STUDIEN zur Ostmitteleuropaforschung 25

Anna Jakubowska

Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957-2004)

Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes Anna Jakubowska, Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957-2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes STUDIEN ZUR OSTMITTELEUROPAFORSCHUNG Herausgegeben vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft

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Anna Jakubowska

Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957-2004) Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes

VERLAG HERDER-INSTITUT  MARBURG  2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2012 by Herder-Institut, 35037 Marburg, Gisonenweg 5-7 Printed in Alle Rechte vorbehalten Satz: Herder-Institut, 35037 Marburg Druck und Bindung: Jürgen Haas Print Consulting e.K., 35075 Gladenbach Umschlagbilder: links: Blücherplatz Breslau mit Rathaus von SW, Foto: vor 1945; Herder-Institut, Marburg, Bildarchiv. Inv.-Nr. 241246 rechts: Flüchtlingstreck während einer Rast auf dem Marktplatz in Schönlanke, Foto: 1945; Herder-Institut, Marburg, Bildarchiv. Inv.-Nr. 4c245 ISBN: 978-3-87969-372-6 Inhalt

Danksagung ...... VII

1 Einleitung ...... 1 1.1 Fragestellung ...... 1 1.2 Theoretischer Ansatz, Begriffe, Definitionen ...... 4 1.3 Quellen und Methode ...... 11 1.4 Aufbau der Arbeit ...... 13 1.5 Forschungsstand ...... 14

2 Öffentlichkeit und Massenmedien ...... 19 2.1 Die Funktion der Öffentlichkeit und der Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland ...... 19 2.2 Die Funktion der Öffentlichkeit und der Massenmedien in Polen ...... 24

3 Konstituierung des Bundes der Vertriebenen ...... 30 3.1 Der Weg zur Gründung ...... 30 3.2 Das Presseecho auf den Zusammenschluss der Vertriebenenverbände 33

4 Erste Phase: 1957-1970 ...... 37 4.1 Der Bund der Vertriebenen bis zur ersten Hälfte der 1960er Jahre ...... 37 4.1.1 „Aufklärungsfeldzug“ einer „politischen Kraft“ ...... 37 4.1.2 „Meinungsterror“ ...... 58 4.1.3 „Revisionistische Kräfte“ ...... 66 4.2 Der Bund der Vertriebenen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ...... 77 4.2.1 „Bollwerk des Widerstands“ ...... 77 4.2.2 „Zensor der “ ...... 83 4.2.3 Vom „Bund der Umsiedler“ zum „Bund der Vertriebenen“ ...... 91

5 Zweite Phase: 1970-1990 ...... 96 5.1 Der Bund der Vertriebenen in den 1970er Jahren ...... 96 5.1.1 „Politische Größe“ im „Wächteramt“ ...... 96 5.1.2 „Unerfüllbare Hoffnungen“ ...... 111 5.1.3 Der „Puls des Revisionismus“ ...... 120 5.2 Der Bund der Vertriebenen in den 1980er Jahren ...... 132 5.2.1 Der „Bund der Vertriebenen“ oder der „Bund für Deutschland“? 132

V 5.2.2 Die „Rückkehr der Vertriebenen in ihre politische Heimat Bonn“ 140 5.2.3 „Unterstützung für die revisionistischen Kräfte“ ...... 148

6 Dritte Phase: 1990-2004 ...... 157 6.1 Der Bund der Vertriebenen bis 1998 ...... 157 6.1.1 „Wahrheitsgetreue“ Geschichtsvermittlung ...... 157 6.1.2 „Bedeutungslose Berufsflüchtlinge“ ...... 165 6.1.3 „Das Monopol des Bundes der Vertriebenen durchbrechen“ ...... 170 6.2 Der Bund der Vertriebenen um die Jahrtausendwende ...... 176 6.2.1 Zentrum gegen Vertreibungen ...... 176 6.2.2 Der Bund der Vertriebenen als „Museumsdirektor“? ...... 185 6.2.3 „Zentrum gegen Versöhnung“ ...... 198

7 Zusammenfassung ...... 212

8 Quellen- und Literaturverzeichnis ...... 221 8.1 Quellen ...... 221 8.2 Literatur ...... 222

9 Abkürzungsverzeichnis ...... 236

10 Personenregister ...... 238

VI

Danksagung

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation, die im Jahr 2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) vorgelegt und verteidigt wur- de. Für die langjährige Unterstützung möchte ich mich bei meinem Betreuer, Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, bedanken, der mir viel Freiraum für die Entwicklung meiner eigenen Ideen ließ, was sich als sehr nützlich erwies. Für die Zweitbetreuung danke ich Prof. Dr. Martin H. Geyer. Von seinem Seminar „Mass Cultures and Mass Media in 20th-Century Germany“ in Berlin habe ich sehr profitiert. Mein ganz großer Dank gilt Dr. Berenika Szymanski. Ihre Unterstützung reichte vom Korrekturlesen meiner Arbeit über hilfreiche Hinweise zur Textgestaltung bis zu ihrem Zugegensein immer dann, wenn ich es besonders brauchte. Für Anregungen zu meinem Projekt danke ich außerdem Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk, Dr. Burkhard Olschowsky, Dr. K. Erik Franzen und Krzysztof Merks. Für die finanzielle Unterstützung meines Dissertationsprojekts und somit für das Vertrauen in mich möchte ich mich für das Immanuel-Kant-Promotionsstipendium bei dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie bei dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kunst und Forschung für das Oskar- Karl-Forster-Stipendium bedanken. Die unkomplizierte und kooperative Art verschiedener Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter im Pressearchiv des Herder-Instituts (Marburg), in der Bundeszentrale des Bundes der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände e.V. (Bonn), im Collegium Carolinum (München), im Haus des Deutschen Ostens (Mün- chen), im Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung (Braun- schweig), in Książnica Pomorska (Szczecin/Polen), in der Bayerischen Staatsbiblio- thek (München) sowie in zahlreichen anderen Bibliotheken machte meine Recherche- arbeiten angenehm. Schließlich danke ich ganz herzlich meinen Eltern und meinem Bruder für ihre Unterstützung, ihr Verständnis und ihre Liebe. Für mich war das Schreiben einer Dis- sertation gleichermaßen ein Prozess wissenschaftlicher Weiterentwicklung wie ein Prozess des menschlichen Wachsens. Für diese Zeit bin ich sehr dankbar.

München 2011 Anna Jakubowska

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1 Einleitung

1.1 Fragestellung

Die Fragestellung für die vorliegende Arbeit entstand vor dem Hintergrund der öf- fentlichen Auseinandersetzung um das vom Bund der Vertriebenen (BdV) vorge- schlagene Zentrum gegen Vertreibungen. Der Verband löste mit seinem Projekt eine heftige Debatte sowohl in Deutschland als auch in Polen aus. Sie wurde vor allem in den Massenmedien ausgetragen, entwickelte sich aber relativ schnell zu einem Politi- kum. Nicht nur das Zentrum gegen Vertreibungen an sich wurde in beiden Ländern zum umstrittenen Diskussionsgegenstand, sondern auch die Rolle des BdV, die er bei der Entstehung eines nationalen Dokumentationszentrums einnehmen wollte. Aus dem Aufeinanderprallen verschiedener Perspektiven und Vorstellungen über die Rolle des BdV bei der Musealisierung der Vertreibungsgeschichte sowie aus der starken massenmedialen Aufmerksamkeitslenkung auf den Verband ergab sich die zentrale Fragestellung der vorliegenden Dissertationsschrift: Die Untersuchung geht den Fra- gen nach, wie stark die massenmediale Präsenz des BdV in den früheren Jahren war, wie er sich seit seiner Entstehung in der Öffentlichkeit selbst darstellte und wie er in der (west)deutschen und der polnischen Presse dargestellt wurde. Die Arbeit geht von der These aus, dass die Selbst- und Fremddarstellung des BdV in der Bundesrepublik und in Polen in genauso engem Zusammenhang mit dem politischen Wandel in beiden Ländern stand wie mit dem Oder-Neiße- und dem deut- schen Opferdiskurs. Der BdV konstituierte sich zum einen als ein politischer Ver- band, stellte sich als solcher in der Öffentlichkeit dar und wurde sowohl in der Bun- desrepublik als auch in Polen als ein politischer Akteur wahrgenommen. Immer wie- der versuchte er, seine politische Bedeutung in der Öffentlichkeit zu manifestieren und zu beweisen. Zum anderen verstand sich der BdV schon immer als Vertreter der deutschen Vertreibungsopfer und versuchte, den (west)deutschen Opferdiskurs, ge- nauso wie den Oder-Neiße-Diskurs, in seinem Sinne zu beeinflussen. Die Selbst- und Fremddarstellung des BdV ist deswegen so stark mit dem Wandel im Oder-Neiße- Diskurs und dem Opferdiskurs verbunden, weil sich der Verband im engen Rahmen dieser beiden definierte. Die Selbst- und Fremddarstellung des BdV lässt sich in drei Phasen unterteilen, die in etwa den drei Entwicklungsphasen der beiden Diskurse ent- spricht. Die erste Phase umfasst die Zeit von der Gründung des BdV im Jahre 1957 und der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die sozialdemokratische Regie- rung unter 1970. In den 1950er und 1960er Jahren dominierte der integ- rationistische Opferdiskurs in der Bundesrepublik. Die zweite Phase erstreckt sich

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vom Jahr 1970 bis 1990, als die Bundesregierung unter Helmut Kohl die Oder-Neiße- Grenze endgültig anerkannte. Seit den 1970er Jahren lässt sich der Aufstieg des parti- kularistischen Opferdiskurses beobachten. Die dritte und letzte Phase umfasst die Jahre 1990 bis 2004, also den Zeitraum nach der deutsch-polnischen Grenzanerken- nung, dem Fall des Kommunismus in Polen und der Wiedervereinigung Deutsch- lands. In dieser Phase findet zur Jahrtausendwende die Rückkehr zum integrationis- tischen Opferdiskurs statt. Genaueres zur Terminologie und zum Wandel des Opfer- diskurses wird in Kapitel 1.2 dargelegt. Das Ziel der Arbeit ist es also, den Verband aus der Eigen- und Fremdperspektive zu fokussieren. Einerseits wird danach gefragt, welches Bild der BdV von sich selbst der Öffentlichkeit zu vermitteln suchte. Dabei handelt es sich sowohl um die Untersu- chung der Selbstbezeichnungen als auch um die Analyse des für den Verband typi- schen Argumentationsmusters. Aus diesem Grund wird den folgenden Fragen nach- gegangen: Welche Bezeichnungen des Verbandes tauchen immer wieder in seiner Selbstdarstellung auf, welche von ihnen verschwinden und welche werden neu ge- schaffen? Welche Geschichtsdeutung lässt sich im Argumentationsmuster des BdV beobachten und wie versuchte der Verband, diese in der Öffentlichkeit durchzuset- zen? Welcher Rhetorik bediente er sich dabei? Welches Verhältnis hatte der Vertrie- benenverband zur Öffentlichkeit? Andererseits soll in dieser Arbeit die Untersuchung des BdV aus der Fremdperspektive erfolgen: Hier werden die Grenzen aufgezeigt, auf die der Verband mit seiner Selbstdarstellung sowie seiner Geschichtsdeutung in der Bundesrepublik und in Polen stieß und wie sich diese Grenzsetzung wiederum auf den Wandel in seinem Argumentationsmuster auswirkte. Hierfür sind folgende Fra- gen zu beantworten: Welche Selbstbezeichnungen des BdV wurden von den Mas- senmedien in der Bundesrepublik und in Polen aufgegriffen und welche fanden keine Beachtung? Wie gingen die (west)deutsche und die polnische Presse mit dem Argu- mentationsmuster des BdV um? Zu welchen Zeitpunkten und inwieweit stieß der Verband mit seiner Selbstdarstellung und seinem Argumentationsmuster auf Zustim- mung bzw. Ablehnung? Inwieweit war die Berichterstattung über den BdV durch Sachlichkeit und inwieweit durch emotionale Sprache bestimmt? Welche Fragen in Bezug auf den BdV und seine Tätigkeit stellten sich dem (west)deutschen und dem polnischen Leser? Angesichts der erst 1990 aufgehobenen Zensur in Polen wird bei der Analyse des polnischen Pressematerials zusätzlich danach gefragt, seit wann der BdV in der polnischen Presse überhaupt thematisiert wurde und worauf das mögli- cherweise zurückzuführen war. Außerdem tritt hierzu die Frage nach der politischen Instrumentalisierung des BdV. Den geografischen Rahmen der Arbeit bilden die Bundesrepublik Deutschland und Polen. An dieser Stelle muss betont werden, dass es sich in der vorliegenden Un- tersuchung nicht um einen Vergleich handelt, sondern um eine Gegenüberstellung der (west)deutschen und der polnischen Perspektive auf den BdV. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass die Funktion der Massenmedien und der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen bis 1990 von zwei völlig verschieden politischen Systemen bestimmt wurde. Während in der westdeutschen Öffentlichkeit Meinungsfreiheit herrschte und verschiedene Themen öffentlich disku-

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tiert werden konnten, waren die meisten Medien in Polen bis 1990 ein wichtiges Pro- pagandainstrument der kommunistischen Partei und unterlagen der Zensur. Trotz die- ser Unterschiede wurde das polnische Quellenmaterial aus zwei Gründen in die Ana- lyse miteinbezogen: Erstens wurden die Tätigkeit des BdV, seine Selbstdarstellung und die politischen Forderungen nicht nur von den (west)deutschen, sondern auch von den polnischen Medien rezipiert. Zweitens beeinflussten die kontroversen Äußerun- gen der BdV-Führung mehrmals das politische Klima zwischen der Bundesrepublik und Polen und wirkten sich immer wieder auf die bilateralen Beziehungen beider Länder aus. Die Untersuchung des BdV aus der Eigen- und Fremdperspektive bedeutet, diesen Verband als einen Öffentlichkeitsakteur einerseits und als ein mediales Thema bzw. Diskussionsgegenstand andererseits in den Blick zu nehmen. Der BdV konstituierte sich in einem demokratischen System und in der Öffentlichkeit, deren Funktion durch demokratische Prinzipien gekennzeichnet war. Meinungsfreiheit und Pluralismus er- möglichten dem Verband, sich in der Bundesrepublik als ein politisch-öffentlicher Akteur zu etablieren. In der westdeutschen Öffentlichkeit konnte der BdV seine Stel- lungnahmen und Forderungen frei äußern. Er konnte sich an verschiedenen Debatten beteiligen und sie beeinflussen. Während er in der Bundesrepublik durchgehend als Öffentlichkeitsakteur untersucht werden kann, war ihm eine Selbstdarstellung in Po- len bis 1990 aufgrund der Zensur verwehrt. So war der BdV zwar als Thema in der polnischen Presse durchaus präsent, konnte jedoch keinen direkten Einfluss auf seine Darstellung durch die polnischen Medien nehmen. Erst mit der Aufhebung der Zensur und Einführung der Meinungsfreiheit ergab sich für den Verband die Möglichkeit, auch als ein Öffentlichkeitsakteur in Polen aktiv zu werden. Vor 1990 war es noch unverstellbar, mit einem BdV-Präsidenten ein Interview zu führen, ihn zu einer Po- diumsdiskussion einzuladen oder sogar einen Artikel in der Regierungszeitung Rzecz- pospolita zu veröffentlichen. Das alles war aber in den 1990er Jahren nichts Unge- wöhnliches. Dieses gerade dargelegte Ungleichgewicht wirkte sich folgendermaßen auf die vorliegende Untersuchung aus: Die Präsenz des BdV in der Bundesrepublik und in Polen wird unter Berücksichtigung der Spezifika des politischen Systems, der Me- dienlandschaft und der Form der Öffentlichkeit im jeweiligen Land untersucht. Den Ausgangspunkt für die Analyse bilden das Argumentationsmuster und das Selbstbild des BdV, die in der Selbstdarstellung zum Ausdruck kommen. Im zweiten Schritt wird nach dem Umgang der (west)deutschen Presse mit dem BdV und dessen Argu- mentationsmuster gefragt. Hier wird der Verband in die öffentlichen Debatten veror- tet, an denen er in der Bundesrepublik teilnahm und in deren Kontext er auf massen- medialer Ebene thematisiert wurde. Im dritten Schritt wird die Reaktion der polni- schen Medien auf all das analysiert, was der Verband in der (west)deutschen Öffent- lichkeit über sich selbst sagte und was über ihn von der (west)deutschen Presse ge- schrieben wurde. Wenn also der BdV in Polen untersucht wird, dann nur in Bezug auf die (west)deutschen Debatten, die in Polen rezipiert und in der Presse kommentiert wurden. Damit wird allerdings nicht behauptet, dass der polnische Vertreibungs- oder Opferdiskurs keinen Einfluss auf die Selbst- und Fremddarstellung des BdV in der

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Bundesrepublik hatte. Durch die Orientierung an den (west)deutschen Debatten sollen vielmehr gemeinsame Anhaltspunkte für die gesamte Analyse des Verbandes ge- schaffen werden. Die vorliegende Untersuchung erstreckt sich auf einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren der Geschichte des BdV und der deutsch-polnischen Beziehungen. Sie beginnt im Jahr 1957, als sich der BdV konstituierte, und endet im Jahr 2004, als Polen der Europäischen Union beitrat. Das letzte Ereignis wurde als Endpunkt der Analyse vor allem deswegen gewählt, weil der BdV vor dem Hintergrund der Verhandlungen zur EU-Osterweiterung erneut seinen Anspruch auf Mitwirkung in der internationalen Politik manifestierte. Die amtierende BdV-Präsidentin Erika Steinbach versuchte auf die Verhandlungen Einfluss zu nehmen, indem sie das Vertreibungsthema instru- mentalisierte. Sie forderte, die Aufnahme Polens und Tschechiens in die Europäische Union von der Aufhebung der so genannten Beneš- und Bierut-Dekrete sowie von der offiziellen Anerkennung der Vertreibung als Unrecht durch diese beiden Staaten ab- hängig zu machen. Diese zeitlich differenzierte Untersuchung zielt darauf ab, die Ge- schichte des BdV vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen und gesellschaftli- chen Veränderungen in der Bundesrepublik und in Polen zu erfassen. Die Jahre 1970 und 1990 wurden aus zwei Gründen als Eckdaten für die Unterteilung der Arbeit ge- wählt: Erstens stellen sie wichtige Zäsuren in der deutsch-polnischen Beziehungs- geschichte dar. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zunächst durch die west- deutsche Bundesregierung im Jahre 1970 und zwanzig Jahre später durch die Bundes- regierung nach der Wiedervereinigung Deutschlands schaffte ein politisches Funda- ment, auf dem die öffentliche Diskussion über gemeinsame Themen der deutsch-pol- nischen Geschichte erst möglich war. Zweitens handelt es sich bei den Eckdaten 1970 und 1990 um zwei Wendepunkte in der Geschichte des BdV. Die Grenzanerkennung bedeutete für den Dachverband zunächst eine politische Niederlage, die zu seinem Wandel sehr stark beitrug. Der BdV geriet sowohl 1970 als auch 1990 in eine Zwick- mühle: Er musste sich einerseits an die politischen Umstände anpassen, um als politi- scher Interessenverband zu überleben. Somit war er also gezwungen, sein Argumenta- tionsmuster und die bisherige Taktik zu ändern. Andererseits durfte er sich in seinem Kern nicht allzu sehr ändern, wenn er seinen 1958 in der Satzung festgeschriebenen Zielen und Aufgaben treu bleiben wollte.

1.2 Theoretischer Ansatz, Begriffe, Definitionen

Von allen Definitionen, mit denen in der Arbeit operiert wird, nimmt der Name „Bund der Vertriebenen“ die zentrale Stellung ein. Der Bund der Vertriebenen defi- niert sich heutzutage als der „Zusammenschluss der in 20 Landsmannschaften, 16 Landesverbänden und 4 angeschlossenen Mitgliedsorganisationen organisierten Ver- triebenen, Aussiedler und Spätaussiedler“1. Darüber hinaus bezeichnet er sich als „der

1 Internetseite des Bundes der Vertriebenen unter: http://www.bund-der-vertriebenen.de/ derbdv/struktur-1.php3 (Stand: 7.12.2011).

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einzige repräsentative Gesamtverband der rund 15 Millionen Deutschen, die infolge Flucht, Vertreibung und Aussiedlung in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden haben und noch finden“2. Nach dieser Selbstdefinition begreift sich der BdV einerseits als ein Dachverband für Landsmannschaften und Landesverbände. Andererseits versteht er sich nicht nur als Vertreter mehrerer Vertriebenenverbände, sondern aller, auch der nichtorganisierten, deutschen Vertriebenen. Als ein Interessen- und zugleich Dachverband definierte er sich bereits bei seiner Gründung.3 Diese Selbstdefinition gilt auch für die vorliegende Untersuchung. Erstens wird unter dem „Bund der Vertriebenen“ ein Dachverband der Vertriebenenverbände verstanden, der sich aus dem BdV-Präsidium und der BdV-Bundesversammlung zusammensetzt. In der Bundesversammlung sind alle Landsmannschaften, Landesverbände und andere Mitgliedsverbände durch Delegierte vertreten, die die Leitlinien der BdV-Arbeit fest- legen. Die Bedeutung des BdV-Präsidiums besteht wiederum in der Bestimmung der Verbandspolitik. Es setzt sich aus einem Präsidenten zusammen, der an der Spitze des Dachverbandes steht, aus sechs von der Bundesversammlung gewählten Vizepräsi- denten und aus sechs weiteren Präsidialmitgliedern.4 Zweitens wird der Bund der Vertriebenen als Interessenverband der deutschen Vertriebenen gesehen, der die Politik auf der einen Seite und die öffentliche Meinung auf der anderen Seite zu be- einflussen versucht.5 Das Ziel der Vertretung der Vertriebenen in Politik und Öffent- lichkeit, die mit der Einflussnahme auf diese beiden Bereiche verbunden war, wurde in die Satzung des BdV eingeschrieben.6 In dieser Hinsicht stellt er auch einen typi- schen Verband dar, der nach Jürgen Weber als „Zusammenschluß einzelner Personen oder Personengruppen, aber auch von Organisationen (man spricht dann von einem ‚Spitzenverband‘) zu einer kollektiven Handlungseinheit“ aufgefasst wird, „die das Ziel verfolgt, die eigenen Interessen durch Einflußnahme auf staatliche Einrichtun- gen, Parteien, öffentliche Meinung und andere gesellschaftliche Gruppierungen zu fördern“7. Laut der Definition von Jürgen Weber handelt es sich also bei den Verbänden um organisierte Interessengruppen. Nach Ulrich von Alemann konkurrieren hierfür ver- schiedene Begriffe miteinander, wie beispielsweise organisierte Interessen, Interes- senverbände, Interessenorganisationen oder auch die Anglizismen pressure group oder lobby.8 Obwohl alle diese Begriffe den Einfluss einer Gruppe auf staatliche Ent- scheidungen betonen, weichen sie in ihrem Inhalt ein wenig voneinander ab. Bei der Bezeichnung pressure group liegt der Akzent stärker auf der Einflussnahme in Form

2 Ebenda. 3 Vgl. Rede des Präsidenten des „Bundes der Vertriebenen“, Hans Krüger, auf der Konstitu- ierungsversammlung am 14. Dezember 1958, in: VK vom 22.12.1958, S. 15-16. 4 Vgl. Internetseite des Bundes der Vertriebenen unter: http://www.bund-der-vertriebenen. de/derbdv/struktur-1.php3 (Stand: 7.12.2011). 5 Zu Methoden und Adressaten der Interessenverbände vgl. ALEMANN, S. 174. 6 Vgl. dazu Kapitel 3.1 in dieser Arbeit. 7 WEBER, S. 72. 8 Vgl. ALEMANN, S. 29.

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von Druckausübung.9 Bei der Lobby-Arbeit wiederum handelt es sich um die Methode der internen Beeinflussung. Diese äußert sich beispielsweise in der Mit- gliedschaft der Verbandsvertreter in Parteien, Parlamenten und Regierungen oder in persönlichen Gesprächen der Verbandsmitglieder mit den Abgeordneten in der Vor- halle des Parlaments. Bei etablierten Interessenorganisationen kommt meistens die Kombination der beiden Strategieformen des öffentlichen Drucks (pressure) und der internen Beeinflussung (lobbying) vor.10 Diese Verbindung von öffentlicher Druck- ausübung und Lobby-Arbeit lässt sich auch beim BdV beobachten. Seine politische Einflussnahme durch Lobbying wird allerdings in der vorliegenden Arbeit nicht be- handelt, weil diese Art von Druckausübung nicht für den Zweck der öffentlichen Thematisierung gedacht ist. Die internen Gespräche und Verhandlungen zwischen den Vertriebenenfunktionären und den Politikern werden in der Arbeit nur dann be- rücksichtigt, wenn sie durch die Massenmedien thematisiert und somit der Gesell- schaft zur öffentlichen Diskussion gestellt wurden. In der Forschungsliteratur und im täglichen Sprachgebrauch werden heutzutage die Termini „Vertriebene“ und „Vertreibung“ sowohl in der Bundesrepublik als auch in Polen verwendet. Eine Zeit lang handelte es sich bei der Verwendung der Bezeich- nungen „Vertriebene“ bzw. „Vertreibung“ um politische Kampfbegriffe, wie Mathias Stickler feststellt. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts habe die Verwen- dung dieser Begriffe das Ziel gehabt, die kommunistischen Regierungen moralisch zu diskreditieren.11 Im Wort „Vertriebene“ wurde nämlich das Unrecht der Vertreibung ausgedrückt und somit der Opferstatus der Vertriebenen betont.12 Durch die Auf- nahme in das „Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge“ wurde 1953 der Begriff „Vertriebene“ in der Bundesrepublik in den offiziellen Sprachgebrauch eingeführt und allgemein gebräuchlich.13 Er wurde als Oberbegriff verwendet und bezog sich auf alle Deutschen, die infolge des Zweiten Weltkriegs zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden. Darunter unterschied das Gesetz zwischen verschiedenen Vertriebenengruppen: Als „Heimatvertriebene“ wurden die Deutschen bezeichnet, die am 31. Dezember 1937 oder schon vorher die Vertrei- bungsgebiete bewohnten und den Bundesvertriebenenausweis A erhalten konnten. Diejenigen vertriebenen Deutschen dagegen, die erst nach diesem Datum in den Ver- treibungsgebieten ansässig waren, erhielten den Bundesvertriebenenausweis B, die „Sowjetzonenflüchtlinge“ wiederum den Ausweis C.14 Die feine Unterscheidung zwi- schen den „Heimatvertriebenen“ und anderen Vertriebenengruppen wurde im tägli-

9 Vgl. WEBER, S. 72. 10 Vgl. ALEMANN, S. 172. 11 Vgl. STICKLER, S. 10. 12 Vgl. ROGGE, S. 190. Zur Begriffsdifferenzierung vgl. auch: NELLNER, S. 62-65; BÖKE; BEER, Flüchtlinge. 13 Vgl. STICKLER, S. 11. 14 Vgl. NELLNER, S. 64.

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chen Sprachgebrauch kaum beachtet. Das hatte zur Folge, dass die Begriffe „Vertrie- bene“ und „Heimatvertriebene“ meistens synonym verwendet werden.15 Im Gegensatz zur Bundesrepublik sprach man in der Volksrepublik Polen in erster Linie von „Umsiedlern“ (przesiedleńcy) und „Umsiedlung“ (przesiedlenie).16 Dieser Unterschied ist auf die Bemühungen der polnischen kommunistischen Partei zurück- zuführen, die Vertreibung der Deutschen nicht als Unrecht, sondern als Folge einer politischen Entscheidung der Alliierten darzustellen. Durch die Ersetzung des Be- griffs „Vertreibung“ durch „Umsiedlung“ konnte die kommunistische Regierung in Polen die moralische Verantwortung der Polen für die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten sowie den deutschen Vertriebenen den Opferstatus verweigern. Da- mit wurde der Eindruck erzeugt, dass es sich bei der Vertreibung nicht um ein Un- recht, sondern um eine notwendige und harmlose Bevölkerungsverschiebung gehan- delt habe. Genauso wie es große Unterschiede in der Begriffsverwendung zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen gab, war auch die Funktion der Öffent- lichkeit und der Massenmedien in diesen beiden Länder bis zum Fall des Kommu- nismus sehr verschieden. Diese Unterschiede werden hier nur kurz skizziert und ge- nauer im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet. Unter „Öffent- lichkeit“ wird in der Arbeit ein „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“17 verstanden. Dort werden verschiedene Themen und Meinungen gesammelt, verarbeitet und weitergegeben.18 Medien werden als organisierte „Kom- munikationskanäle“ aufgefasst, die durch ihre Institutionalisierung keine neutralen In- formationsvermittler sind, sondern ein komplexes Kommunikationssystem darstel- len.19 Ihre Funktion für die öffentliche Kommunikation besteht einerseits in der Bün- delung kollektiver Aufmerksamkeit.20 Andererseits haben sie durch die eine oder an- dere Themenwahl einen Einfluss darauf, was in einer Gesellschaft diskutiert wird.21 Die hier vorgeschlagene Definition von Öffentlichkeit und Medien lässt sich so- wohl auf die Analyse des deutschen wie auch des polnischen Quellenmaterials an- wenden. Denn in beiden Länder fand in der Öffentlichkeit Kommunikation statt und

15 Vgl. STICKLER, S. 11. 16 Zur Typologisierung der Begriffe vgl. KRYSTYNA KERSTEN: Stulecie przesiedleńców [Das Jahrhundert der Umsiedler], in: Tygodnik Powszechny vom 23.01.1994. Der Artikel wurde auch ins Deutsche übersetzt. Vgl. KERSTEN. Darin wurde „przesiedlenie“ als „Übersied- lung“ und der Titel dementsprechend als „Das Jahrhundert der Übersiedler“ übersetzt. Die meisten Historiker sprechen allerdings in diesem Kontext von „Zwangsmigrationen“ oder von „Umsiedlung“. Die zweite Bezeichnung wird auch dann verwendet, wenn von „prze- siedlenie“ im Sinne der kommunistischen Diktion gesprochen wird. In der vorliegenden Arbeit werden „przesiedlenie“ bzw. „przesiedleńcy“/„przesiedleni“ als „Umsiedlung“ bzw. „Umsiedler“ übersetzt. 17 HABERMAS, Faktizität, S. 436. 18 Vgl. GERHARDS/NEIDHARDT, S. 42. 19 SAXER, S. 54 f. 20 Vgl. NOLTE, S. 59. 21 Vgl. ebenda, S. 89.

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in beiden zeigte sie wie jedes Netzwerk eine gewisse Struktur auf. Problematisch wird es nur dann, wenn man sich die Form der öffentlichen Kommunikation näher an- schauen will. Während in der Bundesrepublik Öffentlichkeit als „ein offenes Kommu- nikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen“22 verstanden wurde, war die öffentliche Kommunikation in der Volksrepublik Polen stark eingeschränkt. In der Bundesrepublik war ein freier und differenzierter Mei- nungs- und Informationsaustausch möglich, in der Volksrepublik Polen unterlag er dagegen staatlicher Kontrolle. An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass es auch in einem demokratischen System zur Manipulation mit Medieninhalten kommen kann. Als Axel Springer seinen Verlag zum größten deutschen Pressekonzern ausbau- te, sah man darin die Bedrohung für die Pressefreiheit in der Bundesrepublik. In den 1960er Jahren sorgte das auch für medienpolitische Debatten um die Pressekonzen- tration und die Pressefreiheit.23 Obwohl Axel Springer Manipulation mit Medien- inhalten vorgeworfen wurde24, lässt sie sich nicht mit der medialen Manipulation im kommunistischen Polen vergleichen. Im westdeutschen Fall ging die Manipulation vom Verleger aus und konnte durch entsprechende rechtlich-politische Maßnahmen eingeschränkt werden, die beispielsweise in einer öffentlichen Debatte und in Protes- ten der Verleger und der Studentenbewegung gefordert wurden. Im polnischen Fall musste man damit rechnen, dass im Falle einer Kritik an staatlich kontrollierten Me- dien die Zensur eingriff oder gar das kritisierende Blatt ganz vom Pressemarkt zu- rückgezogen wurde. Medien standen in der Volksrepublik Polen, mit einigen wenigen Ausnahmen wie z.B. dem Tygodnik Powszechny, stark im Dienst des Staates.25 Die klar definierte Rolle der Medien als die eines Propagandamittels und ihre Zensur führten dazu, dass in der Forschungsliteratur bis heute Uneinigkeit herrscht, inwieweit bzw. ob man überhaupt von der „polnischen Öffentlichkeit“ bis 1989 sprechen kann. Zu denjenigen, die durchaus von einer „Öffentlichkeit“ im kommunistischen Po- len sprechen, gehört Jerzy J. Wiatr. So ist er mit der Behauptung, in totalitären Staa- ten gäbe es nur eine „vom Staat aufgedrängte staatliche Öffentlichkeit“, nicht einver- standen.26 Dass die Informationsvermittlung in der Öffentlichkeit im Staatsinteresse gewissen Einschränkungen unterliege, halte er für legitim.27 Dabei fügt er hinzu, dass auch in demokratischen Gesellschaften die öffentliche Diskussion über kontroverse Themen auf Grenzen stoße. In dieser Hinsicht sei für ihn die Gegenüberstellung von Öffentlichkeit im demokratischen System und Öffentlichkeit im sozialistischen Sys- tem künstlich und habe ihren Ursprung in der ideologischen Gegenüberstellung zwei- er politischer Systeme.28 Während Wiatr für den Gebrauch des Begriffs „Öffentlich-

22 NEIDHARDT, S. 7. 23 Vgl. SEITENBECHER, S. 24 ff.; vgl. auch HUFFSCHMID, S. 1031. 24 Vgl. ENGELS, S. 43. 25 Zur unterschiedlichen Funktion der Medien und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit. 26 WIATR, S. 14. Übersetzung der Autorin. 27 Vgl. ebenda, S. 16. 28 Vgl. ebenda, S. 14 f.

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keit“ für das sozialistische Polen keine Hindernisse sieht, gibt es Autoren, die den Begriff durch andere ersetzen. Jerzy Mikułowski Pomorski ist einer derjenigen, die „Öffentlichkeit“ bzw. „öffentliche Meinung“ (opinia publiczna)29 nur als zutreffend für liberal-demokratische Gesellschaften hält.30 Diese Meinung teilen auch Walery Pisarek, Tomasz Goban-Klas und Zbigniew Nęcki. Anstelle von „Öffentlichkeit“ sprechen sie von „Stimmungen“ (nastroje) bzw. „Stimmungen in der Gesellschaft“ (nastroje społeczne) und wollen damit den Unterschied zwischen der Öffentlichkeit in sozialistischen Staaten und demokratischen Staaten stärker betonen.31 In der vorlie- genden Arbeit wird der Begriff der „Öffentlichkeit“ auch in Bezug auf Polen vor 1989 verwendet. Um den Unterschied in der Öffentlichkeitsform zu signalisieren, wird dieser Begriff im Fall Polens in Anführungsstriche gesetzt. Aufgrund der bis 1989 unterschiedlichen Formen der Öffentlichkeit in der Bun- desrepublik und in Polen sowie verschiedenen Funktionen der Medien in diesen bei- den Ländern lässt sich von der Herausbildung der öffentlicher Meinung nur in der westdeutschen Öffentlichkeit sprechen. Diese wird als „herrschende Meinung unter den Öffentlichkeitsakteuren“ verstanden, die aus „Fokussierungen auf bestimmte Themen und Übereinstimmungen in den Meinungsäußerungen zu diesen Themen“ entstand.32 In demokratischen Gesellschaften ist die Herausbildung der öffentlichen Meinung die natürliche Folge der öffentlichen Kommunikation. Das war in der Volksrepublik Polen nicht der Fall. Hier wurde die Kommunikation in der Öffentlich- keit durch die Eingriffe der Zensur gesteuert. Die Entstehung der öffentlichen Mei- nung, wie sie in den pluralistischen Gesellschaften vorhanden war, wurde durch das Meinungsmonopol der kommunistischen Partei bekämpft. Denn der Meinungsplura- lismus war eine große Gefahr für die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei. Die öffentliche Meinung in der Volksrepublik Polen kann nicht, wie bei Gerhards und Neidhardt, als „herrschende Meinung“33 bezeichnet werden, weil es nur diejenige der kommunistischen Partei war. Dieser Begriff wird bei der Analyse der Fremddarstel- lung des BdV in der Volksrepublik Polen nicht verwendet. Der Bund der Vertriebenen wird in der Arbeit vor dem Hintergrund des (west)- deutschen Opferdiskurses untersucht. Zentral hierfür ist der theoretische Ansatz von Constantin Goschler, der die Entwicklung des Opferdiskurses in der Bundesrepublik Deutschland beschreibt.34 Goschler unterscheidet zwischen dem partikularistischen und dem integrationistischen Opfermodell: Das erste trenne die Opfer grundsätzlich in NS-Opfer und deutsche Kriegsopfer, darunter auch die Vertriebenen. Das integra- tionistische Opfermodell bilde dagegen eine Opferkategorie, in der der Opferstatus an

29 Während in Deutschland zwischen den Begriffen „Öffentlichkeit“ und „öffentliche Mei- nung“ unterschieden wird, fallen sie in der polnischen Übersetzung unter den einen Ausdruck „opinia publiczna“. 30 Vgl. MIKUŁOWSKI POMORSKI, S. 12. 31 Vgl. PISAREK/GOBAN-KLAS/ MIKUŁOWSKI POMORSKI/NĘCKI. 32 NEIDHARDT, S. 7. 33 Ebenda. 34 Vgl. GOSCHLER.

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sich wichtig sei. Der Kontext des Opferwerdens wird irrelevant, so dass auch eine Differenzierung zwischen den einzelnen Opfergruppen an Bedeutung verliert. Bei diesem Modell handele es sich um einen Versuch, auf die Gleichwertigkeit der deut- schen Kriegsopfer mit den nicht-deutschen Opfern des nationalsozialistischen Regi- mes hinzuweisen.35 Goschler spricht nicht nur von zwei Opfermodellen, sondern dementsprechend auch von zwei Opferdiskursen und vertritt dabei folgende drei The- sen: In den 1950er und 1960er Jahren dominierte in der Bundesrepublik der integra- tionistische Opferdiskurs. Seit den 1970er Jahren lässt sich nach Goschler der Auf- stieg des partikularistischen Opferdiskurses beobachten. Die Zeit um die Jahrtau- sendwende bezeichnet er als die „Renaissance des integrationistischen Opferdiskur- ses“.36 Der Bund der Vertriebenen wird nicht nur vor dem Hintergrund des Opferdiskur- ses, sondern auch des westdeutschen Oder-Neiße-Diskurses untersucht. Darunter werden öffentliche Debatten um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verstan- den, die in der Bundesrepublik Deutschland stattfanden. Der Fokus liegt auf den westdeutschen Debatten, weil sich der BdV in der Bundesrepublik konstituierte und bis 1990 nur hier als Öffentlichkeitsakteur agieren konnte. In Westdeutschland nahm er an der öffentlichen Debatte um die Grenzanerkennung aktiv teil. In Polen dagegen hatte er keinen Zugang zur Öffentlichkeit und zu den dort vertretenen Meinungen in Bezug auf die Oder-Neiße-Grenzregelung. Unter den Oder-Neiße-Diskurs fallen alle öffentlichen Aussagen, die sich auf die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze und des damit verbundenen Verlustes des „deutschen Ostens“ bezogen.37 Wenn man die öffentliche Präsenz des BdV vor dem Hintergrund der Diskurse untersucht, ist es notwendig, auch diesen Begriff zu definieren. Wenn von „Diskurs“ die Rede ist, werden damit häufig Diskussion, Debatte, Meinungsaustausch, Ge- spräch, Rede oder sogar Text gemeint.38 In der Arbeit wird dieser Begriff im Sinne der historischen Diskursanalyse als eine Zusammensetzung von Aussagen verstanden, „die sich hinsichtlich eines bestimmten Themas systematisch organisieren“39. Nach Achim Landwehr ist es der Diskurs, der einige Aussagen zu einem bestimmten Zeit- punkt und an einem bestimmten Ort möglich macht und andere wiederum verhin- dert.40 Er regelt „die Möglichkeiten von Aussagen zu einem bestimmten Gegenstand“ und organisiert „das Sagbare und Denkbare“.41 Insofern handelt es sich bei „Diskurs“ um etwas mehr als eine Debatte oder eine Diskussion. Er fungiert wie ein Rahmen für eine Diskussion. Edgar Wolfrum weist auf eine Verbindung hin, die sich zwischen den öffentlichen Diskursen und der Geschichtspolitik beobachten lässt. Er definiert „Geschichtspolitik“ als „ein Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Ak-

35 Vgl. ebenda, S. 874. 36 Ebenda. 37 Zum Oder-Neiße-Konflikt vgl. LEHMANN, S. 18; REHBEIN. 38 Vgl. MASET, S. 27; EDER, S. 10. 39 LANDWEHR, S. 98. 40 Vgl. ebenda. 41 Ebenda, S. 7.

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teure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen betrachten und politisch zu nutzen suchen“42. Dabei handele es sich zugleich um einen „öffentlichen und massenmedial vermittelten Prozeß, in dem sichtbar Kräfte und Gegenkräfte am Werke sind und um die Hegemonie von Diskursen und Deutungsmustern ringen“43. In diesem Sinne wird den Diskursen eine wichtige Bedeutung für die Geschichtspolitik zugemessen, was wiederum bedeutet, dass der Einfluss auf Diskurse mit einem Einfluss auf Geschichts- politik verbunden ist. Abschließend muss noch erklärt werden, was unter Selbst- und Fremddarstellung zu verstehen ist. Mit der Selbstdarstellung ist die Sicht des BdV auf sich selbst und seine Arbeit sowie seine Stellungnahmen zu politischen und anderen Themen ge- meint. Unter Fremddarstellung ist die Reaktion der Massenmedien auf das Selbstver- ständnis des BdV, seine Tätigkeit sowie sein Argumentationsmuster zu verstehen. Es ist nicht möglich, klare Grenzen zwischen der Selbst- und Fremddarstellung zu zie- hen, und das ist auch nicht das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Es lässt sich bei- spielsweise nicht eindeutig sagen, ob ein in einer Zeitung veröffentlichtes Interview eine Form von Selbstdarstellung ist oder aufgrund der nicht immer kompletten Wie- dergabe des Gesprächs zur Fremddarstellung gehört. Genauso verhält es sich mit un- vollständigen Zitaten, durch die die Sicht einer zitierten Person zwar wiedergegeben wird, aber durch die Redaktion in einen anderen Kontext gebracht werden kann, so dass es von seiner ursprünglichen Bedeutung abweicht. Deswegen werden in der Ar- beit nur die Aussagen der BdV-Funktionäre zur Selbstdarstellung gezählt, die im zentralen Informationsdienst des BdV abgedruckt wurden. Dafür spricht auch die Tat- sache, dass nur solche Äußerungen in der Verbandszeitung Deutscher Ostdienst ver- öffentlicht wurden, die der BdV in der Öffentlichkeit tatsächlich bekannt machen wollte. Die Aussagen der BdV-Funktionäre, die in den Massenmedien zitiert wurden, werden der Fremddarstellung zugeordnet, weil sie in einem von der Redaktion der jeweiligen Zeitung hergestellten Kontext erschienen sind. Unter Fremddarstellung wiederum wird das von den Medien entworfene Bild des BdV verstanden, auch wenn dieses Bild zum Teil durch direkte Zitate der Vertriebenenfunktionäre entstanden ist.

1.3 Quellen und Methode

Da sich die vorliegende Arbeit mit dem öffentlichen Bild des BdV befasst, bilden mediale Erzeugnisse den Quellenkorpus. Dabei handelt es sich ausschließlich um (west)deutsches und polnisches Pressematerial. Das Fernseh- und Rundfunkmaterial wurde in die Analyse aus pragmatischen Gründen nicht einbezogen. Die Hauptquelle für die Herausarbeitung der Selbstdarstellung des BdV bildet der Deutsche Ostdienst (DOD), das zentrale Informationsblatt des Bundes der Vertriebe- nen. Jahrelang berichtete das Blatt ausführlich über die Vertriebenenpolitik, die aktuellen Ziele und Aufgaben des BdV, sprach verbandsinterne Probleme an und

42 WOLFRUM, Geschichtspolitik, S. 25. 43 Vgl. ebenda, S. 28.

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druckte die Stellungnahmen des BdV-Präsidiums zu innen- und außenpolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik ab. In den 1990er Jahren durchlief der DOD allerdings deutliche Veränderungen, die auf den politischen Wandel in Europa zwi- schen 1989 und 1991 zurückzuführen sind. Mit dem Zusammenbruch des Kommu- nismus sowie der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ging der jahrelang geführte politische Kampf des BdV um die Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 zu Ende. Dieser Wandel drückte sich auch im DOD aus: Von seinem früher stark politisch ausgerichteten Profil wurde der Schwerpunkt auf die kulturelle Be- richterstattung verlagert. An die Stelle kämpferischer Rhetorik rückte sachliche Ana- lyse. Relevant für diese Arbeit sind insbesondere die im DOD abgedruckten Erklärun- gen und Beschlüsse des BdV-Präsidiums, Reden der BdV-Präsidenten sowie Berichte anlässlich der Tagungen der BdV-Bundesversammlung und der BdV-Mitarbeiterkon- gresse. Der Fokus liegt aber auf den Aussagen des BdV-Präsidiums. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass das Präsidium die Verbandspolitik bestimmt und den Ver- band nach außen vertritt. Die Reden der jeweiligen BdV-Präsidenten weisen fast im- mer einen programmatischen Charakter auf; außerdem spiegelt sich in ihnen der Wandel des Verbandes wider. Auf die Einsicht der Protokolle aus den Präsidiumssit- zungen wurde verzichtet, da es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine Untersu- chung der ausschließlich medial vermittelten Entscheidungen des BdV handelt. Die Wahl der Quellen für die Analyse des BdV in der (west)deutschen und polni- schen Presse richtete sich nach folgenden Kriterien: In erster Linie handelt es sich da- bei um Zeitungen und Nachrichtenmagazine, die überregional erschienen und einen meinungsbildenden Charakter hatten bzw. bis heute haben. Von Bedeutung war bei der Quellenauswahl auch das unterschiedliche politische Profil der einzelnen Blätter. Das (west)deutsche Quellenmaterial bilden Presseartikel, die in der Zeit, dem Spiegel und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erschienen. Das polnische Quellen- material wurde aus den Tageszeitungen Trybuna Ludu und Rzeczpospolita sowie aus den Wochenzeitungen Polityka und Tygodnik Powszechny entnommen. Auf die ge- naue Charakteristik der einzelnen Blätter und ihre Stellung auf dem Medienmarkt wird in den Kapiteln 2.1 und 2.2 dieser Arbeit eingegangen. Bei der Analyse des Quellenmaterials wurde die Methode der historischen Dis- kursanalyse angewendet.44 Peter Haslinger bedient sich der Bezeichnung „Diskursge- schichte“ und bezeichnet diese als „Methode zur Analyse von Machtverhältnissen, Gesetzmäßigkeiten und Abhängigkeiten […], die in personenübergreifenden Rede- und Textsystemen zum Ausdruck kommen“45. Die so verstandene Diskursanalyse macht deutlich, „wie Aussagen und Deutungen im Lauf des Kommunikationsprozes- ses autorisiert, hierarchisiert oder marginalisiert und dadurch Machtverhältnisse gene- riert, stabilisiert oder bekämpft werden“46. Nach Michel Foucault ist ein Diskurs „Machtinstrument und -effekt“ zugleich: „Der Diskurs befördert und produziert

44 Vgl. LANDWEHR; HASLINGER; SARASIN. 45 HASLINGER, S. 27. 46 Ebenda.

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Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam.“47 Bei der Diskursanalyse ist deswegen auch wichtig, der Frage nachzugehen, welche Aussagen zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort auftauchen.48 Dabei ist es nicht von Bedeutung, was hinter der Aussage steht, sondern die Existenz der Aussage an sich ist entscheidend.49 Von der so aufgefassten Diskursanalyse ausgehend, wird in der Arbeit nicht da- nach gefragt, was der BdV wirklich war oder ist und was hinter seinen Aussagen steht. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass bestimmte BdV-Aussagen zu bestimmten Zeitpunkten entstanden sind, dass sie sich zu einem Argumentationsmuster formierten und immer wieder auftauchten bzw. komplett verschwanden. Wichtig sind also die Existenz bestimmter BdV-Aussagen in der (west)deutschen und polnischen Presse und ihre Einordnung innerhalb des Oder-Neiße-Diskurses und des Opferdiskurses. Es wird danach gefragt, welchen Gesetzmäßigkeiten sich der BdV unterordnen musste, die von den beiden Diskursen zwischen 1957 und 2004 geschaffen wurden. Das Rin- gen des Verbandes um die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit wird zum Teil als sein Versuch verstanden, den Oder-Neiße-Diskurs und den Opferdiskurs beeinflussen und somit an den Machtverhältnissen teilnehmen zu wollen, die von den Diskursen hergestellt werden.

1.4 Aufbau der Arbeit

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Untersuchung der öffentlichen Präsenz des BdV seit seiner Entstehung im Jahr 1957 bis zum Jahr 2004. Der Verband wird vor dem Hintergrund öffentlicher Deutungskonflikte und der politischen Veränderun- gen untersucht, von welchen aus seine Entwicklung und sein Wandel geprägt waren. Nach dem einleitenden ersten Kapitel werden im zweiten Kapitel der Arbeit die Spezifika der Öffentlichkeit und der Massenmedien in Deutschland und Polen erläu- tert. Hierbei werden im ersten und im zweiten Unterkapitel die Unterschiede zwi- schen der Öffentlichkeit und den Medien in der Bundesrepublik und in Polen heraus- gearbeitet, die insbesondere für die Analyse des Quellenmaterials bis 1990 berück- sichtigt werden müssen. Das ist insofern wichtig, als sich aus der unterschiedlichen Funktion der Öffentlichkeit bzw. der Massenmedien in beiden Ländern auch verschie- dene Herangehensweisen an die Quellen ergeben. Außerdem werden in diesen beiden Unterkapiteln Zeitungen und Nachrichtenmagazine charakterisiert, die in die Untersu- chung einbezogen wurden. Mit der Entstehung des Vertriebenenverbandes beschäftigt sich das dritte Kapitel. Darin wird zunächst der Weg zur Gründung des BdV geschildert und im Anschluss daran die Reaktionen der (west)deutschen und polnischen Presse auf seine Konstituie- rung untersucht. In diesem Kapitel werden die ersten Selbst- und Fremdbilder des

47 FOUCAULT, S. 122. 48 Vgl. LANDWEHR, S. 98. 49 Vgl. ebenda, S. 80.

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BdV analysiert. Somit stellt dieses einen Übergang vom theoretischen zum analyti- schen Teil der Untersuchung dar. Den Hauptteil der Arbeit bilden das vierte, fünfte und sechste Kapitel, wobei jedes von ihnen einen entsprechenden Zeitraum abdeckt: Im vierten Kapitel handelt es sich um die erste Phase der chronologisch verlaufenden Untersuchung, die sich auf die Jahre zwischen 1957 und 1970 konzentriert. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Zeitraum von 1970 bis 1990 und stellt somit die zweite Phase in der Entwicklung des BdV dar. Das sechste Kapitel wird als dritte und letzte Phase aufgefasst, in der auf den Vertriebenenverband in den Jahren von 1990 bis 2004 eingegangen wird. In jeder dieser Phasen wird der BdV aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht: zu- erst aus der eigenen, danach aus derjenigen der (west)deutschen Presse. Abschließend wird die Reaktion der polnischen Medien auf die gesamte öffentliche Darstellung des BdV in der Bundesrepublik analysiert. Die Aufteilung der Arbeit in zeitliche Phasen zielt darauf ab, den Blick des Lesers stärker auf den Entwicklungsprozess zu lenken, der sich einerseits in der Geschichte des BdV und andererseits in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen über einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren vollzog. Die Ergebnisse der Untersuchung werden schließlich im siebten und letzten Kapitel zusammengefasst.

1.5 Forschungsstand

Zum Themenkomplex „Flucht und Vertreibung“ sind in der Bundesrepublik zahlrei- che Untersuchungen durchgeführt und publiziert worden.50 Unter den einzelnen Stu- dien sticht ein mehrbändiges wissenschaftliches Großforschungsprojekt aus den 1950er Jahren mit dem Titel „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa“ heraus.51 Die umfangreiche Dokumentation setzt sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Analyse des Vertreibungsgeschehens zusammen, sondern zieht auch unter anderem Zeitzeugenberichte, Tagebücher und private Briefe in diese mit ein. In den 1950er Jahren erschien auch ein dreibändiges und bis heute häufig zitiertes Sammelwerk zur Geschichte und Organisation der Vertriebenenverbände sowie zu ihrem Einfluss auf Politik und Gesellschaft.52 Das Interesse an der Untersuchung der politischen Einflussnahme von Vertriebenenverbänden lässt sich vor allem in den 1970er Jahren beobachten.53 Der Grund dafür lag vermutlich in der verstärkten politischen Aktivität dieser Interessengruppen vor dem Hintergrund der öffentlichen

50 Der Vorwurf, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten seien nicht erforscht und in der Öffentlichkeit verschwiegen worden, ist unbegründet und wird beispielsweise von Hellmuth Auerbach abgelehnt. Vgl. AUERBACH; zur Forschungs- übersicht vgl. auch: WOLFRUM, Geschichtsschreibung; FAULENBACH. 51 Vgl. Dokumentation der Vertreibung; zu Entstehung und Aufbau der „Dokumentation“ vgl. BEER, Spannungsfeld von Politik. 52 Vgl. Die Vertriebenen in Westdeutschland. 53 Vgl. WAMBACH; BRÜES; M. IMHOF, Die Vertriebenenverbände; REICHEL.

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Auseinandersetzung um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in den 1960er Jah- ren und der neuen Ostpolitik, die Ende der 1960er Jahre von Willy Brandt für not- wendig gehalten wurde. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier vor allem die Ar- beiten von Manfred Max Wambach, Hans-Josef Brües und Michael Imhof. Wambach legt den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Untersuchung der Lobbyarbeit der Ver- triebenenverbände und analysiert unter anderem ihre Einflussnahme auf die Bundes- regierung und Ministerien sowie auf die Parteien. Brües zeigt wiederum auf, wie die Vertriebenen durch die Personalpolitik auf Landes- und Bundesebene die westdeut- sche Politik zu beeinflussen und die Wahlkämpfe in ihrem Interesse zu nutzen such- ten. Imhof geht stärker auf die Ideologie der Vertriebenenverbände ein und sieht in ihr nationalsozialistische Züge. Weniger mit politischem Einfluss als vielmehr mit der Geschichte und Ideologie der Vertriebenenverbände befasst sich Ingeborg Zeiträg. Sie untersucht das Selbstverständnis der Vertriebenenorganisationen und versucht anhand dessen Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Situation der Vertriebenen zu ziehen.54 Im Gegensatz zu den hier erwähnten Autoren setzen sich Patrick von zur Mühlen, Bernhard Müller und Kurt Schmitz mit dem Einfluss der Vertriebenenverbände nicht nur auf die bundesdeutsche Politik, sondern auch auf die deutsch-polnischen Bezie- hungen auseinander.55 Für all diese Publikationen ist es allerdings charakteristisch, dass sie sich mit den Vertriebenenverbänden im Allgemeinen beschäftigen. Auf den Bund der Vertriebenen wurde entweder gar nicht oder nur im Verhältnis zur ganzen Studie knapp eingegangen. Das ausdrückliche Interesse am Dachverband war weder in den 1960er noch in den 1970er Jahren vorhanden. Im Kontext der geschichtspolitischen Debatte um den 8. Mai 1945 und der öffent- lichen Debatte um die Teilnahme von Bundeskanzler Helmut Kohl am „Schlesiertref- fen“ von 1985 wurde in den 1980er Jahren das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an den Vertriebenenverbänden und an der Vertreibung wieder geweckt.56 Unter allen Publikationen ist an dieser Stelle vor allem der von Wolfgang Benz he- rausgegebene Sammelband zu vermerken. Darin wurde nicht nur Bilanz über die bis dahin vorhandene Forschung zur Vertreibung und zu den Vertriebenenverbänden ge- zogen, sondern auch Analysen zur Organisation und Eingliederung der Vertriebenen in der Bundesrepublik geliefert. Das Vertreibungsgeschehen wurde von verschiede- nen Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen.57 Erneut wurde auch die Frage nach der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände dis- kutiert. Dem BdV an sich wurde dabei immer noch verhältnismäßig wenig Aufmerk- samkeit geschenkt.58 In den 1990er Jahren erschienen zwei Publikationen, die von den wohl bekann- testen Vertriebenenfunktionären verfasst wurden: Zum einen handelt es sich dabei um

54 Vgl. ZEITRÄG. 55 Vgl. MÜHLEN/MÜLLER/SCHMITZ. 56 Vgl. ERF; Die Vertriebenen; Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten; Flüchtlinge und Vertriebene; BIRK; STEFFANI; STROTHMANN; REICHLING. 57 Vgl. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. 58 Vgl. STROTHMANN; BIRK.

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Erinnerungen des langjährigen Vorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien und BdV-Vizepräsidenten Herbert Hupka und zum anderen um eine Monografie des BdV- Präsidenten .59 Czajas Buch ist insofern von Bedeutung, als er sich darin mit der deutschen Ostpolitik aus seiner eigenen Sicht auseinandersetzt und einen Ein- blick in seine Arbeit als BdV-Präsident und Vertriebenenpolitiker liefert. Um die Jahrtausendwende stieg das Interesse an den Vertriebenenverbänden enorm.60 Die Ideologie der Vertriebenenorganisationen und ihre frühere politische Tätigkeit wur- den erneut zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Der Grund dafür lag im wachsenden Interesse an dem Themenkomplex „Flucht und Vertreibung“. Der Unter- schied zur früheren Beschäftigung mit der Vertreibung lag in der Veränderung der Perspektive. Dieses Ereignis wurde zunehmend und wird auch bis heute in den euro- päischen Kontext verortet und in Zusammenhang mit Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts erforscht.61 Diesen Perspektivenwechsel begünstigte auch der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis und dem damit verbundenen Wunsch nach Musealisierung der Erinnerung an Vertreibung. Zunehmend wurde der Stellenwert dieses Kapitels der deutschen Geschichte in der Erinnerungskultur unter- sucht.62 Auch die öffentliche Auseinandersetzung um das BdV-Projekt „Zentrum ge- gen Vertreibungen“ trug entscheidend dazu bei, dass sich viele Autoren mit dem Op- fersein der deutschen Vertriebenen auseinandersetzten.63 Was die polnische Forschungsliteratur zu den Vertriebenenorganisationen betrifft, hatte sie bis 1990 in erster Linie einen propagandistischen und populistischen Cha- rakter. Die vertriebenen Deutschen wurden zum Symbol des deutsch-polnischen Konfliktes stilisiert und politisch instrumentalisiert. Ihre Thematisierung bzw. Nicht- Thematisierung lässt sich stark mit der politischen Situation in Verbindung setzen. Wenn sich das deutsch-polnische Verhältnis verbesserte, wie beispielsweise Anfang der 1970er Jahre, ließ die Erforschung der Vertriebenenverbände nach. Beata Ociepka führt solche Entwicklung zutreffend darauf zurück, dass die Untersuchungen der Vertriebenenorganisationen, die als ein Symbol des deutsch-polnischen Konfliktes fungierten, in der Zeit politischer Entspannung zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen ungünstig gewesen wären.64 Der politische Umbruch von 1980/ 1981 in Polen und die damit verbundene Lockerung der Zensur wirkten sich fördernd auf die Untersuchung der Vertriebenenthemen aus.65 In den 1980er Jahren wurde bei-

59 Vgl. HUPKA, Unruhiges Gewissen; CZAJA. 60 Vgl. SALZBORN, Grenzenlose Heimat; DERS., Heimatrecht; AHONEN, Expellee Organiza- tions; DERS., After the Expulsion; STICKLER; LOTZ. 61 Vgl. Zwangsmigration in Europa; Zwangsmigration und Vertreibung; SCHLÖGEL; NAI- MARK; Diskurse über Zwangsmigrationen. 62 Vgl. KITTEL; HAHN/HAHN, Flucht und Vertreibung; KRAFT, Erinnerungsdiskurs; BEER, Forschung. 63 Vgl. FRANZEN, Die Vertriebenen; DERS., Mitte der Erinnerung; GOSCHLER; KOSSERT; SALZBORN, Heimat ohne Holocaust; DERS., Opfer. 64 Vgl. OCIEPKA, S. 33 f. 65 Vgl. ebenda.

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spielsweise die Existenz einer deutschen Minderheit in Polen thematisiert. Darüber hinaus ließen die Verallgemeinerungen bei der Untersuchung der Vertriebenenver- bände im Verhältnis zu den früheren Jahren ein wenig nach: Man differenzierte schon zwischen den organisierten und nichtorganisierten Vertriebenen.66 Texte, die im Exil oder in der Untergrundpresse entstanden waren und sich mit der Vertreibung der Deutschen befassten, wurden in Polen zwar nicht von einem breiten Publikum rezi- piert, wirkten sich aber stark auf die dort nach 1990 geführten Geschichtsdebatten aus.67 Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Polen, den Demokratisierungs- prozessen, der Meinungsfreiheit, der Aufhebung der Zensur und dem freien Zugang zu den Archiven begann in Polen erst wirklich die Aufarbeitung der Geschichte und ihrer „weißen Flecken“. Anfang der 1990er Jahre lässt sich ein zunehmendes Inte- resse am Stellenwert der Vertreibung der Deutschen, der deutschen Minderheit und den ehemaligen deutschen Ostgebieten in der polnischen Geschichtsschreibung beob- achten.68 Darüber hinaus kam es bei der Aufarbeitung des Vertreibungsthemas nach 1990 verstärkt zur Zusammenarbeit zwischen deutschen und polnischen Historikern.69 In umfassenderen Studien, die sich mit den Vertriebenenverbänden im Allgemei- nen beschäftigten, stellte der Bund der Vertriebenen als Forschungsgegenstand jahre- lang nur einen Teilaspekt dar. Der Verband wurde zwar in verschiedenen Aufsätzen und Publikationen thematisiert, stieß aber erst nach 1990 auf zunehmendes Interesse in der Forschungsliteratur. In Polen ist es Beata Ociepka, die sich in ihrer Habilita- tionsschrift ausschließlich mit dem Gesamtverband der deutschen Vertriebenen be- schäftigte. Der BdV wurde von ihr im Hinblick auf seine politische Einflussnahme auf die deutsch-polnischen Beziehungen in dem Zeitraum zwischen 1982 und 1992 untersucht.70 In der Bundesrepublik ist es die Habilitationsschrift von Matthias Stick- ler, die sich bisher am ausführlichsten mit dem BdV befasst.71 Obwohl sich Stickler nicht wie Ociepka ausschließlich mit dem Bund der Vertriebenen beschäftigt und der Dachverband auch nicht im Titel seiner Publikation erscheint, nimmt er dort eine wichtige Stellung ein. Der Verfasser beschäftigt sich mit der Geschichte und dem Wirken der Vertriebenenverbände als politischen Interessengruppen in der Bundesre- publik in den Jahren zwischen 1949 und 1972. Neben dem Bund der Vertriebenen

66 Vgl. ebenda, S. 36. 67 Von großer Bedeutung für die publizistische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vertreibung der Deutschen war nach 1990 der 1981 in der Exilzeitschrift Kultura veröffentlichte Aufsatz „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen“ von Jan Józef Lipski. Vgl. LIPSKI, Dwie ojczyzny. 68 Zur Vertreibungsdebatte der 1990er Jahre in Polen vgl. Verlorene Heimat; die polnische Fassung der Publikation unter dem Titel: Przeprosić za wypędzenie?; zur Auseinanderset- zung mit dem Vertreibungsthema aus polnischer Sicht vgl. BORODZIEJ/HAJNICZ; PISKOR- SKI; PIĘCIAK. 69 Vgl. Vertreibungen europäisch erinnern; Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. 70 Vgl. OCIEPKA. 71 Vgl. STICKLER.

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bezieht sich Stickler in seiner Studie umfassend auf zwei andere Dachverbände, aus denen später der BdV hervorgegangen ist: Er untersucht die Arbeit des Zentralverban- des der vertriebenen Deutschen (ZvD) und späteren Bundes der vertriebenen Deut- schen (BVD) sowie der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL), die später als Verband der Landsmannschaften (VdL) bekannt waren. Sowohl bei Ociepka als auch bei Stickler liegt der Fokus der Interessen auf der politischen Einflussnahme des BdV. Stickler geht allerdings darüber hinaus und be- fasst sich auch mit anderen Themen wie der Öffentlichkeitsarbeit der Vertriebenen- organisationen und ihrem Selbstverständnis in der Bundesrepublik. In seiner Untersu- chung schildert er umfangreich die Konfrontation der Ansprüche der Vertriebenen- verbände mit der Wirklichkeit. Keiner der beiden Autoren beschäftigt sich allerdings mit der Thematisierung des BdV in der (west)deutschen und polnischen Presse. In beiden Studien steht vor allem der politische Einfluss des Dachverbandes im Mittel- punkt und weniger der Wandel seines öffentlichen Bildes. Sie untersuchen den BdV im Rahmen eines Zeitraums von einem bis zwei Jahrzehnten. Bisher gibt es keine Studie, die sich auf die Zeitspanne von fast über fünfzig Jah- ren erstreckt und die Entwicklung des BdV seit seiner Entstehung bis heute durchge- hend analysiert. Es gibt auch keine Untersuchung, die den Dachverband aus verschie- denen Perspektiven, aus der eigenen, der (west)deutschen und der polnischen Per- spektive, in den Blick nimmt. Bisher wurden Aussagen zu Charakter und Geschichte der Vertriebenenverbände hauptsächlich anhand der Analysen zu ihrem politischen Einfluss getroffen. Neu an der vorliegenden Arbeit ist es, dass sie Charakter und Ge- schichte des BdV anhand seines öffentlichen Bildes erforschen will, d.h. anhand der Selbst- und Fremddarstellung des BdV in der (west)deutschen und polnischen Presse. Die vorliegende Untersuchung ist im Kontext der Auseinandersetzung um das Zent- rum gegen Vertreibungen sowie der damit verbundenen komplexen Vertreibungs- debatte zu verorten, die in Deutschland und Polen auf medialer, wissenschaftlicher, politischer und rechtlicher Ebene stattfindet. Sie soll einerseits einen Beitrag zur Ver- bandsgeschichte, andererseits zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen leisten.

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2 Öffentlichkeit und Massenmedien

2.1 Die Funktion der Öffentlichkeit und der Massenmedien in der Bundes- republik Deutschland

In demokratischen Gesellschaften spielt Öffentlichkeit eine große Rolle. Sie fungiert nicht nur als ein „Kommunikationsforum“1, sondern hat auch eine politische Funk- tion. Keinem soll die Teilnahme an der öffentlichen Kommunikation verweigert wer- den. Keiner darf aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Sie steht im Prinzip jedem offen.2 Die Teilnahme am öffentlichen Diskurs gehört in einer Demokratie zu den Grundrechten aller Individuen.3 Unter den Öffentlichkeitstheoretikern gibt es ver- schiedene Vorstellungen, wie die Kommunikation in der Öffentlichkeit verlaufen soll. Das Ziel der Kommunikation in der Öffentlichkeit ist nach Jürgen Habermas die Ver- ständigung, die infolge des „kommunikativen Handelns“ entstehe.4 Die an der Kom- munikation beteiligten Akteure sollen demgemäß nicht nach „egozentrischen Erfolgs- kalkülen“ handeln, sondern das Ziel der „Verständigung“ im Blick behalten.5 Dem- entsprechend versteht Habermas unter öffentlicher Meinung „gebündelte Meinun- gen“, die infolge mehr oder weniger rationaler Diskussionen entstehen.6 Für Fried- helm Neidhardt dagegen kommt es in der öffentlichen Kommunikation nicht auf „einen Konsens der Meinungen von Sprechern an, sondern auf Übereinstimmung ihrer Meinungsäußerungen“.7 Unter öffentlicher Meinung sei „nicht die Summe aller öffentlich geäußerten Meinungen von Öffentlichkeitsakteuren, sondern ein kollektives Produkt von Kommunikationen“ zu verstehen.8 Kommunikation in der Öffentlichkeit findet nach Gerhards und Neidhardt auf drei Ebenen statt: auf der Encounters-Ebene, auf der Ebene öffentlicher Veranstaltungen bzw. in der Versammlungsöffentlichkeit und auf der Ebene der Massenmedienkom-

1 NEIDHARDT, S. 7. 2 Vgl. HABERMAS, Strukturwandel, S. 156. 3 Vgl. K. IMHOF, Öffentlichkeitstheorien, S. 203. 4 HABERMAS, Theorie, S. 385. 5 Ebenda. 6 HABERMAS, Faktizität, S. 438. 7 NEIDHARDT, S. 26. 8 Ebenda.

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munikation bzw. in der massenmedialen Öffentlichkeit.9 Die Encounters-Ebene ent- stehe dann, wenn Menschen zufällig aufeinandertreffen und kommunizieren. Dazu gehören beispielsweise Gespräche im Bus, am Arbeitsplatz oder in der Schlange an der Kasse.10 Bei der Versammlungsebene dagegen handele es sich nicht mehr um ein- fache, sondern um öffentliche und thematische Interaktion. Die öffentlichen Veran- staltungen werden zu einem bestimmten Thema organisiert. Die Kommunikation auf dieser Ebene ist strukturiert. Auf der einen Seite befinden sich die Redner, auf der an- deren Seite das Publikum. Die Äußerungsmöglichkeiten des Publikums seien aller- dings beschränkt. Ihre Teilnahme an der Veranstaltung beschränke sich meistens auf Beifall, Pfeifen oder Raunen. Das Publikum könne seine Meinung zu der Veranstal- tung z.B. dadurch äußern, dass die Teilnehmer den Veranstaltungsort frühzeitig ver- lassen. Wenn sich Menschen aus dem Publikum zu Wort melden, müssen sie sich an den Vorgaben des Referenten orientieren.11 Eine Sonderform von öffentlichen Veran- staltungen stellen nach Gerhards und Neidhardt kollektive Proteste dar. Hier ginge es nicht mehr um Diskussion, sondern um eine „kollektive Aktion“ der Teilnehmer.12 Bernhard Peters unterscheidet zwischen zwei Funktionen eines Protestes, die häufig gleichzeitig erfüllt werden. Einerseits bringe die Protestaktion kollektive Empörung und großes Engagement zum Ausdruck. Sie sei „eine erste, mehr oder weniger spon- tane Reaktion auf die Erfahrung von Unrecht“13. Andererseits ziele sie auf Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit hin.14 Mit Protestaktionen werde darüber hinaus eine Mobilisierung des Publikums angestrebt, was vor allem für nichtetablierte Öffentlich- keitsakteure wie Protestbewegungen wichtig sei.15 Die Ebene der Massenmedienkommunikation ist die dritte und letzte Öffentlich- keitsebene. Im Gegensatz zu der Veranstaltungsebene sei sie durch eine entwickelte technische Infrastruktur gekennzeichnet. Die Kommunikation auf dieser Ebene sei noch strukturierter und viel stärker organisiert als auf der Versammlungsebene. Wäh- rend das Publikum auf der Versammlungsebene körperlich präsent sei, sei es auf der massenmedialen Ebene abstrakt.16 Zentral für diese Ebene sind die Massenmedien, über die die Kommunikation erfolgt. Sie bündeln die kollektive Aufmerksamkeit und wirken durch Thematisierung oder Nicht-Thematisierung bestimmter Sachverhalte auf die verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft ein.17 Von den drei Öffentlich-

9 Vgl. GERHARDS/NEIDHARDT, S. 49 ff. Die Ebene „öffentlicher Veranstaltungen“ wird von Neidhardt auch „Versammlungsöffentlichkeit“ genannt. Vgl. dazu NEIDHARDT, S. 10. Von der „Themen- oder Versammlungsöffentlichkeit“ sprechen Patrick Donges und Kurt Im- hof. Vgl. dazu DONGES/IMHOF, S. 152. 10 Vgl. GERHARDS/NEIDHARDT, S. 50. 11 Vgl. ebenda, S. 52 f. 12 Ebenda, S. 53. 13 PETERS, S. 67. 14 Vgl. ebenda. 15 Vgl. NEIDHARDT, S. 10. 16 Vgl. GERHARDS/NEIDHARDT, S. 54. 17 Vgl. NOLTE, S. 59.

