholm heim- Der Oberst a. D. landete in einer Ar- übernahmen dort das Kommando, bildeten lich zu fotografieren. restzelle der West-Berliner Kriminalpoli- mit ehemaligen DDR-Volkspolizisten ge- Die HVA verstand sich als Elite in Miel- zei. Um sich die Zeit zu vertreiben, maß er mischte Einheiten zum Schutz des vier kes Schattenreich, ihr folgenreichster Coup

40 der spiegel 3/1999 Titel war die Einschleusung Günther Guillaumes wie Markus Wolf, gab es tatsächlich relativ tauchten HVA-Datenbank könnten es we- (Deckname „Hansen“) in das Bonner wenige Überläufer. Auch die Operation sentlich mehr gewesen sein. Kanzleramt. Seine Entdeckung im April Reißwolf schien zunächst erfolgreich ab- Ein Drittel von ihnen saß in der staatli- 1974 zog den Rücktritt Willy Brandts als geschlossen worden zu sein. chen Verwaltung sowie in Parteien und im Bundeskanzler nach sich. Doch 1992 fanden sich in einem atom- Militär, zwei Drittel arbeiteten in der Wirt- Bernd Fischer versorgte zuletzt als Leiter bombensicheren Bunker bei Garzau, den schaft, in der Wissenschaft, in Medien und der Abteilung I, „Aufklärung des Staatsap- die Bundeswehr von der Nationalen Volks- Verbänden. Im Rest der Welt verfügte die parates der BRD“, seinen Minister Mielke armee übernommen hatte, aufschlußrei- HVA über weniger Kundschafter als im und Erich Honecker mit Neuigkeiten aus che Datenträger aus dem Bestand der „Operationsgebiet“ Bundesrepublik. den Bonner Ministerien.Als der Kalte Krieg HVA. Dann stellte sich heraus, daß die Nicht nur die HVA-Offiziere, sondern mit der Implosion des realen Sozialismus CIA in den Besitz hochbrisanter Materia- auch die meisten Kundschafter gaben sich SYGMA / SIPA SICHOV Sturm auf die Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990: Die HVA-Offiziere stellten sich auf eine gezielte Invasion ein endete, übernahm er am 1. April 1990 die lien gelangt war. Schließlich konnte jetzt bis zum Schluß überzeugt, für eine gute Sa- Aufgabe, die HVA vollständig aufzulösen. auch die Gauck-Behörde noch ein auf che zu arbeiten. Gleichwohl zettelten die Das Ziel der Abwicklung war klar um- Magnetbändern vergessenes Informations- Agenten bei konspirativen Treffen immer rissen: Alle „Kundschafter an der unsicht- system decodieren. häufiger politische Diskussionen mit ihren baren Front“, die zum Teil über Jahr- Mit diesen ungewollten Hinterlassen- Führungsoffizieren an. Warum die DDR zehnte Geheimes beschafft und nach Ost- schaften lassen sich neun Jahre nach dem nicht Gorbatschow und seiner Perestroika Berlin weitergeleitet hatten, sollten vor Sturm der Bürgerbewegung auf die Stasi- folge, fragten die Spione. „Sind Sie eigent- Enttarnung und Verurteilung bewahrt Zentrale die Arbeitsweise der HVA rekon- lich bescheuert?“ habe ihn ein Kundschaf- werden. Deshalb mußten sämtliche struieren, der Aufbau ihres Apparats nach- ter angegangen, erzählt Fischer. „Sie sind verräterischen Unterlagen vernichtet, die zeichnen und die Lieferungen ihrer Agen- Oberst, und Sie folgen den Befehlen Miel- noch bestehende HVA-Truppe aufgelöst ten nachvollziehen. Die legendäre Truppe kes, eines 82jährigen Mannes? Das ist doch und gleichzeitig beieinandergehalten wer- von Markus Wolf ist entzaubert. nicht normal.“ den – denn in den turbulenten Monaten Die HVA-Obristen waren Profis in ihrem der Wende lockten westliche Geheim- Gewerbe, sie konnten sich vieles vorstel- dienste Überläufer mit lukrativen Offer- Kundschafter im Westen len, nur den Zusammenbruch des soziali- ten. Eine Million „Deutschmark“ bot die Im Herbst 1989 verfügte die HVA über stischen Lagers nicht. Für den Kriegsfall amerikanische CIA einem für sie beson- 4328 Planstellen, davon waren 4126 be- verfügten das Stasi-Ministerium und die ders interessanten HVA-Offizier. setzt. Der Apparat war um rund ein Drit- HVA über Pläne, wie die Spionage von Um den erfolgreichen Geheimdienst tel kleiner als der des BND in Pullach bei Ausweichquartieren aus fortzuführen sei. möglichst spurlos verschwinden zu lassen, München. Er umfaßte die Zentrale in Ber- Die Agentenführer und die wichtigsten Ak- mußten Hunderttausende von Karteikar- lin-Lichtenberg, die Mitarbeiter in drei ten sollten dorthin ausgelagert werden. Die ten und noch mehr Akten in die Reißwöl- Stützpunkten in Berlin und im Umland HVA ließ sogar Aufmarschübungen für ei- fe geschoben, Dateien gelöscht und Da- sowie die HVA-Abteilungen XV in den nen Atomkrieg durchführen, doch ein Fall tenträger vernichtet werden. insgesamt 15 Stasi-Bezirksverwaltungen war nicht eingeplant – daß die DDR ohne Nichts sollte in die Hände der gegneri- der DDR. große äußere Feindeinwirkung einfach zu- schen Dienste fallen – ein letzter Triumph Wie viele „Kundschafter“ Ende der sammenbrechen könnte. über den Klassenfeind, über seine Richter achtziger Jahre in der Bundesrepublik für Im Oktober 1989 jedoch erkannte die und Staatsanwälte, den BND und den Ver- die HVA arbeiteten,ist bis heute nicht end- HVA-Führung den Ernst der Lage. „Wir fassungsschutz sollte es werden. gültig geklärt. Wolf und Großmann gaben hatten diese Massen von Papier“, berichtet Dank des elitären Korpsgeists der HVA, zu Protokoll, es seien 400 gewesen. Nach Großmann, der Wolf nach dessen Rück- den keiner so klangvoll beschworen hatte der ersten Auswertung der neu aufge- tritt 1986 nachfolgte. „Wir fragten uns, wie

der spiegel 3/1999 41 Titel die ausgelagert werden sollten, falls sich Modrow die Genehmigung, auch dort ihre die Lage zuspitzt.“ Nach einer Bespre- Spuren zu beseitigen. Als das Jahr 1989 zu chung mit den Abteilungsleitern beschloß Ende ging, waren rund 500000 Karteikar- man „Ausdünnung“. ten aussortiert und zerhäckselt. Wie jede ordentliche deutsche Behörde Die 20 Abteilungen der HVA verfügten hatte die HVA Unmengen Papier produ- zumeist über je fünf Reißwölfe, in der Re- ziert: Arbeitspläne, Statistiken, Befehle gel automatische, in West-Berlin beschaff- oder Vorschriften, Parteiakten – eher für te japanische und amerikanische Modelle. Historiker interessantes Material. Damit ließen sich Karteikarten und Akten Spannend für feindliche Geheimdienste schreddern. Zum Problem wurde das Ver- und westdeutsche Strafverfolger waren die kollern – wenn die Papierstreifen zu Pa- Berichte und Arbeitsakten der Kundschaf- piermehl vermahlen und mit Wasser zu ei- ter. Diese Akten machten ein gutes Drittel nem Brei aufbereitet werden sollten. des gigantischen Papierbergs aus, schät- Die Anlage stand im Keller und war vor- zungsweise 4000 Leitz-Ordner oder etwa sintflutlich. Alle paar Wochen mußte sie 300 laufende Meter. Solche „aktiven Sa- wieder repariert werden, weil sie nicht chen“ lagen in den Stahlschränken der Mit- mehr funktionierte. In den Zimmern, Vor- arbeiter, die Kundschafter führten, oder zimmern, in Fluren und Kellern häuften beim Referatsleiter. sich deshalb Säcke mit gehäckseltem

Die HVA hatte drei Datensammlungen Material an. (li.); DER SPIEGEL (re.) H. HÖRSELJAU angelegt. Nur aus ihrer Kombination er- Für technische Geräte aus dem Arsenal Stasi-Reißwolf, zerhäckselte MfS-Akten (in Gera): schloß sich das gesamte Wissen über einen der HVA hingegen fanden sich dankbare Agenten. Sie lagen im Referat 7, verant- Abnehmer.Wertvolle Apparaturen aus der schenblock entgegenzustellen und passi- wortlich für Registrierung.Auf gelben Per- Funkzentrale in Gosen, aber auch Stem- ven Widerstand zu leisten. sonenkarten der F-16-Kartei waren bei- pel, Blankodokumente oder Unterschrif- Die HVA war zu diesem Zeitpunkt spielsweise auch die Klarnamen von Ku- tenproben der Dokumentenabteilung – sie schon entwaffnet. Zwar hatte Mielke am rieren und Quellen verzeichnet.Von diesen fälschte alles, was die Kundschafter be- 8. Oktober 1989 den Befehl ausgegeben, Karten wurden jeweils gekürzte Zusam- nötigten – erhielt der sowjetische Bruder- „die Waffe ständig am Mann führen“ – zu- menfassungen im zentralen Archiv des MfS dienst. HVA- und MfS-Mitarbeiter de- sammen mit ihrem Wachregiment Feliks eingelagert. ponierten dieses Erbe in versiegelten Räu- Dzierzynski standen der Stasi insgesamt Im Oktober 1989 hatten die Mitarbeiter men der KGB-Residentur in Berlin-Karls- 124593 Pistolen und Revolver nebst 76592 in den operativen HVA-Abteilungen damit horst. Die wertvollen Utensilien wurden Maschinenpistolen zur Verfügung. Doch begonnen, die Aktenberge zu verkleinern. in Container verladen und nach Moskau Mitte Dezember waren die MfS-Leute auf Eile war geboten, in Frankfurt (Oder) be- geflogen. Anordnung der Regierung unter Hans lagerten Demonstranten schon im No- Akute Gefahr für die Aktion Selbstauf- Modrow aufgefordert worden, sämtliche vember die Bezirksverwaltung, in der auch lösung drohte erst, als am 15. Januar 1990 Schußwaffen abzuliefern. eine HVA-Abteilung residierte. Aktivisten der Bürgerbewegung zum Die HVA-Offiziere in der Ruschestraße Jetzt nahmen sich die HVA-Männer das Sturm auf das weitläufige MfS-Gelände an rechneten mit einer gezielten Invasion der eigene Archiv vor. Es war in der HVA-Zen- der Normannenstraße aufriefen. Von der geheimdienstlichen Heiligtümer wie den trale untergebracht und existierte im De- HVA hielten sich etwa 120 Leute dort in Aktendepots und der Kommunikations- zember 1989 nur noch in Gestalt von Pa- ihren Gebäuden auf. Großmann und die zentrale. Die Masse der Demonstranten je- pierstreifen. amtierende Leitung der HVA setzten sich doch stürmte durch das Tor geradewegs Schwieriger war es mit dem Zentralar- in eine nahe gelegene „Konspirative Woh- auf ein Gebäude zu, in dem die Kantine chiv im Hauptquartier des MfS, auf das die nung“ ab. Die Untergebenen wurden mit untergebracht war, und eine Kaufhalle, in HVA keinen direkten Zugriff hatte. der Weisung zurückgelassen, sich den De- der auch knappe Artikel angeboten wur- Schließlich bekamen Fischer und seine monstranten, falls die in die Diensträume den, die im Politbüro-Reservat Wandlitz Leute von der Regierung unter Hans der HVA eindringen sollten, als Men- keinen Abnehmer gefunden hatten. Ein

Markus Wolfs Truppe Geschichte der Hauptverwaltung Aufklärung

SPIEGEL-10/1979 K. ROSE Guillaume, Brandt

42 der spiegel 3/1999 seine Verhandlungspartner. Es seien viel- mehr gebildete und umgängliche Men- schen gewesen, denen er Verständnis ge- zollt habe: „Die brauchten uns gar nicht groß zu bearbeiten.“ „Wir waren wütend auf die Aktivitäten der Stasi gegen das Volk“, sagt Joachim Gauck, seit Oktober 1990 Bundesbeauf- tragter für die Stasi-Unterlagen. „Was sie im Ausland trieben, hat uns nicht so interessiert.“ Für den Pfarrer, damals beim Neuen Forum in Rostock aktiv, war die Stasi nur ein Herrschaftsinstru- ment im Dienst der SED. „Es ist ver- wunderlich“, so Gauck, „daß wir über- haupt so viel Energie aufbrachten, die Akten zu sichern.“ Den Bürgerrechtlern ging es vor allem darum, Mielkes Stasi-Apparat, der für die Repression im Innern der DDR verant- 4000 Leitzordner frei zur Vernichtung wortlich war, zu zerschlagen. Nachdem der Zentrale Runde Tisch in Berlin, an den alle kleinerer Trupp, wohl weniger Ost-Bür- und Dissidenten aller Art, deren politisches Parteien und gesellschaftlichen Gruppen gerrechtler als West-Agenten, drang von Spektrum von Anarchisten bis zu Rechten Vertreter entsandten, das beschlossen hat- dort aus in das Gebäude der Spionageab- reichte – inklusive mehrerer Inoffizieller te, gaben sie sich zufrieden. wehr ein und brach gezielt die Stahl- Mitarbeiter (IM) der Stasi. Die HVA-Auf- schränke auf. Ein Mitarbeiter der MfS- löser mußten sich fortan – wollten sie ihre Spionageabwehr war Ende 1989 überge- letzte Mission erfolgreich abschließen – mit Agenten und Doppelagenten laufen und hatte den BND instruiert. ihnen arrangieren. In den wirren Tagen nach dem Sturm auf Für das HVA-Gebäude rechts vom Ein- Aber das war erstaunlich einfach. Denn die Stasi-Zentrale war der HVA-Führung gang in der Ruschestraße interessierte sich daß auch demokratische Staaten Aus- zunächst entgangen, daß einer der Ihren niemand. Erst in der Nacht versuchten ein landsspionage betreiben, leuchtete der spurlos verschwunden war: Oberst Heinz paar Demonstranten über den Keller aus bunten Truppe ein, die sich nie zuvor mit Busch, Militärexperte und erster Absolvent dem Nebengebäude durch eine unver- Geheimdiensten beschäftigt hatte. des MfS an der Moskauer Militärakade- schlossene Brandschutztür vorzustoßen. „Hier sind Menschen zu schützen“, ar- mie. Der ehrgeizige Oberst war auf Partei- Auf der Videoanlage sah der Offizier vom gumentierten die HVA-Männer und er- veranstaltungen als glänzender Agitator Dienst die Eindringlinge rechtzeitig und klärten den Bürgerrechtlern, daß es Zeit aufgefallen; er kannte, da er in der Aus- forderte Hilfe an. Die Demonstranten wur- brauche, alle Kundschafter abzuschalten. wertung der Spionage-Erkenntnisse arbei- den von der Volkspolizei festgenommen. Wenn das nicht ordentlich über die Bühne tete, keine Kundschafter im Westen. Wer- Mit dem Tag der Erstürmung der MfS- gehe, seien diplomatische Verwicklungen ner Großmann hatte ihn deshalb Ende De- Zentrale verschlechterten sich die Ar- unvermeidlich. Tatsächlich saßen zu die- zember zum Beauftragten der HVA am beitsbedingungen der HVA-Auflöser. Ein sem Zeitpunkt in England, den USA, der Zentralen Runden Tisch ernannt. Bürgerkomitee hatte sich formiert, das alle Schweiz und der Türkei HVA-Agenten im Einen Tag vor der Sitzung am 15. Janu- Stasi-Mitarbeiter am Eingang filzte. Gefängnis. ar 1990 besaß Busch noch keine Instruk- Das Bürgerkomitee Normannenstraße „Wir hatten es nicht mit plumpen DDR- tionen von seinen Oberen für die heikle umfaßte anfangs rund 100 Mitglieder, eine Spießern zu tun“, beschreibt David Gill, Mission. Er fuhr – es war ein Sonntag – in bunte Mischung aus Studenten, Künstlern damals Koordinator des Bürgerkomitees, die HVA-Zentrale in der Ruschestraße und W. SCHÜRING W. Lüneburg mit Bangemann und Genscher B. BOSTELMANN Großmann ACTION PRESS ACTION DPA Tiedge Rupp

der spiegel 3/1999 43 Titel traf dort auf Ralf-Peter Devaux, einen der der BND-Leute war ziemlich groß“, meint Zerhäckseln und verkollern Stellvertreter Großmanns. Busch bat De- er heute, „aber auf die Dauer wurde die vaux um Unterlagen, um eine Gesprächs- Atmosphäre sehr kameradschaftlich.“ Die Auflösung des MfS inklusive der HVA richtlinie und um Vollmacht. Busch erarbeitete Studien über die Mi- war von der letzten DDR-Regierung unter Während Devaux das Gespräch als „sehr litärstrategie des Warschauer Paktes, stand Modrow am 8. Februar 1990 angeordnet freundschaftlich“ erinnert, berichtet Busch der Bundesanwaltschaft, aber auch Beam- worden – exakt am 40. Jahrestag der Grün- von einem heftigen Streit. Devaux habe ten aus dem Kanzleramt und dem Aus- dung des MfS. Die HVA-Spitze traf sich in ihm damit gedroht, daß die Bürgerrechtler wärtigen Amt Rede und Antwort. einem von den Bürgerrechtlern noch nicht seine Verhaftung fordern könnten, und er, Was er nicht wußte: Beim BND saß mit entdeckten konspirativen Objekt in Ber- Busch, habe deshalb um sein Leben ge- der stellvertretenden Leiterin des Referats lin-Treptow. Nach der Beratung füllten die fürchtet. Nach Beratung mit seinen er- Auswertung Sowjetunion, Gabriele Gast, Obristen ihre Sektgläser. Sie stießen darauf wachsenen Kindern beschloß Busch, „sich einer der wichtigsten Maulwürfe der HVA. an, daß die Operation Reißwolf erfolgreich unter den Schutz der Sicherheitsbehörden Sie bekam Wind davon, daß ein hochran- abgeschlossen werden möge. der BRD“ zu begeben. giger Überläufer angekommen war, und Das von der Regierung Modrow einge- Da an der Grenze zwischen Ost- und informierte ihren Führungsoffizier in Ost- setzte staatliche Komitee hatte festgelegt, West-Berlin nach wie vor kontrolliert wur- Berlin davon. daß die HVA bis spätestens zum 30. Juni de, ging er durch eine Agentenschleuse Busch wechselte aus Sicherheitsgründen 1990 vollständig aufgelöst sein müsse. Um nach West-Berlin. „Da müssen Sie später mehrmals im Großraum München das das sicherzustellen, durften die Obristen wiederkommen“, beschied ihn um fünf Quartier.Als er einen Ausflug auf die Zug- in eine Außenstelle des MfS in der Roe- Uhr morgens der Pförtner am Sitz des In- spitze unternahm, waren die Russen hinter dernstraße in Berlin-Hohenschönhausen nensenators, als er nach einem Vertreter ihm her. „Die fotografierten mich derart umziehen. des Verfassungsschutzes verlangte. dämlich“, so Busch, „typisch KGB.“ Der Hauptteil der personenbezogenen Erst nach mehreren Stunden erschien Gelohnt hat sich die Liaison mit dem Akten und Karteien war schon durch den schließlich der Chef des West-Berliner Ver- BND nicht. Busch wollte gern als Militär- Reißwolf gelaufen. Um aber ganz auf fassungsschutzes. Er erklärte Busch, daß historiker arbeiten, aber seine Verbin- Nummer Sicher zu gehen, nahmen die er eigentlich die westlichen Alliierten in- dungsleute vom BND speisten ihn mit klei- HVA-Auflöser auch dieses zerhäckselte formieren müsse, unterließ es aber dann nen Arbeiten ab. Im April 1993 kehrte er Material in ihr neues Domizil mit. doch. Ein paar Stunden später saß Oberst enttäuscht nach Ost-Berlin zurück. Heute Probleme verursachte ein mehrere Me- Busch in einem Pan-Am-Jet nach Mün- bekommt er eine wegen „Staatsnähe“ re- ter breites Stahlgestell, in das die Stahl- chen, wo ihn Mitarbeiter des BND in Emp- duzierte Rente. Als er zufällig seinen al- behälter mit den Sicherheitsverfilmun- fang nahmen. ten Chef Wolf auf der Straße im Ostteil gen der Karteien aus dem MfS-Zentral- Busch wurde beinahe täglich von wech- getroffen habe, „schaute der durch archiv eingelassen waren. Die HVA hatte selnden Beamten befragt. „Das Mißtrauen mich durch wie durch Glas“. sie im November 1989 in ihrem Keller HVA-Auflöser, könnte die Polizei los- schicken und das explosive Material be- schlagnahmen. Alsbald wateten die HVA-Offiziere, vom Leutnant bis zum Oberst, in Gummistiefeln in einem Meer aus gelben Papierstreifen, die sie mit Wasser aus Eimern und Schläu- chen aufgeweicht hatten. Die Pampe wur- de zu Verbrennungsanlagen transportiert; eine davon stand passenderweise in der Wandlitzer Gärtnerei, die kurz zuvor noch die Grünanlagen in der Hochsicherheits- siedlung für Honecker, Mielke und die an- deren SED-Größen gepflegt hatte. In der Schlußphase der Spurenvernich- tung wurden die Reißwölfe knapp. Von

SICHOV / SIPA SICHOV den rund 100 Häckslern arbeiteten noch Zentraler Runder Tisch in Ost-Berlin 1990: Bitte um Instruktionen und Vollmacht 50. „Wir haben die mächtig totgefahren“, erinnert sich HVA-Abwickler Fischer. „Sie zwischengelagert, mittlerweile waren sie die Aktentransporte. Mehrere Aktenbün- sind einer nach dem anderen heißgelau- versiegelt. del flogen in einer Kurve vom Laster. Bra- fen, und wir hatten natürlich keine Ersatz- Ein Kran der Nationalen Volksarmee ve DDR-Bürger gaben die Fundstücke bei teile.“ Bei der Abschlußinventur war ein versuchte den Koloß zu bewegen; doch die der Volkspolizei ab. einziger Reißwolf noch intakt. NVA-Maschine brach zusammen. Die Als die rechte „Allianz für Deutschland“ Als Peter-Michael Diestel zum letzten Reichsbahn, die das Gebäude bezie- am 18. März 1990 überraschend deutlich Innenminister der DDR ernannt wurde, hen wollte, leistete Amtshilfe. Ihr Kran die vorgezogenen Wahlen zur Volkskam- war die Operation Reißwolf so gut wie ab- schaffte es. mer gewann, gerieten die HVA-Auflöser in geschlossen. Diestel wehrte sich später in Der Umzug stand unter kirchlichem Hektik. Noch war die komplette Sicher- mehreren Prozessen erfolgreich gegen den Schutz. Der Lichtenberger Superintendent heitsverfilmung der drei Karteien, mit de- Vorwurf, er habe die Vernichtung der HVA- Joachim Rißmann, Bischof Gottfried Forck ren Hilfe sich alle IM des MfS enttarnen Akten angeordnet. Bernd Fischer meint und Oberkonsistorialrat Ulrich Schröter ließen, nicht vernichtet. Noch lagen in Ho- dazu: „Als Diestel rankam, war schon al- vermittelten zwischen Bürgerrechtlern und henschönhausen Berge von Karteikarten. les weg.“ Diestel und Fischer blieben sich Obristen, schließlich begleiteten Pfarrer Ein rechter Innenminister, befürchteten die allerdings verbunden. Fischer arbeitete später mehrere Jahre als Büroleiter in Die- stels Anwaltskanzlei. Am 11. April 1990 setzten die HVA-Auf- löser zusammen mit einem Vertreter des Bürgerkomitees ein Protokoll auf. „Die Vorvernichtung und Verbrennung des o. g. Materials“, heißt es darin, „erfolgte unter ständiger Kontrolle des Bürgerkomitees Normannenstraße.“ Am 21. Juni 1990 lieferte die HVA in Auflösung insgesamt 40 Meter Aktenord- ner beim staatlichen Komitee für die Auf- lösung der Stasi ab, darunter 123 Ordner über westliche Geheimdienste und 262 Ordner über „politisch-militärische Auf- klärung“, zum Beispiel von US-Einrich- tungen. „Da wollten sie den BRD-Kollegen mal zeigen, was sie alles über sie wußten“, meint David Gill, der erste Pressesprecher der Gauck-Behörde. Wie viele von den 40 Metern in

den Giftschränken im ehemaligen / SIPA TRIPETT Zentralarchiv des MfS noch zu fin- CIA-Hauptquartier in Langley den sind, weiß niemand. „Dieser Erfolg bei der „Operation Rosenholz“ Bestand wurde inzwischen mehr- fach bearbeitet“, meint Johann solle Rogalla die Identitäten aller „Pe- Legner, heute Sprecher der Gauck- netrationen“ der HVA in der US-Regie- Behörde. „Er ist nicht mehr voll- rung, den Nachrichtendiensten und der ständig, aber wohl nicht systema- Army offenbaren. tisch geplündert worden.“ Dazu boten ihm die Amerikaner an, ihn Immerhin existiert noch eine bei der Lösung möglicher „legal problems“ von der HVA erstellte Mitarbei- mit der westdeutschen Regierung und bei

terkartei des BND mit Fotos, GAMMA / STUDIO X einem Umzug samt Familie in den Westen Daten zur Person und deren Hob- zu unterstützen. bys. „Davon“, so Legner, „träumt jeder in seiner Zelle auf. Man werde ihn nicht Wenn er einverstanden sei, habe ihm der Geheimdienst.“ nur rausholen, habe der falsche Pfaffe ver- CIA-Abgesandte erläutert, könne er sofort Ein Teil der Akten über amerikanische sprochen, falls Rogalla auspacke, sondern mit einer amerikanischen Maschine von Militäreinrichtungen wurde inzwischen seine Dienste auch mit einer Million West- Berlin-Tempelhof nach Washington ausge- über das Bundesinnenministerium an die mark belohnen. Der Häftling lehnte ab und flogen werden. Rogalla erbittet sich Be- US-Regierung geleitet. Manches liegt noch kam nach massivem diplomatischem Druck denkzeit. bei den Karlsruher Strafverfolgungsbehör- der DDR frei. Beim dritten Treffen sitzt der letzte den, anderes beim BND und beim Bun- Im März 1990 klingelt es an Rogallas HVA-Chef Großmann bei Rogalla auf der desamt für Verfassungsschutz: „Der Rück- Wohnungstür in Berlin-Mitte. Rogalla ist Couch. „Da bekam der Amerikaner“, er- lauf aus Köln und Pullach“, beklagt sich inzwischen Oberst und leitet seit über 20 zählt Rogalla, „wahnsinnige Angst und Behördenchef Gauck, „war schleppend Jahren die Abteilung XI der HVA, zustän- wollte gleich wieder auf dem Absatz um- und unvollständig.“ dig für die USA und US-Einrichtungen in kehren.“ Immerhin existierte die DDR West-Berlin und Westdeutschland. noch, samt einer Staatsanwaltschaft, die Ein Fremder mit starkem Akzent, so Ro- über Jahrzehnte ausländische Spione ver- Die Jagd nach Überläufern golla, habe sich ihm als Abgesandter der folgt hatte. Die westdeutschen Dienste nutzten die CIA vorgestellt und ihn zu einem Treffen Die CIA war nicht der einzige Nach- Chancen, die sich durch die Auflösung ih- in einem Restaurant in West-Berlin einge- richtendienst, der sich für Rogalla interes- res Feindes Nummer eins boten, verblüf- laden. „Warum versuchen Sie ständig, mei- sierte. Ein BND-Emissär habe ihm eine fend zögerlich. Erst vom März 1990 an fuh- ne Leute abzuwerben?“ habe er ihn ange- Stelle in Paris angeboten, ein Agent des ren Mitarbeiter des Verfassungsschutzes herrscht, sagt Rogalla. „Jetzt bin ich doch französischen Geheimdienstes habe vor- und des BND in die DDR, um HVA-Kader bei Ihnen“, habe der CIA-Mann geant- gefühlt, auch mehrere sozialistische Bru- anzuwerben. wortet. „Wären Sie nicht daran interessiert, derdienste. Rogalla, ein überzeugter Kom- Ein besonders interessanter Kandidat mit uns zusammenzuarbeiten?“ habe er munist, zog es angeblich vor zu schwei- war beispielsweise Jürgen Rogalla, der gefragt. „Ihr Staat ist doch am Ende.“ gen. „Ich könnte nicht bis zum heutigen schon am Anfang seiner HVA-Karrie- Rogalla schlägt dem CIA-Emissär vor, Tage leben“, sagt der promovierte Jurist, re einmal ein seriöses Angebot bekom- sich erst einmal ordentlich zu legitimie- „wenn ich einen einzigen verraten hätte.“ men hatte. ren. Ein paar Tage später taucht der Ame- Vergebens klagte er beim Bundessozial- 1966 saß der 33jährige Major nach ei- rikaner mit einem Brief von CIA-Chef gericht gegen seine „Strafrente“ von 1100 nem Putsch in Ghana in einem Hochsi- William Webster auf. „Obwohl Ihre Bitte Mark monatlich. Inzwischen habe er sich cherheitsgefängnis. Als „Herr Krüger“ le- um ein förmliches, schriftliches Angebot eine neue Wohnung suchen müssen, da er gendiert, hatte er den Geheimdienst des unüblich ist“, schreibt der, „komme ich die Miete für die alte nicht mehr habe zah- ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah ihr wegen der großen Bedeutung, die Sie len können. ausgebildet; die Putschisten verhafteten für uns haben, nach.“ Sein Vertreter sei Wie Rogalla weigerten sich viele HVA- ihn. In eine Priestersoutane gewandet, autorisiert, ihm „one million West Ger- ler, mit dem Bundesamt für Verfassungs- tauchte eines Tages ein Emissär des BND man Deutsch marks“ anzubieten. Dafür schutz zusammenzuarbeiten.

46 der spiegel 3/1999 Titel

Andere wie Werner Roitzsch, seit 1956 Diestel. „Daß ihr ihn rausgeschmissen habt, desverrats nicht verurteilt werden können, bei der HVA, liefen über. Der hatte wich- war richtig“, habe der letzte Innenminister sind die umfangreichen Ermittlungsakten tige Quellen geführt, etwa die beiden Vor- der DDR gesagt. „Aber strafrechtlich soll- der Bundesanwaltschaft nur noch für Hi- tragenden Legationsräte im Auswärtigen ten wir nicht gegen ihn vorgehen.“ storiker interessant. Amt Klaus von Raussendorf (Deckname „Stern“ alias Kuron bekam dank seiner Ein möglicher Interessent für HVA- „Brede“) und Hagen Blau („Merten“) oder strategisch unübertrefflichen Position so- Kundschafter, wie der Fall Kuron zeigt, war den Polizeidirektor beim Bundesgrenz- gar mit, als ein HVA-Mann ihn ans Messer auch das KGB. „Eine Übergabe von Quel- schutz, Alexander Dahms („Daemon“). lieferte. Er fuhr sofort nach Berlin und er- len an die Russen kam für uns aber nicht Seit 1983 war Roitzsch mit der Herstel- klärte seinem Führungsoffizier: „Ich habe in Frage“, behauptet Werner Großmann – lung von Dokumenten für Kundschafter eine Pistole dabei und lege diesen Verräter sie war mittlerweile auch so gut wie un- befaßt.Als sein Chef ihn Anfang 1990 frag- um.“ Er traf sich in Karlshorst mit KGB-Of- möglich. te, ob er nicht eine Zeitlang nach Moskau fizieren, um die Möglichkeit einer Flucht Einer von Großmanns Stellvertretern gehen wolle, um die Genossen vom KGB nach Moskau zu sondieren. Wegen seiner war im März 1990 nach Moskau gereist. im Fälschen westdeutscher Papiere zu Familie nahm er davon Abstand. Der Bruderdienst, mußte er enttäuscht schulen, habe er sich gedacht: „Das ist eine Kuron fuhr zurück Richtung Köln, rief feststellen, war ähnlich desorientiert und Reise ohne Rückfahrkarte.“ von unterwegs den Verfassungsschutz an perspektivlos wie die HVA. Das KGB hat- Anstatt nach Moskau fuhr Roitzsch nach und offenbarte sich als Doppelagent. Das te andere Probleme als die komplizierte West-Berlin und nahm Kontakt zum Ver- Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte Übernahme von HVA-Kundschaftern. fassungsschutz auf. Der übergab ihn an den ihn 1992 wegen geheimdienstlicher Agen- Einzelne HVA-Mitarbeiter versuchten, Experten des Kölner Bundesamtes. tentätigkeit zu zwölf Jahren Haft. Er kam auf eigene Faust ihre nun arbeitslosen Alles schien gut. Roitzsch erhielt von ei- im Oktober vorigen Jahres frei. Spione an die Russen zu vermitteln. Zwei nem Kölner Emissär eine Einladung zum Essen. Doch kurz darauf, im April 1990, meldete die Quelle „Stern“ ihrem Füh- rungsoffizier bei der HVA in Ost-Berlin, daß ein gewisser Dr. Werner Roitzsch bei ihm vorstellig geworden sei und wohl aus- packen werde. „Stern“ zählte zu den wichtigsten Maul- würfen der HVA im Westen. Sein Klar- name war Klaus Kuron, er war beim Bun- desamt für Verfassungsschutz in Köln für Doppelagenten zuständig – und selbst zum Doppelagenten geworden. Kuron hatte sich im Sommer 1981 schriftlich über die Ständige Vertretung der DDR in Bonn bei der HVA beworben. Er brauche den Zusatzverdienst, so recht- fertigte er sein Ansinnen, um seinen vier Kindern eine gediegene Ausbildung zu er- möglichen, die er mit seinem Gehalt als Referatsleiter in Köln nicht finanzieren könne. Die Wolf-Truppe entlohnte ihn mit einer einmaligen Zahlung von 150 000 D-Mark plus 4000 monatlich. Fast alle HVA-Quellen wurden bis zum 31. März 1990 abgeschaltet, aber „Stern“- Kuron war für die Auflöser so wichtig, daß HVA-General Großmann (Kreis), Mielke (vorn r.): Kuriertasche zum KGB nach Karlshorst er weiterarbeitete. Der Verfassungsschüt- zer traf sich weiterhin mit seinem Füh- Verraten hatte Kuron der „kleine Groß- Mitarbeiter von Rogallas USA-Abteilung, rungsoffizier und rief ihn auch in Notfällen mann“, wie Karl Christoph Großmann zur Lothar Ziemer und Karl-Heinz Michalek, an. Und er traf mehrmals Roitzsch. Unterscheidung zum letzten Chef der wurden dabei erwischt und Anfang 1995 zu Großmann war deshalb wenig über- HVA intern bezeichnet wurde. Er war 1986 je 22 Monaten auf Bewährung verurteilt. rascht, als Roitzsch ihn in einem Brief vom wegen angeblicher Unterschlagungen und Ohne Rückhalt in Moskau waren die 4. Mai 1990 um eine Aussprache bat. Da anderer Amtsdelikte innerhalb der HVA HVA-Getreuen auf sich allein gestellt. Die war dem potentiellen Überläufer schon der strafversetzt worden. Im Prozeß gegen Überläufer zerstörten zudem den Nimbus Dienstausweis abgenommen worden. Markus Wolf, ebenfalls in Düsseldorf, von der elitären Gemeinschaft, die sich Großmann und Roitzsch trafen sich in räumte Großmann ein, daß er 20000 Mark über ihre Auflösung hinaus in Treue ver- einem noch nicht entdeckten „Konspira- dafür bekommen habe – ein billiger Verrat. bunden bleibt. Am schlimmsten jedoch tiven Objekt“. Großmann war schon seit Die Zahl der HVA-Männer, die Ge- war, daß die Operation Reißwolf, die sy- einem Monat offiziell Pensionär. „Ich habe heimwissen preisgaben, betrug höchstens stematische Vernichtung aller verräteri- versucht, ihn dazu zu bringen, sich zu zwei Dutzend. Die allermeisten Obristen, schen, erhellenden Dokumente, sich am offenbaren“, erzählt Großmann, „und gegen die die Bundesanwaltschaft nach der Ende als nur bedingt erfolgreich erwies. schließlich räumte er auch ein, mit dem Wende wegen geheimdienstlicher Agen- Verfassungsschutz in Kontakt zu stehen.“ tentätigkeit und Bestechung ermittelte, Ein halbes Jahr vorher hätte Großmann schwiegen auch dann noch, wenn sie in Zufallsfund im Kiefernwald einen Mann wie Roitzsch sofort als Verräter Beugehaft genommen wurden. Seit dem Als Joachim Lampe und Wolfgang Sieg- verhaften lassen, jetzt hatte er keine Macht Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom mund von der Karlsruher Bundesanwalt- mehr. Großmann sprach mit Innenminister Mai 1995, wonach DDR-Bürger wegen Lan- schaft zusammen mit dem Bundeskrimi-

der spiegel 3/1999 47 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel nalamt nach dem Beitritt der DDR daran- Experten des Militärischen Abschirmdien- perten konnten aus dem Restmagnetismus gingen, die HVA aufzurollen, fanden die stes Ende 1990 auf mehrere Datenträger. 290 572 Datensätze und daraus 63 046 Ermittler zunächst HVA-Akten in ande- Aber wie waren sie in die NVA-Bunker HVA-Vorgänge rekonstruieren, aus denen ren Stasi-Abteilungen, die mit Auslands- geraten? sie schließlich 3167 Mitarbeiter herausfil- spionage nicht befaßt gewesen waren.Wie Im Frühjahr 1990 waren zwei Mitarbeiter terten. Die Daten reichten bis zum Mai nebenbei fiel ihnen auch Material über des Rechenzentrums nach Berlin gereist, 1989 und waren von der EDV-Abteilung Herbert Wehner und Karl Wienand in um Hardware und vor allem die immer der HVA erfaßt worden. die Hände. Es lag in Erich Mielkes Pan- knappen Festplattenstapel bulgarischer Ende 1992 erhielt die Bundesanwalt- zerschrank. Herkunft abzuholen. In einer kleineren schaft die „Garzau-Liste“. Damit ließ sich Das Bundesamt für Verfassungsschutz geheimen EDV-Niederlassung der HVA herausfinden, welche HVA-Leute welche decodierte im Oktober 1990 eine Aufstel- bekamen sie unter anderem gebrauchte Vorgänge mit welchen Decknamen ge- lung über „Besoldungsunterlagen“ von Festplatten. führt hatten. über 90000 hauptamtlichen MfS-Mitarbei- Als der Kommandant des Garzauer Das Auftauchen dieser Liste bedeutete tern, aus denen sich die Struktur des Spio- Rechenzentrums erfuhr, woher diese einen schweren Schlag für Großmann und nage-Ministeriums erkennen ließ. Platten kamen, schien ihm die Sache zu die noch immer loyalen Genossen der Der Ordnungssinn der MfS-Abteilung heiß. Er ließ die Datenträger in einem ex- HVA. Es kam noch schlimmer, denn auch Finanzen, die penibel in ihren Reise- tra abgeschotteten, hochgeheimen Raum der amerikanische Geheimdienst hatte ei- abrechnungen Decknamen sowie Termi- innerhalb des Bunkers lagern, in dem nen Coup gelandet, „einen der größten ne und Orte von Treffen der HVA-Of- ansonsten russische Chiffriermaschinen Coups der Spionage im Kalten Krieg“, wie fiziere mit Kundschaftern registrierte, standen. Die Maschinen wurden kurz dar- die „Washington Post“ lobte. brachte die westdeutschen Ermittler wei- auf von der sowjetischen Armee abgeholt, Unter dem Decknamen „Operation ter voran. die Platten blieben liegen und gerieten Rosewood“ („Rosenholz“) hatten CIA- Noch wertvoller war ein Zufallsfund in in Vergessenheit, bis die Bundeswehr am Männer heiße Ware aus Beständen der einem atomsicheren Bunker der Nationa- 3. Oktober 1990 den Garzauer Atombun- HVA besorgt und in ihre Zentrale nach len Volksarmee in einem dichten Kiefern- ker übernahm. Langley geschafft. Wie und wann? Diese wald bei Garzau, unweit des brandenbur- Die Datenträger waren gelöscht und Fragen behandeln die Amerikaner wie ein gischen Städtchens Strausberg. Wo zu anschließend mit Milliarden von Nullen Staatsgeheimnis. DDR-Zeiten ein Rechenzentrum der NVA überspielt worden, aber das war nicht ge- Sicher ist, daß die CIA Verfilmungen von rund um die Uhr gearbeitet hatte, stießen nug der Sorgfalt. Westdeutsche EDV-Ex- Dokumenten erbeutet hat, zu denen nur

Die Garzau-Liste HVA-Datenträger, gefunden in einem Atombunker bei Strausberg FOTOS: P. LANGROCK / ZENIT P. FOTOS: Schleuse zum Rechenzentrum Schulungsraum für Soldaten

Chiffrierraum, in dem die Festplatten lagen Magnetbänder für Großrechenanlagen

50 der spiegel 3/1999 ein auserwählter Kreis Zugang hatte. Groß- KGB in Karlshorst, in seinen Memoiren, mittlerweile Kundschafter der HVA, die mann zerbricht sich deshalb bis heute den „kam eine Kommission der Archiv-Regi- einst in der Bundesrepublik spioniert hat- Kopf darüber, wer aus dem engsten Zirkel strierabteilung des KGB nach Berlin.“ Die ten, übernommen hat. der Verräter sein könnte. Sein Stellvertre- Genossen hätten verlangt, daß das gesam- Die Amerikaner rücken das Original- ter Devaux spricht vom „Innersten Heilig- te operative Material innerhalb einer Wo- material nicht heraus. Seine Beschaffer, so tum“ der HVA. che nach Moskau gebracht und die gesam- die Begründung, würden gefährdet. Um die „Operation Rosenholz“ ranken ten restlichen Papiere vernichtet würden. sich allerlei Gerüchte. Von einer halben „Das geschah“, so Kusmin, „auf einem un- Million Dollar, die im Frühjahr 1990 ge- serer Truppenübungsplätze mit Hilfe eines Mission mißglückt flossen sei, ist die Rede. Dafür gibt es je- Flammenwerfers.“ Den HVA-Auflösern ist ihre letzte Mis- doch keine Indizien. Statt dessen bietet Was aber geschah mit der schwarzen Ku- sion doch noch mißglückt. Sie konnten sich eine andere Hypothese für den CIA- riertasche und den Filmen in Karlshorst? mit der Operation Reißwolf zwar Spu- Coup an. Sascha Prinzipalow kann keine Auskunft ren verwischen, aber am Ende nicht al- Den Mitarbeitern in dem für die Regi- mehr geben, er starb im vergangenen Jahr le. Die Top-Agenten der HVA in der strierung zuständigen Referat 7, das direkt in Moskau. Es gibt allerdings starke Indi- Bundesrepublik seien aufgeflogen, be- der Leitung unterstand, oblag die Erfas- zien dafür, daß es sich bei dem Material, hauptet Abwickler Fischer: „Ich kenne sung aller für die HVA interessanten Per- sonen. Gegen Ende jedes Jahres wurden ihre Karteikarten auf Rollfilmen und auf Mikrofiches verfilmt. Zusätzlich lagerten der Referatsleiter Manfred Richter und seine Leute seit Ende der siebziger Jahre die verfilmten Jahres- berichte der einzelnen Abteilungen oder die verfilmten Mobilisierungsunterlagen für den Kriegsfall ein. Diese Materialien wurden als so wichtig erachtet, daß sie nicht von der HVA-Foto- stelle bearbeitet wurden, sondern mit einer im Referat 7 installierten Kamera. Die Roll- filme wurden in Stahlbehälter verpackt, die man in Kuriertaschen verstaute, und diese wiederum wurden in Stahlschränke eingeschlossen. „Im Dezember 1989 kam mein Vorge- setzter zu mir“, berichtet ein Stabsoffizier. „Er wies mich an, die Verfilmungen von dem Material des Referats 7 nach Karls- horst auszulagern.“ Der HVA-Leitung war Wolf-Karikatur*: Verräter im engsten Zirkel? die Lage in der DDR angesichts der De- monstrationen gegen die Stasi zu unsicher das heute im CIA-Hauptquartier lagert, keine wichtige Quelle, die Glück gehabt geworden. um Kopien dieser Filme handelt, die ent- hätte.“ Der Stabsoffizier bekam im Referat 7 weder noch in Ost-Berlin oder später in Seit Anfang 1991 wurde gegen 3151 eine schwarze Kuriertasche in die Hand Moskau hergestellt wurden: Westdeutsche wegen des Verdachts der gedrückt und fuhr mit seinem Dienstwa- π Die Amerikaner verfügen über Verfil- Zusammenarbeit mit der HVA ermittelt; gen, Marke Lada, zur Niederlassung des mungen von Karteikarten, EDV-Aus- es wurden allerdings nur 79 Anklagen er- Bruderdienstes nach Karlshorst, der größ- drucken, Jahresberichten und einer hoben. 51 HVA-Spione bekamen Haftstra- ten KGB-Residentur außerhalb der So- „E-Fall-Kartei“ für den Kriegsfall, die fen von mehr als zwei Jahren. Der einzi- wjetunion. Dort empfing ihn bereits an der konzentriert einzig und allein im Refe- ge, der noch immer sitzt, auch wenn er in- Schranke der ihm wohlbekannte Kollege rat 7 lagerten. zwischen als Freigänger für die PDS-Frak- Sascha Prinzipalow. π Die Originale aller Dokumente, die die tion arbeitet, ist Rainer Rupp, der unter Prinzipalow war Anfang 1977 in Oslo als CIA hat, sowie weitere Verfilmungen dem Decknamen „Topas“ die Nato in sowjetischer Diplomat wegen Spionage- von ihnen wurden, so bestätigen es Brüssel ausforschte. verdachts verhaftet worden und Mitte der glaubwürdige Zeugen, vernichtet. Die Auflösung der HVA fällt zusammen achtziger Jahre als Verbindungsoffizier π Amerikanische CIA-Quellen erklären, mit dem Ende der Abhängigkeit der beiden zwischen KGB und HVA nach Berlin ge- daß die Agenten, die die „Rosenholz“- deutschen Staaten von ihren jeweiligen Sie- kommen. Materialien beschafften, nicht für ger- und Schutzmächten. Von der Sowjet- Zwar behaupten Großmann und ande- Deutschland zuständig waren, sondern union aufgebaut, landete das Geheimwis- re HVA-Männer beständig: „Wir haben für die Sowjetunion. sen der HVA wieder bei den Russen. Von nichts den Russen übergeben.“ Der Stabs- Was und wieviel die Amerikaner wirk- dort wanderte es wohl nach Washington. offizier aber erinnert sich: „Ich drückte lich haben, weiß nicht einmal das Bundes- Die westdeutschen Geheimdienste stan- Sascha die einem Pilotenkoffer ähnelnde amt für Verfassungsschutz genau. Die Köl- den bis jetzt mit leeren Händen da und Tasche in die Hand.“ Er mutmaßt, daß ner bekommen lediglich Einsicht in solche ahnten nicht einmal, daß sie seit 1990 auf eine Kuriermaschine das Überbringsel Unterlagen, die Bundesbürger betreffen. einem wahren Schatz der HVA saßen. Mit nach Moskau flog. Sie können nicht ausschließen, daß die CIA der Wiederentdeckung der internen Da- Gegen Ende des Jahres 1989 herrschte tenbank auf den Magnetbändern ist die allerdings auch in der KGB-Residentur in Heldenlegende von Markus Wolf und sei- * Aus einem Karikaturenband, den Markus Wolf von Karlshorst Chaos. „Anfang Dezember“, HVA-Mitarbeitern zum 60. Geburtstag am 19. Januar ner HVA unwiderruflich zerstört. schreibt Iwan Kusmin, damals Vizechef des 1983 geschenkt bekam. Michael Sontheimer

der spiegel 3/1999 51 Werbeseite

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„Frankfurter Allgemeinen“ („FAZ“), war. Der Trend ist kaum noch aufzuhalten, BILDUNG Der machte den Studententalk publik. und auf der stetigen Suche nach publizi- Kaeslers Einladung an den Journalisten stischer Hilfe für seine Visionen von In die Pfanne hatte Methode: Wo immer er ein Forum „schichtenneutraler Elitenbildung“ und findet, erklärt der Marburger Soziologie- „unbedingter Bereitschaft zur Hochlei- professor „ein Drittel der 1,8 Millionen stung“ hatte Kaesler den „FAZ“-Mann gehauen deutschen Studenten“ für „studierun- herbeitelefoniert. fähig“. Die Unis würden als „Wartehal- Reumann sollte, so rechtfertigt der Hoch- Ein Marburger Soziologe len“ mißbraucht, weil die Politik auf dem schullehrer dessen Inkognito-Auftritt vor Arbeitsmarkt keine Alternative biete. den Studenten, Gelegenheit haben, „ein hält jeden dritten deutschen Die vermeintlichen Blindgänger macht unverfälschtes Bild der Erstsemester“ zu Studenten für unfähig. der Ordinarius mitverantwortlich für die Mi- zeichnen. Der Journalist bedankte sich in Zum Beweis ließ er vertrauliche sere an den überfüllten, chronisch unterfi- der „FAZ“ nicht nur mit dem gewünschten Gespräche protokollieren. nanzierten Universitäten, die nur für knapp Studenten-Verriß, sondern auch mit einer eine Million Studenten ausgelegt sind. Am Eloge auf Kaesler: Es sei zu „hoffen, daß rglos saßen die Studienanfänger im liebsten würde Kaesler „den 600000 Stu- ein leidenschaftlicher Hochschullehrer wie Soziologenturm der Marburger dierunfähigen den Zutritt zur Alma mater Kaesler zuletzt nicht doch noch in die APhilipps-Universität und gaben, bei verwehren“. Das geeignete Mittel wären für außeruniversitäre Forschung abwandert“. Saft und Sekt, Persönliches preis. Gesell- ihn – wie in den USA längst üblich – „Eig- Die Betroffenen sehen das ganz anders. schaftswissenschaften wolle er studieren, nungsgespräche“, in denen sich Bewerber Studenten, die Opfer des Lauschangriffs weil er keine Lehrstelle gefunden habe, einer Jury aus Professoren und fortgeschrit- geworden waren, fühlen sich „in die Pfan- verriet ein Kommilitone; er ziehe „geisti- tenen Studenten stellen müßten. ne gehauen“ und bewerten das Vorgehen ge Arbeit körperlicher Tätigkeit vor“, of- Dann wäre Platz für die Verwirklichung ihres Professors als „link“. Fachschafts- fenbarte ein anderer. seiner Idee von einer schönen, neuen Uni- sprecher Christian Kürten, 22, ist über den Groß war das Gelächter, als die Studen- Welt: Professoren lehren da, die sich ihre „Vertrauensbruch“ empört. tin Iris, 23, in Gegenwart ihres Professors Studenten aussuchen dürfen; junge Leute Auch Kaeslers Kollegen gingen auf Di- Dirk Kaesler, 54, frotzelte, sie sei an die sitzen vor ihnen, die strebsam und hoch stanz. Das Direktorium des Instituts für Universität gekommen, um „schön lange motiviert sind. Soziologie entzog dem geschäftsführenden ausschlafen“ zu können. Und auch Karen, Kaesler steht mit seinem Ansinnen nicht Direktor Kaesler mit fünf gegen drei Stim- 19, fand Beifall für ihr Bekenntnis, sie allein.Auch Klaus Landfried, Präsident der men das Vertrauen; Kaesler trat zurück. Der Dekan der Marburger So- ziologen, Ralf Zoll, 59, wirft Kaesler vor, „die Studierenden für seine wissenschaftspolitischen Zwecke instrumentalisiert“ zu ha- ben. Zoll gehört zu denen, die Studienanfängern eine biographi- sche Experimentierphase zuge- stehen. Es sei doch, sagt der Hoch- schullehrer, „eine Leistung und kein Versagen der Universität“, wenn sie Studenten eine Orien- tierungshilfe gebe – selbst wenn diese nach ein paar Semestern ein adäquates Betätigungsfeld außer- halb der Alma mater fänden. Einer hat aus dem Vorfall ge- lernt. Anders als Kaesler, der sei- ne Studenten trotz dringender Bit- te von Kollegen nicht um Ent- schuldigung bat, zeigt Redakteur Reumann Anzeichen von Reue. In einem Brief an die Fach- schaft Soziologie gab er den Stu-

S. MORGENSTERN dentenvertretern Einblick in sein Soziologe Kaesler, Studenten: Abschied vom altlinken Bildungsideal Seelenleben: Möglicherweise, so Reumann, sei er vor den Erstse- hoffe auf eine „coole Zeit“ an der Hoch- Hochschulrektorenkonferenz, ist davon mestern nicht mit offenem Visier aufgetre- schule. überzeugt, daß das „Dilemma mit den ten, weil ihm in Marburg schon Schlimmes Was die Studis nicht ahnten: Der fein- Dummen“ („Süddeutsche Zeitung“) ein widerfahren sei. Studenten hätten ihn dort gekleidete ältere Herr, der mitten unter ih- „massenhaft“ auftretendes Phänomen an „verprügelt“, außerdem habe es „Mord- nen saß und eifrig mitschrieb, was ihm zu den Hochschulen ist. drohungen aus Marburg gegen meine Frau Ohren kam, arbeitete in geheimer Mission. Die Spitzenverbände der deutschen und mich gegeben“. Kaesler hatte ihn als „Freund“ vorge- Wirtschaft haben schon vor zwei Jahren Das war vor einem Vierteljahrhundert, stellt, um ihm Zutritt zu der nichtöffent- Eingangsprüfungen für Studenten gefor- in der Zeit der Studentenproteste. Damals lichen Vorstellungsrunde zu verschaffen. dert. Die wären der endgültige Ab- hatte Reumann unter anderem über den Er verschwieg, daß der nach Art eines schied vom altlinken Bildungsideal einer Einfluß von Kommunisten an der Soziolo- verdeckten Ermittlers auftretende Proto- totalen Akademisierung der Gesell- gischen Fakultät der Philipps-Universität kollant Kurt Reumann, Bildungsexperte der schaft. berichtet. Carsten Holm

54 der spiegel 3/1999 P. FRANKE / PUNCTUM P. In die USA verleaste Ausstellungshalle der Leipziger Neuen Messe: Mal eben 20 Millionen Mark Gewinn

einen Gewinn in Höhe von 20 Millionen KOMMUNEN Mark. Die Kunde von der wundersamen Geld- vermehrung auf Kosten des amerikani- Wundersame Geldvermehrung schen Fiskus hat sich längst in der Republik verbreitet. Die Dortmunder Nahverkehrs- Bei trickreichen Geschäften mit US-Konzernen erwirtschaften gesellschaft hat 65 Straßenbahnen in die USA verleast, im schwäbischen Ulm ist es Städte und kommunale Unternehmen in Deutschland Millionen die Müllverbrennungsanlage, in der säch- – ganz legal zu Lasten des amerikanischen Steuerzahlers. sischen Landeshauptstadt Dresden ein Heizkraftwerk. Den bisher größten Coup ositives aus seinem Beritt kann Ma- Das – auf den ersten Blick absurde – möchten die Berliner landen. Sie erhoffen nager Wolfgang Bildstein nur selten Geschäft bringt allen Beteiligten Mil- sich 150 Millionen Mark durch das Ver- und Pberichten. Um so öfter sieht sich der lionenvorteile: Die amerikanischen Un- Rückleasen der Messe und des Internatio- Geschäftsführer der Leipziger Messe mit ternehmen, zumeist ertragstarke Versiche- nalen Congress Centrums. peinlichen Fragen zu Millionendefiziten, rungen, Energiekonzerne und Banken, Die Kommunalpolitiker gefallen sich als Mißmanagement und Ausstellungsflops können den Deal daheim ganz legal clevere Finanzjongleure. „Wir nutzen“, konfrontiert. von der Steuer absetzen. Die Steuer- verkündet stolz Horst Zierold, Kämmerer Dabei ist Bildstein keineswegs erfolglos. ersparnis teilen sich die Geschäftspartner. der Ruhrgebietsstadt Essen, „die globalen Für seinen Arbeitgeber hat er allein in den Allein das Hin-und-Hervermieten der Finanzmärkte aus zu Gunsten unserer letzten beiden Jahren mal eben 110 Millio- zwei Ausstellungshallen bescherte der Fahrgäste, denen wir unsere Leistungen so nen Mark an Land gezogen. Bildstein muß- Leipziger Messegesellschaft im Jahr 1997 preisgünstiger anbieten können.“ Neun te weder wertvolle Grundstücke verkau- Millionen Mark sind in die Kasse der Es- fen, noch eine gewinnbringende Messe ak- sener Verkehrsbetriebe geflossen. quirieren. Die Summe brachte ein Geschäft Bundesweit werden Politiker und Mana- ein, das es quasi nur auf dem Papier gibt. ger aus Kommunen bei Beratungsunter- Im September 1997 vermietete die Mes- nehmen und Banken vorstellig, die ihnen segesellschaft zwei Ausstellungshallen an Kontakte zu solventen Anlegern in den ein Telekommunikationsunternehmen in USA vermitteln sollen. „Wir haben einen den USA. Dieses vermietete die Hallen richtigen Boom bei US-Lease“, sagt Chri- postwendend an die Messegesellschaft stopher Smith von der Leipziger Niederlas- zurück. Im vorigen Jahr leasten weitere sung des US-Beratungsunternehmens Price US-Investoren den Rest des 1,35 Milliarden Waterhouse Coopers. Kollegen von Smith Mark teuren Ausstellungsgeländes im Leip- schätzen das Volumen solcher Transaktio-

ziger Norden. Und die nahmen sich umge- M. JEHNICHEN / TRANSIT nen weltweit auf 50 bis 70 Milliarden Mark. hend die Messegesellschaft – wie vertrag- Leipziger Stadtkämmerer Kaminski Letzter Coup der Waterhouse-Vertreter: lich vereinbart – als Untermieter. Oper und Gewandhaus „versilbert“ Kurz vor Weihnachten gab der Leipziger

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Stadtrat grünes Licht für das Leasing von Nicht immer können sich die Kontra- städtischen Vorzeige-Immobilien im Wert henten einigen. So stoppte der Stadtrat von von 500 Millionen Mark. Das Neue und Halle im März vergangenen Jahres den das Alte Rathaus, das Gewandhaus, die Plan des Kämmerers, das Rathaus, eine Oper, das Stadthaus und das Theater sollen Leichtathletikhalle und ein Schwimmbad an einen US-Trust vermietet und wieder in die USA zu vermieten. Die Kommunal- zurückgemietet werden. Kämmerer Peter politiker hatten Bedenken, daß sie über Kaminski rechnet mit 25 Millionen Mark ihre Gebäude nicht mehr uneingeschränkt Reingewinn. verfügen dürfen. Bereits vor zwei Jahren haben die Leip- In der Tat legen sich die Stadtväter mit ziger Verkehrsbetriebe via USA mit ihren den US-Geschäften Beschränkungen auf – Straßenbahnen und Bussen einen Zuge- und das meist für die nächsten 30 Jahre. winn von zehn Millionen Mark gemacht. So lange laufen die Verträge im Schnitt. Nutzungsänderungen der Gebäude müssen, wenn sie den Wert der Immobi- lie betreffen, von den In- vestoren genehmigt wer- den.Verkaufen dürfen die Gemeinden die geleasten Immobilien in der Regel nicht; zudem sind sie ver- pflichtet, den taxierten Wert zu erhalten. Der Präsident des sächsischen Rechnungs- hofs, Hans-Günther Koehn, hat ethische Be- denken: „Die moralische Frage, auf Kosten der US- Steuerzahler Geldquellen zu erschließen, muß je- der mit sich ausmachen.“

J. MEYER / DAS FOTOARCHIV MEYER / DAS J. Der Bund der Steuerzah- Leasing-Objekt Straßenbahn*: Clevere Jongleure ler wirft den Kommunen Doppelmoral vor. „Unse- Als nächstes möchte Kaminski die städti- re Politiker stellen Steuerzahler gern an schen Kliniken „versilbern“. den Pranger, die ihre Abgabenlast durch In Chemnitz stehen die Spitäler bereits das Ausnutzen von Steuerschlupflöchern auf der Transferliste. Mit rund 13 Millionen mindern“, sagt dessen Vizepräsident Die- Mark Gewinn rechnet das Chemnitzer ter Lau, „jetzt praktizieren Städte und Ge- Stadtoberhaupt Peter Seifert. Danach ist meinden selbst gewagte Steuermodelle.“ die 260 Millionen Mark teure Kläranlage Der Fluß der Millionen aus Amerika dran. Nur das Jugendstil-Rathaus möchte könnte bald versiegen. Denn die rechtli- der Oberbürgermeister nicht anbieten: chen Grundlagen für die Cross-Border-Ge- „Da hätte ich mentale Probleme.“ schäfte wurden geschaffen, um US-Unter- So simpel die wundersame Geldver- nehmen kostspielige Auslandsinvestitionen mehrung auf den ersten Blick scheint, die zu erleichtern und nicht, um Steuerspar- Verträge, welche die Transaktion regeln, modelle über Papiergeschäfte zu kreieren. sind höchst kompliziert. Damit die „Inve- Als im vergangenen Sommer der stition“ in den USA auch zu den ge- Schweizer Kanton Zürich Verwaltungsge- wünschten Steuervergünstigungen führt, bäude in die USA verleasen wollte, er- müssen alle Details wie etwa Laufzeit oder kundigte sich der sozialdemokratische Wertermittlung peinlich genau aufge- Kantonsrat Willy Spieler besorgt bei der schrieben werden. Die Konvolute sind US-Botschaft nach der Rechtmäßigkeit des häufig 500 Seiten stark. Von der Idee Handels: „Ist es ethisch überhaupt ver- bis zum Vertragsabschluß dauert es oft ein tretbar, daß private amerikanische Inve- Jahr. storen und schweizerische Gemeinwesen Eine ganze Beraterbranche hat sich mitt- Millionensummen zu Lasten Ihres Staates lerweile auf die sogenannten Cross-Bor- kassieren, ohne daß dafür irgendeine Lei- der-Geschäfte verlegt. Unternehmens- stung erbracht werden müßte?“ beratungen, Banken und Rechtsanwalts- Die Antwort aus Washington war ein- kanzleien in Deutschland und den USA deutig. Die amerikanischen Finanzbeamten verdienen kräftig mit. In der Regel bleibt verfolgten mit Bedenken die Leasingge- knapp ein Prozent des Investitionsvolu- schäfte, teilte Botschafterin Madeleine May mens, mindestens eine Million Mark, bei Kunin dem Eidgenossen mit. Die Ausnut- Consultants und Advokaten hängen. zung des Steuervorteils sei womöglich „mißbräuchlich“. * In Dortmund. Barbara Schmid, Andreas Wassermann

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Werbeseite Zu den Wirtschaftswunderregionen Po- lens gehört auch die Hafenstadt Szczecin. Mehr als 1800 Firmen mit ausländischem Kapital siedelten sich dort an, über 1000 al- lein aus Deutschland. Die Arbeitslosen- quote liegt hier bei 3,5 Prozent. Fünfmal höher ist der ostdeutsche Schnitt nur 50 Ki- lometer westwärts. Auf der Werft, dem größten Arbeitgeber Szczecins, waren 1997 bereits 10,7 Prozent der mehr als 10 500 Beschäftigten Ausländer. Hier wäre auch Platz für deutsche Mon- teure, Schweißer oder Elektriker – Fach- FOTOS: M. TRIPPEL / IMAGES.DE M. TRIPPEL FOTOS: Ingenieur Wichert: Praxistest jenseits der Oder

ARBEITSMARKT Im Osten was Neues Textilfachfrau Bardehle (in Zielona Góra) In Westpolen entstehen blühende Industrielandschaften. Für den Job über die Grenze Auch deutsche Firmen investieren arbeiter, die bei den Arbeitsämtern im be- hier – und häufig folgen ihnen die eigenen Fachkräfte. nachbarten Mecklenburg-Vorpommern Schlange stehen. Doch für knapp 1000 enn Gisela Bardehle jeden Mon- Der Boom in Polen, da ist sich Bernd Mark monatlich fährt kaum einer täglich tag kurz nach sechs den deutsch- Rietscher, Chef des Bildungswerkes im durchs polnische Land. Zum Jobben mal Wpolnischen Grenzübergang Gu- Unternehmensverband Neubrandenburg, eben rüber nach Polen – das dauert noch. bin erreicht, wird sie einfach durchgewun- ganz sicher, bedeutet auch Hoffnung für „Das Gehaltsgefälle ist zu groß“, meint ken. Man kennt sich inzwischen. den trostlosen Arbeitsmarkt in Deutsch- auch Klaus Ranner, Chef des deutschen Die Textilfachfrau aus Cottbus wohnt lands östlichstem Osten. Dort hält sich die Generalkonsulats in Szczecin. Zudem glau- während der Woche in Zielona Góra, 60 Ki- Arbeitslosenquote knapp unter 20 Prozent, be er nicht, daß ein Deutscher aus der lometer östlich der Grenze. Bardehle, 55, über drei Viertel davon sind Hoch- und Grenzregion „bereit wäre, in Szczecin zu leitet als Meisterin im Polsterwerk Steinpol Fachschulabsolventen oder Facharbeiter. arbeiten oder sich hier anzusiedeln“. den Zuschnitt, ein Ressort mit 94 polni- Arbeitslosen, die motiviert und flexibel sei- Weil sich aber in der Heimat nichts tut, schen Arbeiterinnen. en und „noch mal richtig was lernen wol- wächst die Bereitschaft zum Wechsel. Wie Die Firma war, um Kosten zu senken, len“, biete die Spezialisierung aufs Ostge- die Brandenburgerin Gisela Bardehle hat vor zwei Jahren von Brandenburg kom- schäft eine echte Chance. Rietscher: „Die auch der Mecklenburger Erwin Schmidt, plett nach Polen umgezogen. Statt beim territoriale Nähe zu den Boom-towns in 55, eine Zweitwohnung in Firmennähe. Seit Arbeitsamt zu warten, lernte Gisela Bar- Polen müssen wir nutzen.“ Juni 1997 ist der gelernte Maschinen- dehle Polnisch – und folgte ihrem Meister- Doch vorerst geht das nur begrenzt – bauingenieur Chef der City-Garage, einer job nach Zielona Góra. wo der EU-Raum endet, beginnen die Pro- Szczeciner Fünf-Mann-Firma, die Bauma- Die Firma Steinpol ist eines von etwa bleme. Vor allem für jene, die in Polen di- schinen an Großbetriebe verleiht. Die City- 6000 Unternehmen, die bisher deutsches rekt einen Job annehmen und nicht von ei- Garage ist die polnische Tochter der Neu- Kapital in Polen investierten. In Städten nem Mutterunternehmen geschickt wer- brandenburger Baumaschinen-Vertriebs- wie Zielona Góra, Jelenia Góra, Szczecin, den, also Sozial- und Rentenversiche- GmbH, deren Firmenchef Helmut Winter- Poznan´, Leszno und Wroc¬aw, so eine neue rungsfragen allein regeln müssen. feldt in diesem Jahr „fünf bis zehn Ar- Studie des polnischen Instituts für Markt- Hinzu kommt: Wer vom Arbeitsamt beitsplätze vor allem für zweisprachige wirtschaft, wird das Engagement auslän- durch Lehrgänge auf Poleneinsätze vorbe- Fachleute“ schaffen will. Das Mutterhaus discher, darunter auch vieler deutscher, In- reitet wurde, hat zwar Aussicht auf Arbeit, regelt Gehalt und Sozialleistungen für vestoren noch zunehmen. muß aber oft auch auf Geld verzichten – Schmidt, seine Arbeitsgenehmigung kam So entstehen die blühenden Landschaf- der Facharbeiterlohn in Polen (650 bis 800 problemlos vom Woiwodschaftsamt – eine ten – die Einheitskanzler Helmut Kohl Mark monatlich) liegt in der Regel unter von rund 3000, die Deutsche seit 1993 in einst dem deutschen Osten versprach – der Arbeitslosenhilfe in Deutschland. Polen erhielten. nun jenseits der Grenze. Die Blüte kommt „Noch können wir die Gehälter deutsch- Torsten Wichert, 37, Praktikant aus dem mit solcher Macht, daß es schon jetzt hü- polnischer Firmen nicht aufstocken“, sagt Mecklenburgischen, pendelt seit gut zwei ben wie drüben an polnisch sprechenden Joachim Seidel, Vizechef des Arbeitsamts Monaten täglich nach Szczecin und zurück. Fachkräften mangelt – vor allem sind Ex- Neubrandenburg, der aber auf neue Rege- Der Hochschulingenieur und gelernte perten rar, die Recht, Finanzwesen und lungen für eine Kombilohnvariante im Facharbeiter für Datenverarbeitung war Buchhaltung beider Länder beherrschen. Grenzbereich hofft. bis Februar 1997 einer der fast 50800 beim

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Arbeitsamt Neubrandenburg registrierten Arbeitslosen. Dann nahm er das Angebot an, eine halbjährige Ganztagsausbildung zum Finanzkaufmann mit dem Spezialge- biet Polen zu absolvieren – Sprachkurs und zweimonatigen Praxiseinsatz inklusive. Gemeinsam mit 18 anderen Jobsuchen- den der Region paukte er Vokabeln, Fi- nanzrecht und Buchhaltung in jeweils deut- scher oder polnischer Variation. Jetzt fühlt er sich „ganz gut mit Theorie vollgestopft“ und fit für den Praxistest jenseits der Oder, bei der City-Garage. Gleiches gilt für die Bürokauffrau Ma- nuela Völkert, die nach dem Praktikum in Szczecin auf eine Festanstellung hofft: „Zwei Jahre Zwangspause waren genug.“ Dafür würde sie „mit einem Hunderter weniger“ leben. Von den starken Vorurtei- len und spezifisch ostdeutschen Überheb- lichkeiten den Polen gegenüber („Schon im Sozialismusmachen waren wir besser“) hält sie jedenfalls nichts: „Lieber ein Stück weiter fahren und hinter der Grenze ar- beiten als gar nicht.“ Wäre in Polen ein fester Job in Sicht, würde sich auch Wichert „dort nach einer Bleibe umsehen – aber finanziell ver- schlechtern möchte ich mich nicht“. Das versteht Peter Heise, Geschäftsfüh- rer der Pomerania. Die Kommunalgemein- schaft ist Mitglied der gleichnamigen Euro- region, in der deutsche Kommunen mit pol- nischen und schwedischen Nachbarn zu- sammenarbeiten. „In diesem Jahr wollen wir die Arbeitsmarktfragen, Lohn- und Gehaltsprobleme hüben und drüben an- packen“, verspricht Heise. Für eine Aus- gleichsregelung gebe es „positive Signale“. Schon vor zwei Jahren hatten Rietscher und seine Kollegen vom Bildungswerk Neubrandenburg ein Ausbildungsprojekt mit Polnischkurs angeregt. Weil aber ex- akte Bedarfsdaten fehlten, machte das Arbeitsamt nicht mit, die Finanzierung scheiterte. Grenzüberschreitende Bedarfsstudien, so Rietscher, „sind bis heute nirgends zu bekommen“. Deshalb reiste er selbst west- lich und östlich der polnischen Grenze von Firma zu Firma und brachte statt Analysen Praktikumsplätze mit. Dietrich Lehmann, Chef der Torgelower ME-LE Holding, hält den raschen Ausbau der „multikulturellen Weiterbildung“ im Osten für ein Muß. Seine Firma, die mit 1200 Beschäftigten im Anlagenbau und Dienstleistungsbereich über 260 Millionen Mark Jahresumsatz macht, würde sofort fünf deutsche Zweisprachler fürs Polenge- schäft einstellen – wenn es denn welche gäbe. Gerade die Fachleute aus der Ex-DDR, sagt Lehmann, könnten sich schließlich noch sehr gut erinnern, „wie einst alles seinen sozialistischen Gang ging“. Sie wüß- ten, wie man „den Wechsel zur Markt- wirtschaft packt, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen“. Irina Repke

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BUNDESWEHR Schnupperkurs beim Bund Wie viele Soldaten braucht das Land? Wird eine Berufsarmee der neuen Lage in Europa nicht eher gerecht? Die Debatte um die Wehrpflicht lebt wieder auf. Verteidigungsminister Rudolf Scharping macht vor Reformen erst einmal Inventur.

er neue Verteidigungsminister läßt ventur machen.Vorige Woche begann er in stieg der Rüstungskosten durch schärfere es gemächlich angehen. Nach Jah- Dresden eine Serie von Treffen mit Solda- Finanzkontrolle bremsen und bei der Trup- Dren des Umbaus und der Unruhe in ten verschiedener Dienstgrade. Scharping pe kräftig rationalisieren. Das wird sich der Bundeswehr will sich Rudolf Schar- will aus erster Hand erfahren, wo die Trup- aber erst in einigen Jahren auszahlen. ping mit Reformen Zeit lassen: „Sorgfalt pe der Schuh drückt. Bis April soll die „Be- Andererseits: Gut die Hälfte des Etats geht vor Geschwindigkeit.“ standsaufnahme“ fertig sein. wird für Sold und Gehälter verbraucht. Das Motto behagt dem schwerfälligen Zwar verlangte der SPD-Minister, wie 30000 Wehrpflichtige weniger in die Ka- Militärapparat: weitermachen, Ruhe be- schon der CDU-Vorgänger Volker Rühe, sernen zu rufen könnte knapp eine Mil- wahren, vorerst bleibt alles beim alten, bei den Wehretat für 1999 um fast eine Milliar- liarde Mark sparen. Das aber hieße, die der Wehrpflicht, bei 338000 Soldaten für de auf 47,5 Milliarden Mark zu erhöhen. Bundeswehr schleichend zu verkleinern Heer, Luftwaffe und Marine, dazu bei rund Scharping berief sich auf Zusagen des Kanz- und – für Scharping ein Graus – die Wehr- 140000 Zivilbediensteten. lers, die Hardthöhe werde nicht als „Stein- pflicht auszuhöhlen. Ein bißchen Tempo würde nicht scha- bruch“ zur Etat-Sanierung mißbraucht wer- Dabei hat der neue Wehrminister ehr- den, denn die Probleme drängen: Die den, weil, so Gerhard Schröder, „die schon geizige Pläne: Flexibel, hochmobil, schnell geplante neue Nato-Strategie, Geldnot jetzt mit dem Helm an die Decke stoßen“. verlegbar müßten die Streitkräfte sein, um und grassierende Kriegsdienstverweige- Nur machte Scharpings ewiger Rivale der künftigen Nato-Strategie gerecht zu rung fachen eine neue Debatte um die Oskar Lafontaine einen Strich durch die werden. Die Bundeswehr dürfe deswegen Wehrpflicht und die Truppen- den Anschluß an die weltweit stärke an. agierende High-Tech-Armee Weil der Verteidigungshaus- der Amerikaner nicht ver- halt seit 1990 immer wieder re- passen; modernste Computer, duziert wurde, ist die Bundes- Kommunikations- und Auf- wehr in eine „prekäre Lage“ klärungsmittel müßten her – geraten, resümiert die „Stiftung auch im Weltraum. Wissenschaft und Politik“, eine Die deutsche Wehrpflicht- bundeseigene Denkfabrik. In Armee ist noch immer auf manchen Bataillonen ist nur einen Ernstfall ausgerichtet, noch ein Drittel der Fahrzeuge den selbst ihr Minister für einsatzbereit.Vielerorts werden „höchst unwahrscheinlich“ Panzer und Lastwagen, Jeeps, hält – die Landesverteidigung sogar Hubschrauber und Flug- mitten in Europa. Die Nato- zeuge ausgeschlachtet, um we- Vormacht Amerika setzt aber nigstens die Truppenkontin- andere Schwerpunkte: Die gente auf dem Balkan mit Er- Allianz soll künftig die „Inter-

satzteilen versorgen zu können. S. SCHULZ / RETRO essen der Bündnispartner“ Die „ungenügende Versor- Minister Scharping (r.), Soldaten*: Wo der Schuh drückt (Scharping) schützen, wie im- gung der Truppe mit Material mer die aussehen und wo nimmt teilweise erschreckende Ausmaße Rechnung. Mit Schröders Placet verordne- immer sie im Umfeld des Nato-Gebiets an“, warnt auch eine neue Studie des te der Finanzminister allen Ressorts, die bedroht sein mögen. Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bun- Etat-Anmeldung um ein halbes Prozent zu Da bewegt sich die Bonner Regierung deswehr. Die Motivation der Soldaten kürzen: Scharping war mit einem Schlag auf glitschiges Terrain zu: Das neue strate- leide, bemängelte die Wehrbeauftragte rund eine Viertelmilliarde los. gische Konzept, das Ende April beim Claire Marienfeld, weil Geld für die Mo- So gerät der Verteidigungsminister in großen Nato-Gipfel in Washington verab- dernisierung und die Reparatur veralteten eine Zwickmühle. Denn nennenswerten schiedet werden soll, könnte allzu leicht Geräts fehle. Spielraum für Einsparungen hat er nicht. die Wehrpflicht noch weiter aushöhlen. Erst im Herbst des Jahres 2000, so will es Soll der Alltagsbetrieb der Truppe nicht Schon jetzt schickt Bonn nur Freiwillige Scharping, soll eine Wehrstrukturkommis- zum Stillstand kommen, darf Scharping zu Auslandseinsätzen, nach Mazedonien sion Empfehlungen für die künftige Armee nicht noch mehr an Sprit und Wartung spa- oder Bosnien-Herzegowina. Warum dann abgeben.Vor der nächsten Bundestagswahl ren. Wollte er die Ausgaben reduzieren, nicht gleich eine Profi-Armee schaffen? wird keine weitere Garnison geschlossen: müßte er bereits geschlossene Lieferver- Diese Konsequenz aus dem Zusammen- Als „schöne Orientierung“ (Scharping) für träge für neues Wehrmaterial brechen. bruch des Warschauer Pakts und der So- den Abschluß der längst überfälligen Re- Um „Mittel freizuschaufeln“ (Schar- wjetunion haben viele Bündnispartner ge- form dient der 50. Jahrestag der Bundes- ping), will der Minister nun die zivile Ver- zogen: Belgien, die Niederlande, Frank- wehrgründung, im Jahr 2006. waltung entschlacken, den notorischen An- reich oder Spanien.Amerikaner und Briten Einstweilen läßt der nur widerwillig auf greifen auf Wehrzwang nur in Kriegszeiten der Hardthöhe eingerückte Minister In- * Beim Truppenbesuch in Sarajevo am 23. Dezember 1998. zurück.

64 der spiegel 3/1999 wehr selbst, rechnen seit Jahren Stimmt. Erfahrungsgemäß entscheidet vor, eine kleinere Freiwilligenar- ein Rekrut aber gleich nach der acht- mee sei kosteneffektiver als die wöchigen Grundausbildung, ob er für län- aufgeblähte Wehrpflichttruppe. gere Zeit freiwillig beim Bund bleiben will: Mindestens sieben Milliarden Für die Werbung könnten mithin – wenn’s Mark im Jahr ließen sich ohne denn unbedingt sein muß – einige wenige Verlust an Kampfkraft einsparen, Monate als Schnupperkurs ausreichen. kalkuliert der Friedensforscher Schon kursieren solche Denkmodelle in Dieter Lutz von der Uni Ham- den Stäben: ein Freiwilligenheer mit einer burg, wenn das Militär auf 200000 „Milizkomponente“ aus Reservisten und freiwillige Soldaten schrumpfen Kurzzeit-Rekruten, denen nur einige und der zivile Verwaltungsappa- Grundfertigkeiten eingebleut würden. rat ausgedünnt würde. Den Wehrdienst auf sechs Monate zu Weil Deutschland nur noch kappen, regte ein Konzept aus dem Pla- von Nato-Mitgliedern und Part- nungsstab des Außenministeriums an, das nern umgeben sei, könne es noch unter erstellt wurde. auf die „Option Landesverteidi- Nur noch 70 000 statt jetzt 135 000 Re- gung“ verzichten, befindet eine kruten sollten in reinen Ausbildungs- Studie des Wissenschaftlichen einheiten dienen, ein Werbe-Reservoir Dienstes des Bundestags. Zur für allzeit kampfbereite „Einsatzstreit- Bündnis-Verteidigung reiche ein kräfte“ mit etwa 180 000 Profi-Soldaten. Beitrag der Landstreitkräfte „in So ließen sich Wehrpflicht samt Zivil- der Größenordnung eines ver- dienst retten und einige Milliarden Mark stärkten Korps“. Im Klartext: im Jahr sparen. Das Heer könnte auf halbe Stär- Als Muster für seine Zukunftskommis- ke zusammenschnurren. sion aus Vertretern wichtiger gesellschaft- Mit dem Übergang zu einer licher Gruppen dient Scharping eine Ex- Freiwilligentruppe ohne Wehr- pertenrunde, die einst sein großes Vorbild, pflicht wäre aber der Zivildienst der SPD-Wehrminister Helmut Schmidt, hinfällig, ein Horror für Sozial- zusammengetrommelt hatte.