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keitsebenen halten Gerhards und Neidhardt die Massenkommunikationsebene für die wirksamste: „Auch die auf den anderen Ebenen der Öffentlichkeit artikulierten Themen und Meinungen erreichen erst eine allgemeine Wahrnehmung, wenn sie von den Massenmedien aufgegrif- fen, berichtet und verstärkt werden: Veranstaltungen und das Rumoren an Stammtischen werden erst allgemein bedeutsam, wenn es die Massenmedien aufgreifen und zum Thema machen.“18 Auf die Tatsache, dass Massenmedien durch Thematisierung bestimmter Probleme diese erst „allgemein bedeutsam“19 machen, weist auch Kristina Nolte hin. Da nicht über alle Themen informiert werden kann, werden sie von den Medien selektiert. Hierdurch entscheiden die Medien, was in einer Gesellschaft bzw. in der Öffentlich- keit diskutiert wird. Sie unterstellen damit auch, dass die vorgeschlagenen Themen für die Gesellschaft von Bedeutung seien.20 Themen und Probleme werden folglich durch die Massenmedien bedeutsam gemacht, was gleichzeitig heißt, dass sie von diesen als diskussionswürdig eingeschätzt werden. Auf diese Weise entscheiden die Medien darüber, „was Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs findet“.21 An dieser Stelle muss allerdings angemerkt werden, dass die Entscheidung über den Eingang bestimmter Themen in die Diskurse nicht ausschließlich von den Medien bestimmt wird, sondern auch von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die einen Diskurs stark mitbestimmen. Die Thematisierung eines Problems auf der Encounters- oder Versammlungsebene bedeutet, dass ein Anliegen nur von einem begrenzten Publikumskreis wahrgenom- men wird. Durch die Massenmedien dagegen kann eine Botschaft jeden Menschen er- reichen, vorausgesetzt, dass er über die Möglichkeit und den Willen verfügt, ein be- stimmtes Massenmedium zu nutzen. Wie wichtig die massenmediale Berichterstat- tung beispielsweise für die Existenz der sozialen Bewegungen ist, macht Joachim Raschke deutlich, indem er sagt: „Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, fin- det nicht statt.“22 Auch Rüdiger Schmitt-Beck weist darauf hin, dass erst die Medien- präsenz die Politiker zwingt, soziale Bewegungen zur Kenntnis zu nehmen und auf ihre Forderungen zu reagieren.23 Diese Meinung teilt auch Michael Lipsky, der sagt: „Politischer Protest, über den die Massenmedien nicht berichten, das ist wie ein Baum, der, von niemandem bemerkt, irgendwo im Walde umstürzt“.24 Die Präsenz in den Massenmedien signalisiert also die Existenz eines Öffentlichkeitsakteurs bzw. eines Diskussionsgegenstands. Die politische Funktion der Öffentlichkeit besteht nach Gerhards und Neidhardt darin, eine Vermittlung zwischen dem politischen System und den Bürgern zu bilden.

18 GERHARDS/NEIDHARDT, S. 55. 19 Ebenda. 20 Vgl. NOLTE, S. 89. 21 Ebenda. 22 RASCHKE, S. 343. 23 Vgl. SCHMITT-BECK, S. 645. 24 Zitiert nach ebenda, S. 642.

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Beide Autoren sprechen in diesem Kontext von der Öffentlichkeit als einem „inter- mediären System“, das „zwischen dem politischen System einerseits und den Bürgern und den Ansprüchen anderer Teilsysteme der Gesellschaft vermitteln soll“25. Jürgen Habermas spricht an dieser Stelle von „intermediäre[r] Struktur“ der Öffentlichkeit, die „zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebens- welt und funktional spezifizierten Handlungssystemen andererseits vermittelt“26. Ob- wohl die Wortwahl („System“ und „Struktur“) unterschiedlich ist, zielen die drei Autoren auf das Gleiche ab: Sie machen auf die Vermittlungsfunktion der Öffent- lichkeit aufmerksam. Die politische Aufgabe der Medien bestehe in einer Demokratie darin, die Bürger über Probleme des Gemeinwesens zu informieren.27 Damit zeigen sie auf, welche Themen eine politische Lösung brauchen, und weisen darauf hin, mit welchen Ereig- nissen sich die Politiker und die öffentliche Meinung auseinandersetzen sollen.28 Durch die in den Medien artikulierten Interessen der Bürger können die Regierung und die Parteien erfahren, welche Themen und Probleme die Bürger besonders beschäftigen.29 Öffentlichkeit stelle für die Bürger ein „Diskussionssystem“ dar, in dem sie ihre Meinungen und Themen artikulieren sowie Informationen und Mei- nungen austauschen.30 Während Interessengruppen und Parteien die Akteure seien, die kollektive Ziele formulieren, sind Regierung und Parlament diejenigen, die in demokratischen Gesellschaften für das Kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen.31 Unter allen Teilsystemen der Gesellschaft besitzt das politische System für Gerhards und Neidhardt eine „doppelte Sonderstellung“: Es sei „Problemadressat“ und „Problemlösungssystem“ bzw. „Steuerungsakteur der Gesamtgesellschaft“ gleichzeitig.32 Die Informationsfunktion der Medien ist noch durch die Orientierungs- funktion ergänzt. Indem Medien Nachrichten nicht nur liefern, sondern auch auswäh- len und kommentieren, suggerieren sie, wie man diese Nachrichten einschätzen und bewerten soll.33 Wenn man die bisherigen Ausführungen zur Definition und Funktion der Öffent- lichkeit zusammenfasst, kommt man zur Schlussfolgerung, dass in der Öffentlichkeit Probleme diskutiert und in der Politik gelöst werden. Da der Öffentlichkeit in demo- kratischen Gesellschaften auch die Vermittlungsfunktion zwischen Politik und Ge- sellschaft zugesprochen wird, gewinnt sie an Bedeutung vor allem für die Parteien und Interessengruppen, die sich in der Öffentlichkeit um Aufmerksamkeit der Bürger bemühen. Öffentlichkeit gibt ihnen die Möglichkeit der Selbstdarstellung und Be-

25 GERHARDS/NEIDHARDT, S. 41. 26 HABERMAS, Faktizität, S. 451 f. 27 Vgl. NEIDHARDT/EILDERS/PFETSCH, S. 11. 28 Vgl. ebenda. 29 Vgl. GERHARDS, S. 99. 30 GERHARDS/NEIDHARDT, S. 45. 31 Vgl. GERHARDS, S. 93. 32 GERHARDS/NEIDHARDT, S. 37. 33 Vgl. NEIDHARDT/EILDERS/PFETSCH, S. 11.

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gründung ihrer Meinungen vor einem unbegrenzten Publikum. Erst wenn Parteien die Zustimmung der Bürger gewinnen, können sie auch die Wahlen für sich entschei- den.34 Wenn Interessengruppen die Akzeptanz der öffentlichen Meinung für ihr An- liegen bekommen, werden sie dadurch in ihrer Interessenvertretung gestärkt und kön- nen noch leichter Druck auf die politischen Parteien ausüben. In die Analyse der Selbst- und Fremddarstellung des BdV in der Bundesrepublik wurden drei Zeitungsquellen einbezogen. Dabei handelt es sich um die täglich er- scheinende Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), das Wochenblatt Die Zeit und das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Alle drei wurden in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre gegründet, haben einen meinungsbildenden Charakter und erscheinen überre- gional. Alle drei werden zu den Leitmedien gezählt. Unter „Leitmedium“ wird ein Medium verstanden, „dem gesellschaftlich eine Art Leitfunktion zukommt und dem Einfluß auf die Gesellschaft und auf andere Medien beigemessen wird“35. Nach Jür- gen Wilke zeichnen sich Leitmedien dadurch aus, dass sie eine starke Verbreitung be- sitzen und über eine hohe Auflage verfügen. Doch wichtiger als dieses Merkmal sei die Struktur ihres Publikums. Auch wenn eine Zeitung eine geringe Auflage habe, aber von Führungsschichten und gesellschaftspolitischen Entscheidungsträgern gele- sen werde, sei sie als Leitmedium zu kategorisieren.36 Die Zitierhäufigkeit in anderen Medien sei nach Wilke auch ein Hinweis darauf, dass es sich in einem bestimmten Fall um ein Leitmedium handele. Für die Qualität eines Mediums sprechen außerdem noch namhafte Journalisten.37 Die FAZ ist vor allem aufgrund der Struktur ihrer Leserschaft als ein Leitmedium zu bezeichnen. Unter ihren Lesern befinden sich zum großen Teil Akademiker. Das Blatt wird häufig von anderen Journalisten gelesen und ist auch für die Bundestags- abgeordneten ein wichtiges Informationsmedium.38 Die FAZ verfügt über das größte Korrespondentennetz aller deutschen Tageszeitungen.39 Bereits seit den frühen 1950er Jahren gilt sie als Qualitätszeitung.40 Ihre politische Linie wird allgemein als „rechts von der Mitte“ bezeichnet, wobei sich in dieser Hinsicht Unterschiede zwi- schen den einzelnen Teilen des Blattes feststellen lassen.41 Die Zeit ist im Gegensatz zur FAZ eine Wochenzeitung. Aus diesem Grund hat sie auch eine andere Funktion auf dem Zeitungsmarkt. Nicht die aktuelle Tagesbericht- erstattung, sondern Meinungsbildung und Lieferung von Hintergrundinformationen sind wichtig.42 Spätestens Ende der 1960er Jahre etablierte sie sich als Leitmedium. Sie ist ebenfalls eine Qualitätszeitung, die von anderen Journalisten häufig genutzt

34 Vgl. GERHARDS/NEIDHARDT, S. 41. 35 WILKE, S. 302. 36 Vgl. ebenda, S. 302 f. 37 Vgl. ebenda, S. 303. 38 Vgl. ebenda, S. 311 f. 39 Vgl. SCHRAG, S. 155. 40 Vgl. KEPPLINGER, S. 196. 41 WILKE, S. 311; vgl. auch SCHRAG, S. 155. 42 Vgl. WILKE, S. 315.

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wird und deren Leserschaft ähnlich wie die der FAZ ein hoher Bildungsgrad aus- zeichnet.43 Die meinungsbildende Funktion der Zeit besteht vor allem in den umfang- reichen Kommentaren zu den aktuellen Themen. Das Blatt liefert dabei dem Leser Analysen sowohl im politischen und wirtschaftlichen als auch im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich. Das politische Profil der Zeit ist liberal.44 Der Spiegel zählt zu der Gattung der Nachrichtenmagazine und stellt ein Beispiel für den so genannten investigativen Journalismus dar.45 Kennzeichnend für dieses Blatt ist die Berichterstattung über Ereignisse und Hintergründe, die stark personali- siert werden.46 Häufig werden in die Artikel emotionale Zeugenerlebnisse eingebun- den und nehmen dort einen wichtigen Platz ein.47 Die Reichweite und die Struktur seiner Leserschaft lassen den Spiegel zu den Leitmedien zählen. Diese Leitfunktion bekräftigte das Blatt nach Jürgen Wilke in den 1980er Jahren, als es mehrere Affären aufdeckte und sie zu Skandalen machte.48 In den 1950er Jahren etablierte sich Der Spiegel als ein „wichtiges Organ publizistischer Opposition gegen die von der CDU/CSU geführte Bundesregierung“49. In den 1970er Jahren unterstützte das Blatt die neue Ostpolitik der Regierung Brandt. In seinem politischen Profil ist das Nachrichtenmagazin eher links orientiert.50

2.2 Die Funktion der Öffentlichkeit und der Massenmedien in Polen

Wenn man von Öffentlichkeit in Polen spricht, so muss man zwischen dem Zeitraum vor und nach 1990 unterscheiden. Denn erst 1990 wurde die Zensur in Polen aufge- hoben.51 Bis dahin unterlagen die Medien in Polen der Parteikontrolle. Über die Infor- mations- und Medienpolitik entschied die Propagandaabteilung des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP).52 Als 1951 alle Presseverlage der Verlegergenossenschaft „Czytelnik“ von der Verlegergenossenschaft RSW „Prasa“53

43 Vgl. ebenda, S. 317. 44 Vgl. SCHRAG, S. 157. 45 Vgl. ebenda, S. 164. 46 Vgl. WILKE, S. 318. 47 Vgl. SCHRAG, S. 166 f. 48 Vgl. WILKE, S. 319. 49 Ebenda. 50 Vgl. SCHRAG, S. 163. 51 Vgl. KOZIEŁ, S. 171. 52 Vgl. GARSZTECKI, Deutschlandbild, S. 16. 53 Der Name RSW „Prasa“ steht für Robotnicza Spółdzielnia Wydawnicza „Prasa“ [Verleger- genossenschaft „Presse“]. In der Sekundärliteratur wird im Hinblick auf RSW „Prasa“ manchmal vom Presse- und Verlagskonzern gesprochen, anstatt die polnische Bezeichnung „Spółdzielnia“ als „Verlegergenossenschaft“ zu übersetzen. Um den Unterschied zum Ver- lagskonzern im westlichen Verständnis zu betonen, wird hier von „Verlegergenossen- schaft“ gesprochen.

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übernommen wurden, befand sich fast die gesamte Presse in den Händen der PVAP.54 Die RSW „Prasa“ war außerdem im Besitz von zahlreichen Papierfabriken, Drucke- reien und Vertriebsfirmen. Sie wurde von der Partei geführt und kontrolliert und hatte damit fast den Charakter einer staatlichen Institution.55 Die Kontrolle der Medien wurde nicht nur durch das Monopol der Partei im Ver- lagswesen gewährleistet. Dafür wurde speziell das „Hauptamt für die Kontrolle der Presse, Publikationen und öffentlichen Veranstaltungen“56 geschaffen, das als ein Amt der Zensur fungierte. Zu seinen Aufgaben gehörte nicht nur die Kontrolle der Texterzeugnisse, sondern auch der Druckereien und der Papierzuteilung.57 Die Zensur eines Textes bestand aus drei (z.B. bei den Periodika) bis vier Schritten (z.B. bei Büchern). Der Zensor las zuerst das Manuskript einer Publikation und überprüfte es. Nach der Korrektur ließ er den Text zum ersten Druck zu. Im nächsten Schritt über- prüfte er den Text noch einmal, jetzt in gedruckter Form. Wenn der Zensor keine neuen Veränderungen für notwendig hielt, ließ er den Text zum Vertrieb und Verkauf zu. Abschließend wurde die so genannte „sekundäre Zensur“ eingesetzt, die die Pub- likationen betraf, die sich bereits im Handel befanden. Das Ziel dieser Zensur war es, die Arbeit des Zensurapparats zu kontrollieren. Infolge dieser „sekundären Zensur“ konnten Publikationen aufgrund der darin festgestellten „Fehler“ aus dem Verkauf komplett zurückgezogen werden.58 Der Zensor war eigentlich ein Mitverfasser einer Publikation.59 Obwohl die offiziell auf dem Medienmarkt existierenden Texte streng kontrolliert wurden, bedeutete das noch lange nicht, dass die Zensur in Polen allge- genwärtig war und dass sie nicht manches übersah bzw. manches nicht sehen wollte.60 Die Medien im kommunistischen Polen wurden in doppelter Weise durch die Partei gelenkt. Einerseits war ihre Berichterstattung – wie gerade erläutert – durch die Zensur kontrolliert, andererseits wurden die Medien als ein wichtiges Propaganda- instrument genutzt. Wie bei jeder Propaganda bestand auch bei jener in Polen ihre zentrale Aufgabe in der Manipulation.61 Auch in Polen war sie auf die Durchsetzung von Machtinteressen des politischen Systems in der Öffentlichkeit ausgerichtet und baute auf einer Ideologie auf.62 Die für die Propaganda typische Dichotomisierung63 und der Angstmechanismus64 waren auch für die Berichterstattung in der polnischen Presse kennzeichnend. So wurden beispielsweise zum Zweck der Propaganda die

54 Vgl. PACZKOWSKI, S. 29. 55 Vgl. SCHLIEP, S. 130. 56 Główny Urząd Kontroli Prasy, Publikacji i Widowisk (GUKPPiW). 57 Vgl. PACZKOWSKI, S. 26, 30. 58 Vgl. ROMEK, S. 37. 59 Vgl. PEPLIŃSKI, S. 17. 60 Vgl. BINGEN, Polnische Zeitgeschichte, S. 112. 61 Vgl. MERTEN, S. 151. 62 Vgl. K. ARNOLD, Propaganda, S. 78 f.; zu Definitionen der Propaganda in der polnischen Forschung vgl. MŁYNIEC, S. 84 f.; KULA, S. 16 ff. 63 Vgl. K. ARNOLD, Propaganda, S. 79. 64 Vgl. BONFADELLI, S. 81.

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Angst vor den Deutschen gepflegt und das Deutschlandbild stark instrumentalisiert. Dadurch konnte die Partei zum einen ihren Machtanspruch in Polen festigen und legitimieren. Zum anderen versuchte sie mit dem Feindbild Westdeutschland den Eindruck einer Bedrohung durch die Bundesrepublik zu erzeugen und dadurch eine stärkere Anbindung an die Sowjetunion zu rechtfertigen. Dass die kommunistische Partei in Polen mit dem Feindbild Westdeutschland gut arbeiten konnte, lag nicht zuletzt an den historischen Erfahrungen, die die polnische Gesellschaft in der Zeit der Teilungen und zweier Weltkriege machte.65 Je nach politischer Lage wurde die Zensurkontrolle in Polen stärker oder schwä- cher durchgesetzt. In Zeiten, in denen innerhalb der Partei eine gewisse Stabilität und Einigkeit vorherrschte, wurde die Kontrolle der Medien wirksam durchgesetzt.66 Etwas lockerer war sie dementsprechend in Krisenzeiten des politischen Systems in Polen, wie beispielsweise in den Jahren 1956/57 und 1980/81.67 Lubiński spricht sogar von „vorübergehendem Kontrollverlust über die Medien“ durch die Partei in den Jahren 1956 und 1980-1981.68 Mit der Machtübernahme von Gomułka im Jahre 1956 kam es zu einigen Veränderungen im Pressesystem der Volksrepublik Polen. Auf dem Pressemarkt erschienen neue Blätter. Im Vergleich zum Anfang der 1950er Jahre wurden mehr katholische Blätter herausgegeben. Darüber hinaus wurde bei- spielsweise nach drei Jahren Erscheinungsverbot die katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny wieder auf dem Pressemarkt zugelassen. Außerdem lässt sich feststellen, dass zu diesem Zeitpunkt die Berichterstattung aus dem Ausland zu- nahm.69 Sylwester Dziki spricht im Kontext solcher Veränderungen auch vom Tau- wetter auf dem polnischen Pressemarkt.70 Während Anfang 1957 von den Medien „nur“ erwartet wurde, dass sie sich nicht in innerparteiliche Angelegenheiten ein- mischten, sagte die Presseabteilung des Zentralkomitees der kommunistischen Partei schon ein paar Monate später der sich um die katholischen Blätter organisierenden Opposition den Kampf an.71 Genauso kurz dauerte die Zensurlockerung in den 1980er Jahren. Infolge der Stettiner und Danziger Abkommen von 1980 zwischen den Streikkomitees und der kommunistischen Regierung wurde unter anderem die Ein- schränkung der Zensur erreicht. Es wurde vereinbart, dass Presse, Radio und Fern- sehen verschiedene Meinungen zum Ausdruck bringen und einen möglichst breiten

65 Vgl. GARSZTECKI, Deutschlandbild, S. 2. 66 Vgl. BINGEN, Polnische Zeitgeschichte, S. 111. 67 Vgl. BINGEN, Propagandamedium, S. 91. Infolge des politischen Tauwetters in den 1950er Jahren lassen sich in der Volksrepublik Polen für Jerzy Wiatr Forderungen nach einer grö- ßeren Rolle der öffentlichen Meinung feststellen. Sie kommen beispielsweise im Erschei- nen der ersten Untersuchungen zur Bedeutung der Öffentlichkeit sowie in der Gründung des ersten Instituts für Meinungsforschung zum Ausdruck. Vgl. WIATR, S. 15 f. 68 LUBIŃSKI, S. 27. 69 Vgl. KOZIEŁ, S. 142. 70 Vgl. DZIKI, S. 52. 71 Vgl. KOZIEŁ, S. 143.

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Zugang zu Informationsquellen bekommen sollten.72 Infolge der Verhandlungen zwischen „Solidarność“ und der kommunistischen Regierung wurde im Jahr 1981 ein Gesetz verabschiedet, demzufolge der Eingriff der Zensur im Text kenntlich gemacht werden musste. Gegen die Entscheidungen des Zensurapparats durfte von nun an beim Hauptverwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny) geklagt werden. Aufgrund des bald eingeführten Kriegszustands galt dieses Gesetz allerdings nur 72 Tage und wurde in der Praxis kaum umgesetzt. Trotzdem stellte es einen Einschnitt in der Zensurgeschichte der Volksrepublik dar.73 Trotz des Informationsmonopols der Partei war die polnische Medienlandschaft in Zeiten des Kommunismus bis zu einem gewissen Grad differenziert. Bei der Be- schreibung der Pressegeschichte in der Volksrepublik Polen bedient sich Andrzej Paczkowski eines Modells von Michailo Stankovitsch, in dem zwischen dem System der „freien Presse“, der „kontrollierten Presse“ und der „gelenkten Presse“ unterschie- den wird.74 Das Quellenmaterial der vorliegenden Arbeit lässt sich nach diesem Mo- dell folgendermaßen kategorisieren: Zur „gelenkten Presse“ gehörten die Trybuna Ludu, die Polityka und die Rzeczpospolita. Ein Beispiel für die „kontrollierte Presse“ stellte die katholische Presse dar. Die Presse des „zweiten Umlaufs“, die illegal im Untergrund erschien und zur Kategorie der „freien Presse“ zählte, wird in der Unter- suchung nicht behandelt. Allerdings wird in der Arbeit dargelegt, dass sich die Exis- tenz der „freien Presse“ auf die Berichterstattung der „gelenkten“ und „kontrollierten“ Presse auswirkte. Die katholischen Blätter bildeten in Polen eine eigene Medienkategorie. Sie wur- den nicht nur in von der Partei unabhängigen Verlagen herausgegeben, sondern ver- suchten Werte zu vermitteln, die häufig im Gegensatz zu der von der Partei vertrete- nen Haltung standen.75 Dass in Polen Zeitungen und Zeitschriften legal erschienen, die die kommunistische Doktrin offen ablehnten, sei nach Leonid Luks eine Beson- derheit im ganzen Ostblock gewesen. Die von der Partei geduldeten katholischen Blätter seien weder Sprachrohr des Regimes noch des Episkopats gewesen und darin habe ihre Attraktivität für den Leser gelegen. Sie selbst bestimmten ihren Kurs bei der Behandlung verschiedener Themen.76 Obwohl die katholische Presse eine gewisse Unabhängigkeit genoss, konnte aber auch sie nicht offen über alles berichten. Ihre Sonderstellung bestand darin, dass sie nicht gezwungen war, die verlogenen Informa- tionen der Partei als Wahrheit bekannt zu geben.77 „Man kann nicht sagen, dass der Tygodnik das publizieren konnte, was er wollte. Er konnte sich aber weigern, das zu publizieren, was er nicht wollte“, schrieb in seinem Tagebuch Leopold Tyrmand, Schriftsteller und einer der Mitarbeiter des Tygodnik Powszechny.78 Dass sich die

72 Vgl. ebenda, S. 164. 73 Vgl. ROMEK, S. 33. 74 Vgl. PACZKOWSKI, S. 25, 29. 75 Vgl. GARSZTECKI, Deutschlandbild, S. 16; BINGEN, Polnische Zeitgeschichte, S. 115 f. 76 Vgl. LUKS, S. 67. 77 Vgl. ebenda, S. 68. 78 Zitiert nach ebenda.

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Redaktion des Tygodnik Powszechny einer Publikation verweigern konnte, bedeutete aber noch lange nicht, dass sie dafür keine Sanktionen zu befürchten hatte. So war es beispielsweise im Jahr 1953, als sie sich weigerte, den Nekrolog auf Josef Stalin abzudrucken. Sie bezahlte dafür mit einem Erscheinungsverbot, das erst 1956 aufge- hoben wurde.79 Die legale Existenz der katholischen Presse auf dem polnischen Markt war inso- fern von großer Bedeutung, als mit ihr das Informationsmonopol der Partei durchbro- chen wurde.80 Die katholische Presse stellte einen weltanschaulichen Gegenpol zur kommunistischen Presse dar und hatte damit „zwangsläufig belebende Wirkung auf das gesamte polnische Pressewesen“.81 Seit Mitte der 1970er Jahre war es die Presse des „zweiten Umlaufs“, die einen großen Beitrag zum Informationspluralismus auf dem Medienmarkt leistete. Ähnlich wie die katholische Presse stellte sie einen Ge- genpol zur kommunistischen Propaganda dar. Neben der katholischen Presse durch- brach auch sie das Meinungsmonopol der Partei, indem sie andere Denkmuster auf- zeigte und die Verlogenheit staatlicher Medien deutlich machte.82 Gewisse Differenzen wiesen auch kommunistische Zeitungen untereinander auf, was sich am Beispiel der Trybuna Ludu und der Polityka beobachten lässt. Obwohl es sich hier in beiden Fällen um kommunistische Blätter handelte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie sich nicht in dem Grad der Ideologiedurchsetzung, in der Sprache und dem Argumentationsmuster voneinander unterschieden. Die Trybuna Ludu hatte im kommunistischen Polen den Status einer führenden Tageszeitung, mit der kein an- deres Blatt polemisieren durfte.83 Sie war das Sprachrohr der Partei mit einer klaren propagandistischen Absicht. Die Wochenzeitung Polityka zielte dagegen darauf ab, die verschiedenen Kreise der Intelligenz zu erreichen.84 Sie bekam mehr Spielraum für Polemik bei der Behandlung heikler Themen, was unter anderem auf die Konkur- renz zu den katholischen Blättern zurückzuführen war.85 Die erste Ausgabe der Wo- chenzeitung Polityka erschien 1957.86 In den Jahren von 1958 bis 1981 war das Par- teimitglied und der späterere Prämierminister Mieczysław Rakowski ihr Chefredak- teur.87 Im ersten Jahr sei sie, wie Joanna Podgórska und Ewa Wilk betonen, eine „langweilige, marxistische“ Zeitung gewesen.88 Mit der Zeit verließen die Mitglieder

79 Vgl. das Kalendarium des Tygodnik Powszechny unter: http://www2.tygodnik.com.pl/ redakcja/kalendarium/45-55.php (Stand: 2.12.2011); LUKS, S. 69. 80 BINGEN, Polnische Zeitgeschichte, S. 115 f. 81 LUKS, S. 69. 82 Vgl. GARSZTECKI, Korrektive zu den Medien, S. 60 f. 83 Vgl. KOZIEŁ, S. 148. 84 Vgl. BINGEN, Polnische Zeitgeschichte, S. 113. 85 Vgl. LUKS, S. 69. 86 Vgl. JERZY BACZYŃSKI: Polityka 40 lat [40 Jahre Politika], in: Polityka vom 1.03.1997. 87 Vgl. MIECZYSŁAW F. RAKOWSKI: Europa nie zaczeka [Europa wartet nicht], in: Polityka vom 1.03.1997. 88 JOANNA PODGÓRSKA, EWA WILK: Raport wewnętrzny [Interner Bericht], in: Polityka vom 8.03.1997.

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der Partei die Redaktion und an ihre Stelle traten junge Autoren wie beispielsweise Daniel Passent, Marian Turski, Dariusz Fikus, Andrzej Krzysztof Wróblewski und Ryszard Kapuściński.89 Die Polityka entwickelte sich zu einer meinungsbildenden Zeitung und zu der „liberalsten Zeitschrift von der Elbe bis Wladiwostok“90. Sie wurde von den polnischen Oppositionellen und Intellektuellen gelesen.91 Der frühere Dissident Adam Michnik soll über die Polityka gesagt haben, sie sei in der Volks- republik Polen „eine Art Asyl für einen unabhängig denkenden Leser“ gewesen.92 Viele frühere Redakteure der Polityka wirkten nach der Wende von 1989 bei der Ent- stehung neuer Blätter bzw. ihrer Transformation mit. So beispielsweise der spätere stellvertretende Chefredakteur der Gazeta Wyborcza Ernest Skalski, der bei der Polityka in den Jahren 1978-1981 tätig war.93 Auch der langjährige Chefredakteur der Rzeczpospolita, Dariusz Fikus, prägte das Profil der Polityka über mehrere Jahre hin- durch mit.94 Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus kam es in Polen nicht nur zur De- mokratisierung des politischen Systems, sondern auch zur Demonopolisierung der Medien. So bestimmte der Sejm im März 1990 die Auflösung der Verlegergenossen- schaft RSW „Prasa“. Einen Monat später, am 11. April, beschloss er zudem einstim- mig die Aufhebung der Zensur. Die letzte Ausgabe der Parteizeitung Trybuna Ludu erschien am 28. Januar 1990.95 Ihre ideologische Fortsetzung fand sie in der neu ge- gründeten Tageszeitung Trybuna.96 Die Wochenzeitung Polityka und die Rzeczpos- polita überstanden die Transformationsprozesse gut und wurden zu wichtigen mei- nungsbildenden Blättern im demokratischen Polen. Die Rzeczpospolita entwickelte sich von einer kommunistischen Regierungszeitung zu einer liberal-konservativen und der zweitgrößten überregionalen polnischen Tageszeitung. Häufig wird sie mit der deutschen FAZ verglichen.97

89 Vgl. ebenda. 90 BACZYŃSKI (wie Kap. 2, Anm. 86), S. 3. 91 Vgl. KAROL MODZELEWSKI: Azyl w PRL [Asyl in der VR Polen], in: Polityka vom 15.03. 1997. 92 Zitiert nach ebenda, S. 61. 93 Vgl. ERNEST SKALSKI: Wybór większego zła [Wahl des größeren Übels], in: Polityka vom 1.03.1997. 94 Vgl. STEFAN BARTKOWSKI: O co chodziło Darkowi [Worum es Darek ging], in: Rzeczpos- polita vom 9.03.1996; ANDRZEJ SZAFRAŃSKI, MICHAŁ MAJEWSKI: Rok pod prasą [Ein Jahr bei der Presse], in: Rzeczpospolita vom 31.12.1996. 95 Vgl. KOZIEŁ, S. 171. 96 Vgl. FILAS, S. 52; vgl. auch BAJKA, S. 56. 97 Vgl. Internetseite der Deutsch-Polnischen Medientage unter: http://www.medientage.org/ a134,rzeczpospolita.html (Stand: 2.12.2011).

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3 Konstituierung des Bundes der Vertriebenen

3.1 Der Weg zur Gründung

Die deutschen Vertriebenen durften sich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des Koalitionsverbots der Besatzungsmächte nicht in Verbänden zusammenschließen. Die Gründe hierfür lagen in der Angst der Alliierten, die Vertriebenen könnten für Unru- hen sorgen, die Radikalisierung der deutschen Bevölkerung verursachen und den deutschen Nationalismus wiederaufleben lassen.1 Mit dem Beginn des Kalten Krieges änderte sich die Situation. Zum einen lenkten die Westalliierten ihre Aufmerksamkeit viel stärker auf den Ost-West-Konflikt als auf die Kontrolle der Organisierung der Vertriebenen.2 Zum anderen ließen sie die Entstehung der Vertriebenenverbände zu, weil sie nicht mehr scheuten, „die osteuropäischen Staaten […] zu provozieren“.3 Insofern begünstigte die politische Auseinandersetzung zwischen den West- und Ost- blockstaaten die Konstituierung der Vertriebenenorganisationen. Im Jahre 1949 wur- de der Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD) gegründet, in dem die Ver- triebenen nach ihrem neuen Wohnort in Westdeutschland organisiert waren. Parallel zur Gründung des ZvD (seit 1954 Bund der vertriebenen Deutschen, BvD) schlossen sich im gleichen Jahr die Landsmannschaften zu den Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL) zusammen, welche später in Verband der Landsmannschaf- ten (VdL) umbenannt wurden. Hier waren die Vertriebenen nach den Herkunftsregio- nen organisiert.4 Den beiden Dachverbänden wurden unterschiedliche Aufgabenberei- che zugeteilt. Der ZvD sollte sich um die Wirtschafts- und Sozialpolitik kümmern. In seinem Aufgabenbereich lagen vor allem Entschädigungs- und Wiedergutmachungs- fragen, also Tätigkeiten im innenpolitischen Sektor. Die Landsmannschaften sollten für die Heimat- und Kulturpolitik zuständig sein und sich stärker in die Ostpolitik der Bundesregierung einschalten.5 Durch persönliche Rivalitäten auf der Führungsebene und Konkurrenzen zwischen den einzelnen Vertriebenenverbänden wurde die Gründung eines Dachverbandes im-

1 Vgl. BRÜES, S. 18; SALZBORN, Grenzenlose Heimat, S. 52; WEISS, S. 193. 2 Vgl. SALZBORN, Heimatrecht, S. 17. 3 WEISS, S. 196. 4 Vgl. SALZBORN, Heimatrecht, S. 19; vgl. auch: Das Organisationswesen der deutschen Heimatvertriebenen, in: DOD vom 18.12.1998, S. 9-10. 5 Vgl. BOEHM, S. 535.

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mer wieder verhindert.6 „Die Geschichte der Einheit der Vertriebenen ist mühselig und langwierig“, hieß es in der Vertriebenen-Korrespondenz (VK) noch vor der Ent- stehung des BdV.7 Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass die Gespräche über die Einigung der Vertriebenenverbände in der Öffentlichkeit mit Pessimismus beobachtet wurden: „Die jahrelangen vergeblichen Bemühungen der Vertriebenenverbände um die Schaffung eines Einheitsverbandes haben in der Öffentlichkeit ihren Niederschlag in einer sehr pessimistischen Beurteilung der laufenden Einigungsgespräche gefun- den.“8 Trotz des langen Weges beschlossen Vertreter verschiedener Vertriebenenver- bände am 27. Oktober 1957 die Gründung des Bundes der Vertriebenen. Dass es sich 1957 noch lange nicht um einen von Rivalitäten befreiten „Einheitsverband“9 handel- te, ließ sich noch ein Jahr lang daran erkennen, dass der BdV zwei gleichberechtigte Vorsitzende hatte: Georg Baron Manteuffel-Szoege kam vom Verband der Lands- mannschaften (VdL) und vertrat den Bund der vertriebenen Deutschen (BvD). Erst in der Sitzung am 14. Dezember 1958 konstituierte sich der BdV endgül- tig, indem anstelle von zwei Vorsitzenden ein Präsident gewählt wurde. Der BvD und der VdL lösten sich allerdings nicht mit der Entstehung des BdV auf, sondern erst im Juli 1959.10 Nach der Gründung des Dachverbandes schrieb der Chefredakteur der Vertriebenen-Korrespondenz Clemens J. Neumann: „Nun haben wir den Bund. Den ersehnten Bund der 2,5 Millionen. Den Bund, der auch die Schwachen, der auch die Vertriebenen mächtig macht. Es ist lange und hart um ihn ge- kämpft worden. Es gab Verluste, auf beiden Seiten. [...] Aber nachdem das Neue geboren ist, sollten wir uns freuen und allen Hader vergessen; sollten nicht wägen und rechten, wer mehr oder weniger dazu beigetragen, wer verloren oder gewonnen hat, sollten nicht zu- rückblicken sondern voran; [...]. Der Bund kann es sich nicht leisten, weitere Kräfte im Or- ganisationsstreit zu verzehren!“11 Die Führung des Verbandes war nicht nur aufgrund interner Rivalitäten schwer, sondern auch wegen der breit angelegten Verbandsziele. Die zentralen Aufgaben des Bundes der Vertriebenen wurden in seiner Satzung festgeschrieben. Erstens sollte er sich „für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes, des Rechtes auf die an- gestammte Heimat, der allgemeinen Menschenrechte und für eine gerechte Ordnung zwischen den Staaten und Völkern Europas“ einsetzen. In den nächsten Punkten sah er seine Pflicht darin, „die ihrer Heimat beraubten Deutschen sozial und wirtschaftlich zu fördern; ihre Rechte im Rahmen der Gesetze, auch vor Gerichten, zu vertreten“ und „ihre Forderungen gegenüber Regierung, gesetzgebenden Körperschaften und der Öffentlichkeit in allen Angelegenheiten zu vertreten, die mit dem Verlust der Heimat zusammenhängen“. Schließlich machte er zu einer seiner Aufgaben, „das heimatliche Kulturgut zu erhalten, zu pflegen und zu fördern, sowie die Kenntnis von den Hei-

6 Vgl. ebenda, S. 600. 7 Der Weg zur Einheit, in: VK vom 22.10.1957, S. 7. 8 Pressestimmen zu den Einigungsverhandlungen, in: VK vom 22.10.1957, S. 8. 9 Ebenda. 10 Vgl. SALZBORN, Heimatrecht, S. 24 f. 11 CLEMENS J. NEUMANN: Der Bund der Vertriebenen, in: VK vom 22.12.1958, S. 1.

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matgebieten zu vertiefen und zu verbreiten“12. An der Satzung kann man erkennen, wie breit der BdV seinen Tätigkeitsbereich anlegte – von der sozialen und wirtschaft- lichen Hilfestellung für die Vertriebenen, ihrer rechtlichen, politischen und öffent- lichen Vertretung, der Pflege der ostdeutschen Kultur bis hin zum Kampf um Ge- rechtigkeit, Menschenrechte, „Selbstbestimmungsrecht“ und das „Recht auf die Hei- mat“. Bei der Analyse der Selbst- und Fremddarstellung des BdV wird gezeigt, dass gerade diese breit angelegten Aufgabenfelder dem Verband halfen, seit dem Ende der 1950er Jahre bis heute zu überleben. Der Zentralisierung der Vertriebenenverbände unter einem Dachverband „Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände“ folgte die Gründung des zentralen Informationsdienstes in Form des Deutschen Ostdienstes (DOD). Diese Verbandszeitung entstand aus der Verschmelzung von zwei anderen Informationsblättern – aus der Vertriebenen-Korrespondenz (Informationsblatt des früheren ZvD/BvD) und den VdL-Informationen (Informationsblatt der früheren VdL). Was den Inhalt und die neue Redaktion betraf, stellte der DOD eine Fortset- zung der Vertriebenen-Korrespondenz dar. Der erste Chefredakteur war Clemens J. Neumann, der frühere Chefredakteur der Vertriebenen-Korrespondenz.13 Der DOD wurde als „das zentrale und repräsentative Informationsorgan des Bundes der Vertrie- benen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände“14 bezeichnet und sollte „zur Bedienung der Mitglieder und der Öffentlichkeit“15 herausgegeben werden. In seiner Gründung sah das BdV-Präsidium einen „Schritt zur Sicherstellung einer ein- heitlichen Information und Meinungsbildung im Rahmen des Gesamtverbandes“.16 Der DOD stellte „das Spiegelbild der Politik des Verbandes in der allgemeinen Öf- fentlichkeit“17 dar und war somit eine wichtige Informationsquelle für die politische Tätigkeit des BdV. Der ursprünglich wöchentlich, später alle zwei Wochen und jetzt monatlich erscheinende DOD sollte in den 1990er Jahren vor allem „Sachinforma- tion“ liefern und damit der „Gefahr der Geschichtsumdeutung durch Nichtwissen“ entgegenwirken.18 Die Aufgaben der DOD-Redaktion fasste der Chefredakteur Wal- ter Stratmann im Jahre 1998 folgendermaßen zusammen: „Es war immer und es wird auch künftig die Aufgabe des Chefredakteurs und der Redaktionsmitglieder des DOD sein, Vertriebenenpolitik zu begleiten und zu dokumentieren, die verschiedenen Strö- mungen im Verband zu registrieren und dann die verbindliche Meinung des BdV zum Ausdruck zu bringen.“19 Mit dem DOD enstand in den 1950er Jahren ein Medium,

12 Rede des Präsidenten (wie Kap. 1, Anm. 3), S. 15. 13 Vgl. STICKLER, S. 173; zur Presse der Vertriebenenverbände vgl. auch: GAIDA; KURTH, Text in: Aus Trümmern wurden Fundamente, S. 379-388. 14 An unsere Bezieher, in: DOD vom 27.02.1961, S. 11. 15 O.T., in: DOD vom 3.08.1959, S. 1. 16 Ebenda. 17 Aktive Pressepolitik, in: DOD vom 5.03.1962, S. 8. 18 WALTER STRATMANN: Ein Rückblick auf die Anfänge der zentralen Vertriebenenpublizis- tik, in: DOD vom 9.01.1998, S. 2. 19 Ebenda.

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das die Arbeit des Vertriebenenverbandes dokumentierte und der Öffentlichkeit dar- stellte.

3.2 Das Presseecho auf den Zusammenschluss der Vertriebenenverbände

„Die westdeutsche Presse und der Rundfunk haben über die Gründung des Einheitsverban- des in Berlin mit lebhaftem Interesse berichtet. Dem feierlichen Gründungsakt im Schöne- berger Rathaus wohnte eine stattliche Anzahl von Vertretern namhafter Zeitungen und Agenturen bei. Das Fernsehen nahm einige Szenen auf. Der Tenor der Kommentare zu die- sem Ereignis ist durchweg wohlwollend, Mißtrauen oder gar Ablehnung fehlen völlig.“20 Diese in der Vertriebenen-Korrespondenz zusammengefassten Reaktionen der west- deutschen Medien auf die Entstehung des BdV zeigen, dass sie in der Bundesrepublik positiv eingeschätzt wurde. In der Verbandszeitung wurde darauf hingewiesen, dass die westdeutsche Presse „die Verstärkung des politischen Potentials der Vertriebenen durch einen geschlossenen Verband mit nunmehr 2,5 Millionen Mitgliedern“ beton- te.21 Dass in der massenmedialen Berichterstattung auf die politische Bedeutung des BdV aufmerksam gemacht wurde, verwundert nicht. Der BdV konstituierte sich näm- lich im Jahre 1957, als der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) im nicht mehr vertreten war.22 Das erzeugte Vermutungen, der BdV sei als Fortsetzung der politisch gescheiterten Vertriebenenpartei entstanden. Dies brachte beispielsweise die FAZ zum Ausdruck, indem sie sich die politische Zusammen- setzung des BdV-Präsidiums näher anschaute: „Parteipolitisch betrachtet, dominiert im engeren Präsidium der BHE mit drei Repräsentan- ten (Gossing, Mocker, Schellhaus), während dem Vorstand von den beiden großen Parteien nur je ein Mitglied (Krüger CDU, Jaksch SPD) angehört. Daß gewisse Kreise des BHE da- nach trachten, den neuen Dachverband zu einem verlängerten Arm ihrer im Bundestag nicht mehr vertretenen Partei zu machen, ist ein offenes Geheimnis.“23 Über die Gründung des Verbandes im Jahre 1957 und seine endgültige Konstituie- rung 1958 berichtete die FAZ umfassend. In den Kommentaren von 1957 wurde darauf hingewiesen, dass der Bund der Vertriebenen aus dem Zusammenschluss des Bundes der vertriebenen Deutschen mit dem Verband der Landsmannschaften ent- standen war und rund 2,8 Millionen Mitglieder umfasste.24 Auf die Größe des Ge- samtverbandes ging die FAZ auch 1958 ein. Das Blatt wies darauf hin, dass „mit etwa zwei Millionen Mitgliedern […] der neue Verband eine der stärksten Interessengrup- pen in der Bundesrepublik“ darstelle und dass keine politische Partei so viele Mit-

20 Erstes Presse und Rundfunkecho. Zur Konstituierung des Bundes der Vertriebenen, in: VK vom 22.12.1958, S. 7. 21 Ebenda. 22 Vgl. STICKLER, S. 280 f. 23 EBERHARD BITZER: Heimatvertriebene unter einem Dach, in: FAZ vom 15.12.1958. 24 Vgl. Bund der Vertriebenen. Die Vereinigung vollzogen, in: FAZ vom 28.10.1957.

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glieder wie der BdV zähle.25 Damit deutete das Frankfurter Blatt auf jenes „politische Potential der Vertriebenen“26 des Dachverbandes hin, was der BdV selbst immer wie- der in der Öffentlichkeit betonte. Interessant ist an dieser Stelle, dass die Zahlenan- gaben von 1957 und 1958 unterschiedlich waren. Daraus lässt sich schließen, dass mit den Zahlangaben vor allem die Größe des Verbandes betont werden sollte, wovon wiederum seine politische Bedeutung abgeleitet wurde. Nicht nur über die politische Bedeutung des neuen Vertriebenenverbandes be- richtete die FAZ, sondern auch über den langen Weg zur Entstehung des BdV. Im Jahre 1958 beschäftigte sich die Tageszeitung gleich in zwei Beiträgen in der gleichen Ausgabe mit dem Zusammenschluss der Vertriebenenverbände unter einem Dach und das auf der ersten und zweiten Seite.27 Darin wurde darauf hingewiesen, dass der BdV-Präsident Hans Krüger mit seiner Bedachtsamkeit gute Voraussetzungen für das neue Amt mitbrachte.28 Über die Rivalitäten zwischen den Verbänden, die die Grün- dung des Zentralverbandes jahrelang verhindert hatten, berichtete die FAZ folgender- maßen: „Mehr als zehn Jahre haben verschiedene Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik ne- ben- und bisweilen gegeneinander gearbeitet. Seit gestern gibt es nun einen einheitlichen Dachverband, den ,Bund der Vertriebenen‘, der aus dem ,Verband der Landsmannschaften‘ (VdL) und dem ,Bund vertriebener Deutschen‘ (BvD) hervorgegangen ist. Es mutet fast wie ein Wunder an, daß der Zusammenschluß in letzter Minute doch noch geglückt ist.“29 In der FAZ stieß die Entstehung des BdV auf positive Reaktion. In der Berichter- stattung wurde vieles von der Selbstdarstellung des Verbandes wiedergegeben. So war beispielsweise die Rede von einem „Einheitsverband“, der sich gemäß seiner Sat- zung überparteilich und überkonfessionell verstand.30 Die FAZ ging auch auf die Warnung des BdV-Präsidenten ein, der neue Vertriebenenverband lasse sich nicht „in einem Vertriebenenghetto“ abstellen.31 Darüber hinaus wurde der BdV als ein politi- scher Verband dargestellt, der für die deutschen Vertriebenen „Recht auf Heimat“ forderte und dieses Ziel ausschließlich mit friedlichen Mitteln verwirklichen wollte.32 Das Blatt thematisierte den BdV hauptsächlich als einen politischen Akteur, indem es nicht nur auf das politische Profil des BdV-Präsidiums, sondern auch auf die große Anzahl der BdV-Mitglieder hinwies und davon die politische Bedeutung des Ver- bandes ableitete. Der BdV wurde als eine starke Interessengruppe dargestellt, die auf politischer Bühne berücksichtigt werden sollte. Insofern wurde die Selbstdarstellung des BdV nicht nur in der Fremddarstellung aufgegriffen, sondern dem Selbstbild des

25 BITZER (wie Kap. 3, Anm. 23). 26 Erstes Presse und Rundfunkecho (wie Kap. 3, Anm. 20), S. 7. 27 Vgl. BITZER (wie Kap. 3, Anm. 23); Spannungen in der Berliner Sitzung der Vertriebenen, in: FAZ vom 15.12.1958. 28 Vgl. BITZER (wie Kap. 3, Anm. 23). 29 Ebenda. 30 Bund der Vertriebenen (wie Kap. 3, Anm. 24). 31 Spannungen in der Berliner Sitzung (wie Kap. 3, Anm. 27). 32 Vgl. ebenda.

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BdV als einem politisch starken Verband wurde auch auf massenmedialer Ebene bei- gepflichtet. Während die FAZ über die Gründung des BdV umfassend berichtete, stieß der Zusammenschluss der Vertriebenenverbände dagegen in der Zeit und im Spiegel auf kein Interesse. Auch in Polen wurde die Konstituierung des BdV in den Wochenzeitungen Tygodnik Powszechny und Polityka nicht thematisiert. Viel Aufmerksamkeit schenkte diesem Thema allerdings die Parteizeitung Trybuna Ludu. Im Oktober 1957 war – der Propaganda entsprechend – von einer „Konzentration revisionistischer Kräfte“ die Rede.33 Diese Konzentration habe sich – wie Marian Podkowiński, der Autor des Artikels, betonte – „unauffällig“ und „ohne großen Lärm“ vollzogen, worauf die Ver- triebenenverbände abgezielt hätten.34 Podkowiński ging auch auf die langen Verhand- lungen und Rivalitäten zwischen dem VdL und dem BvD ein. Die Namen der Ver- bände wurden in seinem Artikel allerdings entweder verwechselt oder falsch zitiert. So wurde beispielsweise der BdV zwar gemäß der kommunistischen Diktion als „Bund der Umsiedler“ (Związek Przesiedleńców) bezeichnet, gleichzeitig aber wurde sein Name mit GdV anstatt BdV abgekürzt. Der Bund der vertriebenen Deutschen (BvD) wurde als „Bund der ausgesiedelten Deutschen“ (Związek Wysiedlonych Niemców) übersetzt und falsch mit BdV abgekürzt. Durch die „Fusion“ der Vertrie- benenverbände sei Podkowiński zufolge „die Kontrolle über ca. 2,8 Millionen Um- siedler […] in die Hände verdienter Revisionisten wie Linus Kather und Baron Man- teuffel-Schoege“ abgegeben worden.35 An dieser Stelle fällt auf, dass die Mitglieder- zahl des BdV der falschen Zahlenangabe in der FAZ entsprach.36 Ähnlich wie in dem Frankfurter Blatt wurde die Konstituierung des Vertriebenenverbandes in der Trybuna Ludu mit der politischen Niederlage der Vertriebenenpartei BHE in Verbindung ge- setzt. Doch die Parteizeitung wies noch stärker auf die politische Bedeutung des BdV hin als die FAZ. Podkowiński betonte, dass es „die Kreise der CDU“ gewesen seien, die die Vertriebenenverbände zur Bildung einer „einheitlichen politischen Linie“ in einem zentralen Verband ermutigten und dabei unterstützten.37 Damit machte er klar, dass die politische Bedeutung des neuen Dachverbandes nicht nur auf seiner Mitglie- derzahl, sondern auch auf der Unterstützung der Regierungspartei basierte. Die endgültige Konstituierung des BdV im Jahr 1958 wurde in der Parteizeitung ebenfalls kommentiert, allerdings nicht so ausführlich wie 1957. Der Grund dafür lag vermutlich darin, dass zu diesem Zeitpunkt das vierzigste Jubiläum der Entstehung der Kommunistischen Partei Polens (KPP) begangen wurde und die Trybuna Ludu sich in erster Linie auf diesen Jahrestag konzentrierte. Während die Parteizeitung und

33 Vgl. MARIAN PODKOWIŃSKI: Koncentracja sił rewizjonistycznych w NRF [Konzentration revisionistischer Kräfte in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 28.10.1957. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 In der Vertriebenen-Korrespondenz war die Rede von 2,5 Millionen Mitgliedern des BdV, vgl. NEUMANN (wie Kap. 3, Anm. 11). In der FAZ wurde dagegen die Anzahl der BdV- Mitglieder auf 2,8 Millionen erhöht, vgl. Bund der Vertriebenen (wie Kap. 3, Anm. 24). 37 PODKOWIŃSKI, Koncentracja sił rewizjonistycznych w NRF (wie Kap. 3, Anm. 33).

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die FAZ über die Konstituierung des BdV im Jahre 1957 am gleichen Tag (am 28. Oktober 1957) berichteten, also einen Tag nach der Konstituierung am 27. Oktober 1957, wurde über die Gründung des BdV am 14. Dezember 1958 mit einer Verspä- tung von vier Tagen berichtet. In dem Artikel vom 18. Dezember 1958 waren in der Trybuna Ludu kaum andere Informationen zum BdV enthalten als die, die bereits im Jahr 1957 veröffentlicht worden waren. Sogar die Schlagzeilen waren fast identisch: Im Jahre 1957 war die Rede von der „Konzentration revisionistischer Kräfte“ und im Jahre 1958 von der „Konzentration revanchistischer Kräfte“.38 Der Name des BdV wurde nicht erwähnt, dafür aber der Name seines ersten Präsidenten Hans Krüger. Auch einige andere Vertriebenenfunktionäre wie beispielsweise und Erich Schellhaus wurden namentlich genannt. Im Gegensatz zum vorherigen Jahr wurden allerdings jetzt die Dachverbände, aus denen der BdV hervorging, richtig be- zeichnet – der Bund der vertriebenen Deutschen als BvD und nicht mehr als BdV abgekürzt. Die einzig neue Information, die die Trybuna Ludu 1958 verzeichnete, war der Wunsch des BdV, seine „Zentrale“ zwar in Bonn zu erhalten, aber auch eine „Filiale“ in Berlin zu gründen.39 Mit dieser Nachricht sollte vermutlich der Eindruck erzeugt werden, dass die „Revanchisten“ und „Revisionisten“40 immer näher an den Osten rücken wollten. Das wiederum zielte darauf ab, bei dem polnischen Leser die Assoziation mit dem deutschen „Drang nach Osten“ zu erwecken und somit den Zu- sammenschluss der Vertriebenenverbände als eine Gefahr für Polen darzustellen. An der hier als Beispiel aufgeführten Berichterstattung der FAZ und der Trybuna Ludu über die Gründung des BdV kann man sehen, wie stark die unterschiedliche Funktion der Medien sowie die Beschaffenheit der politischen Systeme in der Bun- desrepublik und in der Volksrepublik Polen die mediale Darstellung des BdV be- stimmten. Obwohl manche BdV-Bilder übereinstimmten, wie beispielsweise der Ver- weis auf die Mitgliederzahl des BdV oder seine politische Bedeutung, wurden sie in beiden Ländern auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert. Wie sich diese Inter- pretationsmuster im Laufe der kommenden Jahre änderten, wird in dem folgenden Hauptteil der Arbeit genauer untersucht.

38 DERS.: Koncentracja sił odwetowych [Konzentration revanchistischer Kräfte], in: Trybuna Ludu vom 18.12.1958. 39 Ebenda. 40 Die deutschen Vertriebenen wurden von der kommunistischen Propaganda in der Volksre- publik Polen als „Revanchisten“ und „Revisionisten“ bezeichnet. Die Verwendung dieser Begriffe hatte zum Ziel, in Polen an die von den Vertriebenenverbänden angestrebte Revi- sion der Nachkriegsordnung zu erinnern und die westdeutschen Rechtsansprüche auf die Oder-Neiße-Gebiete zum Ausdruck zu bringen. Zum Gebrauch der Begriffe vgl. SALZ- BORN, Grenzenlose Heimat, S. 79 f.; LOTZ, S. 244 f.

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4 Erste Phase: 1957-1970

4.1 Der Bund der Vertriebenen bis zur ersten Hälfte der 1960er Jahre

4.1.1 „Aufklärungsfeldzug“ einer „politischen Kraft“ Der Bund der Vertriebenen1 konstituierte sich als ein politischer Interessenverband und Vertreter der deutschen Vertriebenen in Politik und Öffentlichkeit. Die politische und öffentliche Repräsentanz wurde bereits in der Satzung des BdV festgeschrieben. Darin verpflichtete er sich, die Forderungen der Vertriebenen „gegenüber Regierung, gesetzgebenden Körperschaften und der Öffentlichkeit in allen Angelegenheiten zu vertreten, die mit dem Verlust der Heimat zusammenhängen“2. Politik und Öffentlich- keit stellten also von Anfang an zwei zentrale Einflussbereiche des BdV dar. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Vertriebenenverband in keiner besonderen Weise von allen anderen Interessengruppen, deren Adressaten zum einen die politischen Parteien und zum anderen die öffentliche Meinung sind. Diese beiden Adressaten machen es einem Verband möglich, auf politische Entscheidungsträger, wie die Bundesregierung und den Bundesrat, Einfluss zu nehmen.3 Der Gedanke der Repräsentation zielt nach Manfred Max Wambach darauf ab, das Verhältnis von tatsächlichen und potenziellen Mitgliedern zu lösen. In Bezug auf die Vertriebenenverbände hatte das zur Folge, dass ihre Vorsitzenden nicht nur für die Verbandsmitglieder, sondern auch für die anderen Bevölkerungsgruppen sprachen.4 Das kann man sehr gut am Beispiel des BdV nachvollziehen. Der Dachverband sprach nicht nur im Namen seiner Mitglieder, sondern auch im Namen aller, also auch der nichtorganisierten Vertriebenen. Darüber hinaus glaubte er, nicht nur die Interes- sen der Vertriebenengruppe, sondern auch die Interessen des ganzen deutschen Vol- kes zu vertreten. Um eine Differenzierung bemühten sich auch die zu Verallgemeine- rungen und Vereinfachungen tendierenden Massenmedien nicht. Häufig sprachen sie

1 Unter „Bund der Vertriebenen“ wird im Folgenden ein Kollektiv von Personen verstanden, von dem der Verband geleitetet und nach außen repräsentiert wird. Damit sind das BdV- Präsidium und die BdV-Bundesversammlung gemeint, die die Verbandspolitik und die Verbandsarbeit bestimmen. Sie und ihre Entscheidungen werden unter dem Begriff „Bund der Vertriebenen“ zusammengefasst. Vgl. auch Kapitel 1.2 in dieser Arbeit. 2 Rede des Präsidenten (wie Kap. 1, Anm. 3), S. 15. 3 Vgl. ALEMANN, S. 174. 4 Vgl. WAMBACH, S. 58.

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von den Vertriebenen und meinten in Wirklichkeit die Vertriebenenverbände. All das trug dazu bei, dass der Begriff „Vertriebene“ nach Einschätzung von Eva und Hans Henning Hahn in großen Teilen der deutschen Gesellschaft heute negativ besetzt sei. Wenn von Flüchtlingen und Vertriebenen gesprochen werde, denken die meisten Deutschen nur an diejenigen Vertriebenen, die von den Vertriebenenverbänden reprä- sentiert werden.5 Die Präsenz des BdV war in der westdeutschen Öffentlichkeit vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er immer wieder versuchte, die öffentliche Meinung von seiner politischen Bedeutung zu überzeugen. Den Ausgangspunkt für eine lange Argumen- tationskette, innerhalb derer er sich selbst als politisch bedeutsamen Verband darstell- te, bildete in erster Linie der häufige Verweis auf die Größe der Vertriebenengemein- schaft, die der BdV in Politik und Öffentlichkeit vertrat. Seine politische Bedeutung maß der Dachverband also zunächst an der Anzahl seiner Mitglieder und der zu ver- tretenden Vertriebenen. Besonders deutlich wurde das vom BdV-Präsidium 1959 ausgedrückt: „Nach langen Bemühungen ist das Werk der Einigung der deutschen Vertriebenenbewe- gung gelungen. Am 14. Dezember 1958 haben wir in Berlin den Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände – geschaffen. Er ist die Repräsentanz der 10 Millionen Vertriebenen in der Bundesrepublik! [...] Mit zweieinhalb Millionen Mitgliedern und über 10 000 Ortsverbänden wird der Bund der Vertriebenen an Stärke und Gewicht nur noch durch den Deutschen Gewerkschaftsbund übertroffen. Unsere große Ge- samtorganisation ringt nunmehr um ihren Platz im staatspolitischen Gefüge der Bundesre- publik.“6 Es fällt hier auf, dass das Präsidium in seinem Aufruf einen Vergleich zwischen dem BdV und den Gewerkschaften zieht und damit auf die Stärke des BdV als einer Protest- und Interessengruppe aufmerksam zu machen versucht.7 Auch zwei Jahre später kann man im Argumentationsmuster des BdV den Verweis auf seine Größe finden. In seiner Rede vom 11. Mai 1961 berief sich Hans Krüger erneut auf hohe Mitgliederzahlen und begründete damit die politische Stärke seines Verbandes: „Die große Zahl der Mitglieder und der hinter ihnen stehenden Familien macht allenthal- ben deutlich, daß hier eine politische Kraft entstanden ist, die überdies allein legitimiert ist, für alle Vertriebenen zu sprechen, und die sowohl im innen- wie außenpolitischen Raum heute nicht mehr übersehen werden kann. Der Verband steht – gemessen an Mitglieder- zahlen, Organisation und Wirkungsmöglichkeit – im vorparlamentarischen Raum mit an erster Stelle.“8

5 Vgl. HAHN/HAHN, Flucht und Vertreibung, S. 337 f. 6 Für Heimat und Zukunft. Aufruf des Bundes der Vertriebenen – Vereinigte Landsmann- schaften und Landesverbände, in: VK vom 7.03.1959, S. 18. 7 Zu Vertriebenenverbänden als „innenpolitische Pressure-group“ vgl. SALZBORN, Grenzen- lose Heimat, S. 65 ff. 8 HANS KRÜGER: Der Bund der Vertriebenen im vorparlamentarischen Raum. Rede anläss- lich der Arbeitstagung führender Mitarbeiter des BdV in Würzburg am 11. Mai 1961, in: Dokumentation. Beilage zum DOD vom 22.05.1961, S. 2.

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Krüger sprach hier von einer „politischer Kraft“, die der BdV seiner Meinung nach in der Bundesrepublik darstellte und aufgrund derer der Verband politisch ernst genommen werden sollte. Wenn man dieses Zitat mit dem vorherigen vergleicht, fällt auf, dass das politische Selbstbewusstsein des BdV deutlich stieg. Während das BdV- Präsidium 1959 darüber sprach, dass der BdV noch um den Platz in der Politik ringe, behauptete Hans Krüger zwei Jahre später, dass der Verband diesen Platz schon ein- genommen habe. Darüber hinaus erhob er für seinen Verband Anspruch auf Allein- vertretung der Vertriebenen in der Politik. Die Selbstdarstellung des BdV zielte zu diesem Zeitpunkt darauf ab, sich als zentraler und einziger Vermittler zwischen Poli- tik und Öffentlichkeit auf der einen Seite und der Vertriebenengruppe auf der anderen Seite zu präsentieren. Als Alleinvertreter der deutschen Vertriebenen erhob der BdV den Anspruch auf die Mitwirkung bei der Ostpolitik der Bundesregierung. Dieser Forderung kam bei- spielsweise auf dem SPD Parteitag in Karlsruhe im Jahre 1964 Willy Brandt nach, in- dem er den Vertriebenenpolitikern versicherte, dass seine Partei „keine Politik hinter ihrem Rücken“ machen wolle.9 Der BdV-Präsident Hans Krüger begründete den An- spruch auf die Mitgestaltung der Ostpolitik durch seinen Verband mit der Tatsache, dass niemand so gut wie die deutschen Vertriebenen die Mentalität der osteuro- päischen Völker kenne: „Das Gespür des ostdeutschen Menschen für die Mentalität der Völker im slawischen Ost- raum, insbesondere auch für die bolschewistische Abart und Entartung dieser Mentalität, ist dank der eigentümlich geprägten seelisch-gesellschaftlichen Verfassung, dank der jahr- hundertelangen Berührung der ostdeutschen Menschen mit den slawischen Völkern, dank der Grenzlanderfahrung und nicht zuletzt infolge des elementaren Erlebnisses der Vertrei- bung ungewöhnlich hoch entwickelt und wachsam. [...] In den Expertisen ostdeutscher Po- litiker und Wissenschaftler, in den Analysen und Reportagen ihrer Publizisten […], hat dieses spezifische Wissen einen durch die Entwicklung bestätigten Niederschlag gefunden. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit sind nicht nur Gemeingut der ostpolitischen Wil- lensbildung der Vertriebenen, sondern sie haben weitgehend auch die Urteilsbildung der Bundesregierung und der Opposition in ostpolitischen Fragen mitgeformt. […] Die Hei- matvertriebenen und insbesondere ihre Verbände sind daher in erster Linie berufen, an der Mitgestaltung und Zielsetzung der deutschen Ostpolitik beteiligt zu sein.“10 Charakteristisch für dieses Zitat ist zum einen die Aufmerksamkeitslenkung auf die besonderen Erfahrungen und Qualitäten der deutschen Vertriebenen wie z.B. ihr umfangreiches Wissen über die ehemaligen deutschen Ostgebiete oder ihr hochentwi- ckeltes Gespür für die Mentalität der slawischen Bevölkerung. Zum anderen fällt es auf, dass der Textausschnitt von einer besonderen Wortwahl gekennzeichnet ist. Spä- testens an der Stelle, an der Hans Krüger von der „Berufung“ der Vertriebenenver- bände zur politischen Tätigkeit spricht, merkt man, dass der BdV-Präsident die Be- deutung der Vertriebenenverbände völlig überhöht. Das Wort „Berufung“ weckt reli-

9 Zitiert nach: Erklärungen zur Deutschlandpolitik, Teil I, SPD zur Oder-Neiße-Frage, S. 142. 10 HANS KRÜGER: Deutsche Ostpolitik, in: DOD vom 3.08.1959, S. 2; vgl. dazu auch AHO- NEN, German Expellee, S. 353.

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giöse Assoziationen und impliziert, außerwählt zu sein, eine Mission zu erfüllen zu haben. Ausdrücke wie „bolschewistische Abart“, „Entartung“ oder „slawischer Ost- raum“ erinnern wiederum an den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten. Fast in jedem Kapitel der vorliegenden Arbeit wird deutlich, wie sehr sich der BdV als Kämpfer für die Rückgewinnung der Oder-Neiße-Gebiete verstand und wie häufig er seine politische Aktivität als einen harten Existenzkampf darstellte. Die häu- figen Rückgriffe auf einen NS-ähnlichen oder militärischen Wortschatz scheint der BdV nicht als schädlich empfunden zu haben, wie die Analyse seiner Selbstdarstel- lung für den Zeitraum 1957-1970 zeigt. Vermutlich lag das zum Teil daran, dass viele Vertriebenenfunktionäre tatsächlich eine nationalsozialistische Vergangenheit hatten, darunter auch BdV-Präsident Krüger, und sich auf natürliche Weise der aus dem Krieg gewohnten Rhetorik bedienten. Denn seinen politischen Einsatz für die Wieder- vereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 verstand der BdV tatsächlich als einen bedingungslosen Kampf. Seine „politische Kraft“ maß der Bund der Vertriebenen auch am Wählerpotenzial der Vertriebenenverbände. Zu einer der wichtigsten Strategien der politischen Druck- ausübung durch Interessenverbände gehört nach Alemann die Drohung, dass sie die Wählerstimmen ihrer Verbandsmitglieder einer Partei entzögen.11 Dieser Taktik be- diente sich auch der BdV. Das BdV-Präsidium wies insbesondere vor den Bundes- tagswahlen auf die Bedeutung der Stimmen der Vertriebenen hin, wie beispielsweise BdV-Vizepräsident Karl Mocker vor der Bundestagswahl im Jahr 1961.12 Nach Alemann wird allerdings das Wählerpotenzial von einem Verband oft überschätzt. Denn die Mitgliedschaft in einem Verband könne nicht einfach als ein gesamtes Stimmenpaket an eine Partei abgegeben werden, weil der Einzelne oft gleichzeitig Mitglied mehrerer Verbände sei und mit seinen unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen in Arbeit und Freizeit wechselhaftem Einfluss ausgesetzt sei.13 Indem sich der BdV als der einzige Vertreter der deutschen Vertriebenen verstand, glaubte er zu- gleich, der einzige Verband zu sein, der über das starke Wählerpotenzial der Vertrie- benen verfüge. Davon leitete er seine „politische Kraft“ ab und versuchte, mit diesem Argument die Parteien, insbesondere vor den Wahlen, unter Druck zu setzen. Mit dem Verweis auf das Wählerpotenzial und die Größe der Vertriebenen- gemeinschaft beanspruchte der BdV eine angemessene Vertretung der Vertriebenen in allen Parteien.14 So forderte der BdV-Präsident beispielsweise die politischen Par- teien auf, zu der Bundestagswahl im Jahr 1961 „Heimatvertriebene als Kandidaten aufzustellen, die durch ihre führende Tätigkeit im Bund der Vertriebenen sichtbar das

11 Zu den Formen der Druckausübung vgl. ALEMANN, S. 172. 12 Vgl. KARL MOCKER: Die Vertriebenen und die Bundestagswahlen 1961. Rede anlässlich der Arbeitstagung führender Mitarbeiter des BdV in Würzburg am 11. Mai 1961, in: Doku- mentation. Beilage zum DOD vom 22.05.1961, S. 5-7; vgl. auch: Wirklich angemessen? Die Parteien, die Wahl und die Vertriebenen, in: DOD vom 11.09.1961, S. 1-2. 13 Vgl. ALEMANN, S. 175. 14 Vgl. Wirklich angemessen (wie Kap. 4, Anm. 12).

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Vertrauen der Vertriebenen haben“15. Zudem bestand er darauf, „daß diese Heimat- vertriebenen eine sichere Kandidatur erhalten und es sich nicht um so genannte Scheinkandidaturen, d.h. um Kandidaturen von Heimatvertriebenen, handelt, die nur dem Namen nach aufgestellt werden, ohne wirklich das Mandat auszuüben“16. Nur solche Vertriebene sollten als Kandidaten aufgestellt werden, die „in den Bundestag wirklich einziehen und dort wirken“ würden.17 Der Hinweis auf die Kandidatenauf- stellung aus den Reihen der BdV-Führung beruhte auf dem Argument, dass die Ver- triebenen „etwa 18 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik“ ausmachen, „rund 2½ Millionen mitsamt ihren Familien […] im Bund der Vertriebenen organisiert“ seien und dass der BdV „der einzige und umfassende politische Willensträger dieser Schicksalsgemeinschaft“ sei.18 Seine politische Bedeutung manifestierte der BdV in der westdeutschen Öffent- lichkeit auch dadurch, dass er sich als „Gesprächspartner der Bundesregierung und der Fraktionen des Bundestages“ darstellte.19 Bereits in der programmatischen Rede anlässlich der Konstituierung des Verbandes am 14. Dezember 1958 verwies der erste BdV-Präsident Hans Krüger auf die notwendige Verbindung zur Politik: „Was nun die Stellung des Verbandes nach außen hin anlangt, so müssen wir uns dabei klar sein, daß eine Durchsetzung unserer Aufgaben nicht gegen, sondern nur mit den poli- tischen Kräften unserer Bundesrepublik möglich ist.“20 Krüger wies aber auch auf die Tatsache hin, dass die sich aus der Arbeit des Verbandes ergebenden Probleme „Spielball parteipolitischer Auseinandersetzungen“ sein könnten, weswegen er ein gutes Verhältnis des BdV sowohl zur Bundesregierung als auch zur Opposition auf Landes- und Bundesebene für notwendig hielt.21 Aus diesem Grund betonte der BdV immer wieder seine in der Satzung festgeschriebene Überparteilichkeit und ließ sich damit relativ viel Handlungsraum bei der Suche nach parteipolitischer Unterstützung. Er war sich dessen bewusst, dass er die meisten seiner Ziele, darunter den politischen Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete, ohne Unterstützung der Parteien und der Bundes- regierung kaum verwirklichen konnte.22 In einer seiner Reden wies BdV-Präsident Krüger 1961 auf die Tatsache hin, dass der Dachverband mehrmals von den Regie- rungsstellen konsultiert worden sei. In welchen Fällen der BdV der Regierung bera- tend zur Verfügung stand, sagte Krüger allerdings nicht.23 Mit dieser allgemeinen Aussage versuchte der BdV-Präsident, seinen Zuhörern weniger eine genaue Infor-

15 KRÜGER, Bund der Vertriebenen im vorparlamentarischen Raum (wie Kap. 4, Anm. 8), S. 2. 16 Ebenda, S. 2 f. 17 Ebenda, S. 3. 18 Wirklich angemessen (wie Kap. 4, Anm. 12), S. 1. 19 Vgl. WENZEL JAKSCH: Kern der Selbstbehauptung. Bund der Vertriebenen auf dem Wege der Bewährung, in: DOD vom 23.12.1963, S. 1. 20 Rede des Präsidenten (wie Kap. 1, Anm. 3), S. 15. 21 Ebenda. 22 Vgl. CLEMENS J. NEUMANN: Straffere Führung. Neues Präsidum des Bundes der Vertriebe- nen, in: DOD vom 2.07.1962, S. 1-2. 23 Vgl. KRÜGER, Bund der Vertriebenen im vorparlamentarischen Raum (wie Kap. 4, Anm. 8).

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mation zu vermitteln, als sie vielmehr auf das Partnerverhältnis zwischen dem Ver- band und der Bundesregierung aufmerksam zu machen. Neben „politischer Kraft“ stellte der BdV für seinen Präsidenten Hans Krüger auch einen „politischen Faktor“24 dar, der als solcher nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch im Ausland bekannt sei. Während er im Westen auf zunehmendes Ver- ständnis stoße, werde er im Osten abgelehnt und beschimpft.25 Dass der BdV in der Bundesrepublik tatsächlich als „politischer Faktor“ wahrgenommen wurde, zeigte sich 1963, als BdV-Präsident Hans Krüger zum Vertriebenenminister ernannt wurde. Der zentrale Informationsdienst des BdV sprach in diesem Zusammenhang von einer „mutigen“ und „klugen“ Entscheidung des neuen Bundeskanzlers .26 Denn obwohl er von den Vorurteilen gegen den BdV wusste, so Clemens Neumann im DOD, habe er Krüger das Amt des Ministers anvertraut. Erhard sei sich bewusst gewesen, dass der BdV „kein Interessenverband im engen und geläufigen Sinne ist, [...] daß er auch im nationalen Bereich nicht nur Gruppeninteressen, sondern gesamt- deutsche Interessen vertritt“27. Neben dem Verweis auf die Größe der Vertriebenengemeinschaft war die Vertre- tung der gesamtdeutschen Interessen das zweite zentrale Argument, aus welchem der BdV seine politische Bedeutung ableitete. Immer wieder betonte er, dass die „Ziele der Vertriebenen“, die er in der Öffentlichkeit und Politik vertrat, „deutsche Ziele“ seien.28 Im DOD hieß es beispielsweise: „Was uns besonders am Herzen liegt, nämlich die gesamtdeutsche Politik, sind jedoch kei- neswegs die Sonderwünsche einer besonderen Interessengruppe, sondern die fundamenta- len Anliegen der gesamten Nation. [...] Wenn der Bund der Vertriebenen daher hier und heute Forderungen zur gesamtdeutschen Politik aufstellt, so sind das keine sogenannten Vertriebeneninteressen, sondern Anliegen der gesamten Nation. Ich halte diese Klarstel- lung für angebracht, damit unsere gesamtdeutschen Anliegen von mehr oder weniger wohlwollenden Zeitgenossen nicht auf das Niveau von Verbands- und Gruppeninteressen herabgewürdigt werden [...].“29 Diesem Argumentationsmuster zufolge setzte sich der BdV nicht nur für die Inter- essen der Vertriebenen, sondern gleichzeitig für nationale Interessen ein. Daraus lei- tete er seine Sonderrolle ab, die er auch zur Vorbild-Rolle ausbaute: Der Zusammen- schluss der Vertriebenenverbände zu einem zentralen Dachverband 1957 wurde vom

24 Ebenda, S. 2. 25 Ebenda. 26 CLEMENS J. NEUMANN: Die Linie bleibt, in: DOD vom 22.10.1963, S. 1. 27 Ebenda; zur Wahl Krügers zum Bundesvertriebenenminister vgl. auch in der gleichen Aus- gabe: Vor allem positiv. Presse- und Rundfunkecho zur Berufung Krügers ins Bundeskabi- nett; Gerechte und umfassende Betreuung. DOD sprach mit Bundesvertriebenenminister Krüger. 28 HANS KRÜGER: Deutsche Ziele. Vertriebenenpolitik an der Jahreswende, in: DOD vom 11.01.1960, S. 3. 29 FRANZ THEDIECK: Grundsätze einer gesamtdeutschen Politik. Rede anlässlich der Arbeits- tagung führender Mitarbeiter des BdV in Würzburg am 11. Mai 1961 (gekürzt), in: Doku- mentation. Beilage zum DOD vom 22.05.1961, S. 7.

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BdV-Präsidenten als eine „historische Leistung ersten Ranges“ gedeutet, die „Vorbild sein kann für den Zusammenschluß aller Deutschen zu einem Ziel, der Rückgewin- nung der deutschen Einheit […]“30. Der BdV präsentierte sich also in der Öffentlichkeit als Vorkämpfer der deutschen Einheit. Er betrachtete sich somit nicht nur als Vertriebenenverband, sondern auch als ein nationaler Interessenverband. Matthias Stickler bezeichnet den BdV in diesem Kontext als „nationale Avantgarde des deutschen Volkes“.31 Indem die BdV-Funktio- näre sich nicht nur an die Vertriebenen, sondern auch an die ganze Nation wandten und zur gesamtdeutschen Solidarität aufriefen, setzten sie sich mehrmals in Vergleich mit Polen. So hieß es beispielsweise im Aufruf des BdV-Präsidiums im Jahre 1959: „Wir wollen uns in der kommenden Bewährungszeit so verhalten, wie sich jedes andere Volk verhielte, dessen Einheit und Freiheit auf dem Spiele steht. Nach vier Teilungen san- gen unsere polnischen Nachbarn trotzig: „Noch ist Polen nicht verloren!“ So dürfen wir mit gleichem Recht unseren Freunden und Schicksalsgefährten zurufen: Die Heimat ist nicht verloren, solange wir in Treue zu ihr stehen!“32 Auch ein Jahr später lässt sich im Argumentationsmuster des BdV erneut der Ver- gleich zwischen der Teilung Deutschlands und den Teilungen Polens im 18. und 19. Jahrhundert beobachten. Hier wurde vor allem auf die Entschlossenheit des polni- schen Volkes zur Einheit hingewiesen und gleichzeitig Kritik an bundesdeutschen Politikern geübt: „Wir wollen uns aber nicht sagen lassen, daß Fakten geschaffen seien, die stärker als unser Wollen sind. Wir wollen uns vielmehr daran erinnern, wie sich das polnische Volk in ähn- licher Lage, d.h. nach den drei Teilungen verhalten hat. Dieses Volk hat sein Streben nach Wiederherstellung des eigenen Staates nie aufgegeben, obwohl die Mächtekonstellation in Europa über ein ganzes Jahrhundert hindurch entschieden dagegen war. Die Teilungsstaa- ten – Rußland, Österreich-Ungarn und Preußen-Deutschland – stellten damals die stärksten Mächte auf dem Kontinent dar, so daß jeder Widerstand sinnlos erschien. Trotzdem haben die Polen bis zum endlichen Erfolg ausgeharrt. Sie ließen sich von der Hoffnung leiten: „Noch ist Polen nicht verloren“. Sie haben sich nicht etwa – wie bundesrepublikanische Politiker – bei auswärtigen Staatsmännern nach den Aussichten für ihre eigenen Bemühun- gen erkundigt, sondern sie haben statt dessen von sich aus der Weltöffentlichkeit immer wieder die Berechtigung ihres eigenen Standpunktes und somit ihrer Bemühungen klarzu- machen versucht, bis ihr Ziel erreicht war.“33 Obwohl die Teilung Polens eine völlig andere Situation für die Polen bedeutete als der faktische Verlust der Oder-Neiße-Gebiete für die Deutschen, übertrug der BdV durch den Vergleich die positiven Assoziationen, wie z.B. den Zusammenhalt eines Volkes im Kampf um seine Unabhängigkeit und im Widerstand gegen fremde Un- terdrückung, auf die Situation der deutschen Vertriebenen. Dass es sich dabei um

30 KRÜGER, Deutsche Ziele (wie Kap. 4, Anm. 28), S. 3. 31 STICKLER, S. 99. 32 Für Heimat und Zukunft (wie Kap. 4, Anm. 6), S. 18. 33 THEODOR BIERSCHENK: Keine Aussichten für den Deutschen Osten?, in: DOD vom 1.10. 1963, S. 6.

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nichtvergleichbare politische Ereignisse und Zustände handelte, blendete der BdV aus seinem Argumentationsmuster aus. Anhand der beiden oben aufgeführten Zitate lässt sich konstatieren, dass sich der BdV auch als einen patriotischen Verband betrachtete und sich sogar als Kern des gesamtdeutschen Patriotismus verstand, was beispiels- weise in seiner Selbstbezeichnung als „Rückhalt aller patriotischen Kräfte“34 zum Ausdruck kam. Er sah sich zunächst als Vertreter der gesamtdeutschen Interessen und baute darauf seine Selbstzuschreibung als Träger des deutschen Patriotismus auf. Er sah sich vor die Aufgabe gestellt, in der westdeutschen Gesellschaft patriotische Ge- fühle zu erwecken: „Wir brauchen eine patriotische Gesellschaft“35, lautete die Schlagzeile im DOD vor der geplanten „Deutschland-Kundgebung“ des BdV 1966. Um den Dachverband herum sollten sich nach seiner Vorstellung alle patriotischen Kräfte im Lande sammeln, für die sich der BdV als eine Art Stütze anbot. Zentral für die Arbeit des BdV als „politische Kraft“ war der Kampf um das „Selbstbestimmungsrecht“ und das „Recht auf die Heimat“. Darunter verstand der Verband seine Bemühungen um die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 und die Rückkehr der deutschen Vertriebenen in die Oder-Neiße-Gebiete, die infolge des Potsdamer Abkommens unter polnische Verwaltung gegeben worden waren.36 Das gesamte Argumentationsmuster des BdV war auf dem Postulat des Selbstbestimmungsrechts der Völker aufgebaut. Die Kraft der Forderung nach Selbst- bestimmung besteht darin, dass es sich dabei um eine Forderung nach einem Men- schenrecht handelt. Von diesem Menschenrecht ist die Rede in den Art. 1 und 55 der Charta der Vereinten Nationen vom 25. Juni 1945 sowie in den Menschenrechtspak- ten der Vereinten Nationen vom 19. Dezember 1966. Unter Art. 1 im „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ und im „Internationalen Pakt über wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ heißt es: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung.“37 Subjekt des Selbstbestimmungsrechts ist also das Volk und sein Recht auf Selbstbestimmung ist ein wichtiges Prinzip der Demokratie.38 Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts zeigt, dass das Konzept leichter zu fordern als in die Praxis umzusetzen war. An mehreren Beispielen zeigt Jörg Fisch in seiner Studie, dass Forderungen nach Selbstbestimmungsrecht kaum verwirklicht wurden, wenn sie eine Bedrohung für bestehende Machtverhältnisse darstellten.39 Ob- wohl bereits im 19. Jahrhundert Volksbefragungen durchgeführt wurden, unterlagen ihre Ergebnisse häufig staatlicher Manipulation und dienten eher dem Zweck der

34 WENZEL JAKSCH: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit, in: DOD vom 22.12.1965, S. 2. 35 Wir brauchen eine patriotische Gesellschaft. BdV ruft zur „Deutschland-Kundgebung“ in Bonn auf, in: DOD vom 2.02.1966, S. 1. 36 Zu den Verhandlungen über die Oder-Neiße-Grenze vgl. HARTENSTEIN, S. 101 ff. 37 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966, abgedruckt in: Menschenrechte, S. 87-95, hier S. 87; Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, in: Menschenrechte, S. 44-59, hier S. 44; Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (Auszug), in: Menschenrechte, S. 1-4, hier S. 1 f. 38 Vgl. FISCH, Geschichte des Selbstbestimmungsrechts, S. 47 ff. 39 Vgl. FISCH, Selbstbestimmungsrecht der Völker.

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Machtlegitimierung.40 Auch während des Ersten Weltkriegs und in der Zwischen- kriegszeit wurde die Formel des Selbstbestimmungsrechts zum Zweck der Macht- legitimierung eingesetzt.41 Im Prozess der Entkolonisierung war zwar die Rede vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, doch es war kaum vorstellbar, die vielen ver- schiedenen ethnischen und religiösen Gruppen innerhalb der Kolonien durch Volks- befragungen in neue Staaten aufzuteilen. Deswegen bediente man sich des im 19. Jahrhundert entwickelten Prinzips uti possidetis, d.h. die Unabhängigkeit wurde den Kolonialgebieten in den von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen gewährt. In Wirklichkeit ging es also in diesem Fall nicht um die Verwirklichung des Rechtes auf Selbstbestimmung, sondern um Entkolonisierung innerhalb der Kolonialgrenzen.42 Nach Jörg Fisch handelt es sich also bei dem Selbstbestimmungsrecht der Völker um ein rechtlich-politisches Schlagwort und einen Idealbegriff.43 Uneingeschränkte Selbstbestimmung sei nur in einer Welt ohne Gewaltanwendung möglich.44 Wenn tat- sächlich jedes Volk bzw. jede Menschengruppe, die sich als Volk versteht, ihr Recht auf Selbstbestimmung verwirklichen wollte, müsste man mit ständigen Kämpfen und permanenter Bedrohung der bestehenden Staatenordnung rechnen.45 Um Forderungen nach Selbstbestimmung zu unterdrücken, bediente man sich immer wieder der These, Völker hätten nur dann ein Recht auf Selbstbestimmung und Bildung eines eigenen Staates, wenn sie unterdrückt und ihre Menschenrechte über einen langen Zeitraum verletzt würden.46 Die vorliegende Untersuchung zeigt an mehreren Stellen, wie wichtig die Formel des Selbstbestimmungsrechts im Argumentationsmuster des BdV war und über Jahre hinweg – geschickt eingebunden – blieb.47 Solange sich die offizielle Haltung der Bundesregierung zur Oder-Neiße-Grenze nicht änderte und die Anerkennung der Grenze kategorisch abgelehnt wurde, waren die Aussichten auf die erfolgreiche Ver- wirklichung des „Selbstbestimmungsrechts“ und des „Rechts auf die Heimat“ für den BdV gut. In der Regierungserklärung Konrad Adenauers vom 20. September 1949 hieß es:

40 Vgl. FISCH, Geschichte des Selbstbestimmungsrechts, S. 52 ff. 41 Vgl. ebenda, S. 58 f. 42 Vgl. ebenda, S. 65 ff. 43 Vgl. FISCH, Selbstbestimmungsrecht der Völker, S. 17. 44 Ebenda, S. 45-74, hier S. 52. 45 Ebenda, S. 61, 70. 46 Ebenda, S. 73. 47 Der BdV-Präsident forderte beispielsweise 1960 von den westdeutschen Medien genauso viel Aufmerksamkeit für den Kampf der Vertriebenen um das Selbstbestimmungsrecht, wie sie dem Entkolonisierungsprozess widmeten (vgl. dieses Kapitel). Gefordert wurde auch, dass über die Zukunft der Oder-Neiße-Gebiete in einem Plebiszit entschieden werden sollte (vgl. Kapitel 6.1.2). Seit den 1970er Jahren tauchte im Argumentationsmuster des BdV verstärkt die Forderung nach Achtung der Menschenrechte auf, insbesondere gegenüber der deutschen Minderheit in der Volksrepublik Polen.

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„Im Potsdamer Abkommen heißt es ausdrücklich: ,Die Chefs der drei Regierungen – das sind die Vereinigten Staaten, England und Sowjetrußland – haben ihre Ansicht bekräftigt, daß die endgültige Bestimmung der polnischen Westgrenze bis zur Friedenskonferenz ver- tagt werden muß‘. Wir können uns daher unter keinen Umständen mit einer von Sowjet- rußland und Polen später einseitig vorgenommenen Abtrennung dieser Gebiete [Oder- Neiße-Gebiete] abfinden. Diese Abtrennung widerspricht nicht nur dem Potsdamer Ab- kommen, sie widerspricht auch der Atlantik-Charta vom Jahre 1941, der sich die Sowjet- union ausdrücklich angeschlossen hat. […] Wir werden nicht aufhören, in einem geordne- ten Rechtsgang unsere Ansprüche auf diese Gebiete weiterzuverfolgen.“48 Dem Kommuniqué über die Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 zufolge einigten sich die drei Siegermächte darauf, über die Westgrenze Polens bzw. die deutsch-polnische Grenze endgültig in einer Friedenskonferenz zu entscheiden. Bis dahin sollten die Oder-Neiße-Gebiete der polnischen Verwaltung unterstellt bleiben.49 Die Auslegung des Potsdamer Abkommens war in der Volksrepublik Polen und in Westdeutschland unterschiedlich: Die kommunistische Regierung vertrat die Auffas- sung, dass die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie infolge der Potsdamer Beschlüs- se endgültig der Volksrepublik Polen zugesprochen werden.50 Die kommunistische Partei in Polen bediente sich außerdem der Kompensationstheorie, die besagte, dass Polen für die Gebietsverluste im Osten auf Kosten Deutschlands mit den Oder-Neiße- Gebieten entschädigt werde.51 Die Regierung Adenauer wiederum hielt an der Nicht- anerkennung der Oder-Neiße-Grenze fest. Denn gemäß des Potsdamer Abkommens handelte es sich bis zur Unterzeichnung des ausstehenden Friedensvertrags um eine vorübergehende Lösung der deutsch-polnischen Grenzfrage.52 In den 1950er bis in die 1960er Jahre hinein änderte sich die offizielle Stellung der Bundesregierung zur Oder-Neiße-Grenze nicht.53 Bis dahin genossen die Vertriebe-

48 Regierungserklärung von Bundeskanzler vom 20. September 1949, ab- gedruckt in: Die großen Regierungserklärungen, S. 35-47, hier S. 44. 49 Vgl. Auszüge aus dem Kommuniqué über die Konferenz von Potsdam, 2. August 1945, ab- gedruckt in: Bonn – Warschau, S. 53-67, hier S. 66; LEHMANN, S. 47. 50 Vgl. JACOBSEN, Bundesrepublik Deutschland, S. 30. 51 Vgl. HARTENSTEIN, S. 129. 52 Vgl. JACOBSEN, Bundesrepublik Deutschland, S. 30; Handbuch, S. 589. 53 Vgl. Erklärung der Bundesregierung zur Oder-Neiße-Linie vom 9. Juni 1950, abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik II/3 (1997), S. 218 f.; Erklärung der Bundesregie- rung, abgegeben von Bundesminister von Brentano vom 28. Juni 1956, abgedruckt in: Do- kumente zur Deutschlandpolitik III/2 (1963), S. 516 f.; Erklärung der Bundesregierung über die außenpolitische Lage, abgegeben von Bundesminister von Brentano am 31. Januar 1957, abgedrukt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik III/3 (1967), S. 100; aus der Rede des Bundesministers von Brentano vor der Ernst-Reuter-Gesellschaft in Berlin vom 25. April 1957, abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik III/3 (1967), S. 641 f.; aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Erhard vor dem 4. Deutschen Bundestag vom 18. Oktober 1963, abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik IV/9 (1978), S. 795; Erklärung von Bundeskanzler Prof. Dr. Erhard anlässlich der Haushaltsdebatte am 15. Ok- tober 1964, abgedruckt in: Die deutsche Ostpolitik, S. 96-99; Regierungserklärung von Bundeskanzler Ludwig Erhard vom 10. November 1965, abgedruckt in: Die großen Regie-

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nenverbände politische Unterstützung der Bundesregierung. Sie manifestierte sich unter anderem in der Teilnahme westdeutscher Politiker an den Vertriebenenveran- staltungen. Ihre Anwesenheit war für beide Seiten von großer Bedeutung: Für die Po- litiker war es eine Möglichkeit, mit den potenziellen Wählern in Kontakt zu treten und die Stimmen der Vertriebenen für sich und ihre Partei zu gewinnen. Für die Ver- triebenenverbände dagegen war ihre Anwesenheit insofern wichtig, als dadurch öffentlich die politische Unterstützung für die Vertriebenen und ihre Verbände aus- gedrückt wurde. Darüber hinaus lenkten die Politiker die Aufmerksamkeit der Mas- senmedien auf sich und damit gleichzeitig auf die Vertriebenenveranstaltungen und die Vertriebenengemeinschaft. Das Ringen der Parteien um die Stimmen der Vertrie- benen war so groß, dass es bis Mitte der 1960er Jahre kaum ein Politiker wagte, die Unausweichlichkeit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in der Öffentlichkeit offiziell auszusprechen. Doch bereits seit Mitte der 1950er Jahre habe Adenauer be- gonnen, sich stillschweigend mit dem territorialen Status quo abzufinden.54 Wie sehr sich sowohl die CDU als auch die SPD um die Stimmen der Vertriebenen in der ers- ten Hälfte der 1960er Jahre bemühten, zeigt das Deutschlandtreffen der Schlesier 1963, an dem sowohl der Bürgermeister von Berlin Willy Brandt als auch der Bun- deskanzler Konrad Adenauer teilnahmen. Damit manifestierten sie nicht nur die poli- tische Unterstützung der Christ- und der Sozialdemokraten für die Vertriebenen. Sie bestätigten auch, dass ihnen das starke Wählerpotenzial der Vertriebenen bewusst war und sie somit auch ihre „politische Kraft“ anerkannten. Wie bereits am Anfang dieses Kapitels erwähnt, verstand sich der Bund der Ver- triebenen als Interessenvermittler der deutschen Vertriebenen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Öffentlichkeit. Er versuchte, für seine Ziele nicht nur die Unter- stützung der Politiker, sondern auch die Aufmerksamkeit und Zustimmung der öf- fentlichen Meinung zu gewinnen. Die deutschen Vertriebenen verstand er als eine Interessen- und Opfergruppe zugleich und sah sich dementsprechend dazu verpflich- tet, die Geschichte der Vertreibung im Bewusstsein der westdeutschen Bevölkerung wach zu halten. Bereits 1959 rief der BdV-Präsident die Vertriebenen zur verstärkten Präsenz in der Öffentlichkeit auf: „Hinein in die Öffentlichkeitsarbeit! Zeigt Ausstellungen, stellt die Wurzel der Vertrei- bung, den Leidensweg der Flucht und den anschließenden Existenzkampf dar! Zeigt aber auch, daß der Wille zur friedlichen Rückgewinnung der Heimat ungebrochen geblieben ist, daß die Existenz in der neuen Heimat die Voraussetzung für die Rückgewinnung der an- gestammten Heimat und für die Rückkehr ist. [...] Die Vertriebenen und Flüchtlinge in den Einrichtungen des Rundfunks und des Fernsehens werden aufgerufen sich den Gedanken

rungserklärungen, S. 122-145; Erklärung von Bundeskanzler Prof. Dr. Erhard zur deut- schen Friedensnote am 25. März 1966, abgedruckt in: Die deutsche Ostpolitik, S. 124-126. 54 Vgl. LEHMANN, S. 181; über die stillschweigende Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Konrad Adenauer in den 1950er Jahren berichtete Der Spiegel 1989. Vgl. Kohl: „Wir haben die Grenze anerkannt“, in: Der Spiegel vom 17.07.1989, S. 18-23.

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des Jahres in ihrer Arbeit zu eigen zu machen und nicht nachzulassen in der unmittelbaren, lebensnahen Darstellung der Wurzeln und Folgen der Vertreibung.“55 In diesem Zitat wird deutlich, dass der BdV parallel zu seinem politischen Enga- gement auch die „Aufklärung“ der Öffentlichkeit über das Schicksal der deutschen Vertriebenen und über die Ziele ihrer Verbände anstrebte. Das BdV-Präsidium hielt es für notwendig, sich der Öffentlichkeitsarbeit stärker zu widmen.56 Im Jahr 1960 er- klärte Krüger einen „Aufklärungsfeldzug“ zu einer wichtigen Aufgabe des Verban- des.57 In der Wahl des Wortes „Feldzug“ spiegelte sich die für die 1960er Jahre typi- sche Rhetorik des BdV wider, die bis Anfang der 1970er Jahre einen militärischen Charakter hatte. Das ist vermutlich zum großen Teil auf die politische Rhetorik in der Zeit des Kalten Krieges zurückzuführen. Die Aufklärungsarbeit des BdV hatte zwei Dimensionen: Zum einen verstand sich der Dachverband als Träger der Erinnerung an die Vertreibung. Als Vertreter der Vertreibungsopfer sah er eine seiner Verpflichtun- gen darin, die öffentliche Meinung immer wieder auf das „Vertreibungsverbrechen“ aufmerksam zu machen und in der Öffentlichkeit an den Leidensweg der deutschen Vertriebenen zu erinnern. Zum anderen war unter dem „Aufklärungsfeldzug“ nichts anderes als Öffentlichkeitsarbeit im weitesten Sinne zu verstehen. Sie zielte, wie jede Öffentlichkeitsarbeit eines Interessenverbandes, auf die Imagepflege, auf Aufmerk- samkeitslenkung und Sympathiewerbung für die eigene Tätigkeit. Dabei bemühte sich der BdV um die Verbreitung der Informationen aus seiner eigenen Sicht und die Durchsetzung des eigenen Standpunktes in der Öffentlichkeit.58 Der „Aufklärungs- feldzug“ war allerdings nicht als reine Informationsvermittlung durch den BdV ge- dacht, sondern auch mit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung verbunden. Der Verband schaltete sich in die öffentlichen Debatten um die Oder-Neiße-Grenze ein und versuchte, seine Deutung der Geschichte durchzusetzen. Seinen „Aufklärungsfeldzug“ begann der BdV unter anderem deswegen, weil er damit einen Gegenpol zur kommunistischen Propaganda bilden wollte. Der BdV-Prä- sident sprach von der Notwendigkeit einer „Gegenpropaganda“, die einerseits auf die „Aufklärung des Auslandes über Methode und Ziel der sowjetischen Verleumdungs- kampagne“ abzielen und andererseits „über die gerechten Ziele der deutschen Hei- matpolitik“ informieren sollte.59 In diesem Kontext war die Rede von „defensive[r] Aufklärung“ bzw. dem „defensiven Charakter der geplanten Öffentlichkeitsarbeit“, die dem BdV seit Anfang der 1960er Jahre immer wichtiger erschien.60 Um der kom- munistischen Propaganda erfolgreich entgegenzuwirken, sollten die westlichen Län-

55 HANS KRÜGER: Zum Weltflüchtlingsjahr, in: DOD vom 14.09.1959, S. 3. 56 Vgl. Bericht des Präsidenten Hans Krüger MdB, anlässlich der Tagung der Bundesver- sammlung des Bundes der Vertriebenen am 14. Februar 1960 in Bonn, in: Dokumentation. Beilage zum DOD vom 22.02.1960, S. 1-4. 57 KRÜGER, Deutsche Ziele (wie Kap. 4, Anm. 28), S. 3. 58 Zu Zielen der Öffentlichkeitsarbeit von Interessengruppen vgl. WEBER, S. 326. 59 KRÜGER, Deutsche Ziele (wie Kap. 4, Anm. 28), S. 3. 60 Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch, in: DOD vom 30.01.1961, S. 4.

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der nun ausführlicher über die Ziele der Vertriebenenpolitik informiert werden.61 Dem BdV-Präsidenten schien es allerdings wichtiger, mit dem „Aufklärungsfeldzug zunächst im Inland“62 zu beginnen und „einen stärkeren Einfluss auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik zu gewinnen“63. Hier fühlte sich der BdV verpflich- tet, die „Verzichtler und Kapitulanten“64 aufzuklären, die bereit waren, sich mit dem Status quo abzufinden und die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Dem BdV-Präsi- dium zufolge sollte deswegen zunächst „im eigenen Volke das Verständnis für unser Schicksal erkämpft werden, dann bei unseren Verbündeten und der übrigen Welt“65. Dabei erhoffte sich der BdV die Hilfe der Massenmedien. So appellierte Krüger bei- spielsweise an die westdeutschen Medien, nicht nur über den Kampf der afrikani- schen Völker um ihr Selbstbestimmungsrecht zu berichten, sondern in größerem Maße auch auf das deutsche Schicksal hinzuweisen.66 Außerdem forderte der BdV von den Massenmedien, dass sie im gesamtdeutschen Interesse nicht nur über west- deutsche Themen berichten, sondern sich genauso stark den mittel- und ostdeutschen Themen widmen: „Rundfunk und Fernsehen in der Bundesrepublik dürfen keine In- strumente westdeutscher Regionalinteressen sein. Auch sie stehen unter gesamt- deutscher Verpflichtung. Ostdeutschland und Mitteldeutschland sollten daher nicht nur in den Hinterstuben der Sendeleitungen vertreten sein.“67 Zwei Jahre später wurde noch einmal die Notwendigkeit betont, die westdeutsche Öffentlichkeit für das Anlie- gen der Vertriebenen zu gewinnen: „Je besser wir unsere Anliegen im eigenen Volk vertreten können, desto stärker wird auch das Auslandsecho auf unsere Zielsetzung sein.“68 Die Aufklärungsarbeit des BdV, die er zuerst in der Bundesrepublik durchführen wollte, war vermutlich zum großen Teil auf die „Krise der Wiedervereinigungsidee“69 der 1960er Jahre zurückzuführen, was wiederum den Wandel im Oder-Neiße-Diskurs in den 1960er Jahren entscheidend vorantrieb. Die Jahre 1958 bis 1963 waren nach Edgar Wolfrum von der Neuorientierung in deutschlandpolitischen Fragen ge-

61 Vgl. Mit friedlichen Mitteln. Bereit zur Verantwortung für alle unterdrückten Völker, in: DOD vom 13.04.1960, S. 4-6. 62 KRÜGER, Deutsche Ziele (wie Kap. 4, Anm. 28), S. 3. 63 Mit friedlichen Mitteln (wie Kap. 4, Anm. 61), S. 5. 64 Für Heimat und Zukunft (wie Kap. 4, Anm. 6), S. 18. 65 Ebenda. 66 Vgl. Niemals Tabu, in: DOD vom 18.01.1960, S. 4-5. 67 WENZEL JAKSCH: Gesamtdeutsches Bewußtsein – eine nationale Aufgabe. Rede anlässlich der Arbeitstagung führender Mitarbeiter des BdV in Würzburg am 11. Mai 1961, in: Doku- mentation. Beilage zum DOD vom 22.05.1961, S. 4. 68 Wortlaut des Berichts von Präsidialmitglied Dr. Herbert Hupka über die Sitzung des Ar- beitskreises II für Öffentlichkeitsarbeit, in: Dokumentation. Beilage zum DOD vom 15.10. 1963, S. 4. 69 KARL DIETRICH BRACHER: Europa in der Krise. Innengeschichte und Weltpolitik seit 1917, Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 368.

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kennzeichnet, die unter anderem durch den Schock des Mauerbaus geprägt war.70 Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik bestimmte seit Mitte der 1960er Jahre immer mehr die Wahrnehmung und Erfahrungen der westdeutschen Bürger. Das pragmati- sche Denken rückte in den Vordergrund. Den Staat Bundesrepublik sah man nicht mehr als Provisorium, sondern als etwas Dauerhaftes.71 Nach Wolfrum bestand kein Bedarf mehr an einer „symbolischen Heimat namens Gesamtnation“, sondern diese wurde zunehmend durch „die reale, pragmatische und auch emotionale Heimat na- mens Bundesrepublik“ abgelöst.72 Dieser Bewusstseinswandel der 1960er Jahre wirkte sich auf den Oder-Neiße-Diskurs insofern aus, als die Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze zunächst in der Öffentlichkeit immer mehr Befürworter fand. Mit sei- nem Beharren auf die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 ge- riet der BdV im Laufe der 1960er Jahre immer mehr in einen Deutungskonflikt mit der öffentlichen Meinung. Zum Zweck der wirksamen Öffentlichkeitsarbeit konstituierte sich deswegen am 26. Februar 1962 in Bonn der Presseausschuss des BdV als „Ausschuß für Presse und Publizistik“, der von Herbert Hupka geleitet wurde. Der Ausschuss sollte Analysen verschiedener Ereignisse durchführen und das Präsidium bei Presse- und Rundfunk- fragen beraten. Ebenso überlegte sich das BdV-Präsidium Strategien für eine größere Publizität.73 Aufgrund der Tatsache, dass „die zehn Millionen Vertriebenen [...] ein starkes Potential von Lesern und Hörern“ darstellten, hatte das Präsidium vor, „in den Funk- und Fernsehräten auf eine angemessene Berücksichtigung und einwandfreie Darstellung des ost- und südostdeutschen Fragenbereichs hinzuwirken“.74 Hier war die Argumentation ähnlich jener, die sich auf die politische Tätigkeit des BdV bezog. Der Verband forderte nicht nur eine entsprechende Repräsentanz der Vertriebenen im Bundestag, sondern auch in den Medienanstalten. Damit versuchte er sowohl im poli- tischen als auch im medialen Bereich seine Vertreter zu platzieren. Hinter dieser For- derung stand der Wunsch des Verbandes nach größerer Einflussnahme auch auf die massenmediale Berichterstattung. Infolge der öffentlichen Debatte um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zeichnete sich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine zunehmende Polarisierung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft ab. Es bildeten sich zwei Lager heraus: Auf der einen Seite befanden sich die westdeutschen Publizisten, die für die offizielle Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze plädierten. Auf der anderen Seite standen Poli- tiker und Vertriebenenfunktionäre, für die sich die Frage nach der Anerkennung der Grenze offiziell noch gar nicht stellte.75 Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze fand in der Öffentlichkeit immer mehr Befürworter. Die Deutungshoheit der Vertrie-

70 WOLFRUM, Geschichtspolitik, S. 216. 71 Vgl. ebenda, S. 248 f. 72 Ebenda, S. 249. 73 Vgl. Aktive Pressepolitik. BdV-Ausschuss für Presse und Publizistik tagte, in: DOD vom 5.03.1962, S. 8. 74 Deutsche Interessen vertreten, in: DOD vom 19.11.1962, S. 6. 75 Vgl. KOEPCKE, S. 86 f.

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benenverbände über alle Themen, die mit der Vertreibung und der Zukunft der ehe- maligen deutschen Ostgebiete zusammenhingen, wurde immer deutlicher von anderen Öffentlichkeitsakteuren durchbrochen. Im Jahr 1962 wurde das „Tübinger Memoran- dum“, auch „Memorandum der Acht“ genannt, veröffentlicht.76 Nach Martin Greschat trug das „Memorandum“ dazu bei, dass die Thematik der Oder-Neiße-Grenze zum ersten Mal und dauerhaft in den Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik rückte.77 Die acht Autoren des „Memorandums“, die in der Zeit als „Lobbyisten der Vernunft“78 bezeichnet wurden, kritisierten in ihrer Schrift so- wohl die Innenpolitik der Bundesregierung als auch ihre Haltung zur Oder-Neiße- Grenze. Die Verfasser sprachen sich öffentlich für die Notwendigkeit der Anerken- nung der Oder-Neiße-Grenze aus, wozu die Politiker noch in ihren offiziellen Äuße- rungen nicht bereit waren. Sie behaupteten auch, dass sich viele westdeutsche Politi- ker bereits der Unausweichlichkeit der Grenzanerkennung bewusst seien, aber noch keinen Mut hatten, dies öffentlich auszusprechen. „Wir sagen nichts Neues, wenn wir die Ansicht aussprechen, […] daß wir den Souveränitätsanspruch auf die Gebiete jen- seits der Oder-Neiße-Linie werden verloren geben müssen“, hieß es im „Memoran- dum“.79 Diesem folgte im Jahre 1965 die von der Evangelischen Kirche in Deutsch- land verfasste Denkschrift unter dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Ver- hältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“80. Ähnlich wie die Verfasser des „Memorandums“ plädierten die Autoren der Denkschrift für die Ver- söhnung mit den östlichen Nachbarn der Bundesrepublik um den Preis der Anerken- nung der Oder-Neiße-Linie und stießen auf einen noch stärkeren Protest des BdV als das „Tübinger Memorandum“.81 „Das Präsidium des BdV muß […] aus seiner Ver-

76 Die Bezeichnung bezieht sich auf die acht Personen, die das „Memorandum“ Anfang November 1961 verfassten: Hellmut Becker, Joachim Beckmann, Klaus von Bismarck, Werner Heisenberg, Günter Howe, Georg Picht, Ludwig Raiser und Carl Friedrich von Weizsäcker. Das „Memorandum“ wurde zum Zweck interner Gespräche mit den Bundes- tagsabgeordneten verfasst und gelangte nur zufällig an die Öffentlichkeit. Vgl. dazu HARMS, S. 85. 77 Vgl. GRESCHAT, S. 492. 78 MARION GRÄFIN DÖNHOFF: Lobbyisten der Vernunft, in: Die Zeit vom 2.03.1962; vgl. auch: Laien am Werk, in: Der Spiegel vom 7.03.1962, S. 24-25. 79 Auszug aus dem „Tübinger Memorandum“ vom 6. November 1961 (veröffentlicht am 24.02.1962), abgedruckt in: Bonn – Warschau, S. 114-115, hier S. 115; der Text des „Tü- binger Memorandums“ wurde in der Zeit abgedruckt. Vgl. Das Memorandum der Acht. Wissenschaftler warnen vor Selbstgefälligkeit und Illusionen, in: Die Zeit vom 2.03.1962; zur Stellungnahme des BdV zum „Tübinger Memorandum“ vgl.: BdV zum Achter-Memo- randum, in: DOD vom 5.03.1962, S. 6; Sachliche Ablehnung. Vertriebenenpresse zum „Achter“-Memorandum, in: DOD vom 17.03.1962, S. 14. 80 Vgl. Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östli- chen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift, abgedruckt in: Deutschland und die östli- chen Nachbarn, S. 176-217. 81 Vgl. Heimatrecht ist kein Kaufpreis. EKD-Denkschrift ist keine Gesprächsgrundlage, in: DOD vom 27.10.1965, S. 1-2; REHS; vgl. auch: Trotz scharf: Unsicherheit. Evangelische

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antwortung heraus jeden Versuch zurückweisen, das Heimatrecht der Vertriebenen über die Köpfe der Betroffenen hinweg als Kaufpreis für eine Versöhnungspolitik ge- genüber dem kommunistischen Regime Polens anzubieten“, lautete die Stellung- nahme des BdV-Präsidiums zur EKD-Denkschrift.82 Die Autoren der evangelischen Denkschrift, die von der „Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung“ unter dem Vorsitz von Ludwig Raiser verfasst worden war, versuchten darin, der westdeut- schen Öffentlichkeit die Komplexität des Oder-Neiße-Problems zu erläutern, blickten auf die letzten zwanzig Jahre nach dem Kriegsende auf das Schicksal und die aktuelle Situation der deutschen Vertriebenen in der Bundesrepublik zurück und analysierten das historisch stark belastete deutsch-polnische Verhältnis. Sie zielten darauf ab, eine öffentlich-politische Diskussion anzuregen und den westdeutschen Politikern die Unausweichlichkeit der Grenzanerkennung an der Oder-Neiße-Linie klar zu ma- chen.83 Sie forderten einen Wandel im Bewusstsein der Bevölkerung genauso wie im politischen Handeln: „Die in dieser Denkschrift dazu aufgeführten rechtlichen, ethischen und theologischen Überlegungen, die auch in ein politisches Handeln eingehen müssen, sollen dahin wirken, eine neue Bewegung in die politischen Vorstellungen des deutschen Volkes hineinzubrin- gen und auch den Nachbarn im Osten einen Dialog auf neuer Ebene anzubieten. In diesem Dialog geht es konkret um die Fragen, wieweit die Vertriebenen ein Recht auf Rückkehr in die alte Heimat haben und wieweit ein Recht auf Rückgabe der abgetrennten Gebiete be- steht. Es ist unvermeidlich, beide Fragen in den gehörigen politischen und geschichtlichen Gesamtzusammenhang von heute zu stellen. Eine künftige haltbare Friedensordnung kann im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn nur im Zeichen eines neuen Anfanges verwirklicht werden. Über den gegenwärtigen Zustand einer so gut wie völligen Entfremdung und gegenseitiger Furcht- und Haßgefühle hinaus muß es zu einer Versöhnung kommen, die auch zwischen Völkern möglich ist. […] Die vorliegende Denk- schrift maßt sich also nicht an, den zum politischen Handeln berufenen Instanzen die Handlungswege vorzuzeichnen. Aber sie sieht eine Aufgabe der Kirche darin, dem deut- schen Volk die Ziele, auf die es ankommt, deutlicher bewußt zu machen, als das in der in- nerdeutschen Diskussion meist geschieht, und die in dieser Diskussion so oft zutage treten- den Widerstände gegen diese Ziele auszuräumen.“84 Mit der Veröffentlichung des „Tübinger Memorandums“ und der EKD-Denk- schrift war ein Wandel im Oder-Neiße-Diskurs in der Bundesrepublik nicht mehr auf-

Denkschrift wird stark diskutiert, in: DOD vom 9.11.1965, S. 3; Zurückhaltung und Kritik. Stellungnahmen der Bundesregierung und der Parteien, in: DOD vom 22.11.1965, S. 9-10; Mehr Ablehnung als Zustimmung. Das Presse- und Funkecho auf die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands, in: DOD vom 22.11.1965, S. 10-12; Wer koordinierte die Denkschrift?, in: DOD vom 30.11.1965, S. 2-3. 82 Heimatrecht ist kein Kaufpreis (wie Kap. 4, Anm. 81), S. 1. 83 Vgl. Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östli- chen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift, abgedruckt in: Deutschland und die östli- chen Nachbarn, S. 176-217. 84 Ebenda, S. 215, 217; vgl. auch: Stellungnahme der Bundesregierung zur öffentlichen Dis- kussion über die EKD-Denkschrift vom 24. November 1965, abgedruckt in: Die deutsche Ostpolitik, S. 117.

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zuhalten.85 Zwischen diesen beiden Initiativen schaltete sich auch das westdeutsche Fernsehen in die öffentliche Debatte um die Oder-Neiße-Grenze ein. In den Jahren 1963 und 1964 entstanden zwei Filme über die ehemaligen deutschen Ostgebiete, die auf heftigen Protest des BdV stießen. Am 7. Mai 1963 wurde der Dokumentarfilm „Polen in Breslau. Porträt einer Stadt“ ausgestrahlt, der im Auftrag des Norddeut- schen Rundfunks von Jürgen Neven-du Mont angefertigt wurde und Breslau als eine polnische Stadt darstellte. Die Auseinandersetzung um den Breslau-Film beschäftigte sogar den Deutschen Bundestag in einer Fragestunde am 15. Mai 1963.86 In seinem Fernsehbeitrag zeigte Neven-du Mont, wie stark Breslau im Zweiten Weltkrieg zer- stört worden war und welche Arbeit die Polen bei dem Wiederaufbau der Stadt geleis- tet hatten. Der Fernsehreporter lieferte dem westdeutschen Zuschauer einen Einblick in das Alltagsleben der Polen in Wrocław, indem er mit seiner Kamera eine polnische Familie zuhause, eine polnische Schule, die Universität, die Jugendclubs und Fabri- ken besuchte. Im Film wurden die Polen als Menschen dargestellt, die trotz ihrer Kriegserlebnisse und des Verlustes ihrer Heimat im Osten Polens hoffnungsvoll in die Zukunft blickten und sich ihr Leben in Wrocław einrichteten. Interessant sind die An- fangs- und Schlussszene der Fernsehdokumentation. Der Film beginnt mit einer Szene in einem Krankenhaus, wo neugeborene Kinder gezeigt werden. Es wird darauf hingewiesen, dass diese nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Kinder die alte deutsche Stadt Breslau für ihre Stadt halten werden. Diese Szene wird mit folgendem Kommentar versehen: „Diese jungen Erdenbürger sind in einer Stadt geboren worden, die sie unter den Namen Wrocław kennen lernen. Denn die alte deutsche Stadt Breslau ist seit achtzehn Jahren von Polen bewohnt. Die Deutschen, die hier ihre Heimat hatten, wurden vertrieben und die meisten Polen die hierher kamen, waren ebenfalls aus ihrer Heimat in Ostenpolen vertrie- ben worden. All das sind die Folgen unserer Vergangenheit unter Hitler.“87 In dieser einführenden Szene werden der Blick in die Zukunft, die die Neugebore- nen symbolisierten, und der Rückblick in die Vergangenheit unter nationalsozialisti- scher Herrschaft nebeneinandergestellt. Die letzte Filmszene knüpft an den Anfang an, indem wieder ein Säugling gezeigt wird, diesmal aber nicht im Krankenhaus, son- dern bei der Taufe. Kommentiert wird das folgendermaßen: „Jeden Tag werden polnische Kinder in Breslau getauft. Und wir können nicht verhindern, dass sie die Stadt lieben werden, in der sie geboren sind. Die Stadt, in der sie aufwachsen. Diese Kinder haben keine Schuld an dem Unrecht, das in der Vergangenheit geschah. Ohne

85 Zwei Monate nach der Veröffentlichung der EKD-Denkschrift kam es zu einem Brief- wechsel zwischen den polnischen und den deutschen katholischen Bischöfen. Die Initiative ging von den polnischen Bischöfen und dem polnischen Primas Stefan Wyszyński aus, die in einem Brief an ihre deutschen Amtskollegen im Namen der Polen um Vergebung baten und ihren Wunsch nach Versöhnung zwischen den Deutschen und Polen äußerten. Vgl. dazu: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ ... 86 Vgl. KITTEL, S. 43. 87 Zitat aus dem Film von JÜRGEN NEVEN-DU MONT: Polen in Breslau. Porträt einer Stadt. Produktion des Norddeutschen Rundfunks, 1963 (NDR-Archiv).

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Hitler und die Seinen, ohne jene, die ihm folgten, ohne jene, die nur schwiegen, würde man hier deutsche Lieder singen. Und Breslaus Bürger wären Deutsch.“88 Die beiden Zitate verdeutlichen, dass der Fernsehbeitrag von Neven-du Mont keine bloße Darstellung des Alltagslebens der Polen in Wrocław war. Durch das Ne- beneinanderstellen der deutschen und polnischen Vertriebenen und durch den Hin- weis darauf, dass es die Grenzverschiebung an der Oder-Neiße-Linie und die Vertrei- bung der Deutschen nie gegeben hätte, wenn die Nationalsozialisten unter der Füh- rung von Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg nicht begonnen hätten, schaltete sich Neven-du Mont mit dem Fernsehbeitrag sowohl in den Oder-Neiße- als auch den Op- ferdiskurs ein. Er forderte den westdeutschen Zuschauer heraus, die Vertreibung der Deutschen und den Verlust der Oder-Neiße-Gebiete in einem größeren historischen Kontext zu betrachten. Er brachte Fragen nach Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkriegs und des deutschen Schicksals stärker in die öffentliche Diskussion ein. Die heftige Kritik der Breslau-Sendung durch die Vertriebenenverbände war dadurch bedingt, dass sie sehr direkt mit Fragen konfrontiert wurden, auf die sie nicht vorbe- reitet waren. Nur zwei Monate später, am 2. Juli, wurde im NDR eine Dokumentation unter dem Titel „Sind wir Revanchisten? Die Deutschen und die Oder-Neiße-Linie“ ausge- strahlt, die ebenfalls von Jürgen Neven-du Mont stammte.89 Darin lieferte er einen historischen Kontext zum Oder-Neiße-Konflikt und schilderte die aktuelle Rechtslage Deutschlands. Seine Aufmerksamkeit richtete er allerdings primär auf die Vertriebe- nenverbände und ihre Arbeit. Indem er Bilder deutscher Jugend im Osten zeigte, die zu militärischer Musik auf den Vertriebenenveranstaltungen in Reihen marschierten, erweckte er bei den Zuschauern Erinnerungen an die nationalsozialistischen Partei- tage. Er zeigte aber gleichzeitig, dass viele Vertriebene an den Reden der westdeut- schen Spitzenpolitiker interessiert waren, die Veranstaltungen aber verließen, sobald radikale Vertriebenenfunktionäre wie z.B. Erich Schellhaus auf die Tribüne kamen. Neven-du Mont merkte in seiner Dokumentation an, dass er den BdV-Präsidenten Hans Krüger und den Vorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien Erich Schellhaus um ein Interview gebeten habe, doch keiner der beiden Vertriebenenfunktionäre sei in dieser Form zur Teilnahme an der Dokumentation bereit gewesen. Die Schlussfolge- rung seines Fernsehbeitrags und Antwort auf die im Titel gestellte Frage war, dass weder die deutschen Vertriebenen noch die Westdeutschen Revanchisten seien. Die Kritik Neven-du Monts richtete sich ausschließlich an die Vertriebenenfunktionäre,

88 Ebenda. 89 Der Fernsehbeitrag „Sind wir Revanchisten?“ wurde kurze Zeit nach der Breslau-Sendung ausgestrahlt. Obwohl er vom BdV scharf kritisiert wurde, blieb seine Kritik stark im Schat- ten der Proteste gegen die Breslau-Sendung und gegen die ein Jahr darauf folgende Doku- mentation „Deutschlands Osten – Polens Westen“ von Hansjakob Stehle. Da vor allem diese beiden Fernsehbeiträge für eine Diskussion auf massenmedialer Ebene sorgten, wird die Dokumentation „Sind wir Revanchisten?“ in der vorliegenden Arbeit nicht ausführli- cher behandelt. Zur Kritik des BdV an dieser Sendung vgl. CLEMENS J. NEUMANN: Breslau, weder schwarz noch weiß, in: DOD vom 8.07.1963, S. 4-5.

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die mit ihren radikalen Reden dem Ansehen der Bundesrepublik nur geschadet hätten. Dementsprechend hieß es zum Schluss der Dokumentation: „[Es gibt] kein[en] Beweis dafür, dass alle Schlesier Revanchisten, dass alle Deutschen ohne Sitten sind. Doch solange die Trommeln schlagen und solange wir es ertragen, dass ein paar wenige ohne Vernunft handeln und sprechen, solange müssen wir auch ertragen, dass man uns allen einen falschen Namen gibt, den wir nicht verdienen.“90 Beide Fernsehbeiträge lösten beim BdV heftige Kritik aus. Diese verlief auf zwei Gleisen: Einerseits protestierte er gegen die Darstellung der Stadt Breslau als einer polnischen Stadt und damit auch gegen die vermeintliche Verfälschung der gesamt- deutschen Geschichte. Andererseits warf er den Medien vor, die deutschen Vertriebe- nen und ihre Verbände in der Öffentlichkeit in ungünstigem Licht darzustellen und zu benachteiligen. Vor dem Hintergrund der Breslau-Sendung bekam der BdV zum ers- ten Mal deutlich zu spüren, dass seine Geschichtsdeutung in der Öffentlichkeit immer mehr zurückgedrängt wurde. Im zentralen Informationsdienst des BdV wurde den Medien „Meinungsmonopol“ vorgeworfen: „Die Bundesversammlung warnt die deutsche Öffentlichkeit, gedankenlos einem Verhalten zuzusehen, das eine den deutschen Lebensinteressen entgegengesetzte Politik propagiert und auf eine Nebenregierung hinausläuft. Die Bundesversammlung bekennt sich zum Recht auf Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit heißt aber nicht Meinungsmonopol. Der Anspruch auf ungeschmälerte und unverfälschte Gegenäußerung muß auch gegen Rund- funk- und Fernseh-Anstalten gelten.“91 Die Forderung nach Meinungsfreiheit war ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich der BdV mit seiner Stimme in der Öffentlichkeit marginalisiert fühlte. Seine Deutung der Geschichte fand aufgrund des graduellen Wandels im Oder-Neiße-Diskurs immer weniger Beachtung. In der oben zitierten Textpassage kommt eine klare Polarisierung zum Ausdruck: Es wird zwischen den Medienakteuren, die eine verfälschte Ge- schichtserzählung der Öffentlichkeit bieten, und dem BdV unterschieden, der die mit der Wahrheit übereinstimmende Geschichtsauslegung zu bieten glaubte. Den Verlust seiner Deutungshoheit über das Thema des „deutschen Ostens“ interpretierte der BdV als Diskriminierung der deutschen Vertriebenen in der Öffentlichkeit. Das Fernsehen hätte versucht, „die heimatpolitischen Zielsetzungen der Vertriebenenverbände zu diskreditieren und ihre Tätigkeit in ein ungünstiges Licht zu rücken“92. Die Medien hätten in ihrer Berichterstattung das von den Vertriebenen vertretene „Recht auf die Heimat“ und das „Selbstbestimmungsrecht“ abgewertet.93 Auf einer Arbeitstagung des BdV Ende Juni 1963 warf Herbert Hupka laut DOD den westdeutschen Medien vor, sie würden „systematisch die Arbeit der Vertriebenen ‚verketzern‘ und somit ein

90 Zitat aus dem Film von Jürgen Neven-du Mont: Sind wir Revanchisten? Die Deutschen und die Oder-Neiße-Linie. Produktion des Norddeutschen Rundfunks, 1963 (NDR-Archiv). 91 Im Zeichen des Vertriebenen-Kreuzes, in: DOD vom 8.07.1963, S. 7. 92 Wortlaut des Berichts von Präsidialmitglied Dr. Herbert Hupka (wie Kap. 4, Anm. 68), S. 4. 93 Vgl. Im Zeichen des Vertriebenen-Kreuzes (wie Kap. 4, Anm. 91).

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völlig verzerrtes und falsches Bild von den Vertriebenenverbänden entwerfen“94. Diese Vorwürfe gegenüber den Medien waren zum einen auf die beiden Sendungen „Polen in Breslau“ sowie „Sind wir Revanchisten?“ zurückzuführen. Zum anderen waren sie auch die Folge der negativen Reaktionen der Massenmedien auf das „Schle- siertreffen“, das im gleichen Jahr stattfand. Dort war Neven-du Mont mit seinem Kamerateam anwesend, um über das Vertriebenentreffen zu berichten, und wurde von einer Gruppe der Vertriebenen angegriffen. Dieser Zwischenfall wurde im Spiegel und in der Zeit mit Empörung kommentiert, was genauer im Kapitel 4.1.2 thematisiert wird. Aufgrund der Tatsache, dass der BdV weder bei der Entstehung der Breslau-Sen- dung noch bei dem anderen Fernsehbeitrag von Neven-du Mont unter dem Titel „Sind wir Revanchisten?“ beteiligt bzw. konsultiert wurde, fühlte er sich übergangen. Seine Geschichtsschilderung war nicht mehr gefragt und dadurch sein Anspruch auf Deu- tungshoheit nicht mehr beachtet. Das zumindest lässt sich am folgenden Zitat von Herbert Hupka feststellen: „Wir lassen unsere heimatpolitischen Probleme nicht über unsere Köpfe hinweg behandeln. Wir lassen uns auch nicht durch eine bewusste Abwertung der Begriffe Vertriebenenpolitik oder Vertriebenenverbände vor dem eigenen Volk diskriminieren. Wir sind als Ost- deutsche, Sudetendeutsche und Südostdeutsche nicht nur Glieder des deutschen Volkes, sondern auch eine Säule der Stabilität der deutschen Demokratie.“95 Dieses Zitat macht deutlich, dass die Entstehung der beiden Fernsehsendungen ohne Mitwirkung des BdV von dem Verband als Handeln über die Köpfe des Ver- bandes hinweg gedeutet wurde. Daran lässt sich erkennen, dass der Verband nicht nur in die politischen Entscheidungen über die Oder-Neiße-Gebiete einbezogen werden, sondern auch eine Art „Wache“ über das öffentliche Bild dieser Gebiete in der Bun- desrepublik halten wollte. Der BdV erwartete nicht nur von den Politikern, sondern auch von der öffentlichen Meinung und den Massenmedien, dass sie ihn als offiziel- len Vertreter der Vertriebenengemeinschaft beachteten und in jede Initiative oder Ent- scheidung einbeziehen, die mit dem Vertreibungsthema oder den „deutschen Ostge- bieten“ zusammenhingen. Nach der Fernsehsendung „Polen in Breslau“ war es 1964 der Fernsehbeitrag „Deutschlands Osten – Polens Westen?“, der von Hansjakob Stehle für den Hessi- schen Rundfunk verfasst wurde und auf heftige Kritik der Vertriebenenverbände stieß.96 Auch bei der Entstehung dieser Fernsehsendung fühlte sich der BdV übergan- gen und durch die Botschaft des Filmes aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt.97 Im Gegensatz zu Neven-du Mont konzentrierte sich Stehle in seiner Reportage nicht auf eine, sondern auf mehrere Städte in den Oder-Neiße-Gebieten. Ähnlich wie Neven-du

94 Große meinungsbildende Aufgaben. Die politische Bedeutung der Vertriebenenpresse, in: DOD vom 8.07.1963, S. 8. 95 Wortlaut des Berichts von Präsidialmitglied Dr. Herbert Hupka (wie Kap. 4, Anm. 68), S. 4. 96 Das Filmskript ist als Text abgedruckt in STEHLE, S. 40-64. 97 Vgl. CLEMENS J. NEUMANN: Meinungsfreiheit auch für Vertriebene, in: DOD vom 14.11.1964, S. 1-2.

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Mont brachte Stehle dem westdeutschen Zuschauer das Alltagsleben der Polen näher, und auch er machte darauf aufmerksam, dass es das Oder-Neiße-Problem ohne den Zweiten Weltkrieg nicht gäbe. Am Anfang seiner Reportage verwies er auf Hitlers Vernichtungskrieg als Ursache für den Verlust der Oder-Neiße-Gebiete. Das bekräf- tigte er noch einmal am Ende seiner Dokumentation und sprach von den „deutschen Ostgebieten“ als Heimatort für die neue Generation der dort geborenen Polen: „Danzig heute, das alte, neue Danzig. 25 Jahre nach den ersten Schüssen. Nach einem Krieg, der fremdes Land im Osten gewinnen wollte, doch eigenes verspielte. 8,2 Millionen Polen leben nun hier. Fast vier Millionen sind schon hier geboren. Nur Gewalt könnte sie wieder vertreiben oder abtrennen. Gewalt aber will niemand. Es gilt daher, den Blick auf die Tatsachen – auch die schmerzlichen – zu lenken. Eine Aufgabe deutscher Politik; sie ist damit konfrontiert. Wenn nicht heute, dann an dem Tage, an dem Deutschland im Frieden Polens Nachbar wird.“98 An diesem Zitat merkt man, dass Hansjakob Stehle die westdeutschen Politiker zur Konfrontation mit dem Oder-Neiße-Problem und zum Handeln aufforderte, was Neven-du Mont in der Breslau-Sendung nicht tat. Die Auseinandersetzung um die Fernsehsendung Stehles wurde durch den BdV zu einer Debatte über Grundrechte, Gleichbehandlung und Meinungsfreiheit hochgespielt. Die Fernsehdokumentation wurde vom Dachverband als Bedrohung der Nationalinteressen gedeutet. In einem of- fenen Brief an den Intendanten des Hessischen Rundfunks schrieb der BdV-Präsident Wenzel Jaksch: „Durch die Übertragung einer Berichterstattung, bei der vitale Inter- essen des deutschen Volkes auf dem Spiele stehen, an einen Befürworter polnischer Expansionsinteressen hat der Hessische Rundfunk seine Pflicht zur objektiven Be- richterstattung gröblich verletzt.“99 Im Vergleich zum Argumentationsmuster des BdV aus dem Jahr 1963 kann man nun stärker die Betonung des moralischen Aspekts beobachten. Jaksch warf hier den Medien vor, sie hätten ihre Pflicht zur Objektivität verletzt und damit nicht nur den Vertriebenen, sondern auch den Interessen des gan- zen deutschen Volkes geschadet. Gemäß seiner Selbstdarstellung baute er auch vor dem Hintergrund der Fernsehdebatten seine Rolle als Rechtsschützer der Vertrei- bungsopfer zum Beschützer der ganzen Nation aus. Am Beispiel der Diskussion um die Fernsehdokumentationen aus den Jahren 1963 und 1964 kann man sehen, wie der BdV gegen den Verlust seiner Deutungshoheit über die Vertriebenenthemen kämpfte. Je mehr Befürworter die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hatte, desto mehr fühlte sich der BdV mit seinem Argumenta- tionsmuster in der Öffentlichkeit marginalisiert. Es ist verständlich, dass alle drei Fernsehsendungen von den Vertriebenenverbänden scharf kritisiert wurden. Sie for- derten ein Umdenken im Oder-Neiße-Diskurs und hatten zum Ziel, die westdeutsche Öffentlichkeit und die Politik zu einem Meinungswandel zu bewegen. Obwohl es sich bei dem Oder-Neiße-Konflikt um einen internationalen Konflikt handelte, ist er nach Hans Georg Lehmann doch, insbesondere in Deutschland und Polen, Gegenstand in-

98 Zitiert nach dem Filmskript in STEHLE, S. 40-64, hier S. 64. 99 WENZEL JAKSCH: Offener Brief an den Intendanten des Hessischen Rundfunks, Pfarrer Werner Hess!, in: DOD vom 2.11.1964, S. 1.

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nerer, nationaler Auseinandersetzungen gewesen.100 Er habe sich „in politischen, gesellschaftlichen, ideologischen und rechtlichen Streitigkeiten entladen“101. In die- sem Kapitel wurde gezeigt, dass Lehmanns These auf die erste Hälfte der 1960er Jahre der Bundesrepublik zutrifft. Der Oder-Neiße-Konflikt entlud sich in diesem Zeitraum unter anderem in einem Deutungskampf zwischen den Vertriebenenverbän- den und der westdeutschen Öffentlichkeit, in der immer stärker ein Bewusstseins- wandel gefordert wurde. Im nächsten Kapitel wird gezeigt, wie stark der BdV in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit seinem Argumentationsmuster bei der Auseinan- dersetzung um die Oder-Neiße-Grenze in die Defensive geriet und wie sich das auf seine Selbstdarstellung als „politische Kraft“ sowie seinen „Aufklärungsfeldzug“ aus- wirkte.

4.1.2 „Meinungsterror“ Im vorherigen Kapitel wurde dargelegt, wie der BdV von seiner politischen Bedeu- tung überzeugt war und politische Entscheidungskraft beanspruchte, was unter ande- ren an den Selbstbezeichnungen „politische Kraft“ oder „politischer Faktor“ erkenn- bar ist. Mit der politischen Rolle des BdV bzw. der Vertriebenenverbände setzten sich auch die westdeutschen Medien auseinander. In der FAZ, der Zeit und dem Spiegel kam das folgendermaßen zum Ausdruck: Erstens wiesen alle drei Blätter auf das Wählerpotenzial des Dachverbandes hin, zweitens berichteten sie, mit Ausnahme des Spiegels, über die Ernennung des BdV-Präsidenten Hans Krüger zum Vertriebenen- minister im Jahre 1963 und drittens machten sie auf das „Schlesiertreffen“ von 1963 aufmerksam, an dem Bundeskanzler Adenauer und der SPD-Vorsitzende Willy Brandt teilnahmen und somit ihre politische Unterstützung für die Vertriebenenver- bände öffentlich manifestierten. Die „politische Kraft“ des BdV wurde von der FAZ, der Zeit und dem Spiegel ge- nauso wie von dem Dachverband selbst am Wählerpotenzial der Vertriebenen gemes- sen, was zum Teil im dritten Kapitel dieser Arbeit dargelegt wurde. Alle drei Blätter machten auf die Tatsache aufmerksam, dass der BdV gemäß der Anzahl seiner Mit- glieder den zweitgrößten Verband nach den Gewerkschaften in der Bundesrepublik darstellte und damit über Einfluss auf eine große Wählergruppe verfügte. In diesem Kontext wurde allerdings nicht ausdrücklich von der Mobilisierungskraft des BdV, sondern im Allgemeinen über die Mobilisierungsmacht der Vertriebenenverbände ins- gesamt gesprochen.102 Die politische Bedeutung des BdV bzw. der Vertriebenen- organisationen im Hinblick auf ihr Wählerpotenzial wurde allerdings erst in der

100 Vgl. LEHMANN, S. 19. 101 Ebenda, S. 18. 102 Vgl. DIETRICH STROTHMANN: Sein Prinzip: Besonnenheit. Hans Krüger – der neue Mann im Vertriebenenministerium, in: Die Zeit vom 22.11.1963; Vertriebene, in: Der Spiegel vom 23.11.1960, S. 25; Bund der Vertriebenen (wie Kap. 4, Anm. 24); BITZER, Heimatver- triebene unter einem Dach (wie Kap. 4, Anm. 23); Spannungen in der Berliner Sitzung der Vertriebenen (wie Kap. 4, Anm. 27).

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zweiten Hälfte der 1960er Jahre umfangreich diskutiert und langsam in Frage gestellt, was hauptsächlich mit den Bundestagswahlen von 1969 verbunden war.103 Als Beweis für die politische Bedeutung des BdV bewertete die westdeutsche Presse im Jahre 1963 die Ernennung des BdV-Präsidenten Hans Krüger zum Vertrie- benenminister. Die „politische Kraft“ des BdV manifestierte sich hier in Form von Personalpolitik.104 Personelle Kontakte zwischen den Vertriebenenverbänden und Parteien seien nach Hans-Josef Brües insofern wichtig gewesen, als dadurch die Ver- bände in den Parteien wirken und auf sie Einfluss nehmen konnten.105 Die Personal- politik als Instrument der Einflussnahme und Kommunikation hält Brües für die Ver- triebenenorganisationen für wesentlich erfolgreicher als die Einflussmöglichkeit durch öffentliche Zusammenkünfte der Vertriebenen. Dank personeller Vertretung in den Ministerien auf der Bund- und Länderebene konnten die Vertriebenenorganisa- tionen nicht nur auf den Aufbau der Vertriebenen- und Flüchtlingsverwaltungen, auf die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in Westdeutschland, sondern auch auf die Gesetzesvorbereitung und auf viele andere politische Entscheidungen in den Bundes- und Länderministerien Einfluss nehmen.106 Durch Krügers Ernennung zum Vertriebenenminister wurde die massenmediale Aufmerksamkeit automatisch auf den Bund der Vertriebenen gelenkt. In der FAZ hieß es: „Mit Krüger, der seit 1957 dem Bundestag angehört, in der Öffentlichkeit in- dessen mehr durch sein Amt als Präsident des Bundes der Vertriebenen bekannt ge- worden ist, wird wieder ein Ostdeutscher an der Spitze des Ministeriums für Vertrie- bene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte stehen.“107 Dabei ist das Blatt auf die Rivalitäten zwischen den Vertriebenenfunktionären eingegangen, von denen die Wahl zum BdV-Präsidenten Krüger gekennzeichnet war. Insgesamt fiel die FAZ-Berichter- stattung positiv aus. In der Zeit wurde die Wahl des BdV-Präsidenten zum Vertriebe- nenminister auch positiv eingeschätzt. Hans Krüger wurde als „bedachtsame[r], ge- duldige[r] Flüchtlingspolitiker“ bezeichnet, der im BdV für „Ruhe und Ordnung unter den manchmal aufsässigen Vertriebenen“ sorgte und „die Radikalen durch gutes Zu- reden zum Schweigen“ brachte.108 Worte der Zufriedenheit mit dem BdV-Präsidenten als dem neuen Vertriebenenminister setzte das Hamburger Blatt folgendermaßen fort: „Von all dem hält der neue Minister nichts und nimmt in Kauf, wenn er zuweilen von sei- nen eigenen Leuten als „Weichling“ und „Kompromißler“ verächtlich gemacht wird. ,Ich

103 Vgl. dazu Kapitel 4.2.2. 104 Da es sich in der Arbeit um die Untersuchung des BdV in der Öffentlichkeit handelt, wird die Personalpolitik nur dann behandelt, wenn sie die Aufmerksamkeit der Massenmedien geweckt hat und zum Gegenstand ihrer Berichterstattung wurde. Wie bereits in der Einlei- tung angemerkt, wird die mit der Personalpolitik verbundene Lobbyarbeit des BdV in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht. 105 Vgl. BRÜES, S. 81. 106 Vgl. ebenda, S. 91 f. 107 : Die neuen Minister im Kabinett Erhard, in: FAZ vom 18.10.1963; vgl. auch: Ludwig Erhard zum Bundeskanzler gewählt, in: FAZ vom 17.10.1963. 108 STROTHMANN, Sein Prinzip: Besonnenheit (wie Kap. 4, Anm. 102), S. 2.

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bin durchaus ein leidenschaftlicher Mensch. Wie hätte ich auch sonst einen solchen Ver- band führen können?‘ In solchen Worten klingt kein Eigenlob. Sie kommen nur zögernd über seine Lippen, so als strengten sie ihn an. […] Um den zurückhaltenden Mann ranken sich keine Anekdoten. Ganz normal, fast einförmig ist sein Leben verlaufen. Krüger machte keine Karriere, boxte sich nicht nach vorn und glänzte nicht durch forensische Künste. […] Mit Hans Krüger ist kein Aufhebens zu machen. Er wird auch als Minister ein Mann sein, von dem man nicht viel spricht. Das aber ist, gerade für dieses heikle Amt, das einzig Richtige.“109 Erfreut zeigte sich der Zeit-Redakteur Dietrich Strothmann darüber, dass Krüger keine Zielscheibe der kommunistischen Propaganda sein werde, weil es sich hier um keinen radikalen Vertriebenenfunktionär handele.110 Doch als sich 1964 herausstellte, dass Krüger während des Zweiten Weltkriegs Beisitzer eines Sondergerichts in Ko- nitz (Chojnice) gewesen war und an Todesurteilen mitgewirkt hatte, sah er sich ge- zwungen, vom Amt des Vertriebenenministers zurückzutreten.111 Die Prognose Strothmanns, Krüger sei endlich ein Vertriebenenpolitiker, der für keine negativen Schlagzeilen sorgen würde, bewahrheitete sich also nicht. Über den Rücktritt Krügers berichtete nicht nur die FAZ, sondern auch Die Zeit. In der Wochenzeitung wurde der Rücktritt als „Panne“ bezeichnet, die sich nicht wiederholen dürfe.112 Krüger war nämlich nach dem früheren Vertriebenenminister Theodor Oberländer und einigen anderen westdeutschen Spitzenpolitikern nicht der Erste, bei dem die nationalsozia- listische Vergangenheit enthüllt worden war.113 Als die NS-Vergangenheit von Theo- dor Oberländer, dem CDU-Politiker und Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, der Öffentlichkeit bekannt wurde, löste das 1959/60 eine hef- tige medienpolitische Debatte aus. Oberländer sah sich 1960 gezwungen, von seinem Ministerposten zurückzutreten.114 Die DDR-Staatsanwaltschaft warf Oberländer vor, an der Erschießung von mehreren tausend Juden und Polen in Lemberg im Jahre 1941 beteiligt gewesen zu sein.115 Im Kontext des Rücktritts von Hans Krüger wurde in der Zeit der Vorschlag gemacht, in Zukunft vor der Besetzung der Ministerposten die Vergangenheit der Kandidaten zu überprüfen oder die Ministerialämter mit Vertretern der jungen Generation zu besetzen.116

109 Ebenda. Kursiv im Original. 110 Vgl. ebenda. 111 Vgl. Vertriebenenminister Krüger tritt zurück, in: FAZ vom 1.02.1964. 112 ROBERT STROBEL: Nazis in Bonn, in: Die Zeit vom 21.02.1964. 113 Vgl. ebenda. 114 Vgl. WACHS, S. 12 f.; vgl. auch: THILO KOCH: Oberländer-Finale, in: Die Zeit vom 6.05. 1960; Oberländer redivivus, in: Die Zeit vom 2.03.1962; Drittes Reich im Kleinen, in: Der Spiegel vom 2.12.1959, S. 29-42; Kabinetts-Reform, in: Der Spiegel vom 13.01.1960, S. 15; MORITZ PFEIL: Freikorps Oberland, in: Der Spiegel vom 27.01.1960, S. 26; Ohne Geschäftsbereich, in: Der Spiegel vom 29.06.1960, S. 21-22. 115 Vgl. Wachs, S. 13. 116 Vgl. STROBEL, Nazis in Bonn (wie Kap. 4, Anm. 112); vgl. auch: Minister mit Vergangen- heit, in: Die Zeit vom 31.01.1964; Krügers Vergeßlichkeit, in: Die Zeit vom 31.01.1964.