M. DARCHINGER politiker und karitative Ver- Die empfahl zwar vor nunmehr 27 Jah- Bundeswehrübung*: Neue Existenzgrundlage bände: Ihnen kämen mehr als ren – mitten im Kalten Krieg, in Deutsch- 130000 Zivis abhanden, staatlich land (West) standen fast 500 000 Mann Die Zahl der Wehrunwilligen wächst. subventionierte Billigst-Arbeitskräfte für Gewehr bei Fuß – keineswegs, die Wehr- Fast 172000 Männer – neuer Rekord – stell- Spitäler oder Altenheime. pflicht sofort abzuschaffen. Sie gelangte ten 1998 einen entsprechenden Antrag. Das Für diese Abschaffung der Zwangsdien- aber zu der Einsicht: „Freiwilligen-Streit- entspricht einer Verweigererquote von 34 ste treten Bündnisgrüne ein. Sie möchten kräfte entsprechen einer arbeitsteiligen In- Prozent und in absoluten Zahlen ziemlich Freiwillige wählen lassen zwischen Militär dustriegesellschaft am besten.“ genau der Anzahl der Rekruten, die zum oder Friedensdiensten in heimischen Kran- Deshalb, so die Wehrstrukturkommission zehnmonatigen Grundwehrdienst ein- kenhäusern wie in Elendsquartieren der 1972, solle „im Falle einer wesentlichen Ver- rücken mußten. Dritten Welt. Die Wehrpflicht sei ein „Aus- änderung der sicherheitspolitischen Lage, Der Anstieg komme nicht überraschend, laufmodell“, urteilt Angelika Beer, grüne die eine beträchtliche Verringerung der Prä- er decke sich mit internen Prognosen, trö- Wehrexpertin im Bundestag, in seltener senz ermöglicht, die Frage der Umwand- sten sich die Militärplaner. Noch gebe es Eintracht mit dem FDP-Kollegen Jürgen lung der Bundeswehr in Freiwilligen-Streit- genug Wehrwillige, um den „Bedarf“ an Koppelin, der aber in seiner Partei noch kräfte abermals geprüft werden“. Rekruten und Freiwilligen zu decken. Die keine Mehrheit findet. SPD-Fachmann Der Fall ist eingetreten. Zahl der Verweigerer wird wohl bald ab- Manfred Opel, vormals Luftwaffengeneral, Alexander Szandar nehmen. Besonders im Osten der Repu- warb dafür, die Wehrpflicht auszusetzen. blik drängen die Jugendlichen zu den Fah- Die CDU/CSU steht, von Einzelstim- nen, eine Folge der dramatischen Arbeits- men abgesehen, fest zur Rekrutierung. Die losigkeit. rot-grünen Befürworter der Freiwilligen- Um „Wehrgerechtigkeit“ zu wahren, das armee müssen erst neuerdings stillhalten, heißt, die potentiellen Rekruten tatsächlich mit Rücksicht auf Scharpings Kommission einzuberufen, müßte die Bundeswehr ver- „Zukunft der Bundeswehr“ – und auf den mutlich im Jahr 2001 entweder die strengen Verteidigungsminister selbst. Scharping Tauglichkeits- und Einberufungsregeln möchte die Wehrpflicht („Ein Programm lockern – oder die Dienstzeit kürzen. für die Zukunft“) behalten; sie gewährlei- Ein hübsches Dilemma. Denn eines ist ste am besten die „Verankerung“ der Trup- klar: „Größer“, da ist Heeresinspekteur pe in der Gesellschaft. Helmut Willmann sich mit den Spitzen von Als Hilfsargument für die Wehrpflicht Luftwaffe und Marine einig, „wird die muß sogar der versprochene Abbau der Bundeswehr nicht werden“. Vor allem das Arbeitslosigkeit herhalten.Wenn die sinke, Heer mit stattlichen 230000 Soldaten wird so Scharping, werde es im Wettbewerb mit reduziert werden. der freien Wirtschaft schwer und teuer, Zukunftsmodelle gibt es zuhauf. Wis- genügend qualifizierte Spezialisten für die senschaftler, auch solche aus der Bundes- künftige High-Tech-Streitmacht anzuwer-

ben. Immerhin komme fast die Hälfte des / NETZHAUT DIETRICH J. * Übung „Schneller Adler“ zur Befreiung deutscher Nachwuchses an Unteroffizieren und Offi- Zivildienst im Krankenhaus Geiseln im Ausland (1997). zieren aus den Reihen der Rekruten. Subvention für Spitäler

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POLITISCHES BUCH Langer Faden ins Grundsätzliche Als Autor erntet Erhard Eppler die Anerkennung, die ihm als Berufspolitiker und Wachstumskritiker versagt blieb. Zu seiner späten Genugtuung trägt bei, daß die Regierung Schröder die ökologische Steuerreform einführen und den Ausstieg aus der Kernenergie festlegen will.

richtigen Regieren nach langen Jahren des falschen Regierens lesen*. Sozialdemokraten wol- len nicht nur die Welt ver- ändern, wenn sie die Ge- legenheit dazu finden, sie beschreiben sie auch mit Leidenschaft. Dieser Nei- gung kommen derzeit, ab- gesehen von den Memoi- ren-Schreibern, allerdings nicht mehr viele Genossen nach. Seit er in Erfurt eine Universität aufbaut, verfaßt Peter Glotz entschieden weniger Bücher. Für die hochtheoretische Aufberei- tung der Gegenwartspolitik ist Thomas Meyer bei der Friedrich-Ebert-Stiftung zu- ständig. Und Eppler, nun- mehr ein schmächtiger äl- terer Herr ohne große Ge- brechen, sorgt dafür, daß er und die Sache, die ihn be- wegt, nicht in Vergessenheit geraten. In schlichter, klarer Spra- che, in der die Genugtuung

B. BOSTELMANN / ARGUM über seine erhellenden Er- Autor Eppler vor seinem Haus in Schwäbisch-Hall: Sprödes Idyll auf dem festen Boden deutscher Provinz kenntnisse manches Mal nachbebt, verfolgt er die erta Däubler-Gmelin kam neulich merhin daran, ganz vorsichtig einiges um- langen Fäden aus der Gegenwart in die Ver- vorbei und erzählte über die Um- zusetzen, wofür Eppler, mittlerweile ein gangenheit und ins Grundsätzliche, immer Hgangsformen im Kabinett. Solche älterer Herr von 72, seit 25 Jahren schrei- anschaulich und niemals zweckfrei. Denn Neuigkeiten ordnet der Gastgeber Erhard bend und redend wirbt. ein „political animal“ ist Eppler auf seine Eppler in seine Erfahrungswelt ein, auch Vor ein paar Jahren ist Eppler mit seiner Weise auch nach dem mählichen Ausstieg wenn die, zugegeben, ziemlich betagt ist: Frau wieder in sein Elternhaus gezogen, in aus der Politik – erst 1974 als Entwick- Gerhard Schröder läßt diskutieren, seine dem er, das vierte von sieben Kindern, in lungsminister, dann 1981 als Landesvorsit- Minister kommen zur Geltung – das ist so einem Lehrerhaushalt aufgewachsen war. zender der SPD in Baden-Württemberg, wie damals bei Willy Brandt und anders als Er baut Hokkaido-Kürbisse an, deren Ge- schließlich 1991 aus dem Vorstand seiner bei Helmut Schmidt. nuß er empfiehlt. Fünf Enten erfüllen den Partei – geblieben. Mit Oskar Lafontaine, der in seinen Zweck, die Zahl der Frösche im Teich ne- Die Vergangenheit nimmt für den Bü- wilden Anfängen als nationale Größe eini- ben dem unprätentiösen Haus gering zu cherschreiber Eppler viel Raum ein, weil er ges über den Zusammenhang zwischen halten. Vorn am Eingang wächst ein Ging- darin als handelnde Person vorkommt.Al- Ökonomie und Ökologie vom schwierigen ko-Baum, den der Hausherr unter Verweis lerdings ist er der falschen Politik, die jetzt Genossen Eppler gelernt hat, steht der auf Goethe vorführt. die Rückkehr zur richtigen verlangt, selbst Pensionär aus Schwäbisch-Hall in Brief- In diesem spröden Idyll, auf dem festen lange Zeit aufgesessen. kontakt. Man schickt sich dies und das und Boden der deutschen Provinz, entstehen Er teilte den Glauben an die zyklische natürlich auch die jeweils neuesten Bücher. gründlich durchdachte Bücher über Politik, Wiederkehr großer Wachstumsraten, die Und der Kanzler Schröder, den Eppler einen Beruf, den Eppler 30 Jahre lang aus- Überzeugung von der Planbarkeit des Fort- halb hoffnungsvoll, halb befremdet ein geübt und mehr noch erlitten hat. Das schritts und von der andauernden Vollbe- „mutiges political animal“ nannte (SPIE- jüngste Produkt schrieb er noch vor der GEL 13/1993)? Na ja, keine Korrespondenz, Bundestagswahl, und es läßt sich jetzt un- * Erhard Eppler: „Die Wiederkehr der Politik“. Insel keine Ratsuche, aber er macht sich im- schwer als kleine Gebrauchsanleitung zum Verlag, Frankfurt am Main; 312 Seiten; 39,80 Mark.

68 der spiegel 3/1999 schäftigung. Er dachte wie Helmut Schmidt sammelte er Niederlagen gegen die Staats- und wie die Mehrheit der SPD – aber im partei CDU. Kaum jemand hätte sich ge- Unterschied zu beiden nahm er den Be- wundert, wenn er seinen Beruf als Politiker richt des Club of 1972 und die Erd- aufgegeben und die SPD verlassen hätte. ölkrisen als Zeichen epochalen Wandels Sein Anker blieb der rückhaltlos be- ernst und verlangte von Politik und Ge- wunderte Willy Brandt. Dazu kam die Un- sellschaft den Bewußtseinswandel, den er lust, von der Politik zu lassen und etwa als gerade selbst vollzog – „Pietkong!“ blaff- Lehrer für Deutsch und Englisch zu arbei- te Herbert Wehner, und Schmidt hielt ihn ten, und die Einsicht, daß ihm die Anfein- für einen pietistischen Schwärmer. dungen aus der Schmidt-SPD mehr Be- Den Konvertiten zur Ökologie schloß deutung verliehen, als ihm real zustand. die neue außerparlamentarische Opposi- In der SPD gehörte Eppler einer Zwi- tion (Apo), die damals gegen Wyhl, Gor- schengeneration an. Für die ersten Ämter leben und Brokdorf demonstrierte, in ihr in Staat und Partei waren er oder auch der Herz. Den Rüstungsgegner nahm die Frie- fast gleichaltrige Hans-Jochen Vogel beim densbewegung auf. Den Grünen, seiner- Machtwechsel 1969 zu jung; an Brandt und zeit eine wilde bunte Truppe, von der nie- Schmidt kamen sie nicht vorbei. Für die mand sagen konnte, was daraus werden Rückeroberung der Regierung nach dem würde, lieferte Eppler einige Stichworte. Machtwechsel 1982 waren sie zu alt. Von ihm stammt der Begriff Lebensqua- Vogel war der inkarnierte Übergang; er lität, er unterschied als erster zwischen wartete, bis Lafontaine soweit war, und trat Wert- und Strukturkonservativen. ab. Eppler leitete die Grundsatzkommis- Was Willy Brandt für die 68er Studen- sion seiner Partei, schrieb an allerlei Pro- ten war, wollte Eppler vermutlich für die grammen mit, die in der Oppositionszeit neue Apo sein. Er wollte die Generationen inflationär erarbeitet wurden. versöhnen und radikalisierte sich selbst Die Genossen, die ihm das Renegaten- dabei. Dennoch war es gut, daß ein Politi- tum nicht verziehen hatten, zollten ihm ker aus dem sozialdemokratischen Esta- langsam wieder Achtung und Anerken- blishment Einfluß auf die zweite Apo nung. Die nachwachsende Führungsgarde nahm – für den Verlauf der Dinge wie für besitzt ohnehin ein entspanntes Verhältnis die SPD. Eppler selbst erlebte die Zwei- zu ihm. Johannes Rau, kaum jünger als teilung in den baden-württembergischen Eppler und Vogel, ist der einzige aus die- Landesvorsitzenden und die Heilsfigur ser Interims-Generation, der sich im fort- von Ökologen und Pazifisten als größt- geschrittenen Alter nicht freiwillig aus der mögliche innere Zerrissenheit. Politik zurückzieht.

Den handelnden Politiker zeichnet in In den 16 Jahren der Ära Kohl ist die Il- SIMON SVEN Epplers Idealvorstellung eine „durch lusion von der Vollbeschäftigung und vom Kollegen Eppler, Schmidt* nichts zu erschütternde Sachlichkeit“ staatlich organisierbaren Wachstum von In- Zur Ökologie konvertiert aus. Am Eppler der siebziger Jahre aber dustrie und Wirtschaft vollends verdampft. fielen unfrohe Rechthaberei, hochfah- Für Eppler eine folgerichtige Entwicklung, seiner Politik erhebt, findet Eppler eben- rende Unduldsamkeit, ein Hang zum Mär- wie er lakonisch bemerkt. so mutig wie riskant. Und natürlich er- tyrertum und der trockene Protestantis- Größeren Raum nimmt in seinem Buch scheint ihm Schröders groß inszenierte mus auf. die polemische Beschreibung des Neoli- Heldenverehrung für Schmidt übertrieben. beralismus ein, der seine Blütezeit vor Zufällig suchen der Kanzler und seine den jüngsten Asienkrisen erlebte. Mit Mitarbeiter noch immer nach einem ein- maximaler Verachtung beschreibt er gängigen Leitmotiv für die Zwecke und diese „schäbige Utopie“, die unter dem Ziele ihrer Regierung. Die Formel soll Primat der Ökonomie die Politik ab- einen eigenen Sound haben, arbeitsmäßi- schaffen wolle. ger und schnoddriger klingen als das er- Der Maßstab für die Rückkehr der Poli- habene „Mehr Demokratie wagen“ von tik, so schreibt Eppler, sei die ökologische Willy Brandt. Steuerreform. Daß sie, wegen Schröders Wenn sie nur will, kann sich die Limit, mit einer Erhöhung der Mineralöl- Schrödersche Wortfindungskommission steuer um sechs Pfennige einsetzt, stört bei Eppler bedienen. „Wiederkehr der den Pensionär aus Schwäbisch-Hall jetzt Politik“, das wäre doch was, oder? Erhard nicht weiter: Kleine Schritte in die richtige Eppler rückt seinen Sessel ein wenig zur

J. H. DARCHINGER J. Richtung seien nie vertan. Seite, um der strahlenden Wintersonne Demonstrant Eppler* Daß der Einstieg in den Ausstieg aus der auszuweichen, die ins Wohnzimmer fällt Stichworte für die zweite Apo Atomenergie beschlossene Sache ist, be- und ihn blendet, und relativiert schnell deutet für Eppler die ultimative Genugtu- wieder seinen Vorschlag. Der könnte ja Dem habituellen Einzelgänger machte ung. Soviel Wiederkehr der Politik hat er als doppelte Arroganz verstanden werden, seine Isolation in der SPD schwer zu schaf- sich, als er das Manuskript für sein Buch als habe es bisher keine Politik gegeben fen. In seiner Partei war er bald verhaßt auf seiner alten Schreibmaschine herun- und als erhebe er Anspruch auf Gehör wie und verfemt. In der Stuttgarter Provinz tertippte, nicht ausgemalt. ehedem. Was er von Gerhard Schröder halten Bescheidenheit soll die Tugend seines * Links: mit Heinrich Böll bei einer Kundgebung gegen soll, weiß der Autor noch nicht so recht. Alters sein, den wütenden Vorwurf der atomare Rüstung in Bonn am 10. Oktober 1981; rechts: Daß der seinen Ministern Spielraum ein- Anmaßung mußte er oft genug hinneh- nach der Ernennung Epplers zum Entwicklungsminister und Schmidts zum Finanzminister im Kabinett Brandt räumt, gefällt ihm gut. Daß er die Verrin- men, und ziemlich oft zu Recht. am 15. Dezember 1972. gerung der Arbeitslosigkeit zum Maßstab Gerhard Spörl

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ins heimatliche Agri überführt BEAMTE werden. Die Stadt Stuttgart genehmig- Alte Rechnungen te eine Trauerfeier vor dem Stammheimer Gefängnis – aller- Eine Kurden-Demo nutzte Baden- dings ohne zu wissen, daß der Tote im zugelöteten Zinksarg Württembergs Innenminister dabeisein sollte. Als Oberbür- als Vorwand, um einen liberalen germeister Wolfgang Schuster Polizeipräsidenten loszuwerden. (CDU) davon erfuhr, ließ er un-

ter Berufung auf deutsches Be- / GRAFFITI E. RÖTTGERS J. ine halbe Stunde lang beklagten 200 stattungsrecht den Sarg an der Kontrahenten Schuster, Haas: Was ist Toleranz? Kurden, darunter mit Fahnen be- Landesgrenze stoppen, obwohl Ewehrte PKK-Sympathisanten, vor vor dem Gefängnis schon 2500 Kurden auf gorismus nur wundern. „Das war doch dem Düsseldorfer Landtag den Selbstmord den Leichnam warteten. nichts Schlimmes“, befindet Sprecherin ihres Landsmanns Taylan Kahraman. Den Daraufhin setzte Haas alles daran, eine Andrea Dobler über die Trauerfeier am Toten hatten sie in einem Pappelholzsarg Ersatzfeier mit Sarg am Frankfurter Flug- Frankfurter Flughafen. Ein hoher Frank- dabei. Die Polizei, auf eine genehmigte hafen zu organisieren: Vom Parkplatz der furter Polizeibeamter attestierte dem Kol- Kundgebung, nicht aber auf eine Leiche Haftanstalt erwirkte er über Handy mit legen aus Baden-Württemberg, er habe im vorbereitet, hielt still, um die Trauernden Hilfe des Innenministeriums die Zusage „Rahmen einer Güterabwägung“ legitim nicht zu provozieren. Im Polizeilehrbuch der hessischen Behörden, daß die Kurden gehandelt, lieber einen Verstoß gegen die gibt es dafür das Wort „Deeskalation“. in Frankfurt trauern dürften, und gab dies Bestattungsverordnung als einen Konflikt Was in der nordrhein-westfälischen Me- den Demonstranten schriftlich – mit mit 2500 Menschen zu riskieren, die ihre tropole keinen Politiker interessierte und Dienstsiegel. Die Kurden machten sich mit Trauer nicht an den Mann bringen dürfen. den Lokalzeitungen kaum eine Zeile wert 30 Bussen und zahlreichen Pkw auf den Für die Christdemokraten Schuster und war, reichte vergangene Woche im Würt- Weg zum Frankfurter Airport. Schäuble war der Kurdenkonvent denn tembergischen, den Polizeipräsidenten von Dort versammelten sich rund 3000 Trau- auch nach Überzeugung der Opposition Stuttgart,Volker Haas, 61, seines Postens zu ernde friedlich um den toten Öztürk, in bloßer Anlaß, so der Fraktionschef der entheben. Eine vor der Strafanstalt Stamm- Stuttgart aber flogen die Fetzen: Haas be- Grünen im Landtag, Fritz Kuhn, „alte heim geplante Kurdenveranstaltung, ähn- klagte öffentlich einen Mangel an Toleranz Rechnungen“ mit dem Beamten zu be- lich der in Düsseldorf, nahm Innenmini- und Respekt in der Stadt. Schuster revan- gleichen. Von denen hat Haas in zwölf ster Thomas Schäuble (CDU) zum Vor- chierte sich mit dem Vorwurf, wer wie Haas Amtsjahren einige angesammelt. Der ex- wand, den seit Jahren wegen liberaler An- das öffentliche Zurschaustellen von PKK- trovertierte Fliegenträger, den Medien aus wandlungen mißliebigen Spitzenbeamten Toten als Ausdruck von Toleranz bezeich- demokratischem Selbstverständnis ebenso zu versetzen. ne, nehme die „schlimme Tradition der Na- gewogen wie aus Eitelkeit, hatte schon den Wie in Düsseldorf sollte in Stuttgart ein zis auf“ – auch die hätten ihre Verstorbe- früheren Innenminister Dietmar Schlee eingesargter Kurde, der PKK-Aktivist Bar- nen als Märtyrer benutzt. (CDU) 1992 bis aufs Blut mit seiner Forde- zan Öztürk, im Kreis von Angehörigen, Innenminister Schäuble stellte sich auf rung gereizt, Heroin unter ärztlicher Kon- Freunden, Kombattanten öffentlich be- die Seite des Parteifreundes Schuster, er- trolle an Süchtige auszugeben. trauert werden. Öztürk hatte sich im ver- kannte ein zerstörtes Vertrauensverhältnis 1996 legte sich Haas, der kurz nach der gangenen November im Stammheimer zwischen Polizeipräsident und Oberbür- Wende aus der CDU ausgetreten war, weil Gefängnis angezündet, war Anfang Januar germeister und versetzte Haas als Refe- ihm der Umgang seiner Partei mit den im Koblenzer Bundeswehrkrankenhaus ratsleiter in sein Ressort. DDR-Bürgerrechtlern nicht paßte, auch gestorben und sollte von dort via Stuttgart Im SPD-geführten hessischen Innenmi- mit dem frischgekürten Innenminister zum Frankfurter Flughafen und weiter nisterium kann man sich über solchen Ri- Schäuble an. Sehr zum Ärger des CDU- Manns machte sich der Ober- polizist im Oberbürgermeister- Wahlkampf mit dem Grünen- Kandidaten Rezzo Schlauch für Fixerstuben stark. Endgültig überzogen haben dürfte Haas mit einem offenher- zigen Interview, das er nach dem Bonner Regierungswechsel der „Frankfurter Rundschau“ gab. Mit Rot-Grün komme endlich eine „Kurskorrektur hin zu einer rationaleren Politik“, lobte der Polizeipräsident und empfahl ge- gen wachsende Jugendkrimina- lität die doppelte Staatsbürger- schaft ebenso wie das Verbot von Ohrfeigen für Kinder. Die Entfernung aus dem Amt nimmt Haas stoisch-gelassen: „Es ist wie in einer Ehe – wenn das Verhältnis zerrüttet ist, spielt

DPA die Frage der Schuld keine Trauerfeier für Öztürk in Frankfurt am Main: „Das war doch nichts Schlimmes“ Rolle.“ Jürgen Dahlkamp

72 der spiegel 3/1999 den Vorwurf „außerehelicher Kontakte“ für Rüß zuständigen Sprengels Holstein- KIRCHE von Rüß ein monatelanges Getuschel be- Lübeck (rund eine Million Gläubige) steht endet. Seit Wochen kannten die Zeitungen Karl Ludwig Kohlwage, 65, ein politisch in und um Hamburg die Gerüchte, Be- engagierter Bischof, der etwa die Anschaf- Unser Clinton richte waren bereits geschrieben. Doch fung des „Eurofighters“ kritisierte, weil er die Redaktionen zögerten mit der Veröf- Milliarden für ein Kampfflugzeug ange- Der Fall eines angeblich fentlichung, bis epd den ersten Stein warf sichts von „Millionen Menschen in Not und ehebrecherischen Geistlichen – mit Rückendeckung der zuständigen Elend“ für nicht gerechtfertigt hält. Kirchenleitung in Kiel, der ein einmali- Auf der anderen Seite verharrt die spaltet die Pastorenschaft: ger Presseknall lieber war als wochenlan- „Kirchliche Sammlung um Bibel und Be- Die Kirchenführung hatte die ge Spekulationen über das Sexleben des kenntnis“ – glaubenskonservative Chri- Affäre publik gemacht. Seelsorgers. sten, die sich von der linken Kirchen- B. J. FISCHERB. J. (li.); R. KLAR (re.) Bordellgegner Rüß (1995), benachbartes Freudenhaus: „Wer sündige Gedanken hat, wenn er gebunden ist, begeht Ehebruch“

ex außerhalb des Ehebettes hält der „O Gott, Herr Pfarrer“, schlagzeilte führung „ausgegrenzt, extremisiert und Pastor für eine Erfindung des Teufels. „Bild“ in Riesenlettern. An den Stamm- teilweise verunglimpft“ fühlen, wie der SDie Zweisamkeit ohne Trauschein hat tischen der 24 000-Einwohner-Gemeinde Vorsitzende der pietistischen Vereinigung, der Kirchenmann aus Henstedt-Ulzburg nannte man Rüß fortan „unseren Clinton“. Rüß’ Zwillingsbruder Ulrich, sagt. bei Hamburg stets leidenschaftlich be- Einige Geistliche machten umgehend die Die Kirche in Henstedt-Ulzburg gilt als kämpft. Liebe zwischen Männern ist für Pressearbeit der Oberhirten verantwort- eine Art Zentrum der Bibelfesten. Wenn ihn ein Grund für ewige Verdammnis, und lich für den Klatsch. Christian Rüß, ein Kollegen in den Nachbargemeinden Sonn- aus Protest gegen männlichen Triebabbau Bruder des vermeintlichen Sünders und tag morgens vor ein paar Handvoll Rent- in einem benachbarten Bordell ist Hoch- selbst Pfarrer am Hamburger Michel, be- nerinnen und Konfirmanden predigten, hat- würden gar auf die Straße gegangen. schuldigte die Kirchenjournalisten: Ausge- te Andreas Rüß volles Haus. Der Hardliner Standfest verkündete Andreas Rüß, 55, rechnet „unser Pressedienst“ habe einen zog Publikum aus dem weiten Umland an. sein Credo im Fernsehen: „Wer sündige „Vernichtungsfeldzug“ losgetreten, um sei- Die Gruppe von Rüß, sagt ein Hambur- Gedanken hat, wenn er gebunden ist, be- nen Bruder „gnadenlos zu zerstören“. ger Pastor, hatte „etwas Sektiererisches“, geht Ehebruch.“ Die Creme der hanseatischen Prote- auch die vermeintliche Gespielin zähle zu Nun soll der sittenstrenge Geistliche stanten-Geistlichkeit, die Pastoren der fünf den Jüngern des strengen Geistlichen. Die selbst gefehlt haben – ausgerechnet in der Hamburger Hauptkirchen, klagten in ei- Lehrerin saß im Kirchenvorstand und sang Friedhofskapelle, heißt es, habe er sich ner gemeinsamen Stellungnahme: „Es ist mit Rüß im Gemeindechor. Gemeinsam einer Frau aus dem Kirchenvorstand hin- für uns offensichtlich, daß hier lediglich protestierte man auf der Synode der gegeben. Kirchenpolitik betrieben wurde, dies mit Nordelbischen Kirche, als dort 1997 die Noch fehlen Belege. Doch die Informa- zweifelhaften, unsauberen Mitteln.“ Segnung von Homosexuellen beschlossen tionen eines Gemeindemitarbeiters reichte Die Erklärung der Pfarrer nährte den wurde. der Kirchenführung, gegen Rüß diszipli- Verdacht, die Enthüllungen über Rüß sei- Bei soviel Gemeinsamkeiten „ist es doch narrechtliche Ermittlungen einzuleiten. Sie en eine gezielte Indiskretion, um den Got- kein Wunder“, so ein Pfarrer der Nordel- stellte den Pastor damit gleichzeitig an den tesmann loszuwerden, dessen bigottes Sau- bischen Kirchenführung, „wenn die sich Pranger – und sorgte so für handfesten Är- bermanngehabe vielen Kirchenleuten seit ganzheitlich näherkommen.“ ger mit den eigenen Angestellten. Der Kle- langem auf die Nerven geht – was die Lei- Ähnlich locker sieht es auch mancher rus der Nordelbischen Kirche hat sich heil- tung der Nordelbischen Kirche, zu der die Christ aus der Rüß-Gemeinde. In einem los zerstritten über der Frage, wie offen Sprengel Hamburg, Schleswig und Hol- Leserbrief an die „Norderstedter Zeitung“ sich der Arbeitgeber Kirche über das In- stein-Lübeck gehören, natürlich vehement reimte einer ebenso holprig wie schaden- timleben seiner Mitarbeiter verbreiten darf. bestreitet. froh: „Bekämpft man vehement ’nen Puff, Der Evangelische Pressedienst (epd) Seit Jahren zieht sich ein Graben durch kriegt man nicht selten selbst den hatte am 5. Januar mit einer Meldung über die Nordelbische Kirche.An der Spitze des Knuff!“ Udo Ludwig

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AUTOINDUSTRIE Harter Poker um Nissan er Poker um Nissan geht in die End- Drunde. Um den Einstieg bei dem an- geschlagenen japanischen Autohersteller bewerben sich Renault, Ford und Daim- ler-Chrysler. Jürgen Schrempp, Chef von Daimler-Chrysler, reist diese Woche mit zwei Alternativplänen nach Japan. Ent-

weder will er sich mit rund 40 Prozent an DPA (re.) (li.); R. BOSSU / SYGMA der Nutzfahrzeugtochter Nissan Diesel Nissan-Lkw Schrempp beteiligen oder einen Anteil von weni- ger als 10 Prozent an der Muttergesell- der nötige Personalabbau müßte von den Beteiligung von Ford an Nissan könnte schaft Nissan Motors übernehmen, zu Japanern finanziert werden. Eine Betei- sich Daimler-Chrysler mit den Amerika- der auch das Pkw-Geschäft gehört. Der ligung am Gesamtkonzern Nissan würde nern arrangieren: Der Ford-Konzern, der Vertrag für einen Einstieg bei Nissan Die- Schrempp nur eingehen, um zu verhin- kein eigenes Schwerlastwagengeschäft sel ist bereits ausgearbeitet. Danach wür- dern, daß Renault einsteigt und Daimler- mehr betreibt, könnte die Pkw überneh- de Daimler-Chrysler keine Verpflichtun- Chrysler im Lastwagengeschäft in Asien men, Daimler-Chrysler würde Nissans gen für die hohen Schulden übernehmen; dann harte Konkurrenz macht. Bei einer Partner bei Nutzfahrzeugen.

TELEKOMMUNIKATION HYPOVEREINSBANK Sommer kündigt Verträge Der Krach geht weiter elekom-Chef Ron Sommer will seinen Wettbewerbern ei der HypoVereinsbank ist der Tdie Mietpreise für die Nutzung seiner Telefonnetze Bmühsam geschlichtete Streit erneut deutlich erhöhen. Die Bonner Telekom kündigte mit Wir- aufgeflammt. Vorstandschef Albrecht kung zum 31. Dezember dieses Jahres alle Intercon- Schmidt und Ex-Hypobank-Chef Eber- nection-Verträge der Wettbewerber, in denen die Kondi- hard Martini hatten zwar vereinbart, tionen der Netzzusammenschaltung geregelt sind. Gleich- sich nicht mehr gegenseitig Unfähigkeit zeitig ließ Sommer neue Vertragsentwürfe an die Kon- und Charakterschwäche vorzuhalten. kurrenten schicken, die für helle Aufregung sorgten. Laut Schmidt hatte zuvor die frühere Hypo- Analyse des von Konkurrenten beauftragten Telekommu- Führung öffentlich für milliardenschwe- nikationsberaters Bernd Jäger verteuert das neue Modell re Immobilienrisiken in Ostdeutschland die Preise für fast alle Telekom-Konkurrenten um „deut- verantwortlich gemacht. Am vergange- lich über 30 Prozent“. Für neue Firmen auf dem Markt nen Donnerstag hat der HypoVereins- könnten die Zuschläge noch weit höher ausfallen. Weil bank-Aufsichtsrat Schmidts Vertrag sich die Regulierungsbehörde erst im April mit dem The- um fünf Jahre verlängert. Nur Martini ma befassen will, erwägen einige Anbieter nun eine Be- schwerde bei der EU-Wettbewerbskommission. Sie soll in

M. LINKE / LAIF dem Milliardenpoker um Mietleitungspreise die nötige Telekom-Zentrale in Bonn Planungssicherheit per Anordnung herstellen.

WERFTEN ge um 26 Prozent überschritten. Finanz- minister Oskar Lafontaine versuchte Rostocker Tricks jüngst, die Überproduktion bei Van

Miert zu verteidigen; die Elbewerft Boi- GIRIBÁS J. n einem trickreichen Zusammenspiel zenburg habe dafür ihr Pensum nicht Martini, Schmidt Iversuchen die Treuhand-Nachfolgerin ausgeschöpft. Aus Brüsseler Sicht ist BvS und die Rostocker Kvaerner-War- dies nicht zulässig. Auf BvS-Empfehlung stimmte dagegen. Er kann es offenbar now-Werft, den EU-Wettbewerbskom- hat Kvaerner noch kurz vor Jahresende nicht verwinden, daß sein Studien- missar Karel Van Miert zu überlisten. zwölf Millionen Mark Beihilfen auf ein freund Schmidt ihn bloßgestellt hat. Zu- Nach den EU-Regeln müßten die Ro- Sonderkonto gezahlt. Dies soll der dem, so Martini in der Aufsichtsratssit- stocker zumindest einen Teil der Staats- Kommission gegenüber im Notfall als zung, habe Schmidt durch seine emotio- beihilfen (insgesamt: 1,2 Milliarden Beihilfe-Rückzahlung dargestellt wer- nal vorgetragene Kritik an früheren Mark) zurückzahlen, weil sie 1998 die den, mit der die Werft rechtmäßig eine Hypo-Managern der neuen Bank einen von Brüssel bewilligte Produktionsmen- Kapazitätsaufstockung erkauft habe. dauerhaften Imageschaden zugefügt.

der spiegel 3/1999 77 Medien

MARKETING TAGESPRESSE Spekulation mit Stars Duo am Start ür ihr Projekt einer deutschsprachi- homas Gottschalk will neben anderen Künstlern seine Popularität an der Börse Fgen Ausgabe plant die britische Ta- Tnutzen. Derzeit befindet sich der TV-Star in Gesprächen mit der im September geszeitung „Financial Times“ (Auflage: 1998 gegründeten Dolce Media AG aus dem schweizerischen Zug, die Handelsfirmen 384000 Exemplare) ein Joint-venture und Stars für Werbe- und Promotionprojekte zusammenbringen will. Gottschalks mit Gruner + Jahr. Ein gemeinsamer Bruder Christoph, der die Mehrheit hält und Vizepräsident im Verwaltungsrat ist, hat neuer Verlag soll nach dem Muster der bereits das Sexidol Verona Feldbusch als Werbefigur an die Telefonfirma Telegate „Financial Times“ eine Wirtschaftszei- vermittelt, eine Tochter des Handelskonzerns Metro. Er rede derzeit mit mehreren tung starten, mit Standorten in Ham- burg, Frankfurt am Main und Berlin. Ziel ist, die deutsche „Financial Times“- Auflage von 20000 Exemplaren auf deutlich über 100000 zu steigern. Bei der Investition soll Gruner + Jahr den kaufmännischen Part unter dem designierten Geschäftsführer Michael Rzesnitzek verantworten und der stell- vertretende „Financial Times“-Chef- redakteur Andrew Gowers die Redak- tion leiten. Auf einen formalen Be- schluß der beiden Verlage müsse man, so Gowers, „nicht mehr Monate war- ten“. Betroffen sind „Handelsblatt“ (Auflage: 147000) und „Frankfurter All- gemeine“ (Auflage: 404000). Die Frank- furter arbeiten ihrerseits an einer vier- seitigen täglichen Wirtschaftsbeilage in Englisch – als Teil der „International

M. TINNEFELD Herald Tribune“. Gottschalk

Künstlern, sagt der Marketingexperte, um deren Rechte zu vermarkten. Denkbar sind Gottschalk-T-Shirts oder „Wetten, daß …?“-Produkte, etwa eine CD-Rom, sowie die Vermittlung von Internet-Auftritten. „Der Weg zu meinem Bruder steht immer of- fen“, sagt der Dolce-Media-Gründer. Als Verwaltungsratschef agiert Peter Titz, im Hauptberuf Manager in der Zuger Metro-Holding und dort mit Venture-Capital be- traut. Seine Rolle bei Gottschalk habe aber „nichts mit Metro zu tun“, sagt er. Dolce Media solle als Rechtefirma nach dem Vorbild der Münchner EM-TV aufgebaut und in zwei Jahren an die Börse gebracht werden. Die 12000 Aktien wurden im Dezem- ber 1998 ausgewählten Investoren angeboten, darunter auch Fernsehsendern. Bier-Sponsoring im MDR

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INTERNET die Tochter DEWB zusammen mit Fi- Panne in der ARD nanzpartnern rund zehn Prozent. Für Späth kauft zu Jenoptik-Chef Lothar Späth, der sich n der ARD ist erstmals, entgegen ei- dazu nicht äußern will, ist die Rolle ei- Igenen Richtlinien, ein politisches ereinigungen und Börsengänge ste- nes Coachs vorgesehen. Kolb, den die Magazin gesponsert worden. Es han- Bhen im Multimedia-Markt bevor. So SPD zum „Unternehmer des Jahres“ delt sich um die Sendung „Wir“ im soll die Agentur Kabel New Media für kürte, soll sich auf die Beratung von Fir- Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), wo schätzungsweise 20 Millionen Mark an men wie Sony und neue Produkte für vergangenen Dienstag abend die Kro- die schwedische Icon Medialab gehen. Endkonsumenten konzentrieren. Mit stitzer Brauerei als Förderer auftrat. Darauf einigte sich der Hamburger Pe- dem künstlichen Internet-Popstar Die Werbung war Teil eines Deals, der ter Kabel, 36, der als Sprachrohr der E-Cyas hatte er zuletzt auf Computer- auch Zugang zu einer Sportsendung, Branche gilt, grundsätzlich mit Icon- messen Aufsehen erregt. einer Show und einer Ratgebersen- Mitgründer Johann Staël von Holstein. dung sicherte. In einem Brief kriti- Die Firma Icon (Kunden: VW, BP), die sierten 14 „Wir“-Mitarbeiter, das Bier- an der Stockholmer Börse notiert ist, Sponsoring sei eine „Fehlentschei- will noch 1999 in Frankfurt Aktien aus- dung“ und stelle die Unabhängigkeit geben. Gleiches plant die ID-Gruppe in Frage. Fernsehdirektor Henning des Multimedia-Pioniers Bernd Kolb, Röhl gab ihnen schließlich recht, das 36. Als strategischer Investor Polit-Sponsoring wird abgestellt. Röhl: übernimmt dabei der High- „Uns ist eine Panne passiert.“ Tech-Konzern Jenoptik über Popfigur E-Cyas 78 Geld

OPTIONEN 120 50 50 Aktien Gebühren heimlich in Euro 110 40 40 verdoppelt iele Banken haben die Umstellung 100 Vder Börsenkurse auf den Euro am 30 30 Jahresanfang dazu benutzt, klamm- 90 heimlich ihre Gebühren zu erhöhen. Bei Index-Optionsscheinen, mit denen Quelle: Datastream auf die Entwicklung des Dax spekuliert 80 20 20 Mai Juli Sept. Nov. Jan. Mai Juli Sept. Nov. Jan. Mai Juli Sept. Nov. Jan. wird, blieb etwa die Differenz zwischen 1998 1999 1998 1999 1998 1999 Kauf und Verkauf bei zwei Einheiten. Statt zwei Pfennig verdienen die mei- BÖRSE sten Kreditinstitute nun zwei Cent, also knapp das Doppelte, an jedem gehan- delten Schein. Bei dem größten Opti- Rückkäufe stützen onsscheinhändler, der Citibank, wird die Verdoppelung der Handelsspanne it einer Welle von Rückkäufen ei- Insgesamt haben sich 63 Firmenchefs damit begründet, daß auch an der Mgener Aktien versuchen Unterneh- 1998 von den Hauptversammlungen er- Eurex die Differenz zwischen Kauf- und men, ihre Kurse zu stabilisieren. Gegen mächtigen lassen, bis zu zehn Prozent Verkaufspreis für Optionen verdoppelt den Börsentrend konnte die BASF ver- der Aktien zurückzukaufen. SAP, Agiv, wurde. Die Eurex ist die europäische gangene Woche zunächst zulegen, nach- SGL Carbon, möglicherweise die stark Computerbörse, an der vor allem Groß- dem der Chemiekonzern angekündigt im Kurs gefallenen Großbanken gelten anleger mit Termingeschäften handeln. hatte, daß er in den nächsten Wochen als Kandidaten für Rückkaufaktionen. fünf Prozent der Aktien zurückkauft. „Solche Ankündigungen bringen immer Auch Unternehmen wie Schering, die etwas“, sagt Günter Dielmann, Aktien- BHF-Bank oder Kögel nutzen jetzt die analyst bei der Deutschen Bank. Die An- 240 245,5 bereits am 1. Mai 1998 vom Gesetzgeber leger sollten sich aber nicht zuviel ver- Neuer-Markt-Aktien eingeräumte Möglichkeit, weil erst seit sprechen. Im längerfristigen Durch- 200 in Euro kurzem feststeht, daß der Erwerb eigener schnitt, sagt Dielmann, liege die zusätz- Aktien keine steuerlichen Nachteile hat. liche Kurssteigerung bei drei Prozent. 160 CENIT 150,0

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AKTIEN nur in geringen Stückzahlen gehandelt 80 Quelle: MB Software werden, droht Aktionären leicht die Ge- Datastream Limits erweitern fahr, „ausgestoppt“ zu werden: Schon wenige Orders können den Kurs unter 40 ei den derzeit hohen Schwankungen das vereinbarte Limit drücken – und Dezember 1998 Januar 1999 Ban den Finanzmärkten – insbeson- dann verkauft die Bank zum nächst- dere auf dem bei Kleinanlegern ge- möglichen Preis. Auf diese Weise kann NEUER MARKT schätzten Neuen Markt – ärgern sich ein erhebliches Minus, bisweilen mehr viele Anleger, die zu enge Verkaufsli- als zehn Prozent, entstehen. Einen rich- Heiße Tips mits gesetzt haben. Bei Papieren, die tigen Schutz gegen dieses Phänomen gibt es nicht, beteuern Frankfurter ktientips werden zur heißbegehrten Wertpapierexperten. Sal.-Oppen- AWare – vor allem am Neuen Markt. heim-Analyst Michael Klein rät, auf Ein Tip des Börsenblatts „Prior Börse“ liquide, das heißt häufig gehandelte, trieb den Kurs von MB Software inner- Werte zu setzen – oder die Stop- halb weniger Tage um über 135 Prozent Loss-Kurse nicht wie üblich drei bis nach oben; und um 57 Prozent stieg die fünf Prozent unter dem aktuellen Cenit-Aktie nach einer Empfehlung des Aktienwert zu setzen, sondern die „Platow Briefs“. Die Wirkung über- Spanne auf fünf bis zehn Prozent zu rascht, denn die Börsendienste erschei- erweitern. Fällt die Aktie dennoch nen in Mini-Auflagen von wenigen tau- unter den Stop-Loss-Kurs, kann der send Stück. Doch die Empfehlungen Anleger zumindest sicher sein, ei- sprächen sich „in den Medien und im nen möglicherweise bevorstehenden Internet in Windeseile“ herum, weiß Crash nicht mitzumachen. Hat er Platow-Redakteur Axel Mühlhaus, „und das Papier insgesamt mit einem Plus mobilisieren dadurch größere Käufer- verkauft, kann er sich mit einer al- scharen“. Viele Aktienfans ordern ohne ten Börsenweisheit trösten: „Von Preislimit, trotz Warnungen durch das

M. VOLLMER Gewinn-Mitnahmen ist noch nie- Platow-Team, und beschleunigen damit Börse in Frankfurt mand arm geworden.“ den Kursauftrieb.

der spiegel 3/1999 79 REUTERS Steuerreformer Schröder*: Plötzlich Applaus von ungewohnter Seite – vermischt mit viel Skepsis

WIRTSCHAFTSPOLITIK Einheitssteuer für alle Die rot-grüne Regierung überrascht ihre Kritiker aus der Wirtschaft mit einem ehrgeizigen Plan: Sie will die Steuersätze für Unternehmen deutlich senken und das Steuerrecht völlig umkrempeln. Doch das Vorhaben könnte am Grundgesetz scheitern.

er versteht das noch? Steuern, genheit dazu, ihn umzusetzen. Er gehört ei- Kein Wunder also, daß Kanzler Gerhard schimpft Joachim Lang, 58, zah- ner 17köpfigen Expertenkommission an, Schröder und sein Finanzminister Oskar Wlen in Deutschland nur „die Ehr- die das bislang Unmögliche möglich ma- Lafontaine plötzlich Applaus von unge- lichen und die Dummen – und diejenigen, chen soll: Beauftragt von Finanzminister wohnter Seite einheimsen – wenn auch die keine Lobby in Bonn haben“. Oskar Lafontaine, sollen die Fachleute das vermischt mit viel Skepsis. So spricht Ar- Schuld an dieser Misere, so urteilt der Unternehmensteuerrecht umkrempeln. beitgeberpräsident Dieter Hundt von „be- Rechtsprofessor der Universität Köln, sei Die Ökonomen, Juristen, Ministerialbe- achtlichen“ Plänen, Handwerkspräsident ein „ökonomisch falsches Steuersystem“. amten und Manager, darunter der Finanz- Dieter Philipp von „erfreulichen Überle- Es verleite dazu, daß Milliardenbeträge „in chef des Medienkonzerns Bertelsmann, gungen“.Wenn die Regierung ihre Ankün- Steueroasen geschafft werden“, es treibe Siegfried Luther, und der Steuerchef des digung wahr macht, dann wäre Hans Peter zudem die Arbeitslosigkeit in die Höhe, Chemieriesen Bayer, Heribert Zitzelsber- Stihl, Präsident des Deutschen Industrie- „weil Hunderttausende von Arbeitsplät- ger, sollen aber vor allem dafür sorgen, und Handelstages, sogar „ziemlich sicher, zen in Länder mit niedrigen Unterneh- daß die Steuersätze am Standort Deutsch- daß wir in einem relativ kurzen Zeitraum mensteuern exportiert werden“. land auf ein international konkurrenzfähi- den Rückgang der Arbeitslosenzahl um Deshalb plant Lang die Revolution. Am ges Niveau sinken. eine Million melden könnten“. liebsten würde er das deutsche Steuerrecht Das Ziel, das die rot-grüne Regierung Vor Weihnachten klang das noch ganz komplett wegwerfen und durch ein neues der Kommission gesetzt hat, ist ehrgeizig: anders. Heftig kritisierten Industrie und Mit- Gesetz ersetzen: „Die heute noch Begün- Künftig, so sieht es eine „Gedankenskiz- telstand den ersten Teil der Steuerreform, stigten dürfen die gestrichenen Paragra- ze“ des Finanzministers vor, sollen alle der die Wirtschaft zunächst mit Milliarden phen gar nicht mehr finden.“ Unternehmen auf Gewinne nur noch belastet. Da wurden Abschreibungsmög- Ein kühner Plan – doch seit vergangener 35 Prozent Steuern zahlen. Das wäre we- lichkeiten verschlechtert, Rückstellungen Woche hat Steuerumstürzler Lang Gele- niger als in den USA, kaum mehr als in erschwert und Schlupflöcher gestopft – sehr Großbritannien – und weit entfernt von zum Ärger fast der gesamten Wirtschaft. * Am Freitag vergangener Woche bei einem Besuch des jenen über 50 Prozent, die der Fiskus der- Hochnäsig hatten die Lobbyisten dabei Opel-Werks in Rüsselsheim. zeit fordert. aber ignoriert, daß bereits im Koalitions-

80 der spiegel 3/1999 Wirtschaft vertrag eine zweite Reform vorgesehen wie sich steuersparende Gewinntransfers scheint sicher. „Die Wirtschaft“, fürchtet war – extra für die Unternehmen, termi- ins Ausland begrenzen lassen. Christine Scheel, Steuerexpertin der Grü- niert aufs Jahr 2002. Nach dem Protest- So haben sich Banken und Automobil- nen, „hat den Regierungswechsel einfach sturm der Verbände zog Schröder das Vor- firmen in den irischen Dublin Docks nie- noch nicht akzeptiert. Erst wenn wir die haben kurzerhand um zwei Jahre vor. Irri- dergelassen und müssen für alle Gewinne, Steuersätze auf Null reduzieren, werden tiert vermerkte das „Handelsblatt“: „Nach die sie an das Ufer des Liffey verlagern, die sagen: Endlich habt ihr es kapiert.“ den zaghaften und dilettantischen Reform- dem Fiskus gerade zehn Prozent abgeben. Mindestens so schwierig wie die Finan- ansätzen der neuen Regierung durfte man Ähnlich privilegiert sind deutsche Unter- zierung des 35-Prozent-Tarifs ist auch das auf diesen Coup nicht mehr hoffen.“ nehmen, wenn sie ihre steuerpflichtigen andere große Ziel zu erreichen, das In der Tat könnte diese „Unternehmen- Gewinne in ein belgisches „Koordina- Lafontaine sich gesteckt hat. Wenn es steuerreform 2000“, wie sie nun heißt, für tionszentrum“ abziehen. Auch in nieder- nach ihm geht, soll für alle Firmen in etliche Betriebe eine deutliche Entlastung ländischen Finanzholdings zahlen deutsche Deutschland künftig ein einheitliches bringen.Wie das Mannheimer Zentrum für Konzerne und Mittelständler seit 1997 ganz Steuerrecht gelten – ganz egal, ob es sich Europäische Wirtschaftsforschung ausge- legal nur noch sieben Prozent Steuern auf um einen kleinen Handwerksbetrieb, einen rechnet hat, würde der niedrige Tarif etwa Zinseinnahmen. Bauernhof, eine Anwaltskanzlei oder eine die Steuerlast der Dienstleister um 12,6 Meist operieren die Steuertrickser nach börsennotierte Aktiengesellschaft handelt. Prozent senken, die der chemischen Indu- einer simplen Methode: Sie transferieren Bislang unterscheidet der Fiskus fein, strie sogar um 18,9 Prozent. Eigenkapital ins Ausland. Umgehend ge- um welche Art von Firma es sich handelt: Der 35-Prozent-Satz erscheint also auf währt die Holding einen Kredit in gleicher π Kapitalgesellschaften, also Aktiengesell- den ersten Blick verlockend. Gleichwohl Höhe; das Geld fließt sofort wieder zurück. schaften und GmbHs, unterliegen der hält Kurt Faltlhauser, Finanzminister von Später überweist der Mutterkonzern für Körperschaftsteuer. Für einbehaltene Bayern, die Freude der Wirtschaftsverbän- den Kredit regelmäßig Zinsen; in Deutsch- Gewinne zahlen sie 45 Prozent Steuern, de „für etwas voreilig und naiv“. Der CSU- land sind dafür keine für ausgeschüttete Ge- Mann bezweifelt, „daß sich Industrie und Steuern fällig. winne, etwa Dividen- Mittelstand auch dann noch freuen wer- Denkbar wäre es, dies den, 30 Prozent. den, wenn sie erfahren, wie sie diese Re- durch ein Modell zu π Personengesellschaften form finanzieren sollen“. Auch Carl-Lud- verhindern, wie es der und Einzelunterneh- wig Thiele, Steuerexperte der FDP,glaubt: Wiesbadener Ökonom mer, und damit 90 Pro- „Das Ding hat einen Konstruktionsfehler.“ Lorenz Jarass, Mitglied zent aller Firmen, fal- Denn Lafontaine denkt weiterhin nicht der Lafontaine-Kommis- len hingegen unter die daran, die Wirtschaft mit einer Nettoent- sion, vorschlägt. Der Fis- Einkommensteuer. Je lastung zu beglücken. Statt dessen will er kus solle künftig nicht nur nach der Höhe ihres die Steuerlast bloß umverteilen. Und aus auf die Gewinne, sondern Gewinns müssen die seinen Vorlieben macht der SPD-Chef da- auch auf die Zinszahlun- Eigentümer, oft Kauf- bei kein Hehl: Die Großkonzerne sollen gen Steuern erheben – leute und Handwerker, bluten, Mittelständler entlastet werden. und zwar direkt an der 25,9 bis 47 Prozent Auch die Mitglieder der Kommission Quelle in Deutschland. Steuern bezahlen. vereinbarten vergangene Woche, daß sie Solche Ideen dürften, π Obendrauf kommt je- eine aufkommensneutrale Reform ange- sollten sie von der Regie- weils noch die Gewer- hen werden: Die Tarife sollen zwar sinken, rung umgesetzt werden, besteuer, deren Höhe im Gegenzug wollen sie die Bemessungs- in der Industrie nicht nur unterschiedlich ist.

grundlage aber verbreitern. auf Gegenliebe stoßen, DARCHINGER F. Dieses komplizierte Schließlich seien, propagiert Lafontaine, neuer Ärger für Rot-Grün Finanzminister Lafontaine Kuddelmuddel soll ver- die tatsächlich bezahlten Unternehmen- steuern in Deutschland so niedrig wie seit Besteuerung von Kapitalgesellschaften dem Kriege nicht mehr.Warum also, lautet Hohe Sätze, niedrige Last die Losung des Sozialdemokraten, noch Spitzensteuersätze für Unternehmen ...... und durchschnittliche effektive Belastung** weiter heruntergehen? In der Tat produ- 1998, in Prozent 1996, in Prozent ziert das deutsche Steuerrecht mit all sei- Japan nen Ausnahmen ein abstruses Ergebnis: Im 59,7 Japan 45 Prinzip leiden die Firmen zwar, inklusive Italien 58,3 Großbritannien 39 Gewerbesteuer, unter den dritthöchsten Frankreich 56,3 Schweiz 38 Steuersätzen in Europa (siehe Grafik), jede Deutschland 56,2 USA 36 zusätzlich verdiente Mark wird bei Kapi- USA 46,5 talgesellschaften mit über 50 Prozent be- Niederlande 29 steuert – doch in die Kasse des Fiskus Spanien 44,8 Deutschland 19 Österreich kommt davon wenig. 43,0 **Steuern auf Unternehmenstätigkeit und 143,1 Nimmt man den bundesweiten Durch- Belgien 40,2 Vermögen; Quelle: Jarass/Obermair: 132,8 schnitt, so fließt trotz der formal hohen Bericht an die Europäische Kommission Schweiz 39,9 Steuersätze nur ein Fünftel sämtlicher Ein- 111,8 Portugal 39,6 künfte aus Unternehmertätigkeit und Ver- GESAMT mögen in die Staatskasse, weit weniger als Irland 38,0 96,3 in den gepriesenen Niedrigsteuerländern Unternehmensteuern Niederlande 35,0 76,2 Großbritannien oder Niederlande.Wie eine in Deutschland Deutschland 2000* 35,0 Studie für die Europäische Kommission in Milliarden Mark zeigt, ist dafür vor allem die legale und Großbritannien 31,0 60 EINKOMMENSTEUER illegale Steuervermeidung verantwortlich. GEWERBESTEUER *geplante Absenkung durch die Unternehmensteuerreform KÖRPERSCHAFTSTEUER Intensiv diskutierten Lafontaines Ex- Quelle: Bundesfinanzministerium, Mennel/Förster, IW 40 perten vergangene Woche etwa darüber, 20 Gesamt- deutschland der spiegel 3/1999 Quelle: IW 1980 85 90 95 97 Wirtschaft schwinden. Statt dessen will die Regierung eine einheitliche Unternehmensteuer ein- führen, die unabhängig von der Rechts- JOBS form der Firma gilt.Vor allem für die Mas- se der Personengesellschaften bedeutet dies eine erhebliche Änderung. Bislang Täglicher Nahkampf mußten die Inhaber nur eine einzige Steuererklärung abgeben, wobei die Trenn- Schafft ein Abbau von Überstunden Arbeitsplätze? Auf einen linie zwischen Firmen- und Privatvermö- gen oft fließend war. Teil der bezahlten Mehrarbeit könnte verzichtet Künftig hingegen soll genau nach den werden – vor allem zugunsten befristeter Arbeitsverhältnisse. Abgaben des Unternehmens und des Un- ternehmers unterschieden werden: Wäh- rend für die Firma ein Steuersatz von 35 Prozent gilt, muß der Eigentümer auf den Gewinn, den er aus seiner Firma abzieht, seinen persönlichen Steuersatz von bis zu 48,5 Prozent entrichten. Dadurch, so Lafontaine, „wird der Ab- zug des Kapitals aus dem Betrieb steuerlich uninteressant“. Er hofft, daß dann mehr Geld in zusätzliche Jobs fließt.Auch Hand- werkspräsident Philipp hält es für sinnvoll, „kleinere Betriebe investitionsfähig und resistent gegen Konjunkturschwankungen zu machen“. Doch Finanzwissenschaftler monieren, die Regierung mißachte damit einen der wichtigsten Grundsätze der Steuerlehre: die gleichwertige Besteuerung aller Ein- kunftsarten. Demnach dürften investierte Gewinne nicht bevorzugt werden. Die Unterschiede zwischen privaten und betrieblichen Steuersätzen dürften es für Unternehmer zudem noch reizvoller ma- chen, alle nur erdenklichen Kosten der pri- vaten Lebensführung in den betrieblichen Bereich zu verlagern. Ein Steuerberater:

„Der Phantasie der Steuervermeidung sind IMO keine Grenzen gesetzt.“ „Bündnis für Arbeit“-Treffen im Kanzleramt*: Tarifpartner sollen das unter sich regeln Verfassungsrechtler haben noch ein an- deres Problem ausfindig gemacht – und o sicher, wie Miss Sophie und Butler markt- und Berufsforschung (IAB) leisteten das könnte sich als Bremsklotz für das James am Silvesterabend das „Dinner die Deutschen 1998 insgesamt rund 1,8 Mil- ganze Projekt erweisen. Alle Steuern, die Sfor One“ zelebrieren, wiederholt sich liarden Überstunden, fast 30 Millionen nicht nur dem Bund allein zufließen, müs- zum Jahreswechsel auch das immer gleiche mehr als im Vorjahr. Rein rechnerisch ent- sen im Grundgesetz verankert werden.Auf Ritual der Überstunden-Diskussion. spräche dies fast 1,2 Millionen Vollzeitjobs. die geplante Unternehmensteuer träfe dies Mit sorgengefalteter Stirn verkündet der Würde die Zahl der Überstunden dauer- zu. Lafontaine will den Gemeinden gar das Präsident der Bundesanstalt für Arbeit haft um 40 Prozent gesenkt, ermittelte das Recht einräumen, auf die neue Steuer ei- dann, daß der Überstundenabbau zur spür- IAB, könnten bis zu 400 000 Menschen nen eigenen Hebesatz draufzuschlagen – baren Entlastung des Arbeitsmarktes mehr beschäftigt werden. schließlich soll ja deren wichtigste Ein- führen würde. Woraufhin Gewerkschafts- Vergangene Woche erklärte DGB-Chef nahmequelle, die Gewerbesteuer, ver- führer fordern, die Überstundenflut not- Dieter Schulte, man wolle den Überstun- schwinden. „Wenn durch diese Mischfigur falls mit Gesetzen einzudämmen. Was denabbau über betriebliche Vereinbarun- eine völlig neue Steuerart entsteht, dann Arbeitgebervertreter wiederum zwingt, die gen und Tarifverträge vorantreiben. Wenn müßte die Verfassung geändert werden“, bezahlte Mehrarbeit zur Überlebensfrage man nicht zum Ziel komme, müsse not- glaubt der Staatsrechtler Josef Isensee. für die Betriebe zu erklären. falls der Gesetzgeber eingreifen. Auch Bayerns Finanzminister Faltl- The same procedure as every year. Doch Doch schon in der ersten Bündnisrunde hauser ist überzeugt, daß ein neues Steu- dieses Jahr bestehen Chancen, daß die Fra- stellte Bundeskanzler Gerhard Schröder ersystem dies „zwingend“ erfordert. Des- ge, ob ein Abbau von Überstunden neue klar, es werde keine Änderung des Ar- halb kündigt er schon entsprechenden Jobs schafft, grundsätzlich diskutiert wird. beitszeitgesetzes geben, den Abbau der Widerstand an: „Die Entwicklung einer Anfang Dezember nahmen Gewerkschaf- Überstunden müßten die Tarifparteien un- Unternehmensteuer ohne Beteiligung der ten, Arbeitgeberverbände und die Bun- tereinander regeln. Unionsländer – in reinen SPD-Kränzchen desregierung beim ersten Treffen im Bünd- Doch können Überstunden in Betrieben – hieße, die Rechnung ohne den Wirt nis für Arbeit das Thema auf die Agenda. einfach auf Knopfdruck abgebaut werden? zu machen.“ Heißt: Die nötige Zwei- Die Zahlen sind verführerisch: Nach den Oder ist die bezahlte Mehrarbeit in den Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bun- Berechnungen des Instituts für Arbeits- Betrieben unverzichtbar? Und schafft ein desrat – für die die Stimmen der Union Überstundenabbau tatsächlich neue Jobs? gebraucht werden – werde es dann nicht * Mit DGB-Chef Dieter Schulte und Arbeitgeberpräsi- Daß Unternehmen Überstunden benöti- geben. Ulrich Schäfer dent Dieter Hundt am 7. Dezember 1998. gen, um auf plötzliche Veränderungen rea-

82 der spiegel 3/1999 gieren zu können, ist unumstritten. Nur über die Anzahl herrscht Streit. Nach den IAB-Erhebungen ist nur für sieben Prozent der Arbeitnehmer in West- deutschland ständige bezahlte Mehrarbeit die Regel. 50 Prozent leisten zumindest ge- legentlich Überstunden. Fast 60 Prozent entfallen dabei auf kleine und mittlere Be- triebe mit bis zu 200 Mitarbeitern. Für Eugen Spitznagel steht der Arbeits- platzeffekt außer Frage, nur quantifizieren möchte er ihn nicht: „Die Potentiale er- schließen sich nur allmählich.“ Zwischen

10 und 50 Prozent der bezahlten Über- BINDRIM / LAIF J. stunden könnten abgebaut werden, glaubt Arbeitszeitpionier BPW Bergische Achsen KG: „Wir wollten die atmende Fabrik“ der IAB-Forscher. Ein Modellversuch des Arbeitsamts Neu- nisse – mehr Zeitarbeit, mehr Teilzeitar- ab denen Neueinstellungen vorgenommen wied bestätigt Spitznagel. Aus einem Pool beit, mehr befristete Arbeitsverhältnisse. werden müßten, glauben die WSI-Forscher, mit qualifizierten und flexiblen Arbeits- Für Karl-Friedrich Ackermann, Betriebs- könnten die Überstunden abgebaut und losen können dort Unternehmen befristet wirtschaftsprofessor an der Universität neue Jobs geschaffen werden. Arbeitskräfte abrufen, um Überstunden zu Stuttgart, wirft die aktuelle Diskussion In der Realität schreitet die Flexibilisie- vermeiden. Um den Betrieben einen An- grundsätzliche Fragen auf: „Was sind ei- rung immer weiter fort. Die BPW Bergi- reiz zu bieten, zahlt das Arbeitsamt den gentlich Überstunden?“ Als alle Welt nach sche Achsen KG in Wiehl hat 1700 Be- Arbeitnehmern die Kosten im Krankheits- Stechuhr und starren Betriebszeiten ar- schäftigte. Mit den Angestellten werden fall oder für zustehenden Urlaub. beitete, sei die Definition noch einfach ge- nur Jahresarbeitszeiten vereinbart, für die Als das Modell im April 1997 startete, wesen. Doch heute, in Zeiten ausgeklügel- Einhaltung und Gestaltung sind allein die waren nach drei Monaten bereits 91 Men- ter Arbeitszeitmodelle und des Freizeit- Mitarbeiter verantwortlich. „Wir wollten schen vermittelt – und der Pool war leer. ausgleichs, scheint sie ihm fast unmöglich: Flexibilisierung und eine atmende Fabrik, Günter Thull, Leiter der Arbeitsvermitt- „Ich weiß nicht, wie man auf die immen- nicht der Überstundenabbau stand im Vor- lung: „Heute sind über 71 Prozent der Teil- sen Zahlen kommt.“ dergrund“, sagt Personalchefin Irmgard nehmer in unbefristeter Arbeit.“ Tatsächlich weist das deutsche Stati- Scherer. Doch schon im ersten Jahr sanken Auch 1998 vermittelte Thull 220 Ar- stikwesen ausgerechnet im Bereich der Ar- die Überstunden im Vergleich zum Vorjahr beitslose für durchschnittlich sechs Mona- beitszeiten Lücken auf. Wie hoch ist die um über 50 Prozent. Auch im Folgejahr te. Das entspricht, so Thull, einem Ar- Zahl der unbezahlten Überstunden? Wie rutschen sie nochmals um 63 Prozent. beitsvolumen von rund 190 000 Arbeits- viele verschwanden aus der Statistik und Die Arbeitszeitkonten der gewerblichen stunden – etwa einem Drittel der Über- mutierten zu „transistorischen Überstun- Arbeitnehmer dürfen zwischen plus und stunden, die theoretisch im Arbeitsamts- den“, als Mehrarbeit, die gegen Freizeit minus 70 Stunden liegen. Mehrbedarf wird bezirk anfallen. Thull glaubt an den Erfolg statt Geld eingetauscht wird? Welche Ar- mit Zeitverträgen bis zu 24 Monaten ab- von Überstundenabbau: „Wir müssen ler- beitszeitregelungen gelten für welche Mit- gedeckt. „Ich wundere mich, warum viele nen, daß Arbeit auf Zeit auch Arbeit ist.“ arbeiter? In vielen Bereichen gibt es keine Betriebe nicht die Möglichkeiten nutzen, Der langfristige Trend zeigt schon seit verläßlichen Zahlen, auch bei internatio- die der Tarifvertrag hergibt“, sagt Scherer. geraumer Zeit nach unten: Flexible Ar- nalen Vergleichen nicht. Der Berliner Arbeitszeitberater Michael beitszeitregelungen ersetzen in immer Eine Umfrage des gewerkschaftsnahen Weidinger geht weiter. Er glaubt, daß die mehr Unternehmen die starren Arbeits- Forschungsinstituts WSI ergab, daß fast 80 Partner im Bündnis für Arbeit sich auf den zeiten – sie machen Mehrarbeit weitge- Prozent aller privatwirtschaftlichen Be- zwingenden Freizeitausgleich von Über- hend überflüssig. triebe bereits Vereinbarungen über Ar- stunden bis zur Lebensarbeitszeitverkür- Im Wirtschaftswunderland der sechzi- beitszeitkonten geschlossen haben. In rund zung und die Abschaffung von Überstun- ger Jahre stieg die Zahl der Überstunden drei Viertel der Modelle werden Über- denzuschlägen einigen sollten. „Mit Hilfe kontinuierlich an. Auf dem Höhepunkt, stunden gutgeschrieben. Würden die Zeit- von Lebensarbeitszeitkonten können Jobs 1970, kamen auf jeden Arbeitnehmer 157 überschüsse in Freizeit ausgeglichen und geschaffen und zugleich die Arbeitskosten Überstunden im Jahr.Während der Rezes- Schwellenwerte für die Konten festgelegt, gesenkt werden“, sagt Weidinger. sionen der siebziger Jahre sank die Rate Doch zuvor müssen noch einige wieder. Seit Anfang der Achtziger pendelt Über den Tag hinaus Insgesamt Probleme gelöst werden. Prall ge- ihr Anteil am gesamtwirtschaftlichen Ar- in Milliarden füllte Arbeitszeitkonten sind nämlich beitsvolumen um die Vier-Prozent-Marke. Überstunden pro Jahr 2,1 nichts anderes als Schulden bei den Im vorigen Jahr arbeiteten die Deutschen in Deutschland Mitarbeitern für bereits erbrachte rund 60 Stunden im Jahr über der Norm. 1,9 Leistungen, die erst später bezahlt Daß Unternehmen in der Vergangenheit werden. Bei Langzeitkonten müßten die teureren, mit Zuschlägen belegten 1,7 die Betriebe deshalb Rückstellun- Überstunden nicht weiter abbauten, lag gen in den Bilanzen vornehmen. nicht nur an der guten Auftragslage, son- je Beschäftigten Auch für den Konkursfall müssen im Durchschnitt 64,7 1,5 dern auch an der unsicheren Einschätzung 63,9 die Mitarbeiterguthaben abgesichert der wirtschaftlichen Perspektive. Zum Teil 1,3 werden. 60,4 fehlt es auch schlicht an Fachkräften, etwa 58,8 59,3 59,5 Für Überstunden hat Weidinger 57,5 in der Informationstechnik. 56,7 56,5 schon heute wenig Verständnis, da in Der weitere Abbau von Überstunden ist vielen Unternehmen bereits überstun- möglich, der Preis dafür sind flexiblere Ar- Quele: IAB denfreie Arbeitszeitmodelle existier- beitszeitregelungen, aber auch die weitere 1990 92 94 96 98 ten: „Berechtigte Überstunden gibt es Auflösung der klassischen Arbeitsverhält- eigentlich nicht.“ Markus Dettmer

der spiegel 3/1999 83 Wirtschaft

ausgesetzt, schafft der SPD-Kassenhüter haltsexperten der Koalition fest vorge- HAUSHALT nun komplett ab. nommen: Mit dem behelfsmäßigen Stol- Und auch den Segen der Privatisierung pern von Haushaltsloch zu Haushaltsloch Gelehriger lernte der Neuling rasch schätzen. Weil soll es vorbei sein, die Staatsfinanzen sol- Waigels Haushalt 1998 besser lief als er- len gründlich saniert werden. „Spätestens wartet, kann der Nachfolger die Erlöse aus im Haushalt für das nächste Jahr geht es Schüler dem Verkauf der Postbank an die Post so- ans Eingemachte“, verkündet Karl Diller wie einiger weiterer Anteile der Telekom (SPD), Lafontaines Parlamentarischer Bei der Sanierung des Etats will für den neuen Haushalt verbuchen. Staatssekretär für den Bundesetat. Wie in den vergangenen Jahren wurde Auch Lafontaine-Kritiker Metzger Oskar Lafontaine Bürger und natürlich auch ein bißchen gespart. Vor al- glaubt, daß der nachfrageversessene SPD- Unternehmen in diesem Jahr noch lem Verkehrs- und Bauminister Franz Mün- Chef einen „Paradigmenwechsel“ vorbe- schonen. Harte Schnitte tefering (SPD) muß sich bescheiden (siehe reitet: „Der strebt mittelfristig einen aus- sollen erst im Jahr 2000 kommen. Tabelle). geglichenen Haushalt an“, ahnt der Bünd- Gewinner ist der Sozialetat von Ar- nis-Grüne. nerkennung versteckt Oswald beitsminister Walter Riester (SPD). Hier Mit welchen Maßnahmen die maroden Metzger zuweilen hinter vorsichti- schlagen die höheren Rentenzuschüsse Finanzen des Bundes konsolidiert werden Agen Formulierungen: „Nicht unso- zu Buche, aber auch mehr Zuschüsse sollen, wissen die Koalitionäre auch noch lide“ sei der Etatentwurf von Bundesfi- für die Lohnkosten im Osten. Drama- nicht so genau, nur eines steht fest: Ohne nanzminister Oskar Lafontaine (SPD) für Einschnitte in Besitzstände, 1999, meint der bündnis-grüne Haushalts- Neuer Ansatz also bei Subventionen für experte mit dem Drang zum konsequenten Unternehmen und bei Sozi- Haushaltsplan 1999 in Milliarden Mark Sparen. Die Premiere des „Vulgärkeynesia- alausgaben für Bürger, wird ners“ (Metzger über Lafontaine) hätte Aufgrund der Neuordnung einzelner es künftig nicht mehr gehen. schlimmer ausfallen können. Ministerien sind die Etats nur beschränkt ALTE NEUE Einer hat schon einmal vergleichbar. Der Gelobte selbst schätzt das eigene REGIERUNG REGIERUNG heimlich angefangen mit be- Erstlingswerk dagegen merkwürdig unent- Arbeit und Sozialordnung 163,19 173,29 herzten Strukturreformen: schieden ein. Der Haushalt werde „neu- Bundesschuld 77,48 86,28 Oskar Lafontaine. Er will tral“ sein, sagt er voraus. „Das heißt, er Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 42,91 48,20 eine in der Geschichte der wird weder große Kürzungen beinhalten Raumordnung, Bauwesen 12,39 – Bundesrepublik beispiello- noch Zusatzbelastungen für die Bürger.“ Verteidigung 47,52 47,28 se Privatisierungsoffensive Noch nicht. starten. Allgemeine Finanzverwaltung 18,39 27,40 Ein entschiedenes finanzpolitisches So- „In dieser Legislaturpe- wohl-Als-auch ist dabei herausgekommen. Versorgung 16,61 16,81 riode ist ein zentrales Priva- Erste zaghafte Kürzungen mußten einige Wirtschaft und Technologie 14,80 16,06 tisierungsziel, die Deutsche der Fachressorts verschmerzen.Andere be- Bildung und Forschung 15,43 15,00 Post AG, die Deutsche Post- kamen ihre Mittel, verglichen mit dem Ent- Familie, Senioren, Frauen und Jugend 11,91 11,91 bank AG und die Deutsche wurf der Vorgängerregierung, erheblich Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 11,69 11,60 Telekom AG vollständig in aufgestockt. Wirtschaftliche Zusammenarbeit private Eigentumsstruktu- Insgesamt steigen die Ausgaben des und Entwicklung 7,68 7,80 ren auf wettbewerbsbe- Bundes laut einer vertraulichen Kabinetts- Finanzen 7,55 7,65 herrschten Märkten zu vorlage in diesem Jahr auf 488 Milliarden überführen“, kündigt La- Inneres 8,90 7,26 Mark. Ex-Finanzminister Theo Waigel fontaine im noch nicht ver- (CSU) hatte 465,3 Milliarden Mark vorge- Auswärtiges Amt 3,67 3,66 öffentlichten Jahreswirt- sehen. Bundeskanzleramt 1,06 2,94 schaftsbericht der Bundes- Ursache für die Steigerung sind vor al- Gesundheit 0,75 1,63 regierung an. An eine so lem teure Wahlkampfversprechen, die den Umwelt, Naturschutz und schnelle Abwicklung des Etat belasten. Nur ein Beispiel: Der Bun- Reaktorsicherheit 1,30 1,13 Bundesbesitzes hatte selbst deszuschuß zur Rente wurde um 13,6 Mil- Deutscher Bundestag 1,09 1,10 der bisherige Rekord-Priva- liarden Mark aufgestockt, um Lohnneben- Justiz 0,72 0,74 tisierer Theo Waigel nicht kosten zu senken. Bundesrechnungshof 0,16 0,16 gedacht. Trotz des größeren Etat-Volumens be- Bundespräsidialamt 0,04 0,04 Nach Einschätzung von grenzt Lafontaine die Neuverschuldung, Experten könnte der Fi- Bundesverfassungsgericht 0,03 0,03 auch dank erheblicher Steuererhöhungen, nanzminister mit dem Ver- auf 56,2 Milliarden Mark. Das ist exakt der Bundesrat 0,03 0,03 kauf der früheren Post- Wert, den auch Waigel für 1999 vorgesehen behörde bis zum Jahr 2002 INSGESAMT 465,30 488,00 hatte. An Investitionen plant Lafontaine mehr als 120 Milliarden 58,2 Milliarden Mark ein. Er kann seinem Mark einnehmen. Damit Bundeskanzler Gerhard Schröder am Mitt- tisch legt auch das Kanzleramt zu. Die nicht genug: Er will sämtliche Flughäfen woch also, allen Unkenrufen zum Trotz, Erklärung: Dort verwaltet Staatsmini- mit Bundesbeteiligung, darunter München, einen verfassungsgemäßen Haushalt prä- ster Michael Naumann (SPD) seit kurzem Berlin-Schönefeld und Köln/Bonn, ver- sentieren. Dazu müssen die Investitionen alle Ausgaben fürs Kulturelle. Die waren äußern. höher ausfallen als die neuen Kredite. früher über zahlreiche Ressorts verstreut Die Begründung für den Ausverkauf Zustande gekommen ist der Entwurf – worden. könnte neoliberaler nicht sein: „Für die wie unter der Kohl-Regierung – mit Schröders Mann fürs Musische hat von Zukunftssicherung der Unternehmen“, so Buchungstricks, Einmalmaßnahmen und der Neuordnung durchaus nicht nur Vor- heißt es in dem Bericht, „ist eine stärkere Notverkäufen. Lafontaine zeigt sich als teile. Die Konzentration der Kulturausga- Trennung von Eigentum und der den Ord- gelehriger Schüler Waigels: Die Schulden- ben erleichtert künftig den Zugriff beim nungsrahmen vorgebenden öffentlichen tilgung, vom Vorgänger schon zum Teil Sparen. Denn eines haben sich die Haus- Hand sinnvoll.“ Christian Reiermann

84 der spiegel 3/1999 RABATTE Am Rande der Legalität Die Lufthansa will ihr „Miles & More“-Programm drastisch ausweiten: Künftig soll es beim Einkaufen und selbst beim Friseur Prämienpunkte geben. it der Bitte um ein baldiges Tref- fen wandte sich Lufthansa-Chef MJürgen Weber vor kurzem an Bundeswirtschaftsminister Werner Müller.

Weber will Müller überzeugen, das Ra- DPA battgesetz zu ändern. „Das verstaubte Einkaufspassage (in Leipzig): Für jeden Einkauf bis zu drei Prozent Rabatt Paragraphenwerk“, meint der Lufthanseat, „paßt einfach nicht mehr in die Zeit.“ cherungen oder Kreditverträgen Freimeilen, Schnickschnack locken und den Gegen- Das strenge deutsche Wettbewerbs- wie um ihre Kunden enger an sich zu binden. wert in die Preise einkalkulieren. auch Verbraucherschutzrecht stört Weber Wer seine Einkäufe lieber bar oder per Schon das alte „Miles & More“-Pro- bei hochfliegenden Plänen: Er will die Re- Euroscheck bezahlt, soll ebenfalls schon gramm der Lufthansa verstößt gegen publik massenhaft mit Rabatt- und Kredit- bald attraktive Prämien sammeln können diese Vorschrift, weil der Carrier, aber karten überziehen und in Deutschland ei- – über die neugegründete Firma Loyalty auch Computerhersteller wie Compaq nen neuen Volkssport einführen – das Sam- Partner in München. Die Lufthansa hält oder die Telefonfirma Viag-Interkom Kun- meln von Freimeilen und Bonuspunkten. knapp 68 Prozent an dem Unternehmen, den mit üppigen Freimeilen ködern. Um Bislang nutzten dieses Privileg vor allem mit 10 Prozent ist der Münchner Unter- den lästigen Passus zu umgehen, gründeten Geschäftsleute und Vielflieger. Bei ihnen nehmensberater Roland Berger beteiligt, die Airline-Manager eine Tochterfirma mit drückte die Bundesregierung ein Auge zu, die restlichen gut 22 Prozent gehören ei- dem Namen „More Miles International“ obwohl das 60 Jahre alte Rabattgesetz und nem Ex-Partner der Consultingfirma. in Hamilton auf den Bahamas. Sie schließt die Zugabeverordnung Gratisbeigaben und Von April an können Meilenjäger bei Verträge mit Firmen, die in das Bonus- üppige Sonderrabatte verbieten. Kaufhäusern, Telefonfirmen oder Bau- system aufgenommen werden wollen. Künftig aber, so will es zumindest We- märkten gratis die Rabattkarte „PayBack“ Noch heikler ist Webers neue Lufthan- ber, soll jeder Bürger Meilen und Rabatt- anfordern. Für jeden Einkauf bei einem sa-Kreditkarte, die Ende Januar der Öf- prämien sammeln dürfen – beim Gang zum der Loyalty-Vertragspartner bekommen sie fentlichkeit vorgestellt werden soll. Ein Bäcker oder Friseur, beim Tanken und bis zu drei Prozent des Rechnungsbetrages ähnliches Programm betreibt seit 1993 das Telefonieren. Selbst ein Besuch in der gutgeschrieben. „Wir haben die gute alte US-Kreditkartenunternehmen American Autowerkstatt soll das Prämienkonto Rabattmarke neu erfunden“, freut sich ein Express in Deutschland – hart am Rande füllen. Loyalty-Manager. der Legalität. Der Bundesgerichtshof un- Von Februar an können Die Lufthanseaten ge- tersagte den Amerikanern erst kürzlich, Bonusjäger über die ben sich große Mühe, ihre ihre Kunden mit Freiflügen, Uhren oder Bayerische Landesbank Bonussysteme unangreif- Kaviardosen zu locken, damit sie die Kre- und ausgewählte Sparkas- bar zu machen. Doch das ditkarte möglichst oft einsetzen. Trotzdem sen gegen Gebühr eine ist gar nicht so einfach. machen die Amex-Manager weiter. neuartige Visa-Kreditkar- Nach der Zugabeverord- Der Lufthansa-Chef läßt sich durch sol- te der Lufthansa bestel- nung dürfen Unterneh- che Rückschläge nicht entmutigen. Weber len. Wer Kleidung, Com- men ihren Kunden nur ge- ist sicher, daß die Bundesregierung um eine puter oder Kosmetika bei ringwertige Gratisartikel Reform des Rabattgesetzes nicht herum- einem der über 300 000 wie Kugelschreiber oder kommt. Visa-Vertragspartner in Kalender schenken. So Wichtige Verbündete hat er schon Deutschland kauft und will der Gesetzgeber ver- gefunden: in Brüssel. Die EU-Kommis- die neue Plastikwährung hindern, daß die Firmen sion will prüfen, ob das deutsche Wettbe- zückt, bekommt dann für Verbraucher mit teurem werbsrecht ausländische Firmen benach- jede Mark Umsatz Luft- teiligt und die Bestimmun- hansa-Freimeilen gutge- gen gelockert werden schrieben, die er in Flüge, müssen. Kommt es zu kei- Hotelbons oder Partyge- ner Einigung, will die Kom- lage eintauschen kann. mission die Bundesregie- Weber möchte mit sei- rung notfalls vor dem nem neuen Service endlich Europäischen Gerichtshof zu großen Konkurrenten verklagen. Spätestens dann wie Delta oder United auf- sind dem Meilensam- schließen. Die US-Carrier meln auch in Deutschland

gewähren sogar beim Ab- C. KELLER / PLUS 49 VISUM keine Grenzen mehr ge- schluß von Lebensversi- Lufthansa-Chef Weber, „Miles & More“-Karte: Meilen für jedermann setzt. Dinah Deckstein

der spiegel 3/1999 85 Wirtschaft

das Lachen vergangen. Als WELTWIRTSCHAFT sei er Herrscher eines ei- genen Staates, verkündete Die Steine Franco jetzt, er werde die Rückzahlung von Schulden in Höhe von rund 15 Milli- wackeln wieder arden Dollar an die Zen- tralregierung um 90 Tage Brasilien wertet den Real ab, verschieben – und löste da- mit ein Erdbeben aus. und China springt nicht für faule Sofort keimten wieder Kredite ein: Die globale Wirt- alte Zweifel an der Zah- schaftskrise ist nicht überwunden. lungsmoral Brasiliens.Allein Droht erneut ein Dominoeffekt? am Dienstag vergangener Woche zogen Anleger mehr n Brasilien hat der Mann seinen Spitz- als eine Milliarde Dollar aus namen weg: „Trapalhão“, zu deutsch dem Land ab. Der Zentral- I„Tolpatsch“, wird Itamar Franco ge- bankchef trat zurück, sein nannt, denn Franco, von 1992 bis 1994 Nachfolger tat das Unver- Staatsoberhaupt und seit Jahresbeginn meidliche: Er wertete die 14 Tausend

Gouverneur des Bundesstaates Minas Währung Real zunächst de AFP / DPA Gerais, läßt kein Fettnäpfchen aus. Er facto um etwa acht Prozent Händler an der Börse in São Paulo BRASILIEN 12 Brazil riet Volkswagen, die Produktion des al- ab. Am Freitag gab die Zen- „Extrem risikoreiche Situation“ Bovespa- ten Käfers wiederaufzunehmen, und po- tralbank ihre Bemühungen 10 Index sierte im Karneval ungeniert neben ei- auf, den Real zu stützen: Die Währung ge- ge, die weit größeres ner jungen Frau, die riet in den freien Fall. ökonomisches Ge- 8 90 keinen Slip trug. Das brasilianische Beben erschütterte wicht besitzen als 15. Jan. 6747 80 Das ganze Land die Finanzwelt. Erst stürzten die Börsen bisherige Krisenlän- Quelle: CHINA amüsiert sich über in New York, London und vor allem der wie Thailand 6 Datastream 70 B Share-Index den eigenwilligen in Frankfurt ab. Am Freitag aber, als der oder Rußland. 1997 98 99 60 Provinzfürsten aus Real abstürzte, fingen sie sich wieder: „Die Situation ist Belo Horizonte. Nervöser geht’s kaum. Die Euphorie extrem risikoreich“, 50 Inzwischen ist jedenfalls, die in den ersten Tagen des warnt Peter Cornelius, Leiter der Interna- 40 Quelle: Datastream den Brasilianern neuen Jahres die Märkte bestimmte, ist tionalen Konjunkturabteilung der Deut- 30 dahin – die Angst kehrt schen Bank Research, „die Vorstellung, das zurück. Schlimmste sei überstanden, hat getrogen.“ 15. Jan. 26,7 20 Auch von der anderen Allzuschnell waren vor drei Monaten 1997 98 99 Seite des Globus kommen nach dem Absturz der Weltbörsen alle Sor- schlechte Nachrichten: Gi- gen um die globale Wirtschaft verflogen. tic, die zweitgrößte staatli- Die US-Zentralbank stimulierte mit Zins- che Investitionsgesellschaft senkungen die Konjunktur. Die Verbrau- Chinas, kann Schulden in cher konsumierten, als sei nichts gesche- Höhe von vier Milliarden hen. Der Dow Jones erreichte Höchststän- Dollar nicht zurückzahlen. de. Die Asienkrise schien abgehakt. Zahlreiche der 131 interna- Im Nu ist die Stimmung umgeschlagen, tionalen Gläubiger müssen jetzt stellen sich Banker und Politiker ban- ihre Einlagen abschreiben. ge die Frage: Waren die drei Monate nur Der Staat, bekamen die ent- eine Atempause? Setzt sich der Dominoef- setzten Banker in Kanton zu fekt mit Verzögerung fort? Geraten mit Chi- hören, werde für die faulen na und Brasilien nun die wuchtigsten Stei- Kredite nicht geradestehen. ne ins Wanken? Vor allem die schroffe Re- Einige der rund 240 chi- aktion Chinas auf die Gitic-Pleite beunru- nesischen Trustgesellschaf- higt die Finanzwelt. Die Investoren hatten ten haben sich im Ausland sich darauf verlassen, im Notfall werde die ungehemmt mit Krediten Zentralbank einspringen. „Da werden ei- versorgt und in hochspeku- nige Banken 50 bis 100 Millionen Dollar lative Immobilien- und Ak- abschreiben müssen“, glaubt der Hong- tiengeschäfte gesteckt. Nun konger Investmentberater Marc Faber. ist die Furcht groß, daß wei- Das Vertrauen der Banker in die roten tere Pleiten folgen werden. Kapitalisten ist dahin – und das wird Fol- Mit den Turbulenzen in gen haben. „Wir werden uns deutlich Brasilien und China wird zurückhalten“, warnt ein deutscher Ban- Politikern und Bankern ker, „das wird sich auf das Wirtschafts- schlagartig bewußt, was sie wachstum Chinas auswirken.“ monatelang verdrängt ha- Würde Chinas Konjunktur ins Stocken ben: Die Krise der globalen geraten, hätte dies letztlich auch Folgen Wirtschaft ist längst nicht für Europa. „Die Asienkrise könnte sich

S. ATTAL / PLUS 49 VISUM S. ATTAL gebannt. Jetzt kommen dadurch verlängern“, warnt Willi Leibfritz, McDonald’s in Kanton: Vertrauen erschüttert Schieflagen in Staaten zuta- Chefvolkswirt des Münchner Ifo Instituts.