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Die politische Bedeutung der Vertriebenenverbände wurde nicht nur durch die Personalpolitik zum Ausdruck gebracht, sondern auch durch die Anwesenheit der westdeutschen Spitzenpolitiker auf den Vertriebenenveranstaltungen. Bereits in Ka- pitel 4.1.1 wurde kurz darauf hingewiesen, dass an dem „Schlesiertreffen“ von 1963 sowohl der Christdemokrat Konrad Adenauer als auch der Sozialdemokrat Willy Brandt teilnahmen und damit ihre Solidarität mit den deutschen Vertriebenen sowie ihre politische Unterstützung für die Vertriebenengemeinschaft manifestierten. Die Veranstaltung erregte nicht nur der prominenten Gäste wegen die große Aufmerk- samkeit der westdeutschen Medien, sondern vor allem wegen des Angriffs auf den Fernsehreporter Neven-du Mont, den Autor der von dem BdV scharf kritisierten Sendungen „Polen in Breslau“ und „Sind wir Revanchisten?“. Seit diesem Zwischen- fall und der scharfen Kritik des BdV an der Breslau-Sendung rückte das öffentliche Bild der Vertriebenen und ihrer Verbände immer mehr ins Negative. Der Fernsehreporter Neven-du Mont war auf dem „Schlesiertreffen“ mit seinem Kamerateam da, um über die Veranstaltung für das deutsche Fernsehen zu berichten. Plötzlich wurde er durch eine Vertriebenengruppe angegriffen und erst mit Hilfe der Polizei in Sicherheit gebracht. Der Angriff ereignete sich, während der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Erich Schellhaus, eine sehr emotionale Rede hielt, in der er die Breslau-Sendung scharf kritisierte. Im Spiegel war von einer „Lynch-Stim- mung“ auf dem Vertriebenentreffen die Rede.117 Mit Entsetzen stellte das Blatt fest, dass Neven-du Mont unschuldig zum Opfer einer wütenden Vertriebenengruppe ge- worden sei: „Unter Feldgeschrei (‚Er hat unsere Heimat verraten. Wir brauchen keine Bolschewisten!‘) schlugen Heimatvertriebene mit Fäusten auf den Fernsehmann ein, zerrten ihn vom Podest, traten mit den Füßen nach ihm. Andere prügelten mit Fah- nenstangen auf die Kameraleute ein.“118 Indem Der Spiegel Bezeichnungen für Neven-du Mont wie „Bolschewist“ und „Verräter“ aufgriff, machte er auf die radikale und nationalsozialistisch gefärbte Sprache der Vertriebenen aufmerksam. Diese radi- kalisierte sich im Laufe der 1960er Jahre, je stärker sich der Wandel im Oder-Neiße- Diskurs in Öffentlichkeit und Politik abzeichnete. Als nationaler Verräter galt für die Vertriebenenfunktionäre jeder, der sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprach oder die Notwendigkeit der Grenzanerkennung schon ansatzweise sugge- rierte. Ein Wandel im Sprachgebrauch des BdV lässt sich in dieser Hinsicht erst seit der Ratifizierung der Ostverträge 1972 beobachten. Nicht nur das Verhalten der Vertriebenen, sondern auch das der auf der Veranstal- tung anwesenden Politiker wurde im Spiegel scharf kritisiert: „Der Kameramann des NDR filmte während des Tumults wacker die Reaktion der Ehrengäste. Adenauer gab trotz des Spektakels in aller Ruhe Autogramme; Willy Brandt blickte auf seine Schuhspitzen. Unterdessen schrie sich Vertriebenenminister Schellhaus am Mikro- phon heiser: ‚Seid doch still!‘ Unter Polizeibedeckung – Kriminalrat Rausch befürch- tete Lynch-Justiz – wurde Fernsehmann Neven-du Mont vom Platz geschafft.“119 Der

117 Zorn im Fackelschein, in: Der Spiegel vom 19.06.1963, S. 17. 118 Ebenda, S. 17 f. 119 Ebenda, S. 18.

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Zwischenfall auf dem „Schlesiertreffen“ zeigte eindrucksvoll, wie verzweifelt die Vertriebenen jeglichen Wandel im Oder-Neiße-Diskurs verhindern wollten und zu diesem Zweck sogar zum Gewalteinsatz bereit waren. Indem Der Spiegel den gelasse- nen Politikern Adenauer und Brandt eine gewalttätige Vertriebenengruppe gegenüber- stellte, brachte er die Spaltung in der westdeutschen Gesellschaft zum Ausdruck. Auf der einen Seite zeigte er die Gleichgültigkeit zweier Spitzenpolitiker gegenüber dem gerade stattfindenden Angriff, auf der anderen machte das Blatt auf die verzweifelten Vertriebenen aufmerksam, die ihre Emotionen nicht mehr im Griff hatten. In der Zeit wurde von „Politik mit Fäusten“ gesprochen und die Befürchtung von „Terror“ ausgedrückt.120 Ähnlich wie im Spiegel wurde auch hier mit Entsetzen über das gewalttätige Verhalten der Vertriebenen berichtet: „Wären Kölner Polizisten (die sich dabei selber ein paar blaue Augen holten) nicht zu Hilfe gekommen, dann hätte es leicht passieren können, daß der Mob, aufgepeitscht durch eine Funktionärsrede, den Chefreporter des NDR-Fernsehens, Jürgen Neven-du Mont, zu Tode getrampelt hätte – und dies vor den Augen Konrad Adenauers und Willy Brandts.“121 Es wurde darauf hingewiesen, dass zwischen den westdeutschen Spitzenpolitikern Adenauer und Brandt der Vertriebenenfunktionär Erich Schellhaus saß, der noch ein Jahr zuvor für jeden, der sich für den Verzicht der Oder-Neiße-Gebiete aussprach, Gefängnis- oder Zuchthausstrafe gefordert hatte. Dabei wurde in der Wochenzeitung die Hoff- nung ausgedrückt, dass der Bundeskanzler zum letzten Mal auf der Ehrentribüne neben dem radikalen Schellhaus gesessen habe, auch wenn dabei einige Wählerstim- men verloren gehen sollten.122 Obwohl die Vertriebenen für ihr unbeherrschtes Verhalten in der Zeit stark kriti- siert wurden, wurde zugleich Verständnis für sie geäußert. Für die Ausschreitung auf dem „Schlesiertreffen“ machte das Blatt vor allem westdeutsche Politiker verant- wortlich, die aus politischem Kalkül in den Vertriebenen jahrelang die Illusion einer Rückkehr in die Oder-Neiße-Gebiete aufrechterhalten hätten. Die Vertriebenen wur- den als „eine von Emotionen durchschüttelte Masse“ bezeichnet, „der man schon allzu lange versprochen hat, was nicht zu halten ist“. Voller Enttäuschung hätten sie einen „Sündenbock“ gesucht und fanden ihn im Fernsehreporter Neven-du Mont.123 „Die Sünde des Jürgen Neven-du Mont hat darin bestanden, daß er in seiner Fernseh- sendung ‚Polen in Breslau‘ den durch zwei Jahrzehnte konservierten Wunschvorstel- lungen das Bild der Wirklichkeit des Jahres 1963 entgegengehalten hatte“, schrieb Die Zeit. Besorgt wies das Blatt weiter darauf hin, dass schon einmal „in Deutschland das Volk gegen Sündenböcke aufgewiegelt“ worden war, was die „Kristallnacht“ zur Folge gehabt hatte.124 Damit machte die Wochenzeitung auf die Gefahr einer Radika- lisierung der Vertriebenenverbände aufmerksam und warnte vor Konfliktlösungen durch Gewalt.

120 Politik mit Fäusten, in: Die Zeit vom 14.06.1963. 121 Ebenda. 122 Vgl. ebenda. 123 Ebenda. 124 Ebenda.

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Kritik an westdeutschen Politikern drückte neben der Zeit und dem Spiegel auch die FAZ aus. Der Angriff auf Neven-du Mont wurde hier in der ersten Meldung aller- dings nur kurz und sachlich geschildert.125 Erst ein paar Tage später wurde dieser Zwischenfall ausführlicher von Jürgen Tern kommentiert, der für die Vertriebenen Mitgefühl zeigte. Der Autor bedauerte, dass die Vertriebenenveranstaltung „unlieb- sames Aufsehen“ erregt und „dieser Tumult zumal auf ausländische Beobachter abstoßend gewirkt“ habe.126 Den Angriff auf den Fernsehreporter Neven-du Mont be- zeichnete er als einen „peinliche[n] Vorfall“, der den Schlesiern und dem Bild der Deutschen im Ausland nur geschadet habe: „Gegen einen Journalisten, der unbequeme, umstrittene, auch dem Mißverständnis oder der Kritik ausgesetzte Ansichten von sich gegeben hat, die Faust zu erheben, das gilt in den westlichen Ländern als sehr schlechtes Argument. Und am Ende schneidet man sich damit ins eigene Fleisch.“127 Die Schuld für das Verhalten der Vertriebenen gab Tern dem Politiker Schellhaus, der in seiner Rede Unruhe geschürt habe anstatt sie zu vermeiden. Gleichzeitig be- kräftigte Tern, dass die Information über die Veränderungen in den Oder-Neiße-Ge- bieten trotz allem erforderlich gewesen sei und nicht verhindert werden dürfe: „Selbst das Unangenehme, das uns allen das Herz beklemmen mag, muß zur Kenntnis der deutschen Öffentlichkeit kommen.“128 Gleichzeitig appellierte er aber, auf die Gefüh- le der Betroffenen zu achten und sie zu respektieren.129 Der Angriff auf Neven-du Mont und die damit verbundene öffentliche Auseinan- dersetzung um den Inhalt der Breslau-Sendung führten dazu, dass der BdV die mas- senmediale Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Im Spiegel erschien ein umfangreiches Interview mit dem BdV-Präsidenten Hans Krüger, in dem er die Arbeit, die Ziele so- wie die Haltung seines Verbandes zum Oder-Neiße-Konflikt ausführlich darstellte.130 Er nahm aber vor allem im Namen der Vertriebenen und des Dachverbandes Stellung zur Breslau-Sendung. Laut dem BdV-Präsidenten richtete sich die Kritik seines Ver- bandes hauptsächlich darauf, dass in der Fernsehdokumentation über Breslau „die Wirklichkeit nicht richtig dargestellt wird, sondern dass er [Neven-du Mont] den Streifen, den Film oder die Bilder so gedreht und gezeigt hat, wie die Kommunisten ‚Polen in Breslau‘ von uns gesehen wissen wollen“. Der BdV habe die Breslau-Sen- dung als „nicht mit der Wahrheit übereinstimmend“ gefunden und deswegen dagegen protestiert.131 Nach Krüger stellte die Sendung eine Unterstützung der Diktion des kommunistischen Regimes dar. Auf die Frage, warum ein Journalist nicht ungestört seinen Berufspflichten nachgehen solle, antwortete Krüger: „Wenn Herr Neven-du Mont tatsächlich zu einer objektiven Berichterstattung bereit wäre, hätte ich gar keine

125 Vgl. Adenauer erwartet ein besseres Verhältnis zum Osten, in: FAZ vom 10.06.1963. 126 JÜRGEN TERN: Information über Breslau muß sein, in: FAZ vom 13/14.06.1963. 127 Ebenda. 128 Ebenda. 129 Vgl. ebenda. 130 Vgl. „Die Heimat schreit nach uns“, in: Der Spiegel vom 3.07.1963, S. 24-25. 131 Ebenda, S. 24.

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Bedenken gegen ihn.“132 Das Interview mit Hans Krüger war insofern wichtig, als es viel über den BdV aussagte: Der Vertriebenenverband sah sich als „Wächter“ objek- tiver Berichterstattung und Verkünder der Wahrheit. Im Spiegel-Gespräch kam deut- lich zum Ausdruck, dass alles, was im Gegensatz zu der vom BdV repräsentierten Geschichtsdeutung stand, von seinem Präsidenten als falsch bezeichnet wurde. Der Bund der Vertriebenen war nicht bereit, seine Deutungshoheit über alle Themen, die mit der Vertreibung und der Geschichte der Oder-Neiße-Gebiete zusammenhingen, aufzugeben. Nach der Breslau-Sendung wurde ein Jahr später die Fernsehdokumentation von Hansjakob Stehle „Deutschlands Osten – Polens Westen?“ ausgestrahlt, die erneut heftige Kritik des BdV hervorrief. Ähnlich wie 1963 gelangte der BdV auch jetzt auf die massenmediale Ebene. Diesmal drückte er seinen Protest viel schärfer und emo- tionaler aus. Dieser Wandel in der Rhetorik des Verbandes mag auf den Wechsel an seiner Spitze zurückzuführen sein. Als Nachfolger Krügers wurde Wenzel Jaksch zum BdV-Präsidenten gewählt. Der Deutungskonflikt um die „Wahrheit“ und „objek- tive Berichterstattung“ aus dem Jahr 1963 wurde vor dem Hintergrund einer neuen Fernsehsendung fortgesetzt. Der BdV ging mit seiner Kritik an den westdeutschen Medien deutlich weiter als noch ein Jahr zuvor, indem er die Medien zu seinem Feind und dem Feind der deutschen Nationalinteressen erklärte. Die FAZ stellte sich dies- mal völlig hinter die Fernsehsendung und suchte nicht mehr nach Gründen für die Vertriebenenproteste, wie sie das noch 1963 tat. Die Informationen aus Stehles Fern- sehbeitrag mochten zwar „für viele der früheren Bewohner schmerzlich“ gewesen sein, doch das, was gezeigt worden ist, sei laut der Zeitung wahrheitsgemäß gewe- sen.133 Die Zeit ging, im Gegensatz zu 1963, ausdrücklich auf den BdV ein und for- mulierte seine Auseinandersetzung mit den Medien folgendermaßen: „Was mag in Wenzel Jaksch gefahren sein? Seit der Sendung ‚Deutschlands Osten – Polens Westen‘ von Hansjakob Stehle im Hessischen Fernsehen vergeht keine Woche, ohne daß der Präsident des Bundes der Vertriebenen auf die Barrikaden steigt. Zum Monatsbeginn behauptete Jaksch in einem offenen Brief schlankweg, Stehles ,Festlegung auf den Stand- punkt der kommunistischen Regierung Polens‘ sei notorisch, der Intendant Pastor Hess stehe ,an der Seite der Todfeinde der Demokratie‘. Jetzt erkühnte er sich, Rundfunk und Fernsehen insgesamt vorzuwerfen, sie besorgten die Geschäfte der östlichen Diktaturen. Da in den Funkhäusern unter dem Mantel der Objektivität angeblich der ,Wurm des Nihi- lismus‘ nage, forderte der Präsident ein Mitspracherecht der Vertriebenen in den Aufsichts- ratsgremien der Anstalten. Und Wenzel Jaksch steht nicht allein: Die Vertriebenenver- bände wollen gegen die das Deutsche Fernsehen ,beherrschende Clique von Publizisten‘ ein Volksbegehren erzwingen und ihnen einen ,Maulkorb‘ umhängen. Zur Zeit werden Unterschriften für dieses Unternehmen gesammelt.“134 An diesem Zitat lässt sich erkennen, wie verzweifelt der BdV gegen den Verlust seiner Einflussnahme auf die öffentliche Meinung und die Politik kämpfte. Besonders

132 Ebenda. 133 Jenseits von Oder und Neiße, in: FAZ vom 5.10.1964. 134 DIETRICH STROTHMANN: Vorbild Seebohm, in: Die Zeit vom 20.11.1964. Kursiv im Origi- nal.

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deutlich wird das durch den Ausdruck „Clique der Publizisten“, zu der der BdV kei- nen Zugang hatte und dadurch in seiner öffentlichen Wirksamkeit deutlich ge- schwächt war. Die Medien wurden vom Vertriebenenverband zu „Verrätern“ deut- scher Interessen hochgespielt, weil sie sich mit der Fernsehdokumentation in den Dienst der Diktatur in Osteuropa statt in den Dienst der Wahrheit bzw. der Objektivi- tät gestellt hätten. Damit wurde der Fernsehbeitrag vom BdV sehr schnell zu einem Politikum hochgespielt. Im Spiegel wurde daraufhin die Stellungnahme des Hessi- schen Rundfunks zur heftigen Kritik seitens der Vertriebenenverbände wiedergege- ben. Darin wurden die Proteste der Vertriebenenorganisationen gegen die Sendung von dem Intendanten des Hessischen Rundfunks als eine „neue Form von Meinungs- terror“ bezeichnet und als „Versuche zur Einschränkung der freien Berichterstattung“ betrachtet.135 Wie kritisch die Lage dem BdV 1964 erschien, lässt sich besonders eindrücklich an der folgenden Textpassage erkennen: „Aber Wenzel Jaksch blieb unverdrossen. Aller Parteikritik zum Trotz war er in der vori- gen Woche der ,hochmütigen Fernsehbürokratie‘ erneut vor, sie benutze die Meinungsfrei- heit zur Meinungsfälschung. Die Vertriebenen würden von einigen Fernsehanstalten als ,Freiwild‘ betrachtet und ,an die Wand gedrückt‘. Um das zu ändern, kündigte er ,eine breit angelegte Kampagne für die Demokratisierung monopolartiger Massenmedien‘ an. So for- derte er namens des BdV ,das Mitbestimmungsrecht von Hörergemeinschaften‘ bei der Ge- staltung von Funk- und Fernsehprogrammen und ,die Verantwortungspflicht der Intendan- ten vor jährlich zusammentretenden Hörer- und Fernsehteilnehmer-Parlamenten‘. Insbe- sondere möchte der BdV dafür sorgen, daß künftig ,Ortskundige‘ die Funk- und Fernseh- Berichterstattung über die Gebiete jenseits von Oder und Neiße überwachen.“136 In diesem Zitat spiegelt sich der verzweifelte Kampf des BdV gegen den Verlust seiner Deutungshoheit über die Vertriebenenthemen wider. Laut Spiegel hielt Wenzel Jaksch sogar die „Überwachung“ der westdeutschen Berichterstattung zu den Oder- Neiße-Gebieten für notwendig. Indem er den westdeutschen Medien ein „Meinungs- monopol“ vorwarf, deutete er darauf hin, dass sie demokratische Prinzipien verletz- ten. Die Diskussion um einen Fernsehfilm nahm damit die Form einer Groteske ein, in der die Bundesrepublik vom BdV fast zu einer Diktatur stilisiert wurde, in der die Stimme der Vertriebenengemeinschaft unterdrückt wurde. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte um die EKD-Denkschrift erlangte der BdV deutlich weniger massenmediale Aufmerksamkeit als bei der Diskussion um die Fernsehsendungen. Der kritischen Stimme des Verbandes wurde sowohl in der FAZ als auch in der Zeit nur wenig Raum gewidmet. Die Zeit zitierte die Erklärung des BdV-Präsidiums, wonach das „Heimatrecht der Vertriebenen über die Köpfe der Betroffenen hinweg als Kaufpreis für eine Versöhnungspolitik gegenüber dem kom- munistischen Regime Polens“ nicht angeboten werden dürfe. Es wurde auch auf die Worte des BdV-Präsidenten Wenzel Jaksch eingegangen, der die Denkschrift als „Hi-

135 Ein und dasselbe Bild, in: Der Spiegel vom 25.11.1964, S. 63. 136 Ebenda.

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neinschmuggeln einer Kollektivschuld“ gedeutet habe.137 In der FAZ wurde die Enttäuschung des BdV über die Evangelische Kirche Deutschlands zum Ausdruck gebracht. Das Blatt zitierte die Stellungnahme des Verbandes, in der er die Denk- schrift als „Mißbrauch der kirchlichen Autorität“ bezeichnet habe.138 Weniger von der Haltung des BdV gegenüber der EKD-Denkschrift als vielmehr von seinem Stand- punkt zum Oder-Neiße-Problem handelte das Spiegel-Gespräch mit dem BdV-Präsi- denten Wenzel Jaksch. Hier schilderte Jaksch den offiziellen Standpunkt des BdV zur Oder-Neiße-Grenze und klärte über die heimatpolitischen Ziele seines Verbandes auf. Jakschs Argumentationsmuster ging dabei nicht über den bisher bekannten Rahmen hinaus und schien vor dem Hintergrund des Meinungswandels der 1960er Jahre von der Realität weit entfernt zu sein. Im Interview machte er mit seinen Aussagen deut- lich, dass der BdV zum Umdenken, das von immer mehr Öffentlichkeitsakteuren ge- fordert wurde, ganz und gar nicht bereit war.139 Zusammenfassend lässt sich für die Fremddarstellung des BdV in der ersten Hälfte der 1960er Jahre Folgendes konstatieren: Der Verband genoss viel mediale Aufmerk- samkeit. Sie war zum einen auf die Fragen nach der politischen Bedeutung der Ver- triebenen und ihrer Verbände in der Bundesrepublik gerichtet. Zum anderen rückte der BdV stark in das Rampenlicht, als sich in der westdeutschen Öffentlichkeit seit Anfang der 1960er Jahre der Wandel im Oder-Neiße-Diskurs immer mehr abzeich- nete. Der Angriff auf den Fernsehreporter Neven-du Mont auf dem „Schlesiertreffen“ zeigte, dass die deutschen Vertriebenen zur Gewaltausübung fähig waren und somit der Öffentlichkeit Anzeichen für eine mögliche Radikalisierung gaben. Die Vorwürfe des BdV an die westdeutschen Medien, sie seien nicht objektiv und hätten ein „Mei- nungsmonopol“ im Hinblick auf die Oder-Neiße-Thematik beansprucht, waren Aus- druck des verzweifelten Kampfes des BdV um die Durchsetzung seiner Geschichts- erzählung und seiner Deutungshoheit über das Vertreibungsthema in der westdeut- schen Öffentlichkeit. Die öffentliche Auseinandersetzung um die Zukunft der Oder- Neiße-Gebiete in der ersten Hälfte der 1960er Jahre war insofern interessant, als es sich hier um eine innerdeutsche Debatte innerhalb einer stark aufgeteilten Gesell- schaft handelte.

4.1.3 „Revisionistische Kräfte“ Die Teilnahme des BdV an der öffentlichen Auseinandersetzung um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in der Bundesrepublik wurde von der Trybuna Ludu, der Polityka und dem Tygodnik Powszechny mit unterschiedlichem Interesse verfolgt. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre wurde der BdV in diesen drei Blättern selten thematisiert, wenn ihm jedoch ein Artikel gewidmet war, so wurde für ihn meist der Name „Bund der Umsiedler“ (Związek Przesiedleńców) verwendet, was der kommu-

137 Kontroversen in der Kirche?, in: Die Zeit vom 29.10.1965. 138 Die Vertriebenen protestieren, in: FAZ vom 18.10.1965. 139 Vgl. Polen aus Schlesien nach Frankreich?, in: Der Spiegel vom 27.10.1965, S. 47-51.

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nistischen Diktion entsprach.140 In diesem Zusammenhang war auch die Rede von „Umsiedlern“ (przesiedleńcy) bzw. „Revanchisten“ (rewanżyści) oder „Revisionis- ten“ (rewizjoniści). Trotz dieser Tendenz lassen sich einige wenige Ausnahmen fest- stellen: Der Bund der Vertriebenen wurde in der katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny erstmals 1962 in einem Beitrag erwähnt, sein Name wurde jedoch nicht ins Polnische übersetzt und falsch verwendet. So schrieb Stefan Kisielewski, der Au- tor jenes Artikels: „Wie ich gesagt habe, gibt es Millionen von Umsiedlern in der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings sind nicht alle in Verbänden organisiert: Der ‚Bund der Deutschenvertriebenen‘ zählt 2,5 Millionen Mitglieder (Präsident: der Rechtsanwalt Krüger aus Bonn)“.141 Gemeint war hier, von der Beschreibung her, der Bund der Vertriebenen und vom Namen her der „Bund der vertriebenen Deutschen“ (BvD), der sich 1959 infolge der Gründung des BdV auflöste.142 In der Polityka tauchte der BdV Mitte der 1960er Jahre nur unter dem Namen „Bund der Umsiedler“ auf.143 In der kommunistischen Wochenzeitung kamen durchaus Begriffe wie „Lands- mannschaften“, „Bundesministerium für Vertriebene“, „Dokumentation der Vertrei- bung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ oder „Vertreibung” vor, ihre polnische Übersetzung blieb allerdings aus.144 Im Gegensatz zur Polityka ist in der Parteizeitung Trybuna Ludu die wörtliche Übersetzung des Bundes der Vertriebenen als „Związek Wypędzonych“ bereits im Jahre 1964 zu finden. Doch der Name wurde in Anfüh- rungsstriche gesetzt und nur einmal erwähnt. Das kommunistische Blatt ging hier auf den Dachverband im Kontext eines von dem BdV-Funktionär Axel de Vries 1960 verfassten Dokuments über die Tätigkeit der Vertriebenenorganisationen in der Bun- desrepublik Deutschland kurz ein.145 Interessant ist, dass man von der Trybuna Ludu aufgrund ihres propagandistischen Charakters das Augenmerk auf den richtigen Namen des BdV und somit auf Sachinformation am wenigsten erwartet hätte. Doch wenn man bedenkt, dass durch die Zensurmaßnahmen die kommunistische Partei be- stimmte, wann und wo welche Tabus gebrochen werden durften, verwundert es nicht mehr, dass die Existenz des BdV zunächst in der Trybuna Ludu und erst danach in allen anderen polnischen Zeitungen als „Związek Wypędzonych“ zum Ausdruck gebracht wurde.

140 Der Name wurde in den folgenden Jahren manchmal mit und manchmal ohne Anführungs- striche geschrieben. Für Groß- und Kleinschreibung lässt sich keine Regelmäßigkeit fest- stellen. In der Arbeit wird der Name in polnischer Übersetzung einheitlich großgeschrie- ben, weil es sich dabei um einen Eigennamen handelt. 141 STEFAN KISIELEWSKI: Co mówią Niemcy [Was sagen die Deutschen], in: Tygodnik Po- wszechny vom 17.06.1962. 142 Vgl. Kapitel 3.1. 143 Vgl. DANUTA KACZYŃSKA: List żelazny dla Krügera [Sicheres Geleit für Krüger], in: Polityka vom 4.12.1965. 144 Vgl. MARIAN WOJCIECHOWSKI: Ich propaganda i nasza bierność [Ihre Propaganda und unsere Passivität], in: Polityka vom 23.10.1957. 145 Vgl. Rewizjoniści – ich rodowód i organizacje [Revisionisten – ihr Herkunft und ihre Organisationen], in: Trybuna Ludu vom 11.06.1964.

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In der ersten Hälfte der 1960er Jahre wurde der Bund der Vertriebenen bzw. die Vertriebenenverbände in der kommunistischen Presse in Polen politisch stark instru- mentalisiert. In der Trybuna Ludu wurde der BdV beispielsweise in erster Linie als ein politischer Verband thematisiert, dem die Parteizeitung einen enormen Einfluss auf die westdeutsche Außenpolitik gegenüber Polen zuschrieb. Der Anspruch des Dachverbandes auf das „Recht auf die Heimat“ und somit das Recht auf die Rückkehr in die Oder-Neiße-Gebiete wurde als Gefahr einer jeder Zeit möglichen militärischen Bedrohung seitens der Bundesrepublik dargestellt. Die Parteizeitung verfolgte ein kla- res Ziel, indem sie zwischen der „guten“ Wir-Gruppe der Polen und der „bösen“ Sie- Gruppe der deutschen Vertriebenen bzw. der Westdeutschen im Allgemeinen stark differenzierte. Da sowohl die Vertriebenenverbände als auch die Bundesregierung Adenauer und später Erhard zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als deutsch- polnische Grenze nicht bereit waren, setzte die Trybuna Ludu die Vertriebeneninte- ressen mit den Staatsinteressen gleich. Die Parteizeitung wies darauf hin, dass es sich bei den Vertriebenentreffen in erster Linie um politische Veranstaltungen handele.146 So wurde im Jahr 1961 beispielsweise der „Tag der Heimat“, der in diesem Jahr am 1. September, dem Jahrestag des Kriegsausbruchs, begangen wurde, von der Trybuna Ludu als eine „revanchistische Veranstaltung“ bezeichnet.147 In der Schlagzeile zu dem Artikel hieß es: „Die Inauguration der ‚revanchistischen Woche‘ in Westberlin am 1. September“.148 Es wurde darauf hingewiesen, dass diese von den Vertriebenen organisierten, „antifriedlichen“ Feierlichkeiten von der Bundesregierung finanziert wurden und gegen sozialistische Staaten, insbesondere die DDR, Polen und die Tschechoslowakei, gerichtet waren.149 In einem anderen Artikel ein paar Tage später wurde in der Trybuna Ludu erneut darauf hingewiesen, dass man in Westberlin „re- vanchistische und revisionistische Feste“ feierte, während das polnische Volk den 22. Jahrestag des Angriffs Hitlers auf Polen beging.150 Indem die Parteizeitung die Ver- triebenenveranstaltungen der Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkriegs gegen- überstellte, versuchte sie die Vertriebenenverbände öffentlich zu diskreditieren. Darüber hinaus machte sie darauf aufmerksam, dass das an den Polen durch die Na- tionalsozialisten verübte Verbrechen von keinem der Redner auf dem „Tag der Hei- mat“ verurteilt worden sei.151

146 Vgl. „Deutsche Zeitung“ przedstawia credo zjazdów tzw. ziomkostw [Die „Deutsche Zei- tung“ stellt den Leitgedanken der Treffen der sog. Landsmannschaften vor], in: Trybuna Ludu vom 9.06.1963. 147 DANIEL LULIŃSKI: 1 września inauguracja „tygodnia odwetu“ w Berlinie zachodnim [Die Inauguration der „revanchistischen Woche“ in Westberlin am 1. September], in: Trybuna Ludu vom 31.08.1961. 148 Ebenda. 149 Ebenda. 150 DANIEL LULIŃSKI: Współcześni Krzyżacy judzą przeciwko Polsce w Berlinie zachodnim [Die heutigen Kreuzritter hetzen in Westberlin gegen Polen], in: Trybuna Ludu vom 4.09.1961. 151 Vgl. ebenda; vgl. auch: DANIEL LULIŃSKI: Niemiecki wrzesień 1961 r. [Deutscher Septem- ber im Jahr 1961], in: Trybuna Ludu vom 6.09.1961; Gwałtowny atak odwetowców prze-

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Ein wichtiges Ziel der kommunistischen Propaganda in Polen bestand darin, Angst vor den deutschen Vertriebenen zu erzeugen. Sie arbeitete zum einen mit Stereotypen und bezeichnete die Vertriebenen und ihre Verbände als „moderne Kreuzritter“.152 Zum anderen wies sie auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Vertriebenen- funktionäre hin und wollte damit vermitteln, dass trotz des Kriegsendes das national- sozialistische Gedankengut immer noch in den Vertriebenenverbänden präsent war.153 Eine Gelegenheit dazu bot sich für die Trybuna Ludu beispielsweise 1964 an, als der BdV-Präsident Hans Krüger aufgrund seiner Beteiligung an Todesurteilen während des Zweiten Weltkriegs von seinem Posten als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte zurücktrat.154 Laut der Parteizeitung ließ sich be- reits 1963 an den ersten Äußerungen des neuen Ministers erkennen, dass er eine „ak- tive Politik des Revisionismus“ führen werde.155 Nachdem Krüger zurückgetreten war, informierte das Blatt über die Gründe seines Rücktritts und wies auf die Mög- lichkeit hin, ihn sogar wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen zu kön- nen.156 Interessant ist, dass in keinem der beiden Artikel der Bund der Vertriebenen erwähnt wurde, an dessen Spitze Hans Krüger stand. Im Gegensatz dazu ging die Polityka auf die BdV-Funktion Krügers als früherer Präsident des Verbandes ein. Doch in dieser Wochenzeitung wurde Krügers nationalsozialistische Vergangenheit erst im Jahr 1965 thematisiert. Der Artikel war umfangreich und erschien vor dem Hintergrund der heftigen Proteste der Vertriebenenverbände gegen die EKD-Denk- schrift. Das Blatt erinnerte daran, dass Krüger 1963 als „Kriegsverbrecher“ entlarvt worden und unter dem Druck der öffentlichen Meinung zum Rücktritt gezwungen war.157 Außerdem wies die Wochenzeitung darauf hin, dass Krüger für seine „aggres- sive und vor allem antipolnische Tätigkeit“ bekannt gewesen sei und als Vertriebe- nenminister für die „Wiederherstellung des Deutschen Reiches“ plädiert habe.158 Dass der Artikel über Hans Krüger und seine Vergangenheit erst im Jahr 1965 erschien, zeigt, dass es sich hierbei in erster Linie um die Diskreditierung des BdV-Funktionärs und seines Verbandes und nicht um eine möglichst zeitnahe Berichterstattung han- delte.

ciwko granicy na Odrze i Nysie [Heftiger Angriff der Revanchisten gegen die Oder-Neiße- Grenze], in: Trybuna Ludu vom 2.09.1963. 152 LULIŃSKI, Współcześni Krzyżacy judzą (wie Kap. 4, Anm. 150). Der Vergleich der deut- schen Vertriebenenverbände mit dem Deutschen Ritterorden sollte deutlich machen, dass die deutschen Expansionsansprüche immer noch aktuell waren. 153 Vgl. HENRYK ZDANOWSKI: Z luką w życiorysie [Mit einer Lücke im Lebenslauf], in: Poli- tyka vom 13.06.1970. 154 Zur nationalsozialistischen Vergangenheit Krügers vgl. SALZBORN, Gerenzenlose Heimat, S. 58. 155 Vgl. MARIAN PODKOWIŃSKI: Minister Krueger już judzi [Minister Krüger hetzt bereits], in: Trybuna Ludu vom 23.10.1963. 156 Vgl. DERS.: Krueger ustapił [Krüger trat zurück], in: Trybuna Ludu vom 1.02.1964. 157 KACZYŃSKA, List żelazny dla Krügera (wie Kap. 4, Anm. 143). 158 Ebenda.

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Die politische Gefahr seitens der Vertriebenenverbände bestand laut der Trybuna Ludu zudem darin, dass die Vertriebenenpolitiker einen starken Einfluss auf die öf- fentliche Meinung in der Bundesrepublik ausübten. Sie hätten sich auch um die Ein- flussnahme in Polen bemüht. Die Landsmannschaften täten das nicht nur mit Hilfe ei- ner „verfälschten und feindlichen Propaganda“, sondern auch mit Hilfe der nach Po- len verschickten „Pakete“.159 Die Parteizeitung listete detailliert auf, wie viele Pakete in welchem Wert von welcher Landsmannschaft nach Polen gesendet worden seien. In dieser Situationsbeschreibung wurde die materielle Unterstützung der Vertriebe- nenverbände als eine Art Bestechung der Polen dargestellt, die den Vertriebenen eine Einflussnahme in Polen verschaffen sollte. Die Parteizeitung rief deswegen die Polen zur „Wachsamkeit“ auf.160 Um die Unterstützung der Vertriebenenverbände durch die westdeutsche Bundes- regierung stärker zu betonen, machte die Trybuna Ludu zum einen auf die staatliche Finanzierung der Vertriebenenorganisationen aufmerksam.161 Zum anderen betrachte- te sie, ähnlich wie die westdeutschen Medien, die Teilnahme der westdeutschen Spit- zenpolitiker an den Vertriebenenveranstaltungen als Ausdruck ihrer politischen Un- terstützung und Solidarität mit den deutschen Vertriebenen und ihren Organisationen. Die Anwesenheit Konrad Adenauers und Willy Brandts auf dem „Schlesiertreffen“ von 1963 und vor allem die Unterstützung Adenauers für die Vertriebenenverbände wurden in der Trybuna Ludu thematisiert. Darin hieß es: „Adenauer und seine Minister zeigen Solidarität mit den ‚schlesischen‘ Revisionisten“.162 Wie bei fast je- dem Kommentar zu Vertriebenentreffen wurde auch hier auf den „antipolnischen Charakter“ der Veranstaltung hingewiesen.163 Genauso wie die westdeutschen Blätter machte auch die Trybuna Ludu auf das Wählerpotenzial der Vertriebenen aufmerk- sam, um das die beiden Politiker für ihre Parteien warben.164 Die Berichterstattung über das „Schlesiertreffen“ war in der Parteizeitung von einer stark militärischen Rhe- torik gekennzeichnet: Der Veranstaltungsort Köln habe sich „unter der Besatzung der Landsmannschaft Schlesien“ befunden. Die Vertriebenenveranstaltung hätte gezeigt, wie viel an „gefährlichem Sprengstoff“ solche Zusammenkünfte in sich tragen. Dies

159 Rewizjoniści – ich rodowód i organizacje (wie Kap. 4, Anm. 145). 160 Ebenda. 161 Vgl. ebenda; Przesiedleńcy [Die Umsiedler], in: Trybuna Ludu vom 2.02.1967; vgl. auch Kapitel 5.1.3 in dieser Arbeit. 162 MARIAN PODKOWIŃSKI: Adenauer i jego ministrowie solidaryzują się z rewizjonistami „śląskimi“ [Adenauer und seine Minister zeigen Solidarität mit den „schlesischen“ Re- visionisten], in: Trybuna Ludu vom 8.06.1963; vgl. auch: Prowokacyjne wystąpienia na zjazdach odwetowców w NRF [Provokative Auftritte auf den Revanchistentreffen], in: Trybuna Ludu vom 4.06.1963; W NRF trwa seria rewizjonistycznych imprez [In der BRD findet eine Reihe von revisionistischen Veranstaltungen statt], in: Trybuna Ludu vom 18.6. 1963. 163 PODKOWIŃSKI, Adenauer i jego ministrowie (wie Kap. 4, Anm. 162). 164 Vgl. ebenda.

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hätte nicht nur für Beunruhigung im Ausland, sondern auch in „vielen Kreisen der westdeutschen Gesellschaft“ gesorgt.165 Über die Auseinandersetzung um die Breslau-Sendung berichteten sowohl die Trybuna Ludu als auch die Polityka. In der Trybuna Ludu ist diesbezüglich eine ganze Reihe von Artikeln erschienen.166 Die Parteizeitung sprach in diesem Kontext von der heftigen Kritik des „Bundes der Umsiedler“ bzw. der „Zentrale der Umsiedler in Bonn“, womit der BdV gemeint war.167 Der Protest der Vertriebenenverbände gegen die Breslau-Dokumentation wurde als eine innerdeutsche Auseinandersetzung darge- stellt.168 Die Trybuna Ludu behauptete, die Sendung wäre bereits auf der ganzen Welt bekannt, was weit übertrieben war. Das Parteiblatt wies zudem auf die Tatsache hin, dass Neven-du Mont169 viele Briefe von Zuschauern bekam. Zu siebzig Prozent han- delte es sich um positive Reaktionen auf die Sendung, unter anderem auch von den Vertriebenen.170 Damit schien die Parteizeitung sagen zu wollen, dass das in der Fernsehdokumentation dargestellte Bild von Breslau einem breiten Publikum bekannt war und dass nicht alle Vertriebenen gegen die Sendung protestiert hätten. Es wurde auf die gespaltenen Meinungen der deutschen Vertriebenen hingewiesen und damit die Darstellung der Vertriebenengemeinschaft als einer homogenen Gruppe durchbro- chen. Während sich die Trybuna Ludu mit der Breslau-Sendung in mehreren Artikeln befasste und den Angriff auf Neven-du Mont als „Rache der Revanchisten“171 be- zeichnete, beschränkte sich die Polityka auf einen, dafür aber ausführlichen Beitrag. Es fällt sofort auf, dass sich das Blatt sehr stark an der westdeutschen Berichterstat- tung orientierte. Viele Kommentare wurden von der Zeit und dem Spiegel übernom- men: Ähnlich wie diese beiden westdeutschen Blätter widmete die Polityka dem An- griff einer Vertriebenengruppe auf Neven-du Mont viel Raum. Der NDR-Reporter

165 Adenauer i Brandt na zlocie rewizjonistów w Kolonii [Adenauer und Brandt auf dem Revisionistentreffen in Köln], in: Trybuna Ludu vom 10.06.1963. 166 Vgl. MARIAN PODKOWIŃSKI: Jeszcze o Wrocławiu [Noch über Breslau], in: Trybuna Ludu vom 17.05.1963; DERS.: Czerwiec – miesiącem hec rewizjonistów w NRF [Juni – der Mo- nat revisionistischer Spektakel], in: Trybuna Ludu vom 31.05.1963; Niemcy z NRF o au- dycji telewizyjnej poświęconej Wrocławowi [Die Westdeutschen über die Breslau-Sen- dung], in: Trybuna Ludu vom 31.05.1963; Adenauer i Brandt na zlocie rewizjonistów (wie Kap. 4, Anm. 165); Neven-du Mont i rewizjoniści [Neven-du Mont und die Revisionisten], in: Trybuna Ludu vom 11.06.1963. 167 MARIAN PODKOWIŃSKI: Polski Wrocław w telewizji NRF [Das polnische Breslau im west- deutschen Fernsehen], in: Trybuna Ludu vom 9.05.1963. 168 Vgl. ebenda. 169 Der Nachname des Fernsehreporters „Neven-du Mont“ mit Bindestrich ist die korrekte Schreibweise. In der polnischen Presse wurde der Bindestrich fast immer weggelassen – in der westdeutschen Presse meistens verwendet, aber nicht in allen Fällen konsequent über- nommen. 170 Vgl. MARIAN PODKOWIŃSKI: Wywiad Neven du Monta [Das Interview mit Neven du Mont], in: Trybuna Ludu vom 22.06.1963. 171 Zemsta odwetowców [Die Rache der Revisionisten], in: Trybuna Ludu vom 11.06.1963.

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wurde auch hier als Sündenbock der Vertriebenen und als ein unschuldiges Opfer be- zeichnet, das „nur ein Zeugnis der Wahrheit“ liefern wollte und dafür beinahe zusam- mengeschlagen worden sei.172 Genauso wie im Spiegel war auch in der Polityka in diesem Kontext von einem „Lynchversuch“ auf Neven-du Mont die Rede, und auch die politischen Kalküle der westdeutschen Politiker sowie das gleichgültige Verhalten Adenauers und Brandts gegenüber diesem Zwischenfall wurden in der Wochenzei- tung thematisiert.173 Während die ein Jahr später im westdeutschen Fernsehen ausge- strahlte Fernsehreportage von Hansjakob Stehle „Deutschlands Osten – Polens Wes- ten?“ in der westdeutschen Öffentlichkeit nach der Breslau-Sendung erneut für viel Aufregung sorgte, wurde sie in Polen kaum thematisiert. Nur die Trybuna Ludu ging auf den Film ein und bezeichnete ihn als eine „objektive Reportage über Polen“.174 Der Tygodnik Powszechny befasste sich dagegen weder mit der Breslau-Sendung noch mit der Fernsehreportage von Hansjakob Stehle. Das Blatt brachte erst 1969 die in den 1960er Jahren herrschende Stimmung in der westdeutschen Öffentlichkeit zum Ausdruck. Anna Morawska ging in ihrem Artikel auf verschiedene westdeutsche Ini- tiativen ein, wie z.B. das „Tübinger Memorandum“, die EKD-Denkschrift und das „Bensberger Memorandum“, und versuchte, an diesen Beispielen den polnischen Le- ser auf die Entspannungstendenzen in der Bundesrepublik aufmerksam zu machen. Sprach Die Zeit im Kontext des „Tübinger Memorandums“ von „Lobbyisten der Ver- nunft“175, so betitelte Morawska ihren Artikel ganz ähnlich und sprach von „Rationa- listen“176. Den Entspannungsinitiativen setzte sie die Vorwürfe der Vertriebenen- funktionäre an die westdeutsche Öffentlichkeit und die Medien entgegen. Sie ging nicht explizit auf den BdV bzw. die Vertriebenenverbände ein, sondern sprach in „Man“-Form. In dem Artikel hieß es beispielsweise, dass „man“ von dem Bundestag fordere, „der Presse und dem Fernsehen den Mund zu verschließen“, die die Vertrie- benen und ihre Rechte „schmähen“.177 Wie die bisherige Analyse zeigte, kamen sol- che Forderungen von den BdV-Funktionären und aus dem Kontext lässt sich erschlie- ßen, dass Morawska an dieser Stelle in ihrem Artikel den Bund der Vertriebenen meinte. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Volksrepublik Polen bedeutete noch lange nicht, dass die deutschen Vertriebenen und ihre Verbände in der polni- schen Presse einheitlich als „Revanchisten“ und „Revisionisten“ bezeichnet wurden. Sie wurden aus verschiedenen Blickwinkeln thematisiert: Die Trybuna Ludu beschäf- tigte sich beispielsweise mit den Vertriebenenthemen aus einer rein politischen Per- spektive heraus, während die katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny ihren

172 MARIAN PODKOWIŃSKI: Powrotna fala [Die Rückwelle], in: Polityka vom 22.06.1963. 173 Ebenda. 174 W telewizji „Hessischer Rundfunk“ – objektywny reportaż o Polsce [Im „Hessischen Rundfunk“ – objektive Reportage über Polen], in: Trybuna Ludu vom 3.10.1964. 175 Vgl. DÖNHOFF, Lobbyisten der Vernunft (wie Kap. 4, Anm. 78). 176 ANNA MORAWSKA: NRF: racjonaliści [BRD: Rationalisten], in: Tygodnik Powszechny vom 16.03.1969. 177 Ebenda.

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Schwerpunkt auf die Thematisierung moralischer Aspekte der Grenzverschiebung an der Oder-Neiße-Linie und der damit verbundenen Folgen für die deutsche und polni- sche Bevölkerung legte. Aufgrund der Zensur war in diesem Kontext von Vertreibung im heutigen Sinne noch keine Rede, sondern von der Westverschiebung Polens und deren Folgen. Das Blatt versuchte, den polnischen Leser zumindest ansatzweise über die Existenz und die Komplexität der Oder-Neiße-Problematik zu informieren. Wäh- rend der Einfluss der Vertriebenenorganisationen auf die westdeutsche Politik von der kommunistischen Presse hochgespielt wurde, bemühte sich der Tygodnik Powszechny im Gegensatz dazu, ihn realistischer einzuschätzen. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre wurden die Vertriebenenthemen im Tygodnik Powszechny zumeist allgemein behandelt, ohne auf den einen oder anderen Vertrie- benenverband ausdrücklich Bezug zu nehmen. Im Jahr 1962 berichtete Stefan Kisie- lewski über seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik und ging dabei unter anderem auf die Frage nach der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände ein: „Man versicherte mir, dass die Umsiedler ‚als solche‘ politisch tot sind“, so Kisielewski.178 Sie seien in der Bundesrepublik völlig integriert, hätten das „Wirtschaftswunder“ mit- erlebt und würden nicht mehr an die Rückkehr in den „landwirtschaftlichen Osten“ denken. Es sei nur ihr „Führungsapparat“, der solche Forderungen nach Rückkehr er- hebe und darauf seine „politische Karriere aufzubauen“ versuche.179 Mit ihrer „propa- gandistischen, demagogisch pathetischen Makulatur“, womit die Vertriebenenpresse gemeint war, betrieben sie einen „psychischen Terror“. Nicht nur Schriftsteller und Publizisten seien diesem Terror schon zum Opfer gefallen, sondern auch einige Politi- ker, die aus dem „schematischen Tabu-Denken“ heraustreten wollten.180 Hier nahm Kisielewski Bezug auf die sich immer mehr herauskristallisierende Spaltung in der westdeutschen Öffentlichkeit, die angesichts der Debatte um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze seit dem „Tübinger Memorandum“ immer stärker zum Ausdruck kam. Nur eine Woche später erschien im Tygodnik Powszechny wieder ein Artikel von Stefan Kisielewski, in dem er sich stärker mit moralischen Kategorien wie „Schuld“ und „Sühne“, den Themen „Vergebung“ und „Vergessen“ sowie mit der Frage der „Kollektivschuld“ der Deutschen am Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte. Ähnlich wie eine Woche zuvor ging er auch hier auf die Vertriebenenverbände ein und versi- cherte seinen Lesern erneut, dass man vor den Vertriebenen keine Angst zu haben brauche. Noch einmal wies er darauf hin, dass die Vertriebenenpresse von „Pathos“, „Heimatrhetorik“ und „patriotisch-freiheitlichen Parolen“ gekennzeichnet und nicht ernst zu nehmen sei. All dem solle keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt wer- den, solange in der Bundesrepublik die „Zivilisation der Leuchtreklame und Autos“ blühe.181 Damit wies er auf den Bewusstseinswandel in der westdeutschen Bevölke-

178 KISIELEWSKI, Co mówią Niemcy (wie Kap. 4, Anm. 141). 179 Ebenda. 180 Ebenda. 181 STEFAN KISIELEWSKI: Czy Niemcy myślą o Wschodzie? [Denken die Deutschen an den Osten?], in: Tygodnik Powszechny vom 24.06.1962.

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rung hin, der sich mit dem wirtschaftlichen Wachstum vollzog. Er stellte die Vertrie- benenverbände mit ihrer Presse der konsumorientierten Nachkriegsgeneration der Deutschen gegenüber. Kisielewski bezeichnete die Bundesrepublik als ein „komple- xes Land“, das er „gerührt und innerlich gespalten“ verließ.182 Was ihm in seinen bei- den Artikeln trotz der Zensurmaßnahmen gelungen ist, war, die gespaltene Stimmung in der westdeutschen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen und die Vertriebenen- problematik in diesen Kontext zu verorten. Im Jahr 1965, noch vor der Veröffentlichung der EKD-Denkschrift, ging der Tygodnik Powszechny erneut auf die Vertriebenenorganisationen ein und stellte das Problem der Oder-Neiße-Grenze aus der Sicht der Vertriebenenverbände dar. Die katholische Wochenzeitung bemühte sich, dem polnischen Leser „den Ton, die Denk- und Argumentationsweise“ der Vertriebenen näherzubringen, und berief sich dabei unter anderem auf den Deutschen Ostdienst als Informationsquelle.183 Der Autor des Artikels, Jerzy Turowicz, setzte den Standpunkt der Vertriebenenverbände dem der Polen gegenüber: Während die deutschen Vertriebenen die Westverschiebung Polens als „Annexion“ der Oder-Neiße-Gebiete durch Polen bezeichneten, erinnerte Turo- wicz daran, dass diese Entscheidung von den Alliierten und nicht von den Polen ge- troffen worden sei.184 Gemäß der kommunistischen Diktion hieß es darüber hinaus, die „Umsiedlung“ der deutschen Bevölkerung hätte unter Kontrolle der Alliierten stattgefunden. Außerdem wurde zwischen polnischen und deutschen Opfern unter- schieden und darauf verwiesen, dass von allen Ländern Polen die größeren Kriegs- verluste zu erleiden hatte. In diesem Kontext schilderte Turowicz kurz die Haltung der Vertriebenen: „Die Revisionisten bedienen sich gern des Arguments, dass die aus unseren Westgebieten ausgesiedelten Deutschen unschuldige Opfer sind, die für die Verbrechen Hitlers bezahlen mussten.“185 An dieser Stelle drückte der Autor sein Unverständnis für den Opferstatus der deutschen Vertriebenen aus, denn schließlich habe Hitler dank der deutschen Wählerstimmen die Macht im Land ergriffen.186 Relativ ausführlich setzte sich der Tygodnik Powszechny mit der Vertreibung der Deutschen im Jahr 1957/58 auseinander, also in der Zeit des Tauwetters und der damit verbundenen gewissen Lockerung der Zensur.187 In einem Artikel von M.E. Rojek lässt sich eine erstaunliche Offenheit im Umgang mit dem Thema der „Umsiedlung“ der deutschen Bevölkerung aus den Oder-Neiße-Gebieten beobachten. So hieß es: „Ein Teil der polnischen Gesellschaft vertritt zu Unrecht die Meinung, dass Polen die deutsche Bevölkerung ausgesiedelt hat. Die Wahrheit ist, dass die polnische Administra- tion technisch voll an der Umsiedlungsaktion beteiligt war und dass das polnische Volk ein

182 Ebenda. 183 JERZY TUROWICZ: Obrońcom moralności [Den Verteidigern der Moral], in: Tygodnik Powszechny vom 5.09.1965. 184 Ebenda. 185 Ebenda. 186 Vgl. ebenda; vgl. auch: Jerzy Turowicz telefonuje z Rzymu [Das Telefonat von Jerzy Turo- wicz aus Rom], in: Tygodnik Powszechny vom 24.10.1965. 187 Vgl. Kapitel 2.2 in dieser Arbeit.

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Profiteur der Entscheidung über die Umsiedlung ist. Die Wahrheit ist aber auch, dass nicht Polen darüber entschied und seine technische Teilnahme an der Umsiedlungsaktion aus- schließlich einen Hilfscharakter hatte.“188 Interessant an diesem Zitat ist der Hinweis Rojeks auf die Meinungsdifferenzen innerhalb der polnischen Bevölkerung zum Vertreibungsthema. Die Bedeutung dieses Artikels liegt darin, dass er erstmals überhaupt die Existenz des Meinungspluralismus in Polen im Hinblick auf die Vertreibungsproblematik thematisierte. Darüber hinaus ging Rojek in seinem Artikel auf das Potsdamer Abkommen ein und informierte, dass darin die drei Siegermächte den Staaten Polen, Tschechoslowakei und Ungarn „will- kürliche Aussiedlung“ ausdrücklich verboten hätten.189 Er erwähnte zwar diesen Be- schluss, ging aber nicht weiter auf die tatsächlich stattgefundene „wilde Vertreibung“ ein.190 Nichtsdestotrotz stellte der Tygodnik Powszechny mit diesem Artikel einen wichtigen Gegenpol zur Parteizeitung Trybuna Ludu dar, in der die Phase der „wilden Vertreibung“ vollkommen tabuisiert war. Im gleichen Jahr erschien in der katholischen Wochenzeitung ein weiterer Artikel, in dem sich sein Autor, Stefan Jellenta, mit der Vertreibung und dem deutschen Op- ferstatus beschäftigte. Er gibt darin zu, dass den Deutschen von Seiten der polnischen Bevölkerung Leid angetan wurde: „Wenn man das Problem aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, darf man nicht ver- gessen, dass auch die Deutschen schon manchmal schweres Leid von den Polen während der Umsiedlungsaktion aus den polnischen Westgebieten ertragen mussten. Man darf aber nicht vergessen, dass die Aktion an sich die Folge eines legalen völkerrechtlichen Aktes war und die erwähnten Zwischenfälle des unangemessenen Umgangs mit den Umsiedlern nur ein aus keiner Vorschrift hervorgehender Ausdruck einer Willkür von einzelnen Perso- nen waren, die häufig unter dem Affekt der Massenmorde der Deutschen in Polen handel- ten. Seitens der Polen gab es jedoch weder Mord noch Folter. Es gibt hier also keinen Platz für irgendwelche „Gleichungszeichen“ – und diese Tatsache muss man stark betonen.“191 An diesem Zitat lässt sich erkennen, wie schwer es den Polen fiel, ihre Täterrolle in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs und kurz danach zuzugeben. Bemer- kenswert ist aber die Tatsache, dass sich der Tygodnik Powszechny bereits 1958 um die „Aufklärung“ des polnischen Lesers bemühte und einen Beitrag zur Enttabuisie- rung des Vertreibungsthemas in Polen zu leisten versuchte. Dieses Zitat ist nichts an- deres als ein Ausdruck gemischter Gefühle: Einerseits wird von Leid gesprochen, das die Polen den Deutschen zugefügt hatten. Andererseits werden Gewalttaten wie Mord oder Folter geleugnet. Die in diesem Zitat diskutierte Frage nach der Gleichsetzung bzw. Unvergleichbarkeit der Verbrechen der Deutschen an anderen Völkern mit den

188 M.E. ROJEK: Zachód a sprawa granicy na Odrze i Nysie [Der Westen und die Oder-Neiße- Grenze], in: Tygodnik Powszechny vom 13.04.1958. 189 Ebenda. 190 Zur „wilden Vertreibung“ vgl. HARTENSTEIN, S. 137; LEMBERG, S. 20. 191 STEFAN JELLENTA: Aby móc się porozumieć [Damit man sich einigen kann], in: Tygodnik Powszechny vom 9.11.1958.

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Verbrechen an den Deutschen wird bis heute fortgesetzt und in öffentlichen Ge- schichtsdebatten sowohl in der Bundesrepublik als auch in Polen ausgetragen. Im Jahr 1957 erschien im Tygodnik Powszechny ein umfangreicher Artikel, in dem sein Autor, Maciej Malicki, noch einen Schritt weiter ging und Verständnis für die deutschen Vertriebenen äußerte. Seiner Meinung nach sollte es niemanden wundern, dass sich die „Umsiedler“ mit ihrer alten Heimat verbunden fühlten und über „ihren Verlust verbittert“ seien.192 Darüber hinaus verzichtete der Autor auf Verallgemeine- rungen und unterschied klar zwischen den Vertriebenen und den Vertriebenenfunk- tionären. Während sich die erste Gruppe mit der „Umsiedlung“ abzufinden versuchte, hätte die zweite Gruppe unter den Vertriebenen für Verbitterung und Unsicherheit ge- sorgt, indem sie den vorübergehenden Charakter der Oder-Neiße-Grenze immer wie- der betonte. Sie hätte somit die Vertriebenen manipuliert und ihre Gefühle ausgenutzt, um an der politischen Macht teilzuhaben.193 Malicki kam in seinem Artikel zur Schlussfolgerung, dass das Verhältnis der Polen zur „schwankenden Masse der Um- siedler“ auf einer anderen Grundlage als die Beziehung zu der „revisionistischen Spitze“ gestaltet werden solle.194 Dieser Artikel war insofern von großer Bedeutung, als hier eine nur selten vorgenommene Differenzierung zwischen den deutschen Ver- triebenen und ihren Verbänden als politischen Interessengruppen stattfand. Darüber hinaus plädierte Malicki dafür, den Blick auf die deutschen Vertriebenen zu ändern, indem man zwischen ihnen und ihren Verbänden unterscheiden sollte. Anhand der hier aufgeführten Beispiele lässt sich erkennen, wie unterschiedlich die Berichterstattung der „gelenkten Presse“ (Trybuna Ludu, Polityka) und der „kon- trollierten Presse“ (Tygodnik Powszechny) in der Volksrepublik Polen war. Wie be- reits im einführenden Teil der Arbeit dargelegt wurde, unterlag der Tygodnik Po- wszechny zwar der Zensur und somit einer Kontrolle, seine Redaktion ließ sich aber nicht durch die kommunistische Partei lenken. Das Blatt operierte zwar mit den für die kommunistische Diktion typischen Bezeichnungen wie „Ziemie Zachodnie“ für die Oder-Neiße-Gebiete oder „przesiedlenie“ für die Vertreibung, versuchte aber, soweit es möglich war, tabuisierte Themen zu behandeln und den polnischen Leser für sie zu sensibilisieren. Die katholische Wochenzeitung verteufelte die deutschen Vertriebenen nicht, wie das die Trybuna Ludu tat, sondern bemühte sich um mög- lichst sachliche Analysen. Im Gegensatz dazu bestand die „lenkende“ Funktion der Parteizeitung Trybuna Ludu darin, seinen Lesern möglichst wenig Raum zum selb- ständigen Denken zu lassen.

192 MACIEJ MALICKI: Polska Zachodnia 1957 [Westpolen 1957], in: Tygodnik Powszechny vom 7.07.1957. 193 Vgl. ebenda. 194 Ebenda.

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4.2 Der Bund der Vertriebenen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre

4.2.1 „Bollwerk des Widerstands“ Angesichts der immer stärker werdenden Befürworter der Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze sah sich BdV-Präsident Jaksch mit seinem Verband spätestens seit Mitte der 1960er Jahre vor die Aufgabe gestellt, „der moralischen Müdigkeit Wider- stand leisten“ zu müssen, „welche die geistigen Führungsschichten unseres Volkes ergriffen hat“195. Als Träger des Patriotismus sollte nun der BdV der „Kapitulations- bereitschaft“ sowie den „Versuchungen der Resignation“ entgegenwirken.196 Der Vertriebenenverband versuchte, sich gegen den Wandel im Oder-Neiße-Diskurs zu wehren und organisierte im Jahre 1966 eine Protestkundgebung. Ähnlich wie in der ersten Hälfte der 1960er Jahre hatte auch jetzt der im Argumentationsmuster des BdV verwendete Wortschatz einen militärischen Charakter. Das kam besonders stark in dem Artikel des Chefredakteurs des DOD Clemens J. Neumann zum Ausdruck. Darin bezeichnete er die Kundgebung als einen „Feldzug der Wahrheit“, sprach von der „Heerschau“, die die BdV-Protestveranstaltung lieferte, und kommentierte die Fremd- bezeichnung des BdV als „Generalstab ohne Armee“: „Angesichts der ,Heerschau‘ der 100 000, die aus allen Teilen der Bundesrepublik und aus Berlin, aus allen Landsmannschaften und Landesverbänden nach Bonn gekommen waren, um für soziale Gerechtigkeit, für deutsche Selbstbehauptung und für die Freiheit in der Welt zu demonstrieren, mußten sich die Gewohnheitsspötter, die den Bund der Vertriebe- nen als einen „Generalstab ohne Armee“ zu verlästern pflegten, unter die Bänke verkrie- chen.“197 BdV-Präsident Wenzel Jaksch kritisierte in seiner Rede die Politik der Bundes- regierung gegenüber den Vertriebenen scharf und machte sie für die weitere politi- sche Entwicklung der Vertriebenenverbände verantwortlich. Seine Kritik richtete sich aber auch an die Massenmedien: „Mit dieser Kundgebung wendet der deutsche Osten der Welt sein wahres Antlitz zu. Wir haben es richtig satt, nur in Zerrbildern dargestellt zu werden. [...] Unsere Gegner warten bloß darauf, daß wir uns in eine Isolierung begeben. [...] Eine wesentliche Verantwortung für die künftige politische Wegrichtung der vertriebenen Deutschen liegt bei der Bundes- regierung, bei den politischen Parteien und nicht zuletzt bei den Massenmedien. Manchmal haben wir den Eindruck, daß man die bewährte staatsbejahende Gesinnung unserer Men- schen mit aller Gewalt auf Abwege drängen will. Die ständige Verteufelung der Vertriebe- nenverbände durch eine hämische und unsachliche Kritik ist politischer Sprengstoff. Wir sind keine Demokraten auf Kündigung.“198

195 JAKSCH, Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit (wie Kap. 4, Anm. 34). 196 Ebenda. 197 CLEMENS J. NEUMANN: Zum Wort stehen. Nach dem Tag der Wahrheit „Feldzug der Wahrheit“, in: DOD vom 23.05.1966, S. 1. 198 Wortlaut der Ansprache des Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, Dr. h.c. Wenzel Jaksch, MdB, in: DOD vom 23.05.1966, S. 8, 10.

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In diesem Zitat wird deutlich, dass der BdV seine politische Marginalisierung so- wie die Ablehnung in der Öffentlichkeit immer mehr verspürte und durch die öffent- liche Protestkundgebung dagegenzusteuern versuchte. Jaksch sprach von der Isolie- rung, vor der er seinen Verband schützen wolle. Darin klang die Warnung mit, die öffentliche und politische Ablehnung der Vertriebenenverbände als „Ewiggestrige“ könne zu ihrer Radikalisierung führen. Jaksch sprach hier von „politischem Spreng- stoff“ angesichts steigender Wahlergebnisse der 1964 gegründeten NPD. Damit wollte er darauf hinweisen, dass die deutschen Vertriebenen durchaus in anderen Parteien als den Regierungsparteien politische Unterstützung suchen würden, wenn sie mit ihren Wünschen und Zielen isoliert blieben bzw. allein gelassen würden. Eine Radikalisierung des BdV fürchtete er allerdings nicht. Keiner der BdV-Präsidenten wollte sie im Verband zulassen und betonte in fast jeder seiner Rede die Bedeutung demokratischer Prinzipien bei der Verwirklichung der Verbandsziele.199 Deswegen scheint das Argument der möglichen Radikalisierung der Vertriebenen in der Argu- mentationskette des BdV eher ein Druckmittel auf die Politik gewesen zu sein, als dass die BdV-Präsidenten sie tatsächlich zulassen wollte. In seiner oben zitierten Rede stellte Jaksch zum einen eine Zusammenfassung all der Vorwürfe vor, die das BdV-Präsidium seit Anfang der 1960er Jahre an die öffent- liche Meinung und die westdeutschen Massenmedien richtete. Zum anderen war sie eine Art Hilferuf, mit dem sich Jaksch das Erwachen des gesamtdeutschen Patriotis- mus erhoffte. Wie sich im Laufe der nächsten Jahre zeigen sollte, stellte die Kundge- bung von 1966 eine gewisse Zäsur dar: Seit dieser Protestveranstaltung lässt sich in dem Argumentationsmuster des BdV die Angst vor der politischen und öffentlichen Marginalisierung immer stärker beobachten. Von seiner politischen Bedeutung war der BdV zwar immer noch fest überzeugt, diese wurde aber immer öfter von der öf- fentlichen Meinung in Frage gestellt. Im Jahre 1967 sagte der BdV-Präsident Rein- hold Rehs, der Nachfolger von Wenzel Jaksch: „Wir sind ein staatspolitischer Faktor, an dem keine Entwicklung vorbeikommt. Wir wol- len weder als ängstliche Petenten noch als mißmutige Nörgler, weder als Schreier noch als Duckmäuser wirken. Wir lassen uns auch nicht zum Fußballplatz der Politik machen. Wir

199 Mit Stolz meldete der DOD in einem Artikel unter dem Titel „Mandat der Vertriebenen. Bund der Vertriebenen als Schutzwall der Demokratie“ vom 27.09.1965, S. 2, dass die deutschen Vertriebenen bei der Bundestagswahl 1965 nicht für die NPD abstimmten: „Wer da gefürchtet hatte, die Vertriebenen würden aus Mißvergnügen oder Ungeduld vor allem den radikaleren Fanfarenstößen von rechts ihr Ohr leihen und ihre Stimmen einer nationa- listischen Splitterpartei geben, der mußte sich auf das angenehmste enttäuscht sehen.“ Zu den demokratischen Prinzipien bei der Verwirklichung der Verbandsziele und der Ableh- nung des Nationalismus und des Radikalismus vgl. z.B.: KRÜGER, Bund der Vertriebenen im vorparlamentarischen Raum (wie Kap. 4, Anm. 8); Wortlaut der Ansprache des Präsi- denten des Bundes der Vertriebenen, Dr. Herbert Czaja, MdB, bei der Kundgebung am 30. Mai 1970 auf dem Bonner Marktplatz, in: DOD vom 11.06.1970, S. 7-10; Vertriebene leh- nen NPD-Angebot ab, in: FAZ vom 20.08.1970.

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sind Frauen und Männer der patriotischen Mitte, wie Jaksch es einmal formuliert hat, die für das Recht eintreten, bei uns und überall.“200 Hier machte Rehs deutlich, dass der BdV sich weiterhin als ein politischer und patriotischer Verband verstand. Auch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre strebte der Dachverband eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und den politischen Parteien an. Rehs wünschte sich „eine offene und freimütige Partnerschaft des guten Willens mit allen politischen Kräften der Bundesrepublik“.201 Die Selbstdarstellung des BdV als ein Partner der Bundesregierung führte teilweise dazu, dass der Verband sich häufig der für politische Parteien typischen Rhetorik be- diente. So betrachtete er sich als „Motor der Gesetzgebung“202 und besaß sein eigenes „politisches Programm“203. Außerdem erhob der BdV weiterhin den Anspruch, „daß seine Stimme rechtzeitig vor einschlägigen Entscheidungen mit berücksichtigt wird“204. Keine ostpolitische Entscheidung sollte an ihm vorbeigehen. Im Jahre 1967 erinnerte der Chefredakteur des DOD an die Worte des verstorbenen Präsidenten Wenzel Jaksch, der die „geschichtliche Aufgabe“ der deutschen Vertriebenen darin sah, „ein Bollwerk des Widerstandes zu sein, wenn sich Resignation und Defaitismus ausbreiten“205. Damit sah er eine der zentralen Aufgaben der Vertriebenenverbände im patriotischen Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete. Im März 1968 kam es zu einem politischen Durchbruch. Auf dem Nürnberger Par- teitag der SPD im März 1968 erklärte der Parteivorsitzende der SPD und Außenmi- nister Willy Brandt die Bereitschaft seiner Partei zur „Anerkennung bzw. Respektie- rung der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung“.206 Damit wurde eindeutig die Bereitschaft der SPD zum politischen Wandel signalisiert. Im gleichen Jahr wurde außerdem das so genannte „Bensberger Memorandum“ veröffentlicht, in dem sich eine Gruppe katholischer Intellektueller, ähnlich wie 1965 die Autoren der evangelischen Denkschrift, für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Ver- söhnung mit Polen aussprach.207 Das „Bensberger Memorandum“ stieß zwar auf Kri-

200 Ansprache von , MdB, nach seiner Wahl zum Präsidenten des Bundes der Vertriebenen am 12. März 1967 in Bonn, in: DOD vom 20.03.1967, S. 9. 201 Ebenda; vgl. auch: Die „gläserne Wand“ durchstossen, in: DOD vom 26.02.1969, S. 5-6. 202 JAKSCH, Kern der Selbstbehauptung (wie Kap. 4, Anm. 19), S. 1. 203 CLEMENS J. NEUMANN: Die „Feindlage“ ist klar. Bund der Vertriebenen im Dienste der Selbstbehauptung, in: DOD vom 5.12.1968, S. 1. 204 Gespräche mit der Bundesregierung. Bund der Vertriebenen will gehört werden und mitbe- stimmen, in: DOD vom 11.12.1969, S. 9. 205 CLEMENS J. NEUMANN: Chancen oder Gefahr? Die Vertriebenen und die Politik der Ent- spannung, in: DOD vom 25.01.1967, S. 1. 206 Aus dem Rechenschaftsbericht des Vorsitzenden der SPD, Bundesaußenminister Brandt, vor dem SPD-Parteitag in Nürnberg, 18. März 1968, abgedruckt in: Bonn – Warschau, S. 169 f., hier S. 169; zur Annerkennungsdebatte in der Bundesrepublik vgl. auch REHBEIN, Kapitel 4. 207 Vgl. Aus dem Memorandum des Bensberger Kreises vom 22. März 1968, abgedruckt in: Bonn – Warschau, S. 170-182; vgl. auch: GOLOMBEK; KERSKI.

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tik des BdV, der Verband setzte sich aber mit dessen Inhalt im Vergleich zum „Tü- binger Memorandum“ oder der EKD-Denkschrift deutlich weniger auseinander. Das lag vermutlich daran, dass im gleichen Monat auch der Parteitag der SPD in Nürnberg stattfand und die Aufmerksamkeit des BdV völlig auf den offiziellen und überra- schenden Vorschlag Willy Brandts zur Grenzanerkennung gelenkt war. Es fällt auf, dass das Argumentationsmuster des BdV Ende der 1960er Jahre deut- lich stärker als in den Jahren zuvor von der Opferrhetorik gekennzeichnet war. Ver- mutlich hing das mit der Tatsache zusammen, dass sich nicht nur im Oder-Neiße-Dis- kurs, sondern auch im westdeutschen Opferdiskurs ein Wandel vollzog. Die öffent- lichen Debatten der 1960er Jahre über die „Kollektivschuld“ der Deutschen am Zwei- ten Weltkrieg sowie die Debatte um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn der Bundesrepublik kündeten ansatzweise den Übergang vom integrationistischen Opferdiskurs zu dem seit den 1970er Jahren auf die Opfer des Holocaust fokussierten partikularistischen Opferdiskurs an. Neben der Auseinandersetzung um die Oder-Neiße-Grenze war das der zweite entscheidende Punkt, warum sich das BdV-Präsidium im Laufe der 1960er Jahre immer häufiger über die Isolierung und Diskriminierung der Vertriebenen und ihrer Verbände in Öffentlichkeit und Politik beklagte. Des Diskurswandels versuchte sich der BdV zu erwehren, indem er in seinem Argumentationsmuster stärker auf den Opferstatus der deutschen Vertriebenen hinwies: „Der Bund der Vertriebenen wendet sich entschieden gegen Voreingenommenheit und Einseitigkeit weiter Bereiche von Rundfunk und Fernsehen bei der Berichterstattung und Kommentierung über die Vertriebenen und die Vertreibungsgebiete. Die Vertriebenen als die Opfer eines Verbrechens der Unmenschlichkeit werden geschmäht, die Vertreiber hin- gegen entschuldigt und deren gewaltsame Annexion zum Recht erklärt. Wenn Denkschrif- ten und deren Verzichtsofferten wohlwollend und ausführlich dargestellt und erläutert wer- den, dann muß auch der Standpunkt des Rechts, der historischen Kontinuität und der politi- schen Ziele der Vertriebenen der Öffentlichkeit vermittelt werden. Chancengleichheit für alle demokratischen Kräfte in unserem Volk ist ein Gebot, dem auch Rundfunk- und Fern- sehanstalten verpflichtet sind.“208 An diesem Zitat wird deutlich, dass das BdV-Präsidium vom Opferstatus der Ver- triebenen nicht nur im Kontext der Vertreibung sprach, sondern auch in Bezug auf die seiner Ansicht nach negative Darstellung der Vertriebenenverbände und verfälschte Berichterstattung über die „deutschen Ostgebiete“ in den westdeutschen Medien. Die Tendenzen zum Wandel des westdeutschen Opferdiskurses scheint bereits BdV-Präsi- dent Jaksch Mitte der 1960er Jahre erkannt zu haben. Auf der Protestkundgebung 1966 mahnte er: „Man wird auf die Dauer mehr als zwei Millionen Vertreibungstoten einen Platz in der Einfriedung des Weltgewissens nicht verweigern können.“209 Doch erst seit dem Nürnberger Parteitag der SPD nahm die Opferrhetorik des BdV deutlich zu. Das war sicherlich zum großen Teil auch dadurch bedingt, dass zugleich der Ver- band seitdem als „politische Kraft“ immer mehr in die politische Marginalisierung

208 Bereit zu neuem Einsatz, in: DOD vom 8.04.1968, S. 5. 209 Wortlaut der Ansprache des Präsidenten (wie Kap. 4, Anm. 198), S. 9.