86 der spiegel 3/1999 Vielleicht noch gefährlicher ist die Si- tuation in Brasilien. Alle Mühen des Inter- nationalen Währungsfonds, das Land mit einer angekündigten Kapitalhilfe von 41,5 Milliarden Dollar zu stabilisieren, waren vergebens. Selbst verlockend hohe Zinsen bis zu 50 Prozent konnten nicht verhindern, daß Kapital aus dem Land fließt. Die Devisen- reserven schmelzen dahin, die Verschul- dung steigt erheblich. Die Aktion von Fran- co war nur noch Anlaß für die Abwertung, nicht aber die Ursache. Das Mißtrauen der Investoren gegen- über der Regierung von Präsident Fernan- do Henrique Cardoso sitzt tief. Seit Jahren finanziert Brasilien seine Entwicklung auf Pump und schiebt einen Berg unerledigter Strukturprobleme vor sich her. Der Kongreß blockiert immer wieder überfällige Reformen des Renten- und Steuersystems, für Gesetzesvorhaben kann Cardoso nicht einmal auf die Regierungs- mehrheit zählen. Der Kampf um Privilegi- en macht Abstimmungen unberechenbar. Und ein kompliziertes Verfassungswerk, das so dick ist wie ein Telefonbuch, tut ein übriges, daß nichts so recht vorankommt. „Die Finanzmärkte sind zu dem Schluß gekommen, daß Brasilien im Grunde unre- gierbar ist“, sagt Richard Gray, Schwellen- länder-Experte der Bank of America. Auch wenn vergangenen Freitag der brasiliani- sche Aktien-Index um 33,4 Prozent in die Höhe schoß – die Lage in der achtgrößten Wirtschaftsmacht der Welt bleibt labil. Kommt Brasilien nicht aus der Krise, könnte ganz Lateinamerika kippen – mit verheerenden Folgen für die Konjunktur in den USA. Knapp 20 Prozent der US-Aus- fuhren gehen nach Lateinamerika. „Was auch immer dort passiert, es wird enorme Auswirkungen auf die US-Wirtschaft ha- ben“, warnte der amerikanische Finanzmi- nister Robert Rubin schon im November. Damit aber bliebe auch Europa nicht verschont, ahnt Gustav-Adolf Horn, Kon- junkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Sein Sze- nario: Die US-Zentralbank senkt die Zin- sen, um die Konjunktur zu stützen; der Dollar verliert, der Euro gewinnt an Wert. „Und das wird sich im kommenden Jahr bei den deutschen Exportfirmen bemerk- bar machen“, vermutet Horn. Manche Konzerne bekommen die Krise in Brasilien direkt zu spüren: Volkswagen do Brasil ist Marktführer im Land. Daimler- Chrysler will ein Autowerk und mit BMW eine Motorenfertigung aufbauen. Audi weiht an diesem Montag eine Fabrik ein. In Rio und São Paulo geht schon jetzt die Angst vor einer Hyperinflation um. Vor den Wechselstuben bilden sich Schlan- gen, die Händler verweigern jedoch ih- re Dienste. Schilder in ihren Schaufen- stern verkünden lapidar: „Wir kaufen nur Dollar.“ Jens Glüsing, Alexander Jung, Andreas Lorenz

der spiegel 3/1999 Wirtschaft

In Zeiten des Shareholder-value können es sich die deutschen Banken jedoch nicht UNTERNEHMEN mehr leisten, zuviel Kapital in Beteiligun- gen zu binden. Mit dem Euro wird sich der Wettbewerb zwischen den Finanzinstitu- Schöne Mädels im Kasten ten zudem auch international verschärfen. Analysten wie Derek Chambers vom bri- Die Deutschland AG wird umgebaut: Banken und tischen Finanzriesen HSBC sagen voraus, daß bald transnationale Konzerne in Eu- Versicherungen gliedern ihre Beteiligungen ropa entstehen. „Deutsche Banken müs- steuersparend aus – ein erster Schritt, um sie loszuwerden. sen sich rasch bewegen“, sagt Chambers, „wenn sie als unabhängige Konzerne über- ie hessischen Kleinstädte Eschborn habe keinen Zweifel, daß die Banken ihre leben wollen.“ und Bad Vilbel können sich im neu- Beteiligungen reduzieren werden“, sagt Die alten Strukturen sind schon dabei, Den Jahr über sprunghaft steigende Neil Crowder, Finanzanalyst von Goldman sich aufzulösen: Deutsche Bank und Steuereinnahmen freuen. Die Deutsche Sachs. Dresdner Bank haben vergangenes Jahr und die Dresdner Bank haben kurz vor Wie in keinem anderen Land sind in ihre Beteiligungen am Hamburger Touri- Silvester einen Großteil ihres stolzen Be- Deutschland Banken, Versicherungen und stikkonzern Hapag-Lloyd an Preussag ver- teiligungsbesitzes vor die Tore Frankfurts Industriekonzerne miteinander verfloch- kauft. Die Deutsche ist 1997 bei Karstadt verlegt. Wert: insgesamt 65 Milliarden ten. Angelsächsische Investoren betrach- und Salamander ausgestiegen, die Dresd- Mark. ten dieses undurchsichtige Netz von ner hat 1998 ihren Anteil bei der Aachener Das Aktienpaket der Deutschen Bank Beteiligungen seit je mit Mißtrauen: Es und Münchner Versicherungsgruppe um an Daimler-Chrysler, aktueller Börsenwert schirmte die sogenannte Deutschland AG mehr als die Hälfte abgebaut. über 20 Milliarden Mark, wird künftig von nach außen ab, Eindringlinge hatten keine Um die Übernahme der französischen einer eigenen Personengesellschaft mit Sitz Chance. Versicherungsgruppe AGF zu finanzieren, in Eschborn gehalten. Bei einer Personen- Was ausländischen Kritikern als perfide bot die Allianz eine Anleihe an, die in gesellschaft wie etwa einer KG haftet jeder Strategie der Deutschen erscheint, hat sich Deutsche-Bank-Aktien aus ihrem Bestand Miteigentümer in Höhe seiner Kommandit- eher zufällig entwickelt: Hinter vielen Be- gewandelt werden kann. Dadurch kann einlage. Insgesamt 15 Beteiligungen an Un- teiligungen steckt ein Stück Industriege- sich ihr Anteil an dem größten deutschen ternehmen wie der Allianz, dem Maschi- schichte. Die Deutsche Bank war schon Kreditinstitut etwa halbieren. nenbauer Linde, der Metallgesellschaft 1926 mit dabei, als die Firmen Daimler und Die Deutsche Bank wiederum setzt in oder dem Heidelberger Zement bekamen Benz zusammengingen. Ein Teil der Akti- ähnlicher Weise einen Teil ihres Aktienpa- von flinken Rechtsanwälten die sonst kaum en der Südzucker AG, Europas größtem kets an der Allianz ein, um den Erwerb gebräuchliche Rechtsform einer AG & Co. Zuckerhersteller, stammt von der jüdischen der amerikanischen Investmentbank Ban- KG verpaßt. Die Steueroptimierer von der Familie Flegenheimer, die 1937 unter dem kers Trust zu finanzieren. „Die Deutsch- Dresdner Bank zogen eilig mit fünf GmbH Druck der Nazis ihr Unternehmen aufge- land AG beginnt sich aufzulösen“, diagno- & Co. KGs mit Sitz in Bad Vilbel nach. ben mußten. stiziert Lutz Raettig, Vorstandsvorsitzen- Das spart zunächst einmal Ge- werbesteuern, da der Hebesatz ein paar Kilometer vor den Toren von Frankfurt deutlich niedriger als in der Bankenmetropole ist. Doch we- gen der paar Millionen Mark pro Jahr – bei der Deutschen sind es fünf, bei der Dresdner vier – hätten die Geldkonzerne die aufwendige Umstrukturierung wohl kaum durchgeführt. Die Banken nutzten ein Schlupfloch, das mit der Steuerre- form, die rückwirkend zum 1. Janu- ar in Kraft treten soll, geschlossen wird. Danach ist die steuerneutrale Übertragung der in den Aktienpa- keten enthaltenen stillen Reserven in Personengesellschaften nicht mehr möglich, eine Trennung von ihren Beteiligungen würde für die Banken dann sehr teuer. Genau darum aber geht es: „Der Beteiligungsbesitz ist nicht in Stein gemeißelt“, sagt Deutsche-Bank- Chef Rolf Breuer. Nun komme „in einen Seitentrakt, der besonders dunkel war“, das nötige Licht. Die Botschaft ist eindeutig. „Die schönen Mädels werden in einen Schaukasten gestellt“, meint ein Londoner Investmentbanker. „Ich Skyline von Frankfurt: Kreditinstitute, Versicherungen und Industriekonzerne sind verflochten wie

88 der spiegel 3/1999 der der amerikanischen Investmentbank Aktivposten stille Reserve Neuordnung des Anteilsbesitzes der Deutschen Bank Morgan Stanley in Deutschland. Die Auslagerung der Beteiligungen in Bislang waren alle Industriebeteiligungen Anfang 1999 sind fast alle Beteiligun- Personengesellschaften wird diesen Pro- unter dem Konzerndach der Deutschen Bank gen in jeweils eine eigene AG & Co. KG zeß beschleunigen: Solche Anteile lassen in Frankfurt angesiedelt. übergegangen. Sitz: Eschborn. sich leichter hin und her schieben als Ak- Alleiniger Kommanditist ist die Deutsche Wert direkter und tienpakete. „Wir können sie als Akquisi- Bank, die Geschäftsführung übernimmt indirekter Beteiligungen als Komplementär die DB Investor AG. tionswährung einsetzen“, heißt es bei der Stand Ende 1998: 47 Mrd. Mark Dresdner Bank – und dabei lästige Steuer- Deutsche zahlungen verhindern. Anteil Wert in Bank Bei einem Verkauf der Beteiligungen auf in Prozent Mrd. Mark herkömmliche Weise müssen bisweilen gi- Daimler-Chrysler...... 12,0 ...... 19,0 gantische stille Reserven aufgelöst – und DB Investor AG Allianz ...... 9,4 ...... 13,0 Kommanditist versteuert werden. Teilweise stehen Akti- Komplementär enpakete mit dem Wert, den sie 1949 hat- Münchener Rück ...... 10,0...... 7,0 100% ten, in den Büchern, der tatsächliche Wert, Linde ...... 10,1 ...... 0,8 der bei einem Verkauf zu erzielen wäre, Heidelberger Zement...... 10,1 ...... 0,6 Beteiligungs- Beteiligungs- Beteiligungs- liegt um ein Vielfaches höher. Allein bei Metallgesellschaft...... 13,0 ...... 0,5 der Deutschen Bank summieren sich die- AG & Co. KG AG & Co. KG AG & Co. KG se stillen Reserven auf mehr als 30 Milli- Continental...... 8,4 ...... 0,4 arden Mark. Südzucker...... 10,1 ...... 0,4 Vorteile der Auslagerung Doch die Münchner Finanzkonzerne Holzmann ...... 25,0 ...... 0,2 •geringere Gewerbesteuer in Eschborn machen den Frankfurtern vor, daß sich sol- Deutz ...... 26,6 ...... 0,2 •Steuervorteile bei der Aktivierung che Schätze auch ohne hohe Überweisun- stiller Reserven gen an den Fiskus heben lassen. Die sonstige ...... 4,9 •aktiveres Beteiligungs-Management Bayerische Vereinsbank bezahlte zu einem gut Teil den Erwerb der Hypobank mit Ak- tien der Allianz: Wenn solche Unterneh- ner Versicherungskonzerne Münchener ren können dem Finanzamt gegenüber mit mensanteile art-, wert- und funktionsgleich Rück und Allianz die letzte Gelegenheit derzeitigen Gewinnen verrechnet werden sind, ließen sich diese bislang steuerfrei und tauschten noch einmal untereinander – das Unternehmen zahlt weniger oder tauschen – wenn, wie in Bayern, der Fiskus mehrere Aktienpakete. auch gar keine Steuern. So könnte die Me- mitspielt. Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle tallgesellschaft – als Geldanlage – KG-An- Jetzt aber wird die Bundesregierung das rechnet vor, daß sein Unternehmen bei der teile von der Deutschen Bank erwerben Schlupfloch schließen, sie will auf diese Veräußerung eines Aktienpakets nun 58 und Gewinne aus ihrer Kommandit-Betei- Weise bis einschließlich 2002 rund 2,7 Mil- Prozent Steuern zahlen müsse. „Das ist ligung mit Verlusten aus ihren defizitären liarden Mark mehr einnehmen. Kurz vor natürlich unmöglich“, sagt Schulte-Noel- Ölgeschäften verrechnen. Jahresschluß nutzten die beiden Münch- le.Wenn dagegen wie in Frankreich ein re- Die beiden Münchner Versicherungen duzierter Steuersatz von 20 Prozent gelte, haben teilweise ihre Beteiligungen schon „würden Milliardenbeträge in den Steuer- länger in eigenen Gesellschaften ausge- säckel strömen“. gliedert. Der weltgrößte Versicherer Alli- Vor dem Finanzausschuß des Bundesta- anz besitzt etwa ein Dutzend Vermögens- ges klagten die Wirtschaftsverbände uni- verwaltungsgesellschaften mit Namen wie sono, daß wirtschaftlich wünschenswerte Gamma, Jota oder Sexta. Kurz vor Jahres- Umstrukturierungen durch die Gesetzes- ende wurden die milliardenschweren Ak- änderungen blockiert würden. Im Falle ei- tienpakete an der Dresdner Bank, Mün- nes Steuerzugriffs würden diese unterblei- chener Rück, Beiersdorf, BASF und Kar- ben „oder durch Umwegkonstruktionen stadt jeweils in eine GmbH & Co. KG ersetzt“. Das werde „fiskalpolitisch ein überführt. Schlag ins Wasser“. Ganz ähnlich hat es die Münchener Mit der Auslagerung ihrer milliarden- Rück gemacht, die größte Rückversiche- schweren Beteiligungen in Personengesell- rungsanstalt der Welt. Sie hat Beteiligun- schaften hoffen die Banken, den entschei- gen im Wert von insgesamt 60 Milliarden denden Ausweg aus der Steuerfalle gefun- Mark in verschiedene Beteiligungsgesell- den zu haben. Denn auch nach der neuen schaften ausgelagert, um in Zukunft ihren Gesetzeslage können solche Anteile steu- Anteilsbesitz steuerschonend einsetzen zu erfrei auf Kapitalgesellschaften übertragen können. werden. Eine solche Lösung ist beispiels- Mittlerweile mehren sich die Zweifel in weise vorteilhaft, wenn bei einer Fusion München, ob dieser bequeme Ausweg auf Aktien getauscht werden. So könnte die Dauer vom Gesetzgeber akzeptiert wird. Deutsche Bank Aktionäre einer französi- Wenn die Banken es im großen Stil zum schen Großbank mit Anteilen an ihrer Steuersparen verwenden, fürchten Steuer- Daimler-Chrysler KG auszahlen. experten, ist das schöne Modell schnell Umstritten ist, ob die Banken zum kaputt. Zweck des Steuersparens neue Anteilseig- Das hessische Finanzministerium hat be- ner als Kommanditisten in ihre Personen- reits angekündigt, daß notfalls noch einmal gesellschaften aufnehmen können. Unter- die Gesetze geändert werden müssen, nehmen wie etwa die Metallgesellschaft falls „gewitzte Unternehmensstrategen

BAUMGARTEN-BILDARCHIV haben in der Vergangenheit hohe Verluste darauf aus sind, ihre Steuern zu mini- in keinem anderen Land gemacht; solche Verluste aus früheren Jah- mieren“. Christoph Pauly

der spiegel 3/1999 89 Wirtschaft

KONZERNE „Die Welt tickt zu einseitig“ Porsche-Vorsitzender Wendelin Wiedeking über das weltweite Fusionsfieber, reines Profitstreben und die soziale Verantwortung des Unternehmers

SPIEGEL: In der Wirtschaft herrscht das Fusionsfieber: Daimler-Benz und Chrysler ha- ben sich zusammengeschlossen, Versicherungen, Banken, Phar- makonzerne und Zigaretten- hersteller fusionieren. Fiat und Volvo wollen ebenfalls zusam- mengehen. Gehören mittlere oder kleine Unternehmen wie Porsche zu einer aussterbenden Gattung? Wiedeking: Ganz sicher nicht. In einiger Zeit wird man Bilanz zie- hen, welche Ergebnisse dieses Fusionsfieber hervorgebracht hat. Untersuchungen haben ge- zeigt, daß bislang etwa zwei Drittel aller Fusionen geschei- tert sind. Und ich sehe keinen Grund, warum sich diese Quote wesentlich verbessern sollte. SPIEGEL: Daimler-Chrysler will

schon im ersten Jahr mehrere / ZEITENSPIEGEL R. KWIOTEK Milliarden Mark unter anderem Porsche-Chef Wiedeking: „Bei den meisten Fusionen stehen die Konflikte erst bevor“ durch gemeinsamen Einkauf sparen. Sind die Vorteile durch Größe nicht der Belegschaft hängt die Zukunft des Kon- Wiedeking: Ich will nicht sagen, daß wir überwältigend? zerns wesentlich ab, gerade wenn ein deut- Manager Vagabunden sind, die überall ihr Wiedeking: Zur Zeit hört man nur etwas sches und ein französisches Unternehmen Zelt aufschlagen können. Aber wir sind so über den Nutzen der Fusionen. Aber man mit völlig unterschiedlichen Kulturen zu- flexibel, haben auch ein entsprechendes sollte sich auch einmal die Kosten an- sammenkommen. Einkommen, daß wir von einem auf den schauen. Man muß die unterschiedlichen SPIEGEL: Wo liegen denn ganz praktisch die anderen Tag umziehen können. Diese Kulturen, Sprachen und Organisations- Probleme solch fusionierter Konzerne? Chance haben die Menschen in den Wer- strukturen der Unternehmen zusammen- Wiedeking: Es fängt mit der Kommunikati- ken nicht. Ein Porsche-Angestellter aus bringen. Vor allem wird unterschätzt, daß on an. Wie verständigt sich ein deutsch- Zuffenhausen kann nicht plötzlich nach die Menschen plötzlich die Heimat verlie- amerikanischer oder deutsch-französischer Frankreich ziehen. Er ist darauf angewie- ren. Manche Familien sind seit Generatio- Konzern – nur über Satellit, über Video- sen, daß der Standort Zuffenhausen lebt. nen bei einem Unternehmen beschäftigt. konferenzen, oder baut er ganze Flug- Das unterschätzen die meisten. Ihre Identifikation mit der Firma ist ein zeugflotten auf, um ständig hin- und her- SPIEGEL: Bislang dringen aus den fusio- unschätzbarer Vorteil. Doch der ist bei ei- zupendeln? Die Zeit, die das Management nierten Konzernen vor allem positive ner Übernahme oder Fusion massiv ge- dann über den Weltmeeren verbringt, ist Nachrichten. Haben Ihre Kollegen mögli- fährdet. nicht unbeachtlich. Es geht mit der Sprache cherweise aus fehlgeschlagenen Fusionen SPIEGEL: Welche Folgen hat es dann erst, weiter. Natürlich können sich Manager in der Vergangenheit gelernt? wenn bei einer Fusion wie der von Hoechst Englisch verständigen. Aber das ist nicht Wiedeking: Ich wünsche jedem von ihnen, mit Rhône-Poulenc der Firmenname auf allen Arbeitsebenen der Fall. Ganz daß es klappt.Aber bei den meisten stehen Hoechst sogar vollständig verschwindet? schwierig wird es, wenn es um Details geht, die Konflikte doch erst bevor. Wenn eine Wiedeking: Es ist für mich eigentlich un- um die Einzelteile eines Motors beispiels- Konzernzentrale entscheiden muß, wo die verständlich, daß dieser Konzern seinen weise. Doch gerade bei diesen Themen Finanzmittel hinfließen, wird es Vertei- Namen aufgibt, der seit Jahrzehnten welt- müssen sich die Mitarbeiter perfekt ver- lungskämpfe geben. Es geht um Geld und weit bekannt ist. Das mag zwar aus Sicht stehen. Und wenn Englisch oder Franzö- damit um die Zukunft der einzelnen Stand- des Topmanagements, aus welchen Be- sisch die Konzernsprache ist, benachteiligt orte. Und ganz schwierig wird es, wenn es weggründen auch immer, Sinn machen. Ein man automatisch alle, für die dies nicht die einmal abwärtsgeht und über Sparmaß- Manager kann das verdauen, der unter- Muttersprache ist. nahmen und Werkschließungen entschie- schreibt auch unter einem anderen Brief- SPIEGEL: Bieten Fusionen nicht auch Chan- den werden muß. kopf. Aber ich kann mir nicht vorstellen, cen für Mitarbeiter, die ins Ausland gehen, SPIEGEL: Die Konzernchefs bieten doch daß die Belegschaft diesen Schritt nach- Sprachen und neue Kulturen kennenler- stets eine scheinbar überzeugende wirt- vollziehen kann. Und vom Engagement nen können? schaftliche Logik für ihre Übernahmen

90 der spiegel 3/1999 oder Fusionen an. Was ist denn falsch an ihrer Logik? Wiedeking: Na ja, das wäre ja noch schöner, wenn sie ihr Handeln nicht ordentlich begründen könnten.Aber manchmal ändern sich die Rahmen- bedingungen schneller und ein- schneidender, als man unterstellt hat. Die Deutsche Bank wurde vor Jah- ren gelobt für die Übernahme von Morgan Grenfell. Jetzt gibt es für die Investmentsparte nicht einmal mehr den Namen Morgan Grenfell, ge- schweige denn die Spitzenkräfte, die dort vorher sehr erfolgreich gearbei-

tet haben. Die Menschen auf allen KLINK / ZEITENSPIEGEL T. Unternehmensebenen müssen den Porsche-Produktion: „Bei uns ging es ums Überleben“ Sinn einer Fusion oder Übernahme verstehen. Wenn nur das Topmanagement Wiedeking: Mit einer Übernahme oder Gewinninteresse und den Interessen der die Logik versteht und sich dafür feiern einer Fusion kann man am schnellsten Mitarbeiter herstellen. In den Fabriken läßt, kann das nicht gutgehen. Ein anderes einen Wachstumssprung erreichen. Das herrscht teilweise große Unsicherheit, weil Beispiel: Dornier hatte offenbar innerhalb erklärt vielleicht auch die gegenwärtige die Menschen nicht wissen, was mit ihnen eines großen Konzerns … Euphorie. Aus eigener Kraft zu wachsen nach einer Übernahme geschieht. Diese SPIEGEL: … Daimler-Benz … ist mühsamer, aber dafür auch dauerhafter. Unsicherheit kann einem Unternehmen Wiedeking: … keine Fortüne mehr. Seitdem SPIEGEL: Sind Investmentfonds die Verur- mehr schaden als alle theoretischen Vor- Dornier mit Fairchild eine kleine Einheit sacher der Fusionswelle, weil sie von den teile einer Fusion. bildet, hat die Firma Erfolg am Markt und Konzernen immer mehr Profit und stei- SPIEGEL: Kann sich ein Unternehmen, des- stellt wieder Menschen ein. gende Aktienkurse verlangen? sen Aktien an der Börse gehandelt wer- SPIEGEL: Woran liegt das? Wiedeking: Es gibt weltweit sehr viel vaga- den, dem Druck der Fonds entziehen? Wiedeking: Die Strukturen müssen über- bundierendes Geld, das sich vermehren Wiedeking: Natürlich nicht. In der Markt- schaubar sein. Je größer ein Konzern wird, will und stets dahin fließt, wo es am mei- wirtschaft herrschen nun mal bestimmte desto größer ist der Verwaltungsapparat sten Rendite verspricht. Es hat sich eine Regeln. Ein Unternehmen muß eine or- und desto stärker der notwendige Abstim- ganze Industrie etabliert, deren Aufgabe dentliche Verzinsung des eingesetzten mungsbedarf. Bis dann eine Entscheidung nur darin besteht, Firmen zu kaufen, sie Kapitals erwirtschaften. Aber ich bin über- getroffen wird, vergeht oft viel zuviel Zeit. aufzupäppeln, optisch gut erscheinen zu zeugt davon, daß die Sozialkompetenz Noch schwieriger wird es, wenn unter ei- lassen und dann wieder zu verkaufen. Das der Unternehmer entscheidend dafür sein nem Konzerndach ganz unterschiedliche Interesse ist rein profitorientiert. wird, ob ein Unternehmen oder eine Na- Geschäfte verschiedener Branchen zu- SPIEGEL: Was stört Sie daran? tion auf Dauer Erfolg haben. Die Börse sammengefaßt sind. Dann versteht die Wiedeking: Ich glaube, daß die Welt heute vergißt Erfolge ganz schnell, doch die Men- Führung oft nicht genug im Detail von dem zu einseitig tickt. Reine Profitorientierung schen in den Unternehmen sind dann jeweiligen Business. ist zuwenig. Wir haben als Unternehmer immer noch da. SPIEGEL: Viele Ihrer Kollegen behaupten, es auch eine soziale Verantwortung, wir SPIEGEL: Sie selbst haben bei Porsche doch gebe eine Mindestgröße für Unternehmen, müssen eine Harmonie zwischen dem auch einen harten Sanierungskurs gefah- weil sie sonst keinen weltweiten Ver- ren, der mehrere tausend Arbeits- trieb, keine ausreichende Forschung plätze kostete. aufrechterhalten könnten. Sucht nach Größe Wiedeking: Bei uns ging es da- Wiedeking: Wenn Größe das ent- Die größten angekündigten oder mals schließlich ums Überleben scheidende Kriterium wäre, müßten vollzogenen Fusionen 1998 der Firma. Immerhin haben wir nach Transaktionswert die Dinosaurier heute noch leben. Branche in Milliarden den Stellenabbau mit freiwilligen Es gibt keine allgemeingültige Min- Dollar Aufhebungsverträgen, also ohne destgröße. Jedes Unternehmen muß 1. Exxon – Mobil Öl 86,36 Entlassungen bewältigt. Wir haben seinen Weg finden. Der Vorteil die Mitarbeiter davon überzeugt, von Porsche ist doch, daß wir 2. Travelers – Citicorp Bank 72,56 daß diese Einschnitte nötig sind zwar klein, aber enorm wendig sind. und unsere Strategie das Unterneh- 3. SBC Communications Telekom Wir haben mit dem Porsche 911 und 72,36 men aus der Krise führt. Deshalb dem Boxster zwei völlig neue Fahr- 4. Bell Atlantic – GTE Telekom 71,32 haben alle mitgezogen. Und als zeuge zu einem Preis entwickelt, zu es uns besser ging, haben wir dem größere Unternehmen nicht 5. AT&T – Tele-Communications Telekom 69,90 auch nicht gesagt, jetzt schütten wir einmal ein Auto fertigbekommen. den gesamten Gewinn an die 6. NationsBank – BankAmerica Bank Deshalb nutzt auch fast die ge- 61,63 Aktionäre aus, sondern haben zum samte Branche unser Entwicklungs- 7. British Petroleum – Amoco Öl 55,04 Firmenjubiläum jedem Beschäftig- zentrum in Weissach für Auftrags- ten einen Bonus von 5000 Mark arbeiten oder beauftragt unsere 8. Daimler-Benz – Chrysler Auto 40,47 bezahlt. Das haben auch viele Porsche-Consulting-Firma, die Ab- unserer Aktionäre begrüßt, die läufe in ihren Fabriken rationeller 9. Norwest – Wells Fargo Bank 34,35 wissen, daß es dem Unternehmen zu gestalten. 10. Zeneca – Astra Pharma 31,79 langfristig nur gutgeht, wenn wir SPIEGEL: Eine weitere Begründung den Ausgleich zwischen den Inter- Quelle: für Fusionen lautet: Wer nicht Securities essen hinbekommen. Data wächst, geht unter. Interview: Dietmar Hawranek

der spiegel 3/1999 91 Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

MUSIK Besser als Fleurop Deutschlands bekanntester Minnesänger Nikolai de Treskow, 30, über die versöhnende Wirkung seines Gesangs, beminn- bare First Ladys und den Nutzen seiner Minne-Hotline (030-25 39 16 21)

SPIEGEL: Herr de Treskow, Sie singen Walther von der Vogel- weide und Wolfram von Eschenbach in originalen Melodien. Braucht die Welt auch heute ritterliche Liebeslyrik? Treskow: Sie braucht sie wieder. Die Menschen suchen nach Spielregeln im Balzverhalten. Eigentlich hat sich da in den letzten 700 Jahren kaum etwas verändert, nur fehlt der Lie- beswerbung heute oftmals das Spielerische. Wer kennt denn noch die Bedeutung eines fallengelassenen Taschentuchs? SPIEGEL: Wie sind Sie zum Minnemann geworden? Treskow: Als Jugendlicher fand ich mich ziemlich unattraktiv, wegen meiner langen Nase, der roten Haare. Der Minnesang gab mir Sex-Appeal. SPIEGEL: Für wen ist Ihre Hotline – das Minnefon – gedacht? Treskow: Für alle, die den konventionellen Pfad der Liebes-

werbung verlassen wollen. MAHLER / OSTKREUZ U. SPIEGEL: Was kostet es, Sie anreisen zu lassen? Minnesänger Treskow in Berlin Treskow: Um die tausend Silberlinge. Eine Telefonminne für die Schwiegermutter ist natürlich günstiger. Treskow: Viele Verkrachte erhoffen sich von meinem Gesang SPIEGEL: Wünschen Sie sich den Hof zurück? Rettung. Ich funktioniere besser als ein Fleurop-Blumenstrauß. Treskow: Wenn ich vor Schröder, Genscher oder Biedenkopf sin- Aber immer klappt’s nicht. Einmal war ein Nebenbuhler ziem- ge, ist das doch ein bißchen wie am Hofe. Frau Biedenkopf läßt lich sauer. Da habe ich Blessuren davongetragen. sich übrigens wunderbar beminnen. SPIEGEL: Was fühlen Sie, wenn Sie eine fremde Frau besingen? SPIEGEL: Haben Sie schon mal ein zerstrittenes Paar wieder zu- Treskow: Für die fünf Minuten der Beminnung mache ich mich sammengebracht? in sie verliebt, das ist die eigentliche Kunst.

TIERSCHUTZ schutzbunds über das Konterfei ei- GESUNDHEIT ner Schönen im Rotfuchs mit Oze- Ziege im Rotfuchs lot-Hut geschrieben. Das Deutsche Schlaf den Speck weg Pelzinstitut warf darauf den Tier- as Plakat kam rechtzeitig, den schützern Frauenfeindlichkeit und ediziner rätseln weiterhin, und selbst die DPelz-Couturiers das Weih- Diskriminierung von Pelzträgerin- MDenker sind uneins: Während der Fleiß- nachtsgeschäft zu verderben. „Es nen vor. Jetzt wird sich der Krieg bold und Frühaufsteher Immanuel Kant das gibt Ziegen, die sind tatsächlich zwischen den Parteien vermutlich Bett als „Nest einer Men- blöd“, hatte die Düsseldorfer Wer- nochmals verschärfen. Vergangene ge von Krankheiten“ dif- beagentur „Butter“ für eine Anti- Woche drehte die Agentur einen famierte, erklärte Søren Pelz-Aktion des Deutschen Tier- (demnächst anlaufenden) Kinospot. Kierkegaard, Kopenha- Darin gerät eine gens Meister-Dialektiker: Pelzträgerin wäh- „Schlaf ist höchste Genia- rend eines Bank- lität.“ Ganz so weit ge- überfalls in die Bre- hen T. S. Wiley und Bent

douille: „Hände Formby nicht. Immerhin / BAVARIA TOUSCHE F. hoch!“ befehlen die aber haben die US-Auto- Schlafende Räuber, die Hände ren einen Vorschuß von der Kundin aber über 200000 Dollar für ihr Sachbuch-Manu- stecken im Pelz- skript „Kept in the Dark“ eingeheimst. Darin muff fest. Die Agen- behaupten sie, wer viel – am besten im Dun- tur erhofft sich von keln – schlafe, könne sein Übergewicht besie- ihrem Spot durch- gen: Licht suggeriere dem Körper, es sei Som- schlagenden Erfolg: mer, also lege er Fettreserven für kalte Tage an. „Vielleicht begrei- Ab in die Falle und den Speck wegschlafen, ra- fen die Leute end- ten sie folglich allen allzu runden Mitmenschen. lich, daß Pelztragen Attestreife hat die zweifelhafte Winterschlaf- Anti-Pelz-Anzeige peinlich ist.“ Diät allerdings noch nicht erlangt.

der spiegel 3/1999 93 Gesellschaft

SELBSTMORD „Drinnen tobt der Sturm“ Zwei Mädchen aus einer heilen Welt und intakten Familien sprangen im Westerwald in den Tod. Niemand sah Warnzeichen, es gab keinen offensichtlichen Grund – wie so oft, wenn Jugendliche sich umbringen.

ls die beiden Teenager auf der Klip- gen, wo Julia eine „Formalität für die Be- pe ankamen, tranken sie Sekt. Sie erdigung“ notiert hat, die sie in dem Brief Asahen unter sich die 20 Meter tiefen vergessen hatte – die Tochter wünscht, daß Schluchten und die scharfen Kanten des ihr Tagebuch mit ihr bestattet werden soll. Steinbruchs von Dreikirchen und in der Dominika, 16, die ältere Schwester, liest Ferne die Hügel des Westerwaldes im den Brief an Julias beste Freundin. Da Mondlicht. In den Tälern leuchteten ein steht, daß die Mädchen zum Steinbruch paar Lichter jener Dörfer, in die Julia und gehen wollten. Alexandra nicht zurückkehren wollten. Julia mochte den Steinbruch: Dort war Es war eine kalte Nacht. „Julia“ stand sie zelten, dort ritt sie mit Niki aus, da- auf dem Etikett von einer der beiden Sekt- mals, als ihr weißes Pony noch nicht diese flaschen. Bruno S. hatte sie seiner 15jähri- Hufkrankheit hatte. Der Steinbruch war gen Tochter für eine gute Klassenarbeit ge- für Julia ein bißchen wie die Alpen, wo sie schenkt; bis zu dieser Nacht hatte der Sekt immer so glücklich war. Weil sie das einzi- in ihrem Zimmer im Regal gestanden. ge Kind der Familie war, das Bergsteigen Es ist 4.50 Uhr am Morgen des vorver- liebte, war sie dabei allein mit ihrem Vater. gangenen Sonntags, als bei Bruno S. in Sie umarmten sich, wenn sie einen Gipfel Obererbach das Telefon klingelt. Dieter erreicht hatten. Ihr Vater erklärte ihr die- H., Alexandras Vater, ist dran. Er klingt nervös. „Die Mädchen sind nicht mehr bei uns, sind sie vielleicht bei euch?“ fragt er. Bruno S. geht in Julias Zimmer, das so ordent- lich ist wie immer. Ge- trocknete Rosen, Julias Lieblingsblumen, und Bil- der mit dem Friedens- SPIEGEL TV symbol hängen an der A. VARNHORN Wand. Die Schulfreun- Julias Elternhaus, Vater Bruno S.: „Sie hatte keine Probleme“ Absprungstelle im Steinbruch: „Die ganze dinnen sind hier nicht. Dann wird Bruno S. panisch, denn jetzt sieht se „Grenzerfahrungen, die die ganze Band- weiter entfernt liegt, mit Herzmassage wie- er die Briefe. breite des Lebens ausleuchten“: Gefahr, derzubeleben. Er war mal Rettungssanitä- Es sind akkurat gefaltete Blätter, sorg- Zusammenhalt, Triumph. ter und spult mechanisch ab, was er gelernt fältig adressiert: an Freundinnen und an Bruno S. ruft die Polizei an. Sobald es hat. Alexandra sieht aus, als könne „ein „Mama und Papa“. Der Vater spürt sofort, hell werde, würden Hundestaffeln und Funken Leben in ihr sein“. Ihr Vater schreit. daß das ein Abschiedsbrief ist, den er da Hubschrauber losgeschickt, sagt der Be- Es ist acht Uhr. Julia und Alexandra, bei- liest. „Wir haben eine Glasplatte kaputt- amte am Telefon. Bruno S. und Dieter H. de 15 Jahre alt, haben sich vor ungefähr gemacht, die könnt ihr von meinem Geld fahren sofort, es ist nur ein Kilometer bis vier Stunden umgebracht. Sie waren so- bezahlen“, hat seine Tochter geschrieben, zum Steinbruch. Sie laufen mit Taschen- fort tot. Und sie hatten scheinbar kein und: „Macht euch keine Sorgen. Ich habe lampen zwischen den schmutzigbraunen Motiv. euch ganz, ganz toll lieb.“ Wänden hindurch, rufen, daß alles gut wer- Sie hatten keinen Liebeskummer, sagt Später wird sich der Mann erinnern, daß de, daß der kaputte Tisch kein Problem Julias Vater. Ihre kurze Liebelei mit einem dies bereits der Moment ist, an dem er die sei, „bitte wartet auf uns“. Schulfreund war zwar im November zer- Hoffnung verliert. „Ich wußte doch, wie Der Vater findet seine tote Tochter. Julia bröckelt, aber sie verstanden sich noch, zielstrebig die Julia war“, sagt er. liegt mit zerschmettertem Kopf auf den feierten zusammen Silvester. Beide waren Er rennt durch sein Haus. In der Küche Steinen. Bruno S. streichelt sie, und dann gute Schülerinnen. Sie waren nicht schwan- findet er den kleinen Block für Besorgun- versucht er, Alexandra, die ein paar Meter ger, das ergab die Obduktion, und sie

94 der spiegel 3/1999 det, aber es war bloß eine Redensart, weniger Drohung als Scherz. „Dann springe ich“, das hätten viele aus der Klasse schon mal gesagt, erzählt Julias Vater. In der vergangenen Woche müssen die anderen in Klassenraum 204 ernsthaft über den Tod reden. „Wir finden keine Anwort“, sagt der Schul- leiter Richard Kremer: „Wir kannten die beiden als ganz normale Kinder ohne sichtbare Probleme.“ Noch drei Tage nach ihrem Tod steht auf der „Tafeldienst“-Liste an siebter Stelle: „Julia – Alexandra“. Meudt, wo Alexandra früher Meß- dienerin war, sei „noch richtig heile Welt“, sagt Pfarrer Joseph Mosha, 43, der aus Tansania kam: „Ich habe hier nie von Drogen, Neonazis oder Kra- wallen gehört.“ Und Julias Heimatdorf Ober- erbach, ein Ort an der Landesgrenze von Hessen und Rheinland-Pfalz, hat rund 500 Einwohner, eine Kirche, die Feuerwehr, ein Gasthaus, Elektro-

BILD ZEITUNG montage Kaiser und den Friedhof. Julia, Alexandra: „Macht euch keine Sorgen“ Der vollbärtige Bruno S., 44, von Beruf Elektroingenieur, war so etwas meint Sigrid Meurer, die in der Berliner wie der Held des Dorfes. Mit 17 wurde er Beratungsstelle für suizidgefährdete Kin- Vorsitzender des katholischen Kolpingver- der und Jugendliche arbeitet. Nicht immer eins. Er organisierte in den letzten Jahren sei erkennbar, was die an sich und der Welt 14 Hilfstransporte nach Rumänien. zweifelnden Teenager bewege: „Nach Seine Frau Bettina, 38, war einst Erzie- außen sieht alles perfekt aus, aber drinnen herin und war immer bereit zu helfen. Des- tobt der Sturm.“ Schuldzuweisungen seien halb hatte Julia nicht nur eine ältere Schwe- sinnlos. Julia beschäftigte sich seit Wochen ster und einen jüngeren Bruder, sondern mit Selbstmord; in ihrem Tagebuch schrieb auch eine Adoptivschwester und einen Pfle- sie davon. gebruder. Im Haus lebten ein Hund, zwei Aber jetzt hatten Julia und Alexandra Katzen und Julias Vogel Herkules. gerade einen lustigen Disko-Abend hinter Die Familie wurde bewundert im Ort, und eine Menge vor sich. Sie hatten so viel weil sie so lebendig war und so engagiert. geplant. Alexandra wollte nach der zehn- Wurde Julia übersehen neben der Not in ten Klasse Arzthelferin werden, die aller Welt, neben den wichtigeren Sorgen Lehrstelle war ihr sicher. Julia wollte viel- ihrer Geschwister? „Bei allen haben wir leicht Fotografie, vielleicht Design studie- Fehler gemacht, bei Julia fallen uns keine ren. Sie wollte bei der neuen Damen- ein“, sagt der Vater. mannschaft des Judo-Clubs Elz mitmachen Zwei Tage nach dem Selbstmord sitzt er und vielleicht Übungsleiterin werden. im organisierten Chaos seines Arbeitszim-

DPA Und schon am Sonntag wollte sie mit mers. Er trägt einen grauen Pullover, Jeans Bandbreite des Lebens“ ihrem Vater ihren Stundenplan in den und Turnschuhe und starrt mit geröteten Computer eingeben. Sie beabsichtigte, ih- Augen auf die Fotos. Julia mit ihm in den nahmen keine Drogen. Julia hatte 1,0 und rer Mutter beim Backen zu helfen, denn an Bergen, Julia mit den Geschwistern, Julia Alexandra 0,4 Promille Alkohol im Blut. diesem Sonntag hatte ihre indische beim Judo – und immer lacht sie. Die an- „Ein Rausch als Tatauslöser ist bei diesen Adoptivschwester Prabha achten Geburts- deren vier Kinder, sagt er, hätten mal relativ geringen Mengen unwahrschein- tag. Prabha ist seit einer Kinderlähmung Scheiß gebaut – zu spät nach Hause kom- lich“, sagt Oberstaatsanwalt Erich Jung. gehbehindert. Der Kugelschreiber, den Ju- men, Hausaufgaben vergessen, solche Sa- Vor allem lebten beide in intakten lia der Kleinen schenken wollte, lag einge- chen eben –, aber die Julia nie. „Die Julia“, Familien. Deshalb rätseln nun die Men- packt in ihrem Zimmer. „Das paßt doch al- meint er dann, „hatte keine Probleme.“ schen im Westerwald, was sie in den Tod les nicht“, sagt ihr Vater. Gut, sie habe sich in der Schule unsin- getrieben haben könnte. Selbstmord ist Und darum sitzt Alexandras Familie in nige Ziele gesetzt; es mußte immer eine nach Autounfällen die zweithäufigste ihrem schlichten Einfamilienhaus in Meudt Eins sein. Aber sonst? Sie war doch eine Todesursache bei jungen Leuten. Etwa und Julias Familie in dem verwinkelten wunderbare Gruppenleiterin im Kolping- 340 Menschen, die noch nicht 20 Jahre alt Häuschen in Obererbach, und sie martern verein, „eine kleine Persönlichkeit“, wie sind, bringen sich jedes Jahr in Deutsch- sich den Kopf mit der einen Frage: Warum? auch ihr Judotrainer Heinz Weingarten, 46, land um; die Dunkelziffer halten Experten Julia und Alexandra lebten in einer Welt sagt. In der Ferienfreizeit am Großglock- für hoch. der Dörfer. In Salz gingen die Mädchen in ner hätten sich die anderen um sie ge- „Sehr viele Heranwachsende denken in die zehnte Klasse der Hauptschule. Hier schart; den blauen Gürtel errang sie ohne einer Phase ihrer Pubertät an Selbstmord“, wurde öfter über den letzten Sprung gere- Mühe. Er habe viele gefährdete Kinder er-

der spiegel 3/1999 95 Gesellschaft lebt in 22 Jahren Jugendarbeit, meint Wein- Meudt. Er wartet, bis das Licht angeht, und Um 2.30 Uhr stehen die beiden an der garten, Julia habe er nicht dazu gezählt. fährt zurück zur Disko. Straße, sie wollen zu Julias Elternhaus. Die Therapeutin Meurer mag sich kein Im Wohnzimmer geht den beiden ir- Eine Frau aus Koblenz nimmt sie mit, Urteil anmaßen, aber sie hat in Berlin mit gendwie der Glastisch kaputt. Er habe nur macht einen Umweg und hält vor dem vielen heilen Familien zu tun gehabt, in 100 Mark gekostet, sagt Julias Vater. Nie- Haus in Obererbach. Sie meint, daß die denen die Kinder zerbrochen seien: „In mand, der die Mädchen kannte, kann glau- beiden Teenager nicht hysterisch, sondern der Pubertät muß sich jedes Kind abgren- ben, daß dies der Auslöser war. nette, normale Tramperinnen gewesen zen und emanzipieren. Das ist schrecklich „Es gibt durchaus Kinder, die Sachen, seien. schwer, wenn die Eltern in allem vorbild- die für ihre Eltern eine Banalität sind, Julia hat einen eigenen Schlüssel, sie lich, modern und aufgeschlossen sind.“ schleichen sich durch den Seiteneingang Am Abend vor ihrem Tod zieht Julia ihre hinein. Das Haus ist hellhörig, fünf Men- Lieblingshose an, die schwarze, mit Perlen 10 Kilometer schen schlafen hier, aber niemand wird bestickte. Bruno S. scherzt über den Duft Herschbach Salz wach. Die Mädchen schreiben die Briefe, ihres Parfums. Sie wisse nicht warum, ant- greifen sich die Flasche „Julia“-Sekt und wortet sie, aber „es macht die Kerle an“. Meudt holen eine zweite aus dem Keller. Leise Sagt das eine, die sich umbringen will? Es schließen sie die Tür. Und dann gehen sie sind Julias letzte Worte zum Vater. Dreikirchen in der Nacht von Samstag auf Sonntag in Montabaur Die beiden Mädchen treffen sich mit ih- Obererbach Richtung Dreikirchener Steinbruch. Es ist rer Clique zur „Oldie-Disko“ mit „Musik eine kurvenreiche Straße, bergauf, den- für jedermann und fairen Preisen“ in der Bonn noch brauchen sie nur eine gute Viertel- Sporthalle in Herschbach. Sie albern her- Frank- stunde. furt Limburg um, es gibt keinen Streit. Um Punkt 0.30 Koblenz ahn Zwei Tage danach sitzt Bruno S. am L Uhr ruft Julia zu Hause an und weckt ihre Mainz Schreibtisch und krault den schwarzen Ka- Mutter; der Vater ist bei der Jahreshaupt- ter Mikesch. „Du suchst deine Julia“, sagt versammlung des Kolpingvereins. er. Dann fließen die Tränen. „Die Julia war Es sei so lustig, sagt Julia, ob sie noch furchtbar ernst nehmen – so ernst, daß sie ein absolut außergewöhnliches Mädchen“, bleiben und dann bei Alexandra schlafen sich aus Angst vor den Folgen umbringen“, sagt er schließlich, „wie kein anderes.“ dürfe? Alexandras Vater arbeite im Aus- sagt Mechtild Voss-Eiser, Hamburger Psy- Gegen 4 Uhr am Sonntag morgen stan- schank und könne sie nach Meudt fahren. chologin und Vorsitzende des Vereins „Ver- den Julia und Alexandra an der Klippe. Sie darf. „Danke, Mama, du bist lieb“, das waiste Eltern in Deutschland“. Basalt wird hier abgebaut, die Bagger und sind ihre letzten Worte zur Mutter. Von nun an handeln die Mädchen kon- Transporter parkten in der Ferne. Um viertel nach eins bringt Alexandras sequent und rasend schnell, daß es alle Dann war die Klippe leer. Vater die Mädchen zu seinem Haus in in der Gegend noch Tage später schaudert. Klaus Brinkbäumer, Andrea Stuppe sen Deiters’ Sprößlinge und geben sich Lieferanten, der nur ein Produkt abfüllen LEBENSMITTEL dem trügerischen Traum hin, ein Stück Yin ließ: Mungobohnenkeime. Deiters konnte und Yang auf dem Teller zu haben. die Hamburger Klitsche schließen oder Fernweh aus „Wir steuern und manipulieren den Ver- übernehmen. braucher“, sagt der Fernweh-Verkäufer und Und obwohl asiatische Küche damals al- meint die ganze Lebensmittelbranche.Weit lenfalls in China-Restaurants zu finden Vierlanden mehr als die Hälfte der Leute glaube noch war, rechneten sich Deiters und sein Part- immer, das Gemüse stamme aus Thailand. ner Ulrich Florin in der Nische gute Chan- Asiatisches Essen boomt. Die Deiters ist das ganz recht. Das Mißver- cen aus. Dank Massentourismus wuchs das ständnis nährt nicht nur seine Kunden und Interesse an exotischer Küche. Dank Mas- meisten Sprossen und deren Illusionen. „Außer uns weiß wahr- sentierhaltung und Mastskandalen stieg Keime kommen aus dem scheinlich niemand, wie groß die Sehnsucht nach gesunder Hamburger Umland. der Markt wirklich ist“, sagt Ernährung. Sprossen gelten er lächelnd. In der abge- als kalorienarme Vitamin- unges Gemüse ist Norbert Deiters’ Ge- schiedenen Stille seines Be- bomben. schäft. Der 50jährige Unternehmer triebs produziert der Spros- Jede Schlagzeile über den Jsteht in der schwülen Halle seines Hofs sen-Leiter außer drei eigenen Rinderwahn trieb dem Duo und grapscht in die vollen. Alles zart und Handelsmarken („Jazai“, neue Kundschaft zu. Und so knackig, absolut anspruchslos, nur extrem „Maloo“, „Keimkraft“) Ge- wucherten die Sprossen seit- wärmebedürftig. Vielleicht ein bißchen müse für 80 weitere zwischen her wie eine asiatische Grip- bleich und sicher für manchen so appetit- Schweden und Spanien. pe in die Regale der Super- lich wie nasse Socken. In Deutschland ist er mit märkte. „Sojasprossen sind natürlich Ge- einem Umsatz von rund Deiters rechnet mit zwei-

schmackssache“, sagt Deiters, der die Kei- zehn Millionen Mark jähr- / ARGUS H. SCHWARZBACH FOTOS: stelligen Wachstumsraten me nicht etwa aus Asien importiert, son- lich bereits Marktführer. In Unternehmer Deiters und träumt bereits von ei- dern im fernen Osten Hamburgs selbst züchtet. Ob Mungobohnen- oder Kicher- erbsenkeime, Bambusschößlinge oder Chop-Suey-Konserven – das meiste, was in deutschen Supermärkten, Kantinen und Restaurants an Exotik aufgetischt wird, reifte vorher auf seinem Zwei-Hektar-Hof im Obstbauparadies von Vierlanden, wo asiatische Eßkultur sich mit deutscher Pro- duktionsgründlichkeit paart. „Ich bin heute ein Vollsortimenter im Fernostbereich“, strahlt Deiters stolz. Vor allem ist er ein Landwirt ohne Land. Sei- ne Sprossen sprießen in profanen Blech- bottichen. Sie brauchen kein Sonnenlicht und keinen Dünger. 30 000 Liter Heizöl pro Monat reichen. Ein computergesteu- ertes Klimaprogramm garantiert rund um die Uhr fast hundert Prozent Luftfeuch- tigkeit und tropische Temperaturen. Wenn hier mal sechs Stunden die Berieselungs- anlage ausfällt, kommt das einer Dürre- katastrophe gleich. Denn geerntet wird täglich. Exotisch mutet in den schmucklosen Ka- takomben nur das Tempo der Produktion an. Bei Deiters gibt es keine Frühjahrs- Hamburger Sprossenproduktion: „Wir manipulieren den Verbraucher“ oder Sommersprossen. Jeden Tag ver- packen seine 30 Mitarbeiter rund 15 Ton- Europa könnte er es werden. Nur einmal ner Sprossen AG. Der Ex-Krisenmanager nen Frisches. wurde die Firma bislang aus der Bahn ge- wäre der erste Bauer an der Börse. Und Selbst das Saatgut kommt nur zum Teil worfen: 1990 schlug im Lager der Blitz ein warum sollte das eigentlich nicht klappen aus Asien. Das Gros wird aus Australien und zerstörte fast alle Vorräte. bei seinem Einfallsreichtum? Von diesem oder den USA, aus Kanada oder der Tür- Krisen ist Deiters gewohnt, seit er als Jahr an bietet das Unternehmen auch kei importiert. Nur eine Woche dauert es, 25jähriger Coop-Personalleiter in eine Broccoli-Keime und Müsli-Sprossen-Mix bis die quellenden Keimlinge reif sind. Fleischfabrik mit 700 Beschäftigten ge- an. Selbst mit Alfalfa („das war früher Dann werden sie gewaschen, gefroren, ab- schickt wurde.Als er dort ankam, klopften Pferdefutter“) wird erfolgreich experi- gefüllt und verpackt: in Dosen, Gläsern die Metzger zur Begrüßung mit ihren mentiert. und nett anzuschauenden Schälchen wie Fleischmessern auf den Tisch. Im Auftrag Von den immer neuen Kreationen flopp- frisch vom Markt in Pjöngjang. des Handelskonzerns mußte er später im- te bislang nur der „Vierländer Bau- Wenn am Ende der Thailand-Tourist zur mer wieder Werke sanieren, Betriebe um- ernspargel“. Der klang, mutmaßt der Chef, tiefgekühlten Chinapfanne von Langnese- strukturieren oder abstoßen, bis er sich als vielleicht einfach zu sehr nach Haus- Iglo greift, der Student zur Erasco-Dose Krisenprofi selbständig machte. mannskost. Mittlerweile heißen die Erb- oder der Öko-Freak auf Asia-Gemüse der Bei einer ostwestfälischen Konservenfa- senschößlinge „Kaiserspargel“ – und ver- Reutlinger Bio-Firma Vita schwört – alle es- brik entdeckte er schließlich einen kleinen kaufen sich bestens. Thomas Tuma

der spiegel 3/1999 97 Wieso strolcht nun das PRESSE deutsche Feuilleton durch dieses Unterholz der nie- Leckere Mieze deren Gelüste? Was lockt den Kritiker hinaus auf den Die Trash-Kultur hat eine neue schnöden Boulevard? Die Antwort erteilt das „Zeit- Lichtgestalt – eine schreibende Magazin“: Die Frau Dok- Zahnärztin und kesse Erotissima tor, so jauchzt das Blatt, aus der Boulevardpresse. habe aus „der Schmuddel- ecke eine Glanzrubrik“ u den vornehmsten und vordringli- gemacht“. Und: „Solch chen Aufgaben einer aufgeschlosse- schwerelose, auf mehreren Znen Boulevardpresse gehört tradi- Ebenen funktionierende tionell die Versorgung der männlichen Le- Sinnleere hatte es noch serschaft mit sexuellen Botenstoffen.Auch nicht gegeben.“ „Bild“, führendes Organ der Ganzkörper- Ja, das ist es: Die Suche Pflege, sorgt stets für die reibungslose nach Sinn und Form, die Triebabfuhr. Arbeit am Überbau hängt Ein zündendes Pin-up ziert fast täglich den Herrschaften vom die Titelseite, spitzbusige Blondinen oder Feuilleton zum ausgereifte Brünette, die das Gesäß her- Hals heraus. Ver- ausstrecken wie ein gekränkter Mantel-Pa- liebt in die sin- vian. Strenggenommen bedürfen diese Ab- gende, schwingen- bildungen keiner näheren Erläuterung. de Sinnlosigkeit, Dennoch unterlegt „Bild“ die Fotos mit wühlt die Ka- pikanter Prosa, die auch dem schlichtesten naille lustvoll im Voyeur das Wohlgefühl vermittelt, an den Schlamm der Nich- Früchten der Lesekultur zu naschen. tigkeiten, in Ve- Da hockt beispielsweise eine dralle Haus- ronas dativisch frau Renate, 29, lebensfroh in einem Wasch- verwirrter Welt, becken und wartet darauf, daß der Klemp- in den ornitholo- ner endlich „kommt“ – „zum Becken-Bau- gischen Verirrun- en“. Die Hobby-Sopranistin Ilona, 24, hat Sex-Fotos in „Bild“: Groteske Ferkeleien gen des „Piep- die Arme unterm nackten Busen ver- Piep“-Sangesbru- schränkt und fiebert einem Dirigenten ent- tungen die neue deutsche Lichtgestalt kri- ders Guildo Horn gegen, der ihr „Nachhilfe mit seinem Takt- tisch beleuchtet – das „Zeit-Magazin“, der oder den Bezie- stock gibt“. Diese kärglichen Informatio- moralisch wachsame ARD-Kulturweltspie- hungskrisen des nen sind natürlich alle frei erfunden und gel und 3sat-Kulturzeit. Schlagerkomponi- überdies mit so viel sexistischem Gift ge- Der „Bild“-Dienst am Mann beginnt Model llona sten Bohlen, der spickt, daß es jeder aufrechten Frauenbe- mittags, dann wählt Chefredakteur Udo unheilbar an der auftragten hart in die Knochen fährt. Röbel, 48, höchstselbst die aktuelle „Mie- Naddel hängt. Gehört auf diese Geister- Aber, Mädels, festhalten und tapfer sein: ze“ aus, „lecker, frisch und proper, nicht bahn nun auch der steile Zahn von Seite 1? Diese frivolen Anspielungen stam- obszön“. Nachmittags schlägt dann die Bislang hat sich nur die brave ARD dem men nicht von einem sabbernden Stunde der versauten Publizistin, libertinen Zeitgeist entgegengestemmt – Sittenstrolch, sondern tatsäch- wenn sie den Models fabulierend säuerlich und ein bißchen bigott, wie es lich von einer Frau. Es ist ein auf den Zahn fühlt. Bei Damen, zuweilen öffentlich-rechtliche Art ist. Im Power-Weib, das noch dem fie- die „mit ihrer Oberweite hausie- Kulturweltspiegel wurden die Doktor- sesten Macho mühelos das ren gehen“ und die Mamma- Schnurren als „Freikörper-Literatur fürs Wasser reichen kann. Katja Region mit Silikon nachrüsten, neue Millennium“ rubriziert. Moderator Kessler heißt die freche Erotis- kommt sie satirisch in Hoch- Michael Schmid-Ospach präsentierte etli- sima, eine Doktorin der Zahn- form. Bisweilen hat die che Nacktfotos, äußerte dann aber erheb- medizin, die früh die Lust an „Meisterin der Miezen“ liche Bestürzung über die sittliche Ver- Bohrer und Zahnfraß verlor (ARD) ein schlechtes Ge- wahrlosung der Vollakademikerin. „Wen“, und „Bild“-Redakteurin wur- wissen, weil auch „ein ächzte er, „muß man mehr bedauern – die de. Mit ihren grotesken Fer- Spießerherz“ in ihrem schönen Mädchen oder die geköderten keleien ist die kesse Katja, 29, Thorax schlägt. Aber der Männer?“ inzwischen zur Bundes-Kult- Arbeitgeber Röbel ist ein Frau Katja, die muntere Rinnstein-Prin- figur geworden. leidenschaftlicher Vereh- zessin, findet die Aufregung um ihre Trieb- In Zeitschriften, Radio und rer ihrer bißfesten „Kurz- zeiler „putzig und belustigend“, bleibt aber Fernsehen werden emsig Romane“. Er bewundert erdverbunden und ist froh, einem Leben Kessler-Texte zitiert. Harald die „gewisse ästhetische mit dritten Zähnen entkommen zu sein. Schmidt schwört auf ihre Schlüpfrigkeit“ der eroti- „Mit Grauen“ erinnert sie sich an Studien- Pointen. In dieser Woche schen Tapisserien, die er tage, „als mir die Prothesen am Polier- ist sie Interviewgast bei furchtlos als „Kunstform“ Motor immer wieder um die Ohren ge- „stern TV“ und ZDF. Und anerkennt. flogen sind“. So gesehen ist die Kessler- gerade haben, in ihren A. BERGLING Kür in „Bild“ doch die kostengünstigste jüngsten Ausgaben, sogar Foto-Texterin Kessler Alternative für das deutsche Gesundheits- honorige Kultureinrich- Lust am Bohrer verloren wesen. Peter Stolle 98 Werbeseite

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Werbeseite III. Das Jahrhundert der Kriege: 1. Der Erste Weltkrieg (3/1999); 2. Der Zweite Weltkrieg (4/1999); 3. Der Wahn der Atomrüstung (5/1999); 4. Vietnam und der Kalte Krieg (6/1999); 5. Die Kriege um Israel (7/1999); 6. Geheimdienst und Spionage (8/1999) CAMERA PRESS CAMERA DER SPIEGEL AKG ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Hindenburg, Wilhelm II., Ludendorff (1917); deutsch-englischer Luftkampf (1917); deutsche Kriegsflotte (1916); deutsche MG-Abteilung (1914)

Das Jahrhundert der Kriege Der Erste Weltkrieg Er war die Urkatastrophe Europas zu Anfang des Jahrhunderts – der vierjährige blutige Konflikt, den die Franzosen und Engländer immer noch den „Großen Krieg“ nennen. In seinem Gefolge blühten Bolschewismus und Faschismus auf, wurde der Haß geschürt, der schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte.

der spiegel 3/1999 101 Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg

Das Geheimnis der Gräben Von John Keegan s ist nun 80 Jahre her, daß die Waffen Tod, wenn überhaupt, durch die Kugel lein mit „der Brust des Infanteristen“, wie an der Westfront schweigen. Einige eines Scharfschützen oder den Säbelhieb Winston Churchill es später nennen wür- Ewenige sehr alte Männer erinnern sich eines Reiters kommen würde. de, geführt wurden. Die Briten hatten die- noch an das Ende des Großen Krieges am Nicht anders sahen es deutsche und fran- selbe Lektion im Burenkrieg von 1899/1902 11. November 1918: an die plötzliche Ruhe, zösische Wehrpflichtige. Europas Armeen erfahren, als an den Ufern der Flüsse Mod- die Rückkehr des Vogelgesangs. In den waren 1914 noch voll von Kavalleristen – der und Tugela eingegrabene burische Hauptstädten der Sieger füllten sich die Husaren im quastenbesetzten Waffenrock, Bauern ohne große eigene Verluste Tom- Straßen mit jubelnden, fähnchenschwen- Ulanen mit quadratischer Kopfbedeckung, mys zu Hunderten niederschossen. kenden und tanzenden Menschen; hupen- Kürassiere hinter blitzenden Brustpanzern, Die Franzosen und die Deutschen, ob- de Automobile bahnten sich im Schrittem- an denen einst bei Waterloo noch die Mus- wohl ihre letzten kriegerischen Erfahrun- po ihren Weg durch die Menschenmassen. ketenkugeln abgeprallt waren. In der rus- gen bereits mehr als 40 Jahre zurücklagen, Auf dem Land in Frankreich und Bel- sischen Kavallerie dienten Kosaken, deren hatten ähnliche Erinnerungen an die gien boten sich den Überlebenden andere Kaftane und Krummsäbel der Aufmachung Durchschlagskraft des einzelnen Schützen. Szenen. Das alte Labyrinth der Schützen- von Dschingis-Khan und den Feinden ihrer Ob alte oder neue Erfahrungen: Die Ge- gräben hatten die alliierten Soldaten im Vorväter nachempfunden waren. neräle von 1914 hatten sich selbst erfolg- letzten Vormarsch auf Mons hinter sich ge- Vieles hätte die Führer dieser Männer reich eingeredet, daß auch schreckliche lassen. Dennoch zeigte das Schlachtfeld warnen können, daß ein moderner Krieg Menschenopfer kein Hinderungsgrund für auch mit seinen nur behelfsmäßigen Stel- mit jenen der Vergangenheit nichts mehr Erfolg seien. Der „Wille“ des Komman- lungen den bekannten Anblick des Welt- gemein haben würde. Die Russen hatten deurs und der Gehorsam seiner Unterge- krieges – die geknickten Wälder, den von 1904/05 im Krieg gegen die Japaner ge- benen gegenüber gegebenen Befehlen Schützengräben und Kraterfeldern aufge- lernt, daß Maschinengewehre und Stachel- reichte in ihrer Vorstellung aus, den Sieg zu wühlten Erdboden. draht Angriffe zunichte machten, die al- gewährleisten. Und behelfsmäßige Friedhöfe. Unter

Spiegel des 20. Jahrhunderts den letzten britischen Soldaten, die star- ben, war der Dichter Wilfred Owen, gefal- len am 4. November 1918, als er seine Män- ner über die Sambre führte. Hunderte fan- den noch in der letzten Woche mit ihm den Tod – bis ganz zuletzt kannte der Krieg keine Gnade. Es gibt einige wenige noch ältere Solda- ten, sämtlich Hundertjährige, die sich auch noch an die Welt vor dem Krieg erinnern können. In England waren es Berufssolda- ten – Gefreite mit einem Sold von einem Shilling pro Tag oder fuchsjagende Jung- offiziere. Sie hatten sich den Krieg als eine Sportveranstaltung vorgestellt, in der der

Von Sarajevo nach Versailles Politik und Diplomatie 1914 bis 1919 1914

28. Juni Die Ermordung des österreichischen DER SPIEGEL Thronfolgers Franz-Ferdinand in Sarajevo ver- Deutsche Soldaten auf dem Weg zur Westfront 1914 schärft österreichisch-serbische Spannungen 23. Juli Österreichisches Ultimatum an Serbien 1916 1917 28. Juli Österreich erklärt Serbien den Krieg 24. März Abspaltung einer linken SPD- 22. Januar US-Präsident Woodrow Wilson fordert einen Fraktion im Reichstag, die die weitere „Frieden ohne Sieg“ 30. Juli Russische Generalmobilmachung Finanzierung des Krieges ablehnt 12. März Sozialdemokratische „Februarrevolution“ in Petrograd 1. August Deutsche Kriegserklärung an Rußland 29. August Übernahme der Obersten 15. März Zar Nikolaus II. dankt ab 3. August Deutsche Kriegserklärung an Frank- Heeresleitung durch Hindenburg und 6. April Uneingeschränkter U-Boot-Krieg der Deutschen reich; deutsche Truppen dringen in das neutrale Ludendorff führt zu einer Art Militär- führt zur Kriegserklärung der USA an Deutschland Belgien ein diktatur Ludendorffs 7. November „Oktoberrevolution“ in Rußland; Lenin stürzt 4. August Bewilligung der Kriegskredite im 12. Dezember Friedensangebot der die bürgerliche Regierung Kerenski Reichstag mit den Stimmen der SPD; Mittelmächte, das die Alliierten am 15. Dezember Waffenstillstand zwischen Rußland und englische Kriegserklärung an Deutschland 30. Dezember ablehnen den Mittelmächten

102 der spiegel 3/1999 SÜDD. VERLAG Französische Soldaten in der Schlacht um Verdun (1916): 20000 Männer starben an einem einzigen Tag

Die jungen Soldaten – Berufssoldaten, genmarschierten. „Zurück, bevor die Blät- Arbeiter und Bauern, das Leben auf dem Wehrpflichtige, Reservisten, Reaktivierte –, ter fallen“, versprachen nun die jungen Land und in der Fabrik war arbeitsreich die im August 1914 die Züge in den Krieg Deutschen. und eintönig. Der Krieg brachte Abwechs- bestiegen, wußten nichts davon.Als sie von Die Soldaten aller Armeen fühlten 1914 lung, einen Hauch von Abenteuer, neue ihren Entladestationen an den Grenzen ab- die Sicherheit, unsterblich zu sein, und er- Freundschaften. maschierten, die genagelten Stiefel auf warteten eine schnelle Rückkehr, empfan- Uniform zu tragen machte auch Spaß – dem Kopfsteinpflaster hallend, erwarteten gen mit denselben Hochrufen und Küssen, besonders den Franzosen, die immer noch sie Blutvergießen, selbstverständlich, aber mit denen sie verabschiedet worden waren. im Blau und strahlenden Rot der napoleo- kurze und siegreiche Schlachten. Frauen und Freundinnen, hochhackig und nischen Epoche in den Kampf zogen; sogar „Jugend dünkt sich unsterblich / Wie die im Humpelrock, waren untergehakt mit ih- die düsteren deutschen und österreichi- Götter hehr“, so hatte Herman Melville nen zu den Bahnhöfen gegangen. Bald, so schen Uniformen wurden durch Farb- die jungen Unionssoldaten beklagt, die glaubten die Soldaten, würden sie sie wie- kleckse aufgehellt. Es gab Kapellen, denen dem Massaker von Ball’s Bluff zu Beginn der willkommen heißen. Der Krieg würde man hinterhermarschieren, und wohlklin- des amerikanischen Bürgerkriegs entge- Spaß machen. Die meisten Soldaten waren gende Regimentsnamen, auf die man stolz

1918 24.– 28. Oktober Die Verfassungsreform wird 10. November Wilhelm II. geht ins nieder- 8. Januar Die „Vierzehn Punkte“ des US- angenommen: Der Reichskanzler muß das Ver- ländische Exil trauen des Reichstages haben Präsidenten Wilson enthalten Forderungen für eine 11. November Waffenstillstand zwischen Deutsch- Nachkriegsordnung und den Vorschlag zur Grün- 26. Oktober Entlassung Ludendorffs, der später land und den Alliierten in Compiègne (Räumung der dung eines Völkerbundes gemeinsam mit den Nazis behauptet, die Novem- besetzten Westgebiete und des linken Rheinufers) 3. März Frieden von Brest-Litowsk zwischen Ruß- berrevolutionäre seien dem „im Felde land und den Mittelmächten; Verzicht Rußlands auf unbesiegten“ Heer in den Rücken ge- 1919 fallen („Dolchstoßlegende“) das Baltikum und Polen, Anerkennung der Unab- 28. Juni Friedensver- hängigkeit Finnlands und der Ukraine 28. Oktober Beginn von Meutereien trag von Versailles; 29. September Ludendorff und Hindenburg in der deutschen Hochseeflotte Deutschland tritt Elsaß- fordern angesichts der aussichtslosen Lage an Lothringen, Posen, West- der zusammenbrechenden Westfront sofortige 7.– 8. November Revolution in preußen und das Memel- Waffenstillstandsverhandlungen München; Regierung der Arbeiter-, gebiet ab, verzichtet auf Bauern- und Soldatenräte unter seine Kolonien, be- 3. Oktober Deutsches Waffenstillstandsgesuch dem Sozialisten Kurt Eisner schränkt sich auf ein auf Grundlage der „Vierzehn Punkte“ Wilsons; 100000-Mann-Heer, Zentrumspolitiker und Sozialdemokraten treten in 9. November Ausrufung der Republik erkennt Kriegsschuld an AP die Regierung des liberalen Reichskanzlers Prinz durch Philipp Scheidemann in München Wilson auf dem Weg nach Versailles und verpflichtet sich zu Max von Baden ein und Karl Liebknecht in Berlin Reparationen

der spiegel 3/1999 103 Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg POPPERFOTO Zar Nikolaus II. bei Soldatensegnung: Die Russen bedrohten Ostpreußens historische Zentren

sein konnte: „Hoch- und Deutschmeister“, Die Österreicher, deren Kriegserklärung „Chasseurs d’Afrique“, „Preobraschen- Erklärung der gegen Serbien die erste von allen war, be- ski“, „Guard Fusiliers“. Ihr Schlachten- anspruchten das Recht auf Genugtuung ruhm reichte manchmal bis ins 17. Jahr- Hochschullehrer des von einem Staat, der tief in die Ermor- hundert zurück. Deutschen Reiches dung des Thronfolgers Franz Ferdinand Zu der Anziehungskraft von Ruhm und am 28. Juni 1914 in Sarajevo verstrickt war. soldatischer Ehre kamen die Versicherun- vom Oktober 1914 Die Russen beriefen sich zur Rechtferti- gen der gekrönten Häupter, der Staats- Wir Lehrer an Deutschlands Uni- gung auf die österreichischen und deut- männer und Kleriker, daß das Recht auf versitäten und Hochschulen die- schen Mobilisierungsvorbereitungen. der eigenen Seite sei. Die Menschen, die nen der Wissenschaft und treiben Obwohl die Franzosen die Sorge der Spiegel des 20. Jahrhunderts sich bei der Kriegserklärung vor dem St. Briten um den Schutz Belgiens vor einer ein Werk des Friedens. Aber es er- Petersburger Winterpalast drängten, hiel- deutschen Invasion teilten, begründeten ten Ikonen in den Händen und sanken auf füllt uns mit Entrüstung, daß die sie ihre Kriegserklärung mit den offen- die Knie, um „Gott schütze den Zaren“ zu Feinde Deutschlands, England an kundigen Schritten der Deutschen zur Mo- singen, als ihr Herrscher erschien. der Spitze, angeblich zu unsern bilisierung. Die Deutschen wiederum er- In Berlin befahl der in Feldgrau gewan- Gunsten einen Gegensatz machen klärten in unheilvoller Selbstgerechtigkeit, dete Kaiser einer ähnlichen Menge: „Jetzt wollen zwischen dem Geiste der daß sie durch die militärischen Vorberei- geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott deutschen Wissenschaft und dem, tungen anderer bedroht seien, die sie ja und bittet ihn um Hilfe für unser braves was sie den preußischen Militaris- selbst provoziert hatten. Heer!“ Der Rabbiner der Synagoge in der mus nennen. In dem deutschen „Die Musen schweigen“, verkündeten Berliner Oranienburger Straße ließ für den Heere ist kein anderer Geist als in die Rektoren aller bayerischen Univer- Sieg beten. 12000 der 100000 für Deutsch- sitäten und riefen in einer gemeinsamen dem deutschen Volke, denn beide land in den Krieg gezogenen Juden, von Erklärung das gebildete Deutschland auf denen einer Adolf Hitler, einen Kriegs- sind eins, und wir gehören auch zu erkennen, daß der Krieg, den ihr Kai- freiwilligen im bayerischen Reserve-In- dazu. Unser Heer pflegt auch die ser vom Zaun gebrochen hatte, keine Ag- fanterie-Regiment 16, für das Eiserne Wissenschaft und dankt ihr nicht gression, sondern ein Abwehrkampf sei. Kreuz I. Klasse vorschlagen würde, sollten zum wenigsten seine Leistungen. Dies war nicht bloß Phrasendrescherei. im Krieg ihr Leben lassen. Der Dienst im Heere macht unse- Deutschland glaubte im August 1914 ehrlich In Paris waren die Kirchen überfüllt mit re Jugend tüchtig auch für alle Wer- an eine militärische Bedrohung durch sei- Reservisten, die vor dem Einrücken die ke des Friedens, auch für die Wis- ne Nachbarn, und seine Soldaten taten bei Beichte ablegen wollten. In London drück- senschaft. Denn er erzieht sie zu der Invasion Frankreichs und Belgiens so, ten die Massen gegen die Geländer vor selbstentsagender Pflichttreue und als ob ihr Land das angegriffene sei und dem Buckingham-Palast, um die königli- verleiht ihr das Selbstbewußtsein nicht umgekehrt. In Belgien verbreiteten che Familie auf dem Balkon zu bejubeln Vorauskommandos Plakate, die warnten, und das Ehrgefühl des wahrhaft und die dünne, in Khaki gekleidete Gestalt jede belgische Gegenwehr werde als Wi- des Prinzen von Wales an der Spitze einer freien Mannes, der sich willig dem derstand gegen die legitime Autorität der Kompanie Grenadier Guards aus dem Ganzen unterordnet. Dieser Geist Besatzungsmacht bestraft. Bald wurden Schloßhof abmarschieren und in Richtung lebt nicht nur in Preußen, sondern Belgier dutzendweise, gelegentlich zu Hun- Kontinent aufbrechen zu sehen. ist derselbe in allen Landen des derten, als Vergeltung für oft eingebildeten Die britische Regierung bestand auf Deutschen Reiches. Er ist der Widerstand gegen den deutschen Vor- ihrem Recht, Deutschland den Krieg zu gleiche in Krieg und Frieden … marsch erschossen. erklären, auf Grundlage einer strikten Aus- Unser Glaube ist, daß für die Im Osten, wo die russische Armee weit- legung eines von Großbritannien, Frank- ganze Kultur Europas das Heil an aus schneller mobilisiert worden war, als reich, Preußen, Österreich und Rußland dem Siege hängt, den der deutsche der deutsche Generalstab für möglich ge- unterzeichneten völkerrechtlichen Ver- halten hatte, wurde die deutsche Angst „Militarismus“ erkämpfen wird. trags von 1839, der die belgische Neutra- vor einer gegnerischen Offensive Wirk- lität garantierte. lichkeit. Dort hatten die Russen am 15.Au-

104 der spiegel 3/1999 gust die Grenze Ostpreußens überschrit- auf den Kontinent entsandt worden war, nender Sonne über die staubigen Straßen ten, des Stammlandes der deutschen Offi- nachdem die Londoner Regierung mit ei- Nordfrankreichs; 20, 30, manchmal 50 Ki- zierskaste. Ostpreußens historische Zen- niger Verspätung entschieden hatte, daß lometer. Hoffnung trieb die Deutschen vor- tren wurden nun durch die Armeen von der Einmarsch der Deutschen in Belgien an, Verzweiflung ihre Gegner. Samsonow und Rennenkampf bedroht. nicht nur einen Bruch des Völkerrechts, Als die Marne-Linie erreicht war, glaub- Die deutsche Blaupause für den Krieg, sondern auch eine Bedrohung nationaler te Joffre, hinsichtlich Position und Trup- der Schlieffen-Plan von 1905, benannt nach britischer Interessen darstellte. penstärke endlich im Vorteil zu sein, und dem ehemaligen Chef des Generalstabs, Nur die Ankunft des Expeditionskorps wagte den Gegenangriff. Nun waren die der 20 Jahre über der Perfektionierung und Joffres Erkenntnis in letzter Minu- Deutschen in Gefahr, umgangen und ein- dieses Szenarios gebrütet hatte, wies dem te, daß eine Umgruppierung zugunsten gekreist zu werden. Ihr rechter Flügel war östlichen Kriegsschauplatz zu schwach, um Paris von nur ein Achtel der deut- Westen her zu umfassen, schen Kräfte zu. Die ande- während die Pariser Gar- ren sieben Achtel hatte er Der Krieg Mittelmächte und nison stark genug war, für den Westen verplant, im Osten Petrograd von den Mittelmäch- den Deutschen eine Nie- vor allem für eine große, ten besetzte Gebiete derlage beizubringen, falls Rußland und von Ruß- weit ausholende Offensive land besetzte Gebiete die ihre Stoßrichtung än- durch Belgien, mit der die derten und die Stadt im Ostsee RUSSLAND Grenzen vor 1914 Nordflanke des französi- weitestes Vordringen Osten umgingen. Von schen Heeres umgangen der Russen 1914/15 vorn und an der rechten Waffenstillstands- und der entscheidende linie 1917 Flanke bedroht, hielten Sieg über Frankreich bin- DEUTSCHES Vorstoß deutscher die Deutschen an, stellten REICH Truppen 1918 nen sechs Wochen errun- Königsberg sich zum Kampf – und gen werden sollte. Vormarsch wurden geschlagen. In der letzten August- Danzig der Mittelmächte Die Marne-Schlacht Minsk der Russen woche 1914 schien dieser deutscher Sieg brachte eines dieser selte- Sieg fast in Reichweite. bei Tannenberg bedeutende nen Kriegsereignisse: ei- Schlachten Die französischen Militärs Brest-Litowsk nen entscheidenden Sieg. glaubten mehr als alle an- Warschau Der rettete Paris, rettete Brussilow- deren in Europa an die Breslau Offensive Kiew Frankreich, zerschlug die Macht der Offensive. Sie Weichsel Hoffnungen, die Deutsch- hatten deshalb Zehntau- russischer Sieg Dnjepr land in einen Blitzsieg ge- bei Lemberg sende von Soldaten gegen Sieg der Mittelmächte setzt hatte, und trieb die die deutschen Verteidi- bei Gorlice-Tarnow deutschen Truppen dort- gungsstellungen in Elsaß- Donau Budapest hin zurück, von wo sie ge- Lothringen geworfen, das Odessa kommen waren. sie 1870/71 an Deutschland ÖSTERREICH- Anfang September verloren hatten. Ihre an- UNGARN folgten sie ihren eigenen fänglichen Erfolge wurden Spuren zurück über Belgrad bald durch deutsche Ge- RUMÄNIEN ebenjenes Gelände, das genangriffe zunichte ge- Bukarest Schwarzes Meer 200 km die Briten und Franzosen macht und kosteten sie SERBIEN während des Großen Tausende von Toten. Rückzugs aufgegeben Weit weg in Belgien hatten. Die hegten nun nahm derweil der rechte die Hoffnung, daß bald Flügel der deutschen Invasoren eine Fe- Lanrezacs nötig sei, verhinderten die dro- wieder die belgische Grenze und damit stung nach der anderen ein und trieb die hende Einkesselung. Doch obwohl die Bri- das Ende des Krieges in Sicht sein werde. winzige belgische Armee mit ihrer an- ten und Franzosen an der Sambre und bei Die Generäle Wilson und Berthelot, hohe tiquierten Ausrüstung auf die Küste zu, sich Mons verbissen fochten, war die ihnen ge- britische und französische Stabsoffiziere, dabei um den linken Flügel der Franzosen genüberstehende Übermacht zu groß, als glaubten, in drei Wochen oder einem Mo- herumwindend. Deren Kommandeure er- daß sie sich hätten halten können. nat werde es soweit sein. kannten nicht die Gefahr, die auf den Sie wurden von Stellung zu Stellung Beide irrten sich um vier Jahre. Mitte Straßen nach Paris heraufzog. zurückgedrängt, bis Joffre erkannte, daß September gelang es den zurückflutenden Nur wenig stand den Deutschen im er seine Haupttruppen an der falschen Deutschen, sich in den Hügeln über der Wege. Der Befehlshaber der französischen Stelle eingesetzt hatte, und den allgemei- Aisne festzusetzen und dort mit dem 5. Armee, Lanrezac, hatte begonnen, um nen Rückzug anordnete, um eine halt- Ausbau von Stellungen zu beginnen. Bald Verstärkung zu bitten. Generalstabschef bare Verteidigungslinie im Hinterland auf- berichteten die Kommandeure aller fran- Joffre, sein Vorgesetzter, lehnte ab, größe- zubauen. zösischen Einheiten, daß Schützengräben re Truppenkontingente umzudirigieren. Der Große Rückzug zog sich vom 24. der Deutschen ihren Vormarsch aufhiel- Der einzig nennenswerte Versuch, die be- August bis zum 5. September 1914 hin und ten. Als der November kam und die erste drängten Verteidiger Belgiens zu entset- brachte die Front von der belgischen Gren- Ypern-Schlacht in einer gegenseitigen zen, kam in Gestalt eines kleinen briti- ze bis an die Ausläufer von Paris heran. Tag Blockade endete, lief eine durchgehende, schen Expeditionskorps, das Mitte August für Tag marschierten die Truppen in bren- 760 Kilometer lange Grabenfront von der „Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!“ Kaiser Wilhelm II. nach der Kriegserklärung in Berlin

der spiegel 3/1999 105 Werbeseite

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Werbeseite Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg

Nordsee bis zu den Ausläufern der Schwei- Millionen Männer sollten die Land- fach unter dem zerschundenen Antlitz des zer Berge. schaft des Grabenkriegs wie ihren eige- Schlachtfelds und wurden erst Jahre später, Schützengräben waren nichts Neues in nen Hinterhof kennenlernen – in der Nähe wenn überhaupt, gefunden. der Kriegführung. Während des amerika- die Skyline der Sandsäcke, der aus Erde Rund zehn Millionen Soldaten wurden nischen Bürgerkriegs hatte es lange Gra- aufgeworfenen Schanzen und Stachel- im Ersten Weltkrieg getötet. Zwei Millio- benfronten in Virginia gegeben, wie auch drahtsperren; das baumlose, nackte Kra- nen davon waren Deutsche, 1,7 Millionen im Krim-Krieg 1854/56 und im Russisch- terfeld in der Halbdistanz und die Draht- Franzosen, eine Million Briten – wenn man Türkischen Krieg von 1877/78, im Buren- verhaue und Stellungen des Gegners am Australier, Kanadier, Südafrikaner, Neu- Krieg 1899/02 und in der Mandschurei Horizont, der mitunter nur hundert Meter seeländer und Inder mitzählt. 1,5 Millionen während des Russisch-Ja- waren Untertanen Öster- panischen Krieges 1904/05. reich-Ungarns, etwa 1,7 Die Schützengräben der Millionen Russen, über „Westfront“, wie die Zei- Vormarsch der eine halbe Million Italie- Der Krieg NIEDERLANDE tungen sie zu nennen be- im Westen Deutschen ner. Dazu kamen unge- gannen, waren jedoch ein Alliierten zählte Türken. neues Phänomen, denn sie bedeutende Wo auch immer der verhinderten jede Bewe- Schlachten Krieg zuschlug, der Effekt gung über die Frontlinien war überall derselbe: pri- Ypern Brüssel Köln der einander gegenüber- Rhein vater Schmerz, öffentlich liegenden Armeen hinaus. BELGIEN demonstrierter Gleich- Eine ähnliche Front hat- mut. In Deutschland wur- te sich im Osten ent- Namur Koblenz den „Trauerzentren“ für wickelt, wo die Russen, Cambrai die Hinterbliebenen ein- nach ihren dramatischen LUXEMBURG gerichtet. Dies war eine Anfangserfolgen gegen Somme untypische Reaktion auf Deutsche und Österrei- Luxemburg Europas größten Aderlaß cher, ebenfalls gezwungen Sedan seit den großen Seuchen worden waren, sich einzu- DEUTSCHES des Mittelalters. Meist er- REICH graben. Im Mai 1915 sollte Reims trugen Eltern und Ehe- eine weitere Grabenfront Seine frauen den Verlust der ge- Verdun Metz in die felsigen Höhen Marne liebten Angehörigen mit des österreichisch-italieni- zusammengepreßten Lip- Paris Maas Straßburg Spiegel des 20. Jahrhunderts schen Grenzlandes gehau- pen. „Nieder auf deine en werden, nachdem Ita- Knie, Julia, und danke lien beschlossen hatte, daß Alliierte und von ihnen besetzte Gebiete Gott, daß du keinen Sohn seinem Drang, sich die ita- Deutsche und von ihnen besetzte Gebiete hast“, wies Rudyard Kip- lienischsprachigen Gebie- Grenzen vor 1914 FRANKREICH ling eine Freundin zu- weitestes Vordringen der Deutschen im te Österreich-Ungarns ein- September 1914 recht, nachdem er seinen zuverleiben, am besten einzigen Sohn John im Frontverlauf im Winter 1914 Belfort durch Kriegseintritt auf 50 km September 1915 in der seiten der Alliierten ge- Waffenstillstandslinie 11. Nov. 1918 Schlacht von Loos verlo- dient sei. ren hatte. Keiner der Kriegführen- Die Furcht vor dem Te- den hatte einen statischen legramm, dem „Schrek- Grabenkrieg gewollt. Doch nachdem ihre entfernt war, in manchen Abschnitten ken, der bei Tag kommt“, hielt die Mehr- Pläne für einen schnellen Sieg zerronnen noch weniger. heit der Familien Europas von August 1914 waren, fügten sich alle darein, den Kampf Über diesen wüsten Raum hinweg wur- bis November 1918 gefangen. fortzuführen: Frankreich, weil die Invaso- den die täglichen Aggressionen des Lebens Wenn wir heute, 80 Jahre nach dem ren noch auf seinem Boden standen, die im Schützengraben ausgetauscht – das Waffenstillstand, darüber nachdenken, wel- Russen aus ähnlichen Gründen; die Deut- Routinebombardement, das Sperrfeuer der chen Sinn der ganze Schmerz hatte, so sind schen, weil sie glaubten, daß im Westen wie Mörser, die dauernd über die Stellung hin- Antworten nur schwer zu finden. Ich fra- im Osten der große Sieg immer noch mög- wegfegenden Maschinengewehrgarben, das ge oft, wie viele Zuhörer nicht einen Vater, lich sei; die Österreicher, weil sie auf Ge- gezielte Feuer von Scharfschützen, die Großvater oder Urgroßvater im Ersten deih und Verderb an Deutschland gebunden periodisch wiederkehrenden Angriffe von Weltkrieg verloren haben, wenn ich Vor- waren; die Briten schließlich, weil Deutsch- Stoßtrupps in die gegnerischen Gräben, träge zu diesem Thema halte. Nur wenige land zum Todfeind geworden war. der blutige Nahkampf mit Messern und Hände heben sich dann. Es war Deutschlands Herausforderung Totschlägern und zweimal jährlich oder öf- Für die Menschen war der Krieg eine der britischen Vormachtstellung auf den ter großangelegte Offensiven, zu denen Grunderfahrung, und seine emotionalen Weltmeeren, die hinter dem britischen Hunderttausende von Männern antraten, Folgen wirken bis heute nach. Ich bin Entschluß stand, Frankreich zu Hilfe zu unterstützt durch Tausende von Kanonen, immer wieder erstaunt über das präzise kommen; Britannien würde seinen Ver- die millionenfach Granaten abfeuerten. Wissen der jungen Generation davon, bündeten nicht fallenlassen, bis das Deut- In ruhigen Zeiten tröpfelten die tägli- was ihre Vorväter durchmachten. „Mein sche Reich mitsamt seiner Hochseeflotte chen Verluste in der Größenordnung von Großonkel meldete sich freiwillig zu den besiegt wäre. Hunderten dahin. Während der großen Buffs und fiel in der Somme-Schlacht im So begann der verlustreiche Kampf von Schlachten jedoch – Verdun, Somme, Bru- Juli 1916“, erzählt mir da ein 20jähriger. Schützengraben zu Schützengraben über silows Offensive,Arras, Passchendaele, Ca- „Mein Großvater wurde im April 1917 das Niemandsland hinweg, der im Osten poretto – starben 10000 oder 20000 Män- bei Arras verwundet, aber er kam zurück. bis in den Herbst 1917 hinein dauern soll- ner an einem einzigen Tag; viele von ihnen, Er sprach niemals über den Krieg“, sagt te, im Westen noch ein Jahr länger. vielleicht die Mehrzahl, verschwanden ein- ein anderer.