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geriet. Im Jahre 1969 nahm seine Rhetorik den Charakter eines verzweifelten Kamp- fes an. Im zentralen Nachrichtenmagazin des BdV war direkt von einer Isolierung von dem politischen und öffentlichen Leben die Rede: „Die Tendenzen, den Bund der Vertriebenen zu isolieren und aus dem politischen Feld he- rauszumanövrieren, nehmen in besorgniserregendem Ausmaße zu. Hauptziel der Ver- bandsführung im laufenden Jahr ist deshalb, die ,gläserne Wand‘ zu durchstoßen, die ge- wisse politische und publizistische Kräfte zwischen dem Bund der Vertriebenen und der offiziellen Politik sowie zu der deutschen Bevölkerung aufrichten möchten.“210 Das BdV-Präsidium suchte nach den Gründen für die „Verdächtigungen und Ver- fälschungen der Politik des Verbandes“ und kam zu dem Schluss, dass die politischen Erklärungen des Verbandes oft absichtlich nicht zur Kenntnis genommen bzw. falsch dargestellt würden.211 Der Kampf des BdV um seine politische Existenz wurde von ihm zum Kampf gegen das Verschweigen der Vertreibung und die Diskriminierung der Vertreibungsopfer hochstilisiert, wie am folgenden Zitat deutlich wird: „Die Bequemen und die Ängstlichen, die politischen Drückeberger und die politischen Op- portunisten: ihre Unruhe ist eine Unruhe schlechten Gewissens. Die einen fürchten um ihre Sattheit, die anderen fürchten um ihr materielles oder um ihr politisches Geschäft. Sie möchten, daß wir schweigen, und es finden sich Leute, die versuchen, uns dadurch in der Öffentlichkeit mundtot zu machen, daß sie uns verspotten daß sie uns verleumden, daß sie den Sinn unserer Worte verdrehen. [...] Aber die Heimatvertriebenen werden nicht schwei- gen; sie lassen sich von niemandem den Mund verbieten, weder von drinnen noch von draußen! [...] Die Heimatvertriebenen und ihre Organisation, der Bund der Vertriebenen, haben in den vergangenen Jahren eine beispiellose Zurückhaltung und Selbstdisziplin be- wiesen. [...] Je mehr der Abstand von dem in der Geschichte beispiellosen Ereignis der Vertreibung wächst und seine explosive Dynamik abzunehmen scheint, um so mehr neigen Teile der Politik und der übrigen Öffentlichkeit dazu, dieses disziplinierte Verhalten der Vertriebenen als selbstverständlich hinzunehmen. Statt es zu würdigen, zu fördern und vor Anfechtungen bewahren zu helfen, möchten sie am liebsten das ganze Kapitel Vertreibung, Vertriebene schließen und unsere Organisationen liquidieren.“212 An den hier aufgeführten Zitaten lässt sich ein deutlicher Wandel im Argumenta- tionsmuster des BdV erkennen. Während seine Aufklärungsarbeit Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre durch kämpferische Rhetorik gekennzeichnet war und er sich als starker Öffentlichkeitsakteur präsentierte, stellte er sich nun als ein Opfer der „verfälschten“ Medienberichterstattung und der politischen Kalküle dar. Er argumentierte mittlerweile eher vom Standpunkt eines kämpfenden Opfers als von dem eines wirksamen Interessenverbandes. Indem die BdV-Präsidenten immer wieder in ihren Reden an das Gewissen der bundesdeutschen Bevölkerung appellierten, ver- suchte das BdV-Präsidium mit der verstärkten Opferrhetorik die Zustimmung der öffentlichen Meinung für sich zu gewinnen. Seit Mitte der 1960er Jahren kann man

210 Die „gläserne Wand“ durchstossen (wie Kap. 4, Anm. 201), S. 5. 211 Ebenda. 212 Wortlaut der Rede des Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, Reinhold Rehs, MdB, auf der BdV-Großkundgebung des Bundestreffens der Ostpreußen am Pfingstsonntag, dem 25. Mai 1969, in: DOD vom 4.06.1969, S. 8 f.

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also beobachten, wie die Aufklärungsarbeit des BdV ihren Charakter veränderte. Der BdV begann sie mit dem Ziel, eine Informationsvermittlung aus der Sicht der Ver- triebenen in der Öffentlichkeit zu leisten und den guten Ruf der Vertriebenenverbände zu schützen. Er verstand sie auch als einen Kampf gegen die kommunistische Propa- ganda, die das Bild der Vertriebenenverbände verzerrte. Die „Aufklärungswelle“213 des BdV ging aber relativ schnell in einen Kampf gegen das „Verschweigen“ der Ver- treibungsgeschichte genauso wie gegen die Diskriminierung und Isolierung der Ver- triebenen und ihrer Verbände von der westdeutschen Öffentlichkeit über. Die Jahre 1968 und 1969 waren für den BdV und die Vertriebenenverbände insge- samt von einer großen politischen Symbolik gekennzeichnet. Zum einen trat der So- zialdemokrat und BdV-Präsident Reinhold in die CDU ein. Damit drückte er unter anderem seinen Protest gegen die auf dem Nürnberger Parteitag geäußerten Pläne der SPD-Parteiführung aus, die Oder-Neiße-Grenze offiziell „anzuerkennen“ bzw. zu „respektieren“. Über diesen Austritt wurde in der FAZ, der Zeit und dem Spiegel um- fangreich berichtet, womit sich das darauf folgende Kapitel genauer beschäftigen wird. Zum anderen wurde nach dem Regierungswechsel 1969 das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte aufgelöst. Die Reaktion des BdV- Präsidiums war offensichtlich: Es reagierte mit starkem Protest und erklärte „diese Entscheidung sachlich und politisch für verfehlt und unvertretbar“214. Auch die Um- benennung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen in ein Ministerium für innerdeutsche Beziehungen stieß auf Kritik des BdV.215 Die Auflösung des Vertriebenenministeriums bedeutete für die Vertriebenenverbände als politische Inte- ressengruppen eine schwere Niederlage. Der Einfluss auf die Bundesregierung und die Lobbyarbeit der Vertriebenenverbände wurde dadurch insofern erschwert, als er nicht direkt über die Ministerialebene ausgeübt werden konnte. Mit der Abschaffung des Vertriebenenministeriums wurde signalisiert, dass die Vertriebenenpolitik für die neue Bundesregierung an Bedeutung verlor, so dass auch die Erhaltung eines separa- ten Ministeriums für die Angelegenheiten der Vertriebenen nicht mehr notwendig er- schien. Nach dem Regierungswechsel von 1969 und mit der von der Bundesregierung Brandts angekündigten neuen Ostpolitik begann für den BdV und seine Verbandspo- litik eine schwere Zeit. Der Verband stand vor einer wichtigen Entscheidung: Um po- litisch zu überleben, musste er sich mit dieser völlig neuen Situation abfinden. Da er dazu nicht bereit war, tauchte die Frage auf, inwieweit er sich an die neuen Umstände anpassen musste. Das erwies sich als eine äußerst schwere Aufgabe, denn Änderun- gen bedeuteten für den BdV, bestimmte Ziele modifizieren, wenn nicht sogar aufge- ben zu müssen. Wie tief die Enttäuschung über die bevorstehende Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im BdV-Präsidium saß, lässt sich unter anderen daran erkennen, dass sie von dem neuen BdV-Präsidenten Herbert Czaja 1970 mit der Anerkennung

213 Klar sehen, mehr tun, klug planen, in: DOD vom 28.04.1967, S. 3. 214 Vertriebenen-Vertretung sicherstellen!, in: DOD vom 29.10.1969, S. 5; vgl. auch: Vertrie- benenministerium erhalten!, in: DOD vom 16.10.1969, S. 5. 215 Vgl. Vertriebenen-Vertretung (wie Kap. 4, Anm. 214).

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der Vertreibung gleichgesetzt wurde.216 Eine politische Entscheidung wurde somit zu einer historisch-moralischen hochstilisiert. Welchen Wandel das Argumentations- muster des BdV und seine Selbstdarstellung in den 1970er Jahren durchliefen, wird genauer im Kapitel 5.1.1 dargelegt.

4.2.2 „Zensor der Ostpolitik“ Seit Mitte der 1960er Jahre wurde die politische Bedeutung der Vertriebenenverbände in der westdeutschen Presse immer häufiger in Frage gestellt. Die zweite Hälfte der 1960er Jahre stellte einen Zeitraum dar, in dem sich der BdV seiner politischen Mar- ginalisierung zu widersetzen versuchte und in einen starken Deutungskonflikt mit den Befürwortern der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze geriet. Um seine Unzufrie- denheit und Enttäuschung auszudrücken, organisierte er 1966 eine Protestkund- gebung. Nach Hans-Josef Brües sind für die öffentlichen Veranstaltungen drei Funk- tionen charakteristisch: Erstens intensivieren sie die Bindung zwischen dem Verband und seinen Mitgliedern. Zweitens manifestieren sie die Bedeutung der Organisationen und stellen ihre Aufgaben der Öffentlichkeit vor. Drittens können sie ansatzweise die politische Meinungs- und Willensbildung beeinflussen.217 Auch der BdV nutzte seine Protestkundgebung zu diesen drei Zwecken: Er versuchte, das Solidaritätsgefühl in- nerhalb der Vertriebenengemeinschaft sowie zwischen den Vertriebenen und der westdeutschen Bevölkerung zu stärken und damit eine Bindung innerhalb der nationa- len Gruppe herzustellen, die Bedeutung seiner Arbeit und seiner Ziele öffentlich zum Ausdruck zu bringen und die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkannt werden darf. Über die Protestkundgebung des BdV berichteten sowohl die FAZ als auch Die Zeit. In diesem Kontext stand die Frage nach der politischen Bedeutung der Vertrie- benenverbände im Vordergrund. Zunächst wurden die Zahlen als Maßstab genom- men. Die FAZ meldete: „Nach Zählungen des Verbandes sollen an der Veranstaltung am Samstag über hunderttausend Vertriebene teilgenommen haben. Die Polizei nimmt an, es seien nur halb so viele gewesen.“218 Mit diesem Kommentar stellte das Blatt die vom BdV behauptete Mobilisierungskraft in Frage, denn es kamen deutlich weniger Menschen als erwartet. Dabei handelte sich nach der Meldung der FAZ bei den Teilnehmern um überwiegend Ältere oder Jugendgruppen, die mittleren Jahr- gänge seien dagegen nur schwach vertreten gewesen.219 Dass der BdV die Versuche seiner politischen Marginalisierung beobachtete, wurde insbesondere an den Worten des BdV-Präsidenten Wenzel Jaksch deutlich. Die FAZ berichtete darüber folgen- dermaßen:

216 Vgl. Wortlaut der Ansprache des Präsidenten des BdV Czaja bei der Kundgebung am 30. Mai 1970 auf dem Bonner Marktplatz, in: DOD vom 11.06.1970, S. 7-10. 217 Vgl. BRÜES, S. 60. 218 Jaksch lehnt Gebietsverzichte als Vorleistungen ab, in: FAZ vom 16.05.1966. 219 Vgl. ebenda.

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„,Mit Versuchen, eine unglückselige Vergangenheit zu rechtfertigen, wollen wir nichts zu tun haben. Unsere Gegner warten nur darauf, daß wir uns in eine Isolierung begeben‘, sagte Jaksch mit einem Satz, der sich nach zwei Seiten interpretieren läßt, gegen einen radikalen Nationalismus wie auch gegen Ansichten, wie sie in der evangelischen Denkschrift nieder- gelegt sind. So oft darauf angespielt wurde, waren aus dem Publikum ,Pfuirufe‘ zu ver- nehmen. Zugleich unternahm der Vertriebenenbund eine sichtbare Anstrengung, keine Vorwände für eine Verteufelung seiner Ziele zu liefern. ,Wir sind keine Demokraten auf Kündigung‘, sagte Jaksch, und auch andere Redner wiesen darauf hin, daß diese Veran- staltung nichts anderes sei als die friedliche, zivile und ordentliche Wahrnehmung eines Mitspracherechts.“220 Durch die hier vorgenommene Wiedergabe der Worte des BdV-Präsidenten wie „Isolierung“ und „Kündigung“ brachte die FAZ zum Ausdruck, wie sich der BdV mit seinem Standpunkt immer mehr aus Politik und Öffentlichkeit zurückgedrängt fühlte. Der BdV-Präsident forderte das „Mitspracherecht“ für seinen Verband sowie die ganze Vertriebenengemeinschaft und damit nichts anderes als den Anspruch auf die Teilnahme des BdV an wichtigen politischen Entscheidungen der Bundesregierung. In der FAZ wurde außerdem darauf hingewiesen, dass BdV-Präsident Jaksch alles vermied, „was als emotionaler Appell an die Massen hätte verstanden werden kön- nen“, und die Kundgebung als „eine ruhige Demonstration des politischen Willens der Vertriebenen“ habe ablaufen lassen.221 Der ruhige Charakter der Kundgebung wurde nicht nur in der FAZ, sondern auch in der Zeit betont. In der Wochenzeitung hieß es: „Selten fiel ein böses Wort. Jaksch hatte sein Manuskript entschärft, ob aus Rücksicht auf die von der Hitze matt gewordene Menge oder aus parteipolitischen Gründen, blieb sein Geheimnis.“222 Damit konnte der Leser den Kontrast zwischen der Vertriebenenveranstaltung im Jahr 1963 und der im Jahr 1966 beobachten. Die damals auf dem „Schlesiertreffen“ unbeherrschte Masse der Vertriebenen wurde drei Jahre später auf der BdV-Kundgebung als eine ruhige Gemeinschaft dargestellt, zu welcher der BdV-Präsident Jaksch, im Gegensatz zu Erich Schellhaus auf dem „Schlesiertreffen“ 1963, in einem ausgewogenen Ton sprach. Der Satz von Wenzel Jaksch „wir haben es richtig satt, nur in Zerrbildern darge- stellt zu werden“ wurde wörtlich sowohl in der FAZ als auch in der Zeit zitiert.223 Da- mit brachten die beiden Zeitungen die Forderung des Verbandes nach „objektiver“ Darstellung der Vertriebenenverbände in den Medien zum Ausdruck. In der Zeit wurde auch der „Anspruch auf Meinungsfreiheit“ thematisiert, den der BdV für sich erhob. 224 Daran lässt sich erkennen, dass der BdV seinen Kampf um die Meinungs- freiheit und objektive Berichterstattung in den westdeutschen Medien auch in der

220 Ebenda. 221 Ebenda. 222 DIETRICH STROTHMANN: „... über alles in der Welt“, in: Die Zeit vom 20.5.1966. 223 Jaksch lehnt Gebietsverzichte als Vorleistungen ab (wie Kap. 4, Anm. 218); STROTHMANN, „... über alles in der Welt“ (wie Kap. 4, Anm. 222). Vgl. Text im Original: Wortlaut der Ansprache des Präsidenten (wie Kap. 4, Anm. 198). 224 STROTHMANN, „... über alles in der Welt“ (wie Kap. 4, Anm. 222).

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zweiten Hälfte der 1960er Jahren fortsetzte. Die Zeit blickte insgesamt auf die BdV- Kundgebung mit einer Mischung von Ironie und Mitleid zurück: „Und sie kamen, um auf dem Marktplatz zu Bonn, behütet von 4 000 Ordnern, 400 Poli- zisten und fast 100 Rot-Kreuz-Helfern, noch für manches andere und gegen vieles mehr zu sein. Es war der 14. Mai. Er sollte ein ,Tag der Wahrheit‘ werden. Sie standen, dichtge- drängt unter der Hitzeglocke, auf dem Kopfsteinpflaster: viele alte Menschen, müde und schwitzend, einige junge Leute, unter ihnen welche in Trachten, mit engen Kopfhauben und dicken Röcken […]. Und sie hielten die zwei Stunden aus, klatschten in die Hände, riefen ,Bravo‘ und schrien ,Pfui‘ […]. Nach zwei Stunden war’s vorbei. Sie nahmen ihre Hoffnung und ihren Zorn mit und werden mit beiden weiterleben. […] Deutschlandkund- gebung 1966 des Bundes der Vertriebenen – ein Tag der Wahrheit? Es war ein Tag der Illusionen.“225 Der Hinweis auf viele ältere Teilnehmer, die auf Unrealistisches hofften, ließ den Leser auf die Vertriebenengemeinschaft mit Distanz blicken. Die Gegenüberstellung von „Wahrheit“ und „Illusion“ war hier ein erkennbares Zeichen dafür, dass der Deutungskonflikt aus den Jahren 1963 und 1964 seine Spuren hinterlassen hatte. Die Zeit ging außerdem auf die Worte des BdV-Präsidenten ein, der die Vertriebenen als „Zeugen und Überlebende eines Fünfzehn-Millionen-Dramas“ und die Vertreibung als „Nachkriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete.226 Auf diese in dem Argumentationsmuster des BdV seit Mitte der 1960er Jahre immer stärker prä- sente Opferrhetorik machte nur Die Zeit aufmerksam. Weder die FAZ noch Der Spie- gel schenkten diesem Aspekt ihre Aufmerksamkeit. Interessant war die Berichterstattung über die BdV-Kundgebung im Spiegel. Hier ergriff ein 17-jähriger Schüler namens Rainer Wagner das Wort. Stellvertretend für die junge Generation kommentierte er die Vertriebenenkundgebung und die zur glei- chen Zeit stattgefundene Gegendemonstration der Schüler und Studenten. In seinem Artikel drückte Wagner Bedauern aus, dass das deutsche Fernsehen über die Vertrie- benenkundgebung ausführlich berichtete, während die Demonstration der Schüler nur kurz erwähnt worden sei: „Am Abend zeigt das Fernsehen einen minutenlangen Film über die Kundgebung. Nur friedliche Menschen sind darauf zu sehen. Am Schluß sind fünf oder sechs Sekunden die Studenten und ihre Transparente zu sehen. Abgesehen davon, meint der Sprecher ‚verlief die Kundgebung störungsfrei‘“227. In der Spiegel- Berichterstattung über die Kundgebung des BdV wurden zwei Generationen gegen- über gestellt, die aus unterschiedlichen Gründen auf die Straße gingen. Die Schüler verkörperten die Zukunft und die Vertriebenen die Vergangenheit. Während die Ver- triebenen gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze protestierten, hätten die Schüler und Studenten „für Versöhnung mit den Ostvölkern“ demonstriert und ge- zeigt, dass sie „Friede und Freundschaft“ mit den östlichen Nachbarn „für eine politi- sche Notwendigkeit halten“.228 Der Kontrast wurde auch dadurch hergestellt, dass in

225 Ebenda. 226 Ebenda. 227 RAINER WAGNER: „Ich mach’ dich kaputt, du …“, in: Der Spiegel vom 23.05.1966, S. 30. 228 Ebenda.

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die Protestaktion der Schüler die Polizei eingreifen musste, was Wagner im Spiegel ausführlich schilderte. Die Kundgebung der Vertriebenen verlief dagegen ruhig. Im Spiegel wurde also zum Ausdruck gebracht, dass die Demonstration der Schüler und Studenten als eine Art Störfaktor im Schatten der Vertriebenenkundgebung blieb. Mit der Kundgebung erhoffte sich der BdV, auf die für die Vertriebenen ungüns- tige Entwicklung des Oder-Neiße-Diskurses einzuwirken. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stellte sich allerdings heraus, dass dies dem Verband nicht gelang. Im März 1968 wurde nach dem „Tübinger Memorandum“ und der EKD-Denkschrift nun das so genannte „Bensberger Memorandum“ veröffentlicht, in dem seine Autoren für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze plädierten. Laut der Zeit forderten die Auto- ren der nun von den katholischen Kreisen ausgegangenen Initiative „die Zubilligung des Heimatrechtes für die neun Millionen Polen, die seit 1945 in jenen Gebieten le- ben, und eine Wiedergutmachung an den polnischen Opfern des Hitler-Terrors“.229 Interessant an dieser Stelle erscheint die Anknüpfung an die Rhetorik der Vertriebe- nenverbände. Das bisher in Bezug auf die Forderungen der deutschen Vertriebenen gebrauchte Wort „Heimatrecht“ wurde im „Memorandum“ auf die Polen als Kriegs- opfer übertragen. Seine Autoren sprachen von dem Problem „des Heimatrechts der vertriebenen Deutschen und des Heimatrechts der heute in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden Polen“230. Während Die Zeit auf die Kritik des BdV am „Bensberger Memo- randum“ nicht einging, tat das kurz die FAZ. Nach der Meldung der Tageszeitung habe BdV-Präsident Reinhold Rehs das Schriftstück als „negativ und destruktiv“ be- zeichnet.231 Die bisher stark auf die westdeutschen Medien und die Öffentlichkeit ausgerichte- te Kritik des BdV bezüglich der Oder-Neiße-Problematik verlagerte sich seit 1968 auf die westdeutschen Politiker. Im März 1968 fand in Nürnberg der SPD-Parteitag statt, an dem Willy Brandt für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze plädierte. Als er seinen Vorschlag äußerte, verließ der BdV-Präsident, der als SPD-Bundestagsabge- ordneter auch an dem Parteitag teilnahm, aus Protest demonstrativ den Saal.232 Darü- ber berichtete beispielsweise Die Zeit folgendermaßen: „Jetzt zerbrach für Reinhold Rehs, den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen und lang- jährigen SPD-Bundestagsabgeordneten, abermals eine Welt – am 18. März 1968 in Nürn- berg. Vor dem Parteitag plädierte Außenminister Willy Brandt unter dem Beifall der Dele- gierten für eine vorläufige Anerkennung der Grenze an Oder und Neiße. Rehs saß in der ersten Reihe. Als sein Parteivorsitzender gesprochen hatte, stand er auf und verließ den

229 DIETRICH STROTHMANN: Das Bensberger Memorandum, in: Die Zeit vom 8.03.1968. 230 Zitiert nach: Polen und Deutsche sind vertrieben worden und haben vertrieben, in: FAZ vom 4.03.1964. 231 Zitiert nach: Vertriebene einmütig gegen Bensberger Memorandum, in: FAZ vom 4.03. 1968. 232 Vgl. Auf der Bahre, in: Der Spiegel vom 4.11.1968, S. 49.

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Saal. Anderntags schickte er Brandt ein Protesttelegramm, ,infolge Erkrankung an der wei- teren Teilnahme am Parteitag verhindert‘.“233 Der SPD-Parteitag habe laut der Zeit ein „politisches Erdbeben“ ausgelöst.234 Während die FAZ in diesem Zusammenhang auf die Kritik des BdV nur kurz ein- ging235, wurde die Haltung des BdV ausführlich in der Zeit kommentiert. Der Dach- verband wurde hier für seine „Blindheit“ in der Auslegung des SPD-Vorschlags über die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze kritisiert und als „Zensor der Ostpolitik“ bezeichnet: „Der Bund der Vertriebenen hat den sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Rein- hold Rehs mit großer Mehrheit als Präsidenten wiedergewählt und zugleich eine Attacke von ungewöhnlicher Schärfe gegen die SPD geführt – eine Attacke, die in der Empfehlung mündet, die SPD nicht mehr zu wählen. Anlaß ist die Entschließung des Nürnberger Par- teitages, in der es zur Ostpolitik heißt: ,Diese Politik wird um so erfolgreicher sein, je kla- rer unser Wille zum Ausdruck kommt, die bestehenden Grenzen in Europa, insbesondere die gegenwärtige polnische Westgrenze, zu respektieren und anzuerkennen, bis die deut- schen Grenzen in einer friedensvertraglichen Regelung, die von allen Beteiligten als ge- recht und dauerhaft empfunden werden kann, endgültig festgelegt werden.‘ Man muß schon mit bösartiger Polemik begabt oder mit Blindheit geschlagen sein, um diesen Satz so zu interpretieren, wie die Vertriebenenorganisation (einschließlich der sozialdemokrati- schen Mitglieder) dies tut. Der Verband sieht darin nur die ,Anerkennung gewaltsam ge- schaffener Unrechtstatbestände‘. Und wenn diese Entschließung als ,Wortbruch gegenüber den Zusicherungen‘ bezeichnet wird, daß ,nichts hinter dem Rücken der Vertriebenen ge- schehen darf‘, so fragt man sich vergebens, was wohl eigentlich auf einem öffentlichen Parteitag hinter dem Rücken der Vertriebenen geschehen konnte. Der Verdacht wird zur Gewißheit, daß sich der Vertriebenenverband bisher als Zensor der Ostpolitik verstanden hat – nicht ohne Zutun der Parteien, denn sie haben aus Angst vor vermeintlichem Wähler- verlust die offene Auseinandersetzung mit dem Vertriebenenverband nie gewagt. Es wird Zeit, diese Zensur abzubauen.“236 In diesem Zitat kommt deutlich zum Ausdruck, dass die Kritik der Zeit sich nicht nur an den Vertriebenenverband richtete, sondern auch an die Politiker, die jahrelang aus Angst vor dem Verlust der Wähler jegliche Auseinandersetzungen mit den Ver- triebenenfunktionären mieden. Interessant ist die Bezeichnung des BdV als eines Zensors. Denn damit wurde auf die Deutungshoheit des Verbandes hingewiesen, die er in Bezug auf Vertriebenenthemen in Politik und Öffentlichkeit beanspruchte. Der BdV wurde in diesem Zitat quasi zum Wächter und Kontrolleur dessen stilisiert, was in der Öffentlichkeit gesagt werden durfte oder nicht. Die Bezeichnung des Ver- bandes als „Zensor“ in Verbindung mit seinen Forderungen nach „Meinungsfreiheit“ und seiner Kritik an dem angeblichen „Meinungsmonopol“ der westdeutschen Me-

233 DIETRICH STROTHMANN: Die schwere Bürde des Reinhold Rehs, in: Die Zeit vom 12.04. 1968; vgl. auch DERS.: Vertriebene auf Rechtskurs, in: Die Zeit vom 30.05.1969. 234 ROLF ZUNDEL: Nach dem Bonner Mini-Beben, in: Die Zeit vom 29.03.1968. 235 Vgl.: Brandts Äußerung zur Oder-Neiße-Linie stößt auf Widerspruch, in: FAZ vom 20.03. 1968. 236 ROLF ZUNDEL: Zensoren der Ostpolitik, in: Die Zeit vom 5.04.1968.

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dien in der ersten Hälfte der 1960er Jahre führte dazu, dass das Selbstbild des BdV als Kämpfer um Freiheit und Wahrheit und sein Fremdbild als Verhinderer der Mei- nungsfreiheit auf der massenmedialen Ebene aufeinanderprallten. Trotz der heftigen Kritik an dem Dachverband wurde im weiteren Teil des Artikels zugleich Verständnis für den BdV ausgedrückt und Bedauern geäußert, dass er in eine Isolierung geriet: „Niemand wird dem Vertriebenenverband politische Verdienste absprechen. Man kann auch daran zweifeln, ob die Vertriebenen, die ungleich härter als alle anderen für das Un- recht, das im Namen des deutschen Volkes begangen wurde, büßen mußten, in ausreichen- dem Maße die solidarische Hilfe der übrigen Bevölkerung erhalten haben. Nicht alle ihre Klagen sind also unberechtigt. Aber betrüblich und bedauerlich erscheint, daß ihre Organi- sation mehr und mehr in eine politische Isolierung gerät. Da wird blindlings gegen Rund- funk und Fernsehen gewütet, gegen jegliche Form der „Verzichtpolitik“ gewettert – und oft ist diese Polemik nichts anderes als ein Kampf gegen unerfreuliche Tatsachen.“237 Der unaufhaltsame Niedergang des BdV als „politische Kraft“ wurde nicht nur 1968 vor dem Hintergrund des SPD-Parteitags immer deutlicher, sondern auch im Kontext der Bundestagswahlen von 1969. Erneut widmete die westdeutsche Presse ihre Aufmerksamkeit der Kandidatenaufstellung und dem Wählerpotenzial der Ver- triebenen. Die Aufstellung der BdV-Mitglieder zu den Wahlen war für den BdV inso- fern wichtig, als die Zuteilung von Listenplätzen und Wahlkreismandaten durch die Parteien über den Umfang und die Möglichkeiten politischer Einflussnahme der Ver- triebenenverbände entschied.238 Am Beispiel der Aufstellung bzw. Nicht-Aufstellung des BdV-Präsidenten Reinhold Rehs als SPD-Kandidat zur Bundestagswahl von 1969 lässt sich gut darlegen, wie der Dachverband Ende der 1960er Jahre an politischer Be- deutung verlor. Über die Kandidatenaufstellung und das gestörte politische Verhältnis des BdV- Präsidenten Rehs zur SPD berichteten sowohl Die Zeit als auch Der Spiegel. „Hat für Reinhold Rehs, den Vertriebenen-Präsidenten, die politische Stunde geschlagen?“, fragte Dietrich Strothmann in der Zeit.239 Er kommentierte damit die Tatsache, dass Rehs zum ersten Mal ein sicherer Platz auf der Liste der SPD seines Wahlkreises ver- weigert wurde: „Bislang hatte Rehs auf der Liste des Wahlkreises Rendsburg/Neu- münster einen sicheren zweiten Platz; seit 16 Jahren ist er Bonner Fraktionsmitglied. Nun soll ihm der Laufpaß gegeben werden. Geschieht hier einem verdienten Politiker Unrecht?“240 Der Kandidatur Reinhold Rehs in der Bundestagswahl widmete auch Der Spiegel seine Aufmerksamkeit: „Zweimal kürten die Genossen im holsteinischen Bundestagswahlkreis 5 (Rendsburg-Neumünster) seit 1961 den Vertriebenenfunktio- när zu ihrem Kandidaten, und jedesmal gab ihm die Kieler Parteispitze einen sicheren Platz auf der SPD-Landesliste. Nun sind die Sozialdemokraten des nördlichsten Bun- deslandes, in dem jeder vierte Heimatvertriebener ist, des prominentesten Heimatver-

237 Ebenda. 238 Vgl. BRÜES, S. 163. 239 DIETRICH STROTHMANN: Lieber Rehs als Becher, in: Die Zeit vom 4.10.1968. 240 Ebenda.

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triebenen überdrüssig.“241 Während sich Der Spiegel auf die Informationswiedergabe zu den bevorstehenden Wahlen konzentrierte, ging der Zeit-Redakteur Strothmann deutlich stärker auf die Person Rehs’ ein und bezeichnete das Amt des BdV-Präsiden- ten als ein „schwieriges Geschäft“, das den Vertriebenen- und gleichzeitigen SPD- Politiker zum „Außenseiter“ in seiner Partei machte.242 Die seit dem SPD-Parteitag von 1968 andauernde Auseinandersetzung Rehs’ mit seiner Partei kulminierte in seinem Übertritt zur CDU. Das kommentierte beispiels- weise Die Zeit folgendermaßen: „Rehs bat beim Parteivorstand darum, ihn in einem anderen Wahlkreis oder auf einer anderen Liste aufzustellen. Es blieb bei Verspre- chungen und hinhaltenden Zusagen. Dann gab Rehs auf: Er trat zur CDU über.“243 Die FAZ schilderte den Standpunkt des BdV-Präsidenten und die Begründung seiner Entscheidung ausführlicher als Die Zeit: „In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP begründete Rehs seinen Schritt mit seiner Verpflichtung gegenüber den von ihm repräsentierten Heimatvertriebenen. Die Heimatvertriebenen hätten schon durch den Nürnberger SPD-Parteitag im vergangenen Jahr ,einen tiefen Schock bekommen‘. Er habe versucht, ,den Schaden auf beiden Seiten, im Bund der Vertriebenen und in der SPD, zu beheben‘. Die SPD-Politiker Wehner, Ruh- nau und Figgen hätten ihn dabei unterstützt, andererseits habe sich der Bund der Vertriebe- nen (BDV) hinter ihn gestellt. Aber auf die Dauer habe sich der BDV immer wieder vor die Frage gestellt gesehen: ,Wie wertet die SPD den BDV und seine Aufgaben, wie behandelt sie den Präsidenten des Bundes? ‘ Dabei habe die SPD gewußt, daß der BDV die Frage der Kandidatur seines Präsidenten für die Bundestagswahl als ,entscheidenden Test für die Haltung der SPD gegenüber den Vertriebenen‘ ansehen werde. Die ,kaltschnäuzige Art‘, mit der auch die nordrhein-westfälische SPD die Frage seiner Kandidatur vor acht Tagen behandelt habe, sei entscheidend gewesen für seinen Austritt aus der Partei, sagte Rehs. ,Ich konnte und kann nicht kneifen vor den Vertriebenen‘. Sie brauchen die Parteien, und es habe sich die Erkenntnis bei ihm durchgesetzt, daß die Interessen der Vertriebenen am ehesten von der CDU wahrgenommen würden.“244 Nach Hans-Josef Brües habe Rehs den Zeitpunkt des Parteiwechsels lange hinaus- gezögert, weil er mit diesem Schritt mögliche Nachteile für seinen Verband fürchtete. Sein Parteiaustritt sei von den Landsmannschaften als unvermeidlich betrachtet und mit Zustimmung aufgenommen worden. Interessanterweise sei aber trotz heftiger Kritik des BdV an der SPD nirgendwo eine Äußerung zu finden, dass der Verband seine personellen und institutionellen Verbindungen zur SPD auflösen wollte.245 Diese Beobachtung lässt sich gut nachvollziehen, wenn man an die stets betonte

241 Auf der Bahre (wie Kap. 4, Anm. 232), S. 49. 242 STROTHMANN, Lieber Rehs als Becher (wie Kap.4, Anm. 239). 243 DERS., Vertriebene auf Rechtskurs (wie Kap. 4, Anm. 233); vgl. auch: Vertriebener, in: Die Zeit vom 16.05.1969. 244 Der Wechsel des Vertriebenenpräsidenten Rehs zur CDU, in: FAZ vom 12.05.1969; Rein- hold Rehs Erklärung zu seinem Austritt aus der SPD und sein Antrag auf die Aufnahme in die CDU wurden im DOD abgedruckt. Vgl. dazu: Eine politische Entscheidung, in: DOD vom 20.05.1969, S. 2-4; BRÜES, S. 151 ff. 245 Vgl. BRÜES, S. 153.

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Überparteilichkeit des Verbandes denkt sowie an das bei der Konstituierung des Ver- bandes gesetzte Ziel, sowohl mit den regierenden Parteien als auch mit der Opposi- tion gute Kontakte zu pflegen. Mit seinem Übertritt signalisierte Rehs, dass der BdV seinen politischen Verbündeten von nun an vielmehr in der CDU/CSU als in der SPD sah. Doch zur kompletten Abwendung des Vertriebenenverbandes von der regieren- den Partei kam es nicht, wie bereits oben erwähnt. Denn der Verband brauchte auch die sozialliberale Bundesregierung, wenn er seine politischen Ansprüche und Ziele auch in den nächsten Jahren wirksam verfolgen wollte. Nach Meldungen der FAZ wurde der Parteiübertritt Rehs’ „in Bonn als dramati- sches Zeichen einer schweren Krise zwischen der SPD und den Vertriebenen“ ge- deutet.246 Das Blatt wies gleichzeitig darauf hin, dass die Kandidatur Rehs’ von dem SPD-Vorsitzenden Brandt unterstützt worden sei. Er hätte sich um einen Listenplatz für Rehs in Nordrhein-Westfalen bemüht, jedoch ohne Erfolg. „Maßgebende sozial- demokratische Kreise“ hätten den Parteiaustritt des BdV-Präsidenten als einen „gro- ße[n] Schaden“ angesehen.247 Damit wies die FAZ darauf hin, dass es sich dabei nicht nur um einen Konflikt zwischen Rehs und seiner Partei handelte, sondern auch für Meinungsunterschiede innerhalb der Partei sorgte. Das Wählerpotenzial der Vertrie- benen wirkte Ende der 1960er Jahre auf die SPD nicht mehr als Argument für die Kandidatenaufstellung. Vor dem Hintergrund der Bundestagswahl von 1969 wurden die Bedeutung der Vertriebenen als Wähler und die Mobilisierungsmacht der Vertriebenenverbände dis- kutiert: „Die Verbandsfunktionäre drohen – doch über wie viele Stimmen verfügen sie?“, fragte Dietrich Strothmann in der Zeit.248 Er setzte sich dabei mit den stark ab- weichenden Angaben bezüglich der Anzahl der vertriebenen Deutschen insgesamt und der in der Bundesrepublik noch lebenden Vertriebenen auseinander. Er kam zur Schlussfolgerung, dass die Vertriebenen als Wähler immer noch eine Rolle spielten und „im Kalkül der Wahlkampfstrategen“249 eingeplant seien: „Fünfundzwanzig Jahre nach der Vertreibung aus Königsberg, Breslau und Eger sind die Vertriebenen, die weithin in Vergessenheit geraten waren und die als organisierte Gruppe kaum noch für existent gehalten wurden, wieder im Gespräch. Ihre Funktionäre werden umworben, sind ein politischer Faktor. Laut und fordernd kämpfen sie dagegen an, ein zweitesmal vertrieben zu werden – nun vom politischen Feld. Sie demonstrieren ihre Macht. Sie wollen nicht nur reden, wie schon früher so oft, sie wollen auch handeln. […] Der Wettlauf um die Stimmen der Vertriebenen, der in diesen Tagen angehoben hat, de- monstriert noch einmal die Macht der Vertriebenensprecher. Wie mächtig oder ohnmächtig diese Macht ist, wird sich am 28. September herausstellen.“250 Dieses Zitat ist insofern interessant, als hier verschiedene Perspektiven auf die Vertriebenen und ihre politische Bedeutung zum Ausdruck kommen. Einerseits war

246 Wechsel des Vertriebenenpräsidenten Rehs zur CDU (wie Kap. 4, Anm. 244). 247 Ebenda. 248 STROTHMANN, Vertriebene auf Rechtskurs (wie Kap. 4, Anm. 233). 249 Ebenda. 250 Ebenda.

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die Rede davon, dass die Vertriebenen immer noch eine starke Wählergruppe dar- stellten, um deren Stimmen die Parteien warben. Die Selbstbezeichnung des BdV als ein „politischer Faktor“ tauchte in diesem Kontext ebenfalls auf. Andererseits wurde neben dieser Manifestation der Stärke auf die langsame politische Marginalisierung der Vertriebenenverbände hingewiesen und auf ihre Versuche, sich dagegen zu weh- ren. Die Rhetorik des BdV wurde hier insofern aufgegriffen, als Strothmann in dem Zitat von der Vertreibung der Vertriebenen aus der Politik sprach. Die frühere „Macht“ der Vertriebenenverbände wurde der sich ankündenden „Ohnmacht“ gegen- übergestellt. In dieser Textpassage wurden allerdings nur verschiedene Perspektiven geschildert und die aufgeworfene Frage nach der politischen Bedeutung der Vertrie- benenverbände blieb offen. Die „politische Kraft“ des BdV sowie aller anderen Ver- triebenenorganisationen machte Strothmann von der Bundestagswahl abhängig. Das ist wiederum ein Hinweis darauf, wie stark sich einige Kriterien des BdV für seine politische Bedeutung in der westdeutschen Öffentlichkeit durchsetzten: Sie definierte sich durch das Wählerpotenzial der Vertriebenen und die Mobilisierungskraft der Vertriebenenverbände. Die Auseinandersetzung um die Kandidatur Rehs’ zur Bundestagswahl sowie sein Übertritt zur CDU wurden in der Öffentlichkeit als erste Schritte auf dem Weg zur Einschränkung der Einflussnahme der Vertriebenenfunktionäre auf die SPD-Politik gesehen. Nach den Wahlen stellte sich noch deutlicher heraus, dass diese beiden Ereignisse sich sehr gut in den politischen Bruch einfügten, den die SPD versprach. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, mit der ein klarer politischer Wandel ver- bunden war, zog den Verlust der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände nach sich und markierte einen Wendepunkt in der Geschichte des BdV. Seit der Kundgebung des BdV von 1966 kam in der Berichterstattung der FAZ, der Zeit und des Spiegels zum Ausdruck, dass der BdV mit seinem Argumentationsmuster in der politischen und massenmedialen Öffentlichkeit unaufhaltsam marginalisiert wurde.

4.2.3 Vom „Bund der Umsiedler“ zum „Bund der Vertriebenen“ In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erregte der Bund der Vertriebenen die Auf- merksamkeit der polnischen Medien, als er 1966 eine Protestkundgebung gegen die in der westdeutschen Öffentlichkeit diskutierte Notwendigkeit der Grenzanerkennung an der Oder-Neiße-Linie organisiert hatte. Obwohl in der polnischen Presse zumeist all- gemein von Vertriebenenverbänden gesprochen wurde, erwähnte die Trybuna Ludu diesmal den BdV ausdrücklich als Organisator der Kundgebung. Der Verband wurde als „Bund der so genannten ‚Landsmannschaften‘“ bezeichnet, womit gleichzeitig sei- ne Dachstruktur zum Ausdruck gebracht wurde.251 Die Parteizeitung sprach von der „Mobilisierungsarbeit“, die von den Vertriebenenverbänden in der ganzen Bundesre- publik durchgeführt worden war.252 Nicht nur um die Vertriebenen sei auf der Kund-

251 ARTUR KOWALSKI: Jak się werbuje „przesiedleńców“ [Wie rekrutiert man „Umsiedler“], in: Trybuna Ludu vom 12.05.1966. 252 Ebenda.

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gebung geworben worden, sondern um alle Deutschen, die sich mit den Vertriebenen- parolen identifizieren. Ähnlich wie Der Spiegel die Protestkundgebung einer Studen- tendemonstration gegenüberstellte, bediente sich auch die Trybuna Ludu einer Kon- trastsetzung. Die für 100 000 Personen geplante BdV-Veranstaltung wurde einer kleinen Gruppe von ca. 100 Leuten gegenübergestellt, die in einem kleinen Saal an einer Kirche über die Versöhnung mit Polen diskutierte. Angemerkt wurde die Tat- sache, dass an der Diskussion keine prominenten Persönlichkeiten teilnahmen, son- dern „einfache Menschen aus unterschiedlichen Gesellschafts- und Berufsschichten, Frauen und Männer, alte und junge Menschen, Katholiken und Protestanten.“253 Im Gegensatz zur westdeutschen Presse, die auf die geringe Anzahl der Teilneh- mer aufmerksam machte, wies die Trybuna Ludu darauf hin, dass der Bonner Platz bis an den Rand gefüllt gewesen sei. Gleichzeitig wurde aber angemerkt, dass von den erwarteten 100 000 Teilnehmern nur 50 000 bis 65 000 tatsächlich gekommen waren.254 Laut der Parteizeitung hätten an der BdV-Kundgebung zwei Minister und fünfzig Bundestagsabgeordnete teilgenommen. Mit dieser Meldung wies sie auf die politische Unterstützung der Vertriebenenproteste hin. Auf der Kundgebung habe es mehrere Transparente mit antipolnischen Parolen gegeben, unter anderem „Noch ist Preußen nicht verloren …“, womit auf den ersten Satz aus dem Refrain der polni- schen Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“ angespielt wurde. Der BdV- Präsident Wenzel Jaksch, der als „Führer der übersiedelten Revisionisten“ bezeichnet wurde, habe erklärt, dass die Vertriebenen mit „einer doppelten Stärke nach Bonn zu- rückkehren, wenn ihre Forderungen nach dieser Manifestation nicht erfüllt wer- den“.255 Damit wurde in der Trybuna Ludu eine Stimmung von Gefahr und somit Angst vor den Vertriebenen erzeugt. Es wurde darauf hingewiesen, dass Jaksch über die Menschenrechte gesprochen, aber nichts über das „den Polen und anderen Völ- kern Europas zugefügte Leid durch die Nationalsozialisten“ gesagt habe.256 Die Art und Weise, wie der Tygodnik Powszechny über die BdV-Kundgebung von 1966 berichtete, unterschied sich von den kommunistischen Blättern deutlich. So wurde hier der BdV als Organisator der Kundgebung nicht erwähnt. Das Blatt sprach allgemein von der „Kundgebung der Umsiedler und der ‚Heimatvertriebenen‘“ („wielki wiec przesiedleńców i ‚wypędzonych z ojczyzny‘“).257 Auch wenn das Wort „Heimatvertriebene“ in Anführungsstriche gesetzt wurde, zeichnete sich darin ein kla- rer Wandel im Vergleich zur ersten Hälfte der 1960er Jahre. Interessant ist die Tatsa- che, dass hier zwei unterschiedliche Bezeichnungen für die deutschen Vertriebenen nebeneinander auftauchen: Zunächst ist gemäß der kommunistischen Diktion die Rede von den „Umsiedlern“ und gleich danach von den „Heimatvertriebenen“. In der

253 Ebenda. 254 Vgl. DERS.: Zlot rewizjonistów w Bonn [Revisionistentreffen in Bonn], in: Trybuna Ludu vom 15.05.1966. 255 Ebenda. 256 Ebenda. 257 WŁADYSŁAW BARTOSZEWSKI: Czwartek w Monachium, sobota w Bonn [Donnerstag in München, Samstag in Bonn], in: Tygodnik Powszechny vom 21.08.1966.

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katholischen Wochenzeitung wurde die politische Bedeutung der Vertriebenenver- bände in Frage gestellt. Obwohl unter den Teilnehmern auch kleine Gruppen von Ju- gendlichen in Trachten anwesend waren, hätten die Menschen über fünfzig und ältere überwogen. Dem Autor des Artikels, Władysław Bartoszewski, zufolge, der die Kundgebung persönlich erlebt hatte und nun darüber berichtete, seien die Reden der Vertriebenenpolitiker voller Demagogie und Heuchelei gewesen und viele Teilneh- mer hätten ihre privaten Gespräche den offiziellen Reden vorgezogen. Sie hätten des- wegen z.B. den Marktplatz noch während der Kundgebung verlassen und wären in die Stadt gegangen.258 Bartoszewski wies auf die Gegenmanifestation von Schülern und Studenten hin, die in der Nähe des Bonner Marktplatzes stattgefunden hatte, die auch im Spiegel thematisiert wurde. Die jungen Menschen hätten mit Parolen wie „Versöh- nung wichtiger als Rechtsansprüche“ die „junge Intelligenz“ der Bundesrepublik ver- treten, die bereit war, „die unpopulären Schritte“ zu gehen.259 Ein Jahr nach der Kundgebung wurde der Sozialdemokrat Reinhold Rehs zum BdV-Präsidenten gewählt. Die Trybuna Ludu berichtete, dass sich dieser neu ge- wählte „Vorsitzende des Bundes der Umsiedler“ für eine „enge Zusammenarbeit zwi- schen den revisionistischen Landsmannschaften und der Regierung der ‚Großen Koa- lition‘“ ausgesprochen habe.260 Der Parteizeitung zufolge gebe es keinen Widerspruch zwischen dem Aufgabenprogramm des „Bundes der Landsmannschaften“ und der Ostpolitik der Bundesregierung. Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass sich Rehs die Verwirklichung der Ziele der „Umsiedler“ nicht ohne Hilfe der Bundesregierung vorstellen könne. Deswegen halte er es für notwendig, auf der Basis einer „Partner- schaft“ eine „möglichst weitgehende Verständigung mit der Bundesregierung“ zu er- reichen.261 Im gleichen Artikel wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Rehs anläss- lich seiner Wahl zum BdV-Präsidenten Glückwünsche von der SPD und der CDU be- kommen habe.262 An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Trybuna Ludu die politi- sche Bedeutung des BdV kontinuierlich thematisierte und im Gegensatz zu den west- deutschen Medien nicht in Frage stellte. Das änderte sich auch nicht, als sich Willy Brandt auf dem SPD-Parteitag für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aus- sprach. Die auf dem Nürnberger Parteitag von Willy Brandt vorgeschlagene „Anerken- nung bzw. Respektierung der Oder-Neiße-Grenze“ wurde in der kommunistischen Presse mit wenig Begeisterung kommentiert. Der Grund dafür lag in der Kritik, dass die Grenzanerkennung nur „bis zur friedensvertraglichen Regelung“ gelten solle.263 Laut der Trybuna Ludu war damit das Oder-Neiße-Problem nicht gelöst, weswegen

258 Vgl. ebenda. 259 Ebenda. 260 ARTUR KOWALSKI: Idylla przesiedleńców i rządu NRF [Idylle der Umsiedler und der Bun- desregierung], in: Trybuna Ludu vom 14.03.1967. 261 Ebenda. 262 Vgl. ebenda. 263 Zitiert nach: Erkärungen zur Deutschlandpolitik. Teil I, Brandt zur Oder-Neiße-Grenze, S. 141.

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„die westdeutschen Revisionisten beruhigt sein konnten“264. Das Blatt machte in ei- nem anderen Artikel ein paar Tage später darauf aufmerksam, dass Brandts Vorschlag der Grenzanerkennung auf Kritik seitens der „sozialistischen Staaten“ und der „Ver- triebenenorganisationen“ gestoßen sei. Brandt habe dazu Stellung genommen und die Skepsis der „sozialistischen Staaten“ als „sinnlos“ bezeichnet. Gegenüber den „Revi- sionisten vom Bund der Umsiedler“ habe er dagegen keine Kritik geäußert, sondern in einem Antwortschreiben an den „Vorsitzenden des Bundes der Umsiedler“ den Wunsch der Vertriebenen nach „Versöhnung mit Polen“ begrüßt.265 Während der Grenzanerkennungsvorschlag zu einer Auseinandersetzung zwischen der SPD und dem BdV-Präsidium führte, sah die Trybuna Ludu darin keinen Bruch zwischen der Parteipolitik und der Verbandspolitik. Die Parteizeitung behauptete weiterhin, dass die Vertriebenenverbände auf die politische Unterstützung, auch seitens der SPD, zählen konnten. Was sich allerdings ein wenig änderte, war die Rhetorik der Partei- zeitung. Die Artikel waren nicht mehr so stark von kommunistischen Floskeln und kämpferischen Ausdrücken gekennzeichnet wie noch in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre. Insofern lassen sich hier die ersten Veränderungen in der Berichterstat- tung der Trybuna Ludu beobachten, die auf den von der SPD angekündigten Wandel in Bezug auf die Oder-Neiße-Problematik zurückzuführen sind. Ende der 1960er Jahre wird der Bund der Vertriebenen in den kommunistischen Zeitungen Trybuna Ludu und Polityka auffallend häufig unter seinem richtigen Na- men erwähnt, anders als noch in den Jahren zuvor. Nachdem sein Name in wörtlicher Übersetzung in der Trybuna Ludu zum ersten Mal 1964 aufgetaucht war, war er dort erst wieder 1969 zu lesen und auch diesmal in Anführungsstriche gesetzt. Interessant ist die Erläuterung für den polnischen Leser, was unter dem Bund der Vertriebenen zu verstehen ist. So hieß es: „Rehs, przewodniczący tzw. ‚Związku Wypędzonych‘, czyli przesiedleńców, był od 16 lat deputowanym SPD do Bundestagu“, was so viel bedeu- tet wie „Rehs, der Vorsitzende des sog. ‚Bundes der Vertriebenen‘, also der Umsied- ler, war seit sechzehn Jahren SPD-Bundestagsabgeordneter“266. Dem Leser, der jahrelang mit dem Begriff „Umsiedler“ vertraut war, wurde nun erklärt, dass mit dem Verband der „Vertriebenen“ derjenige der „Umsiedler“ gemeint war. Nicht nur 1969, sondern auch 1970 wurde in der Parteizeitung mehrmals vom „Bund der Vertriebe- nen“ gesprochen.267 Die polnische Bezeichnung „Bund der Umsiedler“ ist allerdings nicht verschwunden. Sie wurde weiterhin verwendet und manchmal kam es dazu,

264 ARTUR KOWALSKI: Uniki Willy Brandta [Ausweichmanöver von Willy Brandt], in: Trybu- na Ludu vom 19.03.1968. 265 DERS.: Zagraniczna platforma SPD [Auslandsplattform der SPD], in: Trybuna Ludu vom 21.03.1968. 266 DANIEL LULIŃSKI: Odwetowcy stawiają na CDU [Revisionisten setzen auf CDU], in: Try- buna Ludu vom 14.05.1969. 267 Vgl. RYSZARD DRECKI: Zawodowi przesiedleńcy – znów pewniejsi siebie [Berufsumsiedler – wieder selbstsicherer], in: Trybuna Ludu vom 27.05.1969; Aktywizacja rewizjonis- tycznych ziomkostw w NRF [Aktivierung revisionistischer Landsmannschaften in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 4.03.1970; Spór o subwencje dla przesiedleńców [Streit um Subventionen für die Umsiedler], in: Trybuna Ludu vom 18.08.1970.

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dass neben der Bezeichnung „Bund der Umsiedler“ in Klammern die richtige Abkür- zung „BdV“ bzw. „BDV“ stand.268 Ähnlich wie in der Trybuna Ludu lässt sich 1970 auch in der Polityka eine klare Entwicklung in der Begriffsverwendung beobachten. Während in den früheren Jahren nur vom „Bund der Umsiedler“ die Rede war, tauchte nun auch in dieser kommunisti- schen Zeitung der Name „Bund der Vertriebenen“ in wörtlicher Übersetzung als „Związek Wypędzonych“ auf, und wurde richtig als „BdV“ abgekürzt. Zum ersten Mal fehlten auch Anführungsstriche bei dem Namen. Ähnlich wie in der Trybuna Ludu kamen auch hier verschiedene Bezeichnungen nebeneinander vor: Neben dem „Bund der Vertriebenen“ war im gleichen Artikel von „Umsiedlern“ die Rede. Das Wort „Vertriebene“ wurde zwar im Eigennamen des Verbandes ins Polnische über- setzt, aber wenn von den deutschen Vertriebenen im Laufe des Artikels gesprochen wurde, tauchte die alte polnische Bezeichnung „Umsiedler“ auf.269 Der sich in der Verwendung des Begriffes „Bund der Vertriebenen“ abzeichnende Wandel war auf den politischen Wandel zurückzuführen, der in den deutsch-polnischen Beziehungen mit dem Regierungswechsel von 1969 in der Bundesrepublik in Gang gesetzt worden war. Die Bereitschaft der Bundesregierung zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze scheint sich insofern auf eine gewisse Enttabuisierung, zumindest in Bezug auf den Namen des BdV, ausgewirkt zu haben. Denn mit der Entscheidung zur Grenzaner- kennung manifestierte der neue Bundeskanzler Willy Brandt, dass die Ostpolitik sei- ner Regierung die langjährigen Forderungen der Vertriebenenverbände nach der Rückkehr in die Oder-Neiße-Gebiete zunächst offiziell ablehnte.

268 Vgl. Prowokacyjne imprezy odwetowców NRF [Provokative Veranstaltungen der Revan- chisten in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 26.05.1969; Sabat odwetowców w Bonn [Sab- bat der Revanchisten in Bonn], in: Trybuna Ludu vom 31.05.1970. 269 Vgl. ZDANOWSKI, Z luką w życiorysie (wie Kap. 4, Anm. 153).

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5 Zweite Phase: 1970-1990

5.1 Der Bund der Vertriebenen in den 1970er Jahren

5.1.1 „Politische Größe“ im „Wächteramt“ Am 7. Dezember 1970 unterschrieben Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerprä- sident Józef Cyrankiewicz den Warschauer Vertrag. Darin erkannte Brandt im Namen der Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze „als westliche Staatsgrenze der Volks- republik Polen“ an und erklärte, in Zukunft „keinerlei Gebietsansprüche“ zu erheben.1 Nicht nur in den deutsch-polnischen Beziehungen setzte hierdurch eine neue Phase ein. Auch in der Geschichte des BdV stellten die Unterzeichnung und die Ratifizie- rung der Ostverträge durch die Bundesregierung eine Zäsur dar: Das Argumentations- muster des BdV verlor in den 1970er Jahren seine noch für die 1960er Jahre typische klare Richtung. Das lag wohl daran, dass der Verband durch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gezwungen war, sich neu zu definieren und seine alten Aufgaben in einen neuen politischen Kontext einzuordnen. Die 1970er Jahre stellten für ihn so- mit einerseits eine Neuorientierung dar, andererseits zeigten sie immer noch eine starke Kontinuität zu den 1960er Jahren auf. Mit der Unterzeichnung und Ratifizierung der Ostverträge begann zwischen Polen und der Bundesrepublik eine Phase der Annäherung und der verstärkten Zusammen- arbeit. Der Warschauer Vertrag schaffte eine Grundlage für den Vertrauensaufbau zwischen den beiden Regierungen und Völkern.2 Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen nahmen 1972 diplomatische Beziehungen auf. Die wirt- schaftliche Zusammenarbeit, insbesondere im Handelsverkehr, nahm deutlich zu. Auch im gesellschaftlichen Bereich war eine neue Dynamik zu verzeichnen.3 Es wur- den beispielsweise die ersten Städtepartnerschaften geschlossen.4 Jugendbegegnungen und touristischer Verkehr nahmen zu. Die westdeutschen und polnischen Wissen- schaftler schlossen sich zu einer gemeinsamen Schulbuchkommission zusammen und

1 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen, abgedruckt in: Doku- mentation zur Ostpolitik, S. 21-23, hier S. 21 f. 2 Vgl. SCHWEITZER, S. 115. 3 Vgl. TOMALA, S. 16; vgl. auch JACOBSEN, Warschauer Vertrag. 4 Vgl. WOJNA, S. 232.

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erarbeiteten Schulbuchempfehlungen für den Geschichts- und Geografieunterricht.5 Im Jahr 1970 wurde zwischen dem Deutschen Akademischen Austausch Dienst und der Polnischen Akademie der Wissenschaften ein Abkommen unterschrieben, das in Form von Forschungsaufenthalten und Stipendien einen Austausch zwischen west- deutschen und polnischen Wissenschaftlern ermöglichte.6 Der seit dem Warschauer Vertrag angestrebte Normalisierungsprozess erwies sich allerdings im politischen Be- reich als etwas problematisch. Denn die Bundesregierung und die kommunistische Regierung Polens hatten unterschiedliche Vorstellungen, wie die gewünschte „Nor- malisierung“ verlaufen sollte: Während sich die polnische Seite vor allem Wirt- schaftshilfe aus Westdeutschland erhoffte, war es für die westdeutsche Seite wichtig, sich für die Rechte der deutschen Minderheit in Polen einzusetzen und ihr im Rahmen der so genannten „Familienzusammenführung“ eine Ausreise aus Polen in die Bun- desrepublik zu ermöglichen.7 In dieser Hinsicht wurde am Rande der KSZE-Gipfel- konferenz 1975 in Helsinki zwischen Bundeskanzler und dem Partei- sekretär Edward Gierek ein Kompromiss geschlossen: Polen bekam von der Bundes- republik einen Finanzkredit in Höhe von einer Milliarde DM zugesprochen. Darüber hinaus wurde eine pauschale Auszahlung von Renten an die polnischen Bürger ver- einbart, die einst Rentenbeiträge an die deutschen Behörden zahlten. Als Gegenleis- tung wurde von der kommunistischen Führung in Polen die Ausreise von 120 000 bis zu 125 000 Deutschen bewilligt.8 In den 1970er Jahren lässt sich eine klare Schwächung der politischen Bedeutung des BdV beobachten. Sie ist unter anderem daran zu erkennen, dass der Verband es nicht schaffte, die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie sowie die Ratifizierung der Ostverträge zu verhindern. Der Kampf um die Gebiete jenseits von Oder und Neiße war bis dahin die zentrale Aufgabe des Dachverbandes, die mit der Grenzanerken- nung zunächst einmal verloren ging. Während im April 1970 im DOD „Alarmstufe I“9 ausgerufen wurde, sprach der Chefredakteur des Blattes im Dezember 1970 schon von einem „Halbmast für Deutschland“10. Mit dem Wort „Alarm“ wurde hier der Ein- druck einer Ausnahmesituation und einer Gefahr ausgedrückt, die angesichts der an- gekündigten Grenzanerkennung sofortiges Handeln und Mobilisierungsarbeit von den Vertriebenenverbänden erforderte. „Halbmast“ hingegen signalisierte Trauer und Verlust, die in den Augen des BdV-Präsidiums mit der offiziellen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nun zu bewältigen waren. Dass es trotz einer langen Protestphase des BdV zur Grenzanerkennung kam, war zunächst ein Hinweis darauf, dass der Dachverband seine „politische Kraft“ überschätzt hatte. Dass er in seiner politischen Wirkung immer schwächer wurde, zeigte bereits die Bundestagswahl von 1969, bei

5 Vgl. TOMALA, S. 16. 6 Vgl. CHOLEWIAK/SUCHOCKI, S. 321. 7 Vgl. GENSCHER, S. 255. 8 Vgl. KRASUSKI, S. 309. 9 Alarmstufe I, in: DOD vom 30.04.1970, S. 2. 10 CLEMENS J. NEUMANN: Halbmast für Deutschland, in: DOD vom 9.12.1970, S. 1; zur Aus- legung des Vertrags vgl. HUPKA, Warschauer Grenzvertrag.

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der sich das Argument des BdV über das große Wählerpotenzial der Vertriebenen als nicht stark genug erwies, um damit einen Wandel in der offiziellen Haltung der Bun- desregierung zur Oder-Neiße-Grenze zu verhindern. Die „politische Kraft“ des BdV, die der Verband seit seiner Entstehung in der Öffentlichkeit sehr stark betonte, ging nun zu Ende. Auf den ersten Blick lässt sich das vor allem daran erkennen, dass die Selbstbezeichnungen „politischer Faktor“ und „politische Kraft“ aus dem Argumen- tationsmuster des BdV zunehmend verschwanden. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Vertriebenenverband sich mit seiner politischen Marginalisierung nicht abfinden konnte. Manche Vertriebenenfunktionäre, wie beispielsweise der BdV-Vizepräsident Herbert Hupka, behaupteten immer noch, die Vertriebenen seien eine „politische Größe“. So hieß es 1975: „Die Vertriebenen sind, auch wenn dies gar zu gern in Frage gestellt wird, eine politische Größe. [...] Sie lassen sich weder verleugnen noch in ein Getto drängen, weder als Revanchisten und Nationalisten abstempeln, noch als Veteranen der Vertreibung oder Schwärmer karikieren.“11 Die Kontinuität zu den 1960er Jahren bestand also darin, dass der BdV zwar seltener, aber immer noch auf die politische Bedeutung der Vertriebenen als einer Interessengemeinschaft hinwies. Signifikant ist jedoch, dass der hier von Hupka eingeführte Ausdruck „politische Größe“ nicht wieder auftauchte. Eine mögliche Erklärung hierfür ist in der Fremddar- stellung des BdV zu suchen, in der weder in der FAZ noch in der Zeit oder im Spiegel den Vertriebenenverbänden in den 1970er Jahren politische Bedeutung zugeschrieben wurde. Die BdV-Führung erkannte, dass sie mit dem alten Argument einer „politi- schen Kraft“ keine Bestätigung mehr in der Öffentlichkeit erhielt, und griff zu neuen Selbstbezeichnungen. Mitte der 1970er Jahre sah Herbert Czaja eine wichtige Aufgabe des BdV darin, „eine starke Triebkraft, eine Stütze, eine Hilfe, Rufer, Mahner und Helfender“ zu sein.12 Das Attribut „politisch“ trat nicht mehr im Vordergrund auf, wie das in den 1960er Jahren der Fall war. Nach der Ratifizierung der Ostverträge 1972 ließ das po- litische Selbstbewusstsein des BdV deutlich nach. Die Selbstglorifizierung seiner po- litischen Tätigkeit war nicht mehr so stark zu vernehmen wie noch vor der Anerken- nung der Oder-Neiße-Grenze und der Ratifizierung der Ostverträge. Im Argumenta- tionsmuster des BdV lässt sich eine gewisse Verunsicherung beobachten: Das bei- spielsweise in den 1960er Jahren immer wieder betonte Wählerpotenzial der Vertrie- benen wurde vom Dachverband zwar immer noch als Argument verwendet, aber nicht mehr so selbstsicher und so häufig wie in den 1960er Jahren. Das lässt sich unter an- derem an folgendem Zitat des BdV-Präsidenten Herbert Czaja bemerken: „Der 17. Mai 1972 war für uns alle eine schwere Enttäuschung. Vertriebene sind aber nüchtern. Sie wissen auch, daß sie zur Vertretung ihrer Ziele eine politische Plattform brauchen. [...] Jede politische Gruppe hat die Möglichkeit, die Unterstützung der Vertrie-

11 HERBERT HUPKA: Die Vertriebenen melden sich zu Wort, in: DOD vom 29.05.1975, S. 1. 12 Wortlaut der Rede von Präsident Dr. Herbert Czaja MdB vor dem Mitarbeiterkongress des Bundes der Vertriebenen am 3. Mai 1975 in Kehl am Rhein, in: DOD vom 15.05.1975, S. 2.

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benen zu bekommen, wenn sie diese Plattform bietet und wenigstens teilweise die Belange der Vertriebenen unterstützt.“13 Interessant an dieser Textpassage ist die Tatsache, dass sich hier zum größten Teil das Argumentationsmuster aus den 1960er Jahren wiederholt: Czaja wies nicht nur auf die Abhängigkeit des Verbandes von den politischen Parteien hin, sondern auch auf die Abhängigkeit der Parteien von den Vertriebenen als einer Wählergruppe. Der klare Unterschied liegt allerdings darin, dass der BdV-Präsident nicht mehr die volle Unterstützung der Parteien forderte, sondern sich diese „wenigstens teilweise“ von den Parteien erhoffte. Forderungen wurden jetzt vorsichtiger ausgedrückt, als das noch in den 1960er Jahren der Fall war. Vor der Bundestagswahl von 1976 war sogar weniger von Forderungen die Rede als vielmehr von „Wünsche[n] und Erwartungen“, die der BdV gegenüber den Parteien und der Bundesregierung äußerte.14 Der Verband forderte nicht mehr, sondern „appelliert[e] an den neuen Bundestag“.15 Diese Vorsicht war vermutlich zum einen dadurch bedingt, dass der BdV mit seinen Forderungen in die Defensive geraten war: Weder die Bundesregierung noch die öffentliche Meinung schienen an dem an die Vergangenheit gefesselten Verband interessiert zu sein und richteten vielmehr ihren Blick in die Zukunft Europas und auf die Versöhnungsarbeit mit den osteuropäischen Nachbarn der Bundesrepublik. Infolge dessen begann der Verband, über seine weitere politische Existenz nach- zudenken. Der BdV-Vizepräsident Friedrich Walter stellte 1972 fest: „Freilich wird es auch im Bund der Vertriebenen nicht damit getan sein, auf eingefahrenen Wegen weiterzufahren. Es muß die politische Linie überdacht und die Organisation gestrafft und vereinfacht werden.“16 Die Notwendigkeit des Umdenkens in Bezug auf die wei- tere politische Tätigkeit des BdV bekräftigte 1974 auch Herbert Hupka, indem er sagte: „Wir, der Bund der Vertriebenen und die Landsmannschaften, müssen unseren Standort neu durchdenken und festlegen. Unser erstes Betätigungsfeld ist die Bundes- republik Deutschland.“17 Weiter stellte er die Frage: „Haben wir überhaupt noch Waffen in der Hand, politische Waffen, um eine Politik für ganz Deutschland zu betreiben? Unser Rüstzeug sind: das Grundgesetz, der Deutschland- vertrag von 1954, die Gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972, die Begründung zum Karlsruher Urteil vom 31. Juli 1973, das Recht auf Selbst- bestimmung, die Geschichte unseres Volkes.“18 Dieses Zitat verdeutlicht, dass der BdV seine politischen Aufgaben nun viel weni- ger mit Hilfe der Bundesregierung und der Parteien verwirklichen konnte. Stattdessen waren es rechtliche Maßnahmen, mit deren Hilfe er den Kurs der Ostpolitik zu beein-

13 HERBERT CZAJA: Zum Tag der Heimat 1973, in: DOD vom 25.08.1973, S. 7. 14 Die Anliegen der Vertriebenen für die 8. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, in: DOD vom 23.12.1976, S. 4. 15 Ebenda. 16 FRIEDRICH WALTER: Die Auflösung Deutschlands, in: DOD vom 12.12.1972, S. 1. 17 Verantwortung und Politik für Deutschland. Zwölf Thesen von BdV-Vizepräsident Dr. Herbert Hupka MdB, in: DOD vom 30.04.1974, S. 7. 18 Ebenda.

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flussen versuchte. Im Gegensatz zu den 1960er Jahren, in denen der BdV das politi- sche System als seinen Problemlösungsadressaten betrachtete, war es jetzt die Justiz, mit deren Hilfe er auf die Politik der Bundesregierung einwirken wollte. BdV-Präsi- dent Herbert Czaja berief sich immer wieder auf die Entscheidungen des Bundesver- fassungsgerichts vom 31. Juli 1973 und vom 7. Juli 1975, worin dieses bestätigte, dass die rechtliche Lage der Oder-Neiße-Gebiete noch nicht endgültig geregelt und dementsprechend Deutschland in den Grenzen von 1937 immer noch eine Einheit war.19 An dieser Schwerpunktverlagerung im Argumentationsmuster des BdV lässt sich erkennen, dass der Verband tatsächlich politisch nicht mehr ernst genommen wurde: Da er seine Ziele nicht mehr auf politischem Weg verwirklichen konnte, ver- suchte er den politischen Druck über die Gerichtsbarkeit auszuüben. In den 1970er Jahren setzte bei dem BdV eine Art Reflexionsphase an. Der Ver- band versuchte, sich neu zu profilieren. Denn mit seinem alten Argumentationsmuster aus den 1950er und 1960er Jahren befand er sich in öffentlicher und politischer Isola- tion. Seine bisherigen Aufgaben setzte er von nun an sehr stark in den europäischen Kontext. Der Europagedanke trat an die Stelle des bisher stark national ausgerichteten Blickwinkels: „Wir denken nicht nur deutsch, wir denken immer gleichzeitig deutsch und europäisch“, versicherte BdV-Präsident Czaja bereits auf einer Kundgebung von 1972.20 Diese Schwerpunktverlagerung vom Nationalen auf das Europäische fällt auch in der Aufzählung der Verbandsaufgaben auf: „Der Bund der Vertriebenen hat nach dem Willen seiner Mitglieder und nach seiner Sat- zung die Pflicht, einzutreten für: die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts, die Ver- wirklichung der Menschenrechte einschließlich des Rechtes auf die Heimat, einen gerech- ten Frieden für alle Europäer, auch die Deutschen, die Festigung der sozialen und wirt- schaftlichen Existenz der Vertriebenen und die Erhaltung und Entfaltung ihres Kultur- gutes.“21 Besonders interessant an diesem Zitat ist die Reihenfolge der Aufgabenstellung. Ganz vorne wurden Menschenrechte erwähnt, in deren Rahmen der Vertriebenenver- band das „Selbstbestimmungsrecht“ und das „Recht auf die Heimat“ verwirklichen

19 Vgl. Urteil vom 31. Juli 1973 (BVerfG, Aktenzeichen 2 BvF 1/73). Grundlagenvertrag Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik, abgedruckt in: Ent- scheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 36, Nr. 1, S. 1-37; Beschluss vom 7. Juli 1975 (BVerfG, Aktenzeichen 1 BvR 274, 209/72, 195, 194, 184/73 und 247/72). Verträge von Moskau und Warschau (Ostverträge), abgedruckt in: Entscheidungen des Bundesver- fassungsgerichts, Bd. 40, Nr. 16, S. 141-179; vgl. auch: Auch gegenüber Polen ist und bleibt die ganze deutsche Frage offen. Wortlaut der Erklärung von BdV-Präsident Dr. Her- bert Czaja MdB zu dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungs- beschwerden gegen den Moskauer und den Warschauer Vertrag vom 22. Oktober 1975, in: DOD vom 30.10.1975, S. 9-10. 20 Wortlaut der Rede von Dr. Herbert Czaja MdB, Präsident des Bundes der Vertriebenen, auf der Kundgebung am 11. März 1972 in der Bonner Beethovenhalle, in: DOD vom 18.03.1972, S. 6. 21 Mit zielstrebiger Festigkeit weiterarbeiten! BdV-Bundesvorstand appelliert an den Deut- schen Bundestag, in: DOD vom 30.11.1972, S. 1.

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wollte. Den Kampf um den Frieden sollte der BdV für die Europäer führen und erst danach wird hinzugefügt, dass dazu auch der Frieden für die Deutschen zählte. Die alten Forderungen wurden nun in eine neue Argumentationskette eingebaut. Die Forderung nach Beachtung der Menschenrechte sowie der Europagedanke waren seit den 1970er Jahren im Argumentationsmuster des BdV zunehmend präsent. Die verstärkte Verortung der Vertriebenenpolitik im europäischen Kontext stellt Sa- muel Salzborn allerdings schon Ende der 1960er Jahre fest. Den Grund dafür sieht er in der Entspannungspolitik der Großen Koalition und der zunehmenden Öffnung der Bundesregierung gegenüber den osteuropäischen Staaten.22 Die auf Europa und die Zusammenarbeit mit den Ostblockstaaten ausgerichtete Außenpolitik der Bundesre- gierung wirkte sich also auf die Rhetorik des BdV aus und trug zur Orientierung des Dachverbandes auf die Beachtung der Menschenrechte bei. Der BdV lenkte sein Interesse auf die deutsche Minderheit in Polen und forderte entsprechende Rechte für sie ein. Er wies auf die Verletzung der Menschenrechte gegenüber den im Ostblock lebenden Deutschen hin und verlangte von der Bundesregierung, diese zu dokumen- tieren.23 Herbert Czaja bezeichnete „Menschenrechte und Freiheit der Deutschen und der Europäer“ bereits 1972 als existenziell.24 „Der Bund der Vertriebenen tritt für die Verwirklichung der Menschenrechte und eine freie und föderale Einigung Europas ein“, hieß es wiederum 1976.25 Zu seinem Ziel erklärte der Dachverband die Notwen- digkeit, sich für die „freie Heimat für Deutsche und Nichtdeutsche“ einzusetzen.26 Damit signalisierte er seine Sorge auch für andere Völker Europas. Mit der Kontext- erweiterung auf Europa und die Menschenrechte scheint der BdV auf Folgendes ab- gezielt zu haben: Um politisch weiter existent zu bleiben, war der Dachverband zur Aufgeschlossenheit gezwungen. Die Öffnung gegenüber den Problemen anderer Völ- ker trat nun an die Stelle der früheren Beschränkung des Verbandes auf Deutschland, der über die deutschen Nationalinteressen nicht hinausschauen wollte. Außerdem stellte die Menschenrechtsargumentation einen neuen Kontext für die Verwirklichung politischer Ziele des BdV dar und hatte folgenden Nebeneffekt: Der Hinweis auf die Menschenrechtsverletzung gegenüber der deutschen Minderheit in den Ostblockstaa- ten verlieh den Deutschen einen neuen Opferstatus und ermöglichte dem BdV, in die- sem Kontext auch an die Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Deutschen während der Vertreibung aus den Ostgebieten zu erinnern. Die Reflexionsphase des BdV in den 1970er Jahren bestand vor allem in der Frage, wie weit sich der Verband ändern durfte, ohne dass sich der Kern seiner Arbeit

22 Vgl. SALZBORN, Heimatrecht, S. 30 ff. 23 Vgl. Erklärungen zur Deutschlandpolitik, Teil II, Dokumentation der menschenrechtlichen Lage der Deutschen im Ostblock, S. 229-230; vgl. auch ebenda, Teil II, Menschenrechts- verletzungen im Ostblock, S. 221-222. 24 HERBERT CZAJA: Für Menschenwürde und Freiheit, in: DOD vom 21.12.1972, S. 1. 25 Die Anliegen der Vertriebenen für die 8. Legislaturperiode (wie Kap. 5, Anm. 14), S. 4. 26 Wortlaut der Schlussansprache von Präsident Dr. Herbert Czaja MdB vor dem Mitarbeiter- kongress des Bundes der Vertriebenen am 19. November 1978 in Hannover, in: DOD vom 23.11.1978, S. 8.

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allzu sehr veränderte. Das Schwanken zwischen der Vergangenheit und der Gegen- wart war ein deutlicher Hinweis darauf, dass der BdV große Schwierigkeiten hatte, die Grenzen seines Wandels zu bestimmen. Neben den neuen Aspekten in seinem Ar- gumentationsmuster wie dem bereits dargelegten Europagedanken oder den Men- schenrechten sowie den friedlichen Selbstbezeichnungen tauchte immer noch das alte Vokabular auf. Insbesondere der Zeitraum zwischen 1970 und 1972 stellt eine starke Kontinuität zu den 1960er Jahren dar. Damals befand sich der BdV noch in einer Protestphase gegen die Ratifizierung der Ostverträge. Er blieb also weiterhin kämpfe- risch und zeigte sich in der Öffentlichkeit als eine starke Protestgruppe. Ähnlich wie in den 1960er Jahren betrachtete sich der Dachverband auch Anfang der 1970er Jahre als Kern des deutschen Patriotismus und wollte sich auch in der Zukunft „als eine Gemeinschaft von Demokraten und Patrioten behaupten“.27 Die große Rolle des BdV im Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete betonte der BdV-Präsident Czaja, indem er zwei Monate vor der Ratifizierung der Ostverträge sagte: „Wir sind mitten im Ringen um die Ablehnung der Verträge. Und wir sind dabei nicht ohne Erfolg. […] Wir vom BdV waren unter den Ersten, die den Kampf aufnahmen, die die Gefahren aufzeigten. Damals meinten manche, das Ringen sei hoffnungslos. Heute aber ist der Stand der politischen Kräfte für oder gegen die Verträge fast gleichgewichtig. Die Entscheidung ist auf des Messers Schneide. Das ist nicht unser Verdienst allein. Aber wir haben dazu beigetragen. Kundgebungen landauf, landab. Ringen mit den politisch entschei- denden Kräften im Bundestag und in den Ländern, Argumente über Argumente in der Presse, im Rundfunk und in den Medien.“28 An diesem Zitat lässt sich deutlich erkennen, dass der BdV auch Anfang der 1970er Jahre seine Bedeutung in der Öffentlichkeit betonte. Die in den 1960er Jahren entstandene Selbstbezeichnung des BdV als „Bollwerk des Widerstandes“ wollte der neue BdV-Präsident Czaja auch Anfang der 1970er Jahre geltend machen. Dass die Ratifizierung der Ostverträge die politischen Entscheidungsträger so stark spaltete, sah Czaja zum Teil als Verdienst des BdV. Sicherlich beeinflussten die Proteste der Vertriebenenverbände die westdeutschen Debatten um die Ostverträge in gewisser Hinsicht. Patrick von zur Mühlen, Bernhard Müller und Kurt Schmitz vertreten aller- dings die These, dass die Debatten um die Ratifizierung der Ostverträge vielmehr zwischenparteiliche Auseinandersetzung darstellten, als dass sie im Interesse der deutschen Vertriebenengemeinschaft geführt wurden.29 Sowohl die CDU als auch die Vertriebenenverbände verfolgten das gleiche Ziel, allerdings zu unterschiedlichen Zwecken: Die Christdemokraten wollten die Ratifizierung der Ostverträge verhin- dern, weil sie sich davon den Sturz der Regierung Brandt versprachen. Sie zielten auf ein konstruktives Misstrauensvotum ab, um dann die SPD/FDP-Regierung abzulösen. Insofern war es politisches Kalkül der CDU/CSU-Führung, das das Verhalten der

27 BRUNO KUSSL: Heilsame Unruhe, in: DOD vom 30.04.1974, S. 1; vgl. auch: Kundgebung des Bundes der Vertriebenen. Eröffnungsrede von Präsident Dr. Herbert Czaja, MdB, in: DOD vom 8.03.1971, S. 7-8. 28 Wortlaut der Rede von Dr. Herbert Czaja MdB (wie Kap. 5, Anm. 20), S. 4. 29 Vgl. MÜHLEN, Vertriebenenverbände, S. 154 f.

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Partei in der Ratifizierungsdebatte bestimmte.30 Die Ablehnung der Ostverträge durch den Bundestag hätte für die Vertriebenenverbände wiederum ihren Erfolg im politi- schen Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete bedeutet. Das selbstbewusste Auftreten des BdV lässt sich, nach einer kurzen Stagnation in den Jahren 1973 bis 1975, wieder in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre feststellen. In dieser Zeit war erneut von einem „schweren politischen, taktischen, sachlichen und geistigen Existenzkampf für Ostdeutschland und die Rechte der Vertriebenen“31 die Rede sowie von dem „Abwehrkampf“ gegen die „endgültige Teilung und Amputation Ostdeutschlands“32. Genauso wie in der ersten Hälfte der 1970er Jahre rief auch jetzt das BdV-Präsidium zur Solidarität aller Deutschen auf.33 BdV-Präsident Czaja forder- te von den Verbandsmitgliedern und der gesamten Vertriebenengemeinschaft immer noch Geschlossenheit und Mobilisierung im Kampf um die Heimat: „Ich fordere von jedem einzelnen von Ihnen dafür Mut, Geschlossenheit, Zuverlässigkeit, Klugheit, Maß und Treue. Nur so können wir sagen, daß wir unsere Pflicht getan haben. Wer ausbricht, sich anpaßt, heuchelt und eigenen Vorteil über die Sache setzt, muß offen beim Namen genannt werden. [...] Ich möchte uns allen rastlose Tätigkeit, Mut und Festig- keit wünschen. Ehe wir hier weggehen, wollen wir uns versprechen, uns im Alltag gegen- seitig zu unterstützen, uns das Übermaß an Aufgaben zu erleichtern und uns durch die vie- len, nicht ausbleibenden Rückschläge nicht übermannen lassen.“34 An diesem Zitat lässt sich die Fortsetzung der Rhetorik der 1960er Jahre beob- achten. Dieser starke Appell an die Solidarität innerhalb der Vertriebenengruppe lässt sich zu diesem Zeitpunkt dadurch erklären, dass die Ostpolitik Willy Brandts die deutschen Vertriebenen spaltete. Der BdV musste nun auch um den Zusammenhalt der Vertriebenengruppe ringen, denn es handelte sich nicht bloß um die auseinander- gehenden Meinungen unter Vertriebenen, sondern auch darum, dass einige von ihnen sich zu neuen Organisationen zusammenschlossen. Ein Beispiel dafür stellt der „Zen- tralverband der Mittel- und Ostdeutschen“ (ZMO) dar, der im Jahre 1971 als Gegen- stück zu den im Bund der Vertriebenen organisierten Vertriebenenverbänden ent- stand. Sein Ziel war, die deutschen Vertriebenen zusammenzuschließen, die die Ost- politik der Bundesregierung unterstützten. Während der BdV die Ostverträge ablehn- te, wurden sie vom ZMO als Grundlage für die Zusammenarbeit mit osteuropäischen

30 Vgl. ebenda, S. 155 f. 31 Wortlaut der Schlussansprache von Präsident Dr. Herbert Czaja vor dem Mitarbeiterkon- gress (wie Kap. 5, Anm. 26), S. 4. 32 Ebenda, S. 6. 33 Vgl. HERBERT CZAJA, ERICH HEIMESHOFF: Aufruf zur Solidarität der Deutschen, in: DOD vom 1.05.1975, S. 1; Rede zum Tag der Heimat 1971 von Dr. Herbert Czaja MdB, Präsident des Bundes der Vertriebenen, in: DOD vom 22.09.1971, S. 10-13; Wortlaut der Rede von Dr. Herbert Czaja MdB (wie Kap. 5, Anm. 20). 34 Wortlaut der Schlussansprache von Präsident Dr. Herbert Czaja vor dem Mitarbeiter- kongress (wie Kap. 5, Anm. 24), S. 4, 8; vgl. auch: Wortlaut der Rede von Präsident Dr. Herbert Czaja MdB vor dem Bundesvorstand des Bundes der Vertriebenen am 25. Juni 1977 in Hannover, in: DOD vom 7.07.1977, S. 2-6.

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Staaten anerkannt.35 Der neue Vertriebenenverband hatte allerdings nur ein paar tau- send Mitglieder, was im Vergleich zu den über zwei Millionen BdV-Mitgliedern wenig war. Seine Bedeutung als eine Vertriebenenorganisation erreichte nie die des BdV.36 Obwohl dem BdV in den 1970er Jahren die politische Unterstützung der Bundes- regierung fehlte, hatte er noch lange nicht vor, sich aus der Politik zurückzuziehen. Das brachte BdV-Präsident Czaja auf dem „Tag der Heimat“ 1973 zum Ausdruck, als er sagte: „Die letzten drei Jahre waren die schwersten nach der Vertreibung. Aber wir haben nicht resigniert. Über die Ostpolitik dieser Jahre wird die Geschichte ihr Urteil abgeben. Für uns sind ungerechte Verträge aber nicht das Ende der Geschichte und der Politik!“37 Indem Czaja die Zeit des Ringens gegen die Ostverträge mit der Ver- treibung verglich, wies er indirekt auf einen Neuanfang hin. Denn ähnlich wie die deutschen Vertriebenen nach der Vertreibung bei ihrer Ankunft in den westlichen Besatzungszonen vor einem neuen Lebensabschnitt standen, befand sich auch der BdV nach seiner Niederlage im politischen Kampf gegen die Ratifizierung der Ost- verträge vor einem Neuanfang. Er musste seine bisherige Arbeit neu überdenken. Gleichzeitig implizierte Czaja mit dem Vergleich zur Vertreibung, dass die Vertriebe- nen wieder Opfer politischer Entscheidungen wurden. Doch die Zäsur um 1970 ent- mutigte den BdV nicht, politisch weiter aktiv zu bleiben. Weiterhin suchte er in den Parteien eine „politische Plattform“ für sich, auf welcher er seine Meinung kundtun und vertreten könnte.38 Doch gleichzeitig war dabei, laut Herbert Czaja, Vorsicht an- gesagt: „Wir wissen auch, daß es in allen Parteien Kräfte gibt, die uns erheblichen Schaden zufügen.“39 Auch wenn sich der BdV weiterhin als überparteilich verstand, signalisierten die Parteiübertritte seiner Funktionäre, dass die politischen Interessen der Vertriebenen- verbände am ehesten mit Unterstützung der CDU verwirklicht werden konnten. Ähn- lich wie in den 1960er Jahren der Parteiübertritt des BdV-Präsidenten Reinhold Rehs von der SPD in die CDU ein Ausdruck des Protestes gegen die Ostpolitik der SPD war, war es auch derjenige des Sozialdemokraten und BdV-Vizepräsidenten Herbert Hupka 1972. Wenn man den Parteiübertritt Hupkas im Jahre 1972 mit dem des BdV- Präsidenten Rehs 1969 vergleicht, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass die bei- den Vertriebenenpolitiker diese Entscheidung aus zwei Gründen trafen: Zum einen war die Enttäuschung der beiden Vertriebenenfunktionäre über die neue Ostpolitik der SPD zu groß, um sich weiter auf die Partei politisch zu verlassen. Zum anderen wurde ihnen signalisiert, dass ihre Stellung in der Partei nicht mehr von gleicher Be- deutung wie noch in den 1960er Jahren war: Rehs bekam keinen sicheren Platz auf

35 Vgl. OCIEPKA, S. 260 f. 36 Vgl. ebenda, S. 261 ff. 37 HERBERT CZAJA: Zum Tag der Heimat 1973, in: DOD vom 25.08.1973, S. 6; vgl. auch: Volle Säle – Klare Sprache – Treu zur Heimat, in: DOD vom 20.09.1973, S. 4-6. 38 Für die Verteidigung der Freiheit. BdV-Bundesversammlung 1976, in: DOD vom 8.07. 1976, S. 3. 39 Ebenda.

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der Liste der SPD zur Bundestagswahl von 1969, Hupka dagegen wurden wichtige Posten innerhalb der Partei entzogen. Er wurde als Mitglied des Auswärtigen Aus- schusses und des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen von der Fraktionsspitze der SPD abberufen.40 Mit ihren Parteiübertritten signalisierten die BdV-Funktionäre, dass sich der Dachverband nun in der CDU einen politischen Unterstützer suchte. Im Argumentationsmuster des BdV kamen die Vertriebenen in den 1970er Jahren stärker als Opfergemeinschaft zur Sprache. Genauso wie der Verband in den 1960er Jahren einen Gegenpol zur kommunistischen Propaganda bilden wollte, versuchte er jetzt, einen Gegenpol zu dem auf Holocaustopfer ausgerichteten Opferdiskurs darzu- stellen. Bereits 1971 kritisierte BdV-Präsident Czaja die Tatsache, dass die deutschen Opfer in Vergessenheit gerieten: „Wir haben nie das grauenhafte Unrecht verschwie- gen, das Deutsche andern zugefügt haben. Wir bedauern aber tief, daß man konstant das Unrecht, das an Deutschen begangen wurde, verschweigt.“41 Während der BdV in den 1960er Jahren versuchte, den Oder-Neiße-Diskurs zu beeinflussen, tat er das jetzt mit dem westdeutschen Opferdiskurs. Im Laufe der 1970er Jahre kann man am Argu- mentationsmuster des BdV beobachten, dass er anstelle der Bezeichnung „Vertriebe- ne“ deutlich häufiger als in den 1960er Jahren von „Opfern der Vertreibung“ sprach. Der Grund für die verstärkte Betonung des Opferstatus der deutschen Vertriebenen bzw. der Deutschen insgesamt lag vor allem im westdeutschen Opferdiskurs der 1970er Jahre: Nicht mehr die deutschen Opfer Hitlers, sondern die Opfer des Natio- nalsozialismus und des Holocaust wurden zum Gegenstand öffentlicher Diskussion. Nicht das Thema „Flucht und Vertreibung“, sondern die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bestimmte die zeithistorische Forschung.42 Während in den 1950er und 1960er Jahren der integrationistische Opferdiskurs in der Bundesrepublik dominierte, konnte man seit den 1970er Jahren den Aufstieg des partikularistischen Opferdiskurses beobachten.43 Gegen diesen Diskurswandel versuchte sich der BdV zu wehren. Die Reden des BdV-Präsidenten zwischen 1970 und 1972 waren von einer starken Dramatik gekennzeichnet, die häufig in die Opferrhetorik überging. Auf der Kundge- bung gegen die Ratifizierung der Ostverträge am 11. März 1972 sagte Czaja: „Sie nehmen uns alles, was der Ostblock schon 1945 wollte und damals nicht zugespro- chen erhielt, und geben nichts für die Deutschen und für die Menschen!“44 Der Opfer- status wurde nicht nur auf den Verlust des Landes, sondern auch auf die Verweige- rung der Grundrechte zurückgeführt. Czaja machte das in einer seiner Reden deutlich

40 Vgl. Dr. Herbert Hupka aus der SPD ausgetreten, in: DOD vom 4.03.1972, S. 4; zum Par- teiübertritt von Reinhold Rehs vgl. Eine politische Entscheidung, in: DOD vom 20.05. 1969, S. 2-4. 41 Rede zum Tag der Heimat 1971 (wie Kap. 5, Anm. 33), S. 11; vgl. auch: HERBERT CZAJA: Gedanken zum Tag der Heimat 1972, in: DOD vom 6.09.1972, S. 2-5; DERS.: Dreißig Jahre nach der Vertreibung – mitten im Kampf um die Freiheit, in: DOD vom 23.12.1974, S. 1-2. 42 Vgl. BEER, Forschung, S. 61. 43 Vgl. GOSCHLER, S. 874. 44 Wortlaut der Rede von Dr. Herbert Czaja MdB (wie Kap. 5, Anm. 20), S. 4.

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als er sagte: „Auch ein besiegtes Volk hat Anspruch auf Menschenrechte, Selbstbe- stimmung und einen gerechten Frieden.“45 Dieser Satz ist insofern wichtig, als er ei- nen neuen Aspekt im Argumentationsmuster des BdV beinhaltet: Seit den 1970er Jah- ren waren es Menschenrechte, die für die Argumentationskette des Verbandes einen wichtigen Ausgangspunkt bildeten. Diese Argumentationsweise führte wiederum dazu, dass das deutsche Volk aus der Täterrolle langsam heraustreten konnte. Während der BdV einerseits die Beachtung der Menschenrechte forderte, brachte er ähnlich wie in den 1960er Jahren zum Ausdruck, dass die Vertriebenengruppe im eigenen Land isoliert und ignoriert wurde. Die Kürzung der Bundesmittel für die weitere Finanzierung des BdV wurde vom BdV-Präsidium als ein Versuch gedeutet, die Vertriebenen „durch finanziellen Druck […] mundtot [zu] machen“.46 Im Jahre 1975 wurde von BdV-Vizepräsident Herbert Hupka die immer noch andauernde Mar- ginalisierung der Vertriebenen in der Öffentlichkeit scharf kritisiert: „Ohnehin haben die Vertriebenen in unserer Öffentlichkeit, besser gesagt in der öffentlichen Meinung, darunter zu leiden, daß man sie erst gar nicht zur Kenntnis nimmt und mit Schweigen töten will oder aber, falls man ihre Existenz und ihr Tun registriert, nur abzuwerten vermag.“47 Die Vorwürfe der Marginalisierung und Diskriminierung der Vertriebenen kamen bereits in den 1960er Jahren vor. Insofern waren sie nichts Neues. Ähnlich wie in den früheren Jahren wurde das Schweigen als Methode dargestellt, die gegen die Vertriebenengemeinschaft eingesetzt wurde. Diese wurde als eine Opfergemeinschaft dargestellt, die angesichts des Wandels im Oder-Neiße-Diskurs und im Opferdiskurs im eigenen Lande ignoriert wurde. Diese Marginalisierungstendenzen, über die sich der BdV bereits seit Mitte der 1960er Jahre beklagte, wirkten sich auf die Selbstdarstellung des Verbandes in den 1970er Jahren aus. So appellierte Herbert Czaja 1973 an die BdV-Mitglieder „im Interesse des Überdauerns [...], unser geschichtliches und kulturelles Wächteramt ernstzunehmen“48. Angesichts der politischen Marginalisierung der Vertriebenenver- bände ist das Wort „Wächteramt“ insofern interessant, als es eine Zusammensetzung aus den Wörtern „Wache“ und „Amt“ darstellt. Das Wort „Amt“ drückt eine institu- tionalisierte Macht aus, „Wache“ wiederrum beinhaltet eine Aufgabe wie Aufsicht bzw. setzt Wachsamkeit voraus. Das Ziel des „Wächteramtes“ war für BdV-Präsident Czaja, die kulturellen Leistungen der vertriebenen Ostdeutschen im Bewusstsein der Bevölkerung zu erhalten. Er wies auch auf die Unersetzbarkeit der Vertriebenen bei der Erfüllung dieser Aufgabe hin.49 Diese Unersetzbarkeit der Vertriebenen beim In- formieren der Öffentlichkeit über den deutschen Osten, die Geschichte der Vertrei-

45 Rede von Präsident Dr. Herbert Czaja MdB auf der Deutschland-Kundgebung des Bundes der Vertriebenen am 7. Mai 1972 auf dem Bonner Marktplatz, in: DOD vom 16.05.1972, S. 2; vgl. auch: Auch nach 30 Jahren: Heimat – Freiheit – Menschenrecht, in: DOD vom 21.08.1975, S. 6-8. 46 Vertriebene lassen sich nicht mundtot machen, in: DOD vom 21.03.1974, S. 1. 47 HUPKA, Die Vertriebenen melden sich zu Wort (wie Kap. 5, Anm. 11), S. 1. 48 Der Auftrag bleibt: Die deutsche Frage offenhalten!, in: DOD vom 7.09.1973, S. 5. 49 Vgl. ebenda.

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bung und das Schicksal der deutschen Vertriebenen wurde vom BdV bereits in den 1960er Jahren betont. Damals sprach der Verband allerdings nicht von der Notwen- digkeit der „Wache“, sondern von der „Aufklärung“ der öffentlichen Meinung. Aber schon damals versuchte er, über die Darstellung der „deutschen Ostgebiete“ in den westdeutschen Medien „Wache“ zu halten. Ein Beispiel dafür war die im vierten Ka- pitel dargestellte öffentliche Auseinandersetzung um die Fernsehfilme von Jürgen Neven-du Mont und Hansjakob Stehle. Schon damals beanspruchte der BdV für sich als Vertreter der Zeitzeugengeneration die Deutungshoheit bzw. die Rolle eines „Wächteramtes“ über die Vertriebenenthemen. In den 1970er Jahren versuchte der BdV die „Wache“ in erster Linie über den westdeutschen Opferdiskurs zu halten und diesen Diskurs im eigenen Sinne zu beeinflussen. Damit verbunden war auch die „Wache“ über die historischen Begriffe, die mit dem deutschen Osten zusammenhin- gen. So führte der BdV in den 1970er Jahren einen Kampf gegen das Verschweigen, den er bereits in den 1960er Jahren begonnen hatte und vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Schulbuchgespräche fortführte. Von 1972 bis 1976 fanden abwechselnd in Warschau und Braunschweig Schul- buchkonferenzen statt, deren Ziel die Ausarbeitung der Empfehlungen zum Ge- schichts- und Geografieunterricht für Schulbuchautoren und Lehrer war. Im Jahr 1976 war die redigierte Fassung der Empfehlungen fertig. Die Schulbuchkommission be- schloss, diese sowohl in deutscher als auch in polnischer Sprache zu veröffentli- chen.50 Die notwendige Voraussetzung für die Aufnahme der Schulbuchgespräche waren neue politische Rahmenbedingungen, die der Warschauer Vertrag von 1970 bildete.51 In den Jahren 1972 bis 1976 fanden in der Volksrepublik Polen und in der Bundesrepublik Deutschland mehrere Konferenzen, Seminare und Symposien statt, die sich mit der Frage der Schulbuchrevision auseinandersetzten. Für die Arbeit der Kommission zeigten nicht nur wissenschaftliche Zeitschriften Interesse, sondern auch die Tagespresse, der Rundfunk und das Fernsehen in den beiden Ländern.52 „Selten haben wissenschaftliche Fachgespräche ein derart großes Interesse in der Öffentlich- keit gefunden wie die deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen. Sogar Bundes- kanzler Schmidt und Polens Parteichef Gierek widmeten diesem Thema bei ihrem letzten Treffen in Bonn einen eigenen Tagesordnungspunkt […]“, schrieb Alfred Schickel in der FAZ.53 Der Inhalt der Empfehlungen und die Frage nach ihrer Umset- zung lösten in der westdeutschen Öffentlichkeit und Politik eine höchst emotionale Debatte aus, an der sich auch der BdV beteiligte.54

50 Vgl. Empfehlungen für Schulbücher, Vorwort, S. 9. 51 Vgl. STROBEL, S. 261. 52 Vgl. Empfehlungen für Schulbücher, Vorwort, S. 11. 53 ALFRED SCHICKEL: Aus Vertreibung soll „Transfer“ werden. Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen im Widerstreit, in: FAZ vom 19.11.1976. 54 Zur Dokumentation der Debatte um die Schulbuchempfehlungen in der Politik und in den Medien vgl. Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der öffentlichen Diskus- sion; HOENSCH.

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Die Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission und der Inhalt der Schulbuchempfehlungen wurden vom BdV scharf kritisiert. Es waren vor allem zwei Empfehlungen, gegen die er entschlossen Widerstand leistete. Es handelte sich um die Empfehlung 21 „Territoriale Veränderungen“ und die Empfehlung 22 „Bevölkerungs- verschiebungen“. Der Vertriebenenverband reagierte mit Entsetzen auf die Tatsache, dass der Begriff „Vertreibung“ in den Schulbuchempfehlungen nicht erwähnt und durch das Wort „Transfer“ ersetzt wurde.55 Darüber hinaus gab der BdV im Mai 1976 eine Schrift heraus, in der die Empfehlung 21 und 22 scharf kritisiert wurden. Die Schrift wurde von BdV-Generalsekretär Hans Neuhoff und dem Vertriebenenfunktio- när Hans-Günther Parplies verfasst und galt als die offizielle Stellungnahme des BdV zu den deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen.56 Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen wurden von BdV-Generalsekre- tär Neuhoff als „Geschichtsfälschung“ bezeichnet.57 Nach ihrer Veröffentlichung im Jahre 1976 warf BdV-Präsident Czaja der polnischen Regierung vor, sie versuche das Geschichtsbewusstsein der Deutschen zu manipulieren und „die Erinnerung der Deut- schen an die Massenvertreibung auszutilgen, insbesondere bei der nachwachsenden Generation“58. Sie bemühe sich außerdem um die Beseitigung der Vertriebenenver- bände.59 Ein Jahr zuvor bemängelte Czaja in seiner Rede auf dem „Tag der Heimat“ die Einseitigkeit der Schulbuchempfehlungen. Vieles sei darin „nach polnischem Ge- schichtsbild und polnischen Verzerrungen der deutschen Geschichte“ formuliert wor- den.60 BdV-Vizepräsident Herbert Hupka sah in den Schulbuchempfehlungen eine „Geschichtsklitterung ‚unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Autorität‘“61. Da der BdV keine Unterstützung der Bundesregierung bezüglich der ostpoliti- schen Angelegenheiten genoss, berief er sich deutlich seltener auf die politische und viel häufiger auf rechtliche Maßnahmen. Das wurde bereits am Anfang dieses Kapi- tels erwähnt. Durch die Berufung auf das Recht versuchte er jetzt, trotz seiner politi- schen Marginalisierung, weiterhin politisch durchsetzungsfähig zu bleiben. Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen wurden vom BdV als verfassungswidrig erklärt.62 Der Vertriebenenverband erinnerte an die Entscheidung des Bundesverfas-

55 Vgl. Erklärungen zur Deutschlandpolitik, Teil II, Deutsch-polnische Schulbuchgespräche, S. 20; ebenda, Teil II, Deutsch-polnische Schulbuchverhandlungen: Zeittafel der Vertrei- bung, S. 22 ff. 56 Vgl. NEUHOFF/PARPLIES; Im Jahr 1980 wurde von der Kulturstiftung der deutschen Ver- triebenen ein Sammelband herausgegeben, in dem die deutsch-polnischen Schulbuch- empfehlungen von verschiedenen Autoren kommentiert wurden. Vgl. Materialien zu deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen. 57 HANS NEUHOFF: Erneut ein erfolgreiches Jahr?, in: DOD vom 8.01.1976, S. 2. 58 Wortlaut der Rede von Präsident Dr. Herbert Czaja (wie Kap. 5, Anm. 34), S. 3. 59 Vgl. ebenda. 60 HERBERT CZAJA: Zum Tag der Heimat 1975, in: DOD vom 4.09.1975, S. 4. 61 Erklärungen zur Deutschlandpolitik, Teil II, Deutsch-polnische Schulbuchgespräche, S. 134. 62 Vgl. Wortlaut der Entschließung der BdV-Bundesversammlung 1976, in: DOD vom 8.07. 1976, S. 6-7.

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sungsgerichts vom 7. Juli 1975, in der die Oder-Neiße-Gebiete als ein Teil des deut- schen Territoriums erklärt wurden. Angesichts dieser rechtlichen Lage forderte der BdV: „Im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht ist die Heimat der Ostdeut- schen nicht als ‚Polen‘ zu bezeichnen. Die Ortsnamen, die Bezeichnungen und Grenz- linien in amtlichen Karten und Urkunden müssen der verfassungsmäßigen und völker- rechtlichen Lage entsprechen.“63 Nach der offiziellen Stellungnahme des BdV aus dem Jahr 1976 erschienen 1978 die vom BdV unterstützten „Alternativ-Empfehlungen zur Behandlung der deutsch- polnischen Geschichte in den Schulbüchern“64. Verfasst wurden sie von Josef Joa- chim Menzel, Wolfgang Stribrny und Eberhard Völker, die ihre Schrift als eine „wis- senschaftliche Gegenposition“ zu den deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen betrachteten.65 Sie bemühten sich darin um eine kritische Überprüfung des Textes und ergänzten ihn durch die kursiv markierten Kommentare.66 Die Veröffentlichung der „Alternativ-Empfehlungen“ stellte einen Beitrag zur öffentlichen Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen dar. Damit signalisierten die Vertriebe- nen ihre aktive Teilnahme an der Debatte. Ihre Kommentare und Kritik erschienen nicht nur in der Presse, sondern auch in den Fachzeitschriften neben den Beiträgen der Fachhistoriker.67 Der BdV versuchte in den 1970er Jahren nicht nur die „Wache“ über den Vertrei- bungsbegriff, sondern auch über den Deutschlandbegriff zu halten. BdV-Vizepräsi- dent Herbert Hupka sprach von mangelnder „Übereinstimmung in unserem Volk über das, was unter Deutschland zu verstehen ist“ und bezeichnete diesen Zustand als ei- nen „Rückzug aus Deutschland“.68 Im BdV wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der Begriff „Deutschland“ sehr schnelle und gefährliche Veränderungen durch- lief. Im Jahre 1974 sprach BdV-Präsident Czaja im deutschen Bundestag von den Bemühungen „um das zwangsweise Auslöschen deutscher Vergangenheit“ und kriti- sierte in diesem Kontext, dass anstelle „der schlichten Worte ‚deutsch‘ und ‚Deutsch- land‘“ die Abkürzungen „BRD“ und „DDR“ benutzt wurden.69 Diese Enttäuschung über den Begriffswandel bekräftigte auch Herbert Hupka im Jahre 1975:

63 Ebenda, S. 6. 64 Vgl. MENZEL/STRIBRNY/VÖLKER (1978). 65 MENZEL/STRIBRNY/VÖLKER (1980), S. 122; vgl. auch: Lehrer diskutieren „Alternativem- pfehlungen“, in: DOD vom 26.10.1978, S. 2. 66 Vgl. MENZEL/STRIBRNY/VÖLKER (1980), S. 121-152. 67 Vgl. SCHRAMM; MENZEL; ZERNACK; HUPKA, Schulbuchempfehlungen; MERTINEIT, Be- richt über Schulbuchkonferenzen; Zur Diskussion über die deutsch-polnischen Schulbuch- empfehlungen zwischen den Vertriebenenfunktionären und den Kommissionsmitgliedern in der westdeutschen Presse vgl. Kapitel 5.1.2 in dieser Arbeit. 68 Verantwortung und Politik für Deutschland (wie Kap. 5, Anm. 17), S. 7. 69 Wortlaut des Beitrags von BdV-Präsident Dr. Herbert Czaja MdB in der Debatte des Deutschen Bundestages über die Lage der Nation am 24. Januar 1974 in Bonn, in: DOD vom 30.01.1974, S. 4.

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„Wer heute von Deutschland spricht, muß erst klarstellen welches Deutschland er meint, das ganze Deutschland oder nur Teile von Deutschland. Das ganze Deutschland, davon waren die Siegermächte ausgegangen, als sie Beschlüsse über Deutschland zu fassen hat- ten, und auf dieses ganze Deutschland bezieht sich die Viermächteverantwortung. [...] Mancher in unserem Lande hat sich inzwischen allerdings daran gewöhnt, in Deutschland nur noch eine historische Größe zu sehen, und trifft sich darin mit der kommunistischen Auffassung, daß das Deutsche Reich 1945 aufgehört habe zu bestehen. [...] Fest steht, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht das ganze, nicht das endgültige Deutschland ist.“70 Die über den Deutschland- und Vertreibungsbegriff vom BdV gehaltene „Wache“ fällt im Argumentationsmuster des Verbandes erst in den 1970er Jahren auf. Sicher- lich ist das zum größten Teil auf die öffentliche Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchgespräche zurückzuführen. In ihrem Kontext ging BdV-Präsident Czaja auch auf den Begriff „Vertriebene“ und auf die Bedeutung der Vertriebenenverbände insgesamt ein. In seiner Rede vor dem Bundesvorstand des BdV sagte er: „Wir brauchen die Vertriebenen-Organisationen als Fürsprecher für die kulturellen und so- zialen Anliegen der Vertriebenen. Wie bedeutsam sie sind, beweisen die erbitterten An- griffe gerade der Kommunisten gegen die Vertriebenenverbände, gegen die Bezeichnung Vertriebene und gegen die Gesetze, die dies sichern. Solange das Unrecht der Vertreibung nicht in einem tragbaren und gerechten Ausgleich aufgearbeitet ist, können wir diese Be- zeichnung nicht aufgeben. [...] Durch die Verweigerung finanzieller Hilfsmittel hat man uns nicht mundtot gemacht. Keine andere Organisation kann so viele Zehntausende Men- schen zu Kundgebungen zusammenführen, wie manche unserer Verbände. Man nimmt dies auch langsam in der gemachten Meinung mit einem gewissen Erstaunen 32 Jahre nach der Vertreibung zur Kenntnis. Vielen ist das natürlich ein Dorn im Auge.“71 In diesem Teil der Rede erklärte Czaja, warum die Existenz der Vertriebenenver- bände weiterhin wichtig war. Was hier auffällt, ist der ruhige Ton der Rede. Im Ver- gleich zu den früheren Jahren, als Czaja die Existenz der Vertriebenenverbände im- mer für selbstverständlich hielt, bemühte er sich jetzt, die Notwendigkeit dieser Exis- tenz zu begründen und zu erläutern. Indem er in seiner Rede auf die Bedeutung der „politische[n] Arbeit“ des BdV hinwies, wollte er betonten, dass es sich beim BdV weiterhin um einen politischen Verband handelte.72 Gleichzeitig scheute er sich nicht davor, die Spaltung der Vertriebenen zu thematisieren, und rief die Landsmannschaf- ten zur Geschlossenheit auf: „Alle Versuche, diese Geschlossenheit auf eine lose Arbeitsgemeinschaft zurückzudrängen, rechnen nicht mit der Praxis. Eine Arbeitsge- meinschaft ist wenig handlungsfähig. Die Auflockerung der Geschlossenheit wäre Wasser auf die Mühlen unserer Gegner.“73 An dieser Stelle machte Czaja wiederum deutlich, dass der Mangel an Geschlossenheit einen Zerfall des BdV bedeuten könnte.

70 Wortlaut der Rede des Vorsitzenden des Rates der ostdeutschen Landsmannschaften und Landesvertretungen, Dr. Herbert Hupka MdB, über „Deutschland – Erbe und Auftrag“, gehalten vor dem 7. Kongress des Rates am 11. Oktober 1975 in Bonn-Bad Godesberg, in: DOD vom 16.10.1975, S. 3. 71 Wortlaut der Rede von Präsident Dr. Herbert Czaja (wie Kap. 5, Anm. 34), S. 5. 72 Ebenda. 73 Ebenda, S. 6.

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In seiner Rede kam sehr deutlich die Stimmung der 1970er Jahre zum Ausdruck: Verunsicherung und Selbstbewusstsein traten im Argumentationsmuster des BdV in den 1970er Jahren gleichzeitig bzw. nebeneinander auf. Diese Zeit stellte für ihn eine Übergangsphase dar, in der er zu einem Wandel gezwungen war, wenn er als politi- scher Verband weiter existieren und in der Zukunft ernst genommen werden wollte.

5.1.2 „Unerfüllbare Hoffnungen“ Die Entscheidung der Bundesregierung über die Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze stieß unter den Vertriebenenverbänden auf heftigen Protest. Unter der Füh- rung des neuen BdV-Präsidenten Herbert Czaja74 organisierte der BdV 1970 zwei große Protestkundgebungen, die in der westdeutschen Presse umfangreich themati- siert wurden. Vor ihrem Hintergrund machte Czaja deutlich, dass der BdV nicht nur um die Oder-Neiße-Gebiete, sondern auch gegen seine politische Marginalisierung kämpfte. Das Argumentationsmuster des BdV-Funktionärs war von Warnungen und Forderungen gekennzeichnet, worüber die westdeutsche Presse berichtete. Laut der FAZ habe Czaja „vor einer Anerkennung der ‚Realitäten‘ in Mitteleuropa“75 gewarnt und dem Spiegel zufolge „beanspruchte er ein ostpolitisches Veto-Recht für seinen Verband“.76 Auf dem „Tag der Heimat“ 1970 sagte er laut FAZ, „seine Organisation wehre sich leidenschaftlich dagegen, aus den Vertriebenenorganisationen Vereinigun- gen musealer Art machen zu lassen“77. An all diesen Äußerungen ist deutlich zu er- kennen, dass der Verband noch lange keine Absicht hatte, sich aus der Politik zurück- zuziehen. Weiterhin beanspruchte er ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen, die die Ostpolitik betrafen, was in der westdeutschen Berichterstattung klar zum Aus- druck kam. In der Presse tauchte aber die Frage auf, inwieweit die Vertriebenenver- bände überhaupt noch politisch bedeutsam waren. Im Kontext der Protestkundgebung im März 1970 setzte sich Die Zeit mit dem politischen Einfluss der Vertriebenen und ihrer Verbände auseinander und sprach ih- nen diesen definitiv ab: „Die Szene war ein Spektakel, nicht mehr. Es fehlten nur noch das Maß Bier und der Em- mentaler. Eine Stunde der Abrechnung mit den ,Ausverkäufern‘ oder – noch schlimmer – den ,Ausverschenkern‘ war diese Großkundgebung nicht. Vor diesen Vertriebenen braucht sich der Kanzler nicht sonderlich in acht zu nehmen. Sie sind keine Macht mehr. Einst waren sie eine respektable Phalanx, heute sind sie nur noch ein Phantom. Selbst die Geis- ter, die sie rufen, kommen nicht mehr. Sie machen sich selber zu den Buhmännern der Na- tion. Sie kämpfen ihr letztes Gefecht und wissen längst, daß sie es verlieren werden.“78

74 Zur Wahl Herbert Czajas zum BdV-Präsidenten vgl. THOMAS MEYER: Vertriebene im Schmollwinkel?, in: FAZ vom 14.03.1970; Vertriebene warnen vor Anerkennung, in: FAZ vom 16.03.1970; Gottes Vorsehung, in: Der Spiegel vom 23.03.1970, S. 34; DIETRICH STROTHMANN: Buhmänner der Nation?, in: Die Zeit vom 20.03.1970. 75 Vertriebene warnen vor Anerkennung (wie Kap. 5, Anm. 74). 76 Gottes Vorsehung (wie Kap. 5, Anm. 74). 77 „Tag der Heimat“ ruhig verlaufen, in: FAZ vom 7.09.1970. 78 STROTHMANN, Buhmänner der Nation (wie Kap. 5, Anm. 74).

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In diesem Zitat wurde der Protest der Vertriebenenverbände gegen die Anerken- nung der Oder-Neiße-Grenze mit einer gewissen Portion Ironie kommentiert. Ange- sichts der bevorstehenden offiziellen Grenzanerkennung durch die Bundesregierung wurden die Vertriebenenverbände als eine machtlose Protestgruppe dargestellt, die sich öffentlich lächerlich machte. Bei einem Vergleich zwischen Jetzt und Damals wurde zudem konstatiert, dass die Vertriebenen keine Interessengruppe mehr dar- stellten, die die westdeutschen Politiker wirksam unter Druck setzen könnte. Nach der Einschätzung der Zeit verloren die Vertriebenenverbände ihre politische Bedeutung. Ihre Mobilisierung zu Protestaktionen und ihre Hoffnung, dass sich damit etwas in den ostpolitischen Entscheidungen der Bundesregierung ändern würde, fand das Blatt nutzlos. Der Autor des Artikels, Dietrich Strothmann, zog eine Parallele zu einem Versuch einer Machtergreifung: „Sie mögen sich zu einem ‚Marsch auf Bonn‘ for- mieren – am Tage danach wird sich dennoch nichts ändern.“79 Die Bedeutung der Vertriebenenproteste spielte er herunter. Interessant an der Berichterstattung der Zeit ist allerdings die Tatsache, dass das Blatt neben seinen ironischen und kritischen Kommentaren auch Verständnis für das Verhalten der Vertriebenen äußerte. Für ihre Enttäuschung sprach die Zeit den westdeutschen Politikern die Verantwortung zu. Sowohl CDU- als auch SPD-Politiker hätten jahrelang „bei den Heimatvertriebenen, deren Wählerstimmen sie brauchten, unerfüllbare Hoffnungen geweckt“.80 In dieser Hinsicht wurden die Vertriebenen als Opfer politischer Kalküle betrachtet, was in der Zeit bereits in den 1960er Jahren zum Ausdruck gebracht worden war. Auch in der FAZ wurden die Proteste der Vertriebenen thematisiert. Im Gegensatz zu der Zeit wurde hier die Aussichtslosigkeit dieser Proteste allerdings nicht behaup- tet. Die Berichterstattung von der zweiten Kundgebung im Mai 1970 konzentrierte sich auf die Darstellung der Vertriebenengemeinschaft als einer organisierten Gruppe, die ernst genommen werden sollte: „Zu der Kundgebung auf dem Marktplatz werden sich die Vertriebenen zu vier großen Marschblöcken formieren, die sternenförmig auf ihr Ziel zugehen. Die Bonner Polizei wird zur Aufrechterhaltung der Ordnung mehrere hundert Beamten abstellen und stärkere Kräfte in Reserve halten. Sie wird auch noch durch Einheiten der Landes-Bereitschaftpolizei ver- stärkt. [...] Wenn auch bis Freitag noch keine Gegendemonstrationen offiziell angemeldet worden waren, so lagen aber beim Polizeipräsidium Informationen vor, daß die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregi- mes) die Kundgebung stören wollten. Die Sicherheitsbeamten in Bonn sind der Auffas- sung, daß, wie formuliert wurde ,in dieser Sache mehr politischer Sprengstoff ist als anläß- lich früherer Vertriebenen-Kundgebungen‘. Die Freigabe des Bonner Marktplatzes als Kundgebungsort war mit der Auflage verbunden, daß alle Steine, die aus der gerade abge- schlossenen Untertunnelung noch herumlagen, entfernt werden müssen.“81

79 Ebenda. 80 Unerfüllbare Hoffnungen, in: Die Zeit vom 26.05.1972. 81 30 000 Vertriebene auf dem Bonner Marktplatz, in: FAZ vom 30.05.1970; vgl. auch: Brandt spricht von „Generalangriff der Rechten“, in: FAZ vom 1.06.1970; Strauß: Stoph in Kassel der Glaubwürdigere, in: FAZ vom 1.06.1970.

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Die hier dargelegte Situationsanalyse ähnelt einer Kampfbeschreibung: die Auf- stellung der Vertriebenen, die Verteilung der Polizeikräfte und schließlich auch die Anwesenheit anderer Protestgruppen, die sich ankündigten. Die Bezeichnung der Kundgebung als „politischer Sprengstoff“ erzeugt zudem den Eindruck, als ob es sich bei dieser Vertriebenenmanifestation um einen Ausnahmezustand handeln würde. Damit erreichte der BdV das, was er wollte: Durch eine Berichterstattung wie die der FAZ wurde der westdeutschen Öffentlichkeit tatsächlich der Eindruck einer Ausnah- mesituation im Land vermittelt. Die Protestwelle der Vertriebenenverbände wurde in der FAZ insgesamt als eine intensive „Kampagne“ gegen den deutsch-polnischen Vertrag bezeichnet.82 Diese endete mit der Unterzeichnung der Ostverträge allerdings nicht.83 Der BdV erhoffte sich noch, die Ratifizierung der Verträge zu verhindern, was ihm jedoch nicht gelang. Eine andere Art, gegen die Ostpolitik der Bundesregierung zu protestieren, waren Parteiaustritte der Vertriebenenfunktionäre aus der SPD. Im Jahr 1969 entschloss sich dazu der BdV-Präsident Reinhold Rehs und 1972 der Vorsitzende der Landsmann- schaft Schlesien und BdV-Vizepräsident, Herbert Hupka. Nach Reinhold Rehs war Hupka ein weiterer prominenter Vertriebenenpolitiker, der von der SPD in die CDU übergetreten ist. Darüber berichteten sowohl die FAZ als auch Die Zeit.84 Nach der Meldung der liberalen Wochenzeitung behauptete der Vertriebenenpolitiker, „die SPD versuche, die Vertragsgegner mundtot zu machen“85. An dieser Aussage lässt sich eine Kontinuität zu den 1960er Jahren erkennen, als sich die BdV-Funktionäre über ihre öffentliche und politische Marginalisierung beklagten. Dieser Vorwurf ge- langte auch in den 1970er Jahren auf die massenmediale Ebene und machte deutlich, dass sich die Vertriebenenverbände weiterhin als Opfer der Politik betrachteten. Nach dem Regierungswechsel von 1969 hatten die Vertriebenenverbände nur noch in der CDU/CSU ihren parlamentarischen Rückhalt. Ihre langjährige Unterstützung durch die Bundesregierung verloren sie.86 Die Parteiübertritte der Vertriebenenpoliti- ker brachten diesen Wandel besonders deutlich zum Ausdruck. Da der BdV seine po- litische Plattform nicht mehr in der Regierungspartei finden konnte, suchte er sie bei der Opposition. Die mangelnde Unterstützung der Vertriebenenverbände durch die sozialliberale Bundesregierung ging mit dem Verlust ihrer politischen Bedeutung ein- her. Das spiegelt sich besonders gut in der Forschungsliteratur wider: Das Ende der Untersuchungen über die Vertriebenenverbände und ihre politische Tätigkeit wird häufig auf Anfang der 1970er Jahre, also die Zeit nach der Unterzeichnung bzw. Rati- fizierung der Ostverträge, gesetzt. Es sind die 1950er und 1960er Jahre, die für die

82 Verstärkte Kampagne gegen den Vertrag, in: FAZ vom 27.11.1970; vgl. auch DETTMAR CRAMER: Das bittere Los der Vertriebenen-Funktionäre, in: FAZ vom 2.09.1970. 83 Vgl. Vertriebenen-Protest gegen Verträge, in: FAZ vom 1.03.1971. 84 Vgl. Neuwahlen bei Scheitern der Ostverträge wahrscheinlich, in: FAZ vom 2.03.1972; RÜDIGER MONIAC: Herbert Hupka – Dissident mit guten Nerven, in: FAZ vom 2.03.1972; Hupkas Frontwechsel, in: Die Zeit vom 3.03.1972. 85 Hupkas Frontwechsel (wie Kap. 5, Anm. 84). 86 Vgl. REHBEIN, S. 103.

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Analyse der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände als relevant angesehen werden.87 Das zeigt, wie sehr die politische Existenz der Vertriebenenverbände an dem Ausgang des Oder-Neiße-Konfliktes gemessen wurde. Das hatte zu Folge, dass die 1970er Jahre sehr bald das Etikett der „Vergessenheit und Bedeutungslosigkeit“88 der Vertriebenen bekamen. Durch die öffentliche Unterstützung der Vertriebenen durch Bundeskanzler Helmut Kohl entstand in den 1980er Jahren wiederum der Ein- druck, dass die Vertriebenenverbände im politischen und öffentlichen Leben plötzlich wieder eine Rolle spielten.89 Sicherlich kann man für die 1970er Jahre vom Verlust des politischen Einflusses der Vertriebenenverbände sprechen, aber noch lange nicht von ihrer politischen Isolation, wie das der BdV bereits seit Ende der 1960er Jahre behauptete. Die wohl bekanntesten BdV-Funktionäre Herbert Czaja und Herbert Hupka waren im Bundestag weiterhin politisch aktiv. In der Berichterstattung der FAZ sind ihre Namen immer noch vorzufinden.90 Der Unterschied zu den 1960er Jahren besteht allerdings darin, dass über die Vertriebenenverbände und ihre Arbeit jetzt in der Ta- geszeitung deutlich seltener berichtet wurde. Das lässt sich vor allem am Beispiel der Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen beobachten: Während in den 1960er Jahren die Vertriebenenfunktionäre im politischen Teil der FAZ auf den ersten Seiten zitiert wurden, rückten ihre Aussagen nun in die Leserbriefspalte. Ob- wohl in dem Blatt zur Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen auch mehrere Leitartikel erschienen, war es nur die Leserbriefspalte, die den Vertrie- benenfunktionären und den Wissenschaftlern als Diskussionsforum diente. Die Stel- lungnahme des BdV zu den Schulbuchempfehlungen wurde beispielsweise in der FAZ nur kurz in einem Artikel erwähnt, der nicht in erster Linie den Vertriebenen gewidmet war.91 Das zurückgehende Interesse an den Vertriebenenverbänden lässt sich auch im Spiegel und in der Zeit beobachten. Der Grund dafür lag vor allem darin, dass diese beiden Blätter die Ostpolitik der Bundesregierung unterstützten. Während in den 1960er Jahren der BdV im Spiegel noch relativ häufig thematisiert wurde, sei es in Form von Interviews mit den BdV-Präsidenten oder in Form publizistischer Beiträge, widmete das Nachrichtenmagazin den Vertriebenenverbänden in den 1970er Jahren deutlich weniger Aufmerksamkeit. In Bezug auf die Vertriebenenverbände themati- sierte Der Spiegel beispielsweise die Spaltung unter den deutschen Vertriebenen und die Entstehung einer neuen Vertriebenenorganisation „Zentralverband Mittel- und

87 Vgl. STICKLER; LOTZ; WAMBACH; BRÜES; IMHOF, Die Vertriebenenverbände; REICHEL, Vertriebenenverbände. 88 „Unser Rechtskampf war nicht vergebens“, in: Der Spiegel vom 10.06.1985, S. 30. 89 Vgl. Kapitel 5.2 in dieser Arbeit. 90 Vgl. Czaja für Handelsvertrag mit Polen, in: FAZ vom 15.10.1970; Czaja spricht von Vor- leistungen, in: FAZ vom 14.07.1971; Kritik an Polen-Vereinbarungen, in: FAZ vom 11.02.1976; Hupka und Habe drohen Klage an, in: FAZ vom 22.06.1972. 91 Vgl. SCHICKEL, Aus Vertreibung soll „Transfer“ werden (wie Kap. 5, Anm. 53).

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Ostdeutscher“ (ZMO), die die Ostpolitik unterstützte.92 Bei der Frage nach der Be- deutung der Vertriebenenverbände in den 1970er Jahren beschäftigte sich das Blatt auch mit dem Thema der weiteren Finanzierung der Vertriebenenorganisationen.93 Es interessierte sich insgesamt viel mehr für die aktuellen Themen, wie beispielsweise Aussiedler und die in Polen lebenden Deutschen, als für die Tätigkeit der Vertriebe- nenverbände.94 Im Gegensatz zur FAZ und dem Spiegel wurden die Vertriebenenverbände in der Zeit kaum thematisiert. Über ihre Proteste gegen die Ostverträge sowie den Partei- übertritt Herbert Hupkas wurde zwar noch berichtet, seit der Ratifizierung der Ost- verträge lässt sich in dem Hamburger Blatt aber kein Interesse mehr an den Vertriebe- nenverbänden beobachten. Auch im Kontext der deutsch-polnischen Schulbuchemp- fehlungen wurden sie nicht erwähnt. Die Zeit konzentrierte sich ausschließlich auf die Vereinbarungen der Schulbuchkommission, den Inhalt sowie die Umsetzung der Em- pfehlungen in den deutschen Schulen.95 Die Proteste der Vertriebenenverbände gegen die Schulbuchempfehlungen sowie ihre kritischen Stellungnahmen wurden nicht the- matisiert.96

92 Vgl. Ohnehin im Sterben, in: Der Spiegel vom 19.10.1970, S. 38; Leise, aber wirksam, in: Der Spiegel vom 6.06.1977, S. 84-87; HANS HERRSCHAFT: Unheilvolle Monopolstellung (Leserbrief des Sprechers im ZMO-Bundesvorstand), in: Der Spiegel vom 4.07.1977, S. 12-13. Die Unzufriedenheit der nichtorganisierten Vertriebenen darüber, dass die Ver- triebenenverbände im Namen aller deutschen Vertriebenen in der Öffentlichkeit sprachen, kommt bereits Mitte der 1960er Jahre in den Leserbriefen an die Zeit-Redaktion zum Ausdruck. Vgl. dazu: URS MÜLLER-PANTENBERG, ULRICH K. PREUß, ANDREAS LENNERT: Nicht legitimiert, in: Die Zeit vom 15.05.1964 (Leserbrief); verschiedene Leserbriefe ge- sammelt unter der Schlagzeile: Sprechen nicht für uns, in: Die Zeit vom 29.05.1964. 93 Vgl. Militante Stimmung, in: Der Spiegel vom 22.10.1973, S. 36; Überflüssig und lästig, in: Der Spiegel vom 12.11.1973, S. 14-16 (Leserbriefe); GÜNTER GRASS: Kalte Heimat, in: Der Spiegel vom 28.09.1970, S. 115. Die Spaltung und Finanzierung der Vertriebenenver- bände wurde auch in der FAZ thematisiert, vgl: Vertriebenenverband vor der Spaltung?, in: FAZ vom 2.06.1970; Aus vielen Töpfen fließt das Geld, in: FAZ vom 20.08.1970. 94 Vgl. Reise-Welle, in: Der Spiegel vom 8.02.1971, S. 18; HERMANN SCHREIBER: Noch ist Polen nicht verloren …, in: Der Spiegel vom 14.06.1971, S. 38-41; Ziemlich in der Luft, in: Der Spiegel vom 20.06.1977, S. 49; Ernste Mahnung, in: Der Spiegel vom 28.05.1979, S. 34; Wie ein Schiffbrüchiger, in: Der Spiegel vom 29.03.1976, S. 46-49; „Müssen wir das Porzellan auffegen?“, in: Der Spiegel vom 8.03.1976, S. 28; Warten auf Kassel, in: Der Spiegel vom 23.02.1976, S. 24-25; Aussiedler: „Ich werde haben geschafft“, in: Der Spiegel vom 13.10.1975, S. 36-41; Ostpolitik: Geld für die Polen, in: Der Spiegel vom 28.07.1975, S. 15-17; „Manche kommen durch, andere gehen kaputt“, in: Der Spiegel vom 6.12.1971, S. 72-89. 95 Vgl. HAYO MATTHIESEN: Kalter Krieg in der Klasse, in: Die Zeit vom 17.03.1972; DERS.: Auf der Spur der Wahrheit, in: Die Zeit vom 25.04.1975; HARALD STEFFAHN: Stalin wird nicht erwähnt, in: Die Zeit vom 26.05.1978; KARL-HEINZ JANßEN: Oder-Neiße in Strich und Punkt, in: Zeit vom 11.04.1980. 96 Auch im Spiegel wurden die Vertriebenenverbände vor dem Hintergrund der deutsch- polnischen Schulbuchempfehlungen nicht thematisiert.

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Wie bereits im vorherigen Kapitel dargelegt wurde, bemühte sich der BdV in den 1970er Jahren auf die öffentliche Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchemp- fehlungen einzuwirken. Er nahm somit an einem öffentlichen Deutungskonflikt teil, in dem er sich mit seinem Argumentationsmuster durchzusetzen versuchte. Die De- batte um die Schulbuchempfehlungen war für den BdV insofern von Bedeutung, als sie sehr schnell zu einem Politikum wurde. Nach dem verlorenen Kampf gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze erwies sich nun die Schulbuchdebatte für den Dachverband als eine Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit wieder als ein politischer Interessenverband zu zeigen. Die Arbeit der Schulbuchkommission erlangte schnell eine politische Bedeutung. Das war daran zu erkennen, dass bestimmte Themen ent- weder gar nicht oder nur zurückhaltend bzw. nur in privatem Rahmen besprochen werden konnten.97 Dass es sich beispielsweise bei dem Wort „Vertreibung“ um „ein politisches Reizwort“98 handelte, kam in der öffentlichen Diskussion um die Schul- buchempfehlungen sehr schnell zum Ausdruck. Während in Polen Skepsis geäußert wurde, ob die Empfehlungen in die westdeutschen Schulbücher tatsächlich Eingang finden würden, wurde den Historikern in der Bundesrepublik vorgeworfen, sie hätten bei der Herausarbeitung der Empfehlungen kritische Punkte ausgelassen und schwie- rige Themen wie die Vertreibung der Deutschen verharmlost.99 Die Empfehlungen zur Behandlung der Grenzverschiebung an der Oder-Neiße-Linie und der Vertreibung wurden ein Teil innenpolitischer Auseinandersetzungen über die Entspannungspolitik der Bundesregierung.100 Von Herbert Hupka wurden sie in der FAZ als „das Produkt einer allzu durchsichtigen Tagespolitik“101 bezeichnet. Auch Alfred Schickel kritisier- te die Tatsache, dass „die deutsch-polnischen Schulbuchgespräche aus vielerlei Grün- den aus dem rein wissenschaftlichen Gedankenaustausch deutscher und polnischer Historiker und Geographen in die außen- und parteipolitische Auseinandersetzung“ geraten seien.102 Die scharfe Kritik des BdV an der Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkom- mission sowie an den von ihr herausgearbeiteten Empfehlungen gelangte auf die mas- senmediale Ebene und prägte die öffentliche Auseinandersetzung um die Schulbuch- empfehlungen mit. Da der BdV nicht mehr die politische Unterstützung der Bundes- regierung genoss, versuchte er nun, über seine Teilnahme an der Debatte um die Schulbuchempfehlungen Einfluss auf das Gebiet der Geschichtspolitik zu nehmen. Besonders viel Raum wurde der Diskussion um die Schulbuchempfehlung 22 gewid- met, in der das Wort „Vertreibung“ nicht erwähnt wurde und stattdessen vom „Trans- fer“ der deutschen Bevölkerung die Rede war. „Grausam genug, dass es eine Vertrei- bung von Millionen Deutschen gegeben hat, aber nicht minder grausam ist es, die

97 Vgl. STROBEL, S. 265. 98 HORST KUSS: Bevölkerungsverschiebungen, in: FAZ vom 6.12.1976 (Leserbrief). 99 Vgl. STROBEL, S. 256; vgl. auch: U. ARNOLD, Schulbuchgespräche; MARKIEWICZ. 100 Vgl. MERTINEIT, Schulbuchkommission, S. 334. 101 HERBERT HUPKA: Die Wahrheit aus der Geschichte vertreiben, in: FAZ vom 10.12.1976 (Leserbrief). 102 SCHICKEL, Aus Vertreibung soll „Transfer“ werden (wie Kap. 5, Anm. 53).

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Wahrheit aus der Geschichte, aus welcher Gefälligkeit auch immer, zu vertreiben“, schrieb Herbert Hupka in einem Leserbriefe an die FAZ.103 Bei seinem Protest gegen das „Verschweigen“ des Begriffs „Vertreibung“ bediente er sich des Vergleichs mit dem Holocaust: „So wie niemand von uns die Konzentrationslager Hitlers leugnen darf, so ist es anderer- seits unmöglich, die Vertreibung von Millionen Deutschen nicht als das zu bezeichnen, was sie gewesen ist, nämlich tatsächlich eine Vertreibung und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Konzentrationslager waren keine Barackenunterkünfte für Arbeitneh- mer, die Vertreibung keine ,Bevölkerungsverschiebung‘ oder ,Transfer der deutschen Be- völkerung‘, wie es in den deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen steht. Vertreibung sei ein ,Reizwort‘ für die polnischen Teilnehmer der Schulbuchkonferenzen gewesen, also unterblieb er, während gleichzeitig die Verbrechen unter Hitler Verbrechen genannt wer- den.“104 Josef Joachim Menzel, der zusammen mit Wolfgang Stribrny und Eberhard Völ- ker die so genannten „Alternativ-Empfehlungen“ verfasste, zog einen ähnlichen Ver- gleich wie Hupka. In seinem Leserbrief an die FAZ fragte Menzel: „Oder was wäre denn von dem Vorschlag zu halten, den Begriff ‚Konzentrationslager‘ zum angeblich besseren Verständnis als ‚Zusammenziehungslager‘ ins Deutsche zu übersetzen und künftig nicht mehr von KZ Auschwitz, sondern Z.-L. Oswiecim (polnischer Name für Auschwitz) zu sprechen?“105 Mit Empörung meldeten sich darauf einige Wissen- schaftler zu Wort, darunter auch die deutschen Kommissionsmitglieder, die den Ver- gleich mit dem Holocaust für inakzeptabel hielten. „Beschämend“ und „erschre- ckend“ fand es beispielsweise Georg W. Strobel, dass ein solcher Vergleich gezogen wurde. Die Gegenüberstellung von Holocaust und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten war für ihn das „Vergleichen von Unvergleichbarem“. Darin sah er die Gefahr und den Versuch, „über die vergleichsweise nur noch harmlose Zwangsum- siedlung oder Vertreibung“ den Holocaust „zu verharmlosen oder gar zu entschuldi- gen“.106 Als Antwort auf den Vorwurf des „Verschweigens“ der Vertreibung wies Got- thold Rhode in einem ausführlichen Artikel darauf hin, dass das Wort „Transfer“ be- reits in den Potsdamer Beschlüssen verwendet und genauso auch in einer der offi- ziellen Übersetzungen ins Deutsche übernommen worden sei. Darüber hinaus betonte er, dass der Vertreibungsvorgang in seinen verschiedenen Phasen in den Empfehlun- gen beschrieben und damit in keiner Weise verschwiegen worden sei.107 Zwei Jahre

103 HUPKA, Die Wahrheit aus der Geschichte vertreiben (wie Kap. 5, Anm. 101). 104 Ebenda. 105 JOSEF JOACHIM MENZEL: Kapitulation der Wissenschaft, in: FAZ vom 27.12.1977 (Leserbrief). 106 GEORG W. STROBEL: Beschämend, ja erschreckend, in: FAZ vom 30.01.1978 (Leserbrief). 107 Vgl. GOTTHOLD RHODE: Sollte man lieber gar nichts empfehlen?, in: FAZ vom 31.01.1977; vgl. auch: KLAUS ZERNACK: Schulbuch-Empfehlungen, in: FAZ vom 9.12.1976 (Leser- brief); WALDEMAR HOEPFNER: „Vertreibung“ und „Transfer“, in: FAZ vom 20.12.1976 (Leserbrief).

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zuvor machte allerdings Michael Bader in der FAZ darauf aufmerksam, dass in den Schulbuchempfehlungen „der zweite Akt der Tragödie der beiden Völker im zwan- zigsten Jahrhundert […] mit der Nüchternheit eines Wetterberichts dargestellt“ wur- de.108 Zur Sprache der Schulbuchempfehlungen nahm etwas später das Kommissions- mitglied Walter Mertineit in einem Aufsatz Stellung und erklärte, dass bei der Be- griffswahl „Bevölkerungsverschiebungen“ in keiner Weise die Verharmlosung der Vertreibung beabsichtigt wurde: „Mit nüchterner Begrifflichkeit sollte der Tatbestand zunächst einmal festgestellt werden, der zu den Grundlagen der deutsch-polnischen Nachkriegsbeziehungen gehörte.“109 Mertineit traf hier einen Punkt, der sehr wichtig war. Allein die Beschreibung dieses Ereignisses war wichtig, denn damit wurde die Vertreibung der Deutschen zu einem gewissen Grad enttabuisiert. In den polnischen Sprachgebrauch wurden neue Bezeichnungen eingeführt, die eine Alternative zum Propagandawort „Umsiedlung“ darstellten. Gotthold Rhode wies zu Recht darauf hin, dass früher im Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen von „Zwang“ und von „großen Verlusten“ keine Rede gewesen sei, wobei jetzt das zwangsweise Verlo- rene zumindest zugegeben wurde.110 Auch Alfred Schickel wies die Kritik der Ver- triebenenverbände zurück und machte auf die erfolgreiche Arbeit der Kommission in Bezug auf viele andere Begriffe aufmerksam: Dass man sich im kommunistischen Polen die Deutschen nicht mehr pauschal als Nationalsozialisten vorstelle, sondern zwischen den „Hitlerfaschisten“ und den übrigen Deutschen unterscheide und dass man die Übernahme der Gebiete jenseits der Oder und Neiße durch Polen nicht mehr als „Remigration in uralte Piastenländer“ bezeichne, hielt Schickel für einen großen Verdienst der deutsch-polnischen Schulbuchgespräche.111 Neben dem Begriff „Vertreibung“ war es auch die Verwendung des Begriffs „Heimatvertriebene“ in den Schulbuchempfehlungen, die in den Reihen der Vertrie- benenverbände auf Kritik stieß. Doch auch hier wiesen Historiker darauf hin, dass diesbezüglich die Kommission einen großen Fortschritt erzielt habe. Von dem Ver- triebenenfunktionär Helmut Sauer wurde die Tatsache kritisiert, dass das Wort „Hei- matvertriebene“ in Anführungsstriche gesetzt sei und somit als Zitat aus dem Deut- schen betrachtet werde. Dabei sei der Ausdruck „Hort des Revisionismus“ ohne An- führungsstriche geblieben.112 So hieß es im Originaltext: „In den vier Besatzungszonen Deutschlands wurden die Flüchtlinge und Zwangsumgesie- delten schon nach kurzer Zeit in die Gesellschaft integriert. Sie spielten eine große Rolle

108 ERIK MICHAEL BADER: Künftige Wahrheiten im deutsch-polnischen Schulbuch, in: FAZ vom 11.10.1974. 109 MERTINEIT, Schulbuchkommission, S. 333 f. 110 RHODE, Sollte man lieber gar nichts empfehlen (wie Kap. 5, Anm. 107). 111 SCHICKEL, Aus Vertreibung soll „Transfer“ werden (wie Kap. 5, Anm. 53); vgl. auch HEL- MUT HERLES: Deutsche und Polen wollen nicht Verteidiger und Ankläger sein, in: FAZ vom 5.12.1977. 112 Vgl. HELMUT SAUER: Bedingung = Nicht von Vertreibung sprechen, in: FAZ vom 24.12. 1976 (Leserbrief); vgl. auch JOSEF JOACHIM MENZEL: Verharmlosende Terminologie, in: FAZ vom 8.10.1979 (Leserbrief).

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bei dem wirtschaftlichen Aufschwung in Westdeutschland. In der Bundesrepublik Deutsch- land wurden alle diese Gruppen unter dem Begriff ‚Heimatvertriebene‘ zusammengefaßt. […] Sofern in diesen Gruppen, von den früheren Bundesregierungen unterstützt, ein Recht auf Heimat proklamiert wurde, werden sie in Polen als Hort des Revisionismus angese- hen.“113 In seiner Antwort auf diese Kritik betonte Gotthold Rhode, dass die Bezeichnung „Heimatvertriebene“ bisher in Polen gar nicht verwendet wurde und jetzt im polni- schen Text der Empfehlungen sogar in der genauen Übersetzung „wypędzeni ze stron ojczystych“ und als deutscher Terminus technicus erschien.114 Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen wurden nicht nur für das „Ver- schweigen“ der Vertreibung von den Vertriebenenfunktionären kritisiert, sondern auch für ihre angebliche Verfassungswidrigkeit. BdV-Präsident Czaja berief sich da- bei auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts von 1973 und 1975, in denen der Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 bekräftigt wurde. In seinem Leserbrief an die FAZ argumentierte Czaja folgendermaßen: „Die für die Schulverwaltung zuständigen amtlichen Stellen müssen aber nach den Ent- scheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf der Markierung der Grenzen Deutschlands von 1937 bestehen, wenn sie nicht verfassungswidrig handeln wollen, die Jugend darf in den Schulen über die Rechtslage nicht falsch orientiert werden. Ihr Wille zum friedlichen Wandel in Deutschland im Rahmen einer freien und föderalen Ordnung der europäischen Staaten und Völker ist wachzuhalten.“115 Mit seinem Argument versuchte der BdV-Präsident deutlich zu machen, dass die Empfehlungen aufgrund ihres verfassungswidrigen Inhalts von den deutschen Schu- len nicht übernommen werden durften. Damit machte er die Schulbuchempfehlungen von einer öffentlichen und politischen zu einer juristischen Angelegenheit. Unter dem Verweis auf den Rechtsschutz versuchte er nicht nur die Politiker, sondern auch die Zeitungsleser und zugleich Bürger von der Rechtswidrigkeit der deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen zu überzeugen. Es wurde bereits im vorherigen Kapitel deut- lich gemacht, dass die Berufung auf die Gesetzgebung für Czaja vermutlich ein Mittel war, um den verlorenen politischen Einfluss seines Verbandes wieder öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Die Auseinandersetzung um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen und die damit verbundenen Begriffe zeigt, dass sich der Kampf des BdV um die Oder- Neiße-Gebiete nach der Ratifizierung der Ostverträge deutlich stärker zu einem Kampf um die Macht der „Benennung“116 entwickelte. Nach Pierre Bourdieu stelle die Fähigkeit, etwas auszusprechen, zu benennen, öffentlich zu machen und somit zur Existenz zu bringen, eine gesellschaftliche Macht dar. Ein Sachverhalt gewinne an

113 Empfehlung Nr. 22 „Bevölkerungsverschiebungen“, abgedruckt in: Empfehlungen für Schulbücher, S. 37. 114 Vgl. RHODE, Sollte man lieber gar nichts empfehlen (wie Kap. 5, Anm. 107). 115 HERBERT CZAJA: Die Rechtslage Deutschlands ist kein Dschungel, in: FAZ vom 18.01. 1979 (Leserbrief). 116 BOURDIEU, S. 19.

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Bedeutung oder sogar an politischer Macht, wenn er beim Namen genannt werde.117 Ähnlich wie der BdV in den 1960er Jahren angesichts der zwei Fernsehdokumenta- tionen gegen die Benennung des „deutschen Ostens“ als Teil Polens protestierte, tat er das in den 1970er Jahren in Bezug auf die Nicht-Erwähnung des Wortes „Vertrei- bung“ in den Schulbuchempfehlungen. Die politische Zäsur von 1970 bzw. 1972 wirkte sich in starkem Maße auf die Behandlung der Vertriebenenverbände und ihrer Anliegen in der FAZ, der Zeit und dem Spiegel aus. Die Artikel in diesen drei Blät- tern zeigen sowohl in ihrer Quantität als auch in ihrer Themensetzung, dass die politi- sche Bedeutung der Vertriebenenverbände mit der Ratifizierung der Ostverträge zu- nächst einmal zu Ende ging und dementsprechend in den 1970er Jahren nicht mehr diskutiert wurde.