108 der spiegel 3/1999 SÜDD. VERLAG Deutsche Marinesoldaten mit Gasmasken in Flandern (1916): Der Glaube an rasche Schlachterfolge war verflogen

Vielleicht liegt es an der Zurückhaltung und „Untermenschen“ geschürt wurde, hundert begonnen hatte. Alle waren, un- der Kriegsgeneration, über die furchtba- speiste den Konflikt. Die in den Krieg mar- geachtet ihrer nationalen Unterschiede, ren Geheimnisse der Gräben zu sprechen, schierenden Deutschen mögen ernsthaft Europäer. Aber innerhalb von vier Jahren daß ihre Nachkommen oft die Schlachtfel- geglaubt haben, daß das Überleben der warfen sie ihr Europäertum fort. der besuchen, als ob sie damit den Schlei- deutschen Zivilisation auf dem Spiel stehe. Ich bin dafür kritisiert worden, in meiner er durchstoßen wollten, der zwischen ih- Ihre österreichischen Vettern mögen Geschichte des Ersten Weltkriegs den Kon- nen und ihren Toten liegt. gleichermaßen um das Überleben ihres flikt als ein Rätsel beschrieben zu haben. „Zur Erinnerung an unseren Urgroßva- multi-ethnischen Reiches gefürchtet haben. Aber für mich, den Sohn und Schwieger- ter“, lautet ein Eintrag, den ich 1996 im Die Russen hörten auf den Zaren, der von sohn von Teilnehmern dieses Krieges, ist er Gästebuch eines Soldatenfriedhofs an der Gott und dem heiligen Rußland sprach. ein Mysterium und wird es immer bleiben. Somme fand, unterzeichnet von zwei Die Franzosen dachten an die eine und un- Alles andere als rätselhaft sind die Fol- Mädchen aus Nordirland mit unterschied- teilbare Republik, die Briten an den Gott gen des Ersten Weltkriegs. Seine unmittel- lichen Nachnamen. des Empire und dessen Schrein, an dem baren Produkte waren der russische Bol- „Im Gedenken an einen Vater, einen sie ihre Andacht verrichteten. schewismus und der italienische Faschis- Großvater und einen Urgroßvater“, stand Objektiv gab es wenig, das die gegenein- mus. Eine weniger unmittelbare, aber auf einer an einem Kranz befestigten Kar- ander kriegführenden Staaten voneinander gleichfalls direkte Folge war der Aufstieg te wenige Meilen weiter in Thiepval, dem unterschied. Alle akzeptierten mehr oder des Nationalsozialismus in Deutschland. Mahnmal für die Vermißten der Somme. weniger den Glauben an die Werte des Der Erreger solcher Bewegungen hatte Die Familie hatte eine Fotografie an die Liberalismus und des materiellen Fort- 70 Jahre oder noch länger unter der Blumen geheftet. Ein ernstes, junges Ge- schritts, die bewegenden Kräfte des 19. Oberfläche des gutmeinenden europäi- sicht in Sepia, über einem neuen, khaki- Jahrhunderts. schen Liberalismus gebrütet, seit der Pro- farbenen Kragen, blickte den Besucher an. Alle waren mit Blick auf die Zukunft klamation von Marx’ „Kommunistischem Die Augen bewahrten eine Unschuld, die mehr oder weniger stark vom Geist des Manifest“ im Jahr 1848, Nietzsches „Jen- keine Geheimnisse barg. Optimismus erfaßt, in dem das 20. Jahr- seits von Gut und Böse“ von 1886 und von Was war das Geheimnis Garibaldis Schluß-Kampagne des Großen Krieges? Welch zur Vereinigung Italiens 1860. schrecklicher Impuls trieb die Ihre Ideen – vom Recht jungen Männer sechs zivili- auf Herrschaft des Proleta- sierter europäischer Staaten riats, von der Überlegenheit auf dem Höhepunkt der Macht des „Übermenschen“ und des alten Kontinents, vielleicht vom Nationalismus als ei- auch auf dem Höhepunkt sei- nem Wert an sich – waren, ner kulturellen Blüte, dazu, in obwohl unterschiedlich und das furchtbare Labyrinth der widersprüchlich, im Zeital- Schützengräben hinabzustei- ter der globalen Dominanz gen und gegenseitig Blut in Europas durch die Kraft der Strömen zu vergießen, bis Er- liberalen Idee, daß Politik schöpfung ein Ende brachte? mit dem Verstand zu machen Kein ideologisches Prinzip und Konflikte durch Diskurs stand auf dem Spiel, wie es und Kompromiß zu lösen 1939 der Fall war. Kein Ras- seien, in Schach gehalten

senhaß, wie er von den Nazis AKG worden. Der Kompromiß zwischen einer „Herrenrasse“ Propaganda-Bildpostkarte (1914): Furcht vor dem Telegramm aber war diesen drei Ideolo-

der spiegel 3/1999 109 Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg

führt hatte. Das Regime, das er errichtete, verwarf die liberalen Ideale und befriedigte statt dessen die nationalen Gefühle der Ita- liener. Sein Erfolg ermutigte unzufriedene Nationali- sten in anderen Ländern, ihrerseits faschistische Prin- zipien zu übernehmen. In einer Entwicklung parallel zu jener, die linke Verfech- ter der Weltrevolution in Europa umgarnte, brachte der italienische Faschismus überall dort Nacheiferer hervor, wo Verbitterung über das Ergebnis von 1918 herrschte. Am größten war diese Verbitterung in Deutsch- land. Wir haben heute ver- gessen, daß Hitler Mussoli-

AKG ni bewunderte. Schon zu Schlachtfeld in Flandern (1917): Viele verschwanden einfach unter der Erde Beginn seines Aufstiegs zur Macht wählte er sich Mus- gien verhaßt. Es sollte eine der Tragödien unmittelbare Kontrolle der Regierung solini als Vorbild und hielt dem italieni- des Ersten Weltkriegs sein, daß er ihren durch die Bevölkerung gegründet war, soll- schen Diktator bis zum Ende die Treue. Vertretern eine Chance verschaffte. te die europäische Politik mehr als 60 Jah- Hitler teilte Mussolinis Haß auf das System Daß der Bolschewismus eine direkte Fol- re lang verzerren. Wie die Intellektuellen von Versailles. Er kopierte Mussolinis Über- ge des Kriegsausgangs war, läßt sich nicht und Schöngeister ihr Vertrauen bis 1914 in höhung der Staatsmacht zur zentralen Idee

Spiegel des 20. Jahrhunderts bestreiten. Sein Aufstieg erfolgte unmittel- den Liberalismus gesetzt hatten, wandte nationaler Politik und ging wie er daran, bar nach Rußlands Zusammenbruch im sich nach 1918 ein erschreckend großer Teil den Versailler Vertrag mit militärischen Mit- Krieg. Es wurde zum bolschewistischen dem Leninismus und schließlich dem Sta- teln zu revidieren, sobald sich ihm die Ge- Mythos, daß die Revolution von 1917 von linismus zu. legenheit dazu bot. den revolutionären Massen in den Straßen Wir können den Zusammenbruch des Mussolini brach das im Vertrag von Ver- Petrograds errungen worden sei. Das Ge- sowjetischen Imperialismus in Ost- und sailles festgeschriebene Recht auf nationa- genteil ist richtig: Wie in Paris 1789 war die Mitteleuropa im Jahr 1989 als die endgül- le Selbstbestimmung durch einen Erobe- Revolution Folge eines Seitenwechsels der tige Aufhebung der Ergebnisse des Ersten rungsfeldzug an der Peripherie Europas, in in der Stadt stationierten Truppen. Weltkriegs betrachten. In der Zwischenzeit Äthiopien. Hitler hatte Größeres vor – Ludwig XVI. war verloren, als die hatte der Kontinent die andere Form der nichts weniger als eine komplette Revision Gardes françaises sich weigerten, die Tui- totalitären Zurückweisung des Liberalis- der in Versailles beschlossenen politischen lerien und die Bastille als Zentren der ab- mus erlebt, die durch den Ersten Weltkrieg Neuordnung Europas. In einer Rede am 18. solutistischen Macht zu verteidigen. Eben- heraufbeschworen worden war. September 1922, als er noch nur einer von so zerfiel im März 1917 in Petrograd die Zunächst war da der italienische Faschis- zahllosen kleinen Agitatoren in der Wei- Macht des Zaren Nikolaus II., als die Re- mus. Dessen plötzlicher Aufstieg 1922 war marer Republik war, drohte er: „Es kann serve-Einheiten der zaristischen Garde sich im wesentlichen ein Protest gegen das Ver- nicht sein, daß zwei Millionen Deutsche auf die Seite der selbsternannten Arbeiter- sagen Frankreichs und Englands, Italien umsonst gefallen sind … Nein, wir verzei- und Bauernräte schlugen. angemessen für die Opfer zu entlohnen, hen nicht, sondern fordern Vergeltung!“ Lenin konnte sich im November nicht in die dessen Soldaten im Namen der alliier- Es sollte noch elf Jahre dauern, bis Hit- ein für ihn bereits gemachtes Nest setzen. ten Sache zwischen 1915 und 1918 gebracht ler in die Position kam, jene Kräfte zu or- Er riskierte Kopf und Kragen und mußte hatten. Italien, das 600000 Tote in seinem ganisieren, die es Deutschland ermöglichen um Unterstützung des militärischen Pöbels Krieg gegen Österreich-Ungarn zu bekla- sollten, Rache zu nehmen. Sobald er die betteln. Es war sein großes Glück, daß er gen hatte und dessen militärische Erfolge Kanzlerschaft erreicht hatte, verfolgte er genügend Soldaten fand, die seinem Kom- bis heute ungerechtfertigterweise kleinge- dieses Ziel rücksichtslos. mando zu folgen bereit waren. redet werden, hatte eine größere territo- Hitler war ein Veteran des Graben- Es ist unnötig, weiter auf die negativen riale Kompensation erwartet, als ihm im kampfes, ein Überlebender des „Kinder- Einflüsse des Sieges des Marxismus in Ruß- Vertrag von Versailles zugesprochen wur- mordes“ von Ypern 1914*, ein zweimal ver- land einzugehen, der durch Rußlands Nie- de. Mussolini, ein früherer Sozialist, nutz- derlage im Ersten Weltkrieg herbeigeführt te diese Unzufriedenheit für eine nationa- * Bei den Kämpfen fielen Tausende deutsche Kriegs- wurde. Das Bild einer Gesellschaft, die listische Kampagne gegen die politische freiwillige, die von der Schulbank ins Feld gezogen angeblich auf ökonomische Gleichheit und Führung, die das Land in den Krieg ge- waren. „Es kann nicht sein, daß zwei Millionen Deutsche umsonst gefallen sind… Nein, wir verzeihen nicht, sondern fordern Vergeltung!“ Adolf Hitler 1922

110 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite wundeter Meldegänger. Er war ein tapferer lins Handlangern betrieben wurden. Diese Soldat, der mit dem Eisernen Kreuz I. Klas- Handlanger waren vielfach Leute, die ihr se ausgezeichnet wurde. Handwerk im Horror der Schlachthäuser Hitler kannte das Geheimnis der Grä- von Verdun und der Somme gelernt hatten. ben, war aber dennoch bereit, das Leben Die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs einer neuen Generation von Frontkämp- waren in vielerlei aufschlußreichen Äußer- fern zu opfern, in einer Neuauflage dessen, lichkeiten Modelle für die Todeslager: Men- was seine eigene Generation hatte erlei- schen, von Stacheldraht umzäunt, perma- den müssen. In rascher Folge führte er die nent vom Tode durch Maschinengewehr- Wehrpflicht wieder ein, baute eine Luft- feuer bedroht, oftmals Ausrottungsversu- waffe und U-Boot-Flotte auf, schuf eine chen durch Gas ausgesetzt und in ihrer Panzertruppe – jene Waffe, die das Heer grauen, häftlingsartigen Kleidung allein des Kaisers 1918 geschlagen hatte – und durch um den Hals getragene Nummern machte Deutschland binnen vier Jahren unterscheidbar. vom gedemütigten Opfer des Vertrages von Ernährt mit Gefängnisessen, geplagt von Versailles zu Europas größter Militärmacht. Gefängnisläusen, einer Gefängnisdisziplin „Niemals wieder“, sagen wir, wenn wir unterworfen, trieb die Soldaten, nachdem darüber nachdenken, was der Erste Welt- der erste rauschhafte Glaube an rasche und krieg unserer Welt brachte. Stimmt es, daß glorreiche Schlachterfolge verflogen war, der Kriegsausbruch von 1914 die zivilisier- nur die Aussicht an, daß der Sieg sie aus te Welt für immer und zum Schlechten ver- dem Grabendasein erlösen werde. „Der ändert hat? In gewisser Weise ja. Sieg macht frei“, „Arbeit macht frei“: Es Das Europa von 1914 war eine unvoll- gibt wenig objektive Unterschiede. kommen entwickelte Zivilisation. Seine Es ist ein Zeugnis für das der menschli- Gesellschaften waren durch enorme so- chen Natur eigene Maß an Anständigkeit, ziale Ungleichheiten gezeichnet, seine daß die Mehrzahl derjenigen, die nach den politischen Systeme variierten stark hin- vier Jahren des Horrors in ein bürgerliches sichtlich ihrer Bindung an die Ideale der Leben zurückkehrten, ihre Rollen als Demokratie und des Respekts vor indivi- Ehemänner und Väter, als Nachbarn und dueller Freiheit. Unter den Europäern wa- Arbeitskollegen wieder annahmen und ren viele, die ungerechtfertigt arm, poli- versuchten, das, was sie über die Abgrün- tisch mißachtet und unfrei waren. Den- de menschlichen Verhaltens gelernt hat- noch war Europa ein Kontinent, der bes- ten, hinter sich zu lassen. seren Zuständen entgegensehen konnte, Doch die Erinnerung läßt sich nicht aus- der politisch, sozial und vor allem wirt- radieren. Freud mag einer der großen Il- schaftlich von Optimismus er- füllt war. Dieser Optimismus wurde von der Tragödie des Ersten Weltkriegs katastrophal getrof- fen. Am Ende war die frühere Gleichberechtigung unter den Staaten aufgelöst, indem einige zu höherwertigen, andere zu minderwertigen Staaten wurden – mit verheerenden Wirkungen für das nationale Selbstbewußt- sein und Selbstvertrauen. Der Krieg zerstörte ein ge- meinsames, im wesentlichen auf liberalen Vorstellungen beruhen-

des politisches Ordnungssystem. SÜDD. VERLAG Er warf Europas gemeinsame, Friedensschluß in Versailles 1919: Neuordnung Europas vom Respekt für Verstandeslei- stungen geprägte Kultur in ein verwirrendes lusionisten der europäischen Geistesge- Chaos, in dem die Vorstellung einer objek- schichte gewesen sein. Einige seiner Ein- tiven Wahrheit im Toben widersprüchlicher sichten haben jedoch den Rang allgemeiner Ideologien unterging. Vor allem aber zer- Wahrheit, und eine davon ist, daß nichts störte der Krieg den Respekt vor der Un- jemals vergessen wird. antastbarkeit des menschlichen Lebens. Das Grauen der Schlächterei und die Die Millionen, die in den Gräben star- Bereitschaft von Menschen, auf Befehl und ben, deren Körper wie Klafterholz in Mas- ohne Rücksicht zu töten, wurde zwischen sengräbern aufgeschichtet oder von den 1914 und 1918 Teil des kollektiven und in- mahlenden Rädern der industriellen Krieg- dividuellen Bewußtseins der Europäer. führung spurlos ausgelöscht wurden, sind, Den meisten Grabenkämpfern gelang es, daran glaube ich fest, die Vorgänger derje- sich das Erlebte als eine einmalige Abwei- nigen, die in die Mühlen der rassistischen chung zu erklären, die außerhalb der und ideologischen Ausrottungspolitik ge- Kriegsarena nicht wiederholt und niemals raten sollten, wie sie von Hitlers und Sta- als normal hingenommen werden dürfe.

112 der spiegel 3/1999 Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg

sind, und selbst die Briten beginnen, einen lange verleugneten kollektiven Schmerz zuzugeben. Damit stellen sie sich wie das übrige Europa dem Leid, das kollektive Unmenschlichkeit in diesem schrecklichen Jahrhundert dem Kontinent angetan hat. Doch die Verletzungen sind da. Europa bleibt eine beschädigte Gesellschaft, immer noch blutend aus den Wunden, die ihr seit dem Spätsommer 1914 vier lange Jahre auf den Feldern Flanderns und in den Wäldern Masurens geschlagen wurden. Wie lange wird es noch dauern, bis sie heilen? Mit wel- chen Mitteln werden sie sich heilen lassen? Vergessen ist heilsam. Doch für dieses Trauma ist es die falsche Medizin. Europa muß sich erinnern. Es muß sich erinnern an die Millionen Toten, die in den Gräben star- ben, und an das Leid, das die Nachricht von ihrem Tod in die Familien trug. Es muß sich erinnern an die Reaktion auf den zwei- ten Ruf zu den Waffen 1939, als derselbe il- lusorische Glaube an einen raschen Sieg herrschte, der die Armeen an der Marne und bei Tannenberg angetrieben hatte. Europa muß sich erinnern, daß die Or- ganisation von Massentötungen aus ideo- logischen Motiven unter Hitler und Stalin ihren Ursprung im massenhaften Ab- BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK BAYERISCHE TASS schlachten von oft hilflosen jungen Solda- Kriegsteilnehmer Hitler, Revolutionär Lenin*: Totalitäre Zurückweisung des Liberalismus ten in der Mondlandschaft der Schlacht- felder mit ihren Schützengräben hatte. Es

Das taten nicht alle. Unter solchen Indi- wurden. Solche Gräber zeigen kein indivi- muß sich daran erinnern, daß der Krieg in- Spiegel des 20. Jahrhunderts viduen und unter denen, die in ihren Ein- duelles Gedenken mehr, ja kaum noch ir- ternationale Konflikte nicht löst, sondern flußbereich gerieten, rekrutierten Himmler gendeinen äußeren Hinweis auf das, was im Gegenteil anheizt und den Haß, aus und seine russischen Entsprechungen ihre unter der Erdoberfläche liegt. dem er sich speist, perpetuiert. Mörder. Einige dieser Mörder bezahlten Die Orte der größten Schlächtereien Hit- „Der Krieg ist die Fortsetzung der Poli- später dafür. Aber die Folgen der kollekti- lers, Stalins und ihrer Nachahmer wurden tik mit anderen Mitteln“, sagte Clausewitz, ven Verseuchung des menschlichen Ge- absichtsvoll unter die Erde gepflügt, so daß als ob dies dessen Rechtfertigung sei. Krieg dächtnisses durch den Ersten Weltkrieg im Wortsinne Staub zu Staub kam – als ob ist in Wahrheit die Preisgabe aller sinnvol- ließen sich nicht so einfach ausmerzen. Sie es keinen menschlichen Lebenslauf, keine len Politik, und die Erinnerung an die begleiten uns bis heute. Freude, keine Hoffnung, nicht Liebe des Schrecken des Krieges muß im dritten Mil- Europa ist übersät mit den Gräberfel- Mannes für seine Frau, der Eltern für ihr lennium eine neue Politik hervorbringen. dern jenes Krieges; geweihte Orte, durch Kind zwischen Geburt und anonymem Ver- Gärten verschönt, wo jedem der Gefal- schwinden im Nichts gegeben habe. lenen durch einen eigenen Grabstein ge- Das „Nichts“ verkörpert das Ethos des Der Autor dacht und die Erinnerung an alle durch Ersten Weltkriegs. Wer kann sich heute John Keegan, 64, gilt tröstende Grabinschriften wachgehalten daran erinnern, warum der Krieg aus- als „einer der hervor- wird. Dennoch stehen sie für die Ak- brach? Wer kann sagen, wie er durchge- ragendsten Militär- zeptanz von Massentötungen, wenngleich halten, wie das Leid ertragen, der Schmerz historiker des Jahr- verklärt und, wie einige sagen, keimfrei. verdrängt wurde? Die „Trauerzentren“ der hunderts“ („Time“). Sie nehmen die Massengräber jener Deutschen waren eine seltsam moderne Der langjährige Do-

Menschen vorweg, die nicht im Kampf Reaktion auf die Tragödie des Krieges, GILBERT J. zent an der briti- getötet wurden, sondern als Wehrlose zu der Kultur Kaliforniens im ausgehenden schen Militärakade- Feinden dieses oder jenes Regimes erklärt 20. Jahrhundert näher als der strengen mie Sandhurst schrieb 20 Bücher, Selbstverleugnung des Kaiserreiches. darunter das preisgekrönte Werk „A * Links: mit Kriegskamerad im Feld 1916; rechts: in Mos- Es scheint, als ob nach 80 Jahren die History of Warfare“ (1993). kau vor dem Marx-Engels-Denkmal bei einer Rede 1919. Türen der verdrängten Erinnerung geöffnet

LITERATUR Holger Herwig: „The First World War: Arnold Zweig: „Erziehung vor Verdun“. Aufbau Frank Betker, Almut Kriele (Hrsg.): „Pro Fide and Austria 1914–1918“. Arnold, London 1997; Verlag, Berlin 1996; 537 Seiten – Teil des Welt- et Patria! Die Kriegstagebücher von Ludwig 490 Seiten – Schilderung von Arroganz und In- kriegs-Romanzyklus „Der große Krieg der Berg 1914/1918“. Böhlau Verlag, Köln/Wien 1998; kompetenz der Militärführer der Mittelmächte. weißen Männer“. 976 Seiten – Notizen des katholischen Feldgeist- Gerhard Hirschfeld u. a. (Hrsg.): „Kriegserfahrun- Wolfgang Michalka (Hrsg.): „Der Erste Welt- lichen im Großen Hauptquartier. gen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte krieg“. Piper, München/Zürich 1994; 1062 Seiten Fritz Fischer: „Griff nach der Weltmacht. Die des Ersten Weltkriegs“. Klartext Verlag, Essen – Aufsatzsammlung, die eine Bilanz der Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1997; 456 Seiten – Informativer Sammelband. Forschung der vergangenen Jahrzehnte zieht. 1914/18“. Droste Verlag, Düsseldorf 1994; 575 Sei- John Keegan: „The First World War“. Hutchinson, Barbara Tuchman: „August 1914“. Fischer Verlag, ten – Hiermit löste Fischer 1961 die erste gro- London 1998; 500 Seiten – Glänzend geschriebe- Frankfurt am Main 1996; 544 Seiten – Eine ße Historikerkontroverse nach dem Krieg aus. ne Gesamtdarstellung. packende Darstellung des Kriegsausbruchs.

der spiegel 3/1999 113 Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg

STANDPUNKT Der „Sprung ins Dunkle“ Von Rudolf Augstein ohn Keegan, 64, gilt als der britische schreiber Lloyd George erinnert. Nur, auferlegte. Tatsächlich hielt die k. u. k. Kriegshistoriker schlechthin. In sei- warum gerade 1914 und nicht 1915 oder Monarchie bis zum Juni 1918 stand. Jnem Beitrag für den SPIEGEL be- 1916? Der 55jährige Kaiser Wilhelm II. war schäftigt er sich nicht mit der Frage, wie Das Attentat auf den Thronfolger der weniger kriegslustig als sein 84jähriger es zum „Großen Krieg“ kommen konnte Donaumonarchie Franz Ferdinand und Kollege in Wien. Franz Joseph hatte schon – sei es, daß er sie für entschieden, sei es, seine Frau schien den zwei Großmäch- 1913 wegen eines Zwischenfalls bei Du- daß er sie für unerheblich hält. Keegan ten Deutschland und Österreich-Ungarn razzo losschlagen wollen.Wilhelm wurde sieht hier schlicht ein „Mysterium“. Al- eine günstige Gelegenheit zum Präventiv- Opfer seiner eigenen Militär-Schwadro- lerdings tritt er auch mit provokanten krieg zu bieten. Man rechnete nicht nur niererei. Man hatte ihn auf seine übliche Thesen hervor. in diesen beiden Reichen mit einem kur- Nordlandreise geschickt und ihm emp- Es sind nicht die Leichenberge, es ist zen, erfrischenden Krieg. fohlen, sich aus norwegischen Zeitungen nicht die „industrialisierte Tötung“ im Es war klar, daß Kaiser Franz Joseph über den Lauf der Dinge zu unterrichten. Ersten Weltkrieg, die Hitler, Himmler und ohne seinen Berliner Verbündeten nichts Man wollte in Berlin möglichst lange freie Heydrich für die Massentötung Millionen Wirksames ausrichten konnte. Auch in Hand haben. jüdischer Kinder, Frauen und Greise kon- den anderen Hauptstädten dachte man, Freie Hand wozu? Der österreichische ditioniert haben. Man mag den Holocaust daß die Serben einen Denkzettel verdient Plan, entworfen vom k. u. k. Außenmini- auch schon auf den Ersten Weltkrieg hätten. Aber ganz Serbien mit einem ster Graf Berchtold, sah vor, Serbien als anwenden; aber der unterschiedslose Krieg zu überziehen, das mußte die tra- den eigentlichen Urheber des Attentats Massenmord aus rassenideologischen und ditionelle Schutzmacht Rußland auf den festzunageln und ihm eine ultimative ethnischen Gründen kann nicht verglichen Plan rufen. Dies war eine Situation, wie Note zu übergeben, die ein selbständi- werden mit Kriegshandlungen. Die Lo- Lloyd George nachträglich kundtat, die in ger Staat nicht annehmen konnte. Als

Spiegel des 20. Jahrhunderts sung 1914 bis 1918 „Der Sieg macht frei“ Berlin eines Bismarck und in London ei- solchen wollte man es durch Krieg aus- hat nichts zu tun mit der höhnischen nes Palmerston oder eines Disraeli be- löschen. Auschwitz-Inschrift „Arbeit macht frei“. durft hätte. In Berlin verlangte man den Text Dem Historiker obliegt es, ohne Aber woher nehmen? Den schwan- der Note gar nicht erst zu sehen. Als der „Kriegsschuldlüge“ den Ablauf der Er- kenden deutschen Kaiser Wilhelm II. k. u. k. Finanzminister Ritter von Bili´nski eignisse nachzuzeichnen und dar- seinem hohen Herrn von den lee- zulegen, wie es zur Entfesselung ren Kassen der Doppelmonarchie des ersten großen Massenschlach- berichten wollte, fand er wenig tens kam. In Deutschland zitiert Aufmerksamkeit. Der Kaiser las man gern David Lloyd George, das Ultimatum an Serbien und sag- der 1933 in seinen Kriegsmemoi- te, befriedigt nickend: „Diese Note ren schrieb: „Die Nationen schlit- wird Rußland niemals akzeptieren terten über den Rand, hinein in können.“ den brodelnden Hexenkessel des Wenn schon in Berlin kein Bis- Krieges ohne eine Spur von Ver- marck war, der dem Bedenkenträ- ständnis oder Bestürzung.“ ger Wilhelm hätte beispringen kön- So hat allerdings der Schatz- nen, wer leitete dann die britische kanzler des Kriegskabinetts 1914, Außenpolitik? Seit Herbert Henry Lloyd George, nicht gedacht; Asquith 1908 Premierminister ge- auch nicht als Premier seit 1916 worden war, überließ er die und ebensowenig als britischer Außenpolitik sehr weitgehend Verhandlungsführer in Versailles. Außenminister Sir Edward Grey, SÜDD. VERLAG Statt dessen gab er die gefährli- BILDERDIENST ULLSTEIN der wegen seiner schlechten Au- che, wenn auch schwachsinnige Kontrahenten Bethmann Hollweg (1914), Grey (1912) gen das Tennisspiel hatte aufgeben Parole aus: „Hang the Kaiser!“ müssen. Da das Reich für den Krieg allein ver- stützte sein Reichskanzler Theobald von Grey hatte 1912 die britische Politik be- antwortlich sei, sollten auf der Grundla- Bethmann Hollweg („Ein Sprung ins denklich präjudiziert: Die Franzosen soll- ge des Diktatfriedens von Versailles auch Dunkle“), der seinerseits von der Hee- ten ihre Flotte im Mittelmeer konzen- die deutschen Heerführer, zum Beispiel resleitung getrieben und geschoben wur- trieren, dafür wollte die Grand Fleet den Hindenburg und Ludendorff, ebenso der de. Der Reiz des Unternehmens lag für Schutz der Kanalküste übernehmen. Die Generalstabschef und Erfinder der Blut- die deutsche Reichsleitung in dem Um- formale Neutralität Englands wurde da- mühle von Verdun, Erich von Falkenhayn, stand, daß es über einer Wien betreffen- durch nicht verletzt, aber eben nur formal ausgeliefert werden. den Frage zum Krieg kommen würde, nicht. Er wußte, daß sich wegen des Tir- Krieg allerdings, soviel war richtig, lag was dem schwächeren Verbündeten zu- pitzschen Flottenbaus in seinem Land in der Luft, wie sich der Memoiren- sätzlich eine Ehrenpflicht zum Ausharren eine antideutsche Stimmung zusammen-

114 der spiegel 3/1999 braute. Als seine Regierung Wollte Moltke den Krieg? von dem Mord in Sarajevo er- Ja, schon 1913. Angesichts fuhr, dachte wohl kein Kabi- der französischen Anleihen nettsmitglied an Krieg. Man für das zaristische Rußland war intensiv mit den Unru- fürchtete er, dessen Schie- hen in Nordirland beschäftigt. nennetz würde 1917 zu gut Was hätte damals ein Pal- ausgebaut sein. Schließlich merston oder ein Disraeli tun war sein berühmter Onkel als können? Auch wenn man, mit „Eisenbahn-General“ in die Lloyd George, Sir Edward Geschichte eingegangen. Grey für einen Leichtmatro- Es gab im Generalstab sen hielt, muß man doch ehr- skandalöserweise auch gar licherweise sagen: gar nichts. keine Überlegungen für einen Jeder der beiden Heroen Krieg nur gegen Rußland. hätte eine Botschafterkonfe- Als einzige Zauberdoktrin renz vorschlagen können und hatte man den Plan des zusätzlich vielleicht, daß früheren Generalstabschefs Österreich Belgrad zeitweilig Alfred Graf von Schlieffen, als Faustpfand besetzen solle der, um eine schnelle Nieder- – was sogar Wilhelm erwog, werfung Frankreichs zu er-

wenngleich zu spät. AKG reichen, den Durchmarsch Als das britische Kabinett „Der Krieg“, Gemälde von Otto Dix* durch das neutrale Belgien sich am 24. Juli 1914 mit der für zwingend erachtete (kurz Krise befaßte, waren die Würfel bereits fragt, ob die Deutschen im Falle eines vor seinem Tode auch den durch gefallen. Der Mord geschah am 28. Juni. Neutralitätsversprechens der Franzosen Holland). Am 5. Juli überreichte Wiens Botschafter in einem russisch-deutschen Krieg darauf Grey mag von diesem Plan etwas in Berlin dem Kaiser die mit zittriger verzichten würden, Frankreich anzugrei- gehört haben, denn sein fintenreiches An- Hand geschriebene Bitte Franz Josephs, fen; er, Lichnowsky, habe dies bejaht. gebot der Zurückhaltung diente dem ihm jetzt beizustehen. Wenige Stunden Der Kaiser sah nun alles rosarot. Er wi- Zweck, die Kriegsgegner in den eigenen später konnte er Wilhelms Zustimmung derrief eigenmächtig den Marschbefehl Reihen und im Unterhaus umzustimmen. nach Wien melden. für die 16. Division, die in Luxemburg In einem Vertrag von 1839 war die im- So waren denn auch Greys Bemühun- einfallen sollte. Ein Adjutant mußte Molt- merwährende Neutralität Belgiens von gen mehr darauf gerichtet, das aus Libe- ke zum Neuen Palais in zurück- den Mächten garantiert worden. Zweifel- ralen bestehende Kabinett Asquith zu- bringen. Der verblüffte Generalstabschef los hielt Grey dies Vertragswerk für eben- sammenzuhalten, als sich konstruktive, hörte aus kaiserlichem Mund: „Jetzt kön- so wertvoll wie Bethmann Hollweg, der aber wohl vergebliche Konferenz-Vor- nen wir gegen Rußland allein in den Krieg dem britischen Botschafter dummerwei- schläge auszudenken. ziehen.Wir schicken einfach unsere ganze se sagte, das sei doch nur ein „Fetzen Da die Mittelmächte – nach Truppen- Armee in den Osten.“ Papier“, „a scrap of paper“. Überzeu- stärke unterlegen – den Krieg wollten, Angesichts der naiven Unkenntnis sei- gender war in London das Argument, rollten die Vorbereitungen auch in Ruß- nes obersten Kriegsherrn war Moltke man dürfe den Deutschen die belgisch- land und Frankreich an. Allerdings ge- „zerschmettert“. Drastisch machte er Wil- französische Kanalküste nicht überlassen. stand der Staatssekretär des Äußeren, helm klar, daß für diesen Fall weder im Das Wort „Schuld“ ist in Sachen des Gottlieb von Jagow, dem französischen Westen noch im Osten eine schlagbereite Krieges immer problematisch. Aber man Botschafter in Berlin freimütig zu, daß Armee zur Verfügung stehe. Dem Stabs- tut sich sehr schwer, dem britischen Hi- man in Paris zur Zeit keinen Krieg wolle. offizier, der ihm nachträglich den Befehl storiker Correlli Barnett zuzustimmen, Aber Frankreich konnte nicht riskieren, zum Stoppen der 16. Division zur Unter- der geschrieben hat: „Deutschland war von Rußland auch nur einen Zentimeter schrift vorlegte, sagte er: „Machen Sie, weder im ganzen noch hauptsächlich für abzurücken, und der Zar hielt, wie Franz was Sie wollen mit diesem Telegramm. den Krieg verantwortlich und zweifellos Joseph vorausgesehen hatte, sein Serbien Ich werde es nicht unterzeichnen!“, und nicht ,schuld‘ daran.“ gegebenes Wort. warf den Federhalter hin. Zweifellos stimmt, daß keiner der maß- Mobilmachung war damals gleichbe- Ein zweites Telegramm Lichnowskys geblich Beteiligten an einen langen Krieg deutend mit Krieg, und man mußte Kai- machte klar, daß ein „positiver englischer gedacht hatte. Nach dem Scheitern der ser Wilhelm den Befehl dazu quasi ent- Vorschlag“ gar nicht vorlag. Der Kaiser, Deutschen an der Marne im September reißen. Er unterschrieb das Dekret am im Nachtgewand mit übergeworfenem 1914 glaubten auch hohe englische und Sonntag nachmittag des 1. August um 17 Militärmantel, sagte nun seinerseits zu französische Stabsoffiziere, sie würden Uhr. Er übergab es Generalstabschef dem erneut herbeigerufenen Moltke: Weihnachten wieder zu Hause sein. Helmuth von Moltke, der von Potsdam „Jetzt können Sie machen, was Sie wol- Daraus wurde nichts. Der vom deut- nach Berlin zurückreiste. Kurz danach len“, und ging zu Bett. schen Kaiserreich angestoßene Krieg wur- traf beim Kaiser ein Telegramm aus Lon- de, wie John Keegan uns bedeutet, der er- don ein. Sein Botschafter Karl Max Fürst * Mitteltafel des Triptychons zum Ersten Weltkrieg ste Holocaust der Geschichte überhaupt, Lichnowsky meldete, Grey habe ihn ge- (1929/1932). mit Folgen bis auf den heutigen Tag.

der spiegel 3/1999 115 Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg

INTERVIEW „Weniger Haß als Verständnis“ Der französische Historiker Pierre Miquel über den „Grande Guerre“

SPIEGEL: Fraternisierung einerseits, Bru- waren es sämtliche Divisionen, die in den talisierung andererseits – wie muß man mörderischen französischen Offensiven das verstehen? am Chemin des Dames verheizt wurden. Miquel: Es waren Menschen in extremen Eine Protestbewegung dieses Ausmaßes Situationen … an der Front hatte bis dahin nicht statt- SPIEGEL: … die einander haßten? gefunden. Miquel: Nicht mal. Für mein Buch über SPIEGEL: Wie viele Meuterer wurden ver- Verdun habe ich alle verfügbaren Zeug- urteilt, wie viele hingerichtet? nisse vor allem von Verwundeten beider Miquel: Mit ziemlicher Sicherheit wurden

H. BAMBERGER / AGENTUR FOCUS / AGENTUR H. BAMBERGER Seiten zusammengetragen. Man findet 43 Soldaten wegen Meuterei verurteilt Miquel darin viel weniger Haß als Verständnis und erschossen. für den Gegner. Aber natürlich gab es SPIEGEL: Was hat man den Familien der SPIEGEL: 1914/1918 wurde in Frankreich auch Situationen, in denen die Soldaten Erschossenen erklärt? der „unbegreifliche Krieg“ genannt.Was nicht mehr wußten, was sie taten, oft Miquel: Man hat den Grund des Todes war daran so unbegreiflich? übrigens unter Alkohol. nicht genannt, sondern nur mitgeteilt: Miquel: Vor allem die bestürzende Eile, SPIEGEL: Alkoholkonsum auf Befehl oder „Gefallen für Frankreich“. mit der die Staaten ihn losgetreten gegen Befehl? SPIEGEL: Von Meuterei sollte öffentlich haben.Alle glaubten sie, je schneller man Miquel: Es gab beides.Wir kennen die Or- nicht geredet werden? ihn anfange, um so kürzer werde er. der eines französischen Generals: „Den Miquel: So war es, vor allem sollte der SPIEGEL: Nach einem geheimen Befehl Alkohol nicht vergessen.“ Und wir ken- Feind nichts von den Ereignissen er- des Generals Galliéni sollte Paris da- nen den Fall einer deutschen Kompanie, fahren.

Spiegel des 20. Jahrhunderts mals bei drohender Eroberung durch die ein Dorf in der Champagne erobert SPIEGEL: Der Film von Stanley Kubrick die Deutschen „Stein für Stein“ vertei- hatte, aber dann nicht weiter vorging, son- „Wege zum Ruhm“, der das Problem der digt werden, alle wichtigen Bauwer- dern verschwunden war. Sie hatte sich Meuterei drastisch darstellt, durfte fast ke, sogar der Eiffelturm, seien zu spren- über die Keller hergemacht und war be- zwei Jahrzehnte lang in Frankreich nicht gen. Hätten die Franzosen aus ihrer trunken, die ganze Kompanie. gezeigt werden.Wovor hatte man Angst? Hauptstadt wirklich verbrannte Erde ge- SPIEGEL: Auf französischer Seite gab es Miquel: Die Armee und die ihr naheste- macht? 1917 eine große Protestbewegung unter henden Kreise hatten ihre Bedenken.Wer Miquel: Ob die Order schließlich ausge- den Soldaten, die sich weigerten, weiter- in den Archiven über die Meuterei von führt worden wäre – wer will das sagen? hin aussichtslos gegen die deutschen 1917 forschen wollte, benötigte eine spe- Aber Ansätze für eine totale Krieg- Linien anzurennen. Stimmt es, daß die zielle Erlaubnis. führung gab es schon. Auf der anderen Meuterei fast die Hälfte der französischen SPIEGEL: Es war aber ein Hollywoodfilm … Seite verzeichnen wir aber auch erstaun- Armee erfaßt hatte? Miquel: Eben, ein Film aus dem Ausland. liche Fälle von Fraternisierung über die Miquel: Ja, ungefähr 40 von 100 Divisio- SPIEGEL: Im vergangenen Herbst hat Gräben und die Gräber hinweg. nen, genau weiß man es nicht. Jedenfalls Premier Lionel Jospin gefordert, bei den SPIEGEL: Hat Schützen- Gedenkfeiern zum 80. grabenromantik die Zahl Jahrestag des Waffenstill- dieser Fälle nicht über- stands vom 11. November trieben? 1918 auch das Andenken Miquel: Nein, in den fran- der erschossenen Meute- zösischen Archiven finden rer zu ehren. Führen- sich schon 1914 Befehle, de Gaullisten, Staatschef welche Fraternisierungen Jacques Chirac vorneweg, verboten haben. Wenn haben das zurückgewie- solche Befehle nicht nötig sen. Spalten die Meuterer gewesen wären, hätte man die Franzosen auf immer? sie nicht erlassen. Einmal Miquel: Sicherlich gibt es hat der Oberbefehlshaber viele Franzosen, die sich General Joffre sogar per- über die Meuterer entrü- sönlich eingegriffen, um sten, aber ich glaube zu verhindern, daß deut- nicht, daß es die Mehrheit sche und französische Of- ist. In Wahrheit handelte fiziere in dem elsässischen es sich ja auch weniger Städtchen Thann gemein- um echte Meuterer als um

sam die Weihnachtsmesse TELE BUNK Bürger, die sagten: „Wir besuchten. Erschießung im Film „Wege zum Ruhm“: Meuterei der halben Armee wollen nicht als Kano-

116 der spiegel 3/1999 nenfutter behandelt werden, sondern wie Menschen.Wir wollen uns nicht in selbstmörderischen Offensiven verhei- zen lassen.“ Am Chemin des Dames sollten französische Soldaten teilweise gegen Stacheldrahtverhaue anstürmen, die durch die Artillerie noch nicht zer- stört waren. Wie konnte man Leute verurteilen, die sich weigerten, solchen Befehlen zu gehorchen? SPIEGEL: In Frankreich hat das Trauma 1914/18 den Pazifismus gestärkt nach dem Motto „Nie wieder solch ein Ab- schlachten!“ Gibt es einen Zusam- menhang zwischen dem französischen Sieg von damals und der katastropha- len Niederlage von 1940? Miquel: Unsere Niederlage von 1940 war die Folge der Unfähigkeit unserer militärischen Führer, sich den moder- nen Methoden der Kriegführung anzu- passen. Marschall Pétain, Kriegsmini- ster von 1934 bis 1939, und General Weygand, der letzte Oberbefehlshaber 1940, hatten nicht begriffen, wie sehr die Lage durch Panzer und Flugzeuge verändert wurde. Sie blieben dabei, daß der beste Schutz Frankreichs die Magi- not-Linie sei; sie sind für diese Nieder- lage verantwortlich. Die französischen Soldaten haben 1940 teilweise tapfer gekämpft, aber sie waren schlecht ge- führt und technisch unterlegen. SPIEGEL: Was sagt der Waffenstillstand vom 11. November 1918, der 1998 in Frankreich groß gefeiert wurde, den Franzosen heute noch? Miquel: Er ist ein Bestandteil unserer Nationalkultur, ein Totenkult, aber in einem positiven Sinn. In Verdun hat man ein Friedensmuseum eingerich- tet, nicht um die Schönheiten des Kriegs, sondern dessen Schrecken vor Augen zu führen. Wenn man den 11. November als Feiertag abschaffen würde, gäbe es einen Proteststurm. SPIEGEL: „Libération“ urteilte kürzlich: „Der Erste Weltkrieg war der Selbst- mord Europas und die große Fabrik künftiger Monster.“ Einverstanden? Miquel: Ja. allerdings halte ich es für sehr übertrieben zu sagen, allein der Frieden von Versailles habe Hitler her- vorgebracht.

Miquel, 68, Professor an der Pariser Sorbonne, hat über den Ersten Welt- krieg Bücher geschrieben wie „La Grande Guerre“ (1983), „Mourir à Verdun“ (1995) und „Le Chemin des Dames“ (1997).

der spiegel 3/1999 Das Jahrhundert der Kriege: Der Erste Weltkrieg

PORTRÄTS Der Krieg der toten Dichter Zwischen 1914 und 1918 ließ eine ganze Künstlergeneration ihr Leben. er kennt Otto Braun? Carl müde geworden, selbst um. So wohl der abgeschlagen, ein Auge blind gemacht … Zuckmayer nannte den Sohn sensible 27jährige Dichter und Sanitäter Der gierige Krieg ist um einen Heldentod Wdes SPD-Reichstagsabgeordne- Georg Trakl, dem es den Rest gab, als sich reicher, aber die deutsche Kunst um einen ten Heinrich Braun „eine Art von litera- vor seinen Augen ein verzweifelter Ver- Helden ärmer geworden.“ Anderthalb risch-intellektuellem Wunderkind“, Al- wundeter eine Kugel in den Kopf schoß. Jahre später war auch Marc tot, am Nach- fred Polgar und André Gide lobten ihn Eine Überdosis Kokain machte Trakls Le- mittag des 4. März 1916 vor Verdun von überschwenglich, Thomas Mann erklärte, ben im November 1914 ein Ende. einem Splitter in den Kopf getroffen. er stehe demütig vor der Brillanz des jun- „Aber unter tausend Braven trifft eine Und es war beileibe nicht nur die deut- gen Talents. Dem half das nichts mehr: Kugel einen Unersetzlichen“, schrieb sche Kunst, die der Krieg entsetzlich und Im April 1918 war der 20jährige an der Franz Marc im Nachruf auf seinen bereits dauerhaft verstümmelte. Ganz Europa Westfront von einer Granate getroffen in den ersten Kriegswochen gefallenen kannibalisierte sich in einem einzigartigen worden. Erst ein einziges Gedicht hatte er Malerfreund Macke. „Mit seinem Tode Akt kollektiven kulturellen Selbstmords, veröffentlicht. wird der Kultur eines Volkes eine Hand verpraßte in einer Gewaltorgie gemein- Wie kein Konflikt zuvor hat der sam, was sein Vermächtnis an das erste „totale Krieg“ (Ludendorff) 20. Jahrhundert hätte sein können. eine ganze Generation junger Der Wahnsinn spiegelt sich in Künstler und Intellektueller getö- Schicksalen wie dem des Shake- tet. Männer, die den Aufbruch aus speare-Forschers und Lyrikers Ernst dem Mief des 19. Jahrhunderts wa- Stadler: Im Elsaß geboren, Rhodes- gen wollten, wurden statt dessen Stipendiat in Oxford, in Brüssel beim Sprung aus den Schützen- lehrend, Förderer französischer

Spiegel des 20. Jahrhunderts gräben niedergemäht – bildende Schriftsteller wie Romain Rolland Künstler wie die „Blaue Reiter“- oder Charles Péguy und bei Kriegs- Maler August Macke und Franz beginn im Begriff, eine Professur in Marc, der Mitbegründer der „Neu- Kanada anzutreten, wurde er ein- en Münchner Secession“ Albert gezogen, um in Belgien gegen Weisgerber oder der französische Frankreich zu kämpfen. Dort traf Bildhauer Henri Gaudier-Brzeska, ihn am 30. Oktober 1914 ein engli- der Henry Moore stark beeinflußte; Kinau (um 1915) sches Geschoß, das ihm einen Arm Lyriker wie der von Arno Schmidt abtrennte und den Schädel aufriß. geschätzte „Wort-Kunst“-Dichter Charles Péguy fiel zur selben Zeit August Stramm, wie Ernst Wilhelm auf der anderen Seite der Front. Lotz, den kurz vor seinem Kriegs- Die Franzosen begannen noch tod noch Otto Dix porträtierte, im Krieg, ein Verzeichnis ihrer „ar- oder der Frühexpressionist Alfred tistes morts pour la patrie“ anzu- Lichtenstein, der anderthalb Jahre legen. Das Memento mori enthält vor seinem gewaltsamen Ende mit Hunderte von Einträgen, in zwei 23 Jahren gedichtet hatte: „Überall Bänden – fast alles Namen unbe- stinkt es nach Leichen. / Es beginnt Apollinaire (1917) kannt gebliebener Künstler. Und es das große Morden.“ sind längst nicht alle. Guillaume Als begeisterte Kriegsfreiwillige, Apollinaire etwa fehlt. Der Poet apolitische Mitmacher oder zum und Kunstkritiker, Mitstreiter der Wehrdienst gepreßte Pazifisten Kubisten und Erfinder des Begriffs starben sie im Trommelfeuer, an „Surrealismus“, erhielt 1916 einen Krankheiten oder verschwanden Granatsplitter in den Kopf und einfach spurlos im Inferno. Der bri- starb, von der Operation am offe- tische Poet Rupert Brooke ging nen Schädel geschwächt, zwei Tage 1915 bei Gallipoli an einer Blutver- vor Kriegsende an Grippe. giftung zugrunde, ohne die Front je Für den bereits berühmten Apol- gesehen zu haben. Sein Landsmann linaire schuf sein Freund Picasso Isaac Rosenberg, Maler und Autor, ein Denkmal; die anderen bleiben kehrte am 1. April 1918 von einer vergessen, beerdigt in einem dick- Nachtpatrouille nicht zurück. Sei- leibigen Register: ein Massengrab ne Leiche wurde nie gefunden. in Buchform. AKG Andere wieder brachten sich, TELE BUNK Manche brachte das Kriegs- vom alltäglichen Horror lebens- Trakl (1914) Marc (um 1913) erlebnis erst zur Kunst – aber auch

118 der spiegel 3/1999 um das Leben. Englands „war poet“ Wilfred Owen etwa kam, im Trom- melfeuer traumatisiert, erst durch das Dichten wieder zu Sinnen – und dann zurück an die Front, wo er noch in der letzten Kriegswoche von einer verirr- ten Kugel tödlich getroffen wurde. Was wäre aus ihnen geworden, wenn sie gelebt hätten? Aus Louis Pergaud, Träger des Prix Goncourt, der 1912 den Kindheitsroman „Der Krieg der Knöpfe“ schrieb und seit April 1915 ver- mißt wird? Aus dem deutschnationalen Dichter Johann Kinau, der 1916 in der Skagerrakschlacht unterging und nun ewig auf sein Pseudonym Gorch Fock und den von den Nazis instrumentali- sierten Slogan „Seefahrt ist not!“ fest- gelegt bleibt? Was noch hätte der verschollene Alain-Fournier geschaffen, auf des- sen meisterhaften Roman „Le Grand Meaulnes“ von 1913 kein weiterer folg- te? Oder der 1915 gefallene Maler Louis Cartier-Bresson, geliebter Onkel und großes Vorbild der Fotografen-Legen- de Henri Cartier-Bresson? Was wäre aus dem Kriegsdienstverweigerer Isaac Ro- senberg geworden, so den in bitterer Armut lebenden Dichter nicht die Aus- sicht auf den Sold, den täglichen „King’s Shilling“, und das Zureden seines Men- tors Ezra Pound doch noch in die Ar- mee und in den Tod getrieben hätte? Die Chance, die Kultur unseres Jahr- hunderts mitzuprägen, bekamen diese Männer nie. Statt dessen drückte der Krieg forthin aller Kunst seinen rohen Stempel auf. In die von den Toten hin- terlassenen Lücken traten meist Mit- telmäßige. Selbst die Überlebenden konnten nicht weitermachen wie bisher: Otto Dix, vor dem Krieg Landschaftsmaler, verarbeitete seine Fronterlebnisse zu gemalten Alpträumen, ebenso der Kriegsfreiwillige George Grosz, der dann desertierte und den Krieg in ei- nem Lazarett für nervenkranke Solda- ten überstand, und der zum deutschen Großgeist des Jahrhunderts avancierte Ernst Jünger, der den Krieg als exi- stentielles Erlebnis feierte. Andere machte das Erlebte sprach- los: Rudolf Borchardt, Dichter, Dan- te-Übersetzer und Bewunderer des „frühvollendeten“ Otto Braun, schrieb nach dessen Tod an Hugo von Hof- mannsthal: „Mir werden noch lan- ge eher die Tränen kommen als die Reime.“ Hans Michael Kloth

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PORTRÄTS Goldene Zeit? Winston aber er war auf ihn teiwechsel von den Liberalen zurück zu Churchill vorbereitet. Bereits den Tories, die den der Ökonomie Un- 1911 hatte er in einem kundigen dann aber als Schatzkanzler Der Außen- Memorandum über kaltstellten, beendete seine Isolation seiter „Probleme kontinen- nicht. Die dreißiger Jahre verbrachte er Er ging in die Ge- taler Kriegsführung“ malend und schriftstellernd als einsa- schichte ein als der die Ereignisse der er- mer Rufer in der Wüste gegen den große Widerpart Hit- sten beiden Kriegsmo- Bolschewismus und die Politik des lers, als Verteidi- nate „mit unheimli- „Appeasement“. ger der Freiheit ge- cher Einsicht“ (Seba- Erst Hitlers Krieg bescherte Churchill gen die totalitäre Ty- stian Haffner) exakt 1940 eine späte zweite Chance. Doch rannei der Natio- vorausgesagt. auch nach seinem Triumph über den nalsozialisten. Doch Sprühend vor Ideen Tyrannen schrieb der alte Sir Winston 1940, als Winston und Tatendrang, un- über seine Tage an der Spitze der Ad- Spencer Churchill, orthodox bis zur miralität: „Es war meine goldene Zeit.“ Sohn eines Lords und Marotte, sann Chur- einer Amerikanerin, chill von Beginn an in Britanniens größter nach Möglichkeiten, Fritz Haber Not Nachfolger des den zum Abnutzungs- Nobelpreisträger und glücklosen Premier- kampf erstarrten Stel- ministers Neville lungskrieg an der Kriegsverbrecher Chamberlain wurde, Westfront aufzubre- Seine wichtigste Erfindung schien ei-

Spiegel des 20. Jahrhunderts war er bereits 65 Jah- chen.Von ihm stamm- nen uralten Traum wahr werden zu las- re alt und hatte ein te die Idee, „Land- sen: mit Hilfe der modernen Wissen-

Politikerleben hinter BILDERDIENST ULLSTEIN schiffe“ zur Über- schaft die Menschheitsgeißel Hunger zu sich, das ihm auch Marineminister Churchill (1914) windung gegnerischer besiegen. Durch das nach ihm benann- ohne Hitler einen Schützengräben zu te „Haber-Bosch-Verfahren“, welches Platz in den Geschichtsbüchern gesi- bauen – jene feuerspeienden Tanks, die den natürlichen Stickstoff der Atemluft chert hätte. die deutschen Soldaten ab 1917 in zur Ammoniaksynthese nutzbar mach- 1900, als er, kaum 26 Jahre alt, das er- Schrecken versetzten. te, ließ sich regelrecht „Brot aus der stemal ins Unterhaus gewählt wurde, Nicht weniger kühn als seine techni- Luft holen“. hatte der abenteuerhungrige Churchill schen waren seine strategischen Visio- Denn Ammoniak ist der Grundstoff sich schon als Husarenoffizier auf Kuba, nen: Sylt oder Bornholm wollte er be- für lebensstiftenden Kunstdünger – aber in Indien und im Sudan ausgezeichnet. setzen, um von dort aus den Krieg nach auch für todbringenden Sprengstoff. Im Burenkrieg geriet er als Reporter Deutschland zu tragen. An den Darda- Brot wie Bomben brauchte der Kaiser in Gefangenschaft. Seine verwegene nellen sollten Truppen landen und im für seinen Krieg. Zu beidem verhalf ihm Flucht aus einem Internierungslager der Handstreich Konstantinopel nehmen, Habers Erfindung, die so das Massen- Buren, die ein Kopfgeld auf ihn aus- um das mit Deutschland verbündete morden gleich doppelt verlängerte. setzten, machte Churchill in England Osmanische Reich zu enthaupten. Den Krieg abzukürzen hoffte Haber berühmt. Doch die Landung auf der Halbinsel mit einer weiteren Erfindung: Giftgas. Dabei war er keineswegs nur als Hau- Gallipoli geriet zum blutigen Debakel, Dessen Perfektionierung trieb der „Va- degen, sondern schon in jungen Jahren das seinen vielen politischen Gegnern als sprachmächtiger und produktiver willkommene Munition lieferte. Im Mai Schriftsteller bekannt; 1953 erhielt er 1915 wurde Churchill entlassen, seine für seine mehr als zwei Dutzend Bücher Karriere schien beendet.Als der libera- sogar den Literaturnobelpreis. le Premier Lloyd George den in Un- Bis zu seiner späten „finest hour“ im gnade Gefallenen 1917 als Rüstungsmi- Zweiten Weltkrieg war das öffentliche nister zurückholte, zerbrach daran fast Bild Churchills jedoch vor allem durch die Regierungskoalition mit den Tories, seine Rolle im Ersten Weltkrieg geprägt. die Churchill 1904 im Streit verlassen Bei Kriegsausbruch 1914 war der gerade hatte. „Einige von ihnen“, notierte 39jährige Erster Lord der Admiralität Lloyd George, „regten sich über die Er- (Kriegsmarineminister) – Herr über die nennung Churchills mehr auf als über mächtigste Armada der Weltgeschichte, den ganzen Krieg.“ Gegenspieler der wilhelminischen Flot- Zwanzig Jahre lang blieb Churchill

tenpolitiker und ihrer Weltmachtgelü- im politischen Establishment Britan- ARCHIV GERSTENBERG ste. Er hatte den Krieg nicht gewollt, niens ein Außenseiter. Ein erneuter Par- Chemiker Haber

120 der spiegel 3/1999 ter des Gaskriegs“ ohne Rücksicht auf In einer Gesellschaft, in der noch aus- Ethik oder Völkerrecht voran; den er- schließlich Männer das Sagen hatten, sten deutschen Giftgasangriff der avancierte die k. u. k. Freifrau zum ge- Kriegsgeschichte im April 1915 bei Ypern feierten Aushängeschild pazifistischer überwachte der ehrgeizige Professor Bewegungen. Sie solidarisierte sich mit persönlich. (Geschätzte Zahl aller Gas- einem „Friedensmanifest“ des Zaren, kriegsopfer: 700 000 bis eine Million.) tat sich mit den Sozialdemokraten Au- Seine erste Frau Clara Immerwahr aber, gust Bebel und Wilhelm Liebknecht zu- selbst eine promovierte Chemikerin, er- sammen (ihr Roman wurde honorarfrei schoß sich mit der Dienstwaffe ihres im „Vorwärts“ abgedruckt) und korre- Mannes. Am Ende stand statt des von spondierte mit Leo Tolstoi. Den schwe- Haber erhofften „Siegfriedens“ über ei- dischen Industriellen und Dynamit-Er- nen durch Giftgas demoralisierten Geg- finder Alfred Nobel, mit dem sie eine ner nur eine neue, grauenhafte Stufe langjährige Freundschaft verband, reg- der militärtechnischen Eskalation. te die österreichische Adelige zur Stif- Nach dem Kriegsende 1918 wurde der tung eines Friedenspreises an, den sie deutschnationale Wissenschaftler von dann 1905 selbst erhielt.

den Alliierten als Kriegsverbrecher ver- BILDERDIENST ULLSTEIN In ihrer Rede vor dem Nobel-Komi- folgt – und zur selben Zeit mit dem No- Pazifistin Suttner (1904) tee mußte die streitbare Friedenskämp- belpreis für Chemie international ge- ferin freilich düster feststellen, daß trotz ehrt. Haber konnte als Direktor des Kai- Bertha von Suttner wachsender Popularität pazifistischer ser-Wilhelm-Instituts für physikalische Die gescheiterte Bewegungen Säbelgerassel wieder alle Chemie weiterforschen. Als wolle er Friedenskämpferin Friedensbemühungen übertönte. „Fe- sich selbst noch einmal übertrumpfen, stungen werden gebaut, Unterseeboote versuchte er nun, nach Brot aus Luft Von kriegslüsternen Regierungen und fabriziert, ganze Strecken unterminiert, aus Meerwasser Gold zu gewinnen – in Rüstungslobbys als „Friedensbertha“ kriegstüchtige Luftschiffe probiert“ für der Hoffnung, so die Deutschland auf- oder „Rote Bertha“ verspottet und mit das „demnächstige Losschlagen“. erlegten Reparationen bestreiten zu Redeverboten belegt, starb die weltbe- Als Vizepräsidentin des Internationa- können. Jahrelang arbeitete er verge- kannte Pazifistin wenige Wochen vor len Friedensbureaus in Bern reiste die bens an dem bizarren Projekt. Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das 70jährige am Vorabend des Ersten Welt- Mehr Erfolg hatte der monomane Völkermorden im „kriegsverrotteten kriegs durch Europa und Amerika, um Forscher und erste Wissenschaftsmana- Europa“ hatte sie vorausgeahnt und lei- noch als „altes Weib“, wie sie selbst ger (er gründete die Vorläufer der heu- denschaftlich zu verhindern versucht. spöttelte, gegen den „Übermilitarismus, tigen Max-Planck-Gesellschaft und der Als Gräfin Kinsky in Prag geboren, ver- der jetzt die Atmosphäre erfüllt“, an- Deutschen Forschungsgemeinschaft mit) ärgerte Bertha von Suttner ihre aus al- zustreiten – und, ihrer Zeit weit voraus, auf seinem alten Gebiet. Unter dem tem böhmischem Militäradel stammen- für einen internationalen Völkerge- Deckmantel, Schädlingsbekämpfungs- de Familie nicht nur mit einer unstan- richtshof zu werben. Zuallerletzt sah mittel zu entwickeln, trieb Haber die desgemäßen, heimlichen Heirat und Bertha von Suttner sich noch verlassen verbotene Entwicklung von Giftgas wei- anschließender Flucht in den Kaukasus, von den Sozialdemokraten, auf deren ter voran – der erste Fall von „dual sondern auch mit sozialethisch-pazifi- Friedenswillen sie gesetzt hatte, die use“-Forschung. Dabei stieß er auf ein stischen Publikationen, die sie unter dann aber 1914 überall mit zu den Fah- Gift, von dessen Wirkung er sagte, man dem Pseudonym B. Oulot schrieb. nen eilten. könne „nicht angenehmer sterben“. Der In ihrem Roman „Die Waffen nie- Suttners heute fast vergessenes Bei- Handelsname des äußerst effektiven In- der!“, 1889 von einem zaudernden Ver- spiel hat die deutsche Anti-Kriegs-Lite- sektenvertilgungsmittels: Zyklon B. lagsbuchhändler in Dresden in nur 1000 ratur der Weimarer Republik maßgeb- Es war das Giftgas, mit dem die Na- Exemplaren gedruckt, schildert sie die lich befruchtet. Ihr Anti-Kriegs-Roman zis ab 1941 Menschen, vor allem jüdi- europäischen Kriege in der zweiten wurde denn auch zusammen mit sche, als „Volksschädlinge“ ausrotteten. Hälfte des 19. Jahrhunderts zum er- Büchern Erich Maria Remarques, Ar- Unter den Opfern des Genozids sollten stenmal aus der Sicht einer leidenden nold Zweigs, Kurt Tucholskys und Lud- auch Familienmitglieder des als Student Frau, die das Kampfgetümmel der Kai- wig Renns auf den Scheiterhaufen der zum Protestantismus konvertierten Ju- ser und Könige zweimal zur Witwe Nationalsozialisten verbrannt. Die Bot- den Fritz Haber sein. Doch der erlebte macht. Inmitten grassierender Kriegs- schaft dieser außergewöhnlichen Frau den Holocaust nicht mehr. Er starb, von begeisterung schuf die Schriftstellerin aber ist am Ende dieses Jahrhunderts den Nazis aus dem Amt gedrängt, 1934 mit ihrem eindrucksvollen Appell für der Kriege noch ebenso aktuell wie zu in Basel, auf dem Weg nach Palästina. eine friedliche Welt einen Bestseller. dessen Beginn.

DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. DAS JAHRHUNDERT DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DES SOZIALEN WANDELS; VI. … DER MEDIZIN; VII. … DES KAPITALISMUS; VIII. … DES KOMMUNISMUS; IX. … DES FASCHISMUS; X. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; XI. … DER MASSENKULTUR; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND

der spiegel 3/1999 121 Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

TERRORISMUS Von London aus in den Heiligen Krieg uf der Suche nach den Hintermän- Anern der Entführungen westlicher Touristen im Jemen sind britische und amerikanische Agenten auf ein interna- tionales islamistisches Netzwerk ge- stoßen. Im Zentrum der Ermittlungen steht der fundamentalistische Prediger Abu Hamsa el-Masri, der die Moschee von Finsbury Park im Norden Londons AP führt. Scheich Abu Hamsa, der im af- A. BRUTMANN ghanischen Befreiungskampf schwer Oppositionsführer Barak Tatort Greenberg-Büro (r.) verwundet wurde, ist Chef der „Unter- stützer der Scharia“ (SOS). Die radikale ISRAEL Gruppe dient auch dem saudiarabischen Terror-Paten Ussama Ibn Ladin als Sprachrohr. Von seinen Stützpunkten in Watergate in Tel Aviv Afghanistan aus soll Ibn Ladin die Abu- Hamsa-Organisation mit großzügigen ine mysteriöse Einbruchserie beun- berater vermuten, daß die Einbrecher Spenden fördern. Dafür bereitet Abu Eruhigt das Wahlkampfteam des israe- brisante Informationen gesucht haben, Hamsa militante Islamisten in para- lischen Oppositionsführers Ehud Barak. die dem Netanjahu-Herausforderer im militärischen Camps auf den Heiligen Vergangene Woche drangen Diebe in das Wahlkampf schaden könnten. Obwohl Krieg und wohl auch auf Terroranschlä- Büro von Baraks US-Berater Stanley sich die Spitze der Arbeitspartei mit Be- ge gegen westliche Einrichtungen in Greenberg in Washington ein und stah- wertungen zurückhält, wird die Affäre len Wahlkampfpapiere und Disketten. als „israelisches Watergate“ gehandelt. Auch in Tel Aviv und Umgebung bra- David Bar-Ilan, Sprecher des israelischen chen Unbekannte in Häuser und Woh- Ministerpräsidenten, wies indessen Un- nungen von Barak-Mitarbeitern ein – terstellungen zurück, Benjamin Netan- stets nach dem gleichen Muster: Die jahu oder seine Partei, der Likud, hätte Wohnungen wurden durchsucht, Wert- mit den Vorfällen zu tun: „Die ganze Sa- gegenstände wie Fernseher oder Video- che stinkt nach einem schmutzigen Trick, recorder blieben unangetastet. Partei- der uns verdächtig machen soll.“

BALKAN glaubt der Führer der Serbischen Wi- derstandsbewegung im Kosovo, Mom- Serben gegen Serben ‡ilo Trajkoviƒ, seien den Sezessionsbe- strebungen der albanischen Bevölke-

M. GODWIN ie serbische Minderheit im Kosovo rungsmehrheit „Tür und Tor geöffnet“. Scheich Abu Hamsa Dfühlt sich von ihrem Schutzherrn, Trajkoviƒ: „Wir kämpfen jetzt an zwei Jugoslawiens Präsident Slobodan Fronten – gegen die Albaner und gegen nahöstlichen Ländern vor. Bereits im Milo∆eviƒ, verraten. Sie fürchtet, daß Belgrad.“ Aufmärsche der serbischen Dezember hatten die jemenitischen Si- der Staatschef ihrer Region den Status Rebellen ließ Milo∆eviƒ vergangene Wo- cherheitsdienste fünf SOS-Mitglieder einer Republik einräumen wird, wenn che massiv unterdrücken. Die Direkto- aus Großbritannien verhaftet, unter ih- die internationale Gemeinschaft dafür ren der Staatsbetriebe, in denen nahezu nen auch Abu Hamsas Stiefsohn. Der im Gegenzug die Sanktionen gegen alle Kosovo-Serben arbeiten, hatten hat gestanden, daß seine Gruppe das Jugoslawien aufhebt. Damit aber, so strikte Anweisung aus Belgrad erhalten, britische Konsulat, die anglikanische jedem Demonstrationswilligen Kirche und ein Touristenhotel in Aden mit fristloser Kündigung zu in die Luft sprengen wollte und daß sie drohen, falls er seinen Arbeits- auch in Kontakt mit den Kidnappern platz verlasse, um zu prote- von 16 westlichen Jemen-Touristen stieren. Zuvor war bereits ein stand. Bei dem Sturm auf das Versteck Protest der „Aufständischen“ der Geiselnehmer starben am 29. De- (so die von Belgrad kontrol- zember drei Briten und ein Australier. lierten Kosovo-Medien) ge- Fahnder der US-Bundespolizei FBI und platzt, weil das Regime in des Londoner Scotland Yard haben im Pri∆tina den Strom abschalten Jemen die Spur der Ibn-Ladin-SOS- ließ. Kaum begannen die ser- Connection aufgenommen. Abu Hamsa bischen Demonstranten, Bel- weist alle Anschuldigungen zurück. Er grad zu schmähen, versagten

sagt, das Geständnis seines Stiefsohnes AP die Mikrofone, und die Stadt sei unter Folter erzwungen worden. Belgrader Militär bei Pri∆tina versank im Dunkeln.

der spiegel 3/1999 123 Ausland

AFRIKA Kontinent der Kriege Der Schwarze Erdteil versinkt im Elend. Doch die afrikanischen Regierungen stecken immer mehr Geld in die Rüstung. Neuerdings greifen ihre Streitkräfte sogar in die Konflikte von Nachbarländern ein.

AFP / DPA Nigerianische Truppen in Sierra Leone: „Die Armeen vieler Länder spielen bei ihren Nachbarn Polizei“

reetown, das „Athen Westafrikas“, Zivilisten durch bewaffnete Killer“ ausge- zent ihres Bruttosozialprodukts zu be- war früher eine liebenswerte Stadt ufert, wie Amnesty International es nennt. grenzen. Annan war optimistisch. Seine Fauf sanften, grünen Hügeln, durch die In dem totalen Krieg von Sierra Leone damalige Erklärung begann mit dem Satz: vom Atlantik her immer eine angenehme stehen sadistische Buschkrieger einer „Ver- „Eine Dekade der Konflikte nähert sich in Brise wehte. Heute weht der Pesthauch des einigten Revolutionären Front“, die von Afrika ihrem Ende.“ Südafrikas Vizepräsi- Todes durch die Straßen der Stadt. Free- den Nachbarländern Liberia und Burkina dent Thabo Mbeki schwärmte gar von town wird beherrscht von Geiern und von Faso unterstützt werden, gegen eine vor- einer „afrikanischen Renaissance“. marodierenden, grotesk aufgeputzten Sol- wiegend aus Nigerianern und Ghanaern Doch die Friedenshoffnungen sind in der daten. Überall liegen Leichen mit aufge- bestehende westafrikanische Eingreiftrup- afrikanischen Wirklichkeit verglüht. Heu- blähten Bäuchen und abgehackten Glie- pe, die dem gewählten Präsidenten Ahmed te toben in fast einem Drittel der 42 Staa- dern. Von den meisten der schönen, alten Tejan Kabbah die Macht sichern will. Doch ten südlich der Sahara kriegerische Aus- Villen am Meer sind nur Ruinen übrigge- diesen Krieg kann keiner gewinnen. Nur einandersetzungen. Was es früher in Afri- blieben. die Verlierer stehen schon fest: die unbe- ka nicht gab: Die Armeen vieler Länder Sierra Leone im Jahr neun eines barba- teiligte Zivilbevölkerung, die immer tiefer „spielen bei ihren Nachbarn Polizei“ (so rischen Bürgerkrieges. Ursprünglich ging es im Elend versinkt. das Nachrichtenmagazin „Jeune Afrique“). um den Zugriff auf die reichen Diamanten- Im Mai vergangenen Jahres hatte Uno- Und zwar ohne Rücksicht auf Souveränität und Bauxitvorkommen im Osten des Lan- Generalsekretär Kofi Annan aus Ghana die und Völkerrecht. des. Doch inzwischen sind die Kämpfe zu afrikanischen Länder aufgefordert, ihre Auswärtige Ordnungskräfte und Ver- einem völlig sinnlosen „Abschlachten von Waffen- und Munitionskäufe auf 1,5 Pro- mittler sind überall mit ihren Bemühun-

124 der spiegel 3/1999 gen gescheitert. Die Uno ist in vier afrika- Waffengang um ein paar hundert Qua- ersten großen Regionalkrieg seiner Ge- nischen Staaten mit Truppenkontingenten dratkilometer unbewohntes Ödland. schichte. vertreten. Aber die Blauhelme greifen nir- Das US-Magazin „Newsweek“ warnte Wenn das Kongo-Exempel Schule gendwo aktiv ein. Sie beschränken sich im Sommer: „Afrika könnte einmal so auf macht, können leicht alle Dämme brechen. aufs Beobachten. den August 1998 zurückblicken wie Euro- Erstmals stehen Afrikas alte Grenzen, die In Angola ist gerade die teuerste Frie- pa auf den August 1914“ – den Beginn des um des lieben Friedens willen auch nach densmission in der Geschichte der Uno Ersten Weltkriegs. Im August war in der der Unabhängigkeit anerkannt wurden, zusammengebrochen. Mit einem Kosten- gerade von der Herrschaft des Diktators nun zur Disposition. Ruandas Präsident aufwand von über einer Milliarde Dollar Mobutu befreiten Republik Kongo erneut Pasteur Bizimungu hat sogar schon eine und zeitweilig 7000 Soldaten hatte die der Bürgerkrieg ausgebrochen. Die von „zweite Berliner Konferenz“ gefordert. Es Weltorganisation seit 1994 versucht, die Laurent Kabila geführte Anti-Mobutu- stehe ja nirgendwo geschrieben, daß alles Feinde aus den Zeiten des Kalten Krieges Koalition zerbrach, und nur die schnelle so bleiben müsse, wie es die damaligen miteinander zu versöhnen. Doch nun lie- Intervention mehrerer Nachbarstaaten ret- Kolonialmächte 1884/85 in Berlin ausge- fern sich die Armee der früher von Mos- tete Kabila vor der sicheren Niederlage. handelt hatten. kau unterstützten Regierung und die Der neue Kongo-Krieg hat eine neue Die willkürlich – oft mit dem Lineal – ge- Streitkräfte der ehemals prowestlichen Qualität. Auf beiden Seiten mischen Dritt- zogenen Grenzen sind wesentlich mit- Unita unter Jonas Savimbi erneut offene staaten mit. Die Regierungen von Ruanda verantwortlich für das afrikanische Elend: Feldschlachten. 450000 der elf Millionen und Uganda haben mit den Rebellen eine Seit der Unabhängigkeitswelle in den sech- Angolaner sind wieder auf der Flucht, Allianz gegen den neuen Kongo-Präsiden- ziger Jahren wurden rund 50 Millionen 1,3 Millionen Menschen sind vom Hun- ten geschmiedet, dem sie selbst kurz zuvor Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. gertod bedroht. zur Macht verholfen hatten. Dem be- 20 Millionen wurden in Bürgerkriegen Der Krieg ist für beide Seiten ruinös. drängten Kabila stehen Truppen aus Ango- getötet. Feldherr Savimbis Unita finanziert ihre la, Simbabwe, Namibia, aus dem Tschad Afrika ist eine Katastrophe. Zwischen Streitkräfte mit Diamanten aus der von ihr und dem Sudan zur Seite. Sahara und Sambesi liegen 33 der 50 ärm- kontrollierten Bergbauregion. Die Regie- Zwar haben afrikanische Regierungen sten Staaten der Erde. Der ganze Konti- rung in Luanda verbraucht für das Militär auch früher schon Aufstandsbewegungen nent erwirtschaftet nur gut zwei Prozent bis zu zwei Drittel von Angolas immensen unterstützt, indem sie ihnen Zuflucht ge- des Weltsozialprodukts. Der sogenannte Öl-Einnahmen. währten oder Waffen und Ausbilder zur Schwarze Erdteil hat die höchste Säug- Wie die Angolaner rüsten viele afrika- Verfügung stellten.Aber sie scheuten sich, lingssterblichkeit und die niedrigste Le- nische Staaten hemmungslos auf – die klei- reguläre Truppen über die Grenzen zu benserwartung der Welt.Von rund 600 Mil- nen genauso wie die großen: Der Zwerg- schicken. lionen Afrikanern südlich der Sahara sind staat Burundi hat im laufenden Etatjahr Genau das passiert nun im Kongo. Auch 22,5 Millionen mit Aids infiziert. Jahr für rund 30 Prozent seines Haushalts für das im Nachbarstaat Kongo-Brazzaville sind Jahr sterben 3 Millionen an Malaria. Militär veranschlagt. Südafrika investiert Truppen aus mehreren Staaten in hefti- Die Rückständigkeit, die für das Elend 2,3 Milliarden Dollar in die Rüstung. ge Kämpfe verwickelt. Afrika erlebt den verantwortlich ist, hat strukturelle und Konflikte, bei denen sich eine Lö- sung abzuzeichnen schien, dauern Krisenherd Afrika Kriege und Interventionen an. Im Südsudan eskalierte der Bür- gerkrieg in den letzten Monaten. Flugzeuge der Regierung bombar- SENEGAL TSCHAD dieren wieder Krankenhäuser im BURKINA ERITREA Rebellengebiet. 2,6 Millionen Men- FASO schen können nur überleben, weil GUINEA- GUINEA SUDAN sie über eine Luftbrücke mit Le- BISSAU GHANA NIGERIA bensmitteln versorgt werden. Trup- SIERRA LEONE ÄTHIOPIEN pen aus Senegal und Guinea griffen im vergangenen Juni in einen blu- tigen Machtkampf in Guinea-Bis- LIBERIA UGANDA sau ein. Soldaten aus Südafrika und Kisangani Botswana schlugen im September eine Revolte in Lesotho nieder, als DEMOKRATISCHE KONGO - REP. KONGO RUANDA die Opposition und Teile der Ar- n BRAZZAVILLE a mee gegen die Regierung rebellier- e Kinshasa z ten. Somalia, wo sich auch nach O dem gescheiterten Uno-Einsatz von r e

h 1992 bis 1994 verfeindete Clans bis c s ANGOLA i aufs Messer bekriegen, ist ein No- d n A Go-Land für Hilfsorganisationen. I t l Auch Hoffnungsträger haben a n t i enttäuscht.Äthiopiens Meles Zena- s c SIMBABWE wi und Eritreas Isaias Afwerki, die h e NAMIBIA einst gemeinsam die rote Diktatur r O BOTSWANA in Addis Abeba weggefegt und sich z Konfliktregionen e a Interventionen in als Reformer profiliert hatten, n stürzten im letzten Juni ihre zwei Nachbarstaaten Unterstützung „Bruderstaaten“ in einen absurden / SIPA TONY LESOTHO für Kabila SÜDAFRIKA Unterstützung Flüchtlingskind im Sudan 1000 km für die Rebellen 2,6 Millionen droht der Tod

der spiegel 3/1999 125 Ausland historische Ursachen. Zwischen Atlantik und Indischem Ozean lebt eine einmalige Vielzahl von Völkern und Stämmen, die Hunderte von Sprachen sprechen. Sie ha- ben sich in der Vergangenheit selten zu Kanonenfutter für die Front Großreichen zusammengeschlossen und kaum urbane Kulturen entwickelt. Sie wa- Goldgräberstimmung am Kongo-Fluß: Armeen aus sieben ren jahrhundertelang abgekoppelt von der restlichen Welt. Staaten plündern im Herzen Afrikas fast so In diese Isolation brachen die Europäer rücksichtslos wie früher die belgischen Kolonialisten. rabiat ein. Erst verschleppten sie minde- stens 13 Millionen Afrikaner als Sklaven ie Rekrutin Dive Loshove strahlt Ehemalige Kabila-Verbündete, darunter nach Amerika. Dann teilten sie den Konti- übers ganze Gesicht, wenn sie ex- die Einheiten aus Ruanda und Uganda, nent rücksichtslos untereinander auf. Vie- Derzieren darf. Im Garten zwischen kämpfen nun gegen die Zentralregierung in le künftige Konflikte waren damit pro- den zwei vergammelten Kolonialvillen der Hauptstadt Kinshasa. Kabila wiederum grammiert. Der Krieg im (damals britisch marschieren an die hundert ärmlich ge- wird von Truppen aus Angola, Simbabwe, beherrschten) Sudan zum Beispiel, dessen kleidete Gestalten auf und ab. Sie singen: Namibia, dem Tschad und dem Sudan un- südliche Völker viel mehr mit ihren Brü- „Kabila chakula cha mamba“, Kabila, wir terstützt. Schwarzafrika erlebt den ersten dern in Uganda gemein haben als mit den werfen dich den Krokodilen zum Fraß vor. großen Regionalkonflikt seiner Geschichte. nordsudanesischen Muslimen. Die Aufseher im Schatten der Man- Alle Bemühungen um einen Waffenstill- Doch über drei Jahrzehnte nach „Uhu- gobäume sind mit der Parade zufrieden. Ihr stand – auch die des libyschen Revolu- ru“ (Kisuaheli für „Unabhängigkeit“) kann Befehlshaber, Kommandeur Bienvenue, hat tionsführers Muammar el-Gaddafi – sind man das afrikanische Desaster nicht mehr schon 1997 gegen Laurent-Désiré Kabila gescheitert, weil Kabila nicht direkt mit nur den Kolonialherren anlasten: Die Bel- gekämpft, damals freilich auf seiten des den Aufständischen verhandeln will. Für gier ließen bei ihrem Rückzug 1960 im Kongo zwar nur zwölf einheimische Aka- demiker, aber auch 140000 Kilometer be- festigte Straßen zurück – von denen nur noch ganz wenige befahrbar sind. Mit Afrika ist es auch deshalb abwärts gegangen, weil eine neue schwarze Füh- rungsschicht ihre Länder rigoroser aus- plündert als einst die Weißen. Die Elite, die weder Patriotismus noch Arbeitsethik kennt, hat nur eines im Sinn: Kasse ma- chen. Mobutu und seine Hofkamarilla transferierten jahrzehntelang fast die kom- pletten Erlöse der kongolesischen Kupfer- minen an der Staatsbank vorbei auf Aus- landskonten. Der Führer wurde einer der reichsten Männer, sein Volk eines der ärm- sten der Welt. Viele Afrikaner nehmen ihren Staat nur noch als Raubritter wahr: Er gibt ihnen kei- ne Schulen, keine Krankenhäuser, keine Straßen, keinen elektrischen Strom mehr.

Staatsdiener funktionieren nur noch mit REUTERS „Matabiche“ (Schmiergeld). Polizisten und Regierungstruppen, Kabila-Porträt in Kinshasa*: Diamanten für die Alliierten Soldaten kassieren Wegzölle von Bürgern, die sie eigentlich beschützen sollen. Diktators Mobutu. Jetzt dient er hier in ihn sind sie nichts als Marionetten Ugandas In weiten Teilen Afrikas ist die Staats- Kisangani der Kongolesischen Samm- und Ruandas. gewalt implodiert. Kriminelle Banden ha- lungsbewegung für Demokratie (RCD). In Beide Seiten haben keine Mühe, in die- ben die Macht übernommen. Die Bevöl- ein paar Wochen sollen von hier aus die sem geplagten, ausgebeuteten Land Frei- kerung wächst und zerstört die Umwelt. neuen Kämpfer als Verstärkung zu rund willige zu finden. Die Rekrutin Dive weiß Verteilungskämpfe um knapper werden- 45000 Kameraden an die Front geschickt nicht, daß in den letzten Wochen 8000 Auf- de Ressourcen münden in Anarchie. Der werden, um die Revolte gegen Präsident ständische gefallen sind. Sie sagt, sie wol- amerikanische Autor und Kulturpessimist Kabila zu unterstützen. le heiraten, wenn Kabila erst einmal verjagt Robert Kaplan sieht in der afrikanischen Nur 18 Monate nach Mobutus Flucht ist, „am liebsten natürlich einen Soldaten“. Anarchie schon den Einstieg in den Zu- herrscht wieder Krieg im Herzen Afrikas. Bis auf weiteres beherrscht der Mobutu- sammenbruch der Zivilisation. Die Demokratische Republik Kongo mit Nachfolger noch den größeren Teil des Noch provozierender hat der schwar- ihren 50 Millionen Einwohnern droht zu kongolesischen Riesenreichs. Die Rebellen ze US-Journalist Keith Richburg, der drei zerbrechen. Mobutus Bezwinger Kabila er- halten den Osten und haben im August Ki- Jahre lang als Korrespondent der „Wa- wies sich nach seiner Ernennung zum sangani, die drittgrößte Stadt des Kongo shington Post“ aus Afrika berichtete, die Präsidenten als ebenso korrupt und auto- am Kongo-Fluß, eingenommen. Kisanga- Hoffnungslosigkeit artikuliert: „Gott sei ritär wie sein Vorgänger. RCD-Chef Ernest ni, 1300 Kilometer von Kinshasa entfernt, Dank, daß meine Vorfahren als Skla- Wamba dia Wamba nennt ihn einen Feu- gilt als wichtigste Bastion auf dem Weg zur ven verschleppt wurden und mir ein dalherrn, der ausschließlich angetrie- Macht; seit der Unabhängigkeit 1960 stand Schicksal in diesem Elendskontinent er- ben werde von dem Interesse, sich zu spart blieb.“ Hans Hielscher bereichern. * Mit der Losung „Dieser Mann hat uns gefehlt“.

126 der spiegel 3/1999 C. GALBE / SABA Ausbildung von Rekruten der Rebellenarmee in Kisangani: „Kabila, wir werfen dich den Krokodilen zum Fraß vor“ die Stadt immer wieder im Brennpunkt schinen und eine weißlackierte Boeing aus tiger Führer einer ostafrikanischen Konfö- kriegerischer Auseinandersetzungen. Südafrika im Dienste des RCD fliegen im deration. Zudem locken die Rohstoffe der Die wechselvolle Geschichte hat Kisan- Pendelverkehr ständig frische Truppen Region: tropische Hölzer, Kaffee, Gold und gani sichtbar gezeichnet.Viele Gebäude lie- nach Kisangani. Die mit Kalaschnikow- Diamanten. gen in Trümmern. Von den wuchtigen Ko- Schnellfeuergewehren bewaffneten Re- Im Diamantenkontor „Big Joe“ in Ki- lonialvillen und den Verwaltungsbauten kruten sind zwischen 14 und 16 Jahre alt. sangani herrscht seit dem Einmarsch der der Mobutu-Ära blättert der Putz, Lianen Die Einheimischen sagen, es sei ihnen Rebellen reges Treiben. Immer häufiger wuchern durch Mauern und zerbrochene nie so schlecht gegangen wie jetzt. Sie has- tauchen Briten, Amerikaner und Südafri- Lamellenfenster. In Goldfischteichen wach- sen besonders die Fremden, die bei den kaner auf, die sich bestens mit den Offi- sen Bananenstauden. Der Dschungel er- Rebellentruppen das Kommando führen. zieren aus Ruanda und Uganda verstehen. obert die Schmuckstücke belgischer Kolo- Die Fährleute, die in Kisangani in Einbäu- Sie fliegen in gecharterten Maschinen ein, nialarchitektur langsam, aber sicher zurück. men über den Kongo setzen, wechseln kein verfügen über Autos und Satellitentelefo- An Kisanganis Straßenkreuzungen sit- Wort mit den ruandischen Soldaten, wenn ne. Offenbar holt sich Uganda mit dubio- zen Kinder mit aufgeblähten Bäuchen und diese sich aus der Lukusa-Kaserne auf die sen Geschäften das Geld für seine Inter- rotverfärbten Haaren – Symptomen le- andere Seite des Flusses bringen lassen. vention zurück, die bereits 40 Millionen bensbedrohender Unterernährung. Fast „Die Menschen betrachten die Soldaten Dollar gekostet haben soll. Ein Bruder Prä- alle internationalen Hilfswerke haben ihre als Invasionstruppen, das sind Tutsi, die ge- sident Musevenis pflegt Kontakte zu kon- Mitarbeiter abgezogen, weil die Arbeit hier gen die Bantu kämpfen“, heißt es in einem golesischen Handelsfirmen, Museveni-Ver- lebensgefährlich geworden ist. Papier des Erzbischofs von Kisangani. Die trauter James Kazini tritt als Kommandant Seit der Einnahme durch die Rebellen nilotischen Volksgruppen, zu denen die in Kisangani auf. kommen keine Versorgungsschiffe mehr Tutsi gehören, und die Bantu sind seit Jahr- Der selbstherrliche Präsident Simbab- aus Kinshasa den Kongo-Fluß herauf. Die hunderten Rivalen. Nachdem sie in der wes, Robert Mugabe, hat 10000 Soldaten in Straßen nach Goma und Bunia im Osten Kivu-Provinz angegriffen worden waren, den Kongo geschickt, der Krieg kostet sein des Landes sind zerstört oder werden von sollen Tutsi-Soldaten kurz nach Neujahr bettelarmes Land täglich eine Million versprengten Kabila-Einheiten und loka- über 500 Menschen massakriert haben.An- Dollar. Das Expeditionskorps hat schon len Banden unsicher gemacht. Jede Tüte geblich standen sie unter dem Kommando mehrere Flugzeuge und Hubschrauber ver- Mehl, jedes Medikament muß deshalb ein- eines Offiziers aus Ruanda. loren, über die Zahl der Toten wird ge- geflogen werden. Nach amtlicher Lesart sind die Militärs schwiegen. Sie muß beträchtlich sein. Um Aus Goma an der Grenze nach Ruanda aus Ruanda und Uganda im östlichen Kon- die Moral der Truppe zu heben, verdop- bringen Transportmaschinen Säcke mit go, um die Grenzen ihrer Länder gegen pelte Mugabe den Sold. Salz, Zucker, Kartons mit Zigaretten und Angreifer zu schützen, die sich dort in Im Herrschaftsbereich der Regierungs- Plastikcontainer mit Speiseöl. Sogar Ma- wechselnden Koalitionen zusammenrot- truppen haben die Simbabwer Schürfrech- niok und Kartoffeln kommen über die ten. Doch die Menschen in Kisangani wol- te an den immensen Diamantenvorkom- Luftbrücke. Diese Grundnahrungsmittel len nicht einsehen, daß die Fremden zu men von Mbuji-Mayi in der Provinz Ost- wurden seit je im fruchtbaren Umland der Verteidigungszwecken über 500 Kilometer Kasai erworben. Zur Sicherheit haben die Stadt angebaut. Doch die Felder sind we- tief in ihr Land eindringen mußten. Verbündeten auch gleich die Kontrolle gen der Bürgerkriegswirren in den letzten Tatsächlich verfolgen Ruanda und Ugan- über die staatliche kongolesische Minen- anderthalb Jahren nur unregelmäßig be- da im Kongo eigennützige strategische und gesellschaft Gecamines übernommen.Vor- stellt worden. auch wirtschaftliche Interessen. Die Tutsi standsvorsitzender ist seit einigen Mona- Flugzeuge aus Goma schaffen auch das träumen von einem Großreich rund um die ten der ehemalige Transportunternehmer Kanonenfutter für den Krieg gegen Kabila Großen Seen. Und der ugandische Präsi- und Rennfahrer Billy Rautenbach aus heran. Russische Antonow-Transportma- dent Yoweri Museveni sieht sich als künf- Simbabwe. Christoph Plate

der spiegel 3/1999 127 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

KOLUMBIEN Dollar für den Frieden Durch umfangreiche Aufbauhilfe will die Regierung den Bürgerkrieg beenden und Kleinbauern eine Alternative zum Mohn- und Koka-Anbau bieten.

Stroms werden von den Guerrillabewegungen Revo- lutionäre Streitkräfte Ko- lumbiens (Farc) und Natio- nales Befreiungsheer (ELN) beherrscht. Die Guerrilleros liefern sich erbitterte Schlach- ten mit den sogenannten Selbstverteidigungsgruppen, die im Sold von Großgrund- besitzern, Minengesellschaf- ten und Drogenbossen ste- hen. Die Paramilitärs be- kämpfen nicht nur die Rebellen. Sie vertreiben auch die Bauern und schu- stern das Land ihren Brot- herren zu. Dabei werden sie von einigen Armeekomman- deuren mit Hubschraubern unterstützt. Reinerio Lobo, ein ange- sehener Bürger der Gemein- de, berichtet, wie die Be- wohner von Arenal die ELN daran hinderten, sich im Ort einzunisten. „Vielleicht ha-

REUTERS ben die Paramilitärs deshalb Guerrilla-Patrouille bei San Vicente: Das Establishment soll den Frieden kaufen hier kein Massaker angerich- tet. Aber gerade weil sie uns m Rande des schillernden Tümpels schonten, müssen wir jetzt die Rache der wuchern smaragdfarbene Palmen, Karibik Guerrilla fürchten.“ tiefgrüngelackte Gummibäume und M Arenal ist voll von Flüchtlingen. Die a A g lila Bougainvilleen. Die Landschaft sieht d Leute aus Mejía zum Beispiel hatten drei a

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e

aus wie koloriert. Es regnet. Der Reiter auf Arenal n Tage, um ihren Weiler zu räumen. Dann a seinem Maultier weicht einer Rotte schwar- Pazifik VENEZUELA fielen die Paras, wie die Todesschwadronen zer Schweine aus, die mitten auf der Medellín Barrancabermeja hier genannt werden, ins Dorf ein. Sie plün- Schlammpiste, der einzigen Zufahrt zur Bogotá derten die Hütten und steckten sie in Gemeinde Arenal, auf hohen, dürren Bei- entmilitarisierte Brand. Über eine Million Menschen, für nen einherstaksen. Der Lastwagen muß Zone deren Vertreibung überwiegend die Para- warten, aus der Fahrerkabine tönen San Vicente militärs verantwortlich sind, irren durchs schluchzende Gesänge von Leidenschaft KOLUMBIEN Land, auf der Suche nach einem Flecken und Verrat. Erde, den sie gefahrlos beackern können. BRASILIEN Das Dorf mit seiner Kirche und den ECUADOR Viele landen in den Elendsvierteln der ebenerdigen Häusern in kräftigen Pastell- Großstädte. tönen, gegründet im 16. Jahrhundert, wur- 500 Kilometer Der Krieg hat im vergangenen Jahr 5000 de mitten ins Paradies gebaut. Es erinnert PERU Opfer gefordert. Fast drei Viertel der Toten an Macondo, den sagenumwobenen Schau- gehen auf das Konto der Paras. Die 4000 platz des Romans „Hundert Jahre Ein- Mann unter dem Oberbefehl des Banden- samkeit“ von Gabriel García Márquez. die Kasse aus dem Safe und fackelten die führers Carlos Castaño, 33, haben das neue Arenal ist keine Idylle. Das Bürgermei- Barschaft der Gemeinde auf der Straße ab. Jahr mit einem Blutbad begonnen: Im steramt ist ausgebrannt, geborstenes Glas, Das fruchtbare, an Gold, Erdöl und Edel- ganzen Land schlachteten sie mindestens angekohlte Balken und verschmorte Möbel steinen reiche Hinterland des mächtigen 140 Männer, Frauen und Kinder ab, die sie zeugen von dem Anschlag, den 200 be- Magdalena-Flusses nordwestlich der Raffi- als Sympathisanten der Guerrilla in Ver- waffnete maskierte Männer im November nerienstadt Barrancabermeja ist einer der dacht hatten. verübt haben. Sie zerstörten im Verwal- Hauptkampfplätze des kolumbianischen Doch gerade die Eskalation des Krieges tungssitz Computer und Telefone, rissen Bürgerkriegs. Die Berge zur Linken des scheint darauf hinzudeuten, daß der Frie-

130 der spiegel 3/1999 de nahe ist. Seit dem 7. Januar verhandeln Stärke aus: In den vergangenen Vertreter der Regierung mit Abgesandten zwei Jahren verdoppelte seine der Farc über eine Lösung des Konflikts. Farc ihre Schlagkraft auf 12000 Auch die Paramilitärs wollen jetzt als Mann. Die Guerrilleros brach- Kriegspartei ernst genommen werden. ten dem Militär empfindliche Deshalb versuchen sie, mit Gewaltakten Niederlagen bei. Sie haben letz- Parallelverhandlungen zu erzwingen. tes Jahr 1000 Soldaten und Po- Der Krieg hat in 40 Jahren rund 200000 lizisten getötet und 315 ver- Menschen das Leben gekostet. Zehnmal schleppt, die sie jetzt gegen 480 sind Friedensinitiativen gescheitert. Doch einsitzende Compañeros aus- noch nie ist ein Präsident so weit gegangen tauschen wollen. wie der Konservative Andrés Pastrana. Er Die Farc kontrolliert rund 450 hatte die Wahl im Juli zum Plebiszit für der 1075 Landkreise Kolum- Verhandlungen mit den Aufständischen ge- biens, in weiteren 250 im Nor-

macht. In einem Dschungelversteck nahm AFP / DPA den und Westen operieren die er den wohl ältesten Guerrillaführer der Guerrilla-Chef Marulanda, Präsident Pastrana 3000 ELN-Kämpfer. Die ELN Welt, Manuel Marulanda, 70, Spitzname Umarmung im Dschungelversteck finanziert sich hauptsächlich Tirofijo (sicherer Schuß), freundschaftlich mit Lösegeld, das sie ausländi- in die Arme. US-Botschafter Curtis W. Kamman, ein schen Konzernen für entführte Mitarbeiter Pastrana hat die widerstrebenden Mi- Vertreter Fidel Castros und das diplomati- abpreßt. Auch ELN-Führer wollen im Fe- litärs dazu gebracht, alle ihre Truppen für sche Corps wollten am Tag nach dem Drei- bruar mit der Regierung über einen Frie- drei Monate aus einem Gebiet im Süd- königsfest Zeugen eines Händedrucks von densdeal reden. osten, das so groß wie die Schweiz ist, ab- Pastrana und dem legendären Tirofijo sein. Die Staatsgewalt erreicht zwei Drittel zuziehen. Ohne Verhaftung fürchten zu Doch der Fototermin fiel ins Wasser. Der Kolumbiens nicht mehr. Vielerorts waren müssen, sollen Guerrilleros mit Beauftrag- alte Fuchs erschien nicht. Seine Leute woll- Regierung und Justiz noch nie präsent. ten der Regierung Zeitplan und Themen- ten aufgedeckt haben, daß Paramilitärs ein 95 Prozent der Verbrechen bleiben deshalb liste für die Friedensverhandlungen fest- Attentat als Revanche für einen Farc-An- ungesühnt. Die Richtlinien der Politik wer- legen. griff auf das Lager ihres Chefs Castaño den bestimmt von den reichen Familien in Der Start zur ersten Gesprächsrunde in planten. den feinen Vierteln der Großstädte. San Vicente war als werbewirksame Show Tirofijo scheint grundsätzlich zum Frie- In der dünnbesiedelten Dschungel- und angelegt. 2000 Gäste und Journalisten, dar- den bereit, denn seine Lage kann er mi- Savannenregion im Süden machen die unter Nicaraguas Ex-Staatschef Daniel Or- litärisch nicht mehr verbessern. Immer- marxistischen Farc-Guerrilleros die Geset- tega, Nobelpreisträger García Márquez, hin, er verhandelt von einer Position der ze. Die Männer im grünbraunen Tarnanzug Ausland kassieren überall mit: Impfgebühr (vacuna) partment in Costa Rica mit einem Abge- Gesellschaft eingegliedert werden. „Der für jedes Stück Vieh und Schutzgelder von sandten der Farc zusammen, um sich davon private Sektor muß ihnen Land oder ei- der Drogenmafia, die von Kleinbauern die zu überzeugen, daß es die Guerrilla mit nen Job geben, damit sie nicht als Krimi- Koka- und Mohnernte aufkauft, in gehei- dem Rückzug aus dem Drogengeschäft nelle enden.“ men Labors verarbeitet und die Produkte ernst meint. Gleichzeitig rüstet der mäch- Das Parlament hat beschlossen, daß rei- mit Flugzeugen außer Landes schafft. Das tige Freund im Norden die kolumbiani- che Kolumbianer zwei Jahre lang „Bonos Verteidigungsministerium schätzt, daß die schen Streitkräfte mit 289 Millionen Dollar de Paz“ (Friedensanleihen) im Umfang von Guerrilleros mehr als 300 Millionen Dollar für den Drogenkrieg auf. Überdies schickt jeweils 0,6 Prozent ihres beweglichen Ver- jährlich allein vom Rauschgifthandel ab- das Pentagon 300 Berater, die den Anti- mögens zwangszeichnen müssen. Die Bo- schöpfen. Rauschgift-Spezialeinheiten dabei helfen nos sind Grundstock des „Investitionsfonds Jetzt will sich die Farc den Frieden ab- sollen, den Drogenkartellen mit ihren Rie- für den Frieden“, der überdies von der Re- kaufen lassen, um endlich ihre militärische senplantagen den Garaus zu machen. gierung, der Interamerikanischen Entwick- in ökonomische und politische Macht zu Das Interesse der USA, da ist sich der lungsbank und von ausländischen Kredit- verwandeln. Sie hat eingesehen, daß ein Soziologe Hernando Gómez Buendía si- gebern aufgestockt werden soll. Insgesamt sozialistischer Umsturz anachronistisch cher, werde dafür sorgen, daß der kolum- hofft Präsident Pastrana in den vier Jahren wäre. Deshalb hat Tirofijo die Regierung bianische Staat erstmals Geld im großen seiner Amtszeit 3,5 Milliarden Dollar in die wissen lassen, daß er bereit ist, in seiner Umfang in die Guerrillagebiete investiert. Konfliktzonen pumpen zu können. Uno-Organisationen und inter- nationale Hilfswerke, auch die deutsche GTZ, sollen Projekte zur Wiederaufforstung und zum An- bau legaler Nutzpflanzen entwer- fen. Sie müssen dabei helfen, regionale Verwaltungen aufzu- bauen. Uno-Koordinator Frances- co Vincenti verheißt enthusia- stisch, Kolumbien werde sich vom „Kriegstheater abwenden und in ein Friedenslabor verwandeln“. Über die soziale und eine poli- tische Reform, die die Bürger be- teiligt, werden sich Regierung und Aufständische wohl einigen kön- nen. Doch Präsident Pastrana ver- langt „ein deutliches Signal“ für den Friedenswillen der Farc bis zum 7. Februar, dem Termin, an dem die Soldaten wieder in ihre Stützpunkte einrücken sollen. Un- ter dem Bild des Nationalhelden Simón Bolívar, des Befreiers vom Joch der spanischen Kolonialher- ren, erklärt Pastrana, was er von

Y. GELLIE / GAMMA STUDIO X Y. Tirofijo erwartet: einen Waffen- Koka-Ernte in Kolumbien: Wohlstand ohne Drogen? stillstand oder wenigstens die Frei- lassung der Entführten. Einflußzone die Produktion von Rauschgift „Das Establishment wird gezwungen, et- Die Guerrilleros wollen aber vorerst zu unterbinden. Die Regierung müsse der was abzugeben“, sagt der Wissenschaftler. nicht abrüsten. Denn nach dem letzten Bevölkerung aber neue Einkommensquel- Jetzt zeigt selbst die Oberschicht, die einst Friedenspakt ihrer Kollegen in den achtzi- len erschließen. Selbstverteidigungstrupps zu ihrem Schutz ger Jahren brachten Todesschwadronen Der Augenblick ist günstig. Die USA ha- aufstellte, Bereitschaft, für den Frieden zu 3000 Mitglieder der neugegründeten Partei ben in den vergangenen Jahren viele Mil- zahlen. Denn der Krieg ist zu kostspielig Patriotische Union um. Die Aufständischen lionen Dollar für Sprühaktionen gegen geworden, die Wirtschaft versinkt immer fordern, daß das Militär zuerst die An- Koka-Plantagen in Lateinamerika ausge- tiefer in der Krise. schläge der Paramilitärs abstellt. Und das geben – umsonst. Jede halbwegs vernünf- „Ich will den Frieden privatisieren“, sagt kann lange dauern. tige Alternative ist jetzt willkommen. mit selbstbewußtem Lächeln Präsident Pa- Mag sein, daß Pastranas Plan, der welt- Nun hat Pastrana US-Präsident Bill Clin- strana in seinem Amtssitz, dem Palacio Na- weites Interesse geweckt hat, nur langsam ton seine Vision nahegebracht: Nur wenn riño in der Altstadt von Bogotá. Um das und gegen große Widerstände umgesetzt Fortschritt und Wohlstand die vernachläs- rechte Handgelenk trägt er ein weißes werden kann. Er ist jedoch Kolumbiens sigten Landesteile erreiche, wo die Bau- Schnürchen, das so gar nicht zum gestärk- einzige Chance. „Andernfalls“, so sagt der ern unter der Protektion der Guerrilla vom ten Streifenhemd, dem perlgrauen Anzug Chef der Liberalen, der ehemalige Innen- Rauschgift leben, könnten Mohn und Koka und der hellblauen Krawatte paßt: den minister Horacio Serpa, „kommt es zur ausgerottet werden. Ein Aufbauplan nach Glücksbringer für den Friedenspakt, den Explosion der Gesellschaft. Daran wird das dem Muster der amerikanischen Hilfe für ihm Arawak-Indianer umgebunden haben. Land zerbrechen.“ Europa nach dem Zweiten Weltkrieg soll Pastrana, Ex-Moderator einer TV-Nach- Wenn auch diesmal keine Einigung zu- den Farmern eine menschenwürdige Exi- richtensendung, versichert wortgewandt, stande kommt, wird sich keiner mehr dem stenz garantieren. die Unternehmer hätten ihm für sein Mam- Konflikt entziehen können. Dann wird der Clinton unterstützt den Vorschlag. Im mutprojekt großzügige Unterstützung an- Krieg auch in die vornehmen Salons der Dezember traf ein Beamter des State De- geboten. 15000 Guerrilleros sollen in die Städte vordringen. Helene Zuber

132 der spiegel 3/1999 GROSSBRITANNIEN Gutmütiger Onkel Bruderzwist im Londoner Kabinett: Die Premier-Aspiranten rüsten zum Kampf um die Nachfolge Tony Blairs.

chlecht erholt meldete sich Premier- minister Tony Blair vorigen Mittwoch Sbei der Labour-Fraktion im Parlament von Westminster zurück. Sein Seychellen- Urlaub war von der „Schwarzen Weih- nacht“ verdunkelt worden, einer plötzli- chen Eruption von Kabinettsintrigen, de- nen sein Vertrauter Peter Mandelson und zwei weitere Whitehall-Stars zum Opfer gefallen waren. Blair war entschlossen, einen Schluß- strich unter die Querelen zu ziehen. Doch

die Getreuen hatten anders disponiert. REUTERS „Wir sind die disziplinierteste Parlaments- Labour-Führer Blair, Prescott, Brown: Ruch einer korrumpierbaren Partei fraktion, an die ich mich erinnern kann“, schimpfte die Labour-Veteranin Gwyneth Skandalen. Schon fürchten Fraktionsmit- Labour-Chefs John Smith angetreten hat- Dunwoody. „Es ist ein Jammer, daß einigen glieder, Labour könne in den Ruch einer te. Seine Verbündeten behaupten, Brown Kabinettsmitgliedern diese Disziplin of- korrumpierbaren Partei geraten. habe auf einen Kampf um die Partei- fenbar fehlt.“ Kaum waren die letzten Kabinettsrück- führung verzichtet, weil Blair ihm zugesi- Der ehemalige Fraktionsgeschäftsführer tritte aus den Schlagzeilen verdrängt, da chert habe, er werde nach zehn Jahren als Derek Foster beschwerte sich darüber, daß sorgte die Rache seiner geschiedenen Frau Labour-Chef freiwillig zurücktreten und das Parlament zum „Schoßhund des Pre- dafür, daß Außenminister Robin Cook nun ihm das Amt überlassen. mierministers“ verkommen sei. Blair treffe als labiler Weiberheld mit zeitweiligen Ambitionen auf Downing Street hatte wichtige Entscheidungen ausschließlich im Alkoholproblemen dasteht. Genüßlich be- auch der inzwischen zurückgetretene kleinen Kreis seiner Vertrauten. „Er ist nur schrieben britische Kommentatoren, wie Blair-Vertraute Mandelson. Doch der Ko- Primus inter pares, und das heißt, ich bin ge- sich Blair offenbar in ein Abbild seines un- Architekt von New Labour ist in seiner nausoviel wert wie er“, erkühnte sich Foster. glücklichen Vorgängers John Major ver- eigenen Partei so unbeliebt, daß die Frak- Der – einstweilen nur verbale – Frak- wandelt. tionsspitze vergangene Woche Blair das tionsaufstand ist einer von mehreren Be- Blair wolle keinem Kabinett vorsitzen, Versprechen abforderte, es dürfe kein legen dafür, daß der politische Alltag das so hieß es in der „Financial Times“, dessen schnelles politisches Comeback für Man- stabile Stimmungshoch für die Regierung mangelnde Disziplin ihn wie einen gut- delson geben. erschüttert hat. Blair, der im Mai für seine mütigen, aber schwachen Onkel aussehen Streit unter den Ministern und in der Wiederannäherung an Europa und für sei- läßt. Daß gerade dieses Bild dennoch ent- Partei hatte sich in letzter Zeit immer wie- ne Friedenspolitik in Nordirland den In- stehen konnte, hat sich Blair selbst zu- der auch an Blairs Flirt mit den Liberal- ternationalen Karlspreis der zuschreiben. Bis heute ist demokraten entzündet. Gegen Bedenken Stadt Aachen erhält, muß er nicht den Gerüchten seines Stellvertreters John Prescott hofiert sich damit abfinden, daß entgegengetreten, er werde der Premierminister die liberale Partei von ihm nicht mehr alles gelingt. nach einer Wiederwahl Paddy Ashdown, um so die Tories auf lan- Zum erstenmal seit dem schon im Laufe der näch- ge Zeit von der Macht auszuschließen. glänzenden Wahlsieg vor 20 sten Amtszeit zurücktre- Prescott glaubt wie der Schatzkanzler und Monaten sackten die Zu- ten. Das Ergebnis des andere Kabinettsgrößen, daß ein solcher stimmungsquoten für die Schweigens war, daß die Zusammenschluß viele bürgerliche Wähler Regierung am Jahresanfang ansonsten ganz normalen wieder in das Lager der Tories treiben unter 50 Prozent. Wichtige Rivalitäten im Labour-Ka- könnte. Wahlziele sind gefährdet. binett mit der Bitterkeit von Den historischen Streit zwischen den Fast wie Hohn klingt das Diadochenkämpfen ausge- Liberalen und Labour hält Blair für Versprechen von Schatz- tragen wurden. den wesentlichen Grund dafür, daß das kanzler Gordon Brown, 47, Schatzkanzler Brown 20. Jahrhundert zum „Jahrhundert der nach einem „Jahr der An- sieht sich noch immer als Konservativen“ werden konnte. Sein kündigungen“ sei nunmehr der natürliche Erbe seines Hausdemoskop Philip Gould, einer der das „Jahr der Erfüllung“ Freundes Blair. Er hat nie einflußreichsten Berater des Premiers, ist angebrochen. überwunden, daß der cha- sogar der Überzeugung, daß die Blair- Ebenso schädlich für das rismatischere Blair und Revolution erst dann vollendet wer-

Ansehen der Regierung ist SUTCLIFFE / SIPA J. nicht er 1994 die Nachfolge de, „wenn Liberale und Labour sich ver- eine Reihe von Affären und Blair-Vertrauter Mandelson des plötzlich verstorbenen einen“. Hans Hoyng

der spiegel 3/1999 133 Ausland

BRASILIEN „Er hat meine Tochter gestohlen“ Ein Richter nahm Hunderten von Frauen die Kinder weg – und gab sie zur Adoption ins Ausland. Nun will die brasilianische Justiz sie wiederhaben.

na ist ein aufgewecktes Kind. Mit ihren Adoptiveltern, einem Aka- Ademikerehepaar aus Ostdeutsch- land, plappert die Dreieinhalbjährige, die erst vor einem halben Jahr aus Brasilien in ihre neue Heimat kam, schon deutsch. „Sie hat sich prima eingelebt“, freut sich der Vater. Das deutsche Paar hat das Mädchen mit den wachen Augen und dem lockigen Haar vor einem halben Jahr in Jundiaí adop- tiert, einer Industriestadt bei São Paulo. Die Herkunft des Kindes kannten die bei- den nicht, auch nicht den Namen der leib- lichen Mutter. Sie erhielten die Auskunft, daß das Mädchen, das seit eineinhalb Jah- ren im Heim war, aus einem Elendsviertel stammte. Der Jugendrichter von Jundiaí, Luiz Beethoven Giffoni Ferreira, hatte Anas Mutter Elizângela Rodrigues, 21, das Sor- gerecht entzogen: Sie habe ihre Tochter

mißhandelt und sei weder willens noch in M. ENDE / BILDERBERG der Lage, die Kleine aufzuziehen. Beraubte Mutter Barbosa: Abgewimmelt von der Sekretärin des Richters Frau Rodrigues lebt mit ihrem Vater, einem Bruder Das Gezerre um das 204 Babys und Kleinkinder vermittelte er und ihren zwei verbliebe- kleine Mädchen ist die an Ehepaare im Ausland, zumeist in Euro- nen Kindern in einer klei- Spitze eines Justizskandals, pa und den USA. Im nahen Campinas mit nen Wohnung am Stadt- der seine Kreise bis nach dreimal so vielen Einwohnern genehmigte rand. Das Apartment ist Deutschland, Italien und in der zuständige Jugendrichter in demselben sauber und aufgeräumt, die die USA zieht. Mit frag- Zeitraum nur 40 Adoptionen. Kinder machen einen fröh- würdigen Methoden hat Bei ausländischen Interessenten sprach lichen und gesunden Ein- Richter Ferreira Hunderten sich der Name Ferreira schnell herum. Der druck. „Ich liebe meine von Frauen aus Jundiaí das Mann war ein Geheimtip. Ein Ehepaar Tochter und habe sie nie Sorgerecht entzogen und aus dem Rheinland, das ebenfalls ein Kind geschlagen“, beteuert die die Kinder zur Adoption aus Jundiaí hat, empfahl den Richter in junge Frau weinend. „Der ins Ausland freigegeben. Deutschland. Die Ausländer wußten nicht, Richter hat sie mir zu Un- Jeden Montag trifft sich wie Ferreira verfuhr; sie waren froh über recht weggenommen.“ Elizângela mit über 50 die gebotene Möglichkeit. Das hat das übergeord- Müttern auf dem Platz vor Erst die anschwellenden Proteste der nete Gericht von São Paulo dem Gerichtsgebäude. Die Mütter alarmierten die brasilianische Ju- bestätigt. Schon am 4. Juni Richter Ferreira Frauen verteilen selbst- stiz. Seit Juli ermittelt die Bundespolizei 1998 hatte es die Entschei- gebastelte Stoffpuppen, gegen den Richter wegen des Verdachts auf dung des Jugendrichters aufgehoben. Rich- die nach ihren Töchtern und Söhnen be- Kinderhandel. Ein Untersuchungsrichter, ter Ferreira habe auf eine anonyme Anzei- nannt sind. die Menschenrechtskommission und die ge hin gehandelt, heißt es in dem Urteil, er Als Symbol der Hoffnung haben sie grü- Staatsanwaltschaft von São Paulo über- habe kein psychologisches Gutachten er- ne Tücher um den Hals geschlungen. Wie prüfen derzeit sämtliche Adoptionsverfah- stellen lassen, und für eine Kindesmiß- ihr Vorbild, die berühmten „Mütter von ren in Jundiaí. handlung gebe es keinerlei Beweise. der Plaza de Mayo“ in Argentinien, die „Alle Prozesse weisen Verfahrensfehler Richter Ferreira ließ Ana, ausgestattet nach verschwundenen Opfern der Militär- auf“, sagt Maria Dolores Gonçalves von mit ordnungsgemäßen Papieren, am 23. Ju- diktatur fahnden, wollen sie wissen: „Wo der Staatsanwaltschaft. In elf Fällen habe ni mit ihren neuen deutschen Eltern aus- sind unsere Kinder?“ der Richter so grob gegen das Gesetz ver- reisen. Er behauptet, er sei zu spät aus São Fest steht: In keiner brasilianischen Stadt stoßen, daß sie wieder aufgerollt werden Paulo benachrichtigt worden. „Er hat mir wurden vergleichsweise so viele Kinder ab- müssen, sechs Fälle befinden sich bereits in meine Tochter gestohlen, so wie er es mit gegeben wie in Jundiaí mit seinen 400000 Revision. Ende Dezember wurde Ferreira anderen Frauen gemacht hat“, klagt dage- Einwohnern. Seit 1992 hat Ferreira insge- die Verantwortung für Kinder und Ju- gen Elizângela. samt 484 Kinder zur Adoption gegeben, gendliche entzogen.

134 der spiegel 3/1999 Bis zur Entscheidung über seine end- lie war ihm egal“, sagt Rechtsanwalt Mar- Kaum eine der Mütter von Jundiaí ent- gültige Absetzung wird voraussichtlich co Antônio Colagrossi, der die Mütter von spricht europäischen Vorstellungen von ei- noch ein Jahr vergehen. Bestätigt die Justiz Jundiaí vertritt. ner intakten Familie. Die meisten sind arm, den Verdacht, droht ein internationales Der Hausangestellten Silvana Barbosa, sie ziehen ihre Kinder oft allein auf, in Drama ohnegleichen. Brasiliens Justizmi- 34, nahm Ferreira alle vier Töchter weg: manchen Fällen haben sie den Nachwuchs nister Renan Calheiros will die Kinder not- „Angeblich war eine anonyme Anzeige auch der Großmutter anvertraut. „Nur in falls mit Hilfe des Außenministeriums und eingegangen, ich würde die Mädchen Extremfällen“, so Justizminister Calheiros, Interpol ausfindig machen und zu ihren mißhandeln“, berichtet die Frau. Als sie dürfe jedoch der Mutter das Sorgerecht leiblichen Eltern zurückholen. im Büro des Richters erschien, um Ein- entzogen werden. Der Skandal wirft ein böses Schlaglicht spruch zu erheben, wimmelte eine Se- Es war offenbar eine Art missionarischer auf den brasilianischen Adoptionsmarkt. kretärin sie ab. Eifer, der Ferreira dazu trieb, seine Befug- nisse zu mißbrauchen. Er mißverstand die Adoptionen als eine Art sozialer Säube- rung. Den meisten Kindern gehe es in Eu- ropa und den USA besser als in Brasilien, verkündete er in einem Interview und rühmte sich: „In meiner Stadt gibt es kei- ne Straßenkinder.“ Die Mutter der kleinen Ana hat insge- samt drei Kinder von drei verschiedenen Vätern. Um Anas Geschwister kümmerte sich vor allem der Großvater, der die Fa- milie ernährt. Als Elizângela wegen eines Liebhabers mit ihrem Bruder in Streit ge- riet, zeigte der sie anonym wegen Kindes- mißhandlung an. „Ich wollte ihr eine Leh- re erteilen“, sagt der junge Mann heute, „aber ich wollte nicht, daß ihr das Kind weggenommen wird.“ Doch tags darauf wurde Elizângela mit ihrer Tochter ins Ge- richtsgebäude gebracht. „Ich spielte mit Ana im Flur, als Ferrei- ra sie hereinrief“, erinnert sie sich. „Da- nach habe ich sie nie wieder gesehen.“

M. ENDE / BILDERBERG Anas deutsche Adoptiveltern konnten Demonstration der Mütter von Jundiaí: Grüne Tücher als Symbol der Hoffnung von dem Drama um das kleine Mädchen nichts ahnen. „Sonst hätten wir das Kind Dabei sind die Regeln normalerweise Estela de Godoy, 66, verlor ihre beiden nie angenommen“, versichert der Vater. streng. Bevor eine Mutter das Sorgerecht Enkel Paula Cristina, 2, und Herbert, 3: Für die Vermittlung der Kleinen bezahlten verliert, muß der Richter prüfen, ob nicht „Der Richter sagte, ich sei zu alt, um für sie 2000 Dollar Gebühr an eine Treuhän- Familienangehörige sich um das Kind küm- die Kinder zu sorgen.“ derin in São Paulo, die für viele deutsche mern können. Ist das nicht der Fall, muß er Die Straßenverkäuferin Iracema Apare- Ehepaare als Bevollmächtigte eintritt. brasilianische Adoptiveltern suchen, erst cida Alves, 37, verlor ihre zweieinhalb- Bislang gibt es keine Hinweise, daß der danach darf er das Kind an Ausländer ver- jährige Tochter und ihren siebenjährigen Richter sich an den Adoptionen bereicher- mitteln. Und bevor die heimreisen können, Sohn, nur weil der Vater mit den Kindern te. Er beteuert, bis auf den Fall der kleinen müssen sie einige Wochen mit dem Kind in in eine Polizeikontrolle geraten war und Ana seien alle seine Verfahren korrekt Brasilien verbringen. die Papiere nicht dabeihatte. „Als er am gewesen. Weitere Stellungnahmen lehnt Für viele amerikanische und europäi- nächsten Tag die Dokumente vorzeigte, er ab. sche Ehepaare wird so aus dem Wunsch, war es zu spät“, klagt Aparecida. „Richter Seine Vertraute Makowski pflegte aller- ein armes Baby aus dem Elend der Dritten Ferreira hat uns nicht einmal zu Hause dings Kontakte zu der italienischen Orga- Welt zu befreien, ein teurer und frustrie- besucht, um zu sehen, wie die Kinder auf- nisation AMI, die bei Adoptionen hilft, wie render Alptraum. Es ist schon mehrfach wachsen.“ die brasilianische Bundespolizei ermittelte. vorgekommen, daß ein Richter den An- Den siebenjährigen Leandro ließ Ferrei- Im Internet warb AMI um Spenden für eine wärtern das Kind kurz vor der Ausreise ra direkt aus der Schule abholen. „Er war private Kinderhilfsorganisation in Jundiaí wieder abnahm. vom Fahrrad gefallen und hatte sich dabei namens COMEJ, die von Makowski gelei- Richter Ferreira dagegen „sprach den verletzt“, erzählt seine Pflegemutter Maria tet wurde und der zeitweise auch Ferreira Müttern das Sorgerecht für ihre Kinder ge- das Neves dos Santos Silva. „Die Lehre- angehörte. nauso schnell ab, wie wenn er eine Schei- rin rief beim Richter an und sagte, ich hät- Ebenfalls im Internet findet sich ein Brief dung im gegenseitigen Einvernehmen au- te ihn geschlagen.“ Sie sah den Jungen nie Ferreiras, den dieser für eine italienische torisieren würde“, schrieb das Nachrich- wieder. Zeitschrift verfaßt hatte. In blumigen Wor- tenmagazin „Istoè“. Oft reichte ihm eine Im August machte der Richter Schlag- ten wendet er sich an die heranwachsenden anonyme Anzeige wegen Kindesmißhand- zeilen, als er einer Prostituierten aus Jun- Jundiaí-Kinder in Italien. lung. Die Staatsanwältin Inês Makowski, diaí, die als Stripperin im Hafenviertel von Anwalt Colagrossi will den brasiliani- die sein Vertrauen genoß, lieferte die nöti- Rio arbeitete, den zweijährigen Pflegesohn schen Staat für jedes Kind auf Entschä- gen Gutachten nach. Sie wurde inzwischen wegnahm. „Es gibt kein Gesetz, wonach digung verklagen. Den Müttern von Jun- versetzt. das älteste Gewerbe der Welt nicht mit diaí gehe es allerdings nicht um Geld, be- Meistens hörte der Richter die verzwei- einer verantwortungsvollen Mutterschaft teuern die Frauen. Elizângela Rodrigues felten Mütter nicht einmal an. „Er hat sich vereinbar wäre“, kritisierte die Zeitschrift sagt: „Ich will nur meine Tochter wieder- nur für die Kinder interessiert, ihre Fami- „Epoca“. haben.“ Jens Glüsing

der spiegel 3/1999 135 RUSSLAND 300 km Nischni Nowgorod

a k O Dserschinsk Moskau

a g

l KASSIN J. P. FOTOS: o „Weißes Meer“ vor Dserschinsk: Eine Giftspur bis zu den Kaviarbänken von Astrachan W KASACHSTAN

RUSSLAND Kaspisches Schwarzes Wasser im Brunnen UKRAINE Meer Nirgendwo in Rußland ist der Boden so vergiftet flammbare Flüssigkeit KS erdachten – je- nes Gemisch aus Phosphor und Benzin für wie in Dserschinsk. Einige Stadtteile gelten als unbewohnbar. die Molotow-Cocktails, mit denen die Rot- Aber niemand zieht weg. Wohin auch? armisten deutsche Panzer bekämpften. Auch jetzt noch wird in den unterirdi- olche Tage sind selten in Dserschinsk. Es paßt gut zum äußeren Bild, daß die schen Bunkern des Swerdlow-Werks Mi- Ein azurblauer Himmel wölbt sich Stadt Dserschinsk heißt – nach Felix Dser- litärsprengstoff und in der „Synthese“- Süber der Stadt, Neuschnee hat Müll- schinski, dem düsteren Gründer der Ge- Fabrik schwergiftiges Blei-Tetraethyl für halden und Schlaglöcher gnädig zugedeckt. heimpolizei Tscheka, der 1918 den „Roten Autobenzin erzeugt – „all das, was die Selbst die dicken Rauchschwaden über den Terror“ im Land entfesselte. In Dserschinsk übrige Welt inzwischen nur noch in Afrika Chemiefabriken, die die Stadt Dserschinsk, steht er in Bronze noch heute unberührt im produzieren läßt“, sagt Witalij Beresin. knapp 400 Kilometer östlich von Moskau, Zentrum der Stadt – auf dem Dserschinski- Dennoch ist Dserschinsk wirtschaftlich wie eine eiserne Klammer umfassen, wir- Platz. am Ende. Die Anlagen sind veraltet, die ken heute wie eine feinziselierte Tusch- Im „Swerdlow“-Werk wurden früher Produktion ist zu teuer. Jelzins Rußland zeichnung: Pechschwarz steigen sie aus Raketengeschosse mit Sprengstoff gefüllt, hat die sozialistische Musterstadt fallenge- den Schloten, um sich dann vor der aufge- das Kombinat „Orgsteklo“ produzierte lassen wie eine lästig gewordene Geliebte. henden Sonne rot einzufärben und schließ- Kunststoffglas für Armeeflugzeuge, in der Die Siedlung Pjotrjajewka liegt an ei- lich durch die klirrende Frostluft zur nahen „Kalinin“-Fabrik wurden Grundstoffe für nem Schlammloch namens „Weißes Meer“, Wolga zu segeln. Senfgas hergestellt – jenen Kampfstoff, an in das die Fabriken ihre Abwässer einleiten Pjotrjajewka, die Siedlung gleich hinter dem im Ersten Weltkrieg Tausende Fran- und das sich bereits 55 Hektar weit in die den Werken, hätte schon längst geräumt zosen, Russen und Deutsche erblindeten Landschaft gefressen hat. Über einen Ka- werden sollen, weil sie auf hochgiftigem oder erstickten. nal gelangt die Brühe in die Oka, von Boden steht. Aber für eine Umsiedlung Das Ortsmuseum feiert noch „unsere dort bei Nischni Nowgorod in die Wol- fehlt das Geld. Deshalb ist alles beim alten findigen Ingenieure“, die die selbstent- ga und dann bis zu den Kaviarbänken geblieben, und deshalb lebt auch von Astrachan und ins Kaspische Witalij Beresin noch hier. Meer. Witalij hat von dem Gift im Boden Die Nowgoroder nennen die Dser- nichts gewußt, als er in diese Gegend schinsker die „Dustowiki“, die Aus- kam. Damals galt sie als Fortschritts- geräucherten.Witalij Beresin freilich symbol der Wirtschafts- und Militär- geht es vergleichsweise gut. Er ist 56 macht Sowjetunion. Heute ist Dser- Jahre alt und fühlt sich nicht mal schinsk die am schlimmsten ver- schlecht – obwohl die durchschnittli- seuchte Chemiestadt in ganz Ruß- che Lebenserwartung in Dserschinsk land. 60 Giftmüllhalden türmen bei 42 Jahren liegt. Witalij arbeitet sich rund um die Wohnsiedlungen. im Kraftwerk und bewirtschaftet ne- Grundwasser und Boden sind mit benbei einen Morgen Land. Im Stall Quecksilber, Chrom und Kupfer be- stehen drei Kühe, zwei Ziegen und lastet, einen nahe gelegenen See ha- vier Schweine – er muß immerhin ben internationale Umweltexperten eine Frau und 15 Kinder ernähren. zum giftigsten See der Welt ernannt. Dserschinski-Denkmal: Terror entfesselt Seit 25 Jahren lebt Witalij mit dem

136 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland schleichenden Tod seiner Stadt. Zuerst „Kein Wunder, dieser Husten“, sagt Schamin: „Alle wollen schnell Krüppel brach seine Kartoffelernte ein. Statt 80 Weras Bettnachbarin, „das weiß doch je- werden.“ Säcke füllten die Kinder im Herbst nur der, daß in den Fabriken noch immer ge- Jewgenij Schulin, Schlosser aus dem Ca- noch 25. „Und die Kartoffeln sind klein heimes Zeug produziert wird.“ Chefarzt prolactam-Werk, ist 42 Jahre alt, spin- wie Murmeln“, klagt er. Sergej Schamin mag das nicht hören: „Bist deldürr und von fahler Gesichtsfarbe. Er Dann wurden die Kühe krank. Sie woll- du wohl still, Gurjewa.“ hat Krebs – eine Folge der Gifte, die seinen ten plötzlich kein Gras mehr fressen und Anna Gurjewa war Laborantin, jetzt ist Körper kaputtgemacht haben. Die Ärz- das Wasser nicht mehr trinken, das Beresin ihr Immunsystem kaputt. Im Juni hatte sie te haben ihm gerade den Magen wegope- aus seinem 21 Meter tiefen Brunnen pump- einen Infarkt, dann war sie zum wieder- riert. „Ich hätte längst die Chemiebuden te: „Nach einer Stunde war es schwarz mit dem Bulldozer niedergewalzt“, und stank.“ sagt er. Heute kommt das Wasser aus der Die Anlagen in Dserschinsk sind 60 Stadt. Doch die schwarze Brühe aus Jahre alt. Sie wurden, wenn sie defekt dem Brunnen wird weiter zum Bewäs- waren, stets nur notdürftig geflickt. sern der Gemüsebeete verwendet, die „Eine Zeitbombe“, glaubt Schulin.Vor geernteten Gurken und Tomaten wer- zwei Jahren hat die Stadtverwaltung den auf dem Markt von Nischni Now- Gasmasken an alle Einwohner ausge- gorod verkauft. Neuerdings tragen die teilt. „Keiner weiß, was in den Hallen Obstbäume nicht mehr. „Wenn mal ein wirklich passiert. Nur von den größten Apfel dran hängt, ist er innen hohl“, Unfällen haben wir erfahren – über die sagt Beresin. „Gott hat jeden auf seinen ,Stimme Amerikas‘.“ Platz gestellt, die Sonne, die Sterne – Im Sprengstoffwerk haben sie früher uns hat er diesen Flecken zugewiesen.“ ganze Lkw-Ladungen von Toten zum Wo sollen sie sonst auch hin? Friedhof gekarrt. Und in Schulins Fabrik Beresins Demut vor Gott wurde auf sind Chlorunfälle an der Tagesordnung. eine harte Probe gestellt, als seine fünf- Er hatte Kollegen, die sind durch jährige Tochter Katja erkrankte. Zu- Schwefelsäure blind geworden, andere erst paßten ihr die Schuhe nicht mehr. an Blausäurevergiftung gestorben. Dann knickten die Beinchen weg, Umweltschäden? Gratschja Mura- schließlich verweigerte sie jede Nah- djan, Chef der Kinderklinik Nr. 3, kann rung. Als hohes Fieber den kleinen es nicht mehr hören. Ja, in Dserschinsk Körper schüttelte, brachten sie Katja in haben sie in der Muttermilch hochgif- eine Klinik nach Nischni Nowgorod. tige Dioxine festgestellt. Es gibt Föten, Dort wurden eine mehrfach ver- die haben schon im Mutterleib Lungen- größerte Leber, eine rätselhafte Blut- anomalien, und es gibt Mißgeburten, krankheit und die Zerrüttung des Im- Asthmatikerin mit deutschem Inhalator die ohne Kopf zur Welt kommen. munsystems „aufgrund von Umwelt- Keiner weiß, was in den Hallen passiert Für Muradjan sind die Schäden einflüssen“ diagnostiziert. schlimmer, die Rußlands Gleichgültig- Daß die Kleine nach einem Blutaus- holten Male in der Nervenheilanstalt. „Na, keit hinterläßt. Dserschinsk ist eine künst- tausch gerettet werden konnte, empfanden Mütterchen, bald wirst du sicher 90“, ha- lich zusammengezimmerte Stadt, nichts sogar die Ärzte als Wunder. Katja ist jetzt ben sie die Krankenschwestern begrüßt. harmonisch Gewachsenes, ein Hort ent- „Invalidin zweiter Klasse“. Sie bekommt Dabei ist sie kaum über die 60. täuschter Hoffnungen. Er sagt, hier hätten 300 Rubel Rente – umgerechnet 20 Mark. Schamin weiß es ja selbst: Auch Ner- die Leute jahrzehntelang in Wohnheimen Man muß hier schon ziemlich derangiert venschäden durch Vinylchlorid und Blei- gehaust, sich gegenseitig die Köpfe einge- sein, um als Invalide anerkannt zu werden. verbindungen nehmen zu. Neulich hatten schlagen und ihren Kummer in Alkohol er- Wera Lobanowa ist noch nicht anerkannt. sie einen Kranken, der lief nackt durchs tränkt, den sie in den Fabriken klauten. Sie hat die Standardkrankheit der Dser- Haus. Ein anderer stürzte sich mit Hallu- „Das wirkt noch heute in den Kindern fort.“ schinsker: Bronchialasthma. Ein Kranken- zinationen aus einem Fenster im 3. Stock. Die Hoffnung, der Westen könne Dser- wagen hat sie nach dem jüngsten Anfall in Doch die Direktoren der Chemiewerke schinsk auf die Beine helfen, scheint sich zu die „Klinik für Berufskrankheiten“ ge- mauern. Selbst Chefarzt Schamin brauch- zerschlagen. Rund 500 Arbeiter sind noch bracht. Im roten Morgenmantel und mit te 20 Jahre Praxis vor Ort, um zum er- in der Kosmetikfabrik von Wella, beim geschlossenen Augen liegt sie auf dem Bett stenmal ins Synthese-Werk zu gelangen. Gipsplattenproduzenten Knauf und beim – angeschlossen an einen Tropf, der bei je- „Da arbeiteten Schweißer, die hatten alle Anlagenbauer Uhde beschäftigt, drei deut- der Hustenattacke umzustürzen droht. vorschriftsmäßig Gasmasken auf. Bis ich schen Firmen, die von Dserschinsk aus den Zehn Jahre hat Wera Lobanowa als An- merkte: Die Masken paßten gar nicht, die russischen Markt erschließen wollten. Seit streicherin im Kalinin-Werk gearbeitet. Sie Leute konnten nichts sehen. Die Chefs hat- dem Ausbruch der Rubelkrise stehen in hat dort Ammoniakzisternen und marode ten ihnen die Dinger unseretwegen schnell ihren Hallen viele Maschinen still. Chlorleitungen gestrichen. „Und niemand über die Schweißerhauben gestülpt.“ Daß den Arbeitern trotzdem noch Löh- wußte, was da alles durchgepumpt wurde.“ Die Fabriken verlangen von Schamin, ne gezahlt werden, kann Wladimir Pro- Jetzt muß sie um jedes Prozent Invali- daß er niemanden mehr als berufskrank zorow, den Chef der Umweltbehörde in dität feilschen. Bis zur Rubelkrise im Au- einstuft, weil sie für jeden Kranken zahlen Dserschinsk, nicht beeindrucken: „Die gust hat die Stadt die Inhalatoren für Asth- müssen. Die Arbeiter aber stehen bei ihm kommen hierher, weil es sich in Dser- matiker finanziert, außerdem ein zusätzli- Schlange, um arbeitsunfähig geschrieben schinsk billiger und mit weniger Umwelt- ches Lebensmittelpaket pro Woche und zu werden und die einmalige Entschä- auflagen produzieren läßt.“ jährlich eine Kur. Das ist vorbei. Seit digung von 60 Mindestlöhnen, umgerech- „Da spricht purer Neid“, sagt Gerd Uhl- Herbst muß sie alles selbst bezahlen. Der net 430 Mark, zu kassieren. In der Kunst- mann, Osteuropa-Manager der Wella AG. aus Deutschland importierte Inhalator ist stoffabrik hätten einige Frauen absicht- „Wir haben in Dserschinsk zukunftweisend nach vier Tagen leer und kostet 170 Rubel. lich giftige Flüssigkeit ausgekippt, um gebaut, wir sind technisch auf dem letzten Mehr als die Hälfte ihrer Rente. einen Rohrbruch vorzutäuschen, sagt Stand.“ Christian Neef

138 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland

M. SASSE / DAS FOTOARCHIV Malaysische Hauptstadt Kuala Lumpur mit Fernsehturm und Petronas Towers: Höhenrausch und Katzenjammer

SÜDOSTASIEN Die Alptraum-Nachbarn Sie waren Weltspitze im Wachstum und stürzten dann in die Rezession: Jetzt bekämpfen Thailand und Malaysia ihre dramatische Wirtschaftskrise mit gegensätzlichen Konzepten – und beäugen sich mißtrauisch. Schaden die Rezepte aus dem Westen? Von Erich Follath

in paar Wechselstuben, einige schä- Richtung Andamanensee abfällt – eine sil- Gesellschaft, auf der anderen eine mora- bige Spielhöllen und zwei Dutzend brigglitzernde, schlängelnde Beton-Python lisch strenge muslimische Gemeinschaft. EMassagesalons, vor denen grellge- in der Tropensonne. Bangkok bevorzugt demokratische „west- schminkte, miniberockte Mädchen herum- Malaysia hat den Wall in den letzten liche“ Spielregeln, Kuala Lumpur beharrt lungern und jeden anmachen, der von zwei Jahren mit einem Kostenaufwand von auf autokratischen „asiatischen“ Werten, „drüben“ kommt, aus Malaysia: Der klei- 30 Millionen Mark errichtet, gegen die wü- dem angeblich überlegenen eigenen Weg. ne thailändische Grenzort Padang Besar tenden Proteste der thailändischen Regie- Jahrelang waren tiefgreifende Unter- ist spezialisiert auf Dienstleistungen der rung, die Anfang 1998 Armeehubschrau- schiede von gemeinsamen Erfolgsmeldun- besonderen Art. „Sexy Girl“, „Big Boss“, ber im Tiefflug über die Grenzbefestiger gen überdeckt worden: Thailand wie Ma- „Golden Gate“ heißen die Etablissements. patrouillieren ließ. „Wir mußten die Bar- laysia gehörten mit Zuwachsraten von Der Name des neuesten Stundenhotels riere bauen, weil immer mehr illegale Ein- durchschnittlich sechs bis neun Prozent pro fällt aus dem Rahmen – „Berlin“. Und wanderer, Drogen und Waffen eingesickert Jahr zu den Weltbesten im Wachstum. Mit- doch macht die Bezeichnung für jeden waren“, behauptet der malaysische Chef- te 1997 stürzten sie, wie fast ganz Asien, in Sinn, der einmal durch den Ort gefahren minister Shahidan bin Kassim. Die Mauer eine unerwartete, tiefe Krise. Aus den be- ist. Es gibt eine augenfällige Parallele zwi- und verstärkte Kontrollen hätten die Si- neideten Vorbildern wurden Nachbarn im schen der europäischen Metropole und tuation schon heute erkennbar verbessert. Alptraum. 1998 schrumpfte die Wirtschaft dem südostasiatischen Kaff. Hier im Es gibt keine Minen, keinen Todesstrei- der beiden um jeweils über sechs Prozent, Dschungel, fernab der nächsten Großstadt, fen à la DDR; über 400 Kilometer gemein- nur in Indonesien ging es noch schneller wurde gerade Stein für Stein aufgerichtet, same Grenze sind unbefestigt. Doch die bergab. Tausende Firmen mußten Bankrott was in Deutschland als Symbol der Spal- Mauer zwischen den beiden Nachbarn ist anmelden, Millionen Arbeitslose stehen, tung abgerissen ist: die Mauer. mehr als ein physischer Schutzwall, sie ist mit unzureichender Absicherung, auf der 23 Kilometer lang zieht sich der merk- zementierte Entfremdung, ein Sinnbild: Sie Straße. würdige Grenzwall hin, 2,40 Meter hoch, trennt zwei Staaten, die in Organisationen Die Thais und die Malaysier setzen bei durchgehend mit Stacheldraht abgedeckt. wie dem Regionalbund Asean formal zu- der Bekämpfung der Misere auf gegen- Die Mauer beginnt unmittelbar am Orts- sammenarbeiten, aber in Wirklichkeit ver- sätzliche Konzepte. Bangkok gibt den „Mu- rand und zerschneidet sogar einige bebau- schiedene Wege gehen – Thailand und Ma- sterpatienten des Internationalen Wäh- te Grundstücke, bevor sie sich einen Feld- laysia sind Gegenpole. rungsfonds“ (IWF), so die britische Zeit- weg entlangwindet, dann in Dschungel- Auf der einen Seite steht eine vom schrift „Economist“, und öffnet seine Märk- gebiet verliert und über Kalksteinklippen Buddhismus geprägte, sexuell freizügigere te, so weit, so schnell, daß manche im Land

140 der spiegel 3/1999 hallt durch Kampung Baru: „Resign Dr. M. – Treten Sie zurück, Herr Regierungschef!“ Als hätten sie zwischen Tradition und Moderne noch nicht ihren Platz gefunden, wirken auch die Gebäude der Umgebung. Da ducken sich neben der mächtigen Mo- schee schäbige Steinhäuschen, die letzten Überreste einer vergangenen Zeit. In den engen Gassen braten Marktfrauen Satay- Spießchen und preisen frisch kandierten Zucker an, wie früher im wirklichen „Kam- pung“, dem malaiischen Dorf. Doch direkt dahinter türmt sich der Fort- schritt im Weltrekordformat: ein stahlstrot- zender Spargelwald mit dem Doppelwol- kenkratzer Petronas Towers, dem höchsten Gebäude der Welt (452 Meter, und oft vom Smog verhüllt); dem Menara-Fernsehturm (421 Meter); den Marriotts, Mandarin Orientals, Shangri-Las und all den anderen pompösen Turmbauten zu Kuala Lumpur. Die neueren Hotels stehen bis zu 80 Pro- zent leer, allein in den letzten 18 Monaten eröffneten in der Hauptstadt ein halbes Dutzend Luxusherbergen, innerhalb eines

V. MILADINOVIC / SYGMA MILADINOVIC V. Jahrzehnts hat Malaysia seine Hotelzim- Thailändisches Königspaar Bhumibol und Sirikit in Bangkok: Respekt vor der Tradition merzahl mehr als verdreifacht, auf 130526. KL quillt über von todschicken Ein- schon die Gefahr eines nationalen „Aus- monstranten. Es ist ein merkwürdiger Hau- kaufspassagen, die verzweifelt nach Kun- verkaufs“ wittern; Kuala Lumpur (KL) fen, der sich da im Stadtteil Kampung Baru den Ausschau halten. Ein gigantischer in- schottet sich mit Kapitalkontrollen ab, ver- zusammenrottet: junge Männer in Jeans, ternationaler Flughafen 70 Kilometer süd- ärgert Investoren, provoziert mit rüden den Walkman-Knopf mit ihrem Lieblings- lich der Hauptstadt ist gerade erst fertig- Schuldzuweisungen den Westen. kampflied im Ohr – „Street Fighting Man“ gestellt, wie so vieles eine Nummer zu groß Versuchslabor Fernost: Die Betroffenen von den Rolling Stones; bärtige Mullahs im für das 22-Millionen-Einwohner-Land. experimentieren – und beäugen einander weißen Flattergewand, den Koran unterm Auch 1999 deutet nichts auf ein Ende mißtrauisch. Der Rest der Welt beobachtet Arm; züchtig gekleidete ältere Frauen; Tee- des Baubooms, selbst samstags abends pla- die Entwicklung gespannt, denn neue Kri- nies mit wallendem Haar und Glit- senherde, neue Flüchtlingsströme könnten zerkleidern, die aussehen, als kä- auch ihn bedrohen. Wer hat das bessere men sie gerade aus der Disco. Konzept und wird damit bei der nächsten Spruchbänder werden enthüllt, Finanzkatastrophe zum Vorbild? Hilft eher Forderungen skandiert, alle ge- Abschottung oder Angleichung, Mauer prägt von dem einem Wort, das oder unbeschränkte Durchlässigkeit? zum Markenzeichen der Demon- stranten geworden ist: „Reforma-

amstag abend gegen sechs, wenn in der si – Reformen!“ Und noch ein Ruf C. BROWN / SABA SJamek-Moschee der Muezzin das Ende des Gebets verkündet, schlägt in der ma- Malaysias Grenzmauer zu Thailand laysischen Hauptstadt die Stunde der De- Symbol der Entfremdung

Tiger am Abgrund

Thailändischer CHINA Malaysischer 110 Baht gegen- Ringgit gegen- 110 über dem über dem 100 Dollar LAOS Süd- Dollar 100 chinesisches 90 Wert Januar THAILAND Meer 90 Wert Januar 1997=100 VIETNAM 80 Bangkok 1997=100 80 KAMBODSCHA 70 70

60 60

50 Kuala MALAYSIA 50 Lumpur 40 SINGAPUR 40 30 Aktienbörse Aktienbörse 30 20 Bangkok INDONESIEN Kuala Lumpur 20 Jan. Juli Jan. JuliJan. Jan. Juli Jan. Juli Jan. 97 98 99 97 98 99

der spiegel 3/1999 141 Regierungschefs. Doch am 2. September 1998 feuerte ihn Mahathir aus seinem Amt, 24 Stunden später aus der Umno-Partei; dann ließ er ihn wegen Korruption und „Sodomie“ (so heißt der in Malaysia als Verbrechen geahndete homosexuelle Ver- kehr) verhaften. Der Prozeß führt den Malaysiern jetzt täglich vor Augen, wie weit ihr Land davon entfernt ist, ein Rechtsstaat zu sein. An- war wurde in der Haft geschlagen, sein Ge- sicht war geschwollen. Ein Polizeioffizier sagte aus, auf Anweisung würde er lügen, auch unter Eid. Ein Chauffeur, den der An- geklagte zum Sex gezwungen haben soll, widerrief sein Geständnis im Kreuzverhör. Dann sollten Spermaflecken auf einer si- chergestellten Matratze Verfehlungen be-

M. SASSE / DAS FOTOARCHIV / DAS M. SASSE weisen. In der letzten Woche beschloß das Staatliche Großbaustelle in Kuala Lumpur: Wirtschaft künstlich in Schwung gehalten Gericht überraschend, vorläufig nur noch die Korruptionsanklage zu verfolgen – was Anwar bloßstellen soll, entlarvt in Wirk- lichkeit Malaysias autokratisches Regie- rungssystem. Die Demonstranten ändern ihre Taktik. „Auf der Straße zeigen wir nur noch for- mal Präsenz“, sagt einer der bärtigen Re- formasi-Boys, „der Kampf wird woanders entschieden – wir schlagen den Hochtech- nologie-Fan Mahathir mit seinen eigenen Waffen.“ Er zeigt zum „Zaas Cyber Café“. Seine Anhänger haben Anwar eine eigene Homepage im Internet eingerichtet. Da AFP / DPA REUTERS tauschen die Dissidenten Informationen Demonstranten mit Bildern ihres Idols Anwar, Premier Mahathir: „Treten Sie zurück“ aus, verabreden Aktionen. Sie versenden auch „subversive“ Gedichte, wie das des nieren die Bulldozer in der Nähe der Pro- auch in Malaysia Vetternwirtschaft, faule malaysischen Dichters Cecil Rajendra über testkundgebung alte Häuser ein, kreisen Kredite durch unkontrolliert agierende die Angst der Regierenden: die Kräne. Malaysia steckt in einer tiefen Banken und einen überhitzten Immobili- Endlich, um die absolute innere Sicherheit Rezession – und doch werden Autobahnen enmarkt den Niedergang ausgelöst, stellten zu gewährleisten, verabschiedeten sie die zu einer neuen High-Tech-Stadt in den Ur- die IWF-Fachleute fest und forderten eine Notstands- und Verhaltensverordnung für wald geschlagen; riesige Einkaufspassagen Politik der Liberalisierung und Deregulie- Tiere. Spechte mußten das Hacken ihrer erweitern ihre Kapazitäten, Berjaya Star rung. Von wegen, setzte Premier Mahathir Morsebotschaften von Kokospalmen ein- City um 180000 Quadratmeter. trotzig entgegen, das sei alles Propaganda: stellen. Java-Schwalben wurden scharen- Ministerpräsident Mahathir Mohamad, Malaysias Grunddaten seien gesund. weise wegen der Verbreitung von Gerüch- 73, will es so. Der Mann, den sie Dr. M. Viele der jungen Muslime in der Pro- ten verhaftet. Katzen – der Verschwörung nennen, hat sich entschlossen, durch eine testbewegung haben – Jeans hin, Stones verdächtigt – mußten ab 21 Uhr zu Hause massive Erhöhung der Staatsausgaben und her – wegen der selbstherrlichen militäri- bleiben … günstige Kredite an einheimische Groß- schen „Strafaktionen“ in Afghanistan, Su- firmen die Wirtschaft künstlich in Schwung dan und Irak erhebliche Vorbehalte gegen Regierungschef Mahathir verschanzt zu halten – andere asiatische Staaten Washington. Die Rede des US-Vizepräsi- sich derweil in seinem Regierungspalast, schnallen den Gürtel enger, in KL soll die denten Al Gore beim Asiatisch-Pazifischen sammelt seine immer noch zahlreichen Party weitergehen. Gipfel Mitte November in Kuala Lumpur Parteigetreuen um sich. Der 73jährige mit Der Sonderweg hat einen Preis: Malay- („Wir hören die Rufe nach Demokratie im dem vierfachen Herz-Bypass sucht einen sia hat sich seit dem 1. September 1998 von tapferen Volk der Malaysier“) empfanden neuen Vize: „Ideal wäre eine Kopie von der Weltwirtschaft weitgehend abgeschot- nicht nur Regierungsvertreter, sondern mir.“ So war Dr. M. schon immer: selbst- tet. Dr. M. verhängte Kapitalverkehrskon- auch manche malaysische Oppositionelle bewußt bis zur Arroganz, überzeugt, für trollen, um seine Ökonomie vor den Folgen als kontraproduktive „Einmischung“. sich und sein Land die richtigen Visionen der starken Wechselkursschwankungen zu Was die „Reformasi-Boys“ dem Regie- zu besitzen. Seine Ära ist die der Staats- schützen und Kapitalflucht zu verhindern rungschef aber als unverzeihlich anlasten, gründung, des nationalen Aufbaus. – er errichtete neben den physischen auch sind Pressezensur (von ihren Demos steht Obwohl Mahathir seinen Abschluß als virtuelle Mauern. Der Wechselkurs des nichts in den Zeitungen) – und die staatli- Mediziner am europäisch geprägten King- Dollar ist fixiert (auf 3,80 Ringgit), und che Verfolgung ihres Helden Anwar Ibra- Edward-VII-College in Singapur machte, ausländische Anleger sitzen – voraussicht- him. Viele halten Anwar-Porträts hoch, als haßte er von frühester Jugend an die Bri- lich zwölf Monate lang – auf Milliarden die Polizei mit Wasserwerfern und Trä- ten, die die Region beherrschten. Der Sohn Dollar fest, die sie in malaysische Aktien nengaspatronen nun in der Abendstunde kleiner Leute gehörte bald nach der Grün- investiert haben. bedrohlich näher rückt. dung 1946 zur Umno-Partei, die um die Dr. M. ging auf Kollisionskurs mit dem Anwar, 51, war jahrelang Finanzmini- Unabhängigkeit kämpfte; die Umno kam IWF. Wie in den Nachbarländern hätten ster, Vize und designierter Nachfolger des nach dem teilweisen Rückzug der Kolo-

142 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland nialherren 1957 an die Macht – bis der Wind drehte und und hat sie nie verloren. Finanziers aus den USA sich Mahathir war lange inner- 1997 fragten, ob das Funda- halb seiner Partei umstritten, ment der thailändischen und drei Jahre lang war er sogar malaysischen Wirtschaft wirk- ausgeschlossen. Er setzte sich lich so gesund sei. Sie setzten letztlich durch, weil er bereit gegen den Baht und den Ring- war, der nationalen Einheit al- git; die Währungen wie die les unterzuordnen – der Zu- Börsenwerte verfielen rapide, sammenhalt der einzelnen der Bär hatte die asiatischen Volksgruppen war ihm wich- Tiger eingeholt. tiger als die Einhaltung de- Mahathir witterte eine „in- mokratischer Spielregeln. ternationale Verschwörung“: Und am Anfang gab es Westliche Spekulanten wie dafür zumindest nachvoll- der „Schurke“ George Soros ziehbare Gründe: Er hatte er- hätten vor, die ehemaligen lebt, wie es 1969 zu einem Kolonien wieder zu kolonia- blutigen Amoklauf gegen lisieren; vielleicht gebe es so- die reichen chinesischen Ma- gar einen „jüdischen Fahr-

laysier gekommen war: Die FOTOARCHIV / DAS D. PORTNOY plan“ gegen die Muslime von „Söhne des Gelben Kaisers“, Musliminnen in Malaysia: Gegen „Dekadenz des Westens“ Malaysia.Anwar sah die Lage die meisten seit Generationen differenzierter, sprach von im Land und fleißige wie „Schwächen unserer Politik“, begabte Unternehmer, be- wollte marode Banken bank- herrschten bei einem Bevöl- rott gehen lassen. Der Vize, kerungsanteil von damals 37 lange Jahre Teil des Kungel- Prozent (heute: 26) weite Tei- Systems, nun auf Reformkurs, le der Wirtschaft (heute: etwa suchte den Machtkampf. Ma- 60 Prozent). Sie zogen Neid hathir eröffnete den Schau- und Haß auf sich, ethnische prozeß gegen seinen 22 Jahre Unruhen drohten den jungen jüngeren Herausforderer, weil Staat zu zerreißen: „Amok“ er ihn anders nicht mehr aus- ist ein malaiisches Wort. schalten konnte. Um das fragile Gleichge- Kurzfristig zumindest ha- wicht im Völkermosaik wie- ben Malaysias Kapitalkon- derherzustellen – neben den trollen und die massiv erhöh- Malaien und Chinesen sind ten Staatsausgaben Vorteile: mit etwa acht Prozent Bevöl- Die Arbeitslosigkeit ist nicht kerungsanteil die Inder dritt- ins Uferlose gestiegen, Fir- größte Gruppe –, gewährte menzusammenbrüche halten

die Umno-Regierung den FOCUS / AGENTUR CHARLESWORTH P. sich dank neuer Geldspritzen „Eingeborenen“ Sonderrech- Barmädchen in Thailand: Für sexuelle Freizügigkeit in Grenzen. Die zeitlich limi- te: Die Malaien hießen von tierte Einschränkung des frei- 1971 an „Bumiputras – Söhne der Erde“ lute Kontrolle forderte absoluten Einsatz en Kapitalflusses könnte also Spielraum und wurden beim Landkauf und bei Fir- der Nummer eins: Dr. M. rügte die ver- geben, um Reformen einzuleiten. Doch Dr. mengründungen bevorzugt behandelt. Die führerische Auslage von Damenunterwä- M. wehrt sich gegen frischen Wind – daß anderen Volksgruppen hielten still, weil es sche, er verbot die Ausstrahlung von „un- seine fiskalischen Tricks die Probleme nur mit der Wirtschaft so rapide bergauf ging, islamischen“ Filmen wie Steven Spielbergs aufschieben, daß eine gigantische Infla- daß alle profitierten. „Schindlers Liste“. Und er suchte die Toi- tionswelle droht, will er nicht wahrhaben. Mahathir, seit 1981 Premier, versuchte lettenschüsseln für die Büros der weltre- Weil er weiß, daß er Wahlen nur mit ge- die Nation weiter zusammenzuschweißen kordhohen Petronas Towers aus. schönten Bilanzen gewinnen kann, greift er und ihren Stolz zu wecken. Er fand ein „Malaysia boleh – Malaysia kann’s“, – so heißt es in KL – in die staatliche Ren- neues Feindbild im „Sittenverfall und in hieß das stolze Regierungsmotto, basie- tenkasse und treibt die Börse mit massiven der Dekadenz“ des Westens, den er auch rend auf Mahathirs Vision, das Land bis Stützungskäufen nach oben. wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast zum Jahr 2020 zum vollentwickelten In- Als kleines Fenster zum Westen hält Ma- wähnte. Er schwor seine Malaysier auf die dustriestaat zu machen. hathir sich ein teures Beratergremium von „asiatischen“ Werte ein: Disziplin und Doch einige Malaysier schafften es sehr der Wall Street: die Finanzprofis von Salo- Fleiß, Lernwille und Leistung, vor allem viel schneller als andere: Dr. M. umgab sich mon Smith Barney. Doch gegenüber sei- aber die Bereitschaft zur Unterordnung in seinen 17 Dienstjahren als Premier im- nem Volk pflegt er nur rüde nationalisti- in der Familie, im Staat. mer mehr mit einem Stab von Jasagern – sche Töne – US-Vizepräsident Gore wird in Eine „gute Regierung“ sollte nach Ma- für Speichellecker existieren in der Um- der regierungsnahen Presse wegen seiner hathirs Meinung daran gemessen werden, gangssprache heute so viele Synonyme wie Malaysia-Kritik „Idiot“ tituliert, „seine ob sie Wohlstand und Stabilität für die Be- im Eskimo-Jargon für Schnee. Korrupte Mutter hätte ihn übers Knie legen sollen“. völkerung bringt, nicht an der Verwirkli- „Vettern“, auch viele Verwandte von Ma- Wird in KL jetzt die Anwar-Gattin Wan chung individueller Freiheitsrechte. Isla- hathir, machten Millionen: Banken pump- Azizah nach der als sicher geltenden Ver- mische Fundamentalisten wie demokrati- ten ihnen gegen Regierungsgarantien, was urteilung ihres Mannes zur Führerin der sche Kritiker hielt Dr. M. mit dem Internen sie brauchten. Reformbewegung? Schwingt das Pendel Sicherheitsgesetz auf Distanz, das Haft Gigantische Kapitalströme aus dem We- nach einem großen Crash gar zur funda- ohne gerichtliches Urteil gestattet. Abso- sten kurbelten die Wirtschaft zusätzlich an mentalistischen Pas-Partei aus, die mit

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Kopftuchzwang, Alkoholverbot und Ge- schied zu Kuala Lumpur haben wir es in nanzexperten ja leider wenig Gedanken.“ schlechtertrennung beim Sport bisher nur Bangkok eben mit einer Regierung zu tun, Eton-Zögling Abhisit, Universitätsabschluß im malaysischen Bundesstaat Kelantan die ihre Augen vor den Problemen nicht in Oxford (Philosophie, Politik und Wirt- regiert? verschließt“, sagt Jacques Bussieres von schaft), früherer Abgeordneter der Demo- Eine Epoche geht zu Ende, und der Re- der Weltbank. kratischen Partei und mit 34 Jahren jüng- präsentant der alten Garde hat es noch Verelendung auf dem Land, Verzweif- stes Kabinettsmitglied, gilt als Thailands nicht einmal gemerkt. Mahathir hat sei- lung in der Stadt, steigende Selbstmord- Wunderkind. Aber er ist nicht der einzige nem Malaysia keine Instrumentarien an rate – sehen so Sieger aus? „New-Age-Politiker“. Bangkoks Politik die Hand gegeben, mit einer Krise fertig zu Die makroökonomischen Zahlen, die wird heute von einer jungen Garde bril- werden – ohne ihn, den alles steuernden Thailands Regierung vorlegt, machen Hoff- lanter, an westlichen Elite-Universitäten Autokraten. Er hat eine orientierungslose, nung: Das riesige Leistungsbilanzdefizit ausgebildeter Fachleute bestimmt. zwischen Höhenrausch und Katzenjammer hat sich in einen Überschuß verwandelt; Der eher farblose, aber als integer gel- schwankende, verunsicherte Nation ge- die Regierung ließ 56 marode Finanzhäu- tende Politveteran Chuan Leekpai, 60, war schaffen, in der neues Denken von der ser zusammenkrachen. Der Baht stabili- mitten in der schlimmsten Krise November Mehrheit als bedrohlich empfunden wird. sierte sich gegenüber dem Dollar, die Bör- 1997 an die Macht gekommen – der Pre- Sogar die so selbstsicher wirkenden Re- se fängt an sich zu erholen. Ausländische mier setzte sich sogleich an die Spitze ei- formasi-Boys suchen bei den Schamanen Geldgeber beginnen sich wieder zu enga- ner stillen Revolution. Er ernannte Vertre- nach ihren Wurzeln.Viele pilgern samstags gieren – Investitionen, die dem isolierten ter einer neuen Generation wie Buranaj nach der Demo zu den „Bomoh“. Sie glau- Malaysia entgehen. Smutharaks oder Alongkorn Ponlaboot zu ben den in Trance fallenden, in Trance lal- „Man hat uns äußerst bittere Medizin seinen Beratern, machte Akrapol Sora- lenden Medizinmännern mehr als allen Re- verabreicht, wir haben sie geschluckt. Jetzt suchart, 38, zum Regierungssprecher; Män- zepten des Dr. M. müssen wir aufpassen, daß es keinen ge- ner, die nicht mit der alten Thai-Politik der nerellen Aufstand gegen die freie Markt- Vetternwirtschaft und Ämterpatronage in ie Preise für seine Bananen fielen, die wirtschaft gibt“, sagt Kanzleramtsminister Verbindung gebracht werden konnten. DPacht für Grund und Boden war nicht Abhisit Vejjajiva in seinem betont schlich- Bangkok war jahrzehntelang berüchtigt mehr erschwinglich, und womöglich hätte ten Büro, nur Schreibtisch, Buddha-Statue, für seine korrupten „Staatsdiener“, die er sein Land an einen Ausländer verkaufen Ikea-Stühle. „Unsere Hauptaufgabe ist, die sich die Taschen vollstopften. „In Thailand müssen: Der Bauer Choom Sakhon aus der sozialen Folgen der Reformen abzumildern besitzt jeder Politiker eine Bank – und jede thailändischen Provinz Prachin Buri nahm – darüber machen sich internationale Fi- Bank zwei Politiker“, hatte der US-Pro- sich einen Strick, fuhr nach fessor und Asienkenner Rudi Bangkok und erhängte sich in Dornbusch formuliert. Zu der „Stadt der Engel“ – direkt einem Bürgerkrieg war es nur vor dem Sitz der Regierung. deshalb nicht gekommen, weil Die Polizei hat ein Sonder- das Königshaus eine allseits team zur Betreuung Selbst- verehrte Instanz blieb, weil mordgefährdeter eingerichtet. die Nation, die nie kolonisiert 51 der 100 größten Bauunter- wurde, kaum Probleme nehmer Thailands klagten bei mit ethnischen Minderheiten einer Befragung des Gesund- kennt. Und weil der rasante heitsministeriums über schwe- Wirtschaftsaufschwung, der re Depressionen. Hunderte das ganze Land erfaßt hatte, mittelständischer Betriebe jede Empörung abfederte. mußten Bankrott anmelden, Diese Zeiten sind vorbei, die Arbeitslosenzahl verdrei- der gebeutelte Mittelstand und fachte sich auf drei Millionen. die verarmten Bauern können Ex-Manager verkaufen auf der die neuen Entbehrungen al- Straße Sandwiches, ehemali- lenfalls dann ertragen, wenn

ge Bankangestellte verdingen FOCUS / AGENTUR / MAGNUM STUART F. sie auch in der Politik einen sich als Zeitungsausträger, Golfclub in Malakka: Vor den Problemen die Augen verschlossen Ruck verspüren. Eine neue frühere Sekretärinnen, wie so Verfassung wurde verabschie- viele ohne jede Unterstützung det, die Minister und Ab- auf die Straße gesetzt, betteln geordnete verpflichtet, ihr in ihrer Verzweiflung Touri- Vermögen offenzulegen; eine sten an oder prostituieren sich. Wahlkommission soll den bis- Die brandneuen Wohn- her weitverbreiteten Kauf von blocks der „Golden City“ im Stimmen erschweren; eine un- Norden Bangkoks stehen leer. abhängige Kontrollbehörde Staub wirbelt durch kahle, nie muß Korruptionsbeschwerden bezogene Fabrikhallen; wie nachgehen. abgebrochene Zähne ragen Wieviel Hoffnung sich mit halbfertige Wolkenkratzer in dem Kampf gegen die Korrup- den Himmel. Aber die Wirt- tion verbindet, zeigt der Auf- schaftsexperten vom IWF sa- stieg des Polizisten Seri Te- gen, die Talsohle sei durch- miyavej zum heute wohl po- schritten – der Staat, in dem pulärsten Mann in Thailand. im Sommer 1997 die Asienkri- Der Unerschrockene ist Ge- se ihren Anfang nahm, habe genstand einer Biographie,Vor-

die besten Chancen, sich als FOCUSB. LEWIS / NETWORK AGNETUR bild für eine erfolgreiche Fern- erster zu erholen. „Im Unter- Müllkinder in Chiangmai: Bittere Medizin geschluckt sehserie und hat seinen eige-

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Werbeseite N. HEIN / PLUS 49 VISUM Buddhistische Mönche am Tempel Wat Arun in Bangkok: Angst vor Verarmung und nationalem Ausverkauf nen Fanclub mit mehr als 2000 Mitgliedern. Experten als Anhänger der sind die aufgezwungenen Seri hatte sich als Anwalt der Unterprivile- reinen neoliberalen Lehre Rezepte des Westens eher gierten schon in jungen Jahren mit Unter- erzwingen wollten. Thai- schädlich – Testfall Thai- weltbossen und zwielichtigen Politikern an- Banken mit Einlagen der land? Ist endgültig erwie- gelegt. Ein Kampf nicht ohne Folgen: 1991 kleinen Leute wurden ge- sen, daß „asiatische Wer- explodierte unter seinem Schreibtisch eine rettet; das Defizit der te“ nur der Bereicherung Bombe, er kam mit dem Leben davon. Staatsausgaben hat Bang- von Eliten dienen und Doch erst seit die neue Regierung im koks Regierung wenigstens repressive Regime recht- Amt ist, geht es mit seiner Karriere steil so weit erhöht, daß einige fertigen sollen – Testfall aufwärts – Regierungschef Chuan zählt öffentliche Großaufträge Malaysia? zu seinen Fans. Er machte Seri, 50, zum erhalten blieben und die „Wir kämpfen um die Boß des thailändischen FBI, dann zum Vi- Arbeitslosigkeit nicht noch Seele Asiens“, sagt Bang- zechef der Polizei. Eine der jüngsten Taten dramatischer steigt. koks Außenminister Surin des hemdsärmeligen Schurkenjägers: Seri Dennoch beginnt sich Pitsuwan. „Das neue Ge- überführte zwei prominente Parlamenta- die Meinung in Thailand, sicht unseres Kontinents

rier des Schmuggels und der Bestechung. dem „Land der Freien“, POS BANGKOK müssen offene, durchlässi- Neben dem Kampf gegen die Korrup- zu wandeln. Hatten am Thailands FBI-Chef Seri ge Regierungen, eine freie tion will Thailands junge Politikergarde die Anfang der Krise noch Wirtschaft und die Pflicht Dezentralisierung, die Meinungsbildung 58 Prozent der Thais befürwortet, daß in- zur Rechenschaft prägen. Wir haben lan- von unten fördern. In mehreren Provinz- ternationale IWF-Experten in Bangkok ge genug den Fehler gemacht, Wolken- städten sind Diskussionsforen entstanden, mitregieren, sind die „Fremdbestimmer“ kratzer-Kulissen für den wahren Fortschritt in denen auch Bauern am Entstehen einer heute hochgradig unpopulär. Ein Teil der zu halten. Wenn es uns nicht gelingt, die „zivilen Gesellschaft“ mitarbeiten sollen. Presse hat wegen der neuen Investitions- durch die Arbeitslosigkeit ausgelösten „Die Herausforderung besteht nicht nur gesetze – Ausländer sollen jetzt auch in sozialen Probleme zu bewältigen und darin, die Wirtschaftskrise zu meistern, wir Betrieben der Fischerei- und Agrarindu- das Leiden der Menschen zu lindern, wer- müssen auch die Grundlagen dafür schaf- strie Mehrheitsbeteiligungen haben und den wir unsere ganze Region ins Chaos fen, daß wir später unser Wachstum erhal- Land besitzen dürfen – chauvinistische stürzen.“ ten können“, sagt Minister Abhisit. Töne angeschlagen. Was hält Harvard-Absolvent Surin, 49, Er leitet neben der Arbeitsgruppe „Re- Die Senatoren im Oberhaus weigern sich von einer „Auszeit“, wie sie Malaysia in form der Bürokratie“ auch die „Nationale aus anderen Gründen, dem Reformpaket Sachen Weltwirtschaft nimmt? „Wir kön- Erziehungskommission“. Die Regierung zuzustimmen – bankrotte Unternehmer nen uns nicht einfach von der Globalisie- möchte einen Teil der über 17 Milliarden sollen künftig umfassender für ihre Schul- rung abschotten, sonst riskieren wir, durch Dollar IWF-Gelder ins Bildungssystem den haften. Einige der größten Pleitiers die unerfüllten Erwartungen unserer Völ- „umleiten“.Wie so viele asiatische Staaten aber sitzen selbst im Senat. Ohne Kom- ker weggespült zu werden.“ hat auch Thailand in den guten Zeiten ver- promisse wird die Thai-Regierung, die sich Eine Spitze gegen den Glaubensbruder säumt, das Ausbildungswesen zu moderni- wie die malaysische im Jahr 2000 zur Wahl Mahathir im Nachbarland kann sich der sieren, und nur vier Prozent des Bruttoin- stellen muß, ihr Gesetz wohl nicht durch- Malaie Surin, muslimischer Aufsteiger im landsprodukts für Bildung ausgegeben. bekommen. Von diesen Maßnahmen aber buddhistischen Königreich Thailand, dann Mit sanftem Druck ist es dem „IWF-Dar- macht der IWF seine weiteren Auszahlun- doch nicht verkneifen: „Wir brauchen über- ling Thailand“ („Far Eastern Economic Re- gen abhängig. all eine neue Generation von Führern, die view“) gelungen, einige der überscharfen Behindern demokratische Spielregeln bei aller Anerkennung der Erfolge früherer Auflagen zu unterlaufen, die amerikanische also schmerzliche Reformschritte, oder Staatschefs ihre eigenen Wege gehen.“ ™

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TENNIS Der letzte Held Er war ein Rebell, der nur für sich selbst stand; ein Genußmensch, der den Erfolg mißachtete. Jetzt sieht sich Andre Agassi kurz vor dem Ziel einer Karriere mit vielen Hochs und Tiefs: Er will noch einmal die Nummer eins der Welt werden.

n das Mobile, mit dem alles begann, kann sich Andre Agassi natürlich Anicht mehr erinnern. Er war gerade geboren, als sein Vater Mike, Einwanderer aus Teheran und Kellner im MGM Grand Hotel von Las Vegas, dieses Gebilde mit dem gelben Tennisball über seine Wiege hängte. Drei Kinder hatte Mike Agassi da schon ohne großen Erfolg gedrillt – der kleine Andre war seine letzte Hoffnung. Auch den Tischtennisschläger, mit dem alles weiterging, kennt Andre nur aus Er- zählungen. Mit dem Ding trieb er einst vie- le bunte Luftballons aus dem Laufstall. Als er dann laufen konnte, war er sehr stolz, denn da bekam Andre seinen ersten Tennisschläger. Mit den Bällen zertrüm- merte er die Glastür im Wohnzimmer, und das ist so ziemlich das erste, woran er zurückdenken kann. „Ich bin nicht sicher, ob sein Ehrgeiz nur der war, seine Eltern zu befriedigen“, sagt sein Vater Mike Agassi, „aber Ehrgeiz hatte er, das steht fest.“ Ein Sportlerleben später sitzt der einst- mals weltbeste Tennisprofi in einer Hotel- bar, bestellt sich eine Flasche Heineken „ohne Glas“ und rülpst. „Excuse me“, sagt er und gesteht dann, daß „Daddy“ den Kern verdammt gut getroffen hat: „Ich habe nie aus den richtigen Gründen Tennis gespielt, sondern immer für die Zustim- mung anderer, für die Liebe meiner Eltern, meiner Trainer und der ganzen Welt.“ Doch weil das jetzt vorbei sei und er sich im 29. Lebensjahr erstmals frei und entspannt fühle, glaubt Agassi, daß er in den kommenden Monaten ein großes Fi- nale seiner Karriere erleben wird. Er wer- de endlich das zusammenführen, was sich widerspricht: Konzentration und Rausch, Gelassenheit und Besessenheit. Und dann wird er besser spielen als je zuvor. Das hört sich zwar pompös an, aber im Prinzip ist es so ähnlich wie bei Steffi Graf. Beide haben, befreit von körperlicher und seelischer Pein, wieder Anschluß gefunden in dem Sportzirkus, der ihnen alles be- deutet. Und genau wie Graf ist Agassi vor den Australian Open, die an diesem Mon- tag beginnen, eine Art Geheimfavorit; nach der Absage des Ranglistenersten Pete Sam-

pras und der positiven Dopingprobe des A. RIBEIRO / GAMMA STUDIO X

Tennisprofi Agassi (1998, 1991) Wahres Gesicht oder neue Mode?