5.1.3 Der „Puls des Revisionismus“ Angesicht der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze wurde der Einfluss der deut- schen Vertriebenen auf die Politik der Bundesregierung in der Trybuna Ludu, der Polityka und dem Tygodnik Powszechny nicht nur unterschiedlich eingeschätzt, son- dern auch mit verschiedenem Interesse thematisiert. Auch wenn die kommunistische Berichterstattung der 1970er Jahre in vielerlei Hinsicht eine Kontinuität zu derjenigen der 1960er Jahren wahrte, unterlag auch sie einem deutlichen Wandel. Was fortge- setzt und was neu war, wird im Folgenden dargelegt. Die prägnanteste Kontinuität zu den 1960er Jahren bestand darin, dass sich die kommunistische Presse in der Volksrepublik Polen immer noch sehr stark für die po- litische Tätigkeit der Vertriebenenverbände interessierte. „Wenn wir den aktuellen Stand der Beziehungen zwischen Polen und der BRD untersuchen, überprüfen wir vor allem den Puls des Revisionismus. Diese Reihenfolge galt immer und umso mehr gilt sie nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der BRD“, hieß es in der Polityka im Jahr 1973.118 Während die politische Bedeutung der Vertriebenenverbän- de in der FAZ, der Zeit und dem Spiegel in den 1970er Jahren kein wichtiges Thema mehr darstellte, behauptete die Trybuna Ludu in den 1970er Jahren immer noch, die Vertreter der Bundesregierung und die BdV-Funktionäre befänden sich in engem Kontakt. Die Parteizeitung berichtete beispielsweise über ein Gespräch zwischen den Vertretern des BdV-Präsidiums und Innenminister Hans-Dietrich Genscher, das in Anwesenheit des Bundeskanzlers Willy Brandt stattfand. BdV-Präsident Reinhold Rehs sei dabei offiziell über die Gespräche zwischen Warschau und Bonn informiert worden. Diese Unterredung sei, dem Blatt zufolge, ein Signal, dass die Bundesregie- rung auf die „Ratschläge und Unterstützung“ der Vertriebenenverbände nicht verzich- ten wolle.119 Diese Meldung erweckte den Eindruck, dass der Dachverband von der Bundesregierung als ein politischer Partner betrachtet wurde und in deren Politik

117 Vgl. ebenda. 118 Eugeniusz Guz im Gespräch mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Günter Slotta: Roz- dział jeszcze nie całkiem zamknięty [Ein noch nicht ganz abgeschlossenes Kapitel], in: Po- lityka vom 13.01.1973. 119 Aktywizacja rewizjonistycznych ziomkostw w NRF (wie Kap. 4, Anm. 266).

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noch immer eingebunden war. Indem die Parteizeitung im Kontext dieses Gesprächs in der Schlagzeile auf die „Aktivierung der revisionistischen Landsmannschaften“ hinwies, erzeugte sie den Eindruck, dass sich diese Aktivierung auf die politische Ein- flussnahme der Vertriebenenverbände auf die Bundesregierung bezog.120 In Wirklich- keit erschien dieser Artikel vor dem Hintergrund der vom BdV geplanten Protest- kundgebung gegen die Ostverträge, was in der Trybuna Ludu unerwähnt blieb.121 Obwohl die Protestkundgebungen des BdV ein klarer Hinweis auf das gestörte Verhältnis zwischen dem BdV-Präsidium und der Bundesregierung waren, wurden sie von der Trybuna Ludu als Ausdruck expansionistischer Ansprüche gegenüber Polen gedeutet. Die große Kundgebung des BdV im Mai 1970 wurde mit den nationalsozia- listischen Parteitagen verglichen und Herbert Czaja als „Polenfresser“ bezeichnet.122 Der Trybuna Ludu zufolge habe man auf der Kundgebung versucht, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als ein Verbrechen am deutschen Volk darzustellen.123 Trotz der politischen Marginalisierung der Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik wurden diese von der Parteizeitung weiterhin instrumentalisiert. Beinahe jede Zusam- menkunft der deutschen Vertriebenen wurde von der Trybuna Ludu als eine gefähr- liche Manifestation politischer Macht dargestellt. Den „Tag der Heimat“ von 1970 deutete das Blatt beispielsweise als einen Versuch der Vertriebenen, ihren Einfluss auf die Ostpolitik der Bundesregierung auszuweiten.124 Diese Meldung war an sich nicht falsch, weil der BdV tatsächlich seinen politischen Einfluss nicht verlieren woll- te. Wenn sie aber neben den Nachrichten über die expansionistischen Pläne der deut- schen Vertriebenen auftauchte, konnte sie für den polnischen Leser durchaus besorg- niserregend und allarmierend klingen. Die Trybuna Ludu wies außerdem im Jahre 1972 auf die Absicht des BdV-Präsidenten Herbert Czaja hin, der die Ostverträge im Falle ihrer Ratifizierung beim Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig ankla- gen wollte.125 Damit signalisierte die Parteizeitung, dass der Vertriebenenverband auch mithilfe der Gesetzgebung auf die politischen Entscheidungen über die Oder- Neiße-Gebiete Einfluss nehmen wollte. Die politische Bedeutung der Vertriebenen- organisationen maß die Trybuna Ludu auch an der staatlichen Finanzierung der Ver- triebenenverbände.126 Interessant ist allerdings, dass das Blatt nicht nur über die zuge-

120 Ebenda. 121 Vgl. ebenda; zu den Protesten des BdV gegen die Ostverträge vgl.: Sabat odwetowców w Bonn (wie Kap. 4, Anm. 267); Ataki odwetowców na rząd Brandta – Scheela [Angriffe der Revanchisten auf die Regierung Brandt – Scheel], in: Trybuna Ludu vom 8.05.1972. 122 Sabat odwetowców w Bonn (wie Kap. 4, Anm. 267). 123 Vgl. ebenda. 124 Vgl. L. KASZYCKI: Buńczuczne wystąpienia odwetowców w NRF [Arrogante Auftritte der Revanchisten in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 15.09.1970. 125 Vgl. Ataki odwetowców na rząd Brandta – Scheela (wie Kap. 5, Anm. 121). 126 Vgl. Odwetowcy NRF otrzymują dotacje z kasy państwowej [Revanchisten in der BRD erhalten Zuwendungen von der Staatskasse], in: Trybuna Ludu vom 13.7.1970; vgl. auch: STANISŁAW ALBINOWSKI: Czy rząd NRF musi finansować odwetową dzialalność przesied- leńców? [Muss die Bundesregierung die revanchistische Tätigkeit der Umsiedler finan- zieren?], in: Trybuna Ludu vom 3.09.1970; Spór o subwencje dla przesiedleńców (wie

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sprochenen finanziellen Mittel für die Arbeit der Vertriebenenverbände, sondern auch über die Senkung der finanziellen Unterstützung berichtete. Doch auch solche Nach- richten wurden zu Propagandazwecken benutzt. Die Parteizeitung sprach zwar von der zurückgehenden finanziellen Hilfe für die Vertriebenenverbände, bemängelte aber gleichzeitig die Tatsache, dass die Finanzierung nicht völlig gestoppt wurde. Insofern zeigte sie immer noch Skepsis, was die nachlassende Bedeutung der Vertriebenen- organisationen in der Bundesrepublik betraf. Der politische Interessenkonflikt zwischen den Vertriebenenverbänden und der SPD wurde in der Trybuna Ludu kaum zum Ausdruck gebracht.127 Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung über den Parteiübertritt des BdV-Vizepräsidenten Herbert Hupka von der SPD in die CDU. Dieses Ereignis thematisierte die Parteizeitung zwar, widmete ihm allerdings verhältnismäßig wenig Raum. Das Blatt erwähnte, dass Hupka mit seinem Parteiübertritt Protest gegen die Ostpolitik der Bundesregierung zum Ausdruck bringen wollte, bemühte sich aber vor diesem Hintergrund nicht um die Interpretation dieses Ereignisses als einen Hinweises auf eine politische Schwä- chung der Vertriebenenverbände.128 Stattdessen widmete die Trybuna Ludu in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre immer mehr Aufmerksamkeit den Kontakten zwi- schen der CDU und den Vertriebenenorganisationen. „Die Christdemokraten arbeiten mit den Landsmannschaften zusammen“, hieß es 1977.129 Die Parteizeitung berichtete über ein Gespräch zwischen dem Parteivorsitzenden der CDU Helmut Kohl und dem Präsidium des Bundes der Vertriebenen. Sie machte darauf aufmerksam, dass die BdV-Führung von Helmut Kohl eingeladen wurde, und betonte, dass solche Gesprä-

Kap. 4, Anm. 266); DANIEL LULIŃSKI: Bonn ogranicza dotacje dla „ziomkostw“ [Bonn kürzt Zuwendungen für „Landsmannschaften“], in: Trybuna Ludu vom 17.07.1974; DERS.: 29 mln marek dla organizacji rewizjonistycznych w RFN [29 Mio. Mark für revisionis- tische Organisationen in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 11.09.1974; Wysokie dotacje dla rewizjonistów w Dolnej Saksonii [Hohe Zuwendungen für Revisionisten aus Nieder- sachsen], in: Trybuna Ludu vom 6.03. 1975; Rząd RFN odmówił przyznania dotacji dla imprez odwetowych [Die Bundesregierung verweigerte staatliche Zuwendung für revan- chistische Veranstaltungen], in: Trybuna Ludu vom 14.03.1975; JANUSZ MOSZCZEŃSKI: Państwowe dotacje dla odwetowców [Staatliche Zuwendungen für die Revanchisten], in: Trybuna Ludu vom 14.12.1979. 127 In der Trybuna Ludu wurde zwar der politische Interessenkonflikt zwischen der Bundesre- gierung und den Vertriebenenverbänden kurz thematisiert, doch in der Fülle der Artikel aus den 1970er Jahren, in denen die Vertriebenenorganisationen weiterhin als politisch starke Verbände dargestellt wurden, gingen solche Beiträge leicht verloren. Vgl. STANISŁAW ALBINOWSKI: „Zawodowi przesiedleńcy“ zaczynają tracić grunt [„Berufsumsiedler“ verlie- ren den Boden unter den Füßen], in: Trybuna Ludu vom 31.08.1970. 128 Vgl. Hupka wystąpił z SPD [Hupka trat aus der SPD aus], in: Trybuna Ludu vom 1.03. 1972; STANISŁAW ALBINOWSKI: Sprawa odwetowca Hupki [Die Angelegenheit des Revan- chisten Hupka], in: Trybuna Ludu vom 2.03.1972; Hupka przyjęty do frakcji CDU/CSU [Hupka in die Bundestagsfraktion CDU/CSU aufgenommen], in: Trybuna Ludu vom 4.03.1972. 129 Chrześcijańska demokracja współpracuje z ziomkostwami [Christdemokraten arbeiten mit Landsmannschaften zusammen], in: Trybuna Ludu vom 12/13.02.1977.

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che regelmäßig stattfänden. Die Trybuna Ludu berief sich auf Informationen aus dem Presseamt der CDU und darin hieß es, dass das bereits enge Verhältnis zwischen der Partei und dem BdV-Präsidium noch vertieft werden solle. Die Gesprächspartner seien sich einig gewesen, dass die rechtliche Zugehörigkeit der Oder-Neiße-Gebiete zu Deutschland nicht nur durch die Bundesregierung, sondern auch in den Schul- büchern zum Ausdruck gebracht werden solle.130 Die enge Zusammenarbeit zwischen den Vertriebenenfunktionären und der CDU betonte die Trybuna Ludu auch in ande- ren Artikeln: Es war gleichzeitig die Rede von „revisionistischen Parolen der Christ- demokraten“ und zunehmender Aktivität der „Umsiedlerverbände“.131 Die Parteizei- tung machte darauf aufmerksam, dass Helmut Kohl zum Jubiläum des zwanzigjähri- gen Bestehens des BdV seine Solidarität mit dem Dachverband ausgedrückt habe.132 All die hier aufgeführten Meldungen zeigen, dass die politische Bedeutung der Ver- triebenenverbände von der Trybuna Ludu nun aufgrund ihrer Kontakte zur christde- mokratischen Opposition in den 1970er Jahren weiterhin als groß eingeschätzt wurde. Neu bei der politischen Instrumentalisierung der Vertriebenenverbände war in den 1970er Jahren die Tatsache, dass sie unter anderem zum Zweck der Diskreditierung der polnischen Oppositionsbewegung diente. Mehrmals berichtete die Trybuna Ludu über die Kontakte zwischen dem Komitee zur Arbeiterverteidigung (Komitet Obrony Robotników, KOR) und den BdV-Funktionären. KOR wurde von polnischen Intellek- tuellen als Reaktion auf die Proteste von 1976 und die Repressionen der kommunisti- schen Partei gegen die Arbeiter gegründet und spielte bei der Entstehung der Opposi- tionsbewegung gegen das kommunistische Regime in Polen eine wichtige Rolle.133 Den Meldungen von der Trybuna Ludu zufolge hätte KOR bei seiner oppositionellen Tätigkeit von den Vertriebenenfunktionären Unterstützung bekommen. Auf dem „Schlesiertreffen“ im Jahr 1977 habe „der bekannte Polenfresser Herbert Hupka“ in seiner Rede Solidarität und Sympathie für KOR ausgedrückt.134 Hupka hätte sogar er- klärt, dass er die im KOR zusammengeschlossenen Oppositionellen nicht nur unter- stütze, sondern auch in ihrem Namen spreche. Er sei also nicht nur als „Freund“ der KOR-Aktivisten, sondern auch als ihr „Vertreter“ aufgetreten. Laut der Trybuna Ludu hätten die Vertriebenenfunktionäre in den polnischen Dissidenten einen „Partner“ und

130 Vgl. ebenda. 131 RFN: Rewizjonistyczne hasła chrześcijańskiej demokracji [BRD: Revisionistische Parolen der Christdemokraten], in: Trybuna Ludu vom 3.03.1977; JANUSZ MOSZCZEŃSKI: Rewizjo- nistyczne hasła w RFN [Revisionistische Parolen in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 28.02.1977; vgl. auch: DANIEL LULIŃSKI: Aktywność rewizjonistów w RFN [Aktivität der Revisionisten in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 13.06.1977; JANUSZ MOSZCZEŃSKI: Imprezy odwetowe w RFN [Revanchistische Veranstaltungen in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 25.09.1978. 132 Vgl. Rewizjoniści ponawiają roszczenia terytorialne [Revisionisten erneuern territoriale Asprüche], in: Trybuna Ludu vom 10.10.1977. 133 Vgl. LIPSKI, KOR, S. 128 ff. 134 Kogo popiera Hupka [Wen unterstützt Hupka], in: Trybuna Ludu vom 31.05.1977.

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„Verbündeten“ gefunden.135 Über die Tätigkeit von KOR soll auch der Präsident des Bundes der Vertriebenen Herbert Czaja enthusiastisch gesprochen haben.136 In einem anderen Artikel hieß es: „Der Vorsitzende der revisionistischen Zentrale ‚Bund der Vertriebenen‘, H. Czaja, trat in Bonn mit einer Erklärung auf, in der er die ‚polni- schen Verfechter der Menschenrechte‘ in Schutz genommen hat. Das ist nicht die erste Stimme der Solidarität der Revisionisten mit gewissen Menschen in Polen.“137 Wichtig ist hier, darauf zu verweisen, dass die deutschen Vertriebenenfunktionäre und die polnischen Oppositionellen nun in eine „Sie“-Gruppe zusammengeführt wurden. Während in den 1960er Jahren die Westdeutschen und die deutschen Vertriebenen als eine Gruppe den Polen gegenübergestellt wurden, fehlte in den 1970er Jahren nun diese auf nationaler Zugehörigkeit basierende Aufteilung. Die Vertriebenen und ihre Verbände wurden jetzt als Propagandainstrument zur Bekämpfung der demokrati- schen Bewegung in Polen eingesetzt. Die Parteizeitung bemühte sich auch in späteren Jahren um die Diskreditierung der polnischen Dissidenten, indem sie auf ihre Verbin- dungen zu den Vertriebenenfunktionären hinwies.138 Der Wandel in der Thematisierung des BdV in der kommunistischen Presse in Polen bestand in erster Linie darin, dass der Verband in der Trybuna Ludu und der Polityka unter seinem richtigen Namen vorzufinden war. Diese Veränderung zeichne- te sich seit Ende der 1960er Jahre immer stärker ab und wurde in den 1970er Jahren fortgesetzt. Die Bezeichnung „Bund der Vertriebenen“ wurde wörtlich ins Polnische als „Związek Wypędzonych“ übersetzt, so wie der Name im westdeutschen Sprachge- brauch üblich war.139 Auch die Wörter „Vertreibung“ und „Vertriebenenverbände“ wurden in den 1970er Jahren zum ersten Mal ins Polnische als „wypędzenie“ und „or- ganizacje ‚wypędzonych‘“ übersetzt.140 In der Polityka tauchte auch die Bezeichnung

135 Ebenda; Osobliwy sojusz [Ein merkwürdiges Bündnis], in: Trybuna Ludu vom 4/5.06. 1977. 136 Vgl. Kogo popiera Hupka (wie Kap. 5, Anm. 134). 137 EUGENIUSZ GUZ: Poparcie odwetowców dla rzekomych obrońców praw człowieka w Polsce [Unterstützung der Revisionisten für vermeintliche Menschenrechtskämpfer in Po- len], in: Trybuna Ludu vom 27.05.1977; vgl. auch: Osobliwy sojusz [Ein merkwürdiges Bündnis], in: Trybuna Ludu vom 4/5.06.1977; M. MAZUR, Propagandistisches Weltbild, S. 108. 138 Za obce pieniądze [Für fremdes Geld], in: Trybuna Ludu vom 20/21.3.1982. 139 Vgl. Aktywizacja rewizjonistycznych ziomkostw w NRF (wie Anm. 266, Kap. 4); Spór o subwencje dla przesiedleńców (wie Kap. 4, Anm. 266); EUGENIUSZ GUZ: Zapowiedź pro- wokacyjnych imprez rewizjonistów [Ankündigung provokativer Veranstaltungen der Revi- sionisten], in: Trybuna Ludu vom 13.03.1975; JANUSZ MOSZCZEŃSKI: Odwetowcy atakują kanclerza Schmidta [Revanchisten attackieren Bundeskanzler Schmidt], in: Trybuna Ludu vom 13.09.1977; DERS.: Imprezy odwetowe w RFN [Revanchistische Veranstaltungen in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 25.9.1978; DERS.: Państwowe dotacje dla odwetowców (wie Kap. 5, Anm. 126). 140 GUZ, Zapowiedź prowokacyjnych imprez rewizjonistów (wie Kap. 5, Anm. 139); Spór o subwencje dla przesiedleńców (wie Kap. 4, Anm. 266); vgl. auch: Przeszkoda na drodze

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„związki przepędzonych“ auf, was sich allerdings auch als „Vertriebenenverbände“ übersetzen lässt.141 Außerdem lässt sich feststellen, dass der Name „Bund der Ver- triebenen“ auch ohne die polnische Übersetzung in der Trybuna Ludu vorkam.142 Trotz dieses auffallenden Wandels in der Begriffsverwendung blieb die alte und in Polen übliche Bezeichnung „Bund der Umsiedler“ (Związek Przesiedleńców) erhalten und wurde weiterhin verwendet.143 Die übliche Praxis bestand darin, verschiedene Bezeichnungen gleichzeitig zu verwenden, d.h. in ein und demselben Artikel war an einer Stelle von „Umsiedlern“ die Rede, an einer anderen Stelle wurde aber vom „Bund der Vertriebenen“ gesprochen.144 Da neue Bezeichnungen auftauchten, wurden diese manchmal in der Trybuna Ludu und der Polityka erklärt. Als beispielsweise der SPD-Bundestagsabgeordnete Slotta in einem Interview für die Polityka über die „Vertriebenen und Ausgesiedelten“ („wypędzonych i wysiedlonych“) sprach, folgte gleich danach in Klammern folgende Anmerkung von Eugeniusz Guz: „[…] das ist eine Bezeichnung für Umsiedler, die in der Bundesrepublik ‚aus Gewohnheit‘ benutzt wird, und derer sich Prof. Slotta bedient – Anm. E.G.“145 Der Bund der Vertriebenen wurde nicht nur unter seinem richtigen Namen, son- dern auch häufiger als in den 1960er Jahren thematisiert. Das betraf vor allem die Trybuna Ludu. Obwohl ihre Berichterstattung immer noch von Verallgemeinerungen und Pauschalbeurteilungen gekennzeichnet war, lässt sich in der Parteizeitung seit den 1970er Jahren ein steigendes Interesse am BdV als einem zentralen Verband der deutschen Vertriebenen feststellen. Vermutlich hing die häufigere Thematisierung des BdV unter seinem richtigen Namen mit folgenden Faktoren zusammen: Zum einen signalisierte die Bundesregierung mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, dass sie die Forderungen der Vertriebenenverbände nach dem Rückgewinn der Oder- Neiße-Gebiete zunächst einmal ablehnte. Der BdV schien aufgrund mangelnder Un- terstützung seitens der Bundesregierung keine politische Gefahr mehr für die Polen darzustellen. Zum anderen setzte in den deutsch-polnischen Beziehungen eine Phase des gegenseitigen Kennenlernens und einer engeren Zusammenarbeit auf wirtschaft-

normalizacji [Hindernis auf dem Weg zur Normalisierung], in: Trybuna Ludu vom 28.06. 1977. 141 MARIAN WOJCIECHOWSKI: Rewizjonizm czy rewizja podręczników [Revisionismus oder Revision der Schulbücher], in: Polityka vom 19.02.1977. 142 Vgl. Kim jest – i kim był Herbert Czaja [Wer ist – und wer war Herbert Czaja], in: Trybu- na Ludu vom 12.03.1975. 143 Vgl. Sabat odwetowców w Bonn (wie Kap. 4, Anm. 267); Odwetowcy NRF otrzymują do- tacje z kasy państwowej (wie Kap. 5, Anm. 126); Atak przesiedleńców na kanclerza Schmidta [Angriff der Umsiedler auf Bundeskanzler Schmidt], in: Trybuna Ludu vom 3.11.1977. 144 Vgl. Spór o subwencje dla przesiedleńców (wie Kap. 4, Anm. 266); Przeszkoda na drodze normalizacji [Hindernis auf dem Weg zur Normalisierung], in: Trybuna Ludu vom 28.06. 1977. 145 Rozdział jeszcze nie całkiem zamknięty (wie Kap. 5, Anm. 118); vgl. auch DANIEL LU- LIŃSKI: Odwetowcy stawiają na CDU [Revisionisten setzen auf CDU], in: Trybuna Ludu vom 14.05.1969.

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licher, politischer und kultureller Ebene an. Durch verstärkten Menschen- und Wa- renverkehr wuchs zwangsläufig auch der Informationsaustausch zwischen den beiden Ländern. Das zunehmende Interesse an dem BdV ist vermutlich auch auf den Wech- sel an der Spitze des Verbandes zurückzuführen. Zum neuen BdV-Präsidenten wurde 1970 der charismatische Herbert Czaja gewählt, der für seinen Verband weiterhin eine politische Zukunft sah. Trotz dieser Veränderungen blieb die Trybuna Ludu weiterhin im Dienst der kom- munistischen Propaganda. Adjektive wie „revisionistisch“ oder „revanchistisch“ sind auch in den 1970er Jahren nicht verschwunden.146 Besonders gern bediente sich die Parteizeitung des Selbstbildes des BdV, in dem er sich als Dachverband aller deut- schen Vertriebenen darstellte, und bezeichnete ihn immer wieder als „Zentrale“ der Vertriebenenorganisationen bzw. der Landsmannschaften.147 Die Landsmannschaften wurden als „Filialen“ des BdV verstanden.148 Dieses Selbstbild des BdV eignete sich als Propagandainstrument besonders gut, weil der Hinweis auf die zentralisierte Form der Interessenvertretung durch den Verband zugleich ein Hinweis auf die Stärke des Verbandes war. Zentralisierung bedeutete Geschlossenheit, bessere Durchsetzungs- kraft sowie Wirksamkeit, und dadurch konnte der Verband von der kommunistischen Propaganda leicht als politisch gefährlich dargestellt werden. Der Spaltung der deutschen Vertriebenen, die durch die neue Ostpolitik der Bun- desregierung ausgelöst wurde, widmete die Trybuna Ludu verhältnismäßig wenig Interesse.149 Das Parteiblatt bemühte sich vielmehr darum, die deutschen Vertriebe- nen als eine homogene Interessengruppe darzustellen. Das Bild der gespaltenen Ver- triebenen hätte das Propagandabild der politisch starken Vertriebenenverbände, die mit ihrem Revisionismus für die Polen eine Gefahr darstellten, zerstört. Die Polityka dagegen widmete der Spaltung der deutschen Vertriebenen deutlich mehr Raum als die Trybuna Ludu. Nach der Ratifizierung der Ostverträge erschien 1973 in der kom- munistischen Wochenzeitung ein Interview mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Günter Slotta. Unter anderem kam von ihm die Idee, für die Vertriebenen, die die neue Ostpolitik der Bundesregierung befürworteten, einen Zentralverband der Mittel-

146 DANIEL LULIŃSKI: Rewizjonistyczne imprezy w NRF [Revisionistische Veranstaltungen in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 4.09.1973; GUZ, Zapowiedź prowokacyjnych imprez re- wizjonistów (wie Kap. 5, Anm. 139); Chrześcijańska demokracja współpracuje z ziomkost- wami (wie Kap. 5, Anm. 129); Prowokacyjne wystąpienia zachodnioniemieckich odwe- towców [Provokative Auftritte der westdeutschen Revanchisten], in: Trybuna Ludu vom 15.03.1977; MOSZCZEŃSKI, Państwowe dotacje dla odwetowców (wie Kap. 5, Anm. 126). 147 Rewizjoniści ponawiają roszczenia terytorialne (wie Kap. 5, Anm. 132); LULIŃSKI, Rewiz- jonistyczne imprezy w NRF (wie Kap. 5, Anm. 146); GUZ, Zapowiedź prowokacyjnych imprez rewizjonistów (wie Kap. 5, Anm. 139); Chrześcijańska demokracja współpracuje z ziomkostwami (wie Kap. 5, Anm. 129); GUZ, Poparcie odwetowców dla rzekomych obroń- ców praw człowieka w Polsce (wie Kap. 5, Anm. 137). 148 LULIŃSKI, Bonn ogranicza dotacje dla „ziomkostw“ (wie Kap. 5, Anm. 126). 149 Vgl. EUGENIUSZ GUZ: Coraz więcej przesiedleńców popiera politykę wschodnią Brandta [Immer mehr Umsiedler unterstützen die Ostpolitik Brandts], in: Trybuna Ludu vom 14.02. 1973.

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und Ostdeutschen (ZMO) zu gründen. Im Gespräch mit dem Polityka-Korresponden- ten Eugeniusz Guz versicherte Slotta, dass die Vertriebenenorganisationen in der Bundesrepublik „im Grunde genommen nicht mehr existieren“.150 Die Mehrheit der Flüchtlinge und Vertriebenen sei in der westdeutschen Gesellschaft integriert. Es wäre nur eine kleine Gruppe von Vertriebenenfunktionären übrig geblieben, die aller- dings mit ihren alten Parolen völlig isoliert dastünde. Slotta betonte, dass ein Großteil der Vertriebenen und Flüchtlinge die Ostpolitik der Bundesregierung unterstütze.151 Unter dem Interview mit dem SPD-Abgeordneten befand sich außerdem ein kur- zer Kommentar von Eugeniusz Guz. Gemäß dem kommunistischen Sprachgebrauch bezeichnete er die Spaltung der Vertriebenen als „Risse und Brüche im revisionisti- schen Panzer“.152 Im Gegensatz zu Slotta beunruhigte Guz den Leser, indem er die weiterhin bestehende Gefahr seitens der Vertriebenenverbände und ihrer Funktionäre betonte. Die „Revanchisten“ hätten weiter nach Anhängern gesucht. Außerdem mach- te Guz darauf aufmerksam, dass die Vertriebenenverbände noch immer vom Bund finanziert würden und der ZMO dagegen noch gar keine Subventionen bekommen habe.153 Das Interview mit Günter Slotta und der Kommentar von Eugeniusz Guz be- fanden sich in der Polityka auf derselben Seite. Es handelte sich also um zwei unter- schiedliche Betrachtungsweisen: Auf der einen Seite wurden die deutschen Vertrie- benen aus der Sicht eines westdeutschen Bundestagsabgeordneten dargestellt und politisch als völlig ungefährlich eingeschätzt. Sie wurden als eine differenzierte Grup- pe geschildert, in der viele die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn der Bundes- republik für wichtig hielten. Auf der anderen Seite vertrat der Publizist Guz die polni- sche Sicht und äußerte immer noch viel Skepsis gegenüber den deutschen Vertriebe- nenverbänden. Wenn man bedenkt, dass diese Zusammenstellung unterschiedlicher Perspektiven in Bezug auf die Vertriebenenproblematik in den 1960er Jahren in der Polityka noch gar nicht vorkam, wird klar, dass sich die politische Zäsur von 1970 positiv auf die kommunistische Berichterstattung in Polen auswirkte. Während die Trybuna Ludu immer noch die Angst vor den Vertriebenenverbänden schürte, zeich- nete sich die Polityka durch mehr Meinungspluralität aus. Auf die Spaltung der Vertriebenen ist auch der Tygodnik Powszechny eingegan- gen. So hieß es im Artikel von Winfried Lipscher: „Über die Versöhnung mit Polen sprechen heute in der Bundesrepublik alle. Sogar die Verbände der Umsiedler und die der Landsmannschaften sind sich ihrer Notwendigkeit bewusst und auch die NPD gibt ihren Senf dazu.“154 Neben dieser optimistischen Feststellung merkte Lipscher gleich- zeitig an, die Versöhnung mit Polen stoße allerdings immer noch bei vielen Menschen auf starken Widerstand. Ohne die Vertriebenenverbände an dieser Stelle ausdrücklich zu nennen, wies der Autor des Artikels darauf hin, dass einige Menschen in der Bun-

150 Rozdział jeszcze nie całkiem zamknięty (wie Kap. 5, Anm. 118). 151 Vgl. ebenda. 152 Ebenda. 153 Vgl. ebenda. 154 WINFRIED LIPSCHER: Pojednanie z Polską jako zadanie polityczne [Versöhnung mit Polen als politische Aufgabe], in: Tygodnik Powszechny vom 12.04.1970.

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desrepublik den Schritt zur Versöhnung mit Polen als „Resignation“, „Verrat“ und „Ausverkauf Deutschlands“ verstünden.155 Ähnlich wie Günter Slotta in der Polityka stellte auch Winfried Lipscher im Tygodnik Powszechny die Vertriebenen nicht als eine homogene Gruppe dar, womit er einen Gegenpol zur Trybuna Ludu bildete. Zwei Jahre später erschien im Tygodnik Powszechny ein Artikel von Wolfgang Marcus, der ähnlich wie Slotta SPD-Mitglied und Befürworter der Ostverträge war. Die bevorste- hende Ratifizierung des Warschauer Vertrags sah Markus als ein historisches Ereignis in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Polen sollten seiner Meinung nach die innerdeutsche Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Ostverträge nicht falsch verstehen. Die Ursache für die lebhafte Debatte bestünde nicht in der Existenz der Vertriebenenverbände und ihrer Druckausübung auf die Politik. Vielmehr sei die hef- tige Diskussion auf die Tatsache zurückzuführen, dass es sich dabei für die Westdeut- schen um „schwere und schmerzhafte Entscheidungen“ handle.156 An den Artikeln von Marcus und Lipscher wird somit deutlich, dass der Tygodnik Powszechny mit sei- ner Faktenanalyse weiterhin einen Gegenpol zur kommunistischen Presse darstellte. Der Unterschied zu den 1960er Jahren bestand allerdings darin, dass sich jetzt nicht nur die katholische Wochenzeitung um eine gewisse Perspektivenvielfalt in der Be- richterstattung bemühte, sondern auch das kommunistische Blatt Polityka. Abgesehen von den Artikeln von Marcus und Lipscher wurden Vertriebenenverbände im Tygod- nik Powszechny in den 1970er Jahren kaum thematisiert. Dafür erschien in der Wo- chenzeitung eine Reihe von Artikeln, in welchen die Bundesrepublik und die west- deutsche Gesellschaft dem polnischen Leser näher gebracht wurden.157 Verschiedene Autoren bemühten sich dabei, ein positives Deutschlandbild zu entwerfen, und leiste- ten damit einen wichtigen Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze stellte nicht nur im Hinblick auf die Thematisierung des BdV, sondern auch auf die Thematisierung der Vertreibung einen Wendepunkt dar. Durch die Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission zwischen 1972 und 1976 gelangten das Vertreibungsthema und viele andere in Polen jahrelang tabuisierte Themen langsam in das Bewusstsein der polnischen Bevölke-

155 Ebenda. 156 WOLFGANG MARCUS: Na temat rozwoju stosunków między PRL a NRF [Zum Thema der Entwicklung der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der BRD], in: Ty- godnik Powszechny vom 5.03.1972. 157 Vgl. ANNA MORAWSKA: Ich punkty widzenia [Ihre Standpunkte], in: Tygodnik Powszech- ny vom 4.07.1971; DIES.: O niektórych przeciwnikach [Über manche Gegner], in: Tygod- nik Powszechny vom 11.07.1971; ANDRZEJ MICEWSKI: RFN. Prasa i społeczeństwo [BRD. Die Presse und die Gesellschaft], in: Tygodnik Powszechny vom 22.06.1975; DERS.: RFN. Co kto czyta [BRD. Wer liest was], in: Tygodnik Powszechny vom 6.07.1975; DERS.: Gus- tav Heinemann prezydent wielkiego zwrotu [ als Bundespräsident der großen Wende], in: Tygodnik Powszechny vom 8.08.1976; MIECZYSŁAW PSZON: Richard von Weizsäcker o porozumieniach z Polską [Richard von Weizsäcker über die Verein- barungen mit Polen], in: Tygodnik Powszechny vom 29.02.1976; JERZY TUROWICZ: Po wizycie kanclerza Schmidta w Polsce [Nach dem Besuch von Bundeskanzler Schmidt in Polen], in: Tygodnik Powszechny vom 4.12.1977.

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rung. Während der Inhalt der deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der Bundesrepublik heftig diskutiert wurde, schenkte ihm die polnische Presse allerdings deutlich weniger Aufmerksamkeit. Adam Krzemiński zufolge wurden die deutsch- polnischen Schulbuchgespräche in Polen auf zwei Ebenen behandelt: Während in den polnischen Monats- und Vierteljahresschriften ausführliche Analysen erschienen, diente die Thematisierung der Schulbuchempfehlungen in der kommunistischen Pres- se als Trommelfeuer gegen die konservative Opposition in der Bundesrepublik und die Vertriebenenfunktionäre.158 Die polnische Berichterstattung konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Beobachtung der westdeutschen Debatte um die Schulbuchge- spräche.159 Die heftigen Proteste der Vertriebenenverbände gegen die Schulbuchempfehlun- gen wurden in der kommunistischen Wochenzeitung Polityka thematisiert. In einem umfangreichen Artikel unter dem Titel „Revisionismus oder die Schulbuch-Revision“ setzte sich Marian Wojciechowski mit der westdeutschen Debatte um die deutsch- polnischen Schulbuchempfehlungen auseinander und wies auf die fortdauernde Akti- vität der Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik hin.160 Besonders viel Auf- merksamkeit widmete er dem von Alfred Schickel verfassten FAZ-Artikel „Aus Ver- treibung soll ‚Transfer‘ werden“161 und der sich daraus entwickelten Diskussion in dem Frankfurter Blatt. Wojciechowski ging auf Schickels Kritik an den Schulbuch- empfehlungen ein, die sich unter anderem auf die Zusammensetzung des westdeut- schen Teils der Kommission und auf die Ersetzung des Wortes „Vertreibung“ durch „Transfer“ richtete. Er wies auf die Leserbriefe von Josef Joachim Menzel, Herbert Hupka und Helmut Sauer hin, in denen diese die deutsch-polnischen Schulbuchemp- fehlungen scharf kritisierten. Der Inhalt der Briefe wurde allerdings nicht näher be- sprochen, in Klammern aber auf die entsprechende Ausgabe der FAZ verwiesen.162 Wojciechowski ging außerdem auf die offizielle Stellungnahme des BdV zu den Schulbuchempfehlungen ein, die von den Vertriebenenfunktionären Hans Neuhoff und Hans-Günther Parplies 1976 verfasst wurde. Er kritisierte die Tatsache, dass darin die beiden Autoren an das Vertreibungsthema so herangegangen seien, als hätte die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte erst am Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen.163 Zur Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission sind in der Polityka auch mehrere andere Artikel erschienen. Sie befassten sich aber ausschließ- lich mit den Schulbuchempfehlungen und gingen nicht ausdrücklich auf die Sicht der Vertriebenenverbände ein.164

158 Vgl. KRZEMIŃSKI, S. 185. Zur polnischen Reaktion auf die „Alternativ-Empfehlungen“ vgl. RYSZKA. 159 Vgl. KRZEMIŃSKI, S. 182. 160 WOJCIECHOWSKI, Rewizjonizm czy rewizja podręczników (wie Kap. 5, Anm. 141). 161 Vgl. SCHICKEL, Aus Vertreibung soll „Transfer“ werden (wie Kap. 5, Anm. 53). 162 Vgl. WOJCIECHOWSKI, Rewizjonizm czy rewizja podręczników (wie Kap. 5, Anm. 141). 163 Vgl. ebenda. 164 Vgl. Wietrzenie uprzedzeń i stereotypów [Lüftung von Vorurteilen und Stereotypen], in: Polityka vom 25.10.1975; STEFAN KIENIEWICZ: Polska, Niemcy, nauka szkolna i sprawa

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Während die Polityka die Vertreibung der Deutschen im Kontext der deutsch-pol- nischen Schulbuchgespräche thematisierte, richtete die Trybuna Ludu ihre Aufmerk- samkeit vielmehr auf den 25. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 1975 sowie auf die in der Bundesrepublik 1974 fertig gestellte „Dokumentation von Vertreibungsverbre- chen“165. Die Parteizeitung sprach von einer „Propagandakampagne“, in der die Rede vom „angeblichen ‚Verbrechen an den Deutschen‘“ sei.166 Mit Hilfe dieser „Kam- pagne“ hätten die „revisionistische[n] und nationalistische[n] Kräfte“ in der Bundes- republik versucht, die Aufmerksamkeit von der Verfolgung der NS-Verbrecher abzu- lenken und auf das Verbrechen an den Deutschen zu richten. Laut der Parteizeitung sei die „Dokumentation“ nichts anderes als eine „Erfindung der Revanchisten“ und ziele auf die „Verzerrung der Zeitgeschichte“ ab.167 In einem anderen Artikel machte die Parteizeitung darauf aufmerksam, dass BdV-Präsident Herbert Czaja aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit „für das Verbrechen gegen das polnische Volk verantwortlich“ sei.168 Die Trybuna Ludu übte nicht nur heftige Kritik an der „Dokumentation von Vertreibungsverbrechen“, sondern auch an dem vom BdV be- gangenen dreißigsten Jahrestag der Vertreibung. BdV-Präsident Czaja und General- sekretär Neuhoff hätten auf einer Pressekonferenz erklärt, sie wollten „den dreißigs- ten Jahrestag der Niederlage des Naziregimes als ‚den dreißigsten Jahrestag der Ver- treibung‘“ begehen.169 Sie hätten vor, zahlreiche „revisionistische Veranstaltungen“ in der ganzen Bundesrepublik zu organisieren, auf denen vom „angeblichen Unrecht und Leid“ gesprochen werden sollte, die die Deutschen am Ende des Krieges sowie direkt nach 1945 erfahren hatten.170 Dem Blatt zufolge habe der Bund der Vertriebenen vier größere Veranstaltungen angekündigt, mit denen er die „Wahrheit über den dreißigs- ten Jahrestag der Kapitulation des Dritten Reiches“ verschleiern wolle.171 Genauso wie ein Jahr zuvor die Vertreibung der Deutschen im Kontext der „Dokumentation“ in der Parteizeitung thematisiert worden war, wurde sie auch hier, im Kontext des dreißigsten Jahrestags des Kriegsendes, behandelt. Während die Trybuna Ludu bei der Thematisierung der Vertreibung dem kommu- nistischen Argumentationsmuster treu blieb, versuchte die Polityka, auf dieses histo- rische Ereignis aus verschiedenen Perspektiven zu blicken. In dem Artikel von Mie- czysław Rakowski hieß es:

pokoju [Polen, Deutschland, Schulunterricht und die Angelegenheit des Friedens], in: Polityka vom 21.8.1976; WŁADYSŁAW MARIEWICZ: Krok we właściwym kierunku [Ein Schritt in die richtige Richtung], in: Polityka vom 2.10.1976. 165 Zur „Dokumentation von Vertreibungsverbrechen“ vgl. BEER, Verschlusssache, S. 378 ff.; Vertreibung und Vertreibungsverbrechen. 166 EUGENIUSZ GUZ: Wymysły odwetowców [Erfindungen der Revanchisten], in: Trybuna Ludu vom 28.07.1974. 167 Ebenda. 168 Kim jest – i kim był Herbert Czaja (wie Kap. 5, Anm. 142). 169 GUZ, Zapowiedź prowokacyjnych imprez rewizjonistów (wie Kap. 5, Anm. 139). 170 Ebenda. 171 Ebenda.

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„Wir ignorieren das Leiden des deutschen Volkes nicht. Schließlich beweint jede Mutter gleichermaßen den Verlust ihres Sohnes. Die Ursachen dieses Leidens aber darf man nicht außer Acht lassen. Vor einigen Monaten hat der Bundestagsabgeordnete Herr Windelen in einem Gespräch mit unseren Sejm-Abgeordneten das Leiden der Polen und der Deutschen auf eine Waagschale gelegt. Ich habe ihn daran erinnert, dass wir doch die Wehrmacht nicht auf unseren Boden eingeladen haben. Am Tag der Kapitulation des Dritten Reiches war es schwer, Verständnis für die besiegten Deutschen zu haben.“172 An diesem Zitat lässt sich ein deutlicher Wandel in der Berichterstattung der Po- lityka beobachten. Während früher nur der Tygodnik Powszechny partiell Verständnis für die deutschen Vertriebenen äußerte, wurde dieses jetzt auch in einem kommunisti- schen Blatt zumindest teilweise zum Ausdruck gebracht. Das zeigte sich z.B. an der Metapher der weinenden Mutter: Unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit wurde hier die Trauer um den Verlust einer geliebten Person, die dem Krieg zum Op- fer gefallen ist, respektiert und kollektiv gesehen. Die Unterscheidung zwischen dem polnischen und dem deutschen Leid wurde durch diese Metapher zunächst aufgeho- ben. Dass das Leiden der Deutschen in der Polityka überhaupt thematisiert wurde, war etwas Neues. In den früheren Jahren tendierte die kommunistische Berichterstat- tung nämlich dazu, den Deutschen das Recht auf Leiden zu verweigern. Die Konti- nuität zu den früheren Jahren bestand allerdings darin, dass die Täterrolle der Polen bei der Vertreibung der deutschen Bevölkerung gerechtfertigt wurde: Erstens habe nicht Polen, sondern das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Zweitens könne von Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen nur schwer Verständnis für ihre Angreifer abverlangt werden. Nichtdestotrotz war es be- merkenswert, dass eine kommunistische Zeitung das Kriegsende aus der polnischen und deutschen Perspektive betrachtete, ohne die deutsche Sichtweise von Anfang an als Lüge zu erklären. Rakowski ging in seinem Artikel auch auf die Vertriebenenver- bände ein. Er bezeichnete Herbert Hupka und Herbert Czaja als „Repräsentanten des antipolnischen Kurses“, die ihre Unterstützer „in verschiedenen Kreisen der westdeut- schen Gesellschaft, in den politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisatio- nen“ hätten.173 Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass sich der Autor des Arti- kels nicht nur auf den moralischen Aspekt des Zweiten Weltkriegs beschränken woll- te, sondern nicht vergaß, auch das propagandistische Bild der Vertriebenenverbände weiter zu pflegen. Die 1970er Jahre lassen sich insgesamt als ein Jahrzehnt der ersten und zögernden Enttabuisierung in Polen bezeichnen. Die kommunistischen Blätter wie die Trybuna Ludu und die Polityka gingen mit den Vertriebenenthemen deutlich anders um, als noch in den 1960er Jahren. Obwohl die Vertriebenenverbände immer noch politisch instrumentalisiert wurden, kann man in der kommunistischen Berichterstattung eine deutlich größere Perspektivenvielfalt beobachten, als das noch in den 1960er Jahren der Fall war. Selbstverständlich kann hier nicht von Meinungsvielfalt im demokrati-

172 MIECZYSŁAW F. RAKOWSKI: Wczoraj-dziś-jutro [Gestern-heute-morgen], in: Polityka vom 26.04.1975. 173 Ebenda.

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schen Sinne gesprochen werden, aber im Verhältnis zu früheren Jahren durchlief die kommunistische Berichterstattung über die Vertriebenenthemen einen klaren Wandel: Der Bund der Vertriebenen wurde beispielsweise immer häufiger unter seinem richti- gen Namen thematisiert. Darüber hinaus lassen sich Unterschiede in der Berichterstat- tung kommunistischer Blätter feststellen. Während die Trybuna Ludu immer noch auf die politische Bedeutung der Vertriebenenverbände hinwies, wurde diese in der Poli- tyka zögerlich in Frage gestellt.

5.2 Der Bund der Vertriebenen in den 1980er Jahren

5.2.1 Der „Bund der Vertriebenen“ oder der „Bund für Deutschland“? Im Hinblick auf die Selbstdarstellung des BdV lassen sich die 1980er Jahre als eine Art Verbindung der 1960er und der 1970er Jahre betrachten: Der Verband wurde ähnlich wie in den 1960er Jahren erneut von der Bundesregierung politisch unterstützt und lenkte erneut die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Doch die politische Margina- lisierung des BdV in den 1970er Jahren hinterließ Spuren: Sein Argumentationsmus- ter war nicht mehr von dem gleichen Selbstbewusstsein wie in den 1960er Jahren ge- kennzeichnet. Der Verband befand sich in einer Phase der Selbstreflexion. Die 1980er Jahre stellen insofern einerseits einen klaren Gegenpol, andererseits eine relativ starke Kontinuität zu den 1970er Jahren dar. Der größte Gegensatz zu den 1970er Jahren besteht darin, dass die Arbeit des BdV von dem neuen Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlich gewürdigt wurde. Das Ver- hältnis der neuen Bundesregierung zu den Vertriebenenverbänden war unvergleichbar besser als in den 1970er Jahren. Die offizielle Unterstützung des Bundeskanzlers rief Erinnerungen an die Ära Adenauer hervor, als die Vertriebenenverbände noch einen starken Einfluss auf die Politik der Bundesregierung hatten. Die 1980er Jahre stellten nun für den BdV die lang ersehnte Möglichkeit dar, politisch wieder aufzuleben. Be- reits nach seiner Wahl zum Bundeskanzler empfing Helmut Kohl im Januar 1983 das BdV-Präsidium und signalisierte damit seine Aufgeschlossenheit gegenüber dem BdV. Über dieses Treffen berichtete der DOD folgendermaßen: „Zu einem Gespräch über Aufgaben der Deutschlandpolitik, der Menschenrechte sowie über kulturelle und soziale Fragen empfing Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl am 11. Januar 1983 das Präsidium des Bundes der Vertriebenen im Bundeskanzleramt. [...] Der Kanzler würdigte eingangs die großen Verdienste der Ost-, Sudeten- und Südostdeutschen beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Er unterstrich ihre wirtschaftliche Leistung, ihren Einsatz für den Freiheitsgedanken, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, die Einheit Deutschlands und die Einigung Europas. Dieser Beitrag sei in der Vergangenheit nicht immer genügend anerkannt worden. [...] Die Präsidialmitglieder des BdV äußerten den Wunsch, die Vertriebenenverbände bei der staats- und deutschlandpolitischen Arbeit stär- ker zu unterstützen. Die Gesprächspartner des Bundeskanzlers setzten sich außerdem für die Förderung und Pflege ostdeutschen Kulturerbes und wissenschaftlicher Arbeiten über Geschichte, Literatur und Kunst ein. Sie unterstrichen die Notwendigkeit korrekter Schul- buchempfehlungen. Die Aussiedler müßten über unsere freiheitliche Ordnung, unser Va- terland und die freie westliche Welt besser informiert werden. [...] Der Bundeskanzler un-

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terstrich, daß sich seine Regierung für diese Anliegen – soweit politisch möglich – einset- zen wolle.“174 In diesem Zitat kommt der Bruch zu den 1970er Jahren sehr klar zum Ausdruck: Der neue Bundeskanzler machte auf die Leistungen und Verdienste der deutschen Vertriebenen beim Wiederaufbau der Bundesrepublik aufmerksam und sprach seinen Dank für diesen Beitrag aus. Er versprach dem BdV seine Unterstützung und bemän- gelte die Tatsache, dass die deutschen Vertriebenen in den vergangenen Jahren so we- nig Anerkennung gefunden hatten. Damit übte er indirekt Kritik an der sozialliberalen Bundesregierung und signalisierte seine volle Solidarität mit den Vertriebenenverbän- den. Er stellte einen klaren Kontrast zwischen der Ignoranz der Vertriebenenorganisa- tionen durch die Bundesregierung in den 1970er Jahren und dem Interesse seiner Re- gierung an den Vertriebenenthemen her. Ähnlich wie in den 1960er Jahren wurde der BdV in den 1980er Jahren von einem Bundeskanzler wieder als Gesprächspartner wahrgenommen. Helmut Kohl traf sich nicht nur zu Gesprächen mit den Vertretern der Vertriebe- nenverbände, sondern besuchte auch ihre Veranstaltungen. Auch das war eine Form, durch die der Bundeskanzler seine Unterstützung für die Vertriebenen manifestierte. 1984 nahm er beispielsweise an dem vom BdV in Braunschweig organisierten „Tag der Heimat“ teil, der unter dem Motto „Heimat – Vaterland – Europa“ stattfand.175 In seiner Begrüßungsansprache sagte BdV-Präsident Czaja: „Unsere Ziele finden kein biologisches Ende; wer das jahrelang prophezeite, ist tief ent- täuscht. Seit Jahrzehnten spricht wieder ein Bundeskanzler bei uns. Dafür gilt ihm unser Dank. Sie haben, Herr Bundeskanzler, in der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 nicht nur im üblichen Ritual den Beitrag der Vertriebenen beim wirtschaftlichen Wiederaufbau gelobt, sondern auch unseren Beitrag für den politischen und geistigen Wiederaufbau aner- kannt. [...] Nicht eingeschüchtert durch das Revanchismusgerede haben Sie in Moskau öf- fentlich, plastisch und so überzeugend, daß es keinen Widerspruch gab, die Kernfragen der deutschen und europäischen Teilung beim Namen genannt. [...] Wir wünschen uns, daß möglichst viele deutsche Politiker und große Teile unseres Volkes sich durch das Revan- chismusgeschwätz auch weiterhin nicht einschüchtern, und vor allem aber nicht davon ab- bringen lassen, berechtigte Kernfragen unseres ganzen Volkes, im Rahmen des Gemein- wohls der europäischer Völker, zu vertreten! Dies gehört zu den Amtspflichten aller Mi- nister und aller Verfassungsorgane!“176 Indem er auf die Präsenz des Bundeskanzlers und seine Unterstützung hinwies, versuchte Czaja seinen Zuhörern zu verdeutlichen, dass die Vertriebenenverbände auch in den 1980er Jahren politisch bedeutsam waren und trotz des Generationswech-

174 Kanzler würdigt Einsatz für deutsche Einheit. Bundeskanzler Helmut Kohl empfing BdV- Präsidium, in: DOD vom 20.01.1983, S. 3. 175 Vgl. Heimat – Vaterland – Europa. BdV-Veranstaltungstermine 1984, in: DOD vom 19.01. 1984, S. 2; Heimat – Vaterland – Europa. Aufruf zum Tag der Heimat 1984, in: DOD vom 30.08.1984, S. 3. 176 Wortlaut der Begrüßungsansprache von BdV-Präsident Dr. Herbert Czaja MdB auf der Kundgebung zum Tag der Heimat am 2. September 1984 in Braunschweig, in: DOD vom 13.09.1984, S. 3.

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sels immer noch existierten, obwohl Kritiker dem Verband in den 1970er Jahren das Ende seiner politischen Existenz vorhergesagt hatten. Außerdem bedankte er sich bei Helmut Kohl für dessen Mut und die Entschlossenheit, die dieser in der Vertretung der gesamtdeutschen Interessen zeigte. In seiner Rede zielte der BdV-Präsident insge- samt darauf ab, die politische Bedeutung seines Verbandes und der Vertriebenenver- bände erneut in der Öffentlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Von der Bedeutung der deutschen Vertriebenen in der Bundesrepublik sprach auch der Bundeskanzler in seiner Rede. Helmut Kohl bedankte sich auf dem „Tag der Heimat“ für den Beitrag der deutschen Vertriebenen beim Wiederaufbau der Bundes- republik und äußerte ihnen gegenüber Respekt und Anerkennung. „Gespräche und Diskussionen“ mit den „relevanten Gruppen“, zu denen er auch die Vertriebenen- gruppen zählte, bezeichnete er als seine „Amtspflicht“.177 Im Hinblick auf die sowohl in der Bundesrepublik als auch in den Ostblockstaaten geübte Kritik an den Vertrie- benen und ihren Verbänden nahm er diese in Schutz und sagte: „Diese Kundgebung zum ‚Tag der Heimat‘ richtet sich gegen niemanden. Und Sie, die Vertriebenen, sind ganz gewiß keine Außenseiter. Sie haben sich von der ersten Stunde an und ohne Vorbehalte in die Gesellschaft der Bundesrepublik integriert.“178 Kohl nahm auch Stellung zur Kritik an seiner Teilnahme an der Vertriebenenveranstaltung: „Ich emp- finde es als eine Selbstverständlichkeit, daß ein deutscher Bundeskanzler auch bei den Vertriebenen auf einer Kundgebung spricht.“179 Der Kontrast zwischen den 1970er und 1980er Jahren kam hier deutlich zum Ausdruck: Ein westdeutscher Bundeskanz- ler nahm wieder an den Vertriebenenveranstaltungen teil und manifestierte damit seine Unterstützung für die Vertriebenenverbände. Durch seine Anwesenheit auf dem „Tag der Heimat“ und dem „Schlesiertreffen“ ein Jahr später lenkte Helmut Kohl die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf die Vertriebenenverbände. Im Jahre 1985 schrieb der Zeit-Redakteur Dietrich Strothmann in einem Aufsatz: „Plötzlich, wie aus dem Nichts, waren sie wieder da: die Vertriebenen, in Gestalt ihrer rabulistischen Sprecher Herbert Czaja und Herbert Hupka, beide CDU, Bundestagsabgeordnete.“180 Allerdings fanden die 1970er Jahre auch ihre kontinuierliche Fortführung in den 1980er Jahren. Der BdV fand zwar in der Bundesregierung Kohl wieder eine politi-

177 Wortlaut der Rede von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl auf der Kundgebung des Bundes der Vertriebenen zum Tag der Heimat am 2. September 1984 in Braunschweig, in: DOD vom 13.09.1984, S. 4. Seine Solidarität mit den deutschen Heimatvertriebenen drückte Helmut Kohl bereits als CDU-Vorsitzender im Jahre 1977 aus, als er bei einer BdV-Veran- staltung anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des Verbandes eine Rede hielt. Vgl. dazu: Wortlaut der Ansprache des CDU-Vorsitzenden Dr. Helmut Kohl in der Paulskirche zu Frankfurt a.M. bei der Feier anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des Bundes der Vertriebenen am 8. Oktober 1977, in: DOD vom 13.10.1977, S. 3-5. Seine Unterstützung für den BdV manifestierte Helmut Kohl auch durch seine Anwesenheit auf dem „Tag der deutschen Heimatvertriebenen“ im Jahr 1989, auf der er eine Rede hielt. Vgl. dazu HORST EGON REHNERT: Kohl hielt an Rechtspositionen fest, in: DOD vom 27.10.1989, S. 3-5. 178 Wortlaut der Rede von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (wie Kap. 5, Anm. 177), S. 4. 179 Ebenda. 180 STROTHMANN, S. 209.

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sche Plattform, wurde aber noch lange nicht in die Gestaltung der Ostpolitik einbezo- gen. „Welche Haltung Helmut Kohl zum Offenhalten der ostdeutschen Frage ein- nahm – sei es um einen Teil Ostdeutschlands zu retten oder sich um einen schwieri- gen, aber konstruktiven Ausgleich durch einen Kompromißvorschläge zu bemühen –, ist mir nicht ganz klar“, erinnerte sich Herbert Czaja in den 1990er Jahren.181 An die- sen Worten lässt sich erkennen, dass der BdV-Präsident über die politischen Entschei- dungen bezüglich der Zukunft der Oder-Neiße-Gebiete nur begrenzt informiert gewe- sen sein muss. Dass in den 1980er Jahren nur der Eindruck erzeugt wurde, dass die Vertriebenenverbände an politischem Einfluss deutlich gewannen, beweist auch die Untersuchung von Beata Ociepka. Sie beschreibt zwar den Zeitraum zwischen 1982 und 1992 als „Renaissance“ des BdV, betont aber, dass dies nicht mit der zunehmen- den politischen Bedeutung des Dachverbandes gleichzusetzen sei. Die starke Präsenz des Verbandes in den Medien bedeutete ihrer Meinung nach noch lange nicht, dass der BdV wieder Einfluss auf die Politik der Bundesregierung gewann. Vielmehr stel- len die 1980er Jahren einen misslungenen Versuch des BdV dar, auf die politische Bühne zurückkehren zu wollen.182 Dass es sich in den 1980er Jahren nur um den Ein- druck eines zunehmenden Einflusses der Vertriebenenverbände handelte, zeigt sich auch daran, dass der Vertriebenenpolitiker Herbert Hupka 1987 nicht mehr in den Bundestag einzog.183 Sein politisches Scheitern erinnerte an das Scheitern des BdV- Präsidenten Reinhold Rehs in der Bundestagswahl von 1969. Damals ließ sich das allerdings leicht erklären: Aufgrund der neuen Ostpolitik der SPD kam es zwischen der Partei und den Vertriebenenverbänden zu einem Interessenkonflikt. Das Ende der politischen Karriere von Herbert Hupka in den 1980er Jahren war dagegen nur schwer nachvollziehbar, da die Vertriebenenverbände zu dieser Zeit die politische Unterstüt- zung der Regierungspartei genossen. Auch wenn Herbert Czaja im Gegensatz dazu erneut in den Bundestag gewählt wurde, kann konstatiert werden, dass in den 1980er Jahren tatsächlich nur noch von dem Versuch einer Rückkehr der Vertriebenen auf die politische Bühne die Rede sein kann.184 Eine weitere Kontinuität zu den 1970er Jahren besteht darin, dass der BdV auch in den 1980er Jahren politisch verunsichert war. Mit den Fragen nach der Zukunft des Verbandes beschäftigte sich das BdV-Präsidium immer wieder. Während die BdV- Führung in den 1960er Jahren selbstbewusst in die Zukunft schaute, änderte sich das seit der Ratifizierung der Ostverträge gravierend. Ähnlich wie in den 1970er Jahren durchlief der Dachverband auch in den 1980er Jahren eine Phase der Selbstreflexion. Zum ersten Mal tauchten klare selbstkritische Stimmen, Nachfragen und an einigen Stellen auch Zweifel auf. Sehr deutlich kam das in dem Artikel des BdV-Vizepräsi-

181 CZAJA, S. 793. 182 Vgl. OCIEPKA, S. 286. 183 Vgl. ebenda, S. 152; vgl. auch: Wir stehen zu Herbert Hupka, in: DOD vom 26.06.1986, S. 3. 184 Vgl. BdV begrüßt Kandidatur von Dr. Czaja, in: DOD vom 23.01.1986, S. 3; Czaja und Sauer kandidieren, in: DOD vom 13.03.1986, S. 3; KLAUS LACKSCHEWITZ: Hetzkampagne trug keine Früchte, in: DOD vom 29.01.1987, S. 3.

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denten Friedrich Walter zum Ausdruck, der nicht nur mit der Arbeit seines Verban- des, sondern auch mit dem Verhältnis zwischen dem BdV und den politischen Par- teien abrechnete: „Mit Genugtuung können wir feststellen, daß wir die Grundsätze und Ziele, mit denen wir vor 25 Jahren angetreten sind, nicht zu ändern brauchten. Aber es ist auch selbstkritisch zu fragen, ob das wiederholende Proklamieren von Grundsätzen uns weiterbringt. Ist es uns gelungen zu vermeiden, daß wir in ein Vertriebenen-Ghetto gerieten? Hans Krüger hat zu Beginn seiner Ansprache auch gesagt, wir müßten uns darüber klar sein, daß eine Erfüllung unserer Aufgaben nicht gegen, sondern nur mit den politischen Kräften unserer Bundesre- publik möglich ist. Haben wir (auf allen Ebenen!) in ausreichendem Maße den Kontakt mit anderen politschen Kräften gesucht? War unsere Öffentlichkeitsarbeit richtig? Gewiß, ins- besondere die politischen Parteien haben es uns nicht leicht gemacht, bei ihnen Verständnis und Hilfe zu finden. Wie sollen wir mit Parteien zusammenarbeiten, die nicht einmal unser Heimatrecht anerkennen? Wenn Krüger damals unseren Heimatanspruch in die Obhut der Bundesrepublik Deutschland stellte, so fühlten wir uns seither manchmal eher verlassen als behütet (einzelne Bundesländer ausgenommen). Es gibt ja nicht einmal mehr ein Bundes- ministerium, das für unseren Heimatanspruch, die Vertreibungsgebiete und die Vertreibung als Gesamtproblem zuständig wäre. Es ist viel für uns getan worden – aber ,Obhut‘? Wer- den wir nicht manchmal ins Ghetto gestoßen? Trotzdem sollten wir nicht ablassen, immer wieder nach Bundesgenossen, auch in Teilbereichen, zu suchen. Sich schmollend und schimpfend in die Ecke zu stellen, bringt in der Politik keinen Erfolg. Sind wir in der poli- tischen Taktik wendig genug oder fahren wir nur in alten Geleisen?“185 In diesem Zitat blickt Walter auf die Vergangenheit zurück und beschreibt das bisherige Verhältnis zwischen dem BdV und den politischen Parteien. Hierbei fällt auf, dass er viele Fragen aufwirft. Zum einen überlegt er, ob der Verband genug tat, um mit den politischen Kräften im Lande wirklich zusammenzuarbeiten, oder ob er ungeachtet des politischen Wandels immer wieder die gleichen Parolen wiederholte. Zum anderen stellt er fest, dass die Parteien nicht immer ihre Versprechen gegenüber den Vertriebenen erfüllten. Dementsprechend drückt er seine Enttäuschung aus. Es fällt auf, dass Walter in seinen Überlegungen dazu tendiert, den Mangel des BdV an politischer Flexibilität aufzuzeigen. Er weist darauf hin, dass der politische Wandel auch eine gewisse Revision im Proklamieren eigener Ansichten erfordert. Die hier zi- tierte Textpassage verdeutlicht, dass einige BdV-Präsidiumsmitglieder, wie bei- spielsweise Walter, sich mehr Veränderungen in dem Profil des Dachverbandes wünschten. Die Notwendigkeit des Wandels sah auch ein anderer BdV-Vizepräsident, nämlich Herbert Hupka. Im Jahr 1987 äußerte er in der Tageszeitung Die Welt den Vorschlag, den Namen des Bundes der Vertriebenen in „Bund für Deutschland“ bzw. in „Patrio- tischer Bund“ zu ändern, und löste damit eine Diskussion innerhalb des Verbandes aus. In seinem Artikel für den DOD nahm er dazu noch einmal Stellung und zitierte zum Teil aus seinem Interview:

185 FRIEDRICH WALTER: Die Aufgabe bleibt. 25 Jahre nach Konstituierung des BdV, in: DOD vom 24.11.1983, S. 2.

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„Die Vertriebenen sollen Fürsprecher in eigener Sache und in der Tat zugleich ‚Anwalt al- ler Deutschen‘ sein, die sich um die Zukunft Deutschlands Sorgen machen. Viele werden vielleicht vom Mittun abgehalten, wenn sie den Namen ‚Bund der Vertriebenen‘ lesen, weil sie dann meinen, das sei lediglich eine Organisation für die Vertriebenen. Mein Vor- schlag: Schon der Name sollte deutlich machen, daß alle Deutschen angesprochen sind. Ich empfehle deshalb, daß man den Namen ‚Bund der Vertriebenen‘ nicht tötet – das würde ein Frohlocken derer bewirken, die uns vertrieben haben –, sondern ihn in die Unterzeile nimmt. Aber als Haupttitel könnte ich mir künftig vorstellen: ‚Bund für Deutschland‘ oder ‚Patriotischer Bund‘. Über den Namen kann man sich ja streiten. Mir geht es vielmehr darum, daß alle, für die die deutsche Frage offen ist, den Zugang zu einer Vereinigung ha- ben, die für die deutsche Frage Flagge zeigt. [...] Um nicht mißverstanden zu werden, die besonderen Aufgaben des Bundes der Vertriebenen dürfen dabei nicht hintangestellt wer- den, aber wir dürfen uns nicht einigeln und einmauern oder ins Getto drängen lassen.“186 Eine gegensätzliche Position vertrat BdV-Präsident Czaja. Er stimmte zwar zu, dass der BdV für die Interessen ganz Deutschlands und aller Deutschen eintritt, plä- dierte aber trotzdem dafür, dass der Verband „seinen mahnenden und verpflichtenden Namen behalten“ sollte.187 Die Mahnung und Verpflichtung würden seiner Meinung nach gerade im Namen des BdV durch das Wort „Vertriebene“ ausgedrückt werden, das an die Vertreibung der Deutschen erinnerte. Czaja wies darauf hin, dass gerade die Angriffe der kommunistischen Propaganda auf die deutschen Vertriebenen zeig- ten, dass der Bund der Vertriebenen mit seinem Namen eine Bedeutung hatte. Die Umbenennung des Verbandes würde für „die kommunistische Führungsschicht der Vertreiber“ bedeuten, dass die Deutschen „in den Fragen der Vertreibung kapituliert“ hätten.188 Damit meinte Czaja, dass das Verschwinden des Wortes „Vertriebene“ aus dem Namen des BdV mit dem Vergessen der Vertreibung gleichzusetzen sei. Laut der Argumentation Czajas war die Erinnerung an die Vertreibung im Namen des BdV wach und musste deswegen auch erhalten bleiben. Auch mit der Verschiebung des Namens „Bund der Vertriebenen“ in den Untertitel des neuen Namens war Czaja nicht einverstanden. Er glaubte, dass der Verband damit seine Resignation in Bezug auf das „ungelöste Vertreibungsproblem“ ausdrücken würde.189 Mit seinem Namen sollte der BdV weiterhin signalisieren, dass er seine heimatpolitischen Aufgaben ver- wirklichen wollte. Der BdV-Präsident wies darauf hin, dass der Vertriebenenverband auch jetzt für alle Deutschen offen sei und dafür seinen Namen nicht zu ändern brauche. Czaja vertrat auch die Ansicht, dass eine Umbenennung den politischen Ein- fluss des BdV nicht steigern würde: „Bereits jetzt können selbstverständlich Westdeutsche und Mitteldeutsche, jung und alt, dem Bund der Vertriebenen beitreten. Durch Umbenennung würde man noch einige weni- ge Außenseiter hinzubekommen, die bei diesem neuen Namen vielleicht auf einen Kern ei-

186 HERBERT HUPKA: Weder Randgruppe noch Geschädigtenorganisation, in: DOD vom 2.07. 1987, S. 3. 187 HERBERT CZAJA: Der Bund der Vertriebenen ist für Deutschland, die Deutschen und ein freies Europa noch lange unentbehrlich, in: DOD vom 25.06.1987, S. 4. 188 Ebenda. 189 Ebenda.

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ner zukünftigen Partei hoffen. Für sie gibt es aber genügend kleine, ewig untereinander im Streit liegende Auffangstellen. Dürfen diejenigen, die nicht Wert auf einen patriotischen Obertitel mit einem Vertreibungsuntertitel legen, nicht auch gute deutsche Patrioten sein? Wird mit einem in die Diskussion gebrachten ,Bund für Deutschland‘ oder „Patriotischen Bund“ nicht ein Führungsanspruch erhoben, dem nur wenige zusätzlich folgen werden? Die Umbenennung der Union der Vertriebenen und Flüchtlinge in der CDU in einigen Bundesländern hat zu keinem Neueintritt geführt, aber der Einfluß der Vertriebenen in die- sen Ländern in der CDU ist nicht gerade stärker geworden.“190 Die Diskussion um die Umbenennung des BdV machte deutlich, dass sich da- hinter auch die Frage nach der Identität des Verbandes verbarg. Die Namensänderung hätte bedeutet, einen Teil der jahrelang gepflegten Identität aufzugeben. Genauso wie in den 1970er Jahren wurde auch jetzt die Frage diskutiert, inwieweit sich der BdV ändern durfte, damit er weiter wirksam arbeiten konnte, ohne dabei sein früheres Pro- fil völlig aufgeben zu müssen. Diese Phase der Selbstreflexion ist ein Zeichen dafür, dass der BdV, trotz der Unterstützung durch Helmut Kohl, politisch nicht mehr so selbstbewusst auftrat wie Ende der 1950er und in den 1960er Jahren. Der BdV-Präsi- dent sprach zwar immer noch von der politischen Bedeutung des Verbandes, bediente sich aber der für die 1960er Jahre typischen Bezeichnungen für den BdV als „poli- tische Kraft“ oder „politischer Faktor“ nicht mehr. Trotz der vorhandenen Verunsicherung begann der BdV, sich in den 1980er Jah- ren wieder direkt und entschlossen an die Massenmedien zu wenden. Mit ähnlichem Selbstbewusstsein wie in den 1960er Jahren forderte er eine stärkere Präsenz der Vertriebenenthemen in den Medien sowie die Zusammenarbeit der Fernsehanstalten mit dem BdV: „Für die weitere Arbeit in den Medien stellt der Bund der Vertriebenen folgende Forderun- gen auf: Über die Vertreibung und ihre Folgen muß mehr als bisher berichtet werden, ins- besondere über die Verletzung der Menschenrechte, die in ihrem Grauen auch als Holo- caust bezeichnet werden kann. [...] Die Leistungen der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge am Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland in politischer, wirtschaftli- cher und kultureller Hinsicht sind stärker zu würdigen und eigene Sendungen dazu in Zu- sammenarbeit mit sachkundigen Vertretern des Bundes der Vertriebenen zu produzie- ren.“191 Der Inhalt dieser Textpassage lässt sich in vier Punkten zusammenfassen: Erstens forderte der BdV-Präsident von den Massenmedien größeres Interesse am Vertrei- bungsthema. Zweitens bezeichnete er die Vertreibung als Menschenrechtsverletzung und verglich sie mit dem Holocaust. Drittens verlangte er von den Medien, dass diese die Leistungen der deutschen Vertriebenen beim Wiederaufbau der Bundesrepublik stärker als bisher thematisieren sollten. Viertens wies Herbert Czaja darauf hin, dass TV-Sendungen zu Vertriebenenthemen in Zusammenarbeit mit dem BdV produziert werden sollten. Mit einer solchen Forderung machte er klar, dass sich der Dachver-

190 Ebenda, S. 3. 191 Politik für ganz Deutschland. Wortlaut der Berichte des Arbeitskreises des BdV-Mit- arbeiterkongresses am 8. und 9. November 1980 in Kassel, in: DOD vom 13.11.1980, S. 2.