150 der spiegel 3/1999 Titelverteidigers Petr Korda soll er zumin- trat und jeden Wunsch ihres Geldgebers dest die Tribünen füllen. Nike erfüllte. Mittlerweile tritt er ohne Ko- Denn der Amerikaner ist zwar bloß die stümierung auf, im grauen T-Shirt, mit Nummer sechs der Tenniswelt, aber der Halbglatze und sparsamer Gestik. Weil letzte Held des weißen Sports, der eine die Szene um ihn herum seelenlos wirkt, Geschichte voller Rätsel erzählen kann. kommt nun ausgerechnet er beim Publi- Die handelt mal von einem Leben wie im kum als Typ und als authentisch an: als ei- Drogenwahn und dann wieder von Krän- ner, der die Zuschauer jene Leidenschaft kungen und Trauer – Agassi erzählt sie so fühlen läßt, die es nicht mehr oft gibt im lakonisch, als hätten die zwei Leben nichts Sport. Er hat ja auch in den vergangenen miteinander zu tun. Monaten ein Comeback hingelegt, das bis In der Vergangenheit galt er als Kunstfi- dahin als unmöglich galt. gur, die in immer neuen Verkleidungen auf- Die Niederlage gegen den damaligen Außenseiter Sampras im Finale der U. S. Open 1995 hatte Agassi scheinbar gebro-

chen.Anschließend gewann er kaum noch, PANDIS und nach seiner Hochzeit mit der Schau- Ehepaar Agassi spielerin Brooke Shields stürzte er bis auf Nach jedem Grand-Slam-Sieg abgestürzt Platz 141 der Weltrangliste. Spätestens dort überlegt sich ein Wimbledonsieger norma- und Häuser an Verwandte und Freunde, lerweise, was nun mit den vielen Dollar flog im Privatjet, den ein in Flammen auf- passieren soll, und hört auf. gehender Tennisball zierte, und alles in al- Doch Agassi fuhr zu den Challenger-Tur- lem galt er als das „größte Arschloch“ der nieren, wo die 16jährigen ohne Balljungen Tennistour, wie Becker einmal sagte. und Linienrichter um die ersten Rangli- Seine vielen Kritiker meinten, daß Agas- stenpunkte kämpfen, und spielte sich wie- si der erste Sportler war, den ein Konzern der hoch. „Ein ganz großes Glück“ sei das, nicht einfach für Kampagnen benutzte, son- sagt Ion Tiriac, denn „Tennis braucht Agas- dern buchstäblich erfunden hatte. Im Da- si“, der noch dieses „spezielle Etwas“ habe viscup spielte er nur, wenn der Ausstatter wie die zurückgetretenen John McEnroe den patriotischen Dienst für sinnvoll erach- und Jimmy Connors oder der langsam ver- tete. Ein Duell zwischen Agassi und Sam- schwindende Boris Becker. pras gab es auf dem Platz nur ein paar Mo- Ihm gefalle die Entwicklung seines nate lang, aber Nikes Werbestrategen mach- Sports ja auch nicht, sagt Andre Agassi, ten es zum Tennisereignis der neunziger nur aus strategischen Gründen schaue er Jahre. „Es wurde einfach gut verkauft“, sagt sich noch Auftritte der Kollegen an. Zu vie- Agassi, der den Part des Wilden spielte. le „Spieler, die man einfach nicht gern Er hatte keine Botschaft, er war nur an- sieht“, liefen da herum; Männer, „die auf- ders. Gehaßt haben ihn dafür Leute wie geben, weil sie irgend etwas im Ober- der Turnierdirektor vom Hamburger Ro- schenkel zwickt, und die jene Spiele, in thenbaum, Günter Sanders, den die Firma denen es knapp werden könnte, verschen- Agassi Enterprises mit gewaltigen Gagen ken, weil sie schon vorher bezahlt worden für lausige Auftritte ausnahm. Der Flegel sind und weil nächste Woche das nächste sei nicht mal rasiert, rügte der ehemalige Turnier ist“ – Athleten also, die Sport mit Präsident des Weltverbandes Philippe Cha- dem Kalkül ihrer Manager betrachten und trier: „Eines Tages steckt er sich noch eine „ihr Herz draußen lassen“. Das sagt aus- Feder in den Rücken.“ gerechnet Agassi, der selbst mal der drei- Wenn so einer nach all den Jahren sei- steste Abzocker von allen war. ne Kostüme abstreift, sind Beobachter na- Er war der Kerl, der verkaufte, was Wer- turgemäß skeptisch. Zeigt der Popstar etwa betexter „Rock-’n’-Roll-Tennis“ genannt endlich sein wahres Gesicht? Oder ist die hatten. Zuerst betrat Agassi, das schulter- neue Schlichtheit bloß die neue Mode? lange Haar mit wasserstoffblonden Sträh- Wenn Agassi heute spielt, dann tut er nen verziert, die Plätze mit den kurzen das ganz wie der Rivale Sampras. Er Blue jeans von Nike, die sich McEnroe schlurft auf den Platz, nestelt ein wenig an noch verbeten hatte. Dann trug er Lila, dem viel zu großen Hemd herum, verzieht später Schwarz, und schließlich trug er ein keine Miene, nimmt sein Gegenüber aus- weißes Hemd, das beim Aufschlag so exakt einander und verdrückt sich.Agassi pöbelt auf Brusthöhe rutschte, daß sein rasierter nicht mehr, stoppt die Bälle nicht mehr mit Bauch zum größten Ereignis von Wimble- dem Hintern, ignoriert die Zuschauer. don wurde. „Schönheit entsteht im Auge Und hinterher sitzt er in Jeans und grau- des Betrachters“, sagt er heute, „aber ich em Sweatshirt da, ist lieb zu Kellnern und hatte Spaß. Da war etwas Flippiges in mir, allen anderen Menschen und sagt, er sei le- was Nike wie mit einem gigantischen Me- diglich erwachsen geworden. Klar, in jun- gaphon in die Welt geblasen hat.“ gen Jahren sei er ein bißchen wild und Auf der Tribüne saßen damals Freun- großkotzig gewesen, und selbstverständ- dinnen wie Barbra Streisand, angeblich lich wünsche er sich, daß er mit der Reife eine „Woman in love“, die ihn mit hellem von heute noch mal in früheren Zeiten le- Stimmchen „Dre“ nannte und kreischte: ben könne. Aber andererseits: „Hey, wir

J. RUSSEL / GAMMA STUDIO X J. „Let’s go, Dre.“ Agassi verschenkte Autos reden hier über einen Teenager, und nur

der spiegel 3/1999 151 Sport weil ich damals so verrückt war, bin ich In Las Vegas begann die Kinderarbeit. ein Mensch geworden, auf den ich heute Rita, die Älteste, war das erste Opfer. Elf stolz sein kann.“ Ballmaschinen standen auf dem Platz, da- Agassi sieht sich am Ziel einer exzessi- mit die Filzkugeln in unterschiedlicher Ge- ven Reise. Becker und Thomas Muster be- schwindigkeit und vor allem ohne Pause haupten von sich, als Spitzensportler die übers Netz kamen. Wenn Rita ein Match Enttäuschungen ihrer Kindheit kompen- verlor, schrie er, und wenn sie knapp ge- siert zu haben. So ein Getriebener sei er wann, schrie er auch, denn die Idee hinter nicht, sagt Agassi. seinem Drill war: „Wenn du es genügend Kein Wort verliert er in diesem Moment haßt, daß der andere besser ist als du, dann über den despotischen Vater und die lange wird er nicht lange besser sein.“ Psychotherapie. Er beschreibt den Weg ei- Rita spielte pro Woche 8000 Bälle, mit 13 nes Abenteurers der Neunziger. Dessen Jahren hatte sie blutige Magengeschwüre, Motivation sei ganz einfach: „Why not?“ mit 19 hörte sie auf, und am selben Tag Seine Krisen, seine Abstürze hätten vor stellte sie die Kommunikation mit ihrem allem damit zu tun gehabt, daß er niemals Vater ein. Ihre Geschwister Phillip und nur Tennis gespielt habe wie Sampras, der Tami hatten nicht ihr Talent, und deshalb „eher simpel“ gestrickt sei, sondern im- war das Neugeborene dran. Andre spielte mer schon „alles wollte“: „Wenn du einmal 14000 Bälle pro Woche. Bei den Meister- nachts unterwegs bist, kannst du am näch- schaften für Jugendliche unter 13 Jahren sten Tag noch trainieren, aber wenn du da- wurde Andre Dritter – sein Vater stopfte nach wieder unterwegs bist, hast du am den Pokal in die Mülltonne. Olympia-Gastgeber Salt Lake City: „Ortswechsel dritten Tag ein Problem.“ Weil stets Brooke Wenig später sah Agassi senior einen TV- oder eine andere auf ihn gewartet habe, Bericht über Nick Bollettieri, der in Flori- sei er nach jedem seiner drei Siege bei da eine Tennis-Akademie nach militäri- OLYMPIA Grand-Slam-Turnieren wie automatisch die schem Vorbild aufgebaut hatte.Also schick- Weltrangliste hinabgestürzt – während te er den 13jährigen Andre dorthin. „Es Ins Klo gespült Sampras sich seit nunmehr fünf Jahren an war die Hölle“, sagt Agassi, „ich war jung, der Spitze hält. einsam, kein Mensch war für mich da.“ Das IOC hat eine einschlägig Nach dem Fall auf Platz 141 saß Agassi mit Darum trank er und kiffte. Er verklei- Brooke Shields in der Küche, und sie stell- dete sich und lief weg, aber immer wieder bekannte PR-Agentur mit ten fest, daß „die anderen besser werden wurde er eingefangen und mit noch schär- dem Krisenmanagement von Salt und ich immer schlechter. Es mußte eine feren Drills bestraft. „Der einzige Weg, her- Lake City beauftragt – sie hat Entscheidung her“.Weil er kleiner ist als die auszukommen, war Erfolg“, sagt Agassi. schon bei Politaffären mitgemischt. meisten Kollegen, das erkannte er an jenem So kommt es wohl, daß Andre Agassi Abend, „verlangt mein Spiel Fleiß, Präzi- eine Stunde lang darüber reden kann, ein alt Lake City ist eine Stadt, in der sion und Fitneß, sonst bin ich ein durch- intensives, ein großes Leben gelebt zu ha- Ordnung, Sitte und Anstand herr- schnittlicher Profi“.Also, sagt Agassi, „mach- ben – und daß er zum Schluß scheinbar Sschen. Die Straßen bilden ein strenges te ich mir einen Plan, und übergangslos und seltsam Schachbrettmuster, in dessen Zentrum die dann arbeitete ich meinen grinsend doch noch von den drei Türme eines Gotteshauses alles über- Plan ab“. Jeden Tag stemmte vielen Verletzungen und ei- ragen: der Tempel der Mormonen-Sekte er mit Gil Reyes, dem Fit- ner „nie erlebten Kindheit“ „Kirche Jesu der Heiligen der letzten neßtrainer, der aussieht wie spricht und davon, daß ihn Tage“. Die Gläubigen trinken keinen Kaf- eine Mischung aus Pitbull und nie jemand gemocht habe, fee, keinen Tee und keinen Alkohol. Sie Sumo-Ringer, Gewichte; dann wenn er nicht Turniere ge- verschmähen Tabak und führen zehn Pro- ging er laufen; dann auf den wann. Daß er immer für an- zent ihres Gehalts an die Religionsge- Tennisplatz. „Jeden Tag hatte dere gelebt habe, nie für sich. meinschaft ab. ich Zweifel, aber wenn du Daß er vielleicht nur deshalb Seit acht Wochen jedoch ist die Kapita- dich an die Quälerei erst ge- immer wieder abgetaucht le des Bundesstaates Utah, die keine Müll- wöhnt hast, ist sie wie alles sei, weil er den Vater gehaßt probleme hat und keine Slums kennt, in andere im Leben.“ habe und sich selbst, das Ge- der 90 Prozent der Einwohner weiß sind So kam er zurück in die schöpf dieses Despoten. und der Statistiker das schnellste Wirt- Weltspitze und wurde „auf Denkbar, daß Agassi seine schaftswachstum und die höchste Gebur- diesem Schlachtfeld inner- zwei Geschichten auf ameri- tenrate der USA attestieren, aus den Fugen halb der weißen Linien“ kanisch-pathetische Art er- geraten. wieder der Spieler, der er zählt, um sich wieder einmal Im „Jerusalem der amerikanischen Wü- gewesen war: das Produkt neu zu erfinden. Am Ende ste“, so müssen seine ehrbaren Bürger er-

seines Vaters. RUSSEL / GAMMA STUDIO X J. der Reise sei der unauffällige schrocken feststellen, wird bestochen und Vater Agassi war Amateur- Agassi mit Vater (1976) Agassi womöglich nur die betrogen, werden Prostituierte geheuert und boxer und zweimal Olympia- letzte Wendung der großen wird die Wahrheit gebogen. „Es ist wie Teilnehmer. Tennis lernte er auf den Plät- Show, vermutete „Sports Illustrated“: ein böser Traum“, sagt Brad Olch, Bürger- zen hinter einer US-Missionskirche in Te- „Agassi Unplugged“. Ebenso denkbar aber meister von Park City, dem Austragungsort heran. Gut war er nie, aber daß Eltern reich ist, daß auf ihre Art beide Versionen stim- der alpinen Skirennen: „Du möchtest auf- werden könnten mit diesem Spiel, das be- men und langsam zusammenfinden. wachen und dein gewohntes Leben fort- griff er lange vor Peter Graf. In Amerika Agassi erzählt, wie er vor Jahren mal setzen.“ landeten Mike Agassi und seine Frau Bet- gefragt wurde, ob er Tennis eigentlich Doch der Alptraum ist Wirklichkeit; in ty einst in Chicago, ehe sie, deprimiert von möge. „Ich weiß nicht“, habe er da gesagt. der Stadt am Großen Salzsee geht es kaum der Kälte, ins Auto stiegen und nach We- Und jetzt? „Jetzt mag ich Tennis, ich mag anders zu als in New York oder Los Ange- sten fuhren. es wirklich.“ Klaus Brinkbäumer les. Der Tag, an dem sich die politische

152 der spiegel 3/1999 unangenehme Fragen an Außendarstellung. Zu den Kunden zählen „Dear Frank“ Joklik – etwa Lebensmittelriesen wie Kellogg’s, Phar- die, wie man die „Integrität makonzerne wie Merck oder die Regie- der Marke Olympia wie- rung von Katar. derherstellen“ wolle; und Als im vergangenen September eine Ma- ob man „noch weitere schine der Swissair vor der kanadischen Überraschungen befürch- Ostküste ins Meer stürzte, klingelte bei ten“ müsse. Von den „ein- Scott Tagliarino, Chef der New Yorker gehenden Antworten“ will Dependance, drei Stunden später das Te- US West sein „weiteres Vor- lefon. Tagliarino, eine Art Red Adair der gehen“ abhängig machen. Öffentlichkeitsarbeit, übernahm das publi- Auch andere Unternehmen zistische Krisenmanagement. prüfen die Rechtslage. Jetzt macht er sich an die Operation Der Schweizer IOC-Vize- Salzsee.Vorige Woche fahndete Tagliarino präsident Marc Hodler als erstes nach einem geeigneten Sprecher unkte bereits öffentlich, die des IOC, der, so eine Hill & Knowlton- Mormonen-Stadt müsse die Losung, mediengerecht „Verantwortung zu Spiele wegen des „schwind- übernehmen vermag, ohne Schuld einzu- süchtigen Publikums- und gestehen“. Nebenbei verschob er die Sponsoreninteresses“ wo- Präsentation des Maskottchens auf unbe-

BONGARTS möglich zurückgeben. Und stimmte Zeit. Generalstabsmäßig wird statt nur im Fall von Erdbeben, Bürgerkrieg oder höherer Gewalt“ in der Tat fehlen im 1,45- dessen das kommende Wochenende ge- plant: Am Sonntag will das Moral aus der Mormonen-Metropole ver- IOC in Lausanne seinen abschiedete, war der Tag, an dem ambi- Ermittlungsbericht vorle- tionierte Geschäftsleute beschlossen, das gen. Den Ablauf bestimmt ehrpusselige Image von Salt Lake City zu Hill & Knowlton ebenso ändern: Mit den Olympischen Winterspie- wie die Entsendung von len 2002 sollten Weltläufigkeit und Mo- „geeigneten“ IOC-Vertre- dernität leuchten. tern in ausgewählte Nach- Statt das Image zu verbessern, barmt der richtensendungen, Talk- frühere Landrat Randy Horiuchi, „haben shows und Zeitungsredak- wir mit diesem Skandal unseren sauberen tionen. Ruf ins Klo gespült“.Ähnlich wie die Som- Daß die PR-Experten in merspiele 1936 als Nazi-Propaganda-Ver- der Wahl ihrer Mittel nicht

anstaltung im Gedächtnis bleiben, ähnlich PETERS / BONGARTS F. zimperlich sind, haben sie wie München 1972 mit dem palästinensi- Schlußfeier in Nagano (1998): „Integrität wiederherstellen“ einschlägig dokumentiert. schen Attentat auf die israelische Mann- 1990 erhielt Hill & Knowl- schaft verbunden wird, steht Salt Lake City Milliarden-Dollar-Etat des olympischen ton von Kuweitern den Auftrag, die Weltöf- schon jetzt für die größte Bestechungsaffäre Spektakels noch rund 250 Millionen. Die fentlichkeit über die Notwendigkeit eines der olympischen Geschichte. Affäre, räumt der nationale Finanzchef John Angriffs auf den Irak aufzuklären. Die Ein rundes Dutzend der 89 abstimmen- Krimsky ein, sei bei der Akquisition der Lobbyisten präsentierten vor amerikani- den Mitglieder des Internationalen Olym- Restsumme wenig hilfreich: „Wir sind um schen Senatoren die 15jährige Augenzeugin pischen Komitees (IOC) ließ sich von den ein Jahr zurückgeworfen.“ Najira el-Sabah. Das Mädchen schilderte, amerikanischen Ausrichtern umgarnen: mit Eilig signalisierten Calgary, Olympia- wie irakische Soldaten in Kuweit Neuge- der Kostenübernahme von Operationen, stadt 1988, und Lillehammer (1994) ihre borene aus Brutkästen gerissen und zu Bo- mit üppigen Geschenken, mit Stipendien Bereitschaft, für Salt Lake City einzu- den geworfen hätten. Die Horrorstory war oder Arbeitsplätzen für Verwandte oder, springen. Doch die Blamage einer Verle- indes erfunden, das Mädchen die Tochter wie Jean-Claude Ganga, IOC-Mitglied aus gung will das IOC unter allen Umständen des kuweitischen Botschafters. dem Kongo, mit 50000 Dollar cash. Vier vermeiden. „Nur im Fall von Erdbeben, Statt die überfälligen Reformen im IOC Institutionen – das Nationale Olympische Bürgerkrieg oder höherer Gewalt“ sei ein in Gang zu bringen, wird Hill & Knowlton Komitee der USA, das Salt Lake Organi- Ortswechsel denkbar, brummte Michael bloß für kosmetische Korrekturen sorgen. zing Committee (SLOC), das IOC und das Payne, Marketing-Direktor des IOC. Bei der Präsentation der Verfehlungen wird Justizministerium – versuchen angestrengt, Persönlich wurde der smarte Wirt- es darum gehen, die Vorteilsnahme der den Skandal aufzuklären. schaftsmann vorige Woche bei seinen Groß- Olympier als Einzelfälle verirrter Seelen Der Rücktritt des Organisationschefs geldgebern vorstellig. In Atlanta mühte er herunterzuspielen. Daß einige Abkassie- Frank Joklik diente vorvergangenen Frei- sich, die Manager von Coca-Cola, Xerox, rer ihre Mitgliedschaft verlieren, scheint tag vor allem als Befreiungsschlag, der ei- UPS und Visa zu beruhigen. unumgänglich – schließlich muß die olym- nen Neuanfang ermöglichen sollte. Denn Für Payne ist der US-Markt existentiell pische Bewegung ihre Selbstreinigungs- es geht um weit mehr als verletzte Werte, wichtig: Neun der elf im Top-Programm des kraft vorgaukeln. ramponiertes Ansehen und ein paar stra- IOC versammelten Edelsponsoren kommen An Fachkompetenz in Sachen Olympia pazierte Paragraphen: Es geht um Hun- aus den Staaten; bei sieben der neun laufen mangelt es Hill & Knowlton nicht. Das Ge- derte Millionen Dollar. im nächsten Jahr die mit mindestens 40 Mil- schacher um die fünf Ringe ist den Mana- Die Sponsoren drohen erstmals mit lionen Dollar dotierten Verträge aus. gern hinreichend bekannt: Vor Jahren über- Konsequenzen: Die Telefongesellschaft Auch in New York machte Payne am nahmen sie die Beratung von Athen, das US West hat die Auszahlung der ersten vorletzten Wochenende Station. Dort be- sich für die Sommerspiele 2004 bewarb. Die Tranche ihrer 25 Millionen Dollar einst- suchte er die US-Filiale der Londoner PR- griechische Hauptstadt, als Außenseiter an- weilen gestoppt. Ihr Vizepräsident Mark Agentur Hill & Knowlton. Das Unterneh- getreten, erhielt den Zuschlag. Roellig stellte in einem Brief sechs höchst men berät weltweit Institutionen bei deren Alfred Weinzierl, Jörg Winterfeldt

der spiegel 3/1999 153 Werbeseite

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ASTRONOMIE Neuer Himmelszensus uf einer Tagung der American Astro- Anomical Society haben Himmelsfor- scher die Zahl der Sternsysteme im Uni- versum erneut nach oben korrigiert. Noch vor gut drei Jahren hatten Astronomen

die Gesamtzahl aller Galaxien auf 50 Mil- / GAMMA STUDIO X NASA liarden geschätzt und sie wenig später auf Hubble-Aufnahme von fernen Galaxien 80 Milliarden erhöht. Mit Hilfe von Auf- nahmen des Hubble-Weltraumteleskops, bei denen ein Aus- strumente an Bord von Hubble trugen zum verbesserten schnitt am südlichen Sternenhimmel zehn Tage lang kartogra- Himmelszensus bei: eine Kamera für den Bereich des nahen phiert und seine Galaxiendichte ermittelt wurde, haben die Infrarot, die für normale Optiken durch kosmische Staubwol- Astronomen nun eine neue Hochrechnung erstellt: 125 Milli- ken verdeckte Objekte sichtbar macht, sowie ein Spezial-Spek- arden Sternsysteme (jedes wiederum Milliarden von Sonnen trograph. So konnte Hubble Galaxien erkennen, die nur eine enthaltend) bevölkern demnach das Universum. Zwei neue In- Milliarde Jahre nach dem Urknall entstanden sind.

VERHALTENSFORSCHUNG MEDIZIN Überleben Schutz vor tödlichem Gift durch Vielmännerei eltweit sterben jährlich etwa 300000 Menschen an einer Sepsis, einer meist Wdurch Krankenhauskeime ausgelösten Blutvergiftung. Die Sepsiserreger, vor al- wanzig männliche Geschlechtspart- lem sogenannte gramnegative Bakterien, bilden Giftstoffe („Endotoxine“). Diese Zner oder auch mehr haben Bie- überschwemmen den Organismus und führen zu Entzündungsreaktionen mit häufig nenköniginnen auf ihrem Hochzeitsflug. tödlichem Ausgang. Eine Arbeitsgruppe am Münchner Universitätsklinikum Groß- Was könnten die Vorteile solcher bei hadern hat nun ein Verfahren entwickelt, das die tödliche Sepsis-Spirale unterbre- vielen Tierarten verbreiteten Vielmän- chen könnte. Ähnlich wie bei der Blutwäsche durch die Künstliche Niere wird dabei nerei („Poly- das Blut des Patienten außerhalb des Körpers durch einen Spezialfilter gepumpt, in andrie“) sein, frag- dem sich selbst winzige Mengen der Endotoxine binden. Allerdings wurde das Ver- ten sich die Ver- fahren bisher erst bei zwei Patienten erfolgreich eingesetzt. Dietrich Seidel, der Lei- haltensforscher ter der Arbeitsgruppe, kündigt an, daß es nun in Zusammenarbeit mit den Intensiv- Boris Baer und medizinern des Klinikums an einer größeren Zahl von Patienten erprobt werden soll. Paul Schmid-Hem- pel von der Eid- genössischen Tech- nischen Hochschu- UMWELT le in Zürich. Die Antwort der bei- Preis für den: Ziel sei es,

SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR die genetische High-Tech-Wohlstand Hummel Vielfalt der Nach- kommen zu er- as kalifornische Silicon-Valley, Inbe- höhen. Diese ermögliche es, besser mit Dgriff des geballten High-Tech-Wohl- Parasitenbefall, etwa durch Milben, stands, hat für seinen wirtschaftlichen Wachsmotten oder Fliegenlarven fertig Aufschwung einen hohen Preis zahlen zu werden. Bei einem Versuch mit müssen. Das einst für seine ertragreichen Hummelvölkern bestätigte sich diese Obstplantagen berühmte Tal, inzwischen

These: Die Forscher befruchteten eine Sitz zahlreicher US-Computerfirmen, ist FOCUSR. BROWNE / PICTURE GROUP AGENTUR Königin mit dem Samen von vier Brü- „praktisch zubetoniert“, wie Aaron Industrieanlagen im Silicon Valley dern, eine andere mit dem von vier ge- Sachs vom Washingtoner Worldwatch netisch verschiedenen Drohnen. Dann Institute konstatiert. An 178 Orten in der Region haben Firmen mit Giftabfällen setzten sie die Völker in einem typi- aus der Elektronikproduktion das Grundwasser verseucht. Verkehrsprobleme und schen Hummel-Biotop, einer blühenden Smog sind schlimmer als in Los Angeles. San Jose, die größte Ansiedlung im Tal, Wiesenlandschaft bei Basel, aus. hat mittlerweile mehr Einwohner als San Francisco, bietet aber nur ein Viertel der Tatsächlich entwickelten sich die gene- Grünfläche pro Kopf. Nur eine Minderheit der Angestellten verfügt, so die tisch vielfältigen Insekten deutlich bes- Worldwatch-Studie weiter, über höhere Einkommen. Im unteren Viertel der Lohn- ser und litten weniger unter Parasiten und Gehaltsskala sind dagegen seit 1990 die durchschnittlichen Einkünfte sogar um als die familientreuen Artgenossen. 14 Prozent gesunken.

der spiegel 3/1999 157 Prisma Computer

INTELLIGENZ Computer allmählich zu Weltverstand. Er hat gelernt, daß Zigaretten und Autos zu den Dingen gehören, die qualmen, Froschauflauf und daß Augen kleiner sind als Golfbäl- le. 3253 Objekte umfaßt sein Wissen der- zeit, von der Aktienbörse bis zum m Computer schlauer zu machen, Frosch. 1118 Fragen kennt er, mit denen Ugibt es viele Wege. Dieser ist neu: er unbekannte Objekte ergründen kann. Man läßt ihn einfach fragen. Im Internet Das Internet-Spiel ist ein Werk des ame- wartet ein Rechner tagein, tagaus auf rikanischen Programmierers Robin Leute, die aufgelegt sind, ein Spielchen Burgener, der seit zehn Jahren spaßes- namens „Twenty Questions“ mit ihm zu halber an einem selbstlernenden Com- machen. Es besteht darin, daß der puter bastelt. Jetzt hat er den Spieltrieb Mensch sich ein Objekt ausdenkt, und der Internet-Gemeinde als unerschöpfli- der Computer muß es erraten. Dazu stellt chen Wissensquell entdeckt. Leider ist er der Reihe nach Fragen, und der Mit- sein System damit auch wehrlos Scherz- spieler antwortet mit Ja, Nein, Vielleicht bolden ausgeliefert, die ihm mit dum- oder dergleichen. Ist das Objekt wertvoll? men Antworten die Datenbank ver- Klebrig? Hat es eine Sirene? So grenzt derben. Deshalb ist der Computer nun der Computer die Auswahl immer weiter der Ansicht, daß man aus Fröschen ein. Am Ende speichert er die Antworten Auflauf macht und daß Bleistiftspitzer zusammen mit den Objekten in seiner Eier legen. Datenbank. Auf diese Weise kommt der http://come.to/20q

HÖRFUNK MUSIK kostenlos zur Verfügung. Die meisten Radio auf Abruf Abspielprogramme sind in der Lage, Abba bis Schnittke automatisch darauf zuzugreifen. Sie in neues Radio läßt den Hörern die berechnen aus den digitalen Verwal- EWahl, wann sie die gewünschte Sen- enn man schon Musik-CDs im tungsdaten, die jede CD enthält, eine dung einschalten wollen. Sie legen vor- WComputer anhören kann, warum eindeutige Kennung und schicken die her ein Sortiment fest, aus dem sie sich werden dann nicht anstelle der abstrak- entsprechende Anfrage an die Daten- dann frei bedienen können. Hunderte ten Nummern („Track 1“) einfach die bank. Wenn die Scheibe dort aus- von Angeboten stehen zur Auswahl – Titel der Stücke eingeblendet? Und die nahmsweise noch unbekannt ist, kann vom lokalen Straßenbericht über die Songtexte gleich dazu? Ein kleines Pro- man ihre Daten gleich nachtragen. Tau- Sportnachrichten bis zu vorgelesenen blem, eine gewaltige Lösung: Im Inter- sende haben das regelmäßig getan. Ein Artikeln aus Zeitschriften. Das Gerät net steht eine Datenbank bereit, in der neues Programm namens PowerPlay hält das gewählte Sor- die Stücktitel von weit über 300000 CDs besorgt zu den Titeln auch die Song- timent, sobald es die abrufbar sind – vom Gesamtwerk der texte von einem Spezialrechner in der Sendungen einmal Popgruppe Abba bis hin zum Concerto Schweiz (www.lyrics.ch), wo mittler- empfangen hat, in sei- grosso No. 6 von Alfred Schnittke. Frei- weile mehr als 100000 Texte gespeichert nem Speicher ständig willige in aller Welt haben den Daten- sind. auf Abruf bereit. Dort schatz zusammengetragen; nun steht er http://www.cddb.com ist Platz für insgesamt sechs Stunden Pro- gramm. Die einzelnen Sendungen werden rund um die Uhr ak- SPIELZEUG tualisiert. Der Nutzer kann sie beliebig an- Spione im Pelz steuern und im Ablauf vor- und zurücksprin- lubschäugige Pelzwesen, genannt gen. Ausgestrahlt wird GFurbies, bedrohen womöglich die das Programm über nationale Sicherheit der USA. Der ame- Satelliten und lokale rikanische Geheimdienst NSA hat sei- Sendestationen, nen Mitarbeitern jetzt verboten, die zunächst in zehn Bal- Plüschtiere mit ins Büro zu nehmen. RCA CA-100 lungszentren der Die chipgesteuerten, sprechenden We- USA. Die neugegrün- sen sind im Herbst auf den Markt ge-

dete US-Firma Command Audio, die kommen und schnell populär geworden. AP diesen Dienst betreibt, verlangt dafür 15 Ihr Wortschatz umfaßt rund 200 Wörter, Computerpelztier Furby Dollar im Monat. Das erforderliche außerdem können sie speichern und Spezialradio namens CA-100, ent- nachplappern, was sie in ihrer Umge- by wäre imstande und quäkte zu Hause wickelt von der Firma RCA, kostet bung aufgeschnappt haben. Daher die Codewörter und andere Geheimnisse knapp 200 Dollar. Sorge der Sicherheitsleute: So ein Fur- aus dem Agentenleben aus.

158 der spiegel 3/1999 Werbeseite

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Ausgegrabene Indus-Metropole Mohenjo-Daro: Nüchtern, friedlich und urban – eine frühe Zivilisation ohne Beispiel in der Geschichte

ARCHÄOLOGIE Oase des Friedens Neben Ägypten und Sumer blühte in der frühen Bronzezeit eine dritte Hochkultur. Die kaum bekannte Harappa-Zivilisation in Indien brachte weder Pyramiden noch babylonische Gärten hervor. Neue Grabungen beweisen jedoch, daß die Siedler am Indus Meister der Landwirtschaft und des Städtebaus waren. Sie kannten keinen Krieg und erfanden die Hygiene.

äuser wie Hutschachteln, Straßen, 1956, hätten eine Kultur ans Licht gebracht, so gerade, als seien sie mit dem Li- „in der es wenig Freude gab, viel Arbeit, Hneal gezogen, ein Ozean von röt- und in der das Materielle eine übermäch- lich-gelb in der indischen Sonne leuchten- tige Rolle spielte“. Im Westen ist die Indus- den Einheitsziegeln – als Ausgräber in den Zivilisation deshalb bis heute so gut wie zwanziger Jahren am Indus auf die Rui- unbekannt geblieben. nen einer viereinhalb Jahrtausende alten Erst Grabungen in den letzten Jahren Kultur stießen, waren sie beeindruckt von haben das Bild von der vermeintlich lang- der Zweckmäßigkeit der frühgeschichtli- weiligen prähistorischen Gesellschaft auf chen Bauwerke. Begeistert waren sie nicht. den Kopf gestellt. Im Kulturschutt der In- Aus Ägypten und Mesopotamien waren dus-Städte förderten die Forscher Spuren die Archäologen Glitzer und Glamour ge- einer Vergangenheit zutage, die den Ver- wohnt. Hier hingegen deutete nichts auf mo- gleich mit den Hochkulturen Ägyptens und numentale Tempel oder Paläste hin. Prunk- Mesopotamiens nicht zu scheuen braucht.

volle Grabmäler, geheimnisvolle Masken G. HELMES Langsam schält sich das Bild eines Ge- oder gruselige Mumien fanden sich nicht. Indus-Skulptur aus Mohenjo-Daro meinwesens heraus, das in der Geschichte Statt dessen standen die Forscher vor Volk ohne Herrscher und Religion? ohne Beispiel ist.Waffen, so scheint es, be- den Trümmern einer scheinbar gesichtslo- saßen die Menschen am Indus nicht. Sie sen Händlerkultur: Eine sterile Einheitsar- on, moserte einer der frühen Ausgräber, lebten in einer Oase des Friedens. Ihr Reich chitektur, so weit das Auge reichte, schach- der Brite Mortimer Wheeler, seien ästhe- errichteten sie ohne Armee, Eroberungs- brettartig angelegte Straßen, eine Orgie von tisch gesehen „Meilen der Monotonie“. feldzüge führten sie nicht. rechten Winkeln, Wohnkasernen mit dem Auch sein Kollege Leonard Cottrell Auch Hinweise auf herausragende Führer Charme sozialen Wohnungsbaus – die Sied- glaubte Heimstätten disziplinierter Amei- fehlen.An der Spitze des Gemeinwesens, so lungen der Indus- oder Harappa-Zivilisati- sen vor sich zu sehen. Die Spaten, klagte er vermuten die Archäologen, standen weder

160 der spiegel 3/1999 FOTOS: J. M. KENOYER J. FOTOS: Indus-Metropole Harappa (Rekonstruktionszeichnung): Modern anmutende Architektur mit Wasseranschluß für jedes Haus machtbesessene Potentaten noch allgewal- gen entdeckt – 917 davon auf dem Gebiet Mit einer Reihe von imponierenden Lei- tige Priester. Die Wohnstrukturen in den des heutigen Nordwest-Indien, 481 in Pa- stungen sorgte das prähistorische Volk um Ziegelstädten zeugen kaum von Unter- kistan und eine in Afghanistan. die Mitte des dritten Jahrtausends für eine schieden zwischen Arm und Reich. Auf Ihren enormen Wohlstand finanzierten urbane Explosion. Die Städte thronten auf Hunderten von Steinsiegeln, die als Händ- die Indus-Bewohner durch den regen über zehn Meter hohen Ziegelplattformen, ler- oder Besitzerstempel für umgeschla- Handel mit Rohstoffen. Sie holten Kup- die Menschen und Häuser vor den jährli- gene Waren dienten, hinterließen die Indus- fer aus den im Westen gelegenen Hoch- chen Überflutungen der Flüsse schützten. Bewohner mit scharf und sauber eingekeil- ebenen Belutschistans, Gold, Silber und Bis zu 80 000 Einwohner wuselten nach ten Zeichen eine der ältesten Schriften der Lapislazuli aus Afghanistan und Zentral- Schätzungen Kenoyers in den Straßen der Welt, die sich jedoch bis heute hartnäckig al- asien. Auf Ochsenkarren kam Bauholz Indus-Metropolen – nicht weniger als in len Deutungsversuchen widersetzt. aus der 7000 Meter hohen Bergwelt des den größten sumerischen Städten. Auf den zweiten Blick hat die kulturel- Himalaya. Schiffe brachten Muscheln und Mit modern anmutenden städteplaneri- le Hinterlassenschaft des Indus-Volks des- Perlen von der Küste des Arabischen schen Fähigkeiten konnten es die Indus- halb doch noch die Leidenschaft der Trüm- Meers. „Wer ge- Ingenieure durchaus mit merforscher entfacht. „Die Indus-Bevöl- nügend Unterneh- Antike Hochkulturen Mitte des späteren Jahrtausenden kerung war nüchtern, friedlich und urban“, mungsgeist besaß 3. Jahrtausends vor Christus aufnehmen. Viele der urteilt Gregory Possehl, Anthropologe an und eine neue Roh- AFGHA- der University of Pennsylvania. Keine an- stoffquelle auftat“, NISTAN PAKISTAN Aus Afghanistan Himalaja dere historische Zivilisation der Welt habe glaubt Jonathan MESOPO- und Kleinasien: TAMIEN je diese drei Eigenschaften vereint. Mark Kenoyer, An- ÄGYP- Gold, Silber, TEN Lapislazuli Rund 700 Jahre lang, von 2600 bis 1900 thropologe an der INDIEN Holz i v vor Christus, florierte die emsige Händler- University of Wis- a R s und Handwerkergesellschaft auf den consin in Madison, e g

Harappa n Schwemmlandschaften des Indus und des „konnte in Harappa ein rei- a mittlerweile ausgetrockneten Ghaggar-Ha- cher Mann werden.“ G kra. Auf seinem Höhepunkt dehnte sich Eine nach allen Regeln a Kupfer s kr u a das Reich über eine Fläche von einer Mil- der Kunst betriebene Land- d H In r- lion Quadratkilometern aus – ein Gebiet, wirtschaft versorgte die Belutschistan ga Tharr-Wüste g knapp dreimal so groß wie die Bundesre- Boomtowns in den Fluß- Mohenjo- a h publik Deutschland. Das Reich der Sume- tälern mit Nahrungsmit- Daro G rer zwischen Euphrat und Tigris war nur teln. Indus-Bauern kulti- halb so groß, und selbst das 3000 Kilome- vierten weitweit als erste ter westlich vom Indus gelegene Herr- Reis und Baumwolle. Ge- ch Muscheln, n Kut Dholavira schaftsgebiet der Pharaonen nahm sich da- treide gedieh auf den frucht- lf vo gegen aus wie ein geographischer Zwerg. baren Schwemmlandböden Perlen Go Kutch Lothal Neben den in den vierziger und fünfzi- im Überfluß. Den Hirsean- ger Jahren erforschten Indus-Metropolen bau lernten die Indus-Sied- Arabisches Meer Harappa und Mohenjo-Daro haben die ler vermutlich durch Kon- 200 km Forscher rund 1400 weitere Niederlassun- takte mit Afrika kennen. Historische Fluß- und Küstenverläufe

der spiegel 3/1999 161 Wissenschaft

Ortschaften aus der Blütezeit besitzen kei- wohner ihre fast wissenschaftlich anmu- nen älteren Siedlungskern – sie wurden in- tende Stadtplanung abkupfern können. nerhalb weniger Jahre wie Kolonialstädte Auch ihre Schrift weist keinerlei Ähnlich- aus dem Boden gestampft. Zehn Meter keiten mit den ägyptischen Hieroglyphen breite Hauptstraßen durchschnitten das oder mit der sumerischen Keilschrift auf. Häusermeer in exakter Nord-Süd- und Eine organische Entwicklungslinie, so Ost-West-Richtung. zeigen die Ausgrabungen der letzten zehn Voraussetzung für das Zusammenleben Jahre, führt von ersten landwirtschaftli- in den bronzezeitlichen Metropolen war chen Siedlungen und verstreuten Farmer- ein Netz von begehbaren, kunstvoll ge- camps aus der Zeit von 7000 bis 5000 vor mauerten Abwasserkanälen im Untergrund Christus über entwickeltere Ackerbauern- der Städte, an die fast jedes Haus ange- Gemeinschaften bis zur städtischen Händ- schlossen war. Dieses unterirdische Laby- ler- und Handwerkergesellschaft des drit- rinth verhalf dem Indus-Volk zum Sieg ten Jahrtausends. über den größten Feind aller frühen Kul- Der „Große Sprung“ zur urbanen Zivi- turen: die Mikroben. Die Kanäle entsorg- M. KENOYER J. lisation fand den neuesten Ergebnissen zu- Siegel mit Einhorndarstellung und Schriftzeichen G. HELMES Ochsenkarren (Kinderspielzeug) ten Schmutzwasser und Fä- kalien ins Umland. Brun-

nen, Bäder und Toiletten be- M. KENOYER J. scherten den Bewohnern ei- Schmuck nen hohen Standard der Indus-Fundstücke: Bauholz vom Himalaya, Perlen vom Arabischen Meer Hygiene. Die antiken Metropolen, fabrizierten Bronzewerkzeuge, folge zwischen 2600 und 2500 vor Christus urteilt „India Today“, waren die der Festigkeit von Stahl na- statt: Die Zahl der Siedlungen verdoppel- „so perfekt geplant, daß die hekamen. Durch das Erhitzen te sich in dieser Zeit, große Städte ent- Inder nie mehr in der Lage bestimmter Gesteinsarten er- standen, die Indus-Schrift tauchte auf. In- waren, diese Errungenschaf- brüteten sie superhartes Mate- nerhalb weniger Jahrzehnte setzte sich ten zu wiederholen – bis rial, das sie als Bohrköpfe zum überall die gitterartige Anlage des Straßen- heute nicht“. Durchlöchern von länglichen netzes durch. Ein einheitliches Gewichts- Auch die Bauweise vieler Karneolperlen verwendeten. und Maßsystem galt bis in den letzten Win- Häuser zeugt von größerem Auch die neueren Ausgra- kel des Riesenreichs. Luxus, als es der erste Blick bungen haben längst nicht alle Unter dem Dach der Indus-Zivilisation einst offenbart hatte: Die Indus-Rätsel gelöst. Figurinen tummelten sich regional unterschiedliche monotonen Würfelbauten graziler Ballerinen belegen, daß Ethnien, wie der Harvard-Anthropologe umschlossen einen schatti- die Bewohner der Städte Tanz Richard Meadow unlängst anhand von gen Innenhof, von dem aus und Musik liebten. Doch mit Knochenfunden ermittelt hat. Zusammen-

die Wohnräume zu errei- G. HELMES Ausnahme eines zwölf mal sie- gehalten wurde der Bevölkerungsmix al- chen waren.Auf viele Stadt- Weibliche Figur ben Meter großen wasserdich- lem Anschein nach von einem oligarchi- wohnungen pfropften die ten Beckens in Mohenjo-Daro schen Herrschaftssystem, bei dem sich Besitzer ein zweites Stockwerk. Die Mau- haben die Forscher nichts gefunden, was Händlerfamilien und Landbesitzer die ern waren verputzt und wahrscheinlich be- auf kollektive Rituale der Städter hinweisen Macht teilten – die unterschiedlichen Tier- malt. In Dholavira, einem von indischen würde. Ob im Indus-Reich überhaupt eine abbildungen auf den Steinsiegeln könnten Archäologen in den letzten sechs Jahren organisierte Religion existierte, zählt zu die Embleme solcher einflußreichen Clans freigelegten Fundort im salzigen Sumpf- den noch ungeklärten Geheimnissen. gewesen sein. land am Golf von Kutch, entdeckten die Andere Theorien über die urbane Zivi- Einige der Forscher werten das Fehlen Ausgräber reich geschmückte Torwege, Säu- lisation stehen dagegen mittlerweile auf jeglicher Zitadellen oder Paläste als Indiz lenarkaden und gewaltige Wasserreservoirs. festen Füßen. Den kulturellen Höhenflug dafür, daß auch die einfachen Bürger der Technologisch stand die Händler- und am Indus haben nicht Handelskontakte mit Städte an den politischen Entscheidungen Handwerker-Zivilisation den Nachbar- dem Zweistromland ausgelöst, wie die Ar- beteiligt waren. imperien in nichts nach. Die Bronzezeitler chäologen lange glaubten. Weder von der Die Indus-Bewohner fristeten kein geo- am Indus brauten Bier. Sie brannten Ton- Hochkultur in Mesopotamien noch von graphisch abgeschottetes Dasein, sie ris- gefäße, so hart wie Stein. Indus-Schmiede derjenigen am Nil hätten die Indus-Be- kierten auch den Weg über die See. Bei

162 der spiegel 3/1999 Ausgrabungen in der erst vor kurzem ent- Städte wie Mohenjo-Daro überstürzt ver- schungen möglich.“ Auch Mohenjo-Daro deckten Hafenstadt Lothal am Arabischen lassen wurden. Doch gleichzeitig explo- und Harappa, die am intensivsten er- Meer fanden die Forscher ein über 200 Me- dierte weiter südlich am Indus die Zahl der forschten Indus-Städte, sind bislang erst zu ter langes Schiffsdock, für das die antiken Siedlungen. Auch für einen Wanderungs- einem Zehntel freigelegt. Ingenieure über eine Million Ziegel ver- zug der Stadtbewohner ins östlich gelege- Noch müssen die Ausgräber ihre Hypo- baut hatten. In der Nähe des Docks stießen ne Gangestal fanden die Forscher Hinwei- thesen auf eher spärliche Indizien stützen. die Wissenschaftler auf große Getreide- se. Possehl: „Wir haben es mit einer „Ägypten“, klagt Possehl, „kannten wir speicher und Werkstätten zur Perlenverar- hochmobilen Bevölkerung zu tun.“ Wohl aus der Bibel, das sumerische Ur ebenso. beitung. erst allmählich nahm die Agonie auch auf Und chinesische Schriftquellen berichten Standardisierte Steingewichte der Indus- breiter Ebene ihren Lauf. von den frühen Vorläuferkulturen Zen- Kultur finden sich in vielen Häfen rund An 90 Fundstellen in Indien und Paki- tralasiens. Nur im Fall der Indus-Zivilisati- ums Arabische Meer. Inschriften auf su- stan wird derzeit fieberhaft gegraben. „Die on existieren keinerlei Verweise in irgend- merischen Keilschrifttäfelchen aus der Zeit Decke über der Indus-Zivilisation ist nur einem schriftlichen Dokument.“ um 2300 vor Christus bezeugen, daß die ein wenig gelupft“, sagt Michael Jansen, Die Hoffnungen der grabenden Zunft unternehmungsfreudigen Seefahrer Han- Bauhistoriker und Archäologe an der TH richten sich deshalb auf die Entzifferung delsbeziehungen mit Mesopotamien un- Aachen. „Da sind noch große Überra- der Indus-Schrift. Doch alle Bemühungen, terhielten. Die weitgereisten Kaufleute, den antiken Code zu knacken, scheiterten von den Sumerern „Meluha“ genannt, trie- bisher. Erschwert wird die Arbeit der ben Handel mit Zinn, Blei, Kupfer, Gold, Zwischen Nil und Indus Schriftgelehrten auch dadurch, daß die Ver- Muscheln, Perlen und Elfenbein, vermut- Die frühen Hochkulturen fasser äußerst zurückhaltend waren: Der lich Luxusgüter für den sumerischen Kö- längste bisher gefundene Indus-Text um- Vor ÄGYPTEN MESOPO- INDUS nigshof, für die sich der lange Seetransport Christus faßt ganze 26 Zeichen. lohnte. TAMIEN Grabbeigaben haben den Forschern bei 1000 Neues und Vedisch-arische Invasoren aus dem Nor- Mittleres fast allen Kulturen die Detektivarbeit er- den, so hatten die Forscher jahrzehntelang Reich leichtert: Aus ihnen ließen sich die Lebens- geglaubt, hätten das friedliche Händler- Tutanch- umstände der Bewohner, ihre Religion und amun volk um 1900 vor Christus massakriert und 1500 Altassyri- Einfall politische Dynastien rekonstruieren. Bei ihre Ziegelstädte geplündert. Doch in den sches Reich vedischer dem geheimnisvollen Reich am Indus je- Siedlungen finden sich keine Kampf- Arier doch bleibt auch diese Informationsquelle spuren. Neuere Forschungen belegen zu- Untergang stumm. 3. Dynastie dem, daß die Vedo-Arier zu jenem Zeit- 2000 von Ur Dem nüchternen Händlervolk dürfte punkt noch gar nicht am Ort des Gesche- Harappa- es als sinnlose Verschwendung erschie- Akkadische Zivilisation hens waren. Zeit nen sein, Leichen mit irdischen Gütern Altes Kontakt „Wir glauben jetzt, daß es keine Invasi- Reich auszustatten. Nur wenige ihrer Toten ver- on war“, erklärt Kenoyer. Statt dessen Uruk und mit Meso- frachteten sie zur letzten Ruhe in Holz- 2500 Pyramiden Vordynastie potamien dürfte ein unglückliches Zusammenspiel Schrift särge. Die meisten wurden verbrannt vieler Faktoren das Siechtum der Harappa- von Gizeh oder den Flüssen übergeben. Mit Ge- Früh- Zivilisation ausgelöst haben. Klimatische Frühzeit Harappa schmeide, kunstvollen Möbeln oder son- Veränderungen oder Erdbeben könnten stigen Insignien weltlichen Reichtums 3000 dazu geführt haben, daß Flüsse ihren Lauf hatten die Pragmatiker als Lebende Bes- Schrift veränderten oder austrockneten. Die Me- seres vor. Günther Stockinger tropolen wurden von ihren Le- bensadern abgeschnitten, Han- Schrift delsknotenpunkte mußten auf- 3500 gegeben werden. Die Bauern konnten nicht mehr genügend Nahrungsmittel liefern, um die bevölkerungsrei- chen Zentren zu versorgen. Vie- le große Städte verkamen. Un- kraut wuchs auf ihren Straßen, die Infrastruktur brach zusam- men. Stadtflüchtlinge retteten sich in Scharen aufs Land. Das Riesenreich zerfiel in unter- schiedliche regionale Kulturen. Kenoyer: „Sie hörten auf zu schreiben, sie hörten auf, das Ge- wichtssystem zu verwenden, mit dem sie die Zollgebühren fest- gelegt hatten.“ Auch viele der bis dahin weitverbreiteten Moti- ve auf den Siegelplättchen, wie beispielsweise das mystische Einhorn, verschwanden. Nichts stützt im übrigen die Hypothese, daß sich der Unter-

gang schlagartig vollzogen hat. G. HELMES Zwar ist sicher, daß einzelne Ausgrabungen in Harappa: Großer Sprung zur Stadtkultur um 2600 vor Christus

der spiegel 3/1999 163 zung fürdieEntstehungvon Leben.“ riert sein–eineentscheidende Vorausset- Oberfläche könnte esdeshalbwohltempe- Menschenwelt umdieSonne:„Auf seiner Abstand umseinZentralgestirn wiedie ferne Himmelskörper ineinemähnlichen sofuhr kreise der Yockzudem ergebe, fort, Wie sichausdenMeßdaten deckerteams. einerderLeiterdes60köpfigen Ent- Yock, seeländische AstronomieprofessorPhilip verkündete derneu- gefunden haben“, nensystems einenPlanetenwiedieErde stenmal außerhalbunseres eigenen Son- setzen. Austin jetztinhelle Aufregung zuver- nomen aufeinerKonferenz imtexanischen umdie Astro- schwache Signalreichte aus, Doch dieses Störungen ineinerMeßkurve. sindwinzige Phantom hinterlassen hat, einmal ihrOrtistbekannt. Quelle: „Sterneund Weltraum“ N ekne,siehätten inderMilch- verkünden, der Erde entdeckt–eineOasefür Erde an. bündelt: Eskommt mehrLicht aufder das SternenlichtwiedurcheineLinsege- bei, sowird durch seineAnziehungskraft Erde einmassereicher Himmelskörper vor- Zieht zwischenderStrahlenquelle undder kleiner Teil derStrahlung dieErde. direktem Wege ein,soerreichtnurein Trifft dasLichteinesfernenSternsauf Das PrinzipderGravitationslinse Planet imBrennglas V ee pih aü,daßwirzumer- „Vieles sprichtdafür, diedasgalaktische Die einzige Spur, Erde straße eineZwillingsschwester unbekannte Lebensformen? Astronomen in Australien ooeitetdvn Nochnicht Foto existiert davon. Kein mit eigenen Augen gesehen. iemand hat dieneue Welt bisher vorüberziehender Himmelskörper gegangen Ins Netz ASTRONOMIE Erde Hintergrund- stern körper mitPlanet Himmels- vorüberziehender grundsterns des Hinter- Helligkeitskurve im All hofften die Wissenschaftler einex- Sternen derMilchstraße aufgefangen. Nacht fürdasLichtvon Millionen physiker inNeuseelandund Australien haben dieander Suchebeteiligten Astro- lichst vieleFallen aufstellen:Monatelang eine Menge Geduldaufbringen –undmög- neue Meßmethodemitentwickelt hat. derdie physikalischen InstitutinPotsdam, läutert Joachim Wambsganß vom Astro- er- von ihrem Sternihre Bahnenziehen“, net ineinemlebensfreundlichen Abstand diewieunsereigener Pla- körper aufspüren, „Endlich können wirerdgroße Himmels- native Fahndungstechnik zumEinsatz. kam nunerstmalseinealter- schwester derErde hingegen deckung einerZwillings- ausfindig zumachen. sonnennahe Riesentrabanten relativ de nurmöglichwar, bisher üblichen Meßmetho- daßesmitder menhängt, was einfach damit zusam- lisch heißeHimmelskörper, höl- äußerst lebensfeindliche, Planeten erwiesensichals methoden –gefundenen 17 durch indirekte Nachweis- Trabanten umkreist wird. Stern 51Pegasi von einemjupiterähnlichen daßder Himmelsforscher herausfanden, als Der Durchbruch kamimHerbst1995, dieSuchenachfremden Planeten. rung, mitwachsender Begeiste- Astronomen, 10 Durch dieseaufwendige Rasterfahndung Allerdings müssendiePlanetenjäger Bei dermutmaßlichenEnt- Doch alleseither–stets Erst seitwenigen Jahren betreiben 20 30 Wissenschaft 40 Hintergrundstern Planeten Signal des 0Tage 50 zusätzliche Zacke auf. der Helligkeitskurve eine Planeten umkreist,trittin Himmelskörper voneinem deralsLinsewirkendeWird glockenförmigen Kurve. zunahme inGestalteiner vorübergehende Helligkeits- Astronomen registrierendie Zeichnung derMilchstraße Astrophysiker Wambsganß i ietalsn obdortwomöglich ir- wir direkt ablesen, stoffgehalt inseiner Atmosphäre können „AlleinausdemSauer- seiner Oberfläche. gerabdrücke derchemischenElemente auf enthieltengleichsamFin- fangen würden, einem solchenextrasolaren Planetenauf- lich sein. tene ineinigen Jahren tatsächlich mög- soll dasbislangfürunvorstellbar Gehal- im Weltraum stationierten Superteleskopen Mitneuartigen, obachten könnten. physiker ferne Wandelsterne direkt be- wenn die Astro- nehin erstbeantworten, lich aufeinezweite Erde gestoßen sind.“ daßdieKollegen in Australiengen, tatsäch- istkaumwahrscheinlicher ins Netzgeht, „Daßdabei einPlanet dern (sieheGrafik). weit hinterihnenliegender Sterneverän- indemsiedieHelligkeit bare) Planeten, dingungen verraten sich(selbstnichtsicht- zu erwischen:Unterganz speziellenBe- trem seltenbeobachtetesHimmelsereignis i ihtice,dieForscher dannvon Die Lichtteilchen, Endgültig ließensichsolcheFragen oh-

S. NUMAZAWA/ASTROFOTO T. EVERKE fahren. wird davon niemalser- versum –dieMenschheit sind imgroßen weiten Uni- obsieganz allein brechen, Glibberköpfe darüberzer- diesichihre kriechen sollten, intelligente Quallenumher- Galaxis. ergründbare Planet durch die treibt derun- Erde entfernt, 000Lichtjahre von der 15 bis 10000 gnügen: Irgendwo, einer groben Schätzung be- Siemüssensich mit lisieren. nomen ihnnichtgenau loka- können die Teleskope, Astro- schwach istfürdieirdischen sogar seineSonnezulicht- kaum mehrlösenlassen.Weil auch mitmodernster Technik BLG-35) wird sichallerdings ten (Registriernummer98- deckten namenlosenPlane- sagtWambsganß. nen“, wiewirsieken- existieren, gendwelche Lebensformen ich nichtdafürinsFeuer le- tend: „MeineHandwürde sich einstweilen zurückhal- Auch Wambsganßäußert noch vielzuungenau seien. vorgelegten Meßergebnisse daßdie senschaftler jedoch, stin kritisierteneinige Wis- schein ausfüllen.“ Millionen Spielerden Tipp- weil eben che Gewinner, beim Lottogibtesjede Wo- „Aberauch Wambsganß. erläutert Astrophysiker to“, als sechsRichtige imLot- Selbst wenn darauf also Das Rätsel desjetztent- Auf derKonferenz in Au- Olaf Stampf SPIEGEL-GESPRÄCH „Das weiße Imperium zerbricht“ Der scheidende Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber über seine Vision eines sozialen Wandels im deutschen Gesundheitswesen

SPIEGEL: Herr Huber, Sie selbst bezeichnen sich als „linksalternativ“, als „Arzt für po- litische Medizin“. Ihre standespolitischen Gegner nennen Sie einen „sozialistischen Ellis Huber Schwärmer“, einen „Umstürzler“ und ist die Galionsfigur der kritischen „Nestbeschmutzer“.Was stimmt denn nun? rot-grünen Ärzte. Zwölf Jahre lang Huber: Ich bin Mitglied der katholischen war er Präsident der Berliner Ärz- Kirche und habe sowohl die katholische tekammer, Ende dieses Monats Soziallehre als auch die Errungenschaften wird er sein Amt voraussichtlich der Arbeiterbewegung, also die Organisa- verlieren. Huber, 49, hat die ge- tion gesellschaftlicher Solidarität, praktisch sundheitspolitische Diskussion im- erfahren. Ich bin ein Arzt, der das Ge- mer wieder mit pointierten State- sundheitssystem in sozialer Verantwortung ments angeheizt: Er forderte gestalten will und der überzeugt ist, daß „Ethik statt Monetik“, „Liebe statt wir Ärzte einen sozialen Beruf ausüben Valium“ und konstatierte, 20 Pro- und daß die Medizin insgesamt ein sozia- zent der Berliner Kassenmediziner les Projekt ist. seien korrupt. Zum permanenten SPIEGEL: Ist das der Grund, weshalb Sie vor- Ärger der rechtskonservativen aussichtlich Ende des Monats als Berliner Standesführung brach er wieder- Ärztekammerpräsident abgewählt werden? holt Streit mit der Pharmaindustrie, Und dafür, daß sich nirgendwo in Deutsch- mit Ärztegruppierungen und mit land Ihre Richtung innerhalb der Ärzte- dem Bundesgesundheitsministeri- schaft als mehrheitsfähig erwiesen hat? um vom Zaun. Huber: Es ist immer schwierig, in sozialen Gruppen Mehrheiten zu bekommen. In der

Regel ist ein Drittel einer Population mu- N. MICHALKE tig, erneuerungsfähig, reformbereit; ein Gesundheitspolitiker Huber: Besoldete Hausärzte mit 200000 Mark pro Jahr? Drittel verteidigt alte und liebgewordene Pfründe, und etwa ein Drittel guckt, wer ven bis reaktionären Kräften, den Fach- Huber: Die Ärzteschaft hat offensichtlich den Machtkampf, wenn Wechsel und Wan- arztlobbyisten und den Interessenvertre- Schwierigkeiten, den gesellschaftlichen del anstehen, gewinnen wird. Ich habe im- tern privilegierter Chefärzte zusammen. Wandel nachzuvollziehen, und sie hat mer etwa ein Drittel der Ärzteschaft mit Damit ist die alte Mehrheit flöten. Schwierigkeiten, mit der neuen Regierung ihren Sehnsüchten und mit ihrem Selbst- SPIEGEL: In der neuesten Ausgabe des zu kooperieren. Man läuft Gefahr, sich ins verständnis vertreten. „Deutschen Ärzteblatts“ steht, jetzt gehe gesellschaftspolitische Abseits zu begeben. SPIEGEL: Und Sie brauchten immer die „die lange Periode des gesellschaftlichen Was in Berlin läuft, ist Symptom eines Koalition mit dem „Marburger Bund“, der Aufstiegs, des materiellen Wohlstands für Rückzugsgefechts. Die Welt der Weißkittel- Vertretung der Klinikärzte. die Ärzte zu Ende“. Könnte das, wenn die- Imperien zerbricht. Wie immer, wenn Im- Huber: Der Marburger Bund war standes- se Doppeldiagnose denn stimmt, der perien zerbrechen, ist die letzte Phase mit politisch die Mitte. Jetzt verläßt er die alte Grund dafür sein, daß die Standesvertre- restaurativer Aggression verknüpft. Die Kooperation und geht mit den restaurati- tung so deutlich nach rechts abdriftet? Ärzteschaft wird aber lernen müssen, daß sie Teil eines sozialen Gefüges ist und nicht, 700 davon losgelöst, eine Insel privilegierter Schneller als die Wirtschaft Glückseligkeit. Wie die Gesundheitsausgaben 600 SPIEGEL: Könnte man es nicht auch anders gewachsen sind sehen? Jahrelang wurde den Ärzten ge- 1970 = 100 500 predigt, daß auch in der Medizin die Ge- setze des Marktes herrschen müssen. Jetzt fangen sie an, sich diesen Gesetzen zu un- 400 GESUNDHEITSAUSGABEN terwerfen. Huber: Es ist in der Tat weltweit eine 300 grundsätzliche Frage, wohin es mit dem Gesundheitssystem geht. Das mit Abstand BRUTTOINLANDSPRODUKT 200 teuerste, aber gleichzeitig gesellschaftlich Angaben nur für Westdeutschland am wenigsten produktive Versorgungssy- 100 stem haben die Vereinigten Staaten. Also:

M. DARCHINGER Das Konzept eines freien kapitalistischen 1970 75 80 85 90 95 Gesundheitsministerin Fischer Marktes schafft hohe Umsätze, wunder-

der spiegel 3/1999 165 bare Kapitalrenditen – also Reichtum für die Aktionäre des Viagra-Produzenten Pfi- zer –, aber Armut in der Bevölkerung und einen Verlust an sozialer Gesundheit. Das trägt zum Zerbrechen des sozialen Binde- gewebes bei. SPIEGEL: Und Sie glauben wirklich, dieser Prozeß lasse sich aufhalten? Huber: Es ist eine politische Führung ge- fragt, die sagt: Wir müssen das Gesund- heitssystem aus den Klauen des Kapitals herausführen und möglichst nicht vom Profit gesteuerte Wettbewerbsstrukturen schaffen. Die Ärzteschaft leidet am „Tita- nic“-Syndrom. Sie versucht, die alte Herr- lichkeit immer schneller immer weiter vor- wärtszutreiben, obwohl sie weiß, daß die- se Entwicklung in die Eiseskälte der ge- sellschaftlichen Verhältnisse und letztlich in das Scheitern des ärztlichen Berufes führt. SPIEGEL: Das ist Ihre Analyse. Die Mono- polkommission sieht das ganz anders. Erst jüngst forderte sie in einem großen Be- richt, die Marktöffnung auch im Gesund- heitswesen umfassend zu verwirklichen. Läuft die Entwicklung nicht eher in diese als in die von Ihnen angestrebte Richtung? Huber: Das kann sein.Wenn die Politik ver- sagt und wenn eine rot-grüne Koalition nicht in der Lage ist, diese Kräfte zu ban- nen, werden wir amerikanische Verhält- Medizinerdemonstration gegen rot-grüne Reformpläne (in Dortmund): „Die Ärzteschaft leidet

die Ökonomie des Gesundheits- Gesundheitswesen besonders bedacht und Springflut in Weiß versorgungsunternehmens mit den humanen Zielen abgeglichen wer- Zahl der Ärzte* in Tausend 296,4 Deutschland eher abträglich. den. Politisch muß entschieden werden: 289,7 SPIEGEL: Warum soll das für Wollen wir Gesundheitsversorgung als so- Krankenhausärzte 113,2 115,5 Deutschland abträglich sein? ziale Gesamtaufgabe und damit als ver- niedergelassene Ärzte Das Gesundheitssystem ver- netztes Gesamtunternehmen mit dem Pro- Behörde/sonstiges schlingt nicht nur Geld, es trägt dukt „preiswerte Gesundheit“? Oder wol- nicht ärztlich tätig 199,1 auch zum Bruttosozialprodukt len wir sie als vom Kapital regiertes System 77,8 bei. Millionen von Menschen le- betreiben mit dem Ziel, möglichst hohe ben von diesem System. Es hat Medizinumsätze mit den entsprechenden 93,8 95,3 in den letzten Jahrzehnten Hun- Gewinnmöglichkeiten zu erreichen? Gesamt 101,5 derttausende von Arbeitsplätzen Die Bevölkerung hat mit der Bundestags- 67,4 geschaffen und ist in den letzten wahl eindeutig zum Ausdruck gebracht, 40,7 Jahren eines der wenigen echten daß sie eine Erneuerung des bestehenden 26,8 27,5 Wachstumsfelder gewesen. Systems anstrebt, daß sie keine weitere 49,8 15,8 55,9 58,1 Huber: Psychosoziale Gesundheit Kommerzialisierung und geldgesteuerte wird auch in der Zukunft ein Pervertierung des vorhandenen Gesund- 8,9 38,2 12,1 Motor wirtschaftlicher Auf- heitswesens will. 1970 1985 1995 1996 schwünge bleiben. Was ich be- SPIEGEL: Was wollen Sie denn an die Stel- klage, ist eine Art Krebszellen- le des heutigen Systems stellen? *nur Westdeutschland, ab 1995 einschließlich Ost-Berlin ökonomie, verursacht durch das Huber: Es gibt da ein Dilemma: die Diskre- Führungsversagen der berufs- panz zwischen Bedarf und Bedürfnis. Ich nisse bekommen. Das heißt: ein Absinken ständischen, der gesundheitspolitischen Eli- schlage vor, die gesetzliche Krankenversi- der Volksgesundheit bei ausufernden me- ten. Die Finanzierungssysteme sind schuld cherung auf den Bedarf zu begrenzen. Das dizinischen Dienstleistungen. an der Fehlabstimmung zwischen Gesamt- sind die medizinischen Dienstleistungen, Man muß sich einfach klarmachen, daß es nutzen und Verhalten des einzelnen. die, unabhängig von den individuellen Be- immer zur Aufgabe von Heilberufen gehör- SPIEGEL: Das heißt: Es geht ums Geld. Ist dürfnissen, im Krankheitsfalle nützlich, te, zwischen individuellem und allgemei- genug Geld vorhanden? Oder zuwenig? wirtschaftlich und vernünftig sind. Das nem Wohl eine Brücke zu schlagen. Es gibt Sollte es proportional mehr sein? Häufig wäre die Größenordnung von acht bis zehn die sozialstaatliche Gesamtphilosophie: hat man den Eindruck, daß die Ärzteschaft Prozent des Bruttoinlandsprodukts als not- Wir wollen gute Gesundheit für alle, und ein besonders intimes Verhältnis zum Geld wendige Finanzierungsmasse. das preiswert für die Volkswirtschaft. hat. Täuscht dieser Eindruck, oder ist es SPIEGEL: Also ein Aufwand wie bisher. Gleichzeitig widersprechen sich aber die wirklich so? Huber: Etwa. Aber zusätzlich wäre die pri- Interessen des Ganzen und diejenigen des Huber: Geldgier geht im Zweifel über Ge- vate Absicherung oder die private Finan- einzelnen. Was betriebswirtschaftlich lu- sundheitsinteressen schamlos hinweg, auch zierung von individuellen Bedürfnissen krativ für ein Krankenhaus, für eine Arzt- über Lebensinteressen. Das weiß jeder.Von einzuführen. Es spricht nichts dagegen, daß praxis oder eine Sozialstation ist, ist für daher muß der Umgang mit dem Geld im sich jemand zum Beispiel gegen drohende

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Huber: Das durchschnittliche Einkommen SPIEGEL: Glauben Sie denn, daß es irgend- ist immer noch sehr beachtlich. Es gibt aber eine realistische Chance gibt, das zu än- bettelarme und nach wie vor steinreiche dern? In den letzten 20 Jahren hat sich, Ärzte. egal wer regiert hat, nichts geändert. Die SPIEGEL: Was heißt „sehr beachtlich“? Ursachen sind ja seit 20, 30 Jahren be- Huber: Es liegt bei 170000 Mark vor Steu- kannt. ern im Jahr. Ich persönlich würde ihnen Huber: Richtig. Es ist aber nicht falsch, auch etwa 30000 Mark mehr geben, wenn sie vom Kapitalismus zu lernen. Man muß die im Gegenzug mit Leidenschaft und Fach- Profitziele nicht übernehmen, man kann kompetenz eine sinnvolle, ressourcenspa- auch soziale Gewinnziele an deren Stelle rende Versorgung organisieren. setzen. Konkret: Ich würde ein Kranken- SPIEGEL: Solange das gegenwärtige Hono- versicherungssystem gestalten, in dem der rierungssystem in Kraft ist, werden Sie Hausarzt als Arzt des individuellen Ver- wohl vergeblich auf dieses Wunder war- trauens die Entscheidungsgewalt erhält. Er ten. entscheidet, was am vernünftigsten und Huber: Das Honorarsystem und das Finan- am preiswertesten ist. Man muß die Ver- zierungssystem für die Krankenhäuser pro- antwortung für einen sinnvollen und spar- duziert wirklich systematische Schmarot- samen oder haushälterischen Mitteleinsatz zerei. unmittelbar in die Hand des einzelnen Arz- SPIEGEL: Und das Opfer ist der Patient? tes legen. Im Gegenzug bekommt er ein Huber: … aber auch der Arzt. Deshalb ist auskömmliches Jahreshonorar, in der es die Aufgabe der berufspolitischen Größenordnung von 200 000 Mark vor Führung, die Systemregeln zu ändern. Wir Steuern, das läßt sich finanzieren im deut- müssen Finanzierungssysteme einführen, schen System. bei denen der Arzt keinerlei materielle SPIEGEL: Aber läßt sich das auch noch fi- Vorteile davon hat, daß er sich für oder nanzieren angesichts der wachsenden Zahl gegen eine Therapie entscheidet. In der von Ärzten? Jedes Jahr kommen zehntau- heutigen Situation, da die ärztliche Ent- send neue Ärzte hinzu. scheidung für eine medizinische Maßnah- Huber: Nicht die Zahl der Ärzte ist das

AP me unmittelbar verknüpft ist mit Geld- Problem, sondern die Art der Medizin, am ‚Titanic‘-Syndrom“ flüssen und folglich mit der Höhe des Ho- die sie betreiben. Zehntausend Ärzte als norars, müssen wir damit rechnen, daß die Personen, die mit ihren Herzen, mit ihren Impotenz versichert. Es würden dann wie Leistung dem Geld folgt und nicht der ärzt- Köpfen und mit ihren Händen kranken in Amerika noch etwa fünf Prozent zu- lichen Aufgabe. Eine schleichende Korrup- Menschen beistehen, kosten nüchtern sätzlich in diesen vom individuellen Be- tion ist in diesem System unausweichlich. betrachtet zwei Milliarden Mark.Wenn wir dürfnis gesteuerten Markt fließen. Damit Genau an dieser Spannungslinie leiden die in die Ressource Arzt investieren, können bekomme ich eine neue Abstimmung zwi- Ärztinnen und Ärzte in Deutschland gotts- wir bei anderen Ressourcen sparen. Die schen Individuum und Gesellschaft, zwi- jämmerlich. Sie werden selber krank und ärztliche Arbeitskraft ist im jetzigen Sy- schen solidarischem Füreinandereinstehen sterben auch früher als andere akademi- stem höchst preiswert; teuer ist die Medi- und individueller Bedürfnisvielfalt. Das ist sche Bevölkerungsgruppen, weil sie die in- zin. Die nackte Vergütung der ärztlichen in einer pluralistischen Gesellschaft not- nere Zerrissenheit zwischen emotionalem Arbeitskraft, also Einkommen vor Steuern wendig. Anspruch, einen helfenden Beruf sozial und Löhne und Gehälter bei Kranken- SPIEGEL: Das läuft darauf hinaus, daß eine verantwortlich auszuüben, und der geld- hausärzten insgesamt, liegt im System der Pflichtversicherung nur für die medizini- gesteuerten Handlungsanweisung, die sie gesetzlichen Krankenversicherung bei 30 sche Grundversorgung aufkommt. Alles, zu Dingen zwingt, die sie vor ihrem Ge- Milliarden Mark. Das sind gut elf Prozent was darüber hinausgeht, können sich nur wissen nicht verantworten können, nicht der Gesamtressource von 270 Milliarden die Reichen leisten. mehr aushalten. Mark. Huber: Wir sprechen hier über ein sozial- demokratisches Tabu: die ewige Angst vor der Zweiklassenmedizin. Es ist aber ein Mythos, zu glauben, man könne die Un- gleichheit einer Gesellschaft im Gesund- heitswesen plötzlich ungeschehen machen. Die Lebenserwartung eines begüterten Menschen ist immer höher als die eines Bergarbeiters. SPIEGEL: Wie würde sich die Unterschei- dung zwischen Regel- und Wahlversorgung auf die Ärzteschaft auswirken? Die Ärzte beklagen sich schon jetzt ganz bitterlich. Ein Hamburger Arzt forderte schon die Priesterweihe für Hausärzte, da diese künf- tig praktisch nur noch für Gotteslohn ar- beiten müßten. Münchner Ärzte stöhnen in der „Süddeutschen Zeitung“ – wörtlich – über den „Hungerlohn“, für den sie arbei- ten müßten, oder das „Entgelt, für das je-

der ungelernte Arbeiter ablehnen würde zu D. AUSSERHOFER / JOKER arbeiten“. Patient bei Gamma-Kamera-Untersuchung: „Das System produziert Schmarotzerei“

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SPIEGEL: Mehr Ärzte bedeuten zwangsläu- Sie haben im Frühjahr gesagt, Sie würden um 500 Milliarden Mark im Jahr geht – wie fig auch mehr Medizin. Aber kommt die es, wenn Sie Gesundheitsminister werden soll sich da etwas Grundsätzliches ändern? wirklich den Patienten zunutze? sollten, auf alle Fälle besser machen als Wie soll der gute Mensch über die Geldgier Huber: Wir müssen bei aller medizinischen der CSU-Mann Seehofer. Jetzt gibt es eine und die Beharrungstendenz in diesen Be- Intervention immer bedenken, welchen neue Gesundheitsministerin, sie ist von den tonburgen siegen? Nutzen sie wirklich hat. Große Teile der Grünen. Glauben Sie, es wird sich etwas Huber: Was die Bischöfe oder die kirchli- heutigen medizinischen Rituale sind über- Nennenswertes bewegen? chen Krankenhausmanager betrifft: Wenn haupt nicht auf ihre Wirksamkeit hin über- Huber: Ja. Andrea Fischer kennt die katho- sie sagen: „Es muß sich aber rechnen“, prüft. Es sind Gewohnheiten, aber keine lische Soziallehre und die Arbeiterbewe- dann ist das die Preisgabe ihrer ursprüng- heilenden Instrumente. Die Ärzteschaft hat gung. Sie ist couragiert, unvoreingenom- lichen Bestimmung, Nächstenliebe und sich seit Jahren geweigert, die eigenen Ri- men, damit auch innerlich ungebunden und Mitmenschlichkeit zu organisieren. tuale, also auch die eigenen Kollektivneu- klug. Aber keine einzelne Person allein Und was die Pharmaindustrie angeht: Sie rosen, zu hinterfragen und zu einer ratio- wäre in der Lage, die Herkules-Aufgabe ist als Industriezweig ein Papiertiger. Die naleren, also aufgabenorientierteren Ge- einer Systemreform zu schultern. Es be- deutsche Pharmaindustrie setzt etwa 35 staltung ihres Berufes zu kommen. darf dazu des Zusammenspiels von Tau- Milliarden Mark im Jahr um. Verglichen SPIEGEL: Dazu sind aber die Streitereien senden veränderungswilliger und sozial mit dem Umsatz des Gesundheitssystems innerhalb der Ärzteschaft, die Verteilungs- verantwortlicher Ärzte, Krankenschwe- von mehr als 500 Milliarden Mark ist das kämpfe, zu groß. stern, Gesundheitsökonomen und Kran- die Größenordnung der Zulieferindustrie Huber: Die Ärzteschaft stiehlt sich gegen- kenkassenmanagern. Die sind in Deutsch- in der Automobilproduktion. Die Pharma- wärtig aus der gesellschaftlichen Verant- land vorhanden. Sie sind in der Regel in industrie wird überschätzt. Sie allein löst wortung. Man streitet ums Geld und hat ge- der zweiten Linie der Führungsetagen an- auch kein wirtschaftliches Wachstumspro- nau deswegen kein Geld mehr. Wenn die gesiedelt, und sie sind bisher in ihrer Krea- blem. Im Gegenteil: Das Wachsen von per- Ärzte um die Erfüllung ihres Auftrages tivität, in ihrer Produktivität gefesselt. sonal erbrachter Dienstleistung in einem kämpfen würden, wäre die Bevölkerung SPIEGEL: Aber selbst wenn die neue Mini- vernünftig gemanagten Gesundheitswesen gern bereit, sie fürstlich zu belohnen: als sterin extrem tüchtig sein sollte, so sind hilft uns sehr viel mehr als der ewige Glau- ärztliche Arbeitskraft, nicht aber als Be- ihre Gegner doch überlebensgroß. Es sind be, man könne mit der Produktion von Va- diener von Computertomographen und die Pharma- und die Medizingeräteindu- lium die Unruhe der Bevölkerung gegen- flächendeckender Medizintechnik, die kein strie; es sind die gigantischen Kranken- über der Arbeitslosigkeit bewältigen. Mensch braucht. häuser, die von Landräten, der katholi- SPIEGEL: Das alles klingt sehr gut. Aber seit SPIEGEL: Sehen Sie eine Möglichkeit, in der schen Kirche, der Arbeiterwohlfahrt und 30 Jahren weiß man, wie stark oder wie veränderten Situation nach der rot-grünen von diversen anderen gesellschaftlichen schwach die Pharmaindustrie ist. Sie hat in Regierungsbildung diese Ziele zu erreichen Gruppen verteidigt werden. Wie soll sich diesen 30 Jahren kein Jota an Einfluß ein- oder ihnen wenigstens näher zu kommen? auf diesem festzementierten Feld, wo es gebüßt. her stellt als die Gesund- Huber: Aber diese nostalgische, rückwärts- heitsinteressen der Bevöl- gerichtete Sehnsucht führt genau dazu, daß kerung. sie das, was sie will, nicht erreichen wird. SPIEGEL: Glauben Sie, daß Die Sozialdemokratie leidet an einem zen- die Frau Ministerin Fischer tralistischen Volksbeglückungswahn. Man das ändern kann? Sie plant glaubt, Gesundheitsversorgung wie eine ja eine Pharmaliste. Wird Megamaschine organisieren zu können, in- es im nächsten Jahr um die- dem man in Bonn regelt, wie sich die klei- se Zeit wirklich eine ge- nen Rädchen in Pfaffenhofen oder in Flens- ben? burg drehen dürfen. Ein solches Poli- Huber: Die Ministerin kann tikkonzept der Machtausübung von oben das schaffen, wenn die so- und des Mißtrauens gegenüber der Selbst- zialdemokratische Partei bewältigungskraft des einzelnen Bürgers

N. MICHALKE bereit ist, konstruktiv und wird scheitern. Das ist im realen DDR-So- Huber (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* produktiv diesen Entwick- zialismus gescheitert; es wird auch in Bonn „Die Pharmaindustrie ist ein Papiertiger“ lungsprozeß mitzutragen, scheitern, wenn man nicht bereit ist, end- und wenn man aufhört, lich politische Führung nicht mehr als Huber: Ich habe in Berlin eine Positivliste kleinkarierte politische Ränkespielchen in Machtausübung, sondern als visionäre Ori- herausgebracht. Das ist eine Liste wirksa- Bonn zu inszenieren. entierung der Bevölkerung zu begreifen. mer, preiswerter und sinnvoller Medika- SPIEGEL: Die Sozialdemokratischen schei- SPIEGEL: Sie haben jetzt wieder viel Frei- mente, gleichzeitig eine Landkarte durch nen sich ja aber im Kern darauf zurückzu- zeit. Haben Sie Pläne, wie Sie den sozialen den Arzneimittel-Dschungel. Ich bin ge- ziehen, daß sie die befürchtete Ungleichheit Wandel vorantreiben können, der Ihnen scheitert an der Angst eines großen Teils vor Krankheit und Tod verhindern und daß vorschwebt? der Ärzteschaft, den Konflikt mit der Phar- sie versuchen wollen, die Rationierung ärzt- Huber: Was jetzt ansteht, ist ein Bündnis maindustrie zu wagen, und ich bin ge- licher Leistungen zu vermeiden. Beides für Gesundheit, in dem Krankenkassen, scheitert am Gesundheitsminister Seeho- droht, weil die Bevölkerung überaltert und selbstkritische Ärzte sowie Gesundheits- fer. Ich durfte nicht in den freien Wettbe- weil es immer mehr medizinische Mög- politiker eine neue Gemeinsamkeit finden. werb eingreifen, weil das deutsche Rechts- lichkeiten gibt, die sehr teuer sind. Die SPD Wir brauchen einen sozial verantwort- system – das ist Ergebnis der politischen – so unser Eindruck – will nichts richtig Re- lichen Dialog zwischen Bevölkerung und Entscheidungsgewalt – die Eigentums- volutionäres anstellen, wie eigentlich noch Ärzteschaft. Dafür werde ich mich auch interessen des Pharmaunternehmers hö- niemals in ihrer Geschichte, sondern sie künftig einsetzen. will für die kleinen Leute den Status quo SPIEGEL: Herr Huber, wir danken Ihnen für * Mit den Redakteuren Hans Halter und Rolf S. Müller. retten, nicht weniger und nicht mehr. dieses Gespräch. Technik

im Gehirn kommen komplexe Verbindun- gen im Nu zustande. Die Idee treibt den Forscher schon seit sechs Jahren um; verwirklichen ließ sie sich bisher nicht. Erst jetzt ist die Technik so- weit. Spezialprozessoren der kaliforni- schen Firma Xilinx erlauben den entschei- denden Schritt. Sie sind nicht, wie üblich, ein für allemal fest verdrahtet. Auf den Chips von Xilinx lassen sich die Schaltele- mente über eine Steuersoftware beliebig zu neuen Kombinationen zusammenfügen. Das Katzenhirn besteht aus 72 Prozes- soren dieser Art, auf jedem von ihnen ha- ben 16 Neuronen Platz. Zusammen macht das 1152 Nervenzellen; jeder Mistkäfer hat mehr. Die wundersame Vermehrung er- reicht de Garis erst, indem er sich die Wan- delbarkeit der Chips zunutze macht: Da sich die Schaltungen auf Kommando ver- ändern lassen, und das blitzschnell, kann er fast unbegrenzt viele Neuronenmuster er- zeugen – wenn auch nur hintereinander und nicht gleichzeitig. Es geht aber den- noch, sie alle miteinander zu vernetzen; das ist der große Trick. Die Prozessoren werden in rasender Taktfolge umprogrammiert. Der Reihe nach werden mehr als 30000 verschiedene Muster – de Garis nennt sie Module –

M. KORKIN wachgerufen und verschwinden im näch- Roboterkatze Robokoneko (Entwurf): Anfang vom Ende des Menschengeschlechts? sten Moment, bis sie wieder an die Reihe kommen. Der ganze Zyklus wiederholt sich 300mal pro Sekunde. COMPUTER In Verbindung bleiben die Module über einen Austauschspeicher, eine Art Post- sammelstelle. Dort können die Neuronen, Gefahr für Mann und Maus ehe sie vorübergehend erlöschen, ihren Nachfolgern Botschaften zur Weiterverar- Ein Forscher in Japan konstruiert das größte beitung hinterlassen. Module, die nach ihnen erweckt werden, rufen diese Nach- künstliche Gehirn der Welt – für eine kleine Roboterkatze. richten ab, rechnen den Bruchteil einer Se- kunde lang und legen dann ihre Ergebnis- in paar Jahrzehnte noch, dann als enthielte sie selbständige Zellen. Das se in der Poststelle ab. So ist es, als wären steht ein blitzgescheites Roboterge- Verfahren ist schwerfällig und kostet viel sie allesamt miteinander verdrahtet. Nach Eschlecht bereit, die Welt zu über- Rechenzeit. außen agieren sie tatsächlich wie ein ein- nehmen. Davon ist der britische Forscher De Garis dagegen baut die Nervenzellen ziges Gehirn. Hugo de Garis zutiefst überzeugt. Traurig direkt aus den Transistoren zusammen, die Die kleine US-Firma Genobyte baut die- zwar, findet er, doch unvermeidlich. Da im Rechenwerk seines Computers stecken. ses Rechenwerk gerade für de Garis zu- baut er die Roboter lieber gleich selbst. Dort sausen die Impulse dann lichtschnell sammen. Ende März soll es fertig sein. Der erste, ein Kätzchen, ist schon in zwischen den Schaltelementen umher.Wie Dann beginnt die eigentliche Arbeit. Arbeit. Es ist nicht menschenmöglich, Bald soll das motorgetriebene Tier durch die Software zu schreiben, die solch die Flure seines Labors im japanischen For- ein riesenhaftes Konglomerat von schungszentrum ATR in Kyoto strolchen. Zellen steuert. Das ist auch nicht Noch gibt es von dem Kätzchen, Codena- nötig. De Garis will sie züchten. me Robokoneko, nur den Bauplan. Das Das Verfahren ist einfach. Der Steuerzentrum aber ist so gut wie fertig: Forscher nimmt dazu eine kleinere ein gewaltiges Schaltwerk aus fast 40 Mil- Zahl ahnungsloser Hirnmodule, die lionen künstlichen Nervenzellen, das bis er zuvor nur mit willkürlichen Ver- ins Detail einem echten Gehirn nachgebil- haltensregeln programmiert hat. det ist. Das, so erklärt er, sei ihr Erbgut. Soviel Hirnmasse hat noch niemand für Dann stellt er ihnen eine Aufgabe – einen Roboter aufgeboten. Etliche Forscher etwa die, das Geräusch einer Fahr- versuchen ebenfalls, in Computern das Zu- radklingel im Straßenlärm zu iden- sammenspiel der Hirnzellen nachzubilden, tifizieren – und sieht zu, wie sie alle

die meisten aber bescheiden sich mit ein K. KURITA scheitern. paar hundert Neuronen. Und selbst die si- Computerforscher de Garis Am Anfang ist das Ergebnis im- mulieren sie nur. Spezialsoftware tut so, Maschinenintelligenz durch Zuchtwahl mer verheerend. Aber einige Mo-

170 der spiegel 3/1999 dule sind stets dabei, die zufällig nicht ganz so hoffnungslos abschneiden. Ihr Erbgut gilt es miteinander zu vermischen, an- schließend wird es ein wenig mutiert, und fertig ist die nächste Generation. So kommt eine Evolution in Gang, die wie in der Natur immer bessere Lösungen hervorbringt, und vor allem rasant. An ei- nem einzigen Tag können Tausende von Generationen entstehen und wieder da- hinschwinden, bis am Ende das tüchtigste Hirnmodul übrigbleibt. Das Verfahren ist nicht neu. Man ver- wendet es, um Computer auf das Erkennen von Bildern oder gesprochenen Wörtern zu trainieren; sie lernen mit der Zeit, dar- in charakteristische Muster zu entdecken. Dann durchforsten sie beispielsweise me- dizinische Aufnahmen mit unerreichbarer Geduld und Akribie. Ob allerdings aus solchem Drill jemals Intelligenz entspringen kann, ist unter den Forschern stark umstritten. Nur die uner- schrockensten glauben, daß es genügt, im- mer größere und komplexere neuronale Netze zu knüpfen. Ihnen voran stürmt de Garis in die Zukunft. In zwei Jahren will er bereits eine Milliarde Neuronen in Gang setzen. Damit läge er immer noch hinter dem Menschen mit seinen hundert Milli- arden Hirnzellen zurück, aber schon weit vor der Biene, die mit weniger als zehn Millionen auskommt. Sein erstes Geschöpf soll immerhin fast die Intelligenz einer Katze erlangen. Das Gehirn verbleibt aber zunächst außerhalb des Körpers; es sitzt in einem Computer. Per Funk kann es die Elektromotoren in den Beinen dirigieren oder den Tongenera- tor miauen lassen. Kameras und Tastsenso- ren im Katzengesicht und Mikrofone in den Ohren melden ihm jederzeit die Lage. Zuvor muß de Garis aber noch jedem einzelnen der gut 30000 Hirnmodule von Hand seine Aufgabe zuweisen, dazu einen Satz von ersten Verhaltensregeln, das Erb- gut. Erst dann kann die Evolution ihren Lauf nehmen. Selbst wenn es dem Hirnbauer gelänge, für sein Denkwerkzeug eine arbeitsteilige Architektur zu entwerfen, die funktioniert, bräuchte er immer noch Scharen von Hel- fern, die den Plan umsetzen. De Garis läßt sich davon nicht verdrießen. Ein paar hun- dert Module reichen ihm für den Anfang. Damit kann das Hirn schon einmal lernen, die Gliedmaßen zu bewegen, vorerst noch in einer simulierten Softwarewelt. Erst wenn die Katze dort einigermaßen laufen kann, bekommt sie einen realen Körper. Der Tag, an dem sie erstmals hinter ei- ner Maus herstolpert, wäre dann wohl der Anfang vom Ende des Menschenge- schlechts. Bis dahin kann aber noch einige Zeit vergehen. Zumal de Garis sich erst noch nach einem neuen Job umsehen muß. Weil das ATR-Institut sparen muß, wird seine Abteilung demnächst geschlossen. Manfred Dworschak

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schen Grenzen der Hörhilfen. Im Stim- mengewirr von Cocktailpartys oder im Ge- PÄDAGOGIK schrei von Parteiversammlungen lassen sich selbst mit hochempfindlichen Fre- quenzreglern keine einzelnen Stimmen Grammatik der Gesten mehr herausfiltern. Hier, so die Grünen, helfen nur noch Gestik und Gebärden. Sollen hörgeschädigte Kinder zunächst nur In ihrem gemeinsamen Beschluß fordern die Politiker der beiden Fraktionen, „das sprechen lernen – oder zugleich auch in der Gebärdensprache Erlernen der Deutschen Gebärdensprache für Taubstumme unterwiesen werden? neben der Lautsprache gleichwertig im Un- terricht zu integrieren“ – ein Ansinnen, wei Wege führen aus dem Gefängnis Sprach- und Wissenserwerb hörgeschädig- das einen Expertenstreit vom Zaun brach. der Gehörlosigkeit: die stummen ter Kinder in Zukunft „bilingual“ ablaufen „Das gleichzeitige Anbieten der Laut- ZWorte der Gebärden und der müh- soll: „Schülerinnen und Schülern muß die sprache und der Gebärde“, warnte Jürgen selige Versuch, den Lippenbewegungen der Möglichkeit gegeben werden, neben der Strutz, ärztlicher Direktor der Regensbur- Umwelt einen Sinn zu entlocken. Vermittlung der Lautsprache auch Gebär- ger HNO-Uniklinik, „ist nicht möglich. Das Seit etwa 15 Jahren eröffnete die Tech- densprachkompetenz zu erwerben.“ Kind entscheidet sich in aller Regel für den nik den Tauben einen dritten Weg: Innen- Das Ergebnis der bisherigen sprach- und zunächst einfacheren Weg der Gebärde.“ ohr-Hörhilfen, sogenannte Cochlea-Im- hörpädagogischen Bemühungen, behaup- Werde aber die Lautsprache nicht erwor- plantate, ermöglichen Ertaubten, wieder ten die hessischen Grünen, sei miserabel: ben, bleibe das Ziel der Integration Gehör- zu hören. Die elektronischen Hörhilfen „In den alten Bundesländern sind von loser in die Gesellschaft verfehlt. wurden bisher weltweit rund 17000 Men- 60000 gehörlosen Menschen nur 300 in der „Durch das Cochlea-Implantat“, so schen eingepflanzt, darunter 600 Deut- Lage, zu sprechen und zu schreiben.“ Mit Strutz weiter, „wird der akustische Kanal schen. diesem Argument hatten die grünen Par- geöffnet. Danach sind die Kinder nicht Doch inzwischen gibt es heftige Kritik lamentarier vor sechs Jahren die Diskus- mehr taub oder schwerhörig, sondern an- an dem chirurgischen Eingriff, die ebenso sion losgetreten. Den Beweis für diese Be- dershörig.“ Patienten mit frischen Implan- vehement zurückgewiesen wird. Aktueller Schauplatz des schon seit geraumer Zeit tobenden Glaubenskrieges zwischen Befürwortern der Methode und ihren Gegnern war in jüngster Zeit das hes- sische Parlament. Dort wur- de das Cochlea-Implantat (CI) stellvertretend für eine ganze Richtung der Schwer- hörigen-Pädagogik angegrif- fen: die Hör-Sprech-Erzie- hung. Ohne pädagogische Hilfe können Kinder, die gehörlos geboren werden, das Spre- chen nicht lernen – sie wer- den taubstumm. In Deutsch- land beginnt deshalb das Sprachtraining meist noch vor dem Kindergartenalter nach der sogenannten Deut- schen Methode. Mit Hör- geräten und unter Ausnut- zung von vorhandenen Hör- resten lernen die Kinder hören und durch Artikulati- onsübungen sprechen.

In den Curricula der M. LANGE / VISUM Schwerhörigen-Schulen ist Unterricht in der Gebärdensprache: „Mit wem sollen meine Hände nach der Schule reden?“ diese „oral-aurale“ Technik, die Hör-Sprech-Erziehung zum Erwerb der hauptung sind sie schuldig geblieben. Den taten, die sprechen gelernt hatten, bevor sie deutschen Laut- und Schriftsprache, fest- betroffenen Eltern zufolge lernen heute taub wurden, berichteten dem Regensbur- geschrieben. Die Gebärdensprache, für rund 90 Prozent aller hörgeschädigten Kin- ger Arzt, daß das neue Hörvermögen – ver- viele ältere Gehörlose Alltagssprache, ist der hören, sprechen und lesen; die Hälfte glichen mit früheren Höreindrücken – zu streng verpönt und aus dem Unterricht von ihnen besucht normale Schulen, keine einer Micky-Mouse-Intonation hin ver- verbannt. Schwerhörigen-Einrichtungen. schoben sei. Doch deswegen habe bislang Von diesem Grundsatz hat sich der Hes- Dennoch möchten Grüne und SPD, daß niemand auf das elektronische Gehör ver- sische Landtag Ende letzten Jahres verab- die Gebärdensprache offiziell Einzug in die zichten wollen. schiedet. Mitte Dezember beschlossen die hessischen Hörgeschädigten-Schulen hält. „Die Versprechungen der Vertreter der Wiesbadener Parlamentarier, daß der Grund für das Verlangen sind die techni- Cochlea-Implantate, daß ein Hörschaden

172 der spiegel 3/1999 hirn etwas anderes. Wenn ich einen Satz Sende- implantierter Kabel zur Schnecke spreche, kann ich dazu nicht gebärden. Die spule Stimulator Elektronisches Innenohr-Implantat Lautsprache ist eine Sprache, die mich un- Mikrofon abhängig macht.“ Die französische Psycholinguistin Béné- Gehör- dicte Boysson-Bardies glaubt, daß auch knöchelchen Richtung Hör- zentrum im Gehirn gehörgeschädigte Kinder „von vornherein Innenohr aufs Sprechen programmiert“ sind. Wenn ihnen jedoch nicht frühzeitig zu Hörein- Hörnerv drücken verholfen werde, notiert die Schnecke Sprachforscherin Patricia Kuhl von der Uni- Trommelfell (Cochlea) versity of Washington in Seattle, sei später ein Spracherwerb nicht mehr möglich. Noch vor dem ersten Plappern müssen alle Babys erst einmal das Hören lernen. ie Hörprothese besteht aus einer äußerlich tragbaren und einer Nur nach und nach unterscheidet das Ge- implantierten Komponente. Ein Mikrofon hinter dem Ohr gibt hirn Klänge von Krach, Laute von Lärm, Sprachprozessor akustische Signale an den Sprachprozessor weiter. Dort werden Reden von Radau. Der biologische Zeit- sie kodiert und über die Sendespule drahtlos an den Stimulator rahmen für diese Entwicklung ist eng. Die übermittelt. Dieser Mikrocomputer leitet die empfangenen Impul- sensible Phase für die Konditionierung des se an die Schnecke und an den Hörnerv weiter. Hörsystems endet mit dem zweiten Le- bensjahr. Unterbleibt in dieser Zeit aku- vollständig durch das CI kompensiert wer- distanziert. Schon damals wurde die Deut- stische Stimulation, gehen die ungenutz- den kann, sind bis heute nicht bewiesen“, sche Methode verbindlich an den Gehör- ten neuronalen Verbindungen zugrunde. wetterte dagegen Daniela Happ, selbst losen-Schulen eingeführt – die Gebärden- Einmal abgestorben, regenerieren sie sich gehörlos, in einem Positionspapier der Ka- sprache wurde zwar benutzt, doch Vorrang nicht mehr. tholischen Gehörlosenseelsorge. „Wir ver- hatte das Ziel, tauben Kindern durch Arti- Bei fast allen taub geborenen oder durch langen einen angemessenen Spracherwerb, kulationsübungen ein möglichst verständ- Krankheit hörgeschädigten Kindern sind mittels Gebärdensprache, von Anfang an.“ liches Sprechen beizubringen. Hörreste vorhanden. Reicht das Rest- Schützenhilfe erhält das Wiesbadener Bis dahin war die Unterrichtssprache Gehör für den Unterricht nicht aus, bleibt Gebärden-Begehren aus dem linguistischen die Hand-Sprache. Die Deutsche Gebär- die Möglichkeit des operativen Eingriffs Lager. Neuere Forschungen belegen, daß densprache wurde – wie andere nationale ins Innenohr. das Gestenspiel der Gehörlosen mehr ist Gebärdensprachen auch – im Laufe von Dabei wird ein winziger Elektrosti- als nur Andeutung und Hilfssprache. Ge- Jahrhunderten von den Betroffenen selbst mulator unter die Kopfhaut implantiert. bärdensprachen zählen zu den natürlichen entwickelt. Doch die Verständigung durch Er übermittelt Signale direkt in die Hör- und damit vollwertigen Idiomen mit einer Handzeichen blieb immer eine Art Ge- schnecke (Cochlea), von wo sie an den eigenen, komplexen Grammatik. heimsprache. Bis heute wird die lautlose Hörnerv weitergeleitet werden (siehe Nach Ansicht von CI-Spezialist Strutz Kommunikation von der Mehrheit der Ge- Grafik). hätte der frühzeitige Unterricht in der Ge- sellschaft nicht verstanden. Für das gehörlos geborene Mädchen aus bärdensprache dennoch fatale Folgen: „Ein „Keiner in unserem Ort“, klagt eine Münzenberg hat sich seit der Implantation Gehörloser, der nur die Gebärdensprache Schülerin aus dem hessischen Münzenberg, eine neue Welt eröffnet: „Ich kann viele gelernt hat, ist nicht in der Lage, ein Buch „und keiner aus der Verwandtschaft kann Geräusche, die ich noch nie gehört habe, oder eine Zeitung zu lesen.“ Denn nur die die Gebärdensprache. Meine Hände wüß- jetzt hören, zum Beispiel die Autos auf Welt der Klänge erlaubt es, die phonetische ten nach der Schule oder in den Ferien der Autobahn in weiter Entfernung, wenn Schrift zu begreifen. nicht, mit wem sie reden sollten.“ Unter Papa im Bad niest – und das Zwitschern Die Diskussion in Deutschland um die großen Mühen und mit Hilfe eines Innen- der Vögel.“ richtige Förderung tauber Kinder dauert ohr-Implantats hat sie deshalb in den ver- Noch allerdings wird sie einige Jahre in- schon mehr als 100 Jahre. Auf einem inter- gangenen Jahren hören und sprechen ge- tensives Schultraining brauchen, um auf nationalen Kongreß der Taubstummenleh- lernt. ein gleichwertiges Hör-, Sprech- und Bil- rer, in Mailand 1880, hatte sich die deutsche Viele Eltern von Kindern mit Hörschä- dungsniveau wie normalhörende Kinder Gehörlosen-Pädagogik von der Gebärden- den zeigten in Wiesbaden denn auch kein zu kommen. sprache als einzigem Verständigungsmittel rechtes Vertrauen in die Zweisprachen-Me- Der Beschluß des Hessischen Landtags thode. Die „Arbeitsgemeinschaft Hörge- stößt bei der Schülerin auf entschiedene richtete Frühförderung“ in Hamburg, eine Ablehnung. Zwar soll der Unterricht in der Vereinigung von Eltern mit hörgeschädig- Gestiksprache zunächst als Wahlpflichtfach ten Kindern, glaubt nicht an die „Fiktion und erst in der fünften Klasse beginnen. der Bilingualität“. Sie hält das Kombi-Kon- Doch das halten viele Eltern für eine Fin- zept für eine „Mogelpackung“. Nach ihren te; denn zugleich müssen sich alle Hörge- Beobachtungen an einer Hamburger schädigten-Pädagogen nun in der Gebär- Gehörlosen-Schule, an der zur Zeit das er- densprache ausbilden lassen – eine Vor- ste bilinguale Pilotprojekt läuft, werden schrift, argwöhnen Kritiker, die wohl nur die Schüler dort programmwidrig vor al- dazu diene, das bisherige Schulkonzept lem in der Gebärdensprache ausgebildet. aufzuweichen. Auch die gehörlose Schülerin aus Mün- Schon bei einer Anhörung im Hessen- zenberg hält nichts vom gleichzeitigen Un- Parlament hatte die Mutter eines hörge- terricht in der Gebärden- und Lautspra- schädigten Kindes dagegen Protest einge-

S. ELLERINGMANN / BILDERBERG che: „Wenn man zuerst Gebärden lernt“, legt: „Man sollte“, verlangte sie, „lieber Sprechübung für Gehörlose schreibt sie in einem Brief an das hessi- strengeres Augenmerk auf Artikulations- „Lautsprache macht unabhängig“ sche Parlament, „dann merkt sich das Ge- und Hörtraining legen.“ ™

der spiegel 3/1999 173 Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

DENKMÄLER mehr Aufmerksamkeit si- cher wäre als vor dem PDS-Hauptquartier. Mitt- Sahra und die lerweile setzt sich ein Initiativkreis, darunter der Schriftsteller Walter rote Rosa Jens und der Grüne Chri- stian Ströbele, für die Ver- un hat die PDS schon mal eine rote Märty- ewigung der Politikerin

Nrerin wie Rosa Luxemburg als weltbe- A. SCHOELZEL ein. Zwei Rosas in Kon- rühmte Galionsfigur, aber ihre Mitglieder kön- Biebl-Denkmal, kurrenz zueinander je- nen sich nicht einigen, wie und wo sie ihr ein Wagenknecht doch finden die Fürspre- Denkmal setzen. „Ohne vorherige Absprache“ cher „politisch und ästhe- und mit „Mitteln der Konspiration“, so ließ die tisch unsinnig“.Verwirrung löste PDS-Vordenker Partei verlauten, habe der Künstler Rolf Biebl André Brie mit seiner Kritik aus, Luxemburg wer- vorvergangenen Samstag einfach eine Bronze- de – als ob das nicht längst geschehen wäre – skulptur der 1919 ermordeten Kommunistin vor durch ein Denkmal zur „Ikone“ gemacht. Fürch- die Berliner Parteizentrale zementiert – was die tet der ehemalige Stasi-Mitarbeiter, der heute in Neudemokraten des Vorstands als „undemo- vorderster Linie für die Sauberkeit seiner Partei kratisches Verfahren“ geißeln. Mehr noch: Einen streitet, etwa eine Verwechslung der historischen „illegalen Partisanenkampf“ habe die Initiato- Figur mit einer äußerst lebendigen, die es mit der rengruppe heraufbeschworen, um vorhandene Vergangenheitsbewältigung freilich nicht so genau Beschlüsse zu hintergehen. nimmt? Sahra Wagenknecht, 29, Vertreterin der Die Bezirksverordnetenversammlung Berlin- linksradikalen Kommunistischen Plattform, hat Mitte hatte sich bereits im November 1998 für Goethes „Faust“ ebenso im Kopf wie das Marx- ein Rosa-Denkmal auf dem Rosa-Luxemburg- Engelsche Manifest und erinnert mit Frisur und Platz ausgesprochen – wo der zierlichen Kämp- Spitzenblüschen sicher nicht zufällig an Rosa

ferin, das räumen selbst ihre Enkel im Geiste ein, BILDERDIENST ULLSTEIN Luxemburg.

LITERATUR wiedererkennt. Oder es sind zwei Männer, die auf der Straße hinter ihm Hohn und Spott im herlachen und ihn verunsichern – und zwei der Kassiererinnen bringen den Supermarkt Mann mit ihrem Kichern aus der Fas- sung, als er im Einkaufswagen eine ei Peter Handke hätte der Titel Tafel Schokolade heranrollt. Auch bei Bwahrscheinlich gelautet: „Versuch einer Bettszene gibt es plötzlich jene

über die Lächerlichkeit“ – das wäre et- „peinliche Stille“ zwischen den Lie- CINETEXT was trocken gewesen, aber in jeder Hin- benden, die den Helden fürchten läßt, Mäuse-Abenteuer „Bernhard und Bianca“ sicht treffender und auch eleganter als „sie werde ihren lächerlichen Kern ausgerechnet „Die Kassiererinnen“. Die rasch enthüllen und jede weitere An- ZEICHENTRICKFILME Damen von der Supermarktkasse spie- näherung endgültig unmöglich ma- len in dem kleinen Roman von Wilhelm chen“. Doch so kommt es dann nicht. Disneys Tugendwächter Genazino zwar eine ehren- Und der Flaneur kann auch werte Statistenrolle, sogar von sonst Momente des Glücks eichentrick-Handwerker haben sich hohem Unterhaltungswert. und des Einverstandenseins Zschon lange die Arbeitstage durch Tatsächlich aber ist diese wun- mit sich verbuchen, abgerun- subversive Scherzchen aufgelockert, derbar leicht und wie neben- gen einer sensiblen Wahr- etwa durch obszöne Schnörkel auf ei- bei erzählte Geschichte eines nehmung der eigenen Per- nem Einzelbild, die bei normaler Vor- Flaneurs und alternden Groß- son und der Dinge und De- führgeschwindigkeit des Films nicht zu stadt-Einsamen nicht weniger tails der Umgebung. Der sehen sind. Entdeckt wurden die mei- als ein Essay über jenes Ge- Auftritt von drei Kontrolleu- sten erst, seit es Videogeräte mit Stop- fühl von Lächerlichkeit, das ren in der Straßenbahn oder and-Go-Schaltung gibt. Nun hat ein selbst den Souveränsten an- die Sorgfalt einer Verkäufe- verjährter Streich zu einer teuren Ak- wehen kann, wenn die eigene rin beim Einpacken eines tion bei Disney geführt: Kurz nachdem Person plötzlich zum Gegen- Tortenstücks können so An- Anfang Januar das Mäuse-Abenteuer stand von Hohn, Spott oder laß zu erzählerischen Bra- „Bernhard und Bianca“ aus dem Jahr mitleidigen Blicken wird. vourstücken geben. 1977 erneut auf Video erschienen ist, Genazino, 55, der viele Jahre in Frank- Selten – außer bei Handke – ist in deut- sprach sich herum, daß in der 38. Minu- furt am Main gelebt und sich dort um- scher Sprache vom Alltagsleben so te bei Druck auf die Pausentaste im geschaut hat (heute wohnt er in Heidel- wach und wehmütig zugleich erzählt Hintergrund eine Nackte zu sehen sei. berg), läßt seinen Ich-Erzähler diese worden. Disney handelte sofort: 3,4 Millionen Pein erleben, als der sich, am Schalter Kassetten wurden eingezogen, alle einer Bank stehend, auf dem Bild- Wilhelm Genazino: „Die Kassiererinnen“. Rowohlt bisherigen Käufer können ihre Kopie schirm einer Überwachungskamera Verlag, Reinbek; 160 Seiten; 32 Mark. kostenlos gegen eine neue eintauschen.

der spiegel 3/1999 175 Szene

SCHRIFTSTELLER Kampf der Verspargelung s muß nur genügend Wind in ihren Vorgärten gemacht werden, dann mischen Esich sogar deutsche Schriftsteller wieder in die Politik ein. Am Rande des Bio- sphärenreservats Schorfheide-Chorin in der brandenburgischen Uckermark sind

A. KÄMPER Standorte für jene hohen, weißen Windmühlen ausgewiesen, die alternative Ener- Langhoff gie liefern – prominente Anrainer und passionierte Landbewohner rufen jetzt zum Kampf gegen die bundesweite Verspargelung auf. Das „Darmstädter Manifest“, das HAUPTSTADT sich gegen „ökologisch und ökonomisch nutzlose Windgeneratoren“ wendet, die „in Jahrhunderten gewachsene Kulturlandschaften industriell überformen“, ha- Zitterpartie für Langhoff ben außer 80 Hochschulprofessoren auch Günter de Bruyn, Gabriele Wohmann und Botho Strauß unterschrieben. Die Windkraft-Kritiker warnen vor der Verfrem- as Haus gilt als nobelste Sprech- dung „historischer Ortsbilder unserer Städte und Dörfer“, wenn nicht mehr „Kir- Dbühne Deutschlands – und versank chen, Schlösser und Burgen“, sondern bis zu 120 Meter hohe in den vergangenen Jahren doch oft in Windräder zu zentralen Erhebungen werden. Auch weniger vornehmer Langeweile: Das Deutsche kulturgewichtige Argumente führen die Initiatoren an: Die Theater in Berlins Mitte hat unter dem Häuslebesitzer, da macht Geistesgröße keinen Unterschied, seit 1991 amtierenden Intendanten Tho- fürchten schlicht „große Immobilienwertverluste“. mas Langhoff wenig Spektakuläres zustande gebracht, sieht man mal von Jungstar Thomas Ostermeier in der Ne- benbühne „Baracke“ ab. Nun muß der Berliner Kultursenator Peter Radunski diese Woche entscheiden, ob er Lang- hoff, 60, einstweilen bis 2001 verpflich- tet, zwei weitere Jahre gewährt. Für den erfahrenen Theatermann spricht, daß er dem Haus hohe Zuschauerzahlen ver- schaffte; gegen ihn ein Defizit von 4,7 Millionen Mark. Als mögliche Nachfol- ger Langhoffs gelten Wolfgang Engel, 55, und Frank Baumbauer, 53, der eine derzeit noch Theaterchef in Leipzig, der

andere in Hamburg. Baumbauer aller- MOSES (kl.) STEFAN (gr.); R. WALZ dings ist auch als künftiger Leiter der Strauß, Strauß-Haus in der Uckermark Münchner Kammerspiele im Gespräch.

Kino in Kürze

„Die Ewigkeit und ein in Alexandros’ Leben, und andererseits Traumszenen, in Tag“. Nur einen Tag denen sein Lieblingsautor erscheint, der große romantische noch kann der alternde Freiheitsdichter Dionysios Solomos. In früheren Angelopou- griechische Dichter los-Werken gewannen verflochtene Handlungsstränge und Alexandros (Bruno atemraubende Kamerakunststücke einen mächtigen Sog. Dies- Ganz) frei über sein mal, wenn auch beeindruckend, bleibt das elegische Ganze ein Leben verfügen, dann sehr gewolltes und gekünsteltes Stück Literaturkino. wird fällig, was er seine letzte „Reise“ nennt: „Das Schicksal“. Ibn Ruschd, im christlichen Europa Averroes Krankenhaus, Mor- genannt, war die überragende Philosophenfigur in der Blüte- phium, ab in die Ewig- zeit der spanisch-islamischen Kultur, hatte als Aristoteles- keit. Wie aus diesem Kommentator auch starke Wirkung auf die christliche Philoso- trauerschweren Le- phie des Mittelalters – und doch wurde in Mohammeds Welt bensabschied ein Be- seines 800. Todestags, vor ein paar Wochen, nur still gedacht: Szene aus „Die Ewigkeit und ein Tag“ ginn hervorscheint, er- Der Aufklärer und Vernunftprediger Ibn Ruschd war mit mus- zählt der große griechi- limischen Fundamentalisten über Kreuz geraten, die eine „Fat- sche Kinopathetiker Theo Angelopoulus, 63, in seinem elegi- wa“ gegen den Ketzer durchsetzten; er mußte Córdoba verlas- schen Film, der 1998 in Cannes die Goldene Palme gewann. sen und starb Ende 1198 im Exil in Marrakesch. Der Film zum Alexandros befreit einen albanischen Flüchtlingsjungen aus Jubiläum, in dem Youssef Chahine, der Altmeister des ägypti- den Klauen von Kinderhändlern, will ihn mit dem Auto in sei- schen Kinos, die dramatische Schicksalswende in Ibn Ruschds ne Heimat zurückbringen, scheitert im verschneiten Gebirge Leben heraufbeschwört, hat die Qualitäten eines großen, farb- aber an einem hohen Grenzgitterzaun, der das ganze Land satten Historienfreskos, dazu eine überraschende Vitalität wie ein KZ erscheinen läßt. Dieser bitteren Wintergeschichte durch den Einsatz von Tanz und Gesang: Er feiert nicht nur, sind einerseits sonnendurchglühte Bilder von einem Strandfest sondern wendet, deutlich aktualisierend, den alten Stoff in ein entgegengesetzt, Erinnerung an den innigsten Glücksmoment Plädoyer gegen Fanatismus und Intoleranz.

176 der spiegel 3/1999 Kultur

Am Rande Zum Piepen Die einen lebten in der Steinzeit, die anderen zur Zeit der Bauern- kriege, wir leben im Zeitalter der Kommunikation. Darunter leiden sogar unsere gefie- derten Freunde. Sie kommunizieren nicht mehr, die Vögel, sie haben das Singen verlernt oder gar nicht erst erlernt. „Vögel in der Nähe von Straßen können sich

LEPOWSKI & HILLMANN nicht mehr hören“, so ertönte jetzt Gong-Installation von Plensa in Hannover der Warnschrei britischer Vogel- schützer; das Kommunikationsmit- KUNST tel Auto mache sie stumm. Oder sie äffen nach, was das Zeital- Plätschernde, rauschende Liebe ter der Kommunikation sonst noch so bietet, das Gepiepse der Handys n Alabasterhäuschen schlägt der Puls des Künstlers. Sobald der Besucher eine der Ifünf freistehenden Kabinen betritt, deren Wände milchiges Licht nach außen drin- oder das Heulen von Alarmanlagen. gen lassen, umfängt ihn – pochend, plätschernd oder rauschend – der Klang des Blut- Die Folgen sind fatal: Ohne Lied gibt kreislaufs, so wie ihn ein Arzt durchs Stethoskop vernimmt. Der katalanische Bild- es bei den Vögeln keine Liebe, sie hauer Jaume Plensa, 43, hat die Eigengeräusche auf Tonband festgehalten, um Kunst- lassen die Flügel hängen und ster- freunde mystisch „meinen Körper bewohnen“ zu lassen. „Love Sounds“ heißt der ben aus. neue Werkkomplex – und nach ihm die ganze Ausstellung, mit der Plensa bis zum 7. März die Schauräume der hannoverschen Kestner-Gesellschaft besetzt. Skulptur, Der Gesang des Männchens näm- Klang und Schrift verbinden sich da zu Inszenierungen von hohem Stimmungsreiz, lich ist für die gefiederte Partnerin allerdings auch von leicht penetranter Theatralik. So darf im Hauptsaal des ehema- ein sexuelles Stimulans. Versuche ligen Hallenbades jedermann auf zehn dröhnende Riesengongs schlagen, die durch haben ergeben, daß die Piep-Show Elementarvokabeln wie „Nacht“ und „Tag“, „Traum“ und „Begehren“ markiert den Hormonspiegel der Weibchen sind. Anderswo fallen Tropfen von der Decke herab auf Zimbeln mit eingravierten in die Höhe treibt. Hält der Freier Inschriften: raunenden Sprüchen des englischen Vorromantikers William Blake. den Schnabel, dann rührt sich nichts. Einige Populationen haben schon Federn gelassen. Die Zahl der AUSZEICHNUNGEN nicht von der dunklen Schönen, son- Kernbeißer, Grasmücken und Piro- dern von Regisseur Detlev Buck. Ohne le, so die Vogelfreunde, sei bereits Panne oder Maulkorb? Begründung hatte die BR-Redaktion die Laudatorin wieder ausgeladen. Demir- geschrumpft. Friß,Vogel, oder stirb? ie Frau hat einen Ruf zu verlieren: kan – „das ist ein Politikum“ – sieht ei- Nein: Sing, Vogel, oder stirb! Dden einer politisch engagierten, bis nen Zusammenhang zu ihrem Auftritt Man solle vom Volke lernen, mahn- zur Nervgrenze austeilenden, türkisch- bei Sabine Christiansen, wo sie kürzlich te mal einer; vom Vogel auch. Im deutschen Schauspielerin. Kein Wunder, mit dem Münchner Staatskanzleichef Gefiepe und Gejaule der elektroni- daß Renan Demirkan, 43, heftig auch Erwin Huber (CSU) über die doppelte auf vermeintlich Neben-säch- Staatsbürgerschaft stritt: schen Moderne dräut für Kultur- liches reagiert: „Ei-ne große „Was die CDU da vorhat, pessimisten eine Steinzeit der Ge- Ehre“ war es dem Bayeri- kommt völkischer Propagan- fühle, ein neuer Primitivismus; die schen Rundfunk, die Künstle- da gleich.“ BR-Redakteurin wirkliche Kommunikation, die der rin um eine Lobrede auf den Simone Stewens beschwört Worte, Blicke, Künste, Töne, wird türkischen Jungfilmer Fatih indes ihre Unabhän- Akin, 25, zu bitten, der ver- gigkeit: „Wir allein, und flügellahm. gangenen Freitag für sein nicht die Staatsregierung, Vermehren sich nicht auch unter Erstlingswerk „Kurz und entscheiden, wer hier die Re- den Federlosen die Beziehungs- schmerzlos“ den Bayerischen A. KIRCHHOF den hält.“ krisen? Filmpreis bekam. Überreicht wurde die Ehrung dann doch Demirkan

der spiegel 3/1999 177 Kultur

Jüdisches Museum in Berlin-Kreuzberg*: Ersatz für das Holocaust-Mahnmal?

ARCHITEKTUR Der gebaute Horror Das Gebäude des Jüdischen Museums in Berlin, entworfen vom Amerikaner Daniel Libeskind, wird diese Woche erstmals zugänglich. Das extravagante Haus ist so symbolbeladen, daß sich das Planerteam schwertut, ein geeignetes Ausstellungskonzept zu finden.

ibeskind, Daniel, Architekt. Drei Ähnlich ehrfurchtgebeu- Kühnheit und Kompro- Worte, ein Name, und das Feuilleton telt schreiben Kritiker über mißlosigkeit, beide Attribu- Lbebt. Kein Bild scheint gewaltig ge- Libeskinds Entwurf zur Er- te werden Daniel Libeskind nug, um die Werke des jüdischen Ameri- weiterung des renommier- fast rituell kredenzt. Um so kaners zu beschreiben: „Eine Vorlesung ten Victoria and Albert Mu- erstaunlicher ist es, daß aus Beton und Stahl“ („SZ“), „ein Spreng- seums in London: „Eine ausgerechnet ein Naheste- körper“ („Frankfurter Rundschau“), ein Spirale zerquetschter Ki- hender, der ehemalige Di- „inszenierter Irrweg“, der „Schwindel“ sten“ („Independent“), eine rektor des Jüdischen Mu- („FAZ“), der „Klaustrophobie“ („Rheini- „Explosion in Glas und seums Amnon Barzel, öf- scher Merkur“) erzeuge. Derart erschau- Mauerwerk“ („Tagesspie- fentlich Mißtrauen sät: Der dernd urteilten Journalisten über das Felix- gel“). Architekt sei ein „Chamä- Nussbaum-Museum in Osnabrück – das er- Und das Jüdische Muse- leon“, schimpft Barzel und ste Gebäude von Libeskind, vor einem hal- um in Berlin, das von Sams- versucht es mit einem Stoß- ben Jahr eröffnet und vom amerikanischen tag dieser Woche an als lee- gebet: „Schütze Gott uns Magazin „Time“ zum siebtbesten Design- res Haus ohne Ausstellung und die Architektur vor sol- Objekt des Jahres 1998 gekürt. öffentlich zugänglich ist, chen Leuten. Er wird mit wird sogar vom selbster- dem Wind gehen.“ nannten Kunstmuffel Josch- Ist Libeskinds Radikalität * Im Vordergrund: „E.T.A. Hoffmann-Garten“.

** Führungen über den Museumspädagogischen Dienst ka Fischer bestaunt: „Diese / IMAGES.DE H. KLOEVER bloß eine Pose? Oder zeigt Berlin. Architektur erschüttert.“** Architekt Libeskind sie doch ästhetische Wege

178 der spiegel 3/1999 seine Eltern mit ihm nach Israel auswan- Der erste Eindruck im Inneren trägt auch derten, wo sie drei Jahre blieben. Danach nicht gerade zur seelischen Entlastung bei. zogen sie in die USA, nach New York. Der Ein dunkler Gang, ein schräger Boden, die Junge fiel als musikalisches Wunderkind Schritte wanken. Der Gang teilt sich nach auf. Er liebte den Schräg-Töner Schönberg, einigen Metern in drei Achsen, und dann gab als kleiner Starpianist Konzerte und kann es sein, daß der Besucher auf die studierte später Musik. „Doch nur die Wer- „Achse der Vernichtung“ gerät. Sie endet ke anderer zu interpretieren, das war mir in einem Betonverlies, in das nur ein blas- zu langweilig.“ ser Lichtstrahl dringt. Libeskind wollte komponieren. Und Mit etwas mehr Glück verschlägt es den zwar keine Melodien, sondern „erstarrte Besucher auf die „Achse des Exils“. Die Musik“, wie der Philosoph Schelling einst führt ihn in den sogenannten „E.T.A. Hoff- die Baukunst definiert hat. Doch bis er das mann-Garten“. Hier ragen Beton-Stelen erste Selbstentworfene eröffnen konnte, auf – scheinbar kurz vor dem Kippen. Die verging ein gutes Vierteljahrhundert – erst Pläne zu diesem Garten existieren bereits letztes Jahr in Osnabrück war es soweit. seit 1993, also einige Zeit bevor Architekt Die lange Zeit dazwischen füllte er mit ei- Peter Eisenman seinen verblüffend ähnli- nem Architekturstudium, mit Professuren chen Entwurf für das Holocaust-Mahnmal und mit der Mehrung seines Rufs als großer eingereicht hat. Bautheoretiker. Die dritte Achse schließlich ist die der „Die Moderne ist altmodisch“, das ist „Kontinuität“. Sie führt endlich ins Mu- seine liebste These. Das totalitäre 20. Jahr- seumsinnere. Der Besucher, so er sich nicht hundert habe eine Massenbauweise her- verirrt, folgt dem gezackten Verlauf des vorgebracht – öde Kisten und Kästen –, Gebäudes und muß um fünf sogenannte die heute, in einer freiheitlicheren Zeit, Voids herumgehen – wieder Verliese. Sie nun wirklich kein Maßstab mehr sei. sollen die Leere symbolisieren, die der Ho- Aber, ach, die Hauptstadt-Bürokraten locaust hinterließ. Die Wände der Voids, so hätten immer noch wenig Sinn für eine will es der Architekt, sollen niemals mit neue Architektur. Baustelle Berlin? Ein Bildern bedeckt werden. Jammertal. „Gute, weltbekannte Archi- Die Außenhaut ist ebenfalls Metapher: tekten haben hier die schlechtesten Ge- kreuz und quer durchschnitten von Fen- bäude ihrer Karriere gebaut.“ Der Potsda- sterscheiben – schwerverwundete Wän-

BITTER + BREDT mer Platz vom Kollegen Renzo Piano? Mittelmäßig bis mißlungen. „Disney-Land in ein neues Jahrtausend? Wer ist über- ist besser.“ Gute Gebäude „müssen le- haupt dieser Reißbrett-Rüpel, der Gebäu- ben“. Die Leute, die sie betreten, dürften de erbaut, die wirken, als seien sie zerstört? nicht zu Benutzern degradiert werden, „sie Im Gespräch gibt sich der Lebensab- sollen partizipieren, ein kreatives Verhält- schnitts-Berliner freundlich, wiegt seinen nis eingehen“. Libeskind will Emotionen grauen Wuschelkopf und begleitet jeden aktivieren. Vom Hochgefühl bis zur Be- Satz mit einem verbindlichen Lächeln. Ob- klemmung ist ihm alles recht. wohl er – nach neun Jahren im Land – Der Berliner Bau des sanften Exzentri- Deutsch gut beherrscht, spricht er am lieb- kers provoziert ein einziges Gefühl der Be- sten Amerikanisch. Das ist die Fremdspra- klemmung. Von außen vermag der Be- che, in der er sich am sichersten fühlt. trachter das Ganze nicht zu erfassen. Eine Seine Muttersprache ist Polnisch, denn hermetische Trutzburg in Zickzackform, in Lodz, gar nicht weit von Berlin, wurde zinkverkleidet, die Struktur – etwa die Zahl er 1946 geboren. Elf Jahre lebte er dort, bis der Stockwerke – ist nicht zu erkennen. FOTOS: A. SPERBER FOTOS: Jüdisches Museum: „Museen sind die Kathedralen von heute“

der spiegel 3/1999 179 ben aber zu, noch kaum eine Idee zu haben. Ihre Vorsicht scheint berech- tigt. Schon jetzt, im leeren Zu- stand, ergeben sich unfreiwillig komische Bezüge: Zur Grund- ausstattung eines jeden öffentli- chen Gebäudes gehören Notaus- gangsschilder. Die – wenn auch diskreten – Hinweise auf Flucht- wege wirken aber in diesem Bau, der Ausweglosigkeit symbolisie- ren soll, fehl am Platz. Im Osnabrücker Nussbaum- Museum konnte man bis Ende vergangener Woche besichtigen, wie offensichtlich ein Ausstel-

A. MUHS / OSTKREUZ lungskonzept in einem Libes- Ausstellungsraum im Jüdischen Museum: Schwerverwundete Wände kind-Bau scheitern kann. Nor- malerweise sind die Räume den de. Auch hier sind Bilder schlecht vor- von diesem Vorschlag nichts wissen: Ein Bildern des in Auschwitz ermordeten Os- stellbar. Museum sei ein Museum und bleibe es. nabrücker Malers Felix Nussbaum vorbe- Kein Eingang, kein Ausgang, das Haus als Ein Mahnmal sei ein Mahnmal, basta. halten, für einige Monate jedoch mußte Sackgasse, als Falle. Wer eintreten und Vielleicht ahnt der Architekt, daß der sich das Gebäude der großen Ausstellung auch wieder herauskommen will, muß Mahnmal-Vorschlag nicht nur ein Kompli- zum Westfälischen Frieden öffnen. durch das Nachbargebäude gehen, das alte ment ist, sondern auch die bange Frage Als die Nussbaum-Bilder weggepackt barocke Berlin-Museum, von dem aus jene beinhaltet, ob sein Haus als Ausstellungs- waren, standen die Ausstellungsmacher unterirdischen Gänge zum Jüdischen Mu- hülle funktional überhaupt tauge, ob es ratlos vor den schiefen Wänden und den seum führen. nicht sicherheitshalber auf einer Meta-Ge- kalten Materialien. Sie versuchten, auf Ein Gebäude als Gefühlsmonument, die- denk-Ebene legitimiert werden müsse. westfälisch Frieden zu stiften, und trimm- se Idee hatten vor und mit Libeskind auch Tatsächlich rührt die Frage an den hei- ten das Museum auf lieblich. Sie ließen andere Baumeister dieses Jahrhunderts. kelsten Punkt der Libeskind-Architektur: die Wände quietschgelb und knalltürkis Bereits die Expressionisten wollten die Kann ein Gebäude, an dem ohnehin alles streichen und legten einen grauen Tep- Irrungen und Wirrungen der menschlichen Symbol ist, inhaltliche Zusätze und die- pich aus. Indem sie dem Gebäude den Seele in symbolisch aufgeladenen Gebäu- nende Aufgaben überhaupt verkraften? Schrecken nehmen wollten, verwandelten den abbilden. Die Dekonstruktivisten, eine Verschiebt sich nicht die Bedeutung so sie es erst recht in eine Gruselkammer – Strömung der späten achtziger Jahre, sehen mancher Ausstellungsstücke durch die des schlechten Geschmacks. Hier paßte im Chaos das angemessene Zeitbild. Sie Macht des Ortes? nichts mehr. Eine Gummizelle mit Häkel- bauen – siehe Zaha Hadids Feuerwehr- Entlarvend ist, daß sich die Ausstel- gardinen hätte stimmiger gewirkt. Haus in Weil am Rhein – schräge Beton- lungsmacher bis zum Oktober 2000 Zeit Eine solche Verhunzung ist zwar dem und Glaspassagen und wollen zeigen, daß nehmen, um ein geeignetes Konzept zu fin- Architekten nicht vorzuwerfen, doch der Gebäude sich als Skulpturen eignen. den. Sie beteuern Zuversichtlichkeit, ge- Osnabrücker Fall gibt jenen Recht, die Libeskinds Berliner Bau wird inzwi- leise bezweifeln, ob Libeskinds Gebäude schen tatsächlich als Skulptur angesehen: auf Dauer und in Abwesenheit des Mei- als Ersatz für das Holocaust-Monument. sters als das funktionieren, was sie vor Die suggestive Kraft des Gebäudes, so wird allem sein sollen: als Museen. argumentiert, sei nicht zu übertreffen – Doch Libeskind ist nun nicht mehr wozu noch ein Mahnmal? zu bremsen. Für Manchester plant er Libeskind, der sich beim Wettbewerb um ein Imperial-War-Ausstellungsgebäude, das Holocaust-Memorial beteiligt hat, will für London ist sowieso der Anbau für das Victoria and Albert Museum vorge- sehen, und für San Francisco soll es noch ein jüdischer Gedenk-Bau sein. Alle Häuser werden expressiv und wüst – „lebendig“, würde Libeskind sagen. „Museen sind die Kathedralen von heute“, schwärmt der Architekt und be- ruft sich auf die Millionen Museumsbesu- cher überall. „Es gibt ein immenses Be- dürfnis nach Information, nach Auslegung der Welt.“ Und wenn Museen nicht nur informier- ten, sondern als Bauten auch provozierten – was gebe es Besseres? „Streit fördert die Erkenntnis, und das ist viel wert.“ Manchmal kommt dabei auch eine unangenehme Erkenntnis heraus: Das BITTER + BREDT A. PUTLER Gutgemeinte ist nicht immer gut ge- Entwurf für das Londoner V&A-Museum, Nussbaum-Museum Osnabrück: „Explosion in Glas“ macht. Susanne Beyer

180 der spiegel 3/1999 Kultur

WALSER-DEBATTE Mehr als ein Völkermord Offener Brief des Pädagogen Hans Däumling an die Studentin Kathi-Gesa Klafke tend besorgen. Ich hatte damit längst Herr Seyß-Inquart war in Holland zu angefangen. Recht genauso verhaßt wie Herr Ter- Als wir in einer 12. Klasse auf den boven in Norwegen) und ihre Hand- Holocaust zu sprechen kamen (der da- langer von SS und Gestapo geweckt mals noch nicht so hieß), sprang ein haben und die tradiert wurden an die 19jähriger auf und rief erregt: „Aber jüngeren Generationen. Ein Beispiel: das stimmt ja gar nicht, daß sechs Mil- Ich war von 1963 bis 1969 Leiter des lionen Juden vergast wurden, es waren Osloer Goethe-Instituts. Unsere Kin- doch nur vier Millionen!“ Ich erwider- der (1963 10, 8 und 4 Jahre alt) gingen te nichts, sondern stellte mir für die fol- in die norwegische Schule. Mehrmals

W. M. WEBER W. gende Stunde sehr sorgfältig Quellen wurden sie auf dem Heimweg von hin- zusammen. ten zu Boden gerissen, ihre Ranzen mit Däumling, 77, äußert sich zur Wort- Zuerst las ich der Klasse aus „Mein Hakenkreuzen beschmiert und sie als meldung „Also doch Erbsünde?“ Kampf“ etwa die Hälfte des Kapitels „Nazis“ und „deutsche Teufel“ be- (SPIEGEL 53/1998), in der die Jurastu- über die Juden vor (Dauer: rund 20 schimpft. Das war nicht einfach für sie dentin Klafke, 23, auf das SPIEGEL- Minuten). Dann zitierte ich ohne Kom- und uns. Gespräch mit drei jüdischen Studen- mentar sämtliche mir damals verfüg- Mit dem Holocaust aber hatte es ten (50/1998) entgegnet hatte: „Wofür baren Gesetze, Erlasse, Polizeiverfü- nichts zu tun. Die „Täter“ damals wa- soll ich mich schuldig fühlen?“ gungen, angefangen beim Aufruf zum ren fast nie Kinder der vielen Norwe- Boykott jüdischer Geschäfte zum ger, die im Widerstand, im KZ oder in Liebe Kathi-Gesa Klafke, 1. April 1933 bis hin zur Verordnung beidem gewesen waren. Sie wissen ich habe Ihren SPIEGEL-Beitrag mit über das Tragen des Judensterns. Die selbst: Viele unserer Landsleute be- intensiver Anteilnahme gelesen und Stunde war zu Ende, kein Wort war nehmen sich im Ausland oft so, daß glaube, selbst der Generation der Groß- über die Wannsee-Konferenz, über die man sich schämt, Deutscher zu sein. väter zugehörig, Ihnen eine Antwort Lager gefallen. Dann liegt das Schimpfwort „Nazi“ schuldig zu sein. „Offener Brief“ des- Zwei Tage später kam der 19jährige sehr nahe. halb, weil er – wie Ihr Beitrag – nicht zu mir und sagte sinngemäß: „Jetzt Ich bin viel zuwenig auf etwas ein- nur für Sie bestimmt sein sollte, son- habe ich es kapiert – es kommt nicht gegangen, das mich sehr bewegt: Ihr dern für eine ganze Generation, der darauf an, ob es vier oder sechs Mil- „Recht darauf, nur für Ihre eigenen Ta- auch unsere Söhne (45, 43, 39 und 30) lionen waren oder ein einziger!“ Sie ten verantwortlich gemacht zu wer- nur noch bedingt angehören. verstehen sicher, was ich sagen will: den“. Ihre Scham dafür, „wozu Men- Auch für mich hat es nie „die Ju- Nie in der Geschichte hat es das gege- schen fähig sein können“. Ihre Sprach- den“, „die Deutschen“, „die Christen“ ben, daß die Ausrottung eines Volkes losigkeit vor dem Geschehen. Daß Sie und so fort gegeben. Ich kann damit (eigentlich zweier Völker – auch Sinti sich nicht vorwerfen lassen wollen, sich nichts anfangen. Wenn Igor von Ihnen und Roma!) so generalstabsmäßig ge- „nicht schuldig fühlen“ zu wollen „für verlangt, daß Sie sich schuldig fühlen, plant und dann mit derartiger Präzi- Ihre Väter und Großväter“ – und daß dann ist das vielleicht aus seiner reli- sion ausgeführt wurde. Nie! Sie an das grauenvolle Elend der Bom- giösen Überzeugung zu erklären („bis Es hat Völkermorde immer gegeben. bennächte erinnern –, wer wollte Ih- ins dritte und vierte Glied“), und die Es hat in allen Zeiten Judenpogrome nen das Recht abstreiten? brauchen wir beide nicht zu teilen. gegeben. Heute noch gibt es in Nie- Wer Ihre Generation als Täter be- Aber dann schleicht sich in Ihre Ar- derbayern Kirchen mit antisemitischen zeichnet, erzielt genau den von Ihnen gumentation doch ein Denkfehler ein. Darstellungen. Lange genug wurden gefürchteten Effekt: Er züchtet Antise- Sie setzen den Holocaust in der Ge- die Juden von den christlichen Kirchen mitismus. Die einzig mögliche Schluß- schichte neben die Vernichtung der In- als Mörder des Heilands diffamiert, ver- folgerung für denkende Menschen ist, dianer, Sklavenhandel, Leibeigenschaft folgt, gequält und unzählige von ihnen daß wir alle aufhören müssen, an Ste- und Gulag. ermordet. Aber nichts davon läßt sich reotype zu glauben, damit endlich Frie- Warum ich darin einen Denkfehler vergleichen mit der Reißbrett-Planung de werden kann. sehe, dem zu viele Menschen unterlie- und Ausführung des Holocaust, dem Bloß: Wegsehen à la Walser hilft gen? Lassen Sie mich eine Geschichte System der Vernichtung. Und leider nichts. Damit werden wir die Ge- vom Beginn der sechziger Jahre er- klebt diese Entsetzlichkeit am deut- schichte nicht los und auch nicht die zählen. schen Namen, und wir werden sie als Klischees, die am Namen unseres Man warf der Schule damals ständig Deutsche nicht los, noch lange nicht. Volkes kleben. Dagegen kann man nur vor, sie versäume ihre oberste Pflicht: Wenn Sie heute in Holland auf der „anleben“. Jeder einzelne für sich – zu die Auseinandersetzung mit und „Auf- Autobahn abgedrängt werden, hat das Hause und draußen. arbeitung“ der Nazi-Zeit – wovor Po- allerdings mit dem Holocaust nichts, Ich danke Ihnen sehr für Ihren Bei- litik, Wissenschaft und Gesellschaft aber auch gar nichts zu tun. Da werden trag, der im Grunde ja auch ein offener sich systematisch drückten. Wir Ge- Ressentiments wach, die deutsche Trup- Brief war und zu einem Manifest Ihrer schichtslehrer sollten das stellvertre- pen, deutsche Reichskommissare (und Generation wurde.

der spiegel 3/1999 181 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur

von Thun, versucht, mit unterschiedlichen Vertreter angesichts des anhaltenden Froh- FERNSEHEN Ergebnissen, als Psychologen-Coach aus sinns und des vermeintlichen Familienver- Managern bessere Menschen zu machen. falls pflichtschuldig aufregen, aber erstens Leben in der Er führt mit seiner Gattin Mechthild, einer ist dies eine Koproduktion des Bayerischen in jeder Hinsicht scharfen Rechtsanwältin, Rundfunks, und zweitens kommt es bei dargestellt von Suzanne von Borsody, das, fortgesetztem Liebesspiel, wie man ja weiß, Bude was man eine offene Ehe nennt: Beide früher oder später zu Ermüdungserschei- haben so ihre Amouren. Die Gattin treibt nungen. Geld- und Herzensnöte satt: Der es dabei sehr viel doller, kein Wunder, sie Deshalb verbindet der Film die jeweili- ist um einiges jünger, und Max möchte oft gen Love-Storys mit allerhand dramati- TV-Vierteiler „Liebe und weitere nichts anderes, als in aller Ruhe ein biß- schen Verwicklungen: Leben in die Bude Katastrophen“ schildert mit chen Klavier spielen. bringen aufsässige Teenager und pfänden- charmanter Frechheit erotisch- Das nachbarschaftliche Treiben, bei dem de Finanzbeamte, Menschen, die unver- nachbarschaftliches Treiben. Bernd Fischerauer Regie führte, hält in al- schuldet zu Obdachlosen werden, Polizei- len vier Folgen, was der Titel verspricht: beamte, die Sprayer vor Gericht bringen, ie macht ihm, wenn auch widerwillig, Die amouröse Betriebsamkeit ist beträcht- korrupte Banker, die leider keiner vor Ge- die Räuberleiter, er will mit ihr Pfer- lich, es geht drunter und drüber, man sieht richt bringt. Sde stehlen, aber sie hat nichts übrig nackte Männerhinterteile und schicke Da- Der mongoloide Bobby, der mit einem für Gäule. Außerdem hält sie ihn für einen mendessous, Liebhaber springen aus dem Loch im Herzen geboren wurde, hat das aufgeblasenen, lästigen Pinsel, verheiratet Gebüsch oder klettern auf Bäume, jeder Gemüt eines Kindes und kommentiert die obendrein, also ein echter Schuß in den betrügt jeden und – Gipfel der Verderbtheit Wirrnisse weise. „Man kann viele Men- Ofen. Nun ist er aber ihr neuer Nachbar, – fast jeder weiß von jedem. schen lieben“, sagt er und schaut kopf- und im Grunde fliegen die beiden seit dem Während Max einige Deppen beschwört: schüttelnd auf seine schöne Mama, die die ersten Blick aufeinander, daß es raucht. „Sie müssen lernen, sich zu öffnen“, läuft Liebe ihres Lebens nicht erkennt, obwohl „Liebe und weitere Katastrophen“, der seine Geliebte Antonella aus dem Ruder sie alle naslang vor ihr steht. Vierteiler, dessen erste zwei Folgen am und randaliert nachts auf offener Straße Franziska aber hat allerhand um die Mittwoch und Donnerstag dieser Woche vor seinem Fenster. Ehefrau Mechthild Ohren und außerdem ein paar Grundsät- ze. Erst als ihr Vater aus Italien zu Besuch kommt, den sie 23 Jahre lang nicht gesehen hat, versteht man, warum die Fran- zi es nicht so unbeschwert nimmt mit den Männern und der Liebe. Senta Berger – eigentlich ist das ganz und gar ihr Film – zeigt die ganze Palette ihres Könnens und spielt diese warmherzige, pragmatische und verletzliche Frau, die mit störrischer Überle- benslust ihr Dasein in die Hand nimmt, glaubhaft und mit viel Humor. Heldin Franziska, unbeein- druckt vom Geld, zeigt sich er- finderisch und kämpferisch, wenn es um ihre Jungen geht, und unbestechlich in Sachen Lie- be, bis tatsächlich Liebe auf dem Spiel steht. Es gibt wohl keine Schauspie-

BR lerin im deutschen Fernsehen, Schauspieler Berger, von Thun: „Wenn du nur ein bißchen entgegenkommender wärst“ die so schön sagt „Ich plöde Kuh!“; und es gibt keine, die um 20.15 in der ARD zu sehen sind, be- greift sich, Alptraum eines jeden Gatten, eitle Männer mit süßen Worten derart char- ginnt im rasanten Galopp*. Die räuberlei- Antonella und erklärt: „Mein Mann be- mant-ironisch becircen kann. terbewährte Franziska (Senta Berger) ist trügt uns.“ Denn Max, auch wenn er es Bemängeln läßt sich allenfalls, daß das verwitwet, in argen Geldschwierigkeiten weiter mit Antonella treibt, ist längst ver- Leben mit dem behinderten Bobby allzu und gefordert von ihrem 23jährigen mon- knallt in die schöne Nachbarin Franziska. romantisch dargestellt wird, daß in der goloiden Sohn Bobby (sehr anrührend: Ihr allerdings machen auch andere Schlußkurve der vierten Folge nicht alle Bobby Brederlow) und ihrem hübschen Avancen: „Franzilein, wenn du nur ein Fäden logisch verknüpft werden, vielleicht 18jährigen Sprößling David. Der betätigt bißchen entgegenkommender wärst“, weil zu hastig heruntererzählt wird. Aber sich nachts, ohne Wissen der Mutter, ver- seufzt ihr gräßlicher Schwager, worauf wer sich gut amüsiert, ist nicht kleinlich, steht sich, als Sprayer und hat alsbald die Franzilein, wahlweise auch Francesca ge- sondern nimmt sich lieber den Rat von Polizei auf den Fersen. nannt, regelmäßig in schönste italienische Opa Francesco zu Herzen, der auf seinem Max, mit mildem Spott und sympathi- Raserei verfällt. Totenbett spricht: „Es gibt nur ein Prin- scher Schusseligkeit gespielt von Friedrich Die Moral bleibt bei diesem frivolen Lie- zip in der Liebe: Nämlich, es gibt kein besreigen erfreulicherweise zunächst auf Prinzip und keine Regel.“ * 3. und 4. Teil am 27. und 28. Januar, ARD, 20.15 Uhr. der Strecke. So könnte sich mancher CSU- Angela Gatterburg

184 der spiegel 3/1999 Werbeseite

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VIRTUALITÄT Wenn die Kunst ins Netz geht Das Karlsruher „Zentrum für Kunst und Medientechnologie“ hat einen neuen Chef: den wortgewaltigen Ausstellungsmacher, Künstler und „Digitalphilosophen“ Peter Weibel. Der sieht die Welt an einer Epochenschwelle – alles wird anders durch den Cyberspace.

as Schlimmste an seinem neuen Job Internet-User am heimischen PC, noch sinnig wäre es“, befand schon 1993 Erich sei, klagt Peter Weibel, daß er sich kaum angekommen. Dabei drängen sich Kiefer, Experte für Künstliche Intelligenz, Deinen festen Wohnsitz suchen muß- beim Tête-à-tête von humanen und digita- „wollte man Künstler darauf reduzieren, te. Seßhaft in Karlsruhe! Mit Eintrag beim len Kräften endlos viele philosophische, als Fachidioten für die Behübschung vir- Einwohnermeldeamt! „Das steht so in mei- psychologische und politische Fragen auf, tueller Welten zuständig zu sein.“ nem Vertrag.“ Bisher hat der Österreicher die sich derzeit allenfalls mit Prophezei- Das sieht Weibel genauso. Denn wenn Weibel, 54, vorzugsweise unstet aus dem ungen, aber kaum mit Fakten beantworten er von Kunst redet, meint er die ästheti- Koffer gelebt, immer unterwegs zwischen lassen. Beim virtuellen Raum handele es schen Ausformungen eines vernetzten Den- akademischen Kathedern, Festivals und Ta- sich „um eine neue Lebenswelt, in die wir kens. In seinem Kunstbegriff und in seinen gungen, ein Turbo-Nomade, Idealbürger mehr und mehr eintauchen und die mög- ZKM-Plänen ist er weit radikaler als sein der globalisierten Gesellschaft. licherweise nicht nur die materielle Um- Vorgänger Heinrich Klotz, 63. Der hatte Und jetzt Karlsruhe. Aber darüber, daß welt der Menschen grundlegend verändern jahrelange Lobby-Arbeit geleistet, um das er nicht gerade in einer Weltstadt gelandet wird, sondern auch zu einem Umbau des Zentrum, eine von Stadt und Land getra- ist, kann sich der unruhige neue Chef des Menschen führen könnte“, glaubt der gene Stiftung öffentlichen Rechts, ins Leben einzigartigen „Zentrums für Kunst und Me- Netzkultur-Publizist Florian Rötzer. zu rufen. Dann aber kündigte er Anfang dientechnologie“ (ZKM), der zum Jahres- Diesen Umbau der Umwelt mit den Mit- vorigen Jahres, nur wenige Monate nach anfang sein Amt angetreten hat, mit einigen teln einer neuen Medienkunst reflektieren dem ZKM-Start, seinen Rücktritt an. seiner eigenen Thesen hinwegtrösten. De- – dazu will Peter Weibel nun das ZKM nut- Bisher trägt das ZKM die Handschrift ren Leitmotiv: Die Fleisch-und-Blut-Rea- zen. In den gewaltigen, aufwendig herge- dieses umtriebigen Gründungsdirektors: lität des Lebens wird immer unwichtiger, richteten Hallen, einst gebaut als Muni- Hinter den Kulissen arbeiten Institute für selbst beim Sex, und die Virtualität des Cy- berspace immer bedeutsamer. Und virtuell kann Weibel sich immerhin überall und nirgends zugleich aufhalten. In der größten diskursiven Schlacht, die in der westlichen Gesellschaft gegenwärtig geschlagen wird – es geht um Wohl oder Wehe der Digitalisierung unserer Welt –, bezieht Weibel eindeutig Stellung: Er ist ein Cyber-Enthusiast, der sich mit gewag- ten Thesen auf die Seite des technologi- schen Fortschritts schlägt. In den Essays, Büchern und Katalogtexten, die der Hun- derttausendsassa Weibel in beängstigender Zahl ausstößt, entwirft er eine Welt, die durch die Technowissenschaften an eine Epochenschwelle geraten ist – mit allen Chancen, die in einem solchen Neuauf- bruch liegen. So glaubt der Professor, Aus- stellungsmacher, Museumsdirektor und Di- gitalartist Weibel allen Ernstes daran, daß wir „unterwegs zu einer gerechteren Welt“ sind (siehe SPIEGEL-Gespräch). Weibel-Werke „Der Vorhang von Lascaux“ (1993), „Mappe der Hundigkeit“ (mit Valie Export, 1968), Das ZKM, 1997 eingeweiht, braucht ei- nen solchen leidenschaftlichen, öffentlich- tionsfabrik, sollen Fachleute verschiedener Bildmedien und Musik; Besucher erwar- keitsverliebten Optimisten an seiner Spit- Sparten Munition für die Revolte der neu- tet ein „Medienmuseum“ mit interaktivem ze – einen, der Gleichgesinnte mit seiner en Medien liefern. Der vierschrötige Wei- Angebot und ein konventionelleres „Mu- Kreuz- und Querdenkerei anregt, an dem bel, dessen bauernschlauem Blick alles Ver- seum für Neue Kunst“, dessen Ausbau mit sich aber auch kulturpessimistische Kritiker geistigt-Ätherische fehlt, will nicht weniger, Hilfe von Privatsammlern sich Klotz in Zu- reiben und den die Apokalyptiker wut- als das Karlsruher Zentrum zu einem Hort kunft widmen will. schnaubend verdammen. Nur so kann die der ästhetisch-technologischen Grundla- Einen besseren Nachfolger als Weibel Debatte über die Chimäre Cyberspace vor- genforschung machen. hätte er nicht finden können, auch wenn anschreiten. Dabei geht es um Fragen wie: Welche sein Haus jetzt einen Richtungsruck erle- Und das ist höchste Zeit. Denn der Dis- ästhetischen Formen sind dem digitalen ben wird. Denn der neue Chef, dessen gei- kurs über die Auswirkungen der Digitali- Zeitalter angemessen? Was geschieht mit stige Hyperaktivität vermuten läßt, er sierung ist in der Öffentlichkeit, selbst beim Kunst, wenn sie ins Netz geht? „Schwach- selbst sei ein hochgezüchteter Computer,

186 der spiegel 3/1999 hat dank seines „Nomadentums zwischen Wissenschaft und Kunst,Anarchie und For- schung“ eine Fülle von Qualifikationen SPIEGEL-GESPRÄCH angehäuft, die ihm jetzt zupaß kommen. Als Student war er aus der Medizin ins Orchideenfach „Mathematische Logik“ ge- Freies Hirn im Cyberspace wechselt, verlor vor dem Abschluß aber die Geduld. Von der Uni nicht ausgelastet, Peter Weibel über Kunst und Medien der „Zweiten Moderne“ mischte Weibel beim „Wiener Aktionis- mus“ mit und gab der Bewegung auch den Namen. Unvergeßliche Aktion von 1968: SPIEGEL: Herr Weibel, arbeiten Sie am Un- einandersetzung mit einem Richterspruch, An der Leine seiner damaligen Lebens- und tergang der Kunst? einer Verurteilung wegen Erregung öf- Kunstgefährtin Valie Export kriecht Weibel Weibel: Mit Freude. Aber wie kommen Sie fentlichen Ärgernisses. Beim Heraus- über eine Wiener Straße. Mit ihrer „Map- darauf? meißeln der Zunge ist dann ein Versehen pe der Hundigkeit“ wollten die beiden eine SPIEGEL: Droht nicht die „Medientechno- passiert; die Spuren sind geblieben, wie Caritas-„Mappe der Menschlichkeit“ der logie“, die in dem jetzt von Ihnen geleite- Sie sehen. Lächerlichkeit preisgeben. Im „postfaschi- ten Forschungs- und Ausstellungszentrum SPIEGEL: O ja, da fehlt eine Ecke. Nun er- stischen“ Österreich, so die Botschaft, lebe mit der Kunst vereinigt werden soll, die scheinen hier in den Karlsruher Museums- man angekettet wie ein Hund. Kunst durch Zeitgeist-Schnickschnack zu sälen menschliche Körper eben auf Bild- Ein Zug von moralischer Unerbittlich- überrollen? schirmen – etwa in den Videoinstallatio- keit bricht bei Weibel bis heute durch – so, Weibel: Im Gegenteil. Ich bin sicher, daß der nen von Bruce Nauman und Bill Viola. wenn er der Moderne ihre „verdeckte Stra- Verbindung von Kunst und Medien die Zu- Weibel: Das sehe ich sehr kritisch. Hier wer- tegie der Kolonialisierung“ ankreidet. Po- kunft gehört. Die neuen Medien sind ja den die neuen Medien alten ästhetischen litisch korrekt an der aufkeimenden Me- auch Teil von Politik und Physik, deswegen Vorstellungen angepaßt, und es wird ein ei- dienkunst ist allemal ihr basisdemokrati- können sie uns die gegenwärtige Welt gentlich längst überholtes, ganzheitliches sches Gepräge: Der Betrachter wird zum wahrscheinlich besser erklären als die al- Menschenbild wiederbelebt. Seit der in- Mit-Macher. Nicht die schlechtesten An- ten. Der bloße Ausdruck von Schmerz und dustriellen Revolution wird unsere Erfah- sätze solcher Interaktivität liefert Weibel Lust, der Mensch als fleischliches Wesen – rung aber mehr von Maschinen bestimmt selbst: Bei seinem digitalen Höhlengleich- das scheint mir als künstlerisches Pro- als von körperlichen Empfindungen. nis „Der Vorhang von Lascaux“ (1993) gramm nicht mehr auszureichen. SPIEGEL: So? Inwiefern? scheint der real anwesende Besucher sich SPIEGEL: Obwohl da Ihre eigenen Anfänge Weibel: Moderne Verkehrsmittel bringen in die projizierte Zeichenwelt prähistori- als Künstler liegen? Ende der sechziger Jah- uns so rasch von einem Ort zum anderen, scher Wandmalereien hineinzupressen. re haben Sie doch im Kreis der „Wiener daß unser Raum-, Zeit- und Körpergefühl gründlich durchgerüttelt wird und die Welt sich in Facetten aufzusplittern scheint. Schon der Kubismus hat das auf die Kunst übertragen: Organe fliegen durch die Ge- gend, Augen und Ohren verlassen ihren natürlichen Platz. Letztlich führt das zu ei- nem frei konstruierbaren Körper – auf dem Testfeld Kunst wird ausprobiert, was die Gentechnik in Realität umsetzt. Das aus- gerechnet durch die neuen Medien rück- gängig machen zu wollen ist absurd. SPIEGEL: Hat Ihr Vorgänger Heinrich Klotz also falsch eingekauft? Weibel: Nein, das war eine notwendige Pha- se. Es ging erst einmal darum, Kunst und Medien miteinander zu versöhnen. Das hat sogar zu einer Art Triumph der Medien- kunst geführt, an dem das ZKM unter Klotz großen Anteil hat. Heute werden zu jeder Großausstellung auch Medienkünst- ler eingeladen. Leider setzen die ihre Me- K. SCHONE / ZEITENSPIEGEL VG BILD-KUNST, BONN 1999 VG BILD-KUNST, dien kaum angemessen ein. Weibel: „Nomadentum zwischen Wissenschaft und Kunst, Anarchie und Forschung“ SPIEGEL: Was folgt daraus? Weibel: Daß es jetzt nötig ist, das Feld der Doch diese virtuelle Kunstfreiheit ist nur Aktionisten“ Performances aufgeführt, bei Medien zwischen Kunst und Wissenschaft geliehen. Auch wenn die Gedanken frei, denen Sie sich ernsthafte, nur langsam ver- neu zu ordnen und beispielsweise über On- die Theorien billig sind: Die Medienwelt narbende Verletzungen zufügten. line-Kunst zu diskutieren. bleibt von Hardware und Programmen der Weibel: Das sah ähnlich aus wie vieles, was SPIEGEL: Was macht den Siegeszug der Industrie abhängig. Um ein wenig Wider- meine Arbeitskollegen Hermann Nitsch, neuen Medien in Ihren Augen so unauf- stand gegen die Monopolwirtschaft zu lei- Günter Brus oder Otto Mühl taten. Aber haltsam? sten, will der neue ZKM-Chef Ende des die wollten den Körper befreien, mir ging Weibel: Meine Grundthese lautet: Der Mo- Jahres eine Strategie-Tagung erbitterter es um Befreiung vom Körper. Wenn ich tor für technische Entwicklung ist ein dem Fachleute abhalten. Für Skeptiker bietet meine Zunge eingemauert habe, dann woll- Menschen selbst noch unbekanntes Be- sich sein Trikot mit dem Protest-Slogan an: te ich zeigen, daß der Raum der Sprache ei- gehren; das bahnt sich den Weg. Der „Ich bin ein Sklave von Microsoft.“ gentlich Materie ist, daß Sprache ins Ge- Mensch leidet im Gefängnis des Jetzt und Jürgen Hohmeyer, Susanne Weingarten fängnis bringen kann. Das war meine Aus- Hier. Um daraus auszubrechen, um die Git-

der spiegel 3/1999 187 Kultur terstäbe von Zeit und Raum zu überwin- medialen Beschaffenheiten der Welt Rech- den, hat er die Schrift erfunden; Sigmund nung tragen. Gerhard Richter ist ein groß- Freud nennt sie das erste Medium der Ab- artiger Maler, eben weil er auf fotografi- senz. Moderne Medien setzen diese Art sche Techniken Bezug nimmt. von Dislokation fort, wobei der Prozeß im- SPIEGEL: Ihnen selber wäre ein frei im Cy- mer abstrakter ausfällt. berspace flottierendes Gehirn lieber als ein SPIEGEL: Wird also die Kunst, die Sie vor- gefangener Körper? aussagen, überhaupt noch sichtbar und Weibel: Entschieden. Ich finde es sehr er- ausstellbar sein – oder verschwindet sie in staunlich, daß die Natur für das Gehirn unfaßlichen Datenströmen? noch nichts Besseres gefunden hat als die- Weibel: Es wird schon noch etwas zu sehen ses schäbige Knochengehäuse, das bei jeder geben, aber nur noch temporär. Und ge- Autofahrt kaputtgehen kann. Von einem nauso wichtig wie das Gebäude in Karls- Herzinfarkt, von der Erfahrung, daß mein ruhe dürfte das ZKM-Online werden. Das Körper mich so im Stich lassen kann, habe Museum bleibt das System, das die Werke ich mich bis heute nicht erholt. vor Zerstörung und Verschwinden schützt SPIEGEL: Ihre Arbeitsintensität ist dadurch – mit dem unendlichen Archivraum des In- aber nicht gebremst? ternet als Fortsetzung. Es liegen ja sowie- Weibel: Das fehlte noch. Das wäre ja der fi- so immer mindestens 60 Prozent der nale Triumph des Körpers. Die Geschwin- Kunstwerke im Depot.Wieso muß ich dem digkeit kommt vom Gehirn, und der Kör- Museumskurator überlassen, was ich se- per möchte die Geschwindigkeit drosseln. hen kann? SPIEGEL: Genügen denn Ihre eigenen Com- SPIEGEL: Das hört sich an, als wollten Sie puterinstallationen Ihren Anforderungen den Bestandskatalog neu erfinden. Darin an Medienkunst? zu blättern ersetzt uns aber nicht die An- Weibel: Das kann ich ganz schwer beurtei- schauung eines Rembrandt-Gemäldes. len. Ideen habe ich viele, aber oft ist es Weibel: Klar, daß im Netz etwas verloren- mir lieber, sie zu verschenken. Da ich mein geht. Historische Kunstwerke sind für die Leben als Labor anlege, haben auch die ZKM-Installation „The Interactive Plant Growing“*: neuen Medien weniger geeignet. Die bieten aber mehr als das Medium Buch, Weibel: Man muß der Medien- das doch auch viel von Kunst vermitteln kunst auch ihre Kinderkrank- kann. heiten zugestehen. Jetzt mag das SPIEGEL: Eine auratische Erfahrung vor Bil- alles noch Schaubudencharak- dern ist Ihnen ganz fremd? Der Sinnlich- ter haben – so wie ihn das Kino keit trauen Sie gar nicht? in seinen Anfängen im 19. Jahr- Weibel: Nein, tut mir leid. Für mich ist das hundert hatte.Aber damals sind eine rein touristische Erfahrung. Mit der die Erfindungen gemacht wor- Aura arbeitet heute die Kultur-Hotellerie, den, auf denen der Film bis heu- mir genügt das Imaginäre Museum. Etwas te basiert. Die interaktive Me- Vergleichbares gilt ja auch, wenn Sie mir dienkunst steckt, wenn man den das Beispiel gestatten, für die Sexualität. Vergleich ausführt, erst in der Die Vorstellung, das sei eine Nahkommu- Phase der Prä-Kinematographie. nikation, bei der man sich anfaßt und sol- Wir haben sozusagen den Pro- che Dinge, ist meiner Meinung nach alt- jektor noch nicht erfunden. modisch. Die Technik zeigt, daß es damit SPIEGEL: Was können Sie auf langsam zu Ende geht. Ich spreche ganz Ihrem neuen Posten tun, um allgemein, und ich will Pornographie kei- Bigelow-Film „Strange Days“: „Seherlebnis ohne Auge“ diese infantile Entwicklungs- neswegs verteidigen.Aber daß Telefon-Sex stufe zu überwinden? und Internet-Sex so großen Erfolg haben, Arbeiten eher Laborcharakter. Eigentlich Weibel: Wir müssen hier im ZKM Grund- zeigt, daß Leute in Bildern und Tönen ei- bin ich sehr unzufrieden mit ihnen. lagenforschung betreiben, ohne immer dar- nen Ersatz für körperliche Gegenwart fin- SPIEGEL: Warum verlegen Sie sich nicht auf zu schielen, ob sofort Kunst dabei her- den können. ganz aufs Theoretisieren? auskommt. Methodisch gesehen ist Kunst SPIEGEL: Ein schäbiges Surrogat – oder? Weibel: Weil ich dann als Theoretiker nicht eine Wissenschaft … Weibel: Wie man’s nimmt. Man kann nicht mehr gut wäre. Die Ideen kommen mir SPIEGEL: … eine kühne Gleichsetzung. einfach sagen, es ginge dabei alles verloren. beim künstlerischen Arbeiten. Ich verste- Weibel: Sie betrifft ja nur die Idee, nicht die Wer den Sex als Nahverkehr aufgibt und he dann auch die Entwürfe anderer Leute Produkte. Kunst braucht den Laborcharak- ihn nur telematisch ausübt, erlernt einen besser. ter der Wissenschaft. Sie braucht die Un- höheren Abstraktionsgrad. Unsere Gesell- SPIEGEL: Sie predigen eine zuerst von abhängigkeit, einen Forscher auch einmal schaft verlegt sich von Nahkommunikation Klotz proklamierte „Zweite Moderne“, in nicht nur für Monate, sondern für Jahre immer mehr auf mediale Fernkommuni- der sich das Publikum mittels neuer Tech- ins Labor zu schicken, bevor ein Arbeits- kation, ob in der Ökonomie oder in der niken auch „interaktiv“ in die Kunst ein- ergebnis sichtbar wird. Natürlich ist es Sexualität. mischt. Im „Medienmuseum“ des ZKM denkbar, von Fall zu Fall mit Universitäts- SPIEGEL: Toll. Wer aber Rembrandt-Bilder kann man so etwas schon erleben, indem oder Industrie-Instituten zusammenzuar- lieber im Original sieht, wird wohl auch man durch virtuelle Städte saust oder beiten und Ergebnisse auszutauschen. sonst zu hergebrachten Prozeduren nei- Topfpflanzen befühlt und damit phanta- SPIEGEL: Kann das ZKM da mithalten? gen. Apropos: Was wird aus alten Medien stische Projektionen erzeugt. Verkörpern Weibel: Ich kenne Leute, die dazu imstan- wie der Malerei? etwa diese aufwendigen, aber doch ziem- de sind. Und das Zentrum ist technisch Weibel: Sie werden weiterleben, aber nur lich banalen Computerspiele Ihre schöne indem sie sich anpassen und den neuen neue Welt? * Von Christa Sommerer und Laurent Mignonneau.

188 der spiegel 3/1999 im Team mit Georges Braque gelingen konnte. Später hat Picasso daraus leider einen subjektiven Stil gemacht, den er dazu mißbrauchte, sein Privatleben zu malen. Das interessiert mich nicht mehr. SPIEGEL: In Ihrem Plädoyer für eine Zwei- te Moderne werfen Sie der ersten, der klas- sischen Moderne einen „partiellen, ver- borgenen Zusammenhang“ mit den tota- litären Systemen des 20. Jahrhunderts vor. Ist es nicht leicht begreiflich, daß manche moderne Künstler genauso anfällig für die Verführungen und Zwänge der Macht ge- wesen sind wie andere Zeitgenossen? Weibel: Einverstanden. Trotzdem sehe ich die Moderne dadurch unterminiert. Ich kri- tisiere ihr Erschlaffen und daß sie eben nicht vollzog, was die Dadaisten 1920 pla- katiert hatten: „Die Kunst ist tot. Es lebe die neue Maschinenkunst Tatlins.“ Dieser Antwort auf die industrielle Revolution muß nun eine Antwort auf die postindu- strielle Informationsrevolution folgen. Da- bei verwandelt sich das greifbare ästheti- sche Objekt in offene Handlungsfelder – Kunst wird interaktiv.

T. STEPHAN T. SPIEGEL: Aber ist es nicht ganz in Ord- „Ausbruch aus dem Gefängnis des Jetzt und Hier“ nung, wenn der Künstler, der doch nun mal die Kompetenz und die Verantwor- hervorragend ausgestattet. Künstler müs- SPIEGEL: Wo bleibt die Kunst, wo bleibt der tung dafür hat, sein Werk gestaltet, ohne sen freilich die Fähigkeit erwerben zu pro- Künstler? daß ihm ein Laie hineinpfuscht? Ist die grammieren, ins Betriebssystem und auch Weibel: Das ist neu zu definieren. Die alte ganze Interaktivität nicht am Ende eine in die Hardware einzugreifen. Nur Fern- Vereinbarung, Kunst müsse eigenhändig Sackgasse? seher mit Blei oder Gummi zu umman- durch ein bestimmtes Subjekt gemacht wer- Weibel: Das könnte man meinen, beson- teln, so daß sie wie Skulpturen aussehen – den, ist ja im 20. Jahrhundert längst außer ders wenn man an die erwähnten Kin- dieses Täuschungsmanöver toleriere ich Kraft gesetzt worden. Spätestens seitdem derkrankheiten des Mediums denkt.Aber nicht. Marcel Duchamp statt einer Skulptur ein das Feld der Akteure erweitert sich nicht SPIEGEL: Und wohin steuert Ihrer Meinung industrielles Fertigfabrikat, einen Fla- nur in der Kunst. In der Medizin gibt nach die aktuelle Medienkunst? schentrockner, ausstellte, muß man ständig es, etwa bei Aids oder bei der Creutz- Weibel: Sie muß Medienkritik mit Sozial- neue Theorien darüber entwickeln, was feldt-Jakob-Krankheit, Beispiele dafür, kritik verbinden und durchschaubar ma- Kunst ist. Sie ist extrem theorieabhängig, so daß betroffene Laien sehr wohl Einfluß chen, wie die Medien Wirklichkeit kon- wie das auch jede wissenschaftliche Welt- auf die Arbeit der Experten nehmen und struieren. Die Technik dazu tritt in eine ra- erklärung der Moderne ist. Die neuen Me- die Forschung in bestimmte Richtungen dikal neue Phase. In ihr wird man Bilder dien haben das Problem noch verschärft. drängen. generieren können, die nicht über das Auge SPIEGEL: Widerlegt der erfolgreichste Maler SPIEGEL: Das hat doch mehr Gewicht als ans Gehirn gehen, sondern über elektro- der Epoche, Pablo Picasso, nicht Ihre pau- der Karlsruher Medienspielplatz. magnetische Wellen. schale These? Weibel: Ja, gewiß. Aber die Technik hat SPIEGEL: Wie in dem Science-fiction-Film Weibel: Durchaus nicht. Die Erfindung des uns darauf gebracht, daß es von Gegen- „Strange Days“ von Kathryn Bigelow? Kubismus war ein typischer methodischer wart und Aktivität des Betrachters ab- Weibel: Genau. Die dort gezeigte Netz- Sprung, der die Aufhebung der Perspekti- hängen kann, wie ein Bild sich verändert. kappe ist tatsächlich eines der von Wis- ve durch Cézanne weiterführte, und es ist Und mit diesen Möglichkeiten bietet die senschaftlern diskutierten Modelle für auch kennzeichnend, daß er Picasso nur interaktive Kunst, wenn auch noch sehr Quantencomputer, die eine un- rudimentär, zumindest ein Mo- vorstellbare Steigerung der Re- dell oder eine politische Meta- chenleistung bringen werden. pher dafür, daß sich an den Rand Und wenn ich – mit dieser Vor- gedrängte Akteure auch im so- aussetzung – eine Maschine er- zialen Feld emanzipieren kön- finde, die eine gesteuerte Abfol- nen: Wir sind unterwegs zu einer ge pulsierender Codes produziert gerechteren Welt. und diese an einer bestimmten SPIEGEL: Sie haben erklärt, die Stelle auf meine Nervenzellen höchste Form von Kunst sei mög- treffen läßt, dann bekomme ich licherweise der Ausstieg aus der Seherlebnisse. Ich nehme Bilder Kunst. Und dann sind Sie drau- wahr, die keine Repräsentation ßen? äußerer Wirklichkeit sind. Weibel: Klarerweise muß man sich die Möglichkeit vorbehalten, * Susanne Weingarten und Jürgen Hoh- auch wieder einzusteigen. meyer mit 3-D-Brillen in der ZKM-In-

stallation „Bar Code Hotel“ von Perry K. SCHONE / ZEITENSPIEGEL SPIEGEL: Herr Weibel, wir danken Hoberman. Weibel (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Nah-Sex ist altmodisch“ Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 3/1999 189 Kultur

Und weil die Deutsche Grammophon in der Greisin eine Künstlerin mit Zukunft MUSIK sieht, hat sie ihr auch noch ihre neueste Er- rungenschaft spendiert: CD-pluscore heißt die Erfindung, die die CD zur CD-Rom Der Versuch der alten Dame macht. Eingelegt in den heimischen Com- puter, spucken die beiden Silberlinge nicht Sie ist eine lebende Klavier-Legende. Nun überrascht die nur die akustischen Signale aus, sondern liefern auch gleichzeitig auf dem Monitor selbstbewußte US-Pianistin Rosalyn Tureck die Welt mit einer Notentext und manch andere Zusatzinfor- Neuaufnahme der Bachschen Goldberg-Variationen. mation zu Werk und Aufführung. Präsentiert wurde das Ereignis am Mitt- escheidenheit, sagt der Volksmund, Tastengerät auf, dirigierte seine Konzerte woch vergangener Woche in Oxford, wo ist eine Zier. Doch besser, so hat sich vom Flügel aus, schrieb Bücher und hielt Tureck seit einigen Jahren residiert und Bherausgestellt, lebt sich’s ohne ihr. Vorträge. ihre „Tureck Bach Research Foundation“ Und wer im Reiche der Musik, wo neben Unerbittlich bog sie unbedarften Men- leitet, in der Mathematiker, Physiker und Schönklang und Harmonie auch finstre schen den Umgang mit den Hinterlassen- andere Gelehrte am rechten Bach-Bild ba- Mächte wie Neid und Mißgunst wirken, schaften des Leipziger Thomaskantors bei steln. Die Schriften der Stiftung sind in je- etwas werden will, der lasse besser früh- und schaffte es darüber nicht, sich bei der der Hinsicht übergreifend und umfassen zeitig ab von Demut und quälenden Zwei- Masse der Musikliebhaber ins kollektive eine Vielzahl von Aufsätzen der Stiftungs- feln. Wer beizeiten weiß, wie’s zugeht im Bewußtsein zu spielen. Nur wenige Kenner chefin – mit Titeln wie „Zellen, Funktionen Business, der schöpft hüten ihre alten Platten. Und nur gut sor- und Beziehungen in musikalischen Struk- dann um so freimütiger tierte Archive bergen ihre Kritiken. turen und in der Aufführung“. aus dem Brunnen der Aber nun, zur Jahrtausendwende, soll Die Plattenfirma hatte für die betagte Weisheit. die Musikwelt noch einmal merken, was sie Künstlerin den Holywell Music Room ge- Die Amerikanerin Ro- an Rosalyn Tureck hat. Die Plattenfirma bucht, die älteste Konzerthalle Europas, in salyn Tureck, eine kom- Deutsche Grammophon erkor die mit so- der schon Händel, Mozart und Haydn zu pakte, lebhafte Dame viel Wissen Gesalbte und mit allen Wassern Gast waren. von 84, schöpft schon Gewaschene für eine Neuaufnahme der Rosalyn Tureck holte auf dem ge- ziemlich lange. Und das Bachschen Goldberg-Variationen. Der Ver- schichtsträchtigen Terrain auch theoretisch verdankt sie einer Er- such der alten Dame kommt Anfang Fe- weit aus. Sendungsbewußt und als mit- scheinung. 1931, da stand bruar heraus. leidlose Missionarin ihrer Musikauffassung die junge Klavier-Elevin Zwei CDs hat Tureck vollgespielt – sat- erklärte sie Fachjournalisten aus aller Welt, kurz vor ihrem 17. Ge- te 91 Minuten und 10 Sekunden – doppelt daß es bei Bach „weder eine Trennung von burtstag, geschah das so lange wie die gängige Aufführungsdau- linker Hand noch rechter Hand“ gebe, we- Wunder ihres Lebens, da er. Aber jede im Notentext vom Meister der „Melodien hier noch Begleitung da“.

AKG erschloß sich ihr das Pia- angegebene Wiederholung ist der Inter- Bei ihm sei alles „pure Demokratie“. Be- Bach nisten-Paradies. Aus ei- pretin heilig. Kürzungen sind Gottesläste- flügelt schwärmte die Pianistin vom Bach- ner begabten, vielver- rungen. schen „Doppelschlag“ und dem Sinn sei- sprechenden Klavierspielerin aus Chicago mit einem weit gefächerten Repertoire wurde über Nacht eine Erleuchtete. Und das kam – angeblich – so: Die Schülerin saß wie täglich am Piano und übte gerade Präludium und Fuge in a-Moll aus dem ersten Teil des Wohltem- perierten Klaviers von Johann Sebastian Bach, als sie „plötzlich ohnmächtig wur- de“. Bis heute wisse sie nicht, erzählt Tureck noch Jahrzehnte später stereotyp, wie lange die Absence gedauert habe. Und wer oder was da über sie gekommen sei. Nur eines sei sicher: „Ich fühlte, wie ich durch eine Tür in ein unendliches grünes Universum schritt.“ Und da, im grünen Gewölbe der Erkenntnis, lauerte die Wahrheit. Von Stund’ an war Rosalyn auf wundersame Weise ausgestattet mit dem Schlüssel zum Wissen, wie man genau hie- nieden auf Erden die Werke Bachs zu spie- len habe. Der unverhoffte Aufenthalt im Grünen bescherte der Künstlerin eine stetige Kar- riere und eine Seligsprechung vom New Yorker Kritiker-Papst Harold C. Schonberg: „Hohepriesterin Bachs“. Fortan tourte sie um die Welt, führte

Bachs Werk am Klavier, auf dem Cemba- B. ROBINSON lo, am Syntheziser und auf allerlei anderem Pianistin Tureck: „Durch eine Tür ins grüne Universum“

190 der spiegel 3/1999 ner Verzierungen und endlich auch davon, was ihre so revolutionäre Sicht auf Bach im Innersten zusammenhält: Jede Stimme im polyphonen Geflecht seiner Stücke müsse anders gespielt werden – mit eigenem An- schlag, Rhythmus und Ton. Und jeder ein- zelne Finger „muß unabhängig von den anderen sein“. Das Ganze habe man sich vorzustellen, dozierte die energische Dame, wie bei der märchenhaften Alice im Wunderland. Es reiche nicht, bloß in den Spiegel zu schau- en, also auf die Oberfläche, man müsse als Wahrheitssucher auch beherzt „hindurch- gehen“. Am Steinway-Flügel offenbarte die tüch- tige Tureck das akustische Resultat ihrer Spiegel-Kunst: Ein fester, resoluter An-

„Glenn Gould hat vieles einfach von mir übernommen – verstanden hat er es aber nicht“ schlag und ein ausgeruhtes Spiel, das Nuancen weitgehend ignoriert. Ihr Bach ist nicht duftig, leicht und locker, sondern gefestigt, gebieterisch und endgültig. Eine – respektable – Lesart von vielen. Aber beileibe nicht das Evangelium. Vier andere Aufnahmen der Goldberg- Variationen bietet allein die Grammophon derzeit an, über 40 weitere stehen bei anderen Firmen zur Wahl. Doch die Konkurrenz, urteilt Tureck erbarmungs- los, habe das rechte Spiel eben einfach nicht intus. Glenn Gould, der exzentrische Kana- dier, dessen Einspielungen der Variationen Kultstatus genießen, ist für die Tureck nur ein kleiner Kopist: „Der hat manches ein- fach von mir übernommen, aber nur das, was er bei mir gehört hat. Verstanden hat er das meiste sowieso nicht.“ Manchmal läßt sogar sie Milde walten: „Ich respektiere, was die anderen machen, aber ich kann es nicht akzeptieren.“ Im- merhin hat sich die Elite der Zunft immer wieder an diesen Variationskosmos von 1742 gewagt – eine Auftragsarbeit für den Grafen Keyserlingk, der etwas Neues für seinen Haus- und Hof-Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg bei Bach orderte, wo- mit Goldberg dem Grafen die schlaflosen Nächte „ein wenig aufheitern“ sollte. Auch Tureck selbst hat die Variationen schon mehrmals aufgenommen. Im Som- mer veröffentlicht die Firma Philips, ein Schwesterunternehmen der Deutschen Grammophon, in ihrer Reihe „Great Pia- nists of the 20th Century“ die Version aus dem Jahre 1958. Welche Einspielung birgt denn nun die Quintessenz all ihrer Forschung, fragt sich der verwirrte Plattenkunde. Die Antwort der Priesterin fällt auf irdische Weise of- fenherzig aus: „Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich höre mir meine Aufnahmen niemals mehr an.“ Joachim Kronsbein

der spiegel 3/1999 Kultur

in der Haimhauser Straße aufgelöst. Im 43. die unschuldigen Zuschauer, kaum für die KABARETT Jahr ihres Bestehens stellt das letzte, erst bösen Mächtigen – Lamento mori, Leitar- 1997 gebildete Ensemble der Münchner tikel als Humorersatz. Bänkelsänger „Lach- und Schießgesellschaft“ seine Be- Der gesellschaftliche Wandel, von den weisaufnahme gegen die Bundesrepublik wackeren Kabarettisten jahrzehntelang Deutschland ein – nicht ohne eine winzi- herbeigesungen, -rezitiert und -getrom- des Bösen ge Dosis kritischer Überlebenshoffnung zu melt, hat sie selbst überrollt und schließlich hinterlassen: Vielleicht, so die Geschäfts- unter sich begraben. Die rasanten, zuwei- Die Münchner „Lach- und Schieß- führerin Cathérine Miville, gebe es im Jahr len sprunghaften Veränderungen seit 1968, 2000 ein neues Ensemble. Vielleicht. zuletzt das Ende des Staatssozialismus 1989 gesellschaft“, kabarettistischer Sicher aber ist, daß die satirischen Kri- und die völlig neue, kommerzialisierte Me- Leitstern der alten Bundesrepublik, tiker des Konservativismus, die beißenden dienlandschaft, sind nicht mehr von einem ist am Ende – der Witz der Spötter der Stagnation seit Jahr und Tag vermeintlich überlegenen, politisch kor- Besserwisser hat sich überlebt. selbst am schleichenden Virus der Ver- rekten Standpunkt aus zu persiflieren: Das knöcherung leiden, an falscher Beharrung „Brettl“ ist nicht mehr der geheime Ort n den sechziger Jahren waren sie das der Weisen, die sich mit List und Tücke linke Gewissen der Nation, Ankläger Gehör verschaffen, um ex cathedra Iund Richter in einem. Ihre abonnierten die Wahrheit zu verkünden. Feinde waren die christdemokratisch ge- Noch das schärfste Verdikt des tra- führten Regierungen aus notorischen Re- ditionellen Kabaretts über die post- aktionären, Nazi-Mitläufern und gemein- moderne Beliebigkeit von Comedy gefährlichen Opportunisten, aber auch die und Tele-Tralala beglaubigt deren hi- Knechte des Kapitals und die Fetischisten storischen Sieg. Satire darf alles, sogar des falschen Bewußtseins – überhaupt al- recht haben – nur nicht langweilen. les, was faul war im Staate D, dem Rechts- Als Dieter Hildebrandt, Klaus nachfolger des Dritten Reichs. Havenstein, Ursula Herking, Hans Jür-

Der Prozeß dauerte stets eine Saison S. POWER gen Diedrich und Sammy Drechsel lang. Nach dem selbstgefällten Urteils- Aufgelöstes Ensemble*: Atemlose Altersstarre 1956 begannen, der Republik die Le- viten zu lesen, wurde jedes auch nur ein bißchen kritische Wort begierig aufge- nommen. Neben Tucholsky, Kästner und Hollaender stand der große Werner Finck Pate, der noch Mitte der dreißiger Jahre mit tapfer hingestotterten Halbsilben mehr sagte als andere im zweistündigen Vortrag, und es gab nur ein einziges Fernsehpro- gramm, in dem das Kabarett aus München bald zum nationalen Hochamt des gesell- schaftskritischen Spotts avancierte. Jahre- lang war das in der ARD ausgestrahlte Sil- vesterprogramm der Lach- und Schießge- sellschaft eine Art Anti-Regierungser- klärung: Die Opposition hatte ihren roten Kanal, und die Gegner von Strauß & Co. klatschten sich daheim vor Freude auf die Schenkel. Die Fernsehbühne stand den Münchnern stets offen – ein Kontinuum in der einzig- artigen Karriere dieser Schmähtruppe, die es seit 1972, auf dem Zenit Brandtscher

RÖHNERT Reformpolitik, mit immer neuen Leuten Münchner „Lach- und Schießgesellschaft“ (1966)*: Das linke Gewissen der Nation versucht hat. Heute moderiert Jochen Busse, 57, mit spruch legte die anklagende Staatsanwalt- und atemloser Altersstarre. Während sich 15jähriger Zugehörigkeit einer der aus- schaft unverzüglich Revision ein, und so das Kommen und Gehen der Ensemble- dauerndsten Erben der Lach- und Schieß- begann das Spiel von vorne. Ob Adenauer, mitglieder bei der Lach- und Schießgesell- Legende, die volldröhnende Stammtisch- Erhard oder Kiesinger – die Bänkelsänger schaft ständig beschleunigte, blieb der Muff runde „7 Tage – 7 Köpfe“ auf RTL, wäh- des Bösen aus München-Schwabing, allen eines überlebten Polit-Kabaretts, das im- rend Dieter Hildebrandt, 71, mit seinem voran Dieter Hildebrandt, haben es noch mer noch den Anschein verbreitete, ein „Scheibenwischer“ den Nachweis erbringt, jedem Bundeskanzler gezeigt. Erst mit der einsames Aufklärungsgeschwader über daß Kabarett, das nicht auf der Höhe Kanzlerschaft Willy Brandts gerieten die dunklem Territorium zu sein.Was einst die der Zeit ist, irgendwann tatsächlich zeitlos ruchlosen Rächer der Entnervten vorüber- Stärke des ersten deutschen Kabaretts aus- wird – zu einer Antiquität, die an jene gehend ins seichte Gewässer der unmora- machte – Gesellschaftskritik mit Lachan- wunderbaren Zeiten erinnert, in denen lischen Anfechtung, in die Nähe von Sym- spruch –, ist längst schon Besserwisserei, alles viel besser und, vor allem, viel, viel pathie für die neue Macht am Rhein. die zum Gähnen reizt: oft peinlich für schlimmer war. Damals, als es noch echte Nun, da abermals ein sozialdemokrati- Feinde gab. scher Bundeskanzler den Reformstau be- * Oben: Rudolf Höhn, Simone Solga, Hans-Jürgen Sil- Jede Zeit hat ihre Kritik, jede Kritik bermann,Andreas Rebers; unten: Hans-Jürgen Diedrich, seitigen will, hat sich der ewig tagende Klaus Havenstein, Dieter Hildebrandt, Jürgen Scheller, hat ihre Zeit. Gut, daß wir vergleichen Reichsgerichtshof des deutschen Kabaretts Ursula Noack. können. Reinhard Mohr

192 der spiegel 3/1999 AUTOREN Liebe und Erinnerung Liane Dirks skizziert in einem Roman skrupulös die Liebesbeziehung zwischen einer polnischen Jüdin und einem jungen Deutschen. Von Andrzej Szczypiorski

Liane Dirks: „Und die Liebe? frag ich sie“. Ammann Verlag, Zürich; 180 Seiten; 34 Mark. F. SCHUMANN / DER SPIEGEL F. V. GEISSLER V. Szczypiorski Dirks

Szczypiorski, 70, wurde als Katholik und Angst“ debütierte, in ihrem neuen Werk Die Autorin hat weder einen Roman über polnischer Patriot von den deutschen Be- nicht alle diese Regeln streng befolgt – die polnische Schriftstellerin Krystyna Zy- satzern ins KZ Sachsenhausen verschleppt, doch sie hat ganz sicher Anstrengungen wulska geschrieben noch eine Chronik von wo der Thomas-Mann-Fan Deutsch lernte; in dieser Richtung unternommen. Sie hat deren Leben. Die beiden Frauen verband der Romancier („Die schöne Frau Seiden- ein Buch über die Liebe einer Frau ge- Freundschaft. Es muß eine intensive Bezie- man“) lebt in Warschau. schrieben, die sie gekannt und über deren hung gewesen sein, zumal die Zywulska Schicksal sie etliches erfahren hat. Liane noch kurz vor ihrem Tod viele Stunden mit n der Literatur kann man mehr über Dirks ist jung (Jahrgang 1955), sie hat ein der deutschen Schriftstellerin zugebracht das menschliche Geschick erzählen als Recht auf Risiko. Ihr Buch mit dem Titel hat. Die nahm die Gespräche auf Tonband Isonst. Doch bedarf es dazu eines My- „Und die Liebe? frag ich sie“ ist ein faszi- auf, um sie später zu einer Erzählung über steriums der Verallgemeinerung, das die nierendes Beispiel dafür, wie jemand die tote Freundin zu verarbeiten.Wie gesagt, Banalität des Lebens überhöht. Da kann knapp an einer unvermeidlich scheinen- die schriftstellerische Niederlage schien dann sogar – wie bei Tschechow – das Ver- den Schlappe vorbeischrammt. fast unvermeidlich: Auf nahezu jeder Sei- zehren eines Herings zum Drama te gerät dieses Buch in die Nähe werden. eines erbärmlichen Melodrams, Doch gibt es menschliche Schick- denn eine törichtere Liebe als die, sale, deren Verallgemeinerung nur die eine alternde Jüdin gegenüber einem Shakespeare gegeben ist. einem verrückten jungen Deut- Jedem anderen bleibt die bloße schen hegt, ist schwer vorstellbar. Schilderung, und die kann schwie- Doch Dirks gleicht einer Seil- rig genug sein. Wer den Mut zu tänzerin. Jedesmal wenn der Sturz einer solchen Arbeit aufbringt, in die Tiefe des Kitsches gewiß muß sie mit der Präzision einer scheint, gewinnt sie im letzten Au- preußischen Gouvernante, der genblick die Balance wieder, hält Disziplin eines Frontsoldaten, der sich auf dem Seil und macht kehrt, Demut eines mittelalterlichen um in eine andere Richtung wei- Mönchs tun und dazu noch die terzulaufen – und das mit Grazie Lippen versiegelt haben, um einen und trotz vieler Fallstricke: Die Zy- Kommentar nicht einmal zu flü- wulska nämlich hat die Wahrheit stern. bisweilen geschönt, bisweilen nur

Vielleicht hat Liane Dirks, die MEHRING F. die halbe Wahrheit gesagt. Das 1986 mit dem Roman „Die liebe Roman-Vorbild Zywulska (1989): Die Wahrheit geschönt Selbstporträt weist mithin entspre-

der spiegel 3/1999 193 Kultur chende Lücken auf, weiße Flecken, die Es gibt mannigfaltige Arten des Ver- Dirks hätte ausmalen können. Das tut sie schweigens. Die Zywulska hatte das Recht, nicht. Vielleicht aus Achtung vor der ver- nicht alles zu sagen. Nicht nur im Hinblick storbenen Freundin, vielleicht aus Furcht, auf ihre Liebe. Sie war Jüdin, sie hatte der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Doch Auschwitz überlebt, und sie gelangte sofort es ist wahrscheinlich gut so, auf diese Wei- nach dem Krieg in die Salons der damali- se weht der frische Hauch von Authenti- gen Machthaber. Damals lebten in Polen zität durch das Buch. Juden in unterschiedlichster Art und Wei- Zwei Dinge lassen mir diesen Versuch besonders interessant erscheinen. Zum ei- nen ist da die Geschichte dieser Liebe – Bestseller der Liebe eines jungen Mannes zu einer viel älteren Frau: eine eigenartige psy- Belletristik chologische und intellektuelle Konstella- 1 (1) Marianne Fredriksson Simon tion. Die Frau ist eine polnische Schrift- stellerin, der junge Mann ein auf die W. Krüger; 39,80 Mark deutsche Geschichte zorniger Intellektu- eller. Sie hat einen Ehemann, und dieser 2 (2) Martin Walser Ein springender Ehemann ist durchaus kein alltäglicher Brunnen Suhrkamp; 49,80 Mark Typ. Dieser Ehemann könnte, wenn er denn wollte, die beiden Liebenden in den 3 (3) Marianne Fredriksson Staub treten. Hannas Töchter W. Krüger; 39,80 Mark Aber er ist ein erschöpfter, müder Mann, vielleicht sogar mehr – vielleicht ist er im 4 (4) Henning Mankell Die fünfte Frau Innersten noch ausgebrannter und nieder- geschmetterter als diese liebeskranke Frau Zsolnay; 39,80 Mark und dieser verrückte, wie ein Schuljunge 5 (6) Nicholas Evans Im Kreis des Wolfs verliebte junge Mann aus Deutschland. Während sie aus Liebe leiden, spielt der C. Bertelsmann; 46,90 Mark Ehemann Schach. Es kommt sogar vor, daß er Schach spielt, während im Raum ne- 6 (7) Donna Leon Sanft entschlafen benan die Frau ein dramatisches Telefon- Diogenes; 39 Mark gespräch mit dem fordernden und unvor- sichtigen Liebhaber führt. 7 (5) Ingrid Noll Röslein rot Es gibt Berlin als Ort der Liebe, War- Diogenes; 39 Mark schau als Ort leidenschaftlicher, doch schließlich trauriger Begegnungen, und es 8 (8) Arthur Golden Die Geisha C. Bertelsmann; 46,90 Mark Sie hatte das Recht, manches zu verschweigen – nicht 9 (11) Marlo Morgan nur im Hinblick auf die Liebe Traumreisende Goldmann; 39,90 Mark gibt das berühmte Obory, das Erholungs- Auf der Suche: heim für polnische Schriftsteller, dessen Eine Frau entdeckt Pensionäre fast alle von der Romanze der die Kultur bekannten Kollegin wissen. Liane Dirks ist der australischen eine gute Erzählerin; sie schildert – bis- Aborigines weilen ein wenig träge, dann wieder ein bißchen modernistisch oder auch irritie- rend – die verschiedenen Begegnungen der 10 (10) Heidenreich/Buchholz beiden Liebenden, deren kuriose Ge- Am Südpol, denkt man, ist es heiß spräche, in denen sich unablässig Liebes- Hanser; 25 Mark schwüre mit der politischen Schizophre- nie verflechten, in der diese beiden Men- 11 (12) Barbara Wood Das Haus der schen von ihrer jeweiligen Lebensge- Harmonie W. Krüger; 49,80 Mark schichte her befangen sind. Man könnte einen Film daraus machen, 12 (13) Peter Härtling Große, kleine im Stil der französischen Nouvelle vague. Einen Film voller Schweigen, einen Film Schwester Kiepenheuer & Witsch; 39,80 Mark der Andacht und des angehaltenen Atems, 13 (9) Loriot Das große Loriot Buch doch ohne Tränen – die Frau hat alle ihre Tränen längst geweint, in der Vergangen- Diogenes; 29,90 Mark heit. Und der Mann ist immerhin ein mo- derner Mann, der die Fasson zu wahren 14 (15) Stephen King Sara versteht, selbst wenn er restlos von der Heyne; 49,80 Mark Liebe besessen ist. Das eben ist die ande- re interessante Seite dieses Buches: das, 15 (14) Catherine Clément Theos Reise was verschwiegen wird. Hanser; 39,80 Mark

194 der spiegel 3/1999 se: Die einen hausten in winzigen Zim- Moskaus, und sie träumten wahrscheinlich merchen, stopften Hosen, flickten Schuhe, nie, denn selbst trauriger Träume muß sich handelten mit Geflügel und Milchproduk- der Mensch würdig erweisen. ten, sie gingen ins Bethaus und träumten Und erst die Vertreibung aus Polen stell- allnächtlich ihre armen, traurigen Träume. te die Juden aus den Dachstuben denen Andere dagegen wohnten in eleganten aus den luxuriösen Residenzen gleich. In Villen, fuhren Limousinen, hatten Adju- der Emigration waren alle ohne Ausnahme tanten, Geheimdienste und die Gnade nur noch Juden. Urplötzlich zählte nichts außer dem Drama ihres Schicksals. Unter Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich hundert armen Schneidern und Bäckern ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ fand auch der kommunistische Häscher als Verbannter einen ehrlichen Platz. Sachbücher Das Schicksal der Zywulska war ver- 1 (2) Jon Krakauer worren. Wie ich glaube, war ihre Liebe zu einem Deutschen, der sämtliche deutsche In eisige Höhen Verbrechen aufdecken wollte, durchaus Malik; 39,80 Mark nicht dramatischer und bitterer als der Alltag ihres damaligen Lebens. Diese Frau hatte Ghetto und Vernichtungslager Auf dem Gipfel: überlebt. Nicht ohne Talent beschrieb sie Eine Mount-Everest- Expedition endet mit einer Sie war die Grande Dame in Katastrophe den Salons der Macht – und in denen der Boheme 2 (1) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark diese Erfahrung in zwei Büchern. Später wandte sie sich einer ganz anderen Litera- 3 (3) Monty Roberts Shy Boy tur zu, wurde zur satirischen Schriftstelle- Lübbe; 49,80 Mark rin, schrieb Feuilletons, verfaßte Spottge- dichte, Epigramme und Limericks. 4 (6) Dale Carnegie Sorge dich Doch die Zywulska war eben nicht nur nicht, lebe! Scherz; 46 Mark Schriftstellerin. Sie war auch die Grande Dame in den Salons der Macht, weil ihr 5 (4) Monty Roberts Der mit den Mann eine einflußreiche Rolle im kommu- Pferden spricht Lübbe; 44 Mark nistischen Establishment spielte. Ich kann mir vorstellen, daß sie das manchmal 6 (9) Helmut Schmidt Auf der Suche schlichtweg entsetzte. Im Künstlermilieu, nach einer öffentlichen Moral im Bekanntenkreis ließ man sie die Posi- DVA; 42 Mark tion ihres Mannes immer wieder spüren. Zywulska versuchte, das Literarische Café 7 (5) Guido Knopp Hitlers Krieger mit den Salons der Mächtigen zu versöh- C. Bertelsmann; 46,90 Mark nen, die Dichter mit den Apparatschiks, die Warschauer Boheme mit den Kellern 8 (11) Sigrid Damm Christiane und der Geheimdienste, Nachtschwärmer mit Goethe Insel; 49,80 Mark der Welt der Moskauer Agenten und dü- steren Dialektiker auf den Gipfeln der 9 (8) Jürgen Grässlin Macht. Gegen ihren Willen lebte sie stän- Jürgen E. Schrempp Droemer; 39,90 Mark dig zwischen zwei Welten. Schon das allein hätte für ein großes mo- 10 (7) Stéphane Courtois und andere ralisches Drama ausgereicht. Hinzu kam Das Schwarzbuch des Kommunismus die jüdische Vergangenheit aus den Zeiten des Krieges und die wahnwitzige Liebe zu Piper; 68 Mark einem Deutschen, der nichts Besseres zu 11 (12) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch tun hatte, als das Leben dieser Frau zu ver- nichten, die an seiner Seite all das aufs Berlin; 39,80 Mark neue zu durchleben gezwungen war, was 12 (10) Corinne Hofmann Die weiße sie vergessen wollte. Besonders diesen Aspekt hat Liane Massai A1; 39,80 Mark Dirks gut herausgearbeitet. Alle Dramen, Verzweiflungen und Rollen, die Zywul- 13 (13) Alice Schwarzer Romy Schneider skas Leben ausmachten, haben natürlich Kiepenheuer & Witsch; 36 Mark nicht Platz in ihrem Buch. Sie hat gut dar- an getan, ein bescheiden angelegtes Buch 14 (14) Reinhold Messner Yeti – Legende zu schreiben, das voller Demut ist ange- und Wirklichkeit S. Fischer; 39,80 Mark sichts des Schicksals von Krystyna Zy- wulska: ein Buch über das Dilemma einer 15 (–) Harriet Rubin Machiavelli für Liebe, die von böser, von schlimmer Erin- Frauen W. Krüger; 34 Mark nerung durchflochten ist. Es genügt! ™

der spiegel 3/1999 195 Kultur

POP Schnittsalat und Gehäcksel Popmusik-Clips, von TV-Sendern wie Viva oder MTV fast pausenlos ausgestrahlt, werden oft als Belege einer jungen „neuen Bildsprache“ gefeiert. In Wahrheit ist das meiste davon, wie eine Münchner Schau beweist, hektisches Gewusel, so fad wie hübsch. Von Michael Skasa

Skasa, 57, ist Rundfunkjournalist und nicht unwidersprochen lassen.Also Autor. Er lebt in München. hat Viva sein Archiv von rund 20000 Clips zugänglich gemacht, und der n furchtbaren Abenden in fürch- Kölner Kunstvereinsdirektor Udo terlichen Hotels sitzt der Mensch Kittelmann hat daraus „500 der be- Amanchmal vor seiner Minibar, starrt sten“ ausgesucht und sie erstmals diese kleinen, kleinen Flaschen an, knipst 1997 beim „Kölner Kunstsalon“ den entsetzlich hoch montierten Fernseh- präsentiert. Das Münchner Kultur- kasten an und schaut sich diese kleinen referat übernahm die Show und Bilder dann vom Bett aus ratlos an. Und zeigt sie (bis 23. Januar) in der Kel- weil der Mensch auf Reisen oft Unge- lerhalle im Forum der Technik des wöhnliches unternimmt (Tomaten trinken Deutschen Museums. im Flugzeug, Hühner essen im „Wiener- Feierliche Stille liegt über der wald“ und SPIEGEL lesen in Cafés), so Clipschulengruft. Zehn Sitzsack- denkt er: Guck dir doch jetzt mal diese inseln verteilen sich in der Weite. Musikclips an, von denen die Kids nicht Um die Pfühle sind zwei, drei Mo- genug kriegen; zieh dir mal ’n paar von nitore gestellt, auf den Pfühlen ein denen rein, Gruftie, laß flippen, klicken, Gewirr von Kopfhörern und Ka- jaulen, hüppen! Vielleicht verstehst du beln, die im Zentrum der Sitzbu- dann gleich besser, was bei den Youngsters lette enden. Hie und da hockt wer los ist, abgeht, ihnen abgeht, mach mal! vor einem der 18 Bildschirme – dies Es soll da ja eine ganz neue Sicht- und ist keine fetzig peppig flippige Mas- Fühlweise aufgekommen sein, von einer senveranstaltung, eher was Sakrales „neuen Bildsprache“ erzählen Fachleute; für reife Kunstabschmecker und die Kollegen von der Filmkritik sagen, nachgelaufene Trendsucher. Der ohne Clipkunst wäre Lola nie losgerannt, einzelne bleibt hier so einzeln wie und es käme da sicher noch einiges an In- im Hotelzimmer – oder in der novation auf uns zu. Auch Wim Wenders Teeniebude. vermutet, „die Möglichkeit zu einer neuen 30 Stunden könnte man hier, von Ästhetik“ sei „sicher drin“. Sack zu Sack hüpfend, verbringen, Bisher, in den besagten Hotels, war es bis man alle 500 Clips gesehen immer so, daß dein Blick vom Vorüberge- hat.Viel Madonna darunter, etliche hen von vier, fünf Clips bereits so müd ge- Rolling Stones, Prince, Michael worden war, daß er nichts mehr hielt: Im- Jackson, Pet Shop Boys und Spice mer zuckte es da nur rot und azurn, Lei- Girls. Diese Drei-Minuten-Dinger berteile leuchteten auf, und Arme wurden kosten ja bisweilen eine Million und wie Beine irgendwohin geschleudert im mehr, da können nur die Tops mit- Bogen der Melodie – bis du nach alter halten. Doch ist erstaunlich viel Ästhetik schriest, ja, nach etwas ohne Old-fashioned darunter, also Mä- ästhetische Fragen, dafür voll mit ruhigen dels von links, Beine von unten, Gesichtern und satten Geschichten. Schlagzeug von oben, Madonna mit Es war wie bei den Werbespots zwischen feuchtem Vaginenmund, Bowie als den Liedern: Da blitzten Limousinen aus halbtoter Geisterfahrer, gerne in dem Dunkel, schnurrten Kätzchen an Kon- Nebel und Dampf, vielleicht auch servendosen, verschwanden Tampons in mal chromatisiert, also hübsch und Damenhänden – manches war spaßig, das fad – weg damit. meiste zum Abschalten. Fabelhaft, daß wirklich alles, was Hätte da irgendwer von „neuer Bild- Technik heute erlaubt, durchpro- sprache“ getönt, du hättest ihn angeknurrt, biert wird. Insofern kann sich aus dann sei Karaoke die innovative Erneue- diesen Exquisitclips mancher Fil- rung des Chorgesangs. memacher Anregungen holen – ein Natürlich will ein Sender wie Viva Zwei, Katalog der Möglichkeiten tut sich der (neben MTV) sein Programm beinah hier auf: Computergags und Licht- ausschließlich mit solchen Musikclips füllt, die Charts rauf, die Hitparaden runter, den Clipkonsum (im Deutschen Museum) Vorwurf, Teenies mit Schrott vollzumüllen, Sakrales für Kunstabschmecker

196 der spiegel 3/1999 WEA / EROTICA Soul Assassins: „Puppet Master“ Madonna: „Erotica“ Talking Heads: „Road to Nowhere“

Bob Dylan: „Subterranean Homesick Blues“ Musikvideos: Geile Story, hübsches Anekdötchen, wusch und weg

tricks, Slow motion und Schnittsalat in wil- Eine Zeitlang – weil im Monitorenkeller destem Kaleidoskopgehäcksel, Schwarz- die Kopfhörerkabel so verwirrt rumliegen Weiß-Schocks und Bonbonflitter, Negativ- – habe ich die falschen Songs zu den Clips film, Zeichentrickscherze, Gruselmeta- gehört. Erst beim fünften wurde ich irri- morphosen. Das quillt und schwebt, ver- tiert, als eine fiepende Girlgruppe sang, webt, stampft, wabert, bis einem endlich durchs Bild aber Dieter Dorn von den die halbe Kunstgeschichte suspekt ist und Kammerspielen trudelte; aber Dorn war man keinen Hieronymus Bosch, keinen Mick Jagger, alles war falsch, doch irgend- Magritte und erst recht keinen Dalí mehr wie auch schön. Man assoziiert eben frei so sehen mag. irgendwie ins Nirgendwo, denkt an Dorn, Wer da eine Stunde zuguckt, hat sich auch das kommt vor beim Clipgucken. den Schädel gefüllt mit platzenden Lei- Andere, wie Madonna, erzählen am lieb- chen, miedersprengenden Titten und sten eine sogenannte Story in ihren drei durchs Weltall schwebenden Embryos. Da Minuten. Wie sie beim Singen einen Tore- sind eklige Faschotrommler mit eckigen ro verführt; wie sie („Bad Girl“) nach der Schleuderarmen (Laibach, 1989), Riefen- Nacht ihren Slip ins Waschbecken schlenzt, stahl im Zinnsoldatenmilieu; da tanzen der Katze Whiskas, sich selbst Whisky gibt; traumhaft in Schwarzweiß Hunde, Kinder, wie sie dann einen Untoten küßt und, psch, weiße Pferde von der Zeitlupe zur abrup- vorm Kuß in den Mund sprayt, wie, chchi, ten Beschleunigung und verharren wieder, das Katzenmaul faucht und, uhhh, Ma- weil gerade ein Stuhl quer durchs Bild se- donna die Zähne bleckt. Geile Story, flot- gelt wie eine Wolke vorm schwarzen Ho- tes Anekdötchen, wusch und weg. rizont (Radiohead, 1996); manches ist so Neue Ästhetik, neue Bildsprache? Ach, hinreißend abstrakt, daß Kandinsky und es wird wild gegrabbelt im großen Bauka- Mondrian ihre Freude hätten, manches ist sten der Formen und Farben, der Technik grauenhaft kitschig, vieles x-beliebig aus und Phantastik. Buntheit kann schnell ver- dem unerschöpflichen Variantentopf ge- blassen, Bewegungshektik kann lähmen. klont: was Romantisches, Blut und Busen, Grün und Rot – wird daraus nicht Grau? Traumverschliertes, Farbverschmiertes – Und aus dem grauen Urschlamm kriecht Hauptsache, die Kids reißt’s von einem An- dann wieder das Leben, aus Embryos wer- klang zum nächsten, nur nichts ausmalen, den bunte Girlies … Wäre doch ein schö-

M. FENGEL immerzu andeuten. Was? Das ist egal. ner Videoclip. ™

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Redaktion: Karen Andresen, Manfred Ertel, Bernd BASEL Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Deutschland, Österreich, Schweiz: Kühnl, Joachim Mohr, Hans-Ulrich Stoldt, Klaus Wiegrefe. Autoren, Fax 2830475 Telefon: (040) 3007-2972 Fax: (040) 3007-2971 Reporter: Dr. Thomas Darnstädt, Matthias Matussek,Walter Mayr, BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Hans-Joachim Noack, Dr. Dieter Wild Tel. (0038111) 669987, Fax 660160 übriges Ausland: BRÜSSEL DEUTSCHLAND Leitung: Clemens Höges, Ulrich Schwarz. Re- Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, New York Times Syndication Sales, Paris Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. 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(002711) 8806429, Fax 8806484 E-Mail: [email protected] tion: Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Abonnement für Blinde Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. LONDON Hans Hoyng, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Dr. Romain Leick, Fritjof Tel. (0044171) 3798550, Fax 3798599 Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 Meyer, Erich Wiedemann. Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, MOSKAU Uwe Klußmann, Jörg R. Mettke, 3. Choroschewskij Abonnenten-Service Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund von Ilsemann, Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. 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Autoren, Reporter: Klaus Franke, Henry Glass, PARIS Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Postfach, 6002 Luzern, Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. PEKING Andreas Lorenz, Qijiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (008610) Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer,Anke Dürr, Nikolaus 65323541, Fax 65325453 Abonnementspreise von Festenberg,Angela Gatterburg, Lothar Gorris, Dr.Volker Hage, PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 Inland: sechs Monate DM 130,–, Dr. Jürgen Hohmeyer, Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, zwölf Monate DM 260,– Anuschka Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Klaus 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. 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Gehner; Werner Bartels, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Hendricks, Antje Klein, Matthias Krug, Peer Peters-König, Monika Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, monatliche Programm-Magazin. Rick, Elke Ritterfeldt, Heidi Russbült, Karin Weinberg,Anke Wellnitz Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Inga Lindhorst, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Hefte bekomme ich zurück. Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Volker Fensky; Müller, Bernd Musa,Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Christel Basilon-Pooch, Sabine Bodenhagen, Katrin Bollmann, Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Regine Braun, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Paul-Gerhard Roth, Constanze Rödiger, Detlev Scheerbarth, Doris Wilhelm Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Name, Vorname des neuen Abonnenten PRODUKTION Wolfgang Küster, Frank Schumann, Christiane Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eck- Oliver Peschke, Monika Zucht art Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Straße, Hausnummer Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt BERLIN Leitung: Heiner Schimmöller, Michael Sontheimer; Georg Mascolo. Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Petra Born- PLZ, Ort höft, Markus Dettmer, Carolin Emcke, Jan Fleischhauer, Jürgen BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Hogrefe, Harald Schumann, Peter Wensierski, Friedrichstraße 79, 10117 Berlin, Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Ich möchte wie folgt bezahlen: Wiedner, Peter Zobel BONN Leitung: Jürgen Leinemann; Hartmut Palmer, Hajo Schu- KOORDINATION Katrin Klocke macher. Redaktion: Martina Hildebrandt, Horand Knaup, Ursula LESER-SERVICE Catherine Stockinger ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung Kosser, Dr. Paul Lersch, Claus Christian Malzahn, Dr. Hendrik SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Munsberg, Elisabeth Niejahr, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, von 1/4jährlich DM 65,– Christian Reiermann, Ulrich Schäfer, Alexander Szandar, Klaus information GmbH & Co.) Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms Fax 215110 NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Bankleitzahl Konto-Nr. Dresden, Tel. 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M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Georgstraße 50, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Vertrauensgarantie Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche ab KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Abon- MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten nenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeiti- Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel ge Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: 2. Unterschrift des neuen Abonnenten SP99-003 Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631.

200 der spiegel 3/1999 Die Woche 9. bis 15. Januar 1999 Chronik

SAMSTAG, 9. 1. spieler aller Zeiten aus Chicago, er- TERMINE klärt seinen Rücktritt. Die Aktien sei- 18. bis 24. Januar 1999 OLYMPIA Der zurückgetretene Präsi- nes Sponsors Nike fallen daraufhin dent des Organisationskomitees für um über fünf Prozent. MONTAG, 18. 1. die Winterspiele 2002 in Salt Lake City gibt zu, daß Sportfunktionäre in ABSCHLUSS US-Präsident Bill Clinton ASYLVERFAHREN Das britische Oberhaus der Bewerbungsphase mit Beträgen beendet eine seiner Affären. Der entscheidet erneut, ob Chiles ehemaliger bis zu 70000 Dollar bestochen wor- ehemaligen Staatsangestellten Paula Diktator Pinochet ausgeliefert werden den sind. Jones stellt er zur Beilegung des kann. Rechtsstreits über sexuelle Belästi- EURO-START Ökonomen und Politiker gung einen Scheck über 850000 DIENSTAG, 19. 1. fordern, die für das Jahr 2002 geplan- Dollar zu. te Ausgabe des Euro-Bargeldes vorzu- RECHTSSTREIT Das nordrhein-westfälische Verfassungsgericht verhandelt über die ziehen. Die Bundesregierung will an DONNERSTAG, 14. 1. ihrem Zeitplan festhalten. geplante Zusammenlegung von Innen- VETTERNWIRTSCHAFT Das Europaparla- und Justizministerium. STERNGUCKER Astronomen in Austra- ment in Straßburg hat mit 293 zu 232 MITTWOCH, 20. 1. lien berichten, daß sie in der Milch- Stimmen einen Mißtrauensantrag ge- straße einen neuen Planeten, eine Art gen die EU-Kommission wegen zahl- KASSENSTURZ Das Bundeskabinett sitzt Zwillingsschwester der Erde, entdeckt reicher Betrugs- und Korruptionsfälle über dem Zahlenwerk des Haushalts 1999 haben. zurückgewiesen. zu Rate.

SONNTAG, 10. 1. ABSTURZ Beim nordrhein-westfäli- DONNERSTAG, 21. 1. schen Geilenkirchen stürzt ein ameri- SOZI-BUND In Brandenburg bilden So- kanisches Tankflugzeug des Typs REDE-POTPOURRI Der Bundestag debattiert zialdemokraten eine Arbeitsgemein- Boeing 707 ab. Vier Besatzungsmit- über Wirtschaft, Tierschutz, genetischen schaft, die sich gegen eine weitere glieder sterben. Fingerabdruck und Schiffsunglücke. parlamentarische Zusammenarbeit der SPD mit der PDS stark machen FREITAG, 15. 1. FREITAG, 22. 1. will. ATOM Großbritannien und Frankreich EILIGER VATER Papst Johannes Paul II. be- MONTAG, 11. 1. kündigen hohe Schadensersatzforde- ginnt eine Amerika-Reise, er besucht Me- rungen an, sollte Deutschland aus der xiko und die USA. EINKAUFSTOUR I Daimler-Chrysler-Chef atomaren Aufarbeitung aussteigen. Jürgen Schrempp gibt bekannt, daß Umweltminister Jürgen Trittin, der in SAMSTAG, 23. 1. sein Konzern den Einstieg beim japa- Paris verhandelt, lehnt alle Forderun- VERNISSAGE In Berlin-Kreuzberg eröffnet nischen Autobauer Nissan prüft. gen ab. Kanzler Schröder das Jüdische Museum EINKAUFSTOUR II In der Tabakindustrie ÄSTHETIK Das Bundesverwaltungs- von Daniel Libeskind. kommt es zu einer Großfusion. Bri- gericht erlaubt bayerischen Polizisten SONNTAG, 24. 1. tish American Tobacco, zweitgrößter das Tragen kleiner Ohrringe. Die Hersteller der Welt, will sich mit Landesregierung von Sachsen- DOPPEL-PASS Führende Politiker von CDU Rothmans International zusam- Anhalt beschließt, die Beamten dem- und CSU treffen sich im hessischen Neu- menschließen, dem viertgrößten Ziga- nächst in Jeanshosen auf Streife zu Isenburg, um über Einzelheiten der ge- rettenproduzenten. schicken. planten Unterschriftenaktion zu beraten.

DIENSTAG, 12. 1. Im pakistanischen DOPPEL-PASS Bundesinnen- minister Otto Schily legt den Taxila, 35 Kilometer Gesetzentwurf zum neuen nordwestlich von Isla- Staatsbürgerschaftsgesetz mabad, feiern die vor. Nach seinen Berech- Moslems das letzte nungen können vier Millio- Freitagsgebet im Ra- nen Ausländer einen deut- madan. Für sie endet schen Paß bekommen. der heilige Fasten- monat. MITTWOCH, 13. 1. AUSSTIEG I Die Bundesregie- rung einigt sich auf ein neu- es Atomgesetz. Sie bekräftigt die Absicht, alle Kernkraft- werke abzuschalten. Die Aufarbeitung abgebrannter Brennstäbe soll vom 1. Janu- ar 2000 an verboten werden. AUSSTIEG II Michael Jordan,

erfolgreichster Basketball- DPA

der spiegel 3/1999 201 Register

Gestorben Jerzy Grotowski, 65. Er brauchte keine Kulissen, nur Körper, keine Requisiten, nur Werner Müller, 78. Mit seiner Swing-Mu- Ekstasen. Und als er, im Jahre 1970, mit sik half er den Deutschen über die schwere seinem „Theater-Laboratorium“ erstmals in Nachkriegszeit. Der Deutschland gastierte, ging ein Ruck durch junge Posaunist be- die Bühnenwelt: Grotowski, der polnische gann im November Guru, Schöpfer eines „armen Theaters“, 1948, auf dem Höhe- riß das kreatürliche Leiden des Menschen punkt der Berlin- ans Licht, asketisch, ritualisiert, verstörend. Blockade, für den „Feuer, Blut und Ruinen“, die Bilder seiner Rundfunk im ame- Jugend, wurden zu Bühnen-Golgathas, zu rikanischen Sektor Passionsspielen, die folglich in Kirchenräu- (Rias) als Bandleader men aufzuführen waren: Der atheistische ein Tanzorchester Katholik blieb im Tempel. Mitte der acht- aufzubauen. Er hatte ziger Jahre fand er mit seinen Exerzitien-

T. V. ZUETPHEN / TEUTOPRESS V. T. ein gutes Händchen Brüdern im italienischen Pontedera eine für die Auswahl sei- Bleibe, reiste als Leh- ner Musiker, zu denen etwa Rolf Kühn (Kla- rer durch die Lande rinette, Saxophon) oder der Pianist Eugen und war privat alles Cicero zählten. Innerhalb kürzester Zeit andere als ein Guru; hatte er ein international angesehenes Or- vielmehr ein Pole wie chester auf die Beine gestellt, das allein in aus dem Bilderbuch, den ersten 10 Jahren seines Bestehens über nobel, melancholisch 2600 Aufnahmen machte. Mit seiner unver- und verwegen. Jerzy wechselbaren Mischung aus Bläser-Swing Grotowski starb am und 16 begleitenden Streichern „Swing mit vergangenen Don- viel String“ und mit Müllers Bearbeitungen nerstag in Pontedera

von „Malaguena“ und „The Breeze“ wur- K. MEHNER an Leukämie. de die Truppe sogar in den USA gefeiert. Werner Müller starb, wie erst jetzt bekannt Fabrizio De André, 58. Voraussetzung für wurde, am 28. Dezember in Köln. seine Arbeit, sagte er einmal, sei Einsam- keit. Die fand der italienische Liederma- Brian Moore, 77. Unter den Schriftstellern cher mit der sonoren Stimme und den der Gegenwart war er wie wenige fähig, Un- Pockennarben im Gesicht seit einem Vier- terhaltung und Spannung mit metaphysi- teljahrhundert auf Sardinien, wo in einem schem Tiefgang zu verbinden. Als wäre abgelegenen Bauernhaus seine Lieder ent- nichts selbstverständlicher, verschmolz standen. Es sind Balladen voll resignativer Moore in seinen mehr als 20 Romanen Kri- Melancholie, aber auch brutalem Realis- mi-Elemente mit Formen des historischen mus, die nicht Herz und Schmerz besingen, Romans und Sozialkritik mit psychologi- sondern unpräten- scher Introspektion. Seine Helden sind oft tiös das Los von gescheiterte Existenzen und glücklose Re- Huren und Zuhäl- bellen, und nicht zufällig verband ihn mit tern, Romas und Graham Greene eine wechselseitige Hoch- Rothäuten, Out- schätzung. Im Unterschied zum Engländer laws und Außen- Greene freilich, der zum Katholizismus kon- seitern.Verständnis vertierte, wurde der Ire Moore vom Katho- für Unangepaßte liken zum Agnostiker. In Belfast als Sohn und gesellschaftli- eines streng katholischen irischen Nationa- che Randgruppen listen geboren, litt er unter autoritärer prägte De Andrés Erziehung. Die religiös und ideologisch musikalische Pro-

aufgeladene Atmosphäre seiner Heimat duktion; es erlosch DPA empfand er als so be- auch dann nicht, als drückend, daß er 1948 sardische Banditen ihn 1979 kidnappten nach Kanada emi- und erst nach über hundert Tagen und Zah- grierte. In seine end- lung eines beträchtlichen Lösegeldes wie- gültige Wahlheimat der freiließen. In den sechziger Jahren war Malibu in Kalifornien der junge Genueser ,,cantautore“, der sich zog er 1968 ursprüng- an Rimbaud und Baudelaire, später an Bob lich, um das Dreh- Dylan und Leonard Cohen orientierte, ei- buch für den Hitch- ner der Vorsänger der italienischen Stu- cock-Film „Der zer- dentenbewegung. 1978 wurde sein sozial-

rissene Vorhang“ zu BROOKER / REX FEATURES P. kritischer Song ,,Andrea“ zum Sommerhit schreiben. Seine Ro- – selbst bei den des Italienischen unkundi- mane trugen ihm eine internationale Le- gen Bundesbürgern. Fabrizio De André serschaft und zahlreiche Preise ein. Brian starb am vergangenen Montag in Mailand Moore starb vergangenen Montag in Malibu. an Krebs.

202 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Franz Müntefering, 59, Bun- desverkehrsminister, hatte we- Ellen DeGeneres, 40, ehe- nig Glück mit einer galant maliger Star der inzwischen gemeinten Bemerkung. Mün- abgesetzten Comedy-Serie tefering begrüßte im Willy- „Ellen“ und Anne Heche, Brandt-Haus in Berlin ver- 29, amerikanische Schau- gangene Woche die Bundes- spielerin („Psycho“) mit ministerin für wirtschaftliche Traumfrau-Nimbus, hatten Zusammenarbeit und Entwick- sich jüngst über Hollywoods lung, Heidemarie Wieczorek- Ablehnung von Schwulen Zeul, mit dem anerkennenden beklagt: In der Filmmetro- Ausruf: „Oh, hast du wieder pole würden sie als beken- neue exotische Kleider an!“ nendes Lesben-Paar nur Die „rote Heidi“ schaute auf verachtet.Angeblich hatten ihr graues mit Ornamenten Nachbarn das Duo belehrt, verziertes Kleid. „Wieso exo- „daß wir unser Privatleben tisch, Franz?“ wollte sie entrü- auch nur privat leben“ soll- stet wissen. Müntefering: „Na ten. Die prominenten Frau- ja, diese Drachen da auf dei- en verkauften ihr Haus in nem Kostüm.“ Da fauchte die Tinseltown und zogen noch Ministerin: „Das sind keine vor Jahresende 140 Kilome- Drachen, ich bin der Drache.“ ter weiter nördlich von Los Angeles in eine Gegend un- David Yelland, 35, Chefre- weit von Santa Barbara. „In dakteur der britischen Boule- der neuen Nachbarschaft“, vardzeitung „The Sun“, erhielt so lästerte „Newsweek“ eine journalistische Missetat in jetzt, „werden sie mit kleiner Münze zurückgezahlt. einer Menge Berühmthei- Der Journalist hatte den von ten verkehren, darunter Ke- seiner Ex-Ehefrau als Alkoho- vin Costner und Michael liker und Schürzenjäger geou- Douglas“ – zumindest letz- teten britischen Außenminister terer ist berüchtigt als Sex-

Robin Cook auf der Titelseite PRESS ACTION Maniac. abgebildet, umrahmt von der in großen Buchstaben ge- Heche, DeGeneres druckten Frage „Würden Sie mit diesem Mann schlafen?“ Der Labour-freundliche „Guardian“ kon- Lionel Jospin, 61, französischer Premier- ren Datums identifiziert: Der weiße Haar- terte auf seinen Innenseiten mit einem paß- minister, wehrte sich gegen Verdächtigun- schopf des Premiers hat sich inzwischen fotogroßen Bild des Sun-Chefredakteurs gen, er habe es mit der ihm nachgesagten etwas gelichtet. und der Frage: „Would YOU sleep with Ambition auf die Nachfolge des gaullisti- this man?“ Wenn „Sie mit Yelland Bei- schen Staatspräsidenten Jacques Chirac, Renate Künast, 43, grüne Fraktionschefin schlaf haben wollen“, möge man die Num- 66, gar zu eilig. Anlaß für die Bescheiden- im Berliner Abgeordnetenhaus, plant die mer o990 199572 anrufen. „Falls Sie keinen heitsaktion war ein farbiges Großfoto, mit Revolution. Am 19. Januar, dem 80. Jah- Gefallen an einem Koitus mit dem glatz- dem „Le Monde“ am 7. Januar ein Jospin- restag der ersten Parlamentswahl mit Interview dekoriert hatte und auf dem der Frauenstimmrecht in Deutschland, will die Sozialist majestätisch auf einem thronähn- Grüne mit prominenten Parteifreundinnen lichen Sessel posiert. Tatsächlich war das die Baustelle des Kanzleramts in Berlin Prunk-Lichtbild im Elysée-Palast gefer- stürmen. Nach dem Vorbild des baldigen tigt worden – aber bereits Hausherrn Gerhard Schrö- am 10. Juli 1997 anläßlich der, der nach einer durch- der Übergabe eines Justiz- zechten Nacht Anfang der reform-Gutachtens durch achtziger Jahre am Zaun des hohe Richter an Chirac.Vo- Bonner Kanzleramts rüttel- rige Woche beteuerte Jo- te und brüllte: „Ich will da

SUN spin beim Neujahrsemp- rein“, wollen Künast und „Sun“-Titel, Yelland fang für Journalisten in sei- Konsortinnen gleichfalls am nem eigenen Nobel-Palais Baustellengitter zerren. Na- köpfigen ,Sun‘-Chefredakteur finden“, „Hôtel Matignon“, daß er türlich wurde die Aktion dann 0990 199573. Laut „Sun“ riefen beim mit der Auswahl des „schö- ordnungsgemäß bei der Ber- Boulevardblatt „966 Leute an, die sagten, nen Fotos absolut nichts zu liner Polizei angemeldet. sie würden sich glücklich schätzen, mit tun“ hatte. Beim Betrach- Skeptisch fragten die Beam- dem gnomenhaften, rotbärtigen Außen- ten habe er sich aber ge- ten allerdings, warum die minister zu schlafen“. Das Ergebnis der sagt: „Lionel, du schaust Damen unbedingt eine Lei- „Guardian“-Telefon-Aktion war ebenso griesgrämig drein, wie üb- ter mitzubringen gedächten:

überraschend. „411 gegen 366 wollten Bei- lich.“ Jospin-Kenner hatten / GAMMA STUDIO X C. VIOUJARD „Sie wollen doch wohl nicht schlaf mit dem glatzköpfigen ,Sun‘-Chef.“ das Bildnis sofort als älte- Jospin etwa über den Zaun?“

204 der spiegel 3/1999 Michael Glos, 54, Chef der Bonner CSU- Gerhard Schröder, 54, Bundeskanzler, ist Landesgruppe, wähnte sich als Opfer sehr bedacht, den Verdacht weiblicher einer Verschwörung. Zum Neujahrsemp- Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion fang des Bundespräsidenten vergangenen zu zerstreuen, er sei möglicherweise ein Dienstag in Berlin hatte eine türkisch- Emanzipationsverweigerer. Zu Beginn der stämmige Fahrerin der Fahrbereitschaft des SPD-Klausurtagung in Berlin vergangene Bundestages den Konservativen und Geg- ner einer doppelten Staatsbürgerschaft ins Schloß Bellevue gebracht. Als die ihn spä- ter auch wieder abholte, maulte Glos nicht nur darüber, daß ihm „’ne Frau geschickt“ worden sei, sondern „auch noch eine, die aussieht, als ob sie türkischer Abstam- mung“ wäre. Hamburgs grüne Wissen- schaftssenatorin Krista Sager konterte: „Das kann Ihnen als Feigenblatt doch nur recht sein.“ Glos erwiderte nur ungehalten: „Ich brauche kein Feigenblatt.“

Jewgenij Dschugaschwili, 63, pensio- nierter Oberst der Sowjetarmee, will sei- nem Großvater Josef Stalin nacheifern. Der Stalin-Enkel kandidiert zu den russischen Parlamentswahlen im Dezember auf der Liste des nationalbolschewistischen Wahl- bündnisses „Stalinscher Block – Für die UdSSR“. Der Nachkomme des Sowjetfüh- Schüler Schröder (l.), Kanzler-Anmerkung rers spielte vor Jahren in einem Film des georgischen Regisseurs Dewi Abaschidse Woche überreichte der Sozialdemokrat der visuell überzeugend die Rolle seines Opas. frauenpolitischen Sprecherin der SPD- Wie dieser wettert Dschugaschwili mit ent- Fraktion im Bundestag, Ulla Schmidt, einen schlossenem Blick gegen „Feinde des mit seinen Anmerkungen versehenen Ar- Volkes“ und „gewöhnliche Karrieristen“, tikel aus der „Lippischen Landes-Zeitung“. gegen „Verfall und Banditen“. Zu Groß- Unter der Überschrift „Einziger Junge in- vaters Zeiten, verkündet Dschugaschwili mitten strickender Mädchen“ und mit dem mit georgischem Charme, habe vorbild- Hinweis „Zeitzeugen von einst erinnern liche Ordnung geherrscht und der Rubel sich“ druckte die Zeitung im September sei „mehr wert gewesen als der ameri- 1998 neben einem Erinnerungsstück auch kanische Dollar“. Für die Konzentra- ein Foto des damals elfjährigen „kleinen tionslager der Sowjetzeit macht der Stalin- Gerd“ im Kreise seiner Schulkameraden und -kameradinnen aus dem Jahr 1956. Dazu die Zeitung: „Und zum weibli- chen Geschlecht hatte Ger- hard Schröder schon damals ein ganz besonderes Ver- hältnis.“ Dann folgt eine vom großen Kommunikator unterstrichene und mit Aus- rufezeichen versehene Pas- sage: „Monika Kaiphas ge- borene Wüstenbecker, die mit ihm bis zu seinem Weg- zug nach Talle im Jahre 1956 die Schulbank drückte, denkt mit einigem Schmun- zeln daran zurück, wie Gerd als einziger Junge im Kreise

P. KASSIN P. der Mädchen saß und im Dschugaschwili (mit Stalin-Ururenkel) Handarbeitsunterricht von Fräulein Pöhlert strickte und Nachfahre Opas ideologische Lieblings- häkelte.“ Dazu notierte der Kanzler auf feinde in der bolschewistischen Partei ver- dem Zeitungsrand: „Liebe Ulla, ich wäre antwortlich: Leo Trotzki (den Stalin er- Dir dankbar, wenn Du meine frühzeitigen morden ließ) und seine Anhänger, die „das Bemühungen um Männer-Emanzipation Volk belogen haben, wie es heute die Mas- engagierten Frauen in unserer Fraktion zur senmedien tun“. Kenntnis bringen würdest. G. S.“

der spiegel 3/1999 205 Fernsehen

Montag, 18. Januar wohltätigen Organisation zu finden. Aus- gerechnet das zuvor wegen ihrer man- 13.00 – 14.00 UHR SAT 1 gelnden Leistungsbereitschaft gescholte- ne Mädchen rettet ein letztes Stück des fa- Sonja miliären Zusammenhalts. Konsequent und „Deine Kneipe ist dir wichtiger als unsere bedrückend arbeitet Pils heraus, was eine Beziehung.“ Laß uns eine Ehebar-Therapie Familie stärker zerstört als alle sozialen machen. Katastrophen: die Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen, Schwäche zuzugeben und die Fas- 20.15 – 21.45 UHR ZDF sade vom trauten, heilen Heim einzu- Ein Mann stürzt ab reißen. Der Film von Heide Pils (Buch und Re- 21.15 – 21.45 UHR SAT 1 gie) gehört gewiß zu den Höhepunkten des Fernsehprogramms dieser Woche. Er Hausmeister Krause – zeigt den Hamburger Schiffbaumeister Ordnung muß sein Achim Kettner (beeindruckend: Andreas Die Figur des Graukittels ist mehr als eine Schmidt-Schaller), den von einem Tag auf Realität unter deutschen Dächern. Der den anderen das Schicksal der Arbeits- Hausmeister erinnert an den unseligen losigkeit ereilt. Dieser Keulenschlag ver- Blockwart, das Symbol für teutonische In- ursacht bei dem Mann keinen Ausbruch toleranz und Spießigkeit. Gert Duden- von Zorn und Wehgeschrei, sondern ei- höffer hat dem Pedell in „Familie Heinz ne gleichsam implodierende Verzweif- Becker“ als Ausbund von Fühllosigkeit lung. Seiner Frau (Katrin Saß), die gerade und Stumpfheit gegen die Wünsche sei-

zur Filialleiterin einer Supermarktkette ZDF ner Familie ein böse-genaues Fernseh- aufgestiegen ist, verschweigt er seinen Schmidt-Schaller, Schade in „Ein Mann …“ Denkmal gesetzt. Tom Gerhardt, Kölsche sozialen Absturz ebenso wie seiner flip- Proll-Natur, geht nur noch mit den Kli- pigen Tochter (Cordelia Wege). Der Film Isolation, der in einer Katastrophe endet. schees der Klischees um: Sein Hausmei- begleitet den sich in ein Gespinst aus Das Mädchen wird ermordet, Kettner ster Krause wirkt komplett plemplem. Lügen und stummem Trotz Zurückgezo- gerät unter Verdacht, seine Lügen kom- Dackelclub, naive Ehefrau, scharfe Blon- genen auf Touren nach Rostock, wo er Ar- men ans Licht, die Ehefrau verstößt ihn, dinen-Tochter – Gerhardts Mitspieler in beit zu finden hofft. Doch er wird als zu obwohl sich der Mordverdacht als unbe- dieser neuen Comedy sind Abziehbilder alt abgelehnt. Der arbeitslose Schiffbau- gründet erweist. Der Mann versinkt in Al- von Abziehbildern. Mit zündendem Dia- meister bekommt Kontakt zu einer Pro- koholexzessen, und der Tochter gelingt es logwitz könnte sich der Spaß trotzdem stituierten (Birge Schade) – ein Aus- erst in letzter Sekunde, ihren verlorenen einstellen, doch erste Kostproben stimmen bruchsversuch aus seiner psychischen Vater mit Hilfe von Freunden aus einer skeptisch.

Dienstag, 19. Januar sich trotzdem, die Herren Diplomaten auf schiebt sie mit raffinierten Tricks der Poli- ihrer mörderischen Bergtour zu begleiten, zistin den späteren Mord an ihrem Mann 16.00 – 17.00 UHR RTL denn die Skier stauben durch Tiefschnee, in die Schuhe. Ohne optisches Brimborium die Menschen stürzen in Schlünde und die erzeugt der vorerst letzte Film aus der Se- Hans Meiser Seile fetzen, daß es eine Lust ist. Thomas rie große Spannung. „Du stehst ständig vor dem Spiegel – das Heinze, sonst in den TV-Komödien mehr nervt.“ Stimmt: Lies ihn. mit dem Eis im Whiskyglas beschäftigt, gibt 20.15 – 21.00 UHR ZDF hier einen Glaciator mit spannenden Ac- 20.15 – 22.15 UHR SAT 1 tionszenen. Das Geheimnis dieser Alpen- Naturzeit tour bleibt, warum ständig nur bergab ge- Britische Tierfilme gehören zum Besten Mörderische Abfahrt – brettert wird, wenn droben einer in der des Genres. Heute geht es um Spannungen Skitour in den Tod Gletscherspalte festhängt. und Intrigen in einer Affengesellschaft von Makaken, die in den Tempelruinen der 20.15 – 22.15 UHR RTL alten ceylonesischen Königsstadt Polon- Doppelter Einsatz: naruwa haust. Die Todfreundin „Eine Sternstunde des deutschen Fernseh- krimis, fast kinoreif im subtilen Einsatz ästhetischer Mittel, aber auch dank seines Drehbuchs“, schrieb die „Frankfurter All- gemeine“ in einer Vorausschau auf diesen

SAT 1 SAT Film (Buch: Norbert Eberlein, Regie: Dror „Mörderische Abfahrt“-Star Heinze Zahavi). In der Tat: Die Story ist teuflisch gut erdacht. An die rauhbeinige Ermittle- Die Handlungen dieses TV-Actionthrillers rin Sabrina (Despina Pajanou) macht sich (Buch: Curt M. Faudon, Brendan Somers, eine ehemalige Jugendfreundin Karen (Tat-

Regie: Curt M. Faudon) eiskristallklar zu jana Blacher) heran, täuscht die vom Gat- ZDF verstehen fällt nicht leicht. Doch es lohnt ten mißhandelte Frau vor. In Wahrheit aber Makake

206 der spiegel 3/1999 18. bis 24. Januar 1999

Mittwoch, 20. Januar 23.00 – 0.45 UHR HESSEN III Dieser glänzenden Kinophantasie (USA 1982, Regie: John Badham) geht ein realer 20.15 – 21.45 UHR ARD War Games – Kriegsspiele Vorfall vom 3. Juni 1980 voraus, der den Film inspirierte: Ein Computerfehler ver- Liebe und weitere Katastrophen anlaßte den Start von mehreren hundert … können so schlimm nicht werden, wenn strategischen Bombern samt der fliegen- Senta Berger und Friedrich von Thun in den Kommandozentrale des Präsidenten. diesem Vierteiler ihre Schauspielkunst zei- In „War Games – Kriegsspiele“ heißt der gen (siehe Seite 184). Held David (Matthew Broderick), ein ein- samer Hacker, der Erfolge feiert, wenn er 22.15 – 23.00 UHR ZDF in Schulcomputer eindringt und die Bio- Note seiner Freundin aufbessert oder für Kennzeichen D sie einen Flug nach Paris bucht. Die Suche Milliardenbetrug – Heiße Ware im Com- nach neuen Videospielen führt David aus puter / Unterschriften – Mir san mir / Gift- Versehen in die elektronischen Innereien zahn – Neue Erkenntnisse über Amalgam / der Luftwaffenkommandozentrale und Lagerleiter Geborski – Polen stellt sich der löst dort schwerste Kriegsbedrohungen

Vergangenheit / Streiten und Gedenken – HR 3 aus, die am Ende nur der Junge abwehren Holocaust-Mahnmal vor der Entscheidung. Broderick in „War Games“ kann.

Donnerstag, 21. Januar mann mit Toupé, der sich zu allem Über- Zeit“ – Meeresuntiefen haben deutsche fluß mit seiner verflossenen großen Liebe Weltkrieg-II-U-Bootfahrer ungealtert in 15.00 – 16.00 UHR RTL (Brooke Adams) wieder einläßt. die Gegenwart emporgeschleudert –, läßt darauf nicht hoffen: Der Bierernst Ilona Christen 21.15 – 22.15 UHR RTL schwimmt auf, Ironie und Spaß bleiben „Was willst du mit dem alten Knacker?“ verschollen. An tausend süße Nüsse. Operation Phoenix – Jäger zwischen den Welten 21.00 – 23.00 UHR NORD III Mystery-Serien waren bisher im Fernse- hen die Domäne der Amerikaner („Mil- Explosion in Kuba lennium“). RTL, ewiger Jäger in der Welt Dem britischen Regisseur Richard Lester der Quoten, riskiert mit dieser zehnteiligen (Beatles-Film „Help“) gelang hier im Jahr Reihe die erste deutsche Version. Die Hel- 1979 ein geschicktes Puzzle aus dokumen- den sitzen in einer Sonderkommission in tarischen Elementen, Politthriller und De- Berlin und werden immer dann tätig, wenn montage eines Agentenhelden. Der Film paranormale Phänomene im Spiel zu sein spielt am Ende des korrupten Batista-Re- scheinen. Richtig erträglich ist das Genre gimes, kurz vor der kubanischen Revolu- nur, wenn es mit seiner abgedrehten Jen- tion. Die maroden Machthaber engagieren seitigkeit gelegentlich augenzwinkernd

gegen die Umstürzler einen britischen Ex- und ironisch spielt. Die vierte Folge der RTL Major (Sean Connery) – einen Hampel- Serie beispielsweise, „Wettlauf mit der Szene aus „Operation Phoenix“

Freitag, 22. Januar 23.35 – 1.00 UHR 3SAT

16.00 – 17.00 UHR RTL Eis Zeit Raum Der Kölner Bildhauer Lutz Fritsch beglei- Hans Meiser tete mit der Kamera das deutsche For- „Ich wär’ gern so prollig wie Tom Ger- schungsschiff „Polarstern“ auf einer Reise hardt.“ Von wegen, die Weltrevolution sei in die Arktis. Was den Künstler veranlaß- von der Geschichte erledigt. Proletarier al- te, den Zuschauer mit schier endlosen, un- ler Länder, vermeisert euch! kommentierten Sequenzen über die vom Schiff zermalmten Schollen zu langweilen, 18.55 – 19.52 UHR ARD wissen wohl nur die Eisbären. ARD Herzblatt Jagdszene mit Dame 0.50 – 2.40 UHR SAT 1 Nun doppelt so lang das beliebte Balzen und Schnalzeln. Warum nicht? Auch die jagende Damen – es sind nur 25000 ange- Fun – Mordsspaß Schäfer brauchen bekanntlich ein Stünd- sichts von 300000 männlichen Grünröcken Weibliche Pubertät zwischen Kichern, chen. – um allzuviel Verständnis. Er behandelt Kreischen und Weltschmerz: Dieser prä- die auf den Hochsitzen lauernden Frauen zise Gefängniskrimi (1994) des US-Filme- 21.45 – 22.15 UHR ARD mit solcher Vorsicht, als wären sie ent- machers Rafal Zielinski zeigt zwei Mäd- sicherte Flinten. Dadurch verwischen sich chen (Alicia Witt, Renée Humphrey), die Exclusiv: Staatsjagd mit Damen die Konturen, und eine unangebracht ele- eine gräßliche Bluttat begehen. Leider Zuviel Milde ist des Reporters Tod.Thomas gische Stimmung breitet sich über den kommen Mädchen erst ins Kino, wenn sie Leif bemüht sich in seinem Bericht über Film. sich als Killerinnen hervorgetan haben.

der spiegel 3/1999 207 Fernsehen

Samstag, 23. Januar (USA 1991) eine taffe Privatdetektivin, die SPIEGEL TV den Tod eines Eishockeyspielers aufklärt. 20.15 – 23.15 UHR 3SAT DONNERSTAG Orpheus in der Unterwelt 23.20 – 1.00 UHR ORB 22.10 – 23.00 UHR VOX Live aus der Komischen Oper in Ber- Das unbekannte Gesicht SPIEGEL TV EXTRA lin: Die Harry-Kupfer-Inszenierung von Unschuldig verurteilt sitzt Vincent (Hum- Im Rausch der Piste Jacques Offenbachs unsterblicher Operet- phrey Bogart) im Gefängnis. Er bricht Der Urlaub in den Bergen boomt. Tech- te. Das can-can ein spritziger Abend no-Kids treffen sich in Saalbach-Hinter- werden. glemm zum Rave-on-Snow. In Lech am Arlberg dagegen pflegt man Understate- 20.15 – 22.05 UHR SAT 1 ment im mondänsten Hotel der Alpen.

Lucky Luke SAMSTAG Dem Comic, 1947 von dem belgischen 22.15 – 23.15 UHR VOX Zeichner Morris alias Maurice de Bévère erfunden, entspringt diese Fi- SPIEGEL TV SPECIAL gur. Luckys Glimmstengel geht nie- Die Suche nach der „Bismarck“ mals aus, sein Schimmel heißt Jolly Dokumentation über das größte deut- Jumper und der Köter RanTanPlan. sche Schlachtschiff, den Einsatz im Nord- Neben Trickfilmen mit dem Antihel-

den entstand 1991 eine Realversion IMPRESS des Comic-Stoffes – nicht zur Zierde, Bogart (M.) in „Das unbekannte Gesicht“ denn die hintersinnige Ironie der Vor- lage ging verloren, und die lose Handlung aus, um sich zu rehabilitieren. Bei einem verpuffte im Dunst der Platzpatronen. Chirurgen läßt er sich das Gesicht um- operieren. Eine der Besonderheiten in 22.25 – 23.50 UHR ARD Delmer Daves’ intelligentem Krimi von 1947: 30 Minuten blickt der Film mit sub- Detektiv in Seidenstrümpfen jektiver Kamera auf das Geschehen, bis Dies ist eine Verbeugung vor dem Film noir: Bogarts verwandeltes Antlitz offenbart Kathleen Turner spielt in Jeff Kanews Film wird. SPIEGEL TV Wrack der „Bismarck“

Sonntag, 24. Januar Fotoalbum der erwachsenen Freundinnen atlantik, seine Versenkung und die Suche (darunter Demi Moore und Melanie Grif- nach dem Wrack in 4500 Meter Tiefe. 20.15 – 22.10 UHR PRO SIEBEN fith), die sich noch einmal im gemeinsa- men Baumhaus zusammenfinden. Aber SONNTAG Now & Then – Damals und heute wie das mit den meisten Erinnerungen so 22.15 – 23.05 UHR RTL Gerade erst ihren allerersten Frühling er- ist: Sie faszinieren meist nur diejenigen, leben die vier Kleinstadtfreundinnen, die die sie erlebt haben – und nicht die Zu- SPIEGEL TV MAGAZIN in Lesli Linka Glatters Teeniefilm gemein- schauer. Aktuelles politisches Magazin sam kichern, klatschen, Geheimnisse aus- tauschen, nackte Jungen bestaunen und 20.15 – 22.15 UHR RTL 23.00 – 23.40 UHR SAT 1 ein paar Tränen vergießen. Die Sommer- sonne des Jahres 1970 strahlt unentwegt Robin Hood: SPIEGEL TV REPORTAGE auf ihre harmlosen kleinen Abenteuer – Helden in Strumpfhosen Nazis privat – das jedenfalls in der Erinnerung, denn erzählt Statt eines Telefax – immerhin lebte old verschwiegene wird die Filmhandlung als nostalgisches Robin im zwölften Jahrhundert – schickt Leben des Führers der Held einen Telefox: Ein leibhaftiger und seiner Pala- Reinicke läuft über die Szene. Wer über dine derart kalaueske Witze lachen kann, hat in Michael Kloft be- Mel Brooks’ Parodie (USA 1993) gut stram- schreibt das Privat- peln in der Strumpfhose. leben Hitlers, Gö- rings und Goeb- 22.15 – 24.00 UHR ORB bels’ und berich- tet über Versuche, Vor dem Regen das Verhalten der Der Film von Milcho Manchevski, als Wai- Nazi-Größen aus se im mazedonischen Skopje aufgewach- ihrer persönlichen sen, gewann 1994 in Venedig den Goldenen Geschichte heraus Löwen und wurde mit Kritikerlob über- zu erklären. Ein schüttet. Erzählt wird in drei miteinander ungewöhnliches kompliziert verwobenen Episoden vom Porträt der Macht-

Haß auf dem Balkan, von Vertreibungen, elite des Dritten BILDERDIENST ULLSTEIN

CONSTANTIN Blutfehden und dem Zynismus der Me- Reiches. Eva Braun Griffith, Moore in „Now & Then“ dien.

208 der spiegel 3/1999 Werbeseite

Werbeseite Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der Hamburger „Morgenpost“ über Zitate die gescheiterte Eiskunstläuferin Tanja Szewczenko: „Kratzt die 21jährige noch Volker Hummel im Hessischen Rundfunk einmal die Kurve?“ zum SPIEGEL-Almanach ’99:

In diesen Tagen wird mancher Informations- Aus einem „Kicker“-Interview mit dem hungrige sich einen neuen Jahres-Almanach Hertha-BSC-Spieler Michael Preetz: zulegen wollen, die Ausgabe ’99. Und da „‚Ohne linken Fuß wäre Michael Preetz hat er zumindest zwischen zweien die Qual nur die Hälfte wert.‘ der Wahl. Der Fischer Weltalmanach ver- ‚Ja, weil ich mit nur einem Bein sonst spricht „Zahlen, Daten, Fakten“, der umfallen würde.Aber im Ernst: So schlecht SPIEGEL-Almanach „Zahlen, Daten, Ana- ist mein rechter Fuß nun auch wieder nicht. lysen“ … Der deutlichste Unterschied liegt Und nur zum Bierholen habe ich das Bein in der Erfahrung: Der Fischer Weltalmanach jedenfalls nicht.‘“ erscheint nun schon im 40. Jahr, der SPIEGEL-Almanach erstmals. Und daß das neue Werk sehr viel farbiger und lese- freundlicher gestaltet ist, diesem Eindruck kann sich kaum jemand entziehen. Um das Ergebnis der ganz persönlich verglei- chenden Analyse vorwegzunehmen: Der SPIEGEL-Almanach schneidet in meinen Augen besser ab. Die Welt von A-Z, von Afghanistan bis Zypern, wird in der Neu- Aus einer Ankündigung der „Frankfurter erscheinung auf deutlich mehr Seiten prä- Allgemeinen“ sentiert, und greifen wir willkürlich die El- fenbeinküste heraus, dann sehe ich im SPIE- GEL-Almanach auf einen Blick die Lage Aus „Gala“ über die „Tagesschau“-Spre- anhand zweier kleiner Landkarten-Aus- cherin Susan Stahnke: „Goldblonde Haa- schnitte, sehe die farbige Flagge, finde die re, züchtiger Seitenscheitel und der ab- Telefon-Vorwahl und dergleichen. Fischer geklärte Blick von 100 überstandenen bringt nur Text.Auch die Text-Umfänge un- Flutkatastrophen.“ terscheiden sich … Fischer widmet dem er- eignisreichen Politikerleben eines Erich Mende 4 Zeilen, SPIEGEL hat für ihn 58 Zeilen übrig und Platz für ein Aktionsbild.

Die „Stuttgarter Zeitung“ erinnert an die SPIEGEL-Titelgeschichte „Faule Justiz“ (Nr. 38/1993): Aus der „Acher-Rench-Zeitung“ Die Vorwürfe liegen schon Jahre zurück, doch Klaus Pflieger hat sie bis heute nicht Aus dem Wiener „Kurier“: „Die Abenteu- verwunden: Noch immer ärgert sich der rer wollten die Südpolexpedition des Bri- Leiter der Stuttgarter Staatsanwaltschaft ten Robert Scott nachvollziehen, der den so heftig über eine Juristenschelte in einer Pol im Jänner 1912 erreichte und am Rück- SPIEGEL-Titelgeschichte von 1993, daß er weg ums Leben kam.“ Jahr für Jahr mit Bilanzen und Grafiken das Gegenteil zu beweisen sucht. Nämlich, daß zumindest seine Behörde alles andere als „faul, lasch und zu langsam“ ist, wie da- mals im Nachrichten-Magazin behauptet. Doch was Pflieger in seinem Zahleneifer übersieht: Gerade indem er immer neue Rekorde im Aktenabbau vermeldet und seine Mitarbeiter zu weiteren Höchstlei- stungen anspornt, beweist er, daß tatsäch- lich bei der Staatsanwaltschaft etwas im Aus dem Herrenberger „Gäuboten“ argen lag – vorausgesetzt, Gründlichkeit und Qualität der Recherche haben nicht gelitten. Denn seit 1992 ist die Anzahl der Aus dem „Wiesbadener Kurier“: „Persön- an der Neckarstraße beschäftigten Staats- licher, moderner und anschaulicher soll ab und Amtsanwälte gleich geblieben. Der 6. Februar das ‚Wort zum Sonntag‘ wer- Vorwurf, daß die Ermittler bis in die neun- den. Der Fernseh-‚Klassiker‘ wird von vier ziger Jahre bei der Verfolgung von Ge- auf fünf Minuten verkürzt und vor allem waltverbrechen mit antiquierten Metho- aktualisiert: Produziert wird frühestens den zu Werke gegangen sind, scheint also einen Tag vor der Sendung.“ nicht von der Hand zu weisen zu sein.

210 der spiegel 3/1999