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band genauso wie in den 1960er Jahren als glaubwürdige und wichtigste Quelle in Bezug auf Vertriebenenthemen betrachtete und als solche nun auch anerkannt werden wollte. Diese Rückkehr der Forderungen des BdV gegenüber den Medien scheint auf den 1979 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlten Film „Holocaust“ und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeitslenkung auf das Schicksal der jüdischen Opfer zurückzugehen. Die von Constantin Goschler behauptete Konkurrenz zwischen dem partikularistischen und dem integrationistischen Opfermodell kommt vor dem Hintergrund der „Holocaust“-Serie deutlich zum Ausdruck.192 Die Diskussion um den Film „Holocaust“ warf nämlich die Frage auf, warum nicht das Schicksal der deutschen Kriegsopfer im Fernsehen gezeigt werden könnte.193 Somit gab dieser Film den Impuls dazu, sich mit der Vertreibungsthematik und dem „deutschen Osten“ im Fernsehen zu befassen.194 Im Jahre 1981 wurden in der ARD drei Teile einer Fernseh- dokumentation unter dem Titel „Flucht und Vertreibung“ ausgestrahlt, worüber der DOD umfassend berichtete.195 Trotz einiger Mängel, auf die das Präsidium des BdV in seiner Erklärung zu der Fernsehdokumentation hinwies, war die Reaktion darauf insgesamt positiv. Darin hieß es: „Die Fernsehreihe über ‚Flucht und Vertreibung‘ hat ein entscheidendes Kapitel deutscher Geschichte in das Blickfeld der Öffentlichkeit gehoben und damit ein Stück der Mauer des Schweigens durchbrochen, hinter welche der Vorgang der Vertreibung verdrängt worden ist.“196 In diesem Zitat lässt sich eine klare Kontinuität zu den 1970er Jahren erkennen: Genauso wie der BdV vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Schulbuchgespräche gegen das Verschweigen der Vertreibung kämpfte, versuchte er auch in den 1980er Jahren den Mythos der Tabuisierung des „Vertreibungsverbrechens“ aufrechtzuerhalten. Der Gegensatz zu den 1960er Jahren bestand wiederum darin, dass das westdeutsche Fernsehen von dem BdV nicht mehr zum Feind der Vertriebeneninteressen und nationalen Interessen stilisiert wurde. Charakteristisch für die Arbeit des BdV ist seit den 1980er Jahren das Ringen des Verbandes um den Platz der Vertreibungsopfer im kollektiven Gedächtnis der Nation. Seine Aufklärungsarbeit aus den 1960er Jahren wurde zur Erinnerungsarbeit in den 1980er Jahren. Dieser Wandel war nicht nur durch die Geschichtspolitik Helmut Kohls bedingt, sondern hing stark mit dem Generationswechsel und dem Übergang vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis zusammen.197 Der BdV versuchte,

192 Vgl. GOSCHLER, S. 874. 193 Vgl. KITTEL, S. 157; vgl. auch: „Holocaust“ und kein Ende, in: DOD vom 15.02.1979, S. 3-4. 194 Vgl. KITTEL, S. 179. 195 Vgl. HEINZ RUDOLF FRITSCHE: Vertreibung als Fernsehthema, in: DOD vom 8.01.1981, S. 2; DERS.: Trilogie millionenfachen Leidens und Sterbens, in: DOD vom 19.02.1981, S. 3-4; Das Kapitel ist noch nicht zu Ende geschrieben. Das Echo auf die Fernsehserie Vertreibung, in: DOD vom 19.03.1981, S. 4-7. 196 Mauer des Schweigens durchbrochen!, in: DOD vom 19.02.1981, S. 3. 197 Zum Konzept des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses vgl. HALBWACHS; J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis.

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in dem auf die jüdischen Opfer fokussierten Opferdiskurs einen Wandel zu bewirken. Im Jahr 1985 warnte BdV-Präsident Czaja vor der Verdrängung der Erinnerung an die deutschen Opfer: „Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Dr. Herbert Czaja MdB, verwahrte sich ent- schieden dagegen, daß nunmehr auch deutsche Politiker die Erinnerung an die Massen- vertreibung, die Vertreibungsverbrechen und die Beleidigung der davon betroffenen Opfer verdrängen oder als zweitrangig an den Rand schieben wollen. Kein Organ des BdV hat sich jemals an der Unterschlagung oder dem Verschweigen von Verbrechen beteiligt, die an Menschen des jüdischen und des polnischen Volkes, der russischen oder anderer Völ- ker, an Menschen, die sich zu einer Religion, einer Glaubensgemeinschaft oder weltan- schaulichen Überzeugung bekannten, begangen wurden. [...] Die Vertriebenen [...] werden sich, wenn es um die Menschenwürde der Opfer der Vertreibung und der Vertreibungs- verbrechen geht, nicht diskriminieren lassen.“198 Der Hinweis auf die Diskriminierung der deutschen Opfer erinnert an einen der zentralen Vorwürfe des BdV aus den 1960er Jahren, als der Verband behauptete, die deutschen Vertriebenen seien in der westdeutschen Öffentlichkeit und Politik diskri- miniert worden. Hier wurde das Wort „Diskriminierung“ in Bezug auf die deutschen Opfer gebraucht und wirkte sich auch auf die Selbstdarstellung des BdV aus: Der Dachverband trat nun in der Öffentlichkeit verstärkt als Kämpfer gegen die Diskrimi- nierung der Deutschen in der europäischen Opfergemeinschaft auf. Die Vorwürfe der Diskriminierung und des Verschweigens aus den 1960er und 1970er Jahren wurden vom Dachverband auch in den 1980er Jahren fortgesetzt, bezogen sich aber weniger auf die Vertriebenen als eine politische Interessengemeinschaft, sondern in erster Li- nie als eine Opfergemeinschaft, an die genauso wie an alle anderen Opfergruppen erinnert werden sollte. Der so sehr vom BdV angestrebte Wandel vom partikularisti- schen zum integrationistischen Opferdiskurs fand in den 1980er Jahren noch nicht statt.

5.2.2 Die „Rückkehr der Vertriebenen in ihre politische Heimat Bonn“ In den 1980er Jahren lässt sich eine Rückkehr des Vertreibungsthemas sowie der Fra- ge nach der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände in den westdeutschen Medien beobachten. Hierfür können hauptsächlich zwei Gründe angeführt werden: Zum einen wurden die Vertriebenenverbände nach ihrer politischen Marginalisierung in den 1970er Jahren wieder vom Bundeskanzler unterstützt. Mit seiner Teilnahme an den Vertriebenenveranstaltungen lenkte Helmut Kohl die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Vertriebenen und ihre Verbände. Zum anderen führte der im westdeutschen Fernsehen 1979 ausgestrahlte Film „Holocaust“ dazu, dass nur zwei Jahre später der Dokumentarfilm „Flucht und Vertreibung“ folgte, der zu einer öffentlichen Diskus- sion über die Vertreibung der Deutschen Anlass bot. Es waren vor allem zwei Ereignisse, welche die Vertriebenenverbände erneut stärker in die Öffentlichkeit brachten. Der Grund für das wiedererweckte Interesse an

198 Gegen Verharmlosung der Vertreibung. Die Erinnerung an deutsche Opfer darf nicht ver- drängt werden, in: DOD vom 25.04.1985, S. 2.

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den Vertriebenenverbänden war die Teilnahme von Bundeskanzler Kohl an dem vom BdV organisierten „Tag der Heimat“ im Jahre 1984 einerseits und an dem 1985 von der Landsmannschaft Schlesien veranstalteten „Schlesiertreffen“ andererseits. In der Zeit war in diesem Zusammenhang von der „Rückkehr der Vertriebenen in ihre politische Heimat Bonn“ die Rede.199 Über den auffallenden Kontrast zu den 1970er Jahren berichtete die Wochenzeitung folgendermaßen: „Kohl macht’s möglich: Plötzlich melden sich die Vertriebenen wieder lautstark zu Wort. Bald zehn Jahre lang war von ihnen kaum etwas zu hören gewesen, war über sie nur selten gesprochen oder geschrieben worden. Sie fristeten ein kümmerliches politisches Dasein im stillen Kämmerlein. ,Tag der Heimat‘ – na und? ,Schlesiertreffen‘ – war was? Kurzmeldun- gen höchstens über die jährlichen Zusammenkünfte der alt und älter gewordenen Vertrie- benen fanden sich noch gelegentlich auf hinteren Zeitungsseiten, mehr nicht. Es war doch nur das vertraute Ritual. Sie waren zu Vergessenen, zu Verdrängten geworden. Manche von ihnen, die diese Welt nicht mehr verstehen konnten, mochten sich in ihrem leise ge- wordenen Zorn sogar zum zweiten Mal vertrieben vorkommen. […] Die anhanglosen CDU-Vertriebenenspezialisten Czaja und Hupka bekamen von ihrer Fraktionsgeschäftsfüh- rung gerade noch Gelegenheit, in den ,Aktuellen Stunden‘ des Bundestages ihre bohrenden Fragen zu stellen, unbeachtet von der großen Öffentlichkeit. Sonst hockten sie einsam auf ihren Hinterbänken. Die Schimpfkanonaden früherer Zeiten wider die ,Verzichtler‘ und ,Ausverkäufer‘ Brandt und Bahr, die doch ins Leere gegangen waren, wiederholten sich längst nicht mehr. Die Politik des Bundes der Vertriebenen (BdV) – wenn es sie denn je im eigentlichen Sinn des Wortes gegeben hatte – und der unter seinem Dach zusammenge- schlossenen zwanzig Landsmannschaften fand in geschlossenen Sälen statt. Es waren vergebliche Vorführungen einsamer Artisten in leeren Zirkuszelten, die Sprecher machten kein sonderliches Aufhebens mehr, so wurde auch von ihnen keines mehr gemacht.“200 In diesem Textausschnitt macht Dietrich Strothmann deutlich, dass das erneute Medieninteresse an den Vertriebenenverbänden vor allem die Folge ihrer Unterstüt- zung durch den Bundeskanzler war. Er erinnerte daran, dass die Vertriebenenverbän- de in den 1970er Jahren keine politische Bedeutung mehr hatten und und dementspre- chend schnell in Vergessenheit geraten seien. Strothmann sprach zwar von einer plötzlichen Rückkehr der Vertriebenenverbände auf die politische Bühne, behauptete aber nicht, dass dies mit dem politischen Einfluss gleichzusetzen sei. Ganz im Gegen- teil. Zum Schluss seines Artikels stellte er klar, dass es sich nur um den Eindruck einer Rückkehr des BdV in die Politik handle: Die Vertriebenenverbände glaubten, politisch wieder gestärkt und der Verwirklichung ihrer politischen Ziele nähergerückt zu sein. Was sie allerdings nicht einsehen wollten, war die Tatsache, dass die CDU/CSU in ihnen Hoffnungen auf einen Wandel in Bezug auf die Oder-Neiße- Grenze weckte, die sie längst nicht mehr erfüllen konnte.201 Dass die Vertriebenen- verbände auch in den 1980er Jahren keine politische Bedeutung mehr hatten, bekräf-

199 DIETRICH STROTHMANN: Das letzte Aufgebot, in: Die Zeit vom 25.01.1985. 200 Ebenda. 201 Vgl. ebenda; dass es sich in den 1980er Jahren um einen Eindruck der Rückkehr der Ver- triebenenverbände auf die politische Bühne handelte, macht auch Beata Ociepka in ihrer Studie deutlich. Vgl. OCIEPKA.

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tigte in einem anderen Zeit-Artikel wenige Monate später Gerhard Spörl. Ähnlich wie Strothmann wies er darauf hin, dass die den Vertriebenen seit dem Regierungswech- sel 1982 durch die Politiker erwiesene „Ehre“ diese glauben ließ, „sie könnten irgendwann das Verlorene zurückgewinnen“.202 Auf die unerfüllbaren Versprechun- gen der politischen Parteien gegenüber den deutschen Vertriebenen machte das Blatt bereits Anfang der 1970er Jahre aufmerksam.203 Vor allem die Zusage Helmut Kohls zum „Schlesiertreffen“ 1985 und das umstrit- tene Motto der Veranstaltung „40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser“ ver- schaffte den Vertriebenen eine starke Publizität. Obwohl der vom BdV organisierte „Tag der Heimat“ 1984 im Schatten des „Schlesiertreffens“ blieb, wurde er durchaus in der westdeutschen Presse thematisiert. Helmut Kohl war nämlich der erste Bundes- kanzler, der nach 18 Jahren wieder an dieser BdV-Veranstaltung teilnahm und dort eine Rede hielt. Auf dieses politisch-öffentliche Ereignis und die Unterstützung des Bundeskanzlers für die Vertriebenenverbände machten sowohl Die Zeit als auch Der Spiegel aufmerksam.204 Die Entscheidung Helmut Kohls, bei den Vertriebenen zu sprechen, wurde in der Zeit für unverständlich gehalten. Marion Gräfin Dönhoff gab bereits in dem Titel ihres Artikels ein Urteil über den Auftritt des Bundeskanzlers auf dem „Tag der Heimat“ ab: Ihrer Meinung nach verspielte Helmut Kohl mit seiner An- wesenheit auf der Vertriebenenveranstaltung das Vertrauen der Polen gegenüber den Deutschen.205 Dönhoff versuchte das Ganze aus der polnischen Perspektive zu schil- dern, indem sie schrieb: „Ein Volk, das während langer Perioden seiner Geschichte unter fremden Zwingherren, Besetzern und Machthabern gelitten hat oder leiden muß, hat gelernt, sich durch Zeichen und Symbole zu verständigen. […] Für ein solches Volk ist der Gang Helmut Kohls zum „Tag der Heimat“ und die Rede, die er dort gehalten hat, natürlich ein alarmierendes Zeichen. Aus der Bonner Entfernung mag die Bedeutung, die diesen einzelnen Vorgängen in Polen zugemessen wird, übertrieben erscheinen, aber dabei wird die Sensibilisierung der Bevölkerung durch ihre Geschichte vergessen.“206 Dementsprechend bezeichnete Dönhoff die Teilnahme Helmut Kohls am „Tag der Heimat“ 1984 als „politische Instinktlosigkeit“.207 Die Kritik am Bundeskanzler wur- de nicht nur in der Zeit, sondern auch im Spiegel geübt. Das Nachrichtenmagazin the- matisierte die BdV-Veranstaltung zwar nicht ausführlich, machte aber darauf auf- merksam, dass die Vertriebenenfunktionäre dank der öffentlich manifestierten Unter- stützung des Bundeskanzlers politisch aktiver wurden und erneut Einfluss auf die

202 GERHARD SPÖRL: Beschwörung einer versunkenen Welt, in: Die Zeit vom 21.06.1985; Zum „Schlesiertreffen“ aus der Sicht des Polityka-Journalisten Daniel Passent vgl. DANIEL PASSENT: Ich habe die Hexe gesehen, in: Die Zeit vom 21.06.1985. 203 Vgl. Unerfüllbare Hoffnungen (wie Kap. 5, Anm. 80). 204 Vgl. Marion GRÄFIN DÖNHOFF: Wie Vertrauen verspielt wird, in: Die Zeit vom 14.09.1984; Schwatzt zuviel, in: Der Spiegel vom 20.08.1984, S. 23-25. 205 Vgl. DÖNHOFF, Wie Vertrauen verspielt wird (wie Kap. 5, Anm. 204). 206 Ebenda. 207 Ebenda.

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Politik der Bundesregierung gewinnen wollten. Die Versuche des BdV-Präsidenten Herbert Czaja, Außenminister Genscher vor seiner Polenreise zu unterrichten, welche Versprechungen er machen dürfe und welche nicht, wurden im Spiegel als „Störver- suche gegen die heikle Visite“ bezeichnet, die der Außenminister nicht mehr tolerie- ren wollte.208 Außerdem wies das Blatt darauf hin, dass das uneindeutige Verhalten Helmut Kohls gegenüber den Vertriebenenverbänden für Unstimmigkeiten innerhalb der Regierungskoalition sorgte. Über die Stimmung zwischen den beiden Koalitions- parteien berichtete der Spiegel folgendermaßen: „Dem Kanzler freilich wird im Lager Genschers wenig Vertrauen geschenkt: Er sei selbst ein ‚schwankendes Rohr‘; mit seinen Auftritten bei Vertriebenen-Treffen habe Helmut Kohl die Bemühungen des Außenministers behindert, Berichte über westdeutschen Revanchismus als Erfindung der Ostblock-Führer abzutun.“209 Ungewöhnlich wenig Interesse zeigte die FAZ am „Tag der Heimat“. Im Gegen- satz zu den früheren Jahren beschäftigte sich diese Tageszeitung mit dem Vertriebe- nentreffen nicht aus der westdeutschen Perspektive, sondern thematisierte es im Kontext der Reaktionen aus den Ostblockstaaten. So ging sie beispielsweise auf einen Artikel aus der russischen Parteizeitung Prawda ein, der die Äußerungen des Bundes- kanzlers am „Tag der Heimat“ zur deutschen Frage scharf kritisierte. Laut FAZ schrieb die russische Parteizeitung, Kohl habe durch seine Teilnahme an der BdV- Veranstaltung die Tradition von Adenauer, Erhard und Kiesinger wiedererweckt.210 Außerdem schilderte die FAZ auf der gleichen Seite in einem anderen Artikel auch die Reaktionen aus Polen und der Tschechoslowakei. Von den polnischen Zeitungen ging sie auf die Reaktionen der Trybuna Ludu, des Życie Warszawy und der Regie- rungszeitung Rzeczpospolita ein, widmete aber besonders viel Raum den Kommenta- ren aus der Trybuna Ludu.211 Im Gegensatz zu der Zeit und dem Spiegel blieb die Kri- tik an Bundeskanzler Helmut Kohl in der FAZ aus, was vermutlich an dem politisch eher rechtsorientierten Profil des Blattes zurückzuführen war. Unvergleichbar mehr Aufmerksamkeit widmeten die FAZ, Die Zeit und Der Spiegel der Diskussion um die Teilnahme des Bundeskanzlers am „Schlesiertreffen“ von 1985. Vor diesem Hintergrund wurde nicht nur die politische Bedeutung der Vertriebenenverbände diskutiert, sondern auch die Auswirkungen ihrer Unterstützung auf die Ostpolitik der Bundesregierung. Der Spiegel berichtete über die Empörung Außenminister Genschers darüber, dass Helmut Kohl trotz des umstrittenen Mottos auf dem „Schlesiertreffen“ sprechen wollte.212 Mit dem Motto „30 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser“ habe Hupka dem Spiegel zufolge „die deutsche Außen- politik ins Absurde verkehrt“213. Das Nachrichtenmagazin erklärte, dass der Grund für

208 „Schwankendes Rohr“, in: Der Spiegel vom 19.11.1984, S. 15. 209 Ebenda. 210 Vgl. Die „Prawda“ kritisiert Kohls Äußerungen in Braunschweig zur deutschen Frage, in: FAZ vom 4.09.1984. 211 Vgl. „Unterstützung für die Profis der Störung“, in: FAZ vom 4.09.1984. 212 Vgl. Breslauer Nachrichten, in: Der Spiegel vom 28.01.1985, S. 21-22. 213 Ebenda, S. 21.

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die heftige Kritik an Helmut Kohl unter anderem auch darauf zurückzuführen sei, dass er sich nicht entschlossen von diesem Motto distanziert habe und damit erlaubte, dass es sich „zur Affäre der Regierung“ entwickelt habe.214 Kritisiert wurde im Spiegel auch die Tatsache, dass der Bundeskanzler statt Distanz von dem Motto zu nehmen, sich auf Verhandlungen mit Herbert Hupka über das neue Motto überhaupt eingelassen habe. Das Wochenmagazin zitierte den BdV-Präsidenten Czaja, für den die Gebiete jenseits von Oder und Neiße immer noch „deutsche Ostprovinzen“ seien. Auch Herbert Hupka habe vom „Rechtsanspruch auf Schlesien“ gesprochen.215 Indem das Blatt solche Aussagen der beiden Vertriebenenpolitiker zitierte, machte es deut- lich, dass die Anwesenheit des Bundeskanzlers auf dem Vertriebenentreffen nicht nur ein Ausdruck der Solidarität mit den deutschen Vertriebenen, sondern auch Unterstüt- zung des von ihnen erhobenen Rechtsanspruchs auf die Oder-Neiße-Gebiete bedeuten musste. Noch vor dem „Schlesiertreffen“ meldete Der Spiegel, dass die Anwesenheit Kohls auf dieser Veranstaltung dem Ansehen der Bundesrepublik schaden würde und dass Außenminister Genscher um die Auswirkungen der Diskussion um das „Schle- siertreffen“ auf die Ostpolitik gefürchtet habe.216 Die Debatte um diese Vertriebenen- veranstaltung erregte so viel Aufmerksamkeit, dass Der Spiegel dazu sogar eine Um- frage veröffentlichte. Danach sprachen sich 76 Prozent der Befragten in der Bundes- republik für die Endgültigkeit der jetzigen Oder-Neiße-Grenze aus, und 52 Prozent waren der Meinung, dass das Motto des Vertriebenentreffens „40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser“ falsch sei. 60 Prozent der Befragten glaubten, dass der Bun- deskanzler an dem „Schlesiertreffen“ teilnehmen solle.217 Sowohl Die Zeit als auch Der Spiegel machten darauf aufmerksam, dass der Bun- deskanzler sich mit seiner Teilnahme an den Vertriebenenveranstaltungen nur Scha- den zufügte. Vor allem die Zweideutigkeit seines Handelns und seiner Worte wurden heftig kritisiert: „Es gibt in der Regierung viele Meinungen darüber, was Ostpolitik ist und bezweckt; es gibt außerhalb der Regierung viele Illusionen darüber, was sie sein könnte; der Kanzler läßt Unzweideutiges vermissen und verschafft dadurch unliebsa- men, marginalen Weggefährten à la Hupka und Czaja Gehör und Gewicht. Die Ge- spenster, denen Kohl Leben gewährte – er wird sie so schnell nicht los.“218 Auf die Tatsache, dass Helmut Kohl mit seiner Zusage zum „Schlesiertreffen“ in eine schwie- rige Situation als Bundeskanzler geriet, machte auch Der Spiegel aufmerksam: „Der Schaden ist größer als ein vermeintlicher Nutzen: Entweder muß Helmut Kohl die Ostpolitik der letzten Jahre mitsamt der bestehenden Grenzen bestätigen und damit seine Gastgeber verärgern – oder die Grenzen und damit seine Außenpolitik in Frage stellen.“219 Diese beiden Zitate machen deutlich, dass die Frage nach der politischen

214 Ebenda. 215 Ebenda. 216 Vgl. „Immer noch verlogen“, in: Der Spiegel vom 4.02.1985, S. 90-92. 217 Vgl. „Schindluder mit der Friedenspolitik“, in: Der Spiegel vom 4.02.1985, S. 93-94; vgl. auch: „Lieb’ Heimatland ade“, in: Die Zeit vom 25.01.1985 (Leserbriefe). 218 SPÖRL, Beschwörung einer versunkenen Welt (wie Kap. 5, Anm. 202). 219 „Unser Rechtskampf war nicht vergebens“ (wie Kap. 5, Anm. 88), S. 30.

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Bedeutung der Vertriebenenverbände nicht nur auf die Teilnahme Helmut Kohls an den Vertriebenenveranstaltungen zurückzuführen war. Sie entstand auch aufgrund des sich schwach in der Öffentlichkeit präsentierenden Bundeskanzlers. Die Entschlos- senheit der Vertriebenenfunktionäre vor dem Hintergrund der zweideutigen Haltung des Bundeskanzlers erzeugte den Eindruck, dass die Vertriebenenverbände in den 1980er Jahren plötzlich einen Einfluss auf die Politik der Bundesregierung gewannen. Dass es sich in den 1980er Jahren nur um den Eindruck der wachsenden politi- schen Bedeutung der Vertriebenenverbände handelte, zeigt die Erinnerung Herbert Czajas an den „Tag der Heimat“ von 1984: „Beachtlich ist, daß Bundeskanzler Kohl bei den großen Kundgebungen des Bundes der Vertriebenen und der Landsmannschaften auftrat. So sprach er am 2.9.1984 auf der Kund- gebung des BdV zum Tag der Heimat in Braunschweig und am 10.11.1984 beim Treffen der ostdeutschen Landsmannschaften und Vertriebenenverbände in Bonn. Dieses wieder- holte Auftreten ist bemerkenswert. Offensichtlich wollte Kohl Vertrauen schaffen und An- hänglichkeit zeigen. Ob dies eine Vorbereitung auf Wünsche, daß wir künftig nachgeben sollten, sein sollte? Er wiederholte knapp die bekannten Rechtspositionen, die er in keiner Weise schmälerte, darunter auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1973 und 1975. Ich habe das vor ihm in Braunschweig unterstrichen und exakt ausgelegt. Aber er vermied es, die Rechtspositionen inhaltlich zu erläutern und Folgerungen daraus zu ziehen. Er meinte, diesbezüglich gebe es auch keine Unterschiede zu Genscher, was mich nicht sehr überzeugte. Andererseits werde behauptet, das Leben sei seit 40 Jahren weiter- gegangen, was auch die Vertriebenen beachten müßten. Dies war doppeldeutig.“220 In diesem Zitat macht der BdV-Präsident klar, dass er nur wenig über die politi- schen Absichten Helmut Kohls bezüglich der Oder-Neiße-Gebiete wusste. Die Aussa- gen des Bundeskanzlers waren für Czaja nicht eindeutig. Diese Textpassage zeigt, dass nicht nur den Publizisten und den Politikern in der Regierungskoalition, sondern auch den Vertriebenenfunktionären nicht ganz klar war, welche Haltung der Bundes- kanzler in Bezug auf die Vertriebenen- und Ostpolitik in Wirklichkeit repräsentierte. Dementsprechend lässt sich auch die Verunsicherung des BdV, die in seiner Selbst- darstellung zum Ausdruck kommt, nachvollziehen. Denn die Unterstützung durch den Bundeskanzler bedeutete noch lange nicht, dass die Vertriebenenverbände ihre politi- schen Ziele in Bezug auf die Oder-Neiße-Gebiete in den 1980er Jahren tatsächlich verwirklichen konnten. Dass die Vertriebenenverbände in den 1980er Jahren ihre politische Bedeutung aus den 1950er und 1960er Jahren nicht wiedergewinnen konnten, wurde unter ande- rem an Herbert Hupkas politischer Niederlage bei der Bundestagswahl von 1987 deutlich. In der Zeit wurde das als Bruch in der „ohnehin strapazierte[n] Allianz zwi- schen den Vertriebenenverbänden und der Union“ gedeutet.221 Das Blatt wies darauf hin, dass die Politik der Bundesregierung, in der die Grenzfragen nicht mehr im Mit- telpunkt standen, mit der Auffassung der Vertriebenenverbände nicht mehr vereinbar gewesen sei und vielleicht deswegen Hupka keinen sicheren Platz mehr auf der Lan-

220 CZAJA, S. 623. 221 ROLF ZUNDEL: Mehr als ein Abschied, in: Die Zeit vom 8.08.1986; vgl. auch JÖRG BI- SCHOFF: Auf die Plätze …, in: Die Zeit vom 7.03.1986.

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desliste der CDU bekommen habe.222 „Das Ende seiner [Hupkas] politischen Karriere zeigt, daß die Vertriebenen heute in der Bundesrepublik eine kraftlose Lobby gewor- den sind“, konstatierte der Zeit-Redakteur Strothmann.223 In der FAZ wies Karl Feld- meyer darauf hin, dass Herbert Hupka mit seinem politischen Scheitern „zu einem Symbol für wichtige Veränderungen – vielleicht für ein Ausscheiden der Vertriebe- nen aus der praktischen Politik der Bundesrepublik – werden könnte“224. Feldmeyer ging auch auf die kritische Reaktion des Bundes der Vertriebenen ein, dessen Vize- präsident Herbert Hupka damals war. Der BdV habe davor gewarnt, die Vertriebenen hätten in Reaktion auf Hupkas politisches Ausscheiden ihre Wählerstimmen der CDU entziehen können. Diese für die 1950er und 1960er Jahre typische Drohung mit Wäh- lerstimmen schien allerdings in den 1980er Jahren von keiner Bedeutung mehr zu sein. Denn bereits seit der Bundestagswahl von 1969 stand fest, dass das Wählerpo- tenzial der deutschen Vertriebenen überschätzt wurde. Dass die Position der Vertrie- benenpolitiker nicht nur in der SPD in den 1970er Jahren, sondern auch jetzt in der CDU schwächer wurde, lässt sich an folgender Textpassage feststellen: „Es gibt offenkundig nicht nur in der rheinischen CDU, sondern auch in Niedersachsen eine zwar nach außen hin verleugnete, aber virulente Antipathie gegen Vertriebenen- Politiker, die nicht auf Hupka beschränkt ist. Insbesondere nach dem Schlesier-Treffen im vergangenen Jahr in Hannover, mit dem von der Partei als strapaziös empfundenen Streit um das Motto des Treffens ,Schlesien bleibt unser‘, empfindet man Vertriebenenpolitiker in weiten Teilen der CDU als Belastung. Daß wichtige Teile der CDU in der Grenzfrage anders denken als die Vertriebenen und dies auch offen bekennen möchten, zeigte die Äußerung des stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden Rühe am 6. Februar vorigen Jahres vor dem Bundestag. Rühe sprach damals von der ,politischen Bindungswirkung‘ der Oder-Neiße-Grenze für einen Friedensvertrag. Der Staatsminister im Bundeskanzleramt, Vogel, beantwortete am gleichen Tage die Frage, ob er nicht auch der Meinung sei, daß man in Übereinstimmung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1975 weiterhin von ,polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten‘ sprechen dürfe, wenn es um Pommern, Schlesien oder Ostpreußen gehe, mit dem Satz: ,Ich möchte sehr deutlich sagen, daß für die Bundesrepublik Deutschland nach Abschluß des deutsch-polnischen Vertrages diese Gebiete für die Bundesrepublik Deutschland Ausland sind.‘“225 Das Interesse an den Vertriebenenverbänden war in den 1980er Jahren in erster Linie mit der Frage nach ihrem politischen Einfluss verbunden. „Wie sieht Herbert Czaja die Ostpolitik?“, fragte Gunter Hofmann in der Zeit.226 In einer anderen Aus- gabe der Wochenzeitung wurde kurz der politische Weg der Vertriebenenfunktionäre Czaja und Hupka geschildert.227 Auch Der Spiegel beschäftigte sich mit der Ge- schichte der Vertriebenenverbände und ihrem Verhältnis zu den westdeutschen Par-

222 Vgl. ZUNDEL, Mehr als ein Abschied (wie Kap. 5, Anm. 221). 223 DIETRICH STROTHMANN: Quittung, in: Die Zeit vom 25.07.1986. 224 KARL FELDMEYER: Hupkas schlichter Abschied – oder Ent-Täuschung einer politischen Allianz, in: FAZ vom 2.08.1986. 225 Ebenda. 226 GUNTER HOFMANN: Die Wunschdenker auf dem Vormarsch, in: Die Zeit vom 4.01.1985. 227 Vgl. Die Ober-Schlesier, in: Die Zeit vom 25.01.1985.

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teien.228 Das Nachrichtenmagazin befasste sich darüber hinaus mit der Frage nach der Größe der Vertriebenenverbände, mit der inbesondere in den 1960er Jahren die Frage nach der politischen Bedeutung verbunden war. Dabei machte Der Spiegel auf folgen- den Widerspruch aufmerksam: Trotz des Generationswechsels und des Aussterbens der Vertriebenen wurde die Anzahl der Verbandsmitglieder nicht geringer: „Insge- samt wird die Zahl der Mitglieder nicht etwa kleiner, sondern immer größer: 2,4 Millionen umfaßte die BdV-Kartei vergangenes Jahr, erst 2,2 Millionen waren es 1982.“229 Hierauf wurde erklärt, dass jeder ein Vertriebener werden könnte, wenn er nur das Anliegen der Vertriebenen unterstütze. Die hohe Quote der Vertriebenen er- gab sich außerdem aus dem Paragrafen 7 des Gesetzes, wonach die Kinder von ihren Eltern den Vertriebenenstatus erbten. Die steigenden Mitgliederzahlen bedeuteten, dass die Vertriebenenverbände noch lange nicht von Auflösung bedroht waren, wie ihnen oft in den 1970er Jahren prophezeit worden war. Trotzdem wurde im Spiegel darauf hingewiesen, dass die meisten Vertriebenen von den Verbänden nichts wissen wollten.230 Die Rückkehr der Vertriebenen auf die massenmediale Ebene wurde nicht nur durch die politische Unterstützung des Bundeskanzlers, sondern auch durch das Wie- deraufleben des Interesses in der Bundesrepublik an der eigenen Geschichte begüns- tigt, womit sich Theo Sommer in der Zeit ausführlich beschäftigte.231 Während in den 1960er Jahren vor allem die Oder-Neiße-Gebiete das Interesse des Fernsehens auf sich lenkten, war es Anfang der 1980er Jahren das Vertreibungsthema. Im Jahre 1981 wurde in der ARD eine dreiteilige Dokumentation unter dem Titel „Flucht und Ver- treibung“ ausgestrahlt. In der Zeit wurde sie von Helmut Schödel als „ein sehr spekta- kulärer Versuch, Zeitgeschichte zu betreiben“ bezeichnet.232 Er machte allerdings zu- gleich darauf aufmerksam, dass man, während man vom eigenen Leid spreche, die Ursachen der Vertreibung nicht ausblenden dürfe.233 Ausführlicher befasste sich mit dieser Fernsehdokumentation Heinz Janßen. Der Vorwurf, der Bayerische Rundfunk habe mit dem Film „Flucht und Vertreibung“ einen „Anti-Holocaust“ inszeniert, wur- de von Janßen als eine „dumme Unterstellung“ bezeichnet.234 Er wies darauf hin, dass über das Projekt eines Filmes über „Flucht und Vertreibung“ bereits entschieden wor- den war, bevor der Film „Holocaust“ im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die Gründe für die Entstehung der Dokumentation über den Leidensweg der deutschen Kriegs- opfer erklärte er unter anderem durch den Generationswechsel: „Jede Generation muß die Geschichte neu schreiben“, hieß es in der Zeit.235

228 Vgl. „Wir missionieren bis an die Memel“, in: Der Spiegel vom 10.06.1985, S. 34-45; „Unser Rechtskampf war nicht vergebens“ (wie Kap. 5, Anm. 88). 229 „Nach unten wird die Sprache konzilianter“, in: Der Spiegel vom 4.02.1985, S. 99. 230 Vgl. ebenda. 231 Vgl. THEO SOMMER: Der Griff nach der Vergangenheit, in: Die Zeit vom 28.12.1984. 232 HELMUT SCHÖDEL: Geschichte als Thriller, in: Die Zeit vom 23.01.1981. 233 Vgl. ebenda. 234 KARL-HEINZ JANßEN: Für das Leben gezeichnet, in: Die Zeit vom 20.02.1981. 235 Ebenda.

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Der Spiegel ging nicht nur auf die Dokumentation, sondern auch auf die damit verbundene ARD-Fernsehdiskussion ein, an der unter anderem neben den Autoren des Fernsehbeitrags der Politikwissenschaftler Hans-Adolf Jacobsen und als Vertreter des BdV sein späterer Präsident Fritz Wittmann teilnahmen.236 Diskutiert wurde unter anderem die Frage, wann die Erzählung der Vertreibungsgeschichte anzusetzen sei – eine Frage, die auch um die Jahrtausendwende bei der Debatte um das Konzept des „Zentrums gegen Vertreibungen“ immer wieder aufkam.237 Auch in der FAZ wurde die ARD-Diskussion über die Fernsehsendung thematisiert.238 Bereits Ende Januar, noch bevor der Film im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, hatte die Tageszeitung der ARD-Dokumentation und der Vertreibungsgeschichte deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet.239 Ähnlich wie Janßen in der Zeit wies auch Günther Rühle in der FAZ darauf hin, dass die Idee der Fernsehdokumentation über die Ver- treibung der Deutschen bereits vor der Ausstrahlung der „Holocaust“-Serie entstan- den sei. Rühle lobte den didaktischen Beitrag des Fernsehfilms „Flucht und Ver- treibung“ und bezeichnete ihn als einen „neuen Versuch, jenen Stoff zur Sprache zu bringen, der bisher mit viel und vielleicht auch zuviel politischer Besorgnis umgeben wurde“.240 Die 1980er Jahre stellen in doppelter Hinsicht einen Kontrast zu den 1970er Jahren dar: Während der BdV in der Zeit der sozialliberalen Koalition in der Öffent- lichkeit als politischer Akteur kaum wahrgenommen worden war, rückte er dank der öffentlichen Unterstützung des Bundeskanzlers nach dem Regierungswechsel von 1982 ins Rampenlicht der Massenmedien. Auch die ARD-Serie von 1981 verhalf dem Vertreibungsthema, auf die massenmediale Ebene zurückzukehren. Die Kontinuität zu den 1970er Jahren bestand wiederum darin, dass sich die Vertriebenenverbände auch in den 1980er Jahren erfolglos um Einfluss bemühten.

5.2.3 „Unterstützung für die revisionistischen Kräfte“ Die 1980er Jahre weisen im Hinblick auf die Thematisierung des BdV in der polnischen Berichterstattung eine starke Kontinuität zu den 1970er Jahren auf. In der Trybuna Ludu lässt sich beispielsweise keine auffallende Veränderung in der Bericht- erstattung feststellen, die nicht bereits in den 1970er Jahren zu beobachten gewesen wäre. Auch in der Polityka und dem Tygodnik Powszechny wurde über den BdV nicht mit größerer Intensität als in den 1970er Jahren berichtet, und die Thematisierung der Vertriebenenverbände in der 1982 neu gegründeten Regierungszeitung Rzeczpospoli- ta ähnelte sehr derjenigen in der Trybuna Ludu. Insofern stellen die 1980er Jahre kei- nen klaren Bruch zu den 1970er Jahren dar, wie das beispielsweise in der westdeut-

236 Vgl. WERNER PAUL: Wo waren im Jahre 1945 die Delphine?, in: Der Spiegel vom 16.02.1981, S. 65-69; das Blatt beschäftigte sich mit dem Vertreibungsthema auch ein paar Jahre später, vgl. „Noch nicht fertig? Schnell!“, in: Der Spiegel vom 10.06.1985, S. 45-50. 237 Vgl. PAUL, Wo waren im Jahre 1945 die Delphine? (wie Kap. 5, Anm. 236). 238 Vgl. Die Vertreibung, in: FAZ vom 12.02.1981. 239 Vgl. GÜNTHER RÜHLE: Die alten Wunden, in: FAZ vom 29.01.1981. 240 Ebenda.

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schen Presse der Fall ist. Vielmehr wurden die in den 1970er Jahren aufgegriffenen Themen in Bezug auf Vertreibung und Vertriebenenverbände in den 1980er Jahren fortgesetzt. Dementsprechend lassen sich nur wenige Unterschiede und deutlich mehr Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Jahrzehnten in der polnischen Bericht- erstattung beobachten. Die Parteizeitung Trybuna Ludu konzentrierte sich in den 1980er Jahren weiterhin auf die Frage nach der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände in der Bun- desrepublik und sprach ihnen einen starken politischen Einfluss zu. Auch in den 1980er Jahren berichtete sie regelmäßig über die Vertriebenenveranstaltungen und sprach in diesem Kontext beispielsweise von einer „Saison des Revisionismus“241, „revanchistischen Saison“ bzw. einer „Saison der antipolnischen Veranstaltungen“242. Immer wieder ging sie in diesem Zusammenhang auf die Kontakte der Vertriebenen- verbände mit der CDU und CSU ein. So sprach sie beispielsweise vom „christdemo- kratischen Revisionismus“, womit sie auf die gleichen politischen Ziele der Interes- sengruppen der Vertriebenen mit den beiden Parteien hinzuweisen versuchte.243 Pres- semeldungen über die politische Unterstützung der Vertriebenenverbände durch die CDU/CSU und ihre fortdauernde Finanzierung aus staatlichen Mitteln waren in den 1980er Jahren immer noch auf der Tagesordnung. Im Februar 1980 lautete z.B. eine Schlagzeile in der Parteizeitung: „CDU/CSU demonstrieren ihre Unterstützung für die revisionistischen Kräfte“244. Nur zwei Tage später kam der Bericht über die auf Millionenhöhe geschätzte Finanzierung der Vertriebenenverbände von der Staats- kasse. Dabei wurde angemerkt, dass die Zuschüsse weiterhin stiegen.245 Die auf diese Art zusammengestellten Meldungen erzeugten sehr schnell den Eindruck, dass die Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik immer noch eine starke Interessen- gruppe darstellten. Die Parteizeitung wies nicht nur auf die Unterstützung der Vertrie- benen durch die Oppositionspartei hin, sondern auch auf die des Bundespräsidenten Karl Carstens. Sie berichtete beispielsweise 1980 über dessen Gespräch mit dem BdV-Präsidium, bei dem er seine Anerkennung für die Arbeit des BdV ausgedrückt und sich bei Herbert Czaja für den Beitrag der Vertriebenenverbände bei dem Wiederaufbau der Bundesrepublik bedankt habe. Dass ein Staatsoberhaupt die BdV- Führung empfing, wurde von der Parteizeitung als ein demonstratives Zeichen seiner

241 DANIEL LULIŃSKI: Sezon rewizjonizmu [Die Saison des Revisionismus], in: Trybuna Ludu vom 9.06.1981. 242 RYSZARD DRECKI: Ruch ziomkowski w RFN. Inauguracja odwetowego sezonu [Bewegung der Landsmannschaften in der BRD. Die Inauguration der revanchistischen Saison], in: Trybuna Ludu vom 4.05.1982; DERS.: Na marginesie „Tag der Heimat“ [Am Rande des „Tages der Heimat“], in: Trybuna Ludu vom 15.09.1983. 243 DANIEL LULIŃSKI: RFN: Chadecki rewizjonizm [BRD: Christdemokratischer Revisionis- mus], in: Trybuna Ludu vom 25.03.1981. 244 CDU/CSU demonstruje poparcie dla sił rewizjonistycznych [CDU/CSU demonstriert Unterstützung für revisionistische Kräfte], in: Trybuna Ludu vom 25.02.1980. 245 Vgl. Rosną dotacje władz dla rewizjonistów w RFN [Staatliche Zuwendungen für die Revi- sionisten steigen], in: Trybuna Ludu vom 27.02.1980.

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Zustimmung für die Tätigkeit des Verbandes gedeutet.246 Ein paar Monate später berichtete die Parteizeitung über die Teilnahme des Bundespräsidenten an dem vom BdV organisierten dreißigsten Jubiläum zur Verkündung der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“. Dabei zitierte sie Karl Carstens, der auf der Vertriebenenveran- staltung den „‚historischen Beitrag‘ der Umsiedler beim Wiederaufbau der Bundesre- publik“ betont habe.247 Er habe auch seine Anerkennung für die Arbeit der Lands- mannschaften ausgedrückt und versichert, dass ihre Tätigkeit nichts mit Revanchis- mus zu tun habe. Diese Aussage vom Bundespräsidenten wurde in der Trybuna Ludu als ein Versuch gedeutet, den klaren revanchistischen Charakter der Vertriebenenver- anstaltung herunterzuspielen.248 Anhand der bisher aufgeführten Beispiele wird deutlich, dass die Trybuna Ludu den BdV auch in den 1980er Jahren als einen politisch sehr einflussreichen Verband darstellte. Eine klare Bestätigung konnte sie dafür vor allem im Jahr 1984 bekommen, als Bundeskanzler Helmut Kohl an dem vom BdV organisierten „Tag der Heimat“ teilnahm. Ähnlich wie Bundespräsident Carstens 1980 drückte auch der neue Bundes- kanzler seine Anerkennung für die Arbeit der Vertriebenenverbände aus. Seine An- wesenheit und seine Rede auf der BdV-Veranstaltung wurden von der Parteizeitung als ein offizielles Zeichen seiner Unterstützung für die Vertriebenenverbände und den „Revisionismus“ gedeutet. Ähnlich wie die westdeutsche Presse wies auch die Trybuna Ludu darauf hin, dass Kohl der erste Bundeskanzler seit 18 Jahren war, der an dem Vertriebenentreffen wieder teilgenommen habe.249 Zum „Tag der Heimat“ 1984 erschienen in der Trybuna Ludu mehrere Artikel, die darauf abzielten, Angst vor den Vertriebenenverbänden und ihrer angeblichen politischen Macht zu schüren.250 Das lässt sich daran erkennen, dass die Parteizeitung beispielsweise von den „zuneh-

246 Vgl. ebenda. 247 JULIUSZ SOLECKI: Prezydent RFN na zjeździe rewizjonistów [Der Bundespräsident auf dem Revisionistentreffen], in: Trybuna Ludu vom 23.07.1980; vgl. auch: Ansprache des Bundespräsidenten Prof. Dr. Karl Carstens, in: DOD vom 24.07.1980, S. 6-7. 248 Vgl. SOLECKI, Prezydent RFN na zjeździe rewizjonistów (wie Kap. 5, Anm. 247). 249 Vgl. Społeczeństwo polskie zaniepokojone rozwojem wydarzeń w RFN [Die polnische Ge- sellschaft ist beunruhigt über die Entwicklungen in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 8/9.09.1984. 250 Vgl. ebenda; Społeczeństwo polskie potępia rewanżystowską politykę RFN [Polnische Ge- sellschaft verurteilt die revanchistische Politik der BRD], in: Trybuna Ludu vom 10.09. 1984; JULIUSZ SOLECKI: Zapowiedź ponad dwustu rewizjonistycznych wieców [Ankündi- gung von über zweihundert revisionistischen Kundgebungen], in: Trybuna Ludu vom 10.09.1984; Aussage von Professor Czesław Pilichowski, notiert von Ryszard Altyński: Rewizjonizm w polityce RFN zagraża normalizacji stosunków z Polską [Revisionismus in der Politik der BRD gefährdert die Normalisierung der Beziehungen mit Polen], in: Trybu- na Ludu vom 11.09.1984.

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menden revisionistischen Tendenzen in der Bundesrepublik“251 sprach und über mehr als zweihundert geplante Vertriebenenveranstaltungen informierte.252 Auch die Rzeczpospolita berichtete über den „Tag der Heimat“, den sie als „eine der antipolnischsten und revanchistischsten Veranstaltungen“ in der Bundesrepublik bezeichnete.253 Der Autor des Artikels, Juliusz Solecki, wies darauf hin, dass Helmut Kohl in seinem Amt als Bundeskanzler an keiner der zum 45. Jahrestag des Kriegs- ausbruchs und des nationalsozialistischen Angriffs auf Polen organisierten Anti- Kriegsmanifestationen teilgenommen hatte, stattdessen aber zeigte er auf dem „Tag der Heimat“ in Braunschweig demonstrativ seine Unterstützung für die deutschen Vertriebenenverbände. Solecki ging auch auf die Rede des BdV-Präsidenten Czaja und des BdV-Vizepräsidenten Helmut Sauer ein. Während Czaja sich in seiner Rede für das „ununterbrochene Bestehen des Deutschen Reiches“ aussprach, habe Sauer wiederum darauf aufmerksam gemacht, dass zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Bundeskanzler an einer BdV-Veranstaltung teilgenommen und damit die Tradition Adenauers, Erhards und Kiesingers wiederbelebt habe.254 Als ein „politisches Spiel“ bezeichnete Solecki die Behauptungen des Bundeskanzlers, in der Bundesrepublik gäbe es keine „revisionistischen und revanchistischen Tendenzen“.255 Czesław Pili- chowski wiederum wies darauf hin, dass Helmut Kohl seine Rede auf dem „Tag der Heimat“ im Namen der Bundesregierung gehalten und damit bestätigt habe, dass „das Fundament der offiziellen Politik der Bundesrepublik die revisionistische und anti- polnische Staatsdoktrin“ sei.256 An den Artikeln der Rzeczpospolita lässt sich also beobachten, dass die Regierungszeitung das gleiche Ziel wie die Parteizeitung Try- buna Ludu verfolgte: Der BdV bzw. die Vertriebenenverbände im Allgemeinen wur- den in beiden Zeitungen als politisch starke Interessengruppen dargestellt. Nach dem „Tag der Heimat“ von 1984 wurde auch das „Schlesiertreffen“ von 1985 und die damit verbundene Diskussion über das Motto dieser Veranstaltung so- wohl der Rzeczpospolita als auch in der Trybuna Ludu umfangreich thematisiert.257

251 Społeczeństwo polskie zaniepokojone rozwojem wydarzeń w RFN (wie Kap. 5, Anm. 249). 252 Vgl. SOLECKI, Zapowiedź ponad dwustu rewizjonistycznych wieców (wie Kap. 5, Anm. 250). 253 DERS.: Kanclerz RFN podważa układy zawarte z państwami Europy Wschodniej [Bundes- kanzler stellt die Ostverträge in Frage], in: Rzeczpospolita vom 3.09.1984. 254 Ebenda. 255 DERS.: Gra polityczna kanclerza RFN [Politisches Spiel des Bundeskanzlers], in: Rzecz- pospolita vom 26.11.1984. 256 Rewizjonizm w polityce RFN (wie Kap. 5, Anm. 250). 257 Vgl. RYSZARD DRECKI: Znamienne spekulacje [Typische Spekulationen], in: Trybuna Ludu vom 22/23.12.1984; Rewizjoniści nasilają kampanię wymierzoną przeciwko Polsce [Revisionisten verstärken Kampagne gegen Polen], in: Trybuna Ludu vom 4.01.1985; RYSZARD DRECKI: „Nowe motto“ rewizjonistycznych treści [„Neues Motto“ revisionisti- schen Inhalts], in: Trybuna Ludu vom 23.01.1985; DERS.: Propagandowa prowokacja odwetowców [Propagandistische Provokation der Revanchisten], in: Trybuna Ludu vom 26/27.01.1985; „Die Zeit“: Koalicja Kohl – Hupka jest faktem [„Die Zeit“: Koalition Kohl – Hupka ist eine Tatsache], in: Trybuna Ludu vom 1.02.1985; RYSZARD DRECKI: Nowa

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Beide Zeitungen berichteten über die kritischen Reaktionen der westdeutschen Medien auf die Teilnahme des Bundeskanzlers am „Schlesiertreffen“.258 Die Trybuna Ludu zielte vor allem darauf ab, auf das gute Verhältnis zwischen dem Bundeskanzler und den Vertriebenenpolitikern hinzuweisen. Die Parteizeitung bezog sich beispiels- weise auf einen Artikel aus der Zeit, in dem Helmut Kohl für seine Teilnahme am „Schlesiertreffen“ scharf kritisiert wurde. Darin war die Rede von der „Koalition Kohl/Hupka“.259 Die Trybuna Ludu griff diese Aussage auf und benutzte sie zu Pro- pagandazwecken.260 Sie zitierte Die Zeit, um auf die politische Gefahr dieser „Koali- tion“ zwischen dem Bundeskanzler und den Vertriebenenfunktionären hinzuweisen. Nicht nur die Unterstützung, sondern sogar eine gewisse Anpassung Helmut Kohls an die Vertriebenenverbände wurde dagegen in der Rzeczpospolita thematisiert. Die Re- gierungszeitung berichtete über ein Treffen des CDU-Präsidiums mit der BdV-Füh- rung im Jahre 1986. Das nach dem Treffen veröffentlichte gemeinsame Kommuniqué habe laut der Rzeczpospolita deutlich gemacht, dass sich die CDU mit den politischen Ansichten des Bundes der Vertriebenen völlig identifiziere. Ein weiterer Hinweis auf die Anpassung der Christdemokraten an die Vertriebenenverbände sei die Tatsache gewesen, dass das Kommuniqué von der Terminologie und dem Interpretationsmuster der Vertriebenenverbände gekennzeichnet sei. Als Beispiel wurde die Tatsache ge- nannt, dass darin von den Oder-Neiße-Gebieten als einem deutschen Territorium die

seria odwetowych wypowiedzi [Eine neue Folge revanchistischer Äußerungen], in: Trybu- na Ludu vom 23/24.02.1985; DERS.: H. Kohl: „Pójdę do Ślązaków …“ [H. Kohl: „Ich kom- me zu den Schlesiern …“], in: Trybuna Ludu vom 7.02.1985; Dwugłos w RFN [Zwiege- spräch in der BRD], in: Rzeczpospolita vom 10.01.1985; Polityczne manewry kanclerza H. Kohla [Politisches Manöver von Bundeskanzler H. Kohl], in: Rzeczpospolita vom 19/20. 01.1985; Opozycja żąda od H. Kohla rezygnacji z udziału w zlocie [Die Opposition fordert von H. Kohl, auf seine Teilnahme an der Veranstaltung zu verzichten], in: Rzeczpospolita vom 24.01.1985; Kohl weźmie udział w zlocie rewanżystów [Kohl nimmt am Revanchis- tentreffen teil], in: Rzeczpospolita vom 16.05.1985; MARIAN PODKOWIŃSKI: H. Kohl znowu mówi o „niemieckich pozycjach prawnych“ [H. Kohl spricht wieder von „deutscher Rechtsstellung“], in: Rzeczpospolita vom 17.06.1985. 258 Vgl. JULIUSZ SOLECKI: Wykrętne, niejasne zapewnienia H. Kohla w kwestii granic [Aus- weichende, unklare Beteuerungen von H. Kohl in Grenzfragen], in: Rzeczpospolita vom 18.06.1985; MARIAN PODKOWIŃSKI: Kohl w roli statysty [Kohl in der Rolle eines Statisten], in: Rzeczpospolita vom 19.06.1985; RYSZARD DRECKI: Kanclerz RFN w odwe- towym zaułku [Bundeskanzler in revanchistischer Sackgasse.], in: Trybuna Ludu vom 28.12.1984; zur Kritik Helmut Kohls durch die Politiker vgl.: Dwulicowa polityka H. Kohla [Heuchlerische Politik von H. Kohl], in: Rzeczpospolita vom 1.03.1985; JULIUSZ SOLECKI: Opozycja żąda od H. Kohla rezygnacji z udziału w zlocie [Opposition fordert von H. Kohl, auf seine Teilnahme an der Vertriebenenveranstaltung zu verzichten], in: Rzeczpospolita vom 24.01.1985. 259 Vgl. Kapitulation, in: Die Zeit vom 25.01.1985. 260 Vgl. „Die Zeit“: Koalicja Kohl – Hupka jest faktem (wie Kap. 5, Anm. 258).

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Rede war.261 Die CDU wurde hier als eine Partei dargestellt, die durch die Vertrie- benenverbände stark beeinflusst war. In der Polityka wurde der „Tag der Heimat“ nicht wie in der Trybuna Ludu oder der Rzeczpospolita in separaten Artikeln thematisiert. Dass der Bundeskanzler seit 18 Jahren der erste war, der an dieser Vertriebenenveranstaltung eine Rede hielt, erwähn- te die kommunistische Wochenzeitung nur kurz im Kontext des vertagten Besuchs von Erich Honecker in der Bundesrepublik.262 Dafür erschien aber ein umfangreicher Artikel von Henryk Zdanowski über die Kritik der Vertriebenenverbände am polni- schen Primas Glemp, der in seiner Predigt die Existenz der deutschen Minderheit in Polen in Frage stellte.263 Dem „Schlesiertreffen“ und der Debatte um das umstrittene Motto der Veranstaltung widmete die Polityka dagegen mehr Raum. In einem um- fangreichen Artikel wurde Helmut Kohl, ähnlich wie in der Trybuna Ludu und der Rzeczpospolita, für seine Haltung gegenüber den Vertriebenenverbänden scharf kriti- siert.264 Insgesamt lässt sich sagen, dass die Vertriebenenveranstaltungen von 1984 und 1985 durch die Anwesenheit des Bundeskanzlers nicht nur in der Bundesrepu- blik, sondern auch in Polen mediale Aufmerksamkeit erregten. Diese war in der polnischen Presse allerdings unvergleichbar geringer als in der westdeutschen und wurde vor allem zu Propagandazwecken eingesetzt. Im Gegensatz zur Rzeczpospolita und zur Trybuna Ludu wurden im Tygodnik Po- wszechny weder der „Tag der Heimat“ noch das „Schlesiertreffen“ thematisiert. Dafür aber erschienen Ende Juni 1985 zwei Artikel zum Thema der Oder-Neiße-Gebiete. In einem beschäftigte sich Krzysztof Skubiszewski mit der Auslegung des Potsdamer Abkommens und der dort getroffenen Grenzregelung. In dem anderen wies Janusz Ziółkowski darauf hin, dass die Oder-Neiße-Gebiete bereits seit vierzig Jahren von den Polen bewohnt und mittlerweile zu ihrer Heimat geworden seien.265 Grundsätz- lich lässt sich in der Tygodnik Powszechny eine Kontinuität des Desinteresses an den Vertriebenenverbänden feststellen, die in den 1970er Jahren eingesetzt hatte und auch in den 1980er Jahren andauerte. Wie in den vorherigen Kapiteln dargelegt wurde, änderte sich infolge des Wandels im westdeutschen Oder-Neiße- und im Opferdiskurs auch das Argumentationsmuster des BdV. Die deutschen Vertriebenen wurden vom BdV-Präsidium immer häufiger als eine Opfergemeinschaft dargestellt. Dementsprechend ging die Trybuna Ludu bei

261 Vgl. EUGENIUSZ GUZ: CDU identyfikuje się z rewizjonistami [CDU identifiziert sich mit Revisionisten], in: Rzeczpospolita vom 9.07.1986. 262 Vgl. HENRYK ZDANOWSKI: „Gadatliwi dyletanci“ [„Geschwätzige Dilettanten“], in: Polityka vom 15.09.1984. 263 Vgl. DERS.: Biskupi i przesiedleńcy [Bischöfe und Umsiedler], in: Polityka vom 1.09.1984. 264 Vgl. DERS: Hasła, historia, odpowiedzialność [Parolen, Geschichte, Verantwortung], in: Polityka vom 9.02.1985. 265 Vgl. JANUSZ ZIÓŁKOWSKI: Przeobrażenia ludnościowe i społeczne na Ziemiach Zachod- nich [Bevölkerungs- und Gesellschaftswandel in den polnischen Westgebieten], in: Tygod- nik Powszechny vom 23.06.1985; KRZYSZTOF SKUBISZEWSKI: Granica pocztamska: Polity- ka i prawo międzynarodowe [Potsdamer Grenze: Politik und Völkerrecht], in: Tygodnik Powszechny vom 23.06.1985.

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der Thematisierung der Vertriebenenverbände immer häufiger auch auf die Proble- matik des deutschen Opferstatus ein.266 Die in der ARD ausgestrahlte Fernsehserie „Flucht und Vertreibung“ stieß auch in der kommunistischen Presse auf ein Echo. Während im Tygodnik Powszechny ein Kommentar ausblieb, bezogen sowohl die Trybuna Ludu als auch die Polityka zu dieser Produktion Stellung. Die Parteizeitung widmete sich diesem Thema und der Reaktion der westdeutschen Zuschauer in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben. Die Schlagzeile zum ersten Artikel lautete: „Die Flucht vor historischer Wahrheit“.267 Darin wies sein Autor, Janusz Moszczeński, da- rauf hin, dass der Film dem Normalisierungsprozess zwischen den sozialistischen Staaten und der Bundesrepublik schaden würde, da er Ursachen mit Folgen vermische und auf „subjektiven Halbwahrheiten“ bei der Darstellung des Geschehens basiere.268 Im zweiten Artikel ging das Parteiblatt auf die Reaktionen der westdeutschen Zu- schauer und der Vertriebenenverbände ein. Darin hieß es, dass der Film auf Kritik der Zuschauer, der westdeutschen Tageszeitungen und der Spitzenpolitiker gestoßen sei. Die Vertriebenenverbände hätten sich dagegen bei den Filmautoren bedankt und da- rauf hingewiesen, dass die ARD zum Teil „die Mauer des Schweigens um das Problem der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung“ durchbrochen habe.269 Die Try- buna Ludu hob also hier eine klare Trennung zwischen den Vertriebenen, die den Film lobten, und den „Anderen“, die den Film kritisierten, hervor. Diese Pauschalisie- rung und Polarisierung war nichts Neues und wurde ähnlich wie in den früheren Jah- ren zu Propagandazwecken benutzt, um die Vertriebenen als eine homogene Gruppe darzustellen. Um ein verhältnismäßig objektives Urteil über den Film bemühte sich Henryk Zdanowski in der Polityka.270 Der größte Unterschied zur Trybuna Ludu bestand darin, dass Zdanowski an mehreren Stellen eindeutig sagte, dass auch die Deutschen Kriegsopfer gewesen seien und dass auch sie darunter gelitten hätten: „Die Deutschen, wie jedes andere Volk auch, haben das Recht auf eine eigene Geschichte, in der es auch einen Platz für Leiden gibt. Und es ist nicht wichtig, ob es sich um ein böses oder gutes, kluges oder dummes, sanftes oder grausames Volk handelt, ob es einmal Angreifer war oder ob es angegriffen wurde, ob es Besatzer war oder besetzt wurde. In jedem Volk stecken all diese Eigenschaften – gute und schlechte; jedes Volk macht gute und schlechte Zeiten durch. Es geht aber darum, die eigene Geschichte nicht isoliert zu betrachten und sich klar über die Folgen und Ursachen zu sein, über die Bedingungen für verschiedene Ereignisse, über unterschiedliches Handeln und verschiedene Erfahrungen –

266 Vgl. RYSZARD DRECKI: Szowinistyczny wiec w Bonn [Chauvinistische Kundgebung in Bonn], in: Trybuna Ludu vom 29.04.1985; JANUSZ MOSZCZEŃSKI: Sabaty odwetowców w RFN [Sabbate der Revanchisten in der BRD], in: Trybuna Ludu vom 26.05.1980. 267 JANUSZ MOSZCZEŃSKI: Ucieczka od historycznej prawdy [Flucht vor historischer Wahr- heit], in: Trybuna Ludu vom 13.02.1981. 268 Ebenda. 269 Krytyczne oceny widzów [Kritisches Urteil der Zuschauer], in: Trybuna Ludu vom 14/15.02.1981. 270 Vgl. HENRYK ZDANOWSKI: Bez wyobraźni [Ohne Vorstellungskraft], in: Polityka vom 28.02.1981.

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auch dieser einzelnen, damit die Vorstellung über den Zusammenhang der eigenen Geschichte mit der Geschichte anderer Völker klar wird. Diese Vorstellung fehlt in der Fernsehserie.“271 In diesem Zitat fällt auf, wie sehr sich in der polnischen Presse die Herangehens- weise an die Vertreibungsgeschichte änderte. In der Polityka wurde zwar bereits in den 1970er Jahren Verständnis für das Leiden der Deutschen als Kriegsopfer ge- äußert, aber noch nicht so klar und ausführlich formuliert wie in dem Artikel von Zdanowski. Er bezeichnete den Film zwar als eine „zielgerichtete Manipulation“ und bemängelte den fehlenden Zusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen, bemühte sich aber trotz dessen – und im Gegensatz zur Trybuna Ludu – um eine mög- lichst sachorientierte Analyse der Fernsehserie.272 Dem Schicksal der deutschen Ver- triebenen, die im Film interviewt wurden, stellte er das Schicksal der Polen gegen- über. Dabei handelte es sich aber nicht um einen Vergleich, wer mehr und wer weni- ger litt, wozu die Polityka noch in den früheren Jahren und die Trybuna Ludu auch in den 1980er Jahren tendierte. Es war vielmehr eine Gegenüberstellung des Schicksals der deutschen und der polnischen Kriegsopfer. Bei all den Kontinuitäten zu den 1970er Jahren stellt der Artikel von Zdanowski einen klaren Wandel in der kommu- nistischen Berichterstattung dar. Der Film „Flucht und Vertreibung“ sowie die politi- sche Unterstützung der Vertriebenenverbände durch den Bundeskanzler führten dazu, dass das Interesse an der Vertriebenenthematik in der kommunistischen Presse auch in den 1980er Jahren zu beobachten war. Neben dem Wandel der kommunistischen Berichterstattung im Hinblick auf die Vertreibungsproblematik lässt sich in den 1980er Jahren, insbesondere in der Trybuna Ludu, eine klare Veränderung in der Wahrnehmung der polnischen öffentlichen Mei- nung feststellen: „Die polnische Gesellschaft ist beunruhigt über die Entwicklungen in der BRD“, hieß es in einer Schlagzeile der Parteizeitung vor dem Hintergrund des „Tages der Heimat“ 1984.273 Einen Tag später lautete sie: „Polnische Gesellschaft verurteilt die revanchistische Politik der BRD“274. Von der opinia polska, also von der polnischen öffentlichen Meinung, sprach die Parteizeitung auch Ende der 1970er Jahre. Im Kontext des vom BdV organisierten „Tages der Heimat“ 1978 hieß es: „Die polnische [öffentliche] Meinung spielt die Bedeutung der Tätigkeit oder – einfach gesagt – des Rumschreiens der revanchistischen Bewegung und ihrer Leader nicht hoch.“275 Indem die Parteizeitung betonte, sie gebe die Meinung der polnischen Gesellschaft bzw. der öffentlichen Meinung wieder, versuchte sie vermutlich ihr Image als Parteiorgan zu revidieren und sich als Medium im Dienst der Bürger zu zeigen. Dieser Wandel war vermutlich in erster Linie auf die Veränderungen in der polnischen Presselandschaft zurückzuführen, die auf die Existenz der Presse des

271 Ebenda. 272 Ebenda. 273 Społeczeństwo polskie zaniepokojone rozwojem wydarzeń w RFN (wie Kap. 5, Anm. 249). 274 Społeczeństwo polskie potępia rewanżystowską politykę RFN (wie Kap. 5, Anm. 250). 275 RYSZARD DRECKI: Siły złej woli [Kräfte des bösen Willens], in: Trybuna Ludu vom 13.09. 1978.

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„zweiten Umlaufs“ zurückzuführen waren. Die von der polnischen Oppositionsbewe- gung geforderte Meinungsfreiheit und der Meinungspluralismus scheinen in der Be- richterstattung von der Trybuna Ludu in Bezug auf die Wortwahl Spuren hinterlassen zu haben. Der von der polnischen Oppositionsbewegung betonte Anspruch auf Meinungs- freiheit scheint sich auch auf die Thematisierung des BdV in der Trybuna Ludu aus- gewirkt zu haben. In der Rzeczpospolita wurde der Bund der Vertriebenen meistens unter seinem richtigen Namen erwähnt, die Bezeichnung der Vertriebenen als „Um- siedler“ blieb allerdings noch erhalten.276 In der Trybuna Ludu wurde der Verband in den 1980er Jahren fast immer unter seinem richtigen Namen angeführt, wobei dieser noch häufig in Anführungsstriche gesetzt wurde.277 In der Polityka tauchte das Wort „Vertreibung“ sogar ohne Anführungsstriche auf.278 An dieser Entwicklung lässt sich also bemerken, wie entscheidend die Zäsur von 1970 und die Entstehung polnischer Oppositionsbewegungen mit ihren Forderungen nach Meinungsfreiheit für die lang- same Enttabuisierung des Vertreibungsthemas und des Namens „Bund der Vertriebe- nen“ in der kommunistischen Presse war.

276 Vgl. JULIUSZ SOLECKI: Kanclerz RFN podważa układy zawarte z państwami Europy Wschodniej [Bundeskanzler stellt die Ostverträge in Frage], in: Rzeczpospolita vom 3.09.1984; Kiloński sabat rewizjonistów [Kölner Sabbat der Revisionisten], in: Rzeczpos- polita vom 9/10.03.1985; J. RASAŁA: Rewizjoniści wciąż aktywni [Revisionisten immer noch aktiv], in: Rzeczpospolita vom 5.09.1985; EUGENIUSZ GUZ: CDU identyfikuje się z rewizjonistami [CDU identifiziert sich mit Revisionisten], in: Rzeczpospolita vom 9.07.1986; 277 Vgl. Rosną dotacje władz dla rewizjonistów w RFN (wie Kap. 5, Anm. 245); Prezydent na zjeździe rewizjonistów [Bundespräsident auf dem Vertriebenentreffen], in: Trybuna Ludu vom 23.07.1980; Rewizjoniści – posłami w Bundestagu [Revisionisten – als Abgeordnete im Bundestag], in: Trybuna Ludu vom 14.10.1980; DRECKI, Ruch ziomkowski w RFN (wie Kap. 5, Anm. 242); „Die Zeit“: Koalicja Kohl – Hupka jest faktem (wie Kap. 5, Anm. 257); Nauka odwetowych roszczeń [Lehre über revisionistische Ansprüche], in: Trybuna Ludu vom 8.04.1980; DRECKI, Szowinistyczny wiec w Bonn (wie Kap. 5, Anm. 266); DANIEL LULIŃSKI: Problem rewizjonizmu granicznego, a nie tylko Hupki [Das Problem des Grenzrevisionismus und nicht nur des von Hupka], in: Trybuna Ludu vom 9.07.1986; DERS.: Zła pogoda na rewizjonistycznych mapach [Schlechtes Wetter auf den revisionisti- schen Landkarten], in: Trybuna Ludu vom 22.11.1988; DERS.: „Prawo do stron ojczy- stych“... w Polsce [„Recht auf Heimat“… in Polen], in: Trybuna Ludu vom 26.05.1989. 278 Vgl. HENRYK ZDANOWSKI: Bez wyobraźni [Ohne Vorstellungskraft], in: Polityka vom 28.02.1981.

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6 Dritte Phase: 1990-2004

6.1 Der Bund der Vertriebenen bis 1998

6.1.1 „Wahrheitsgetreue“ Geschichtsvermittlung Die Jahre 1989 und 1990 stellten sowohl in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Geschichte Polens eine tiefe Zäsur dar. Der Zusammen- bruch des Kommunismus brachte den Polen die Befreiung von dem sozialistischen System sowie die Einführung der Demokratie und der Meinungsfreiheit. Die deutsche Bevölkerung feierte den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung der beiden deut- schen Staaten. Mit der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrags am 14. November 1990 und der darin enthaltenen Erklärung zur endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnischer Staatsgrenze wurde ein neues Kapitel in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen aufgeschlagen. Bei den Vertriebe- nenverbänden sorgte diese Anerkennung für Verbitterung und Enttäuschung, da die von ihnen lange geforderte Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 nicht stattfand.1 Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Linie vor den Vertriebenen auf einer Gedenkfeier des BdV zum 40. Jah- restag der Verkündung der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“. Seine Rede wurde von Pfiffen und Zwischenrufen unterbrochen.2 Wie schwer es dem BdV-Präsi- denten Czaja fiel, sich mit der Grenzanerkennung abzufinden, brachte er in seinem Artikel im DOD zum Ausdruck. Darin behauptete er immer noch, die deutsche Frage sei noch offen. Den Grenzvertrag mit Polen hielt er für rechtswidrig und „mehr als brüchig“.3 Nach Ansgar Graw seien die Vertriebenen weniger über die Anerkennung des Verlusts der ehemaligen deutschen Ostgebiete als solche enttäuscht gewesen, als vielmehr über die ihnen gegenüber gezeigte mangelnde Sensibilität im Lande: Die Massenmedien hätten beispielsweise die Wiedervereinigung als Durchbruch und Er- folg gefeiert, ohne Rücksicht auf die Gefühle der deutschen Vertriebenen und deren

1 Vgl. HARTMUT KOSCHYK: Die Vertriebenen empfinden Freude und Trauer, in: DOD vom 5.10.1990, S. 1; HERBERT CZAJA: Auch Tag der Trauer und des Widerspruchs, in: DOD vom 31.08.1990, S. 1-2. 2 Vgl. HORST EGON REHNERT: Die Vertriebenen – Botschafter der Aussöhnung!, in: DOD vom 10.08.1990, S. 1-2. 3 HERBERT CZAJA: Wieder nichts Endgültiges, in: DOD vom 16.11.1990, S. 3.

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„Sonderopfer“ zu nehmen.4 Ähnlich wie Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre beklagte sich der BdV auch jetzt über die Diskriminierung der Vertriebenenver- bände in der Öffentlichkeit. Der BdV-Pressesprecher Horst Egon Rehnert sprach 1990 von einer „Hetzkampagne vor allem sogenannter linker Kreise gegen den BdV“ und meinte damit unter anderem den Zentralverband der Mittel- und Ostdeutschen (ZMO) sowie das Nachrichtenmagazin Spiegel und die Wochenzeitung Die Zeit.5 Das Ziel dieser Kampagne sei seiner Meinung nach „die Ausgrenzung des BdV vom Ver- ständigungsprozeß zwischen Deutschland und Polen“6. Scharfe Kritik übte auch Her- bert Hupka an den Massenmedien, indem er 1991 sagte: „Erklärungen des Bundes der Vertriebenen und der Landsmannschaften findet man in un- seren Medien überhaupt nicht mehr, oder es sind glückliche Zufälle, daß doch noch eine Meldung zu finden ist. Wenn aber schon irgendetwas zu berichten wäre, dann das Nega- tive: politisch nicht ernst zu nehmen, Folkloregruppen zur Pflege des Brauchtums, rechts- radikal verdächtig, nationalistische Aufputscher der Deutschen in der Heimat. [...] Das heißt, es wird systematisch (wer steckt da alles dahinter, gibt es eine Sprachregelung, die es in einer Demokratie aber gar nicht geben darf?) eine zweite Vertreibung der Vertriebenen angestrebt. Zuerst hat man Millionen Deutsche aus der Heimat vertrieben, und jetzt sollen die Vertriebenen aus dem allgemeinen Bewußtsein vertrieben werden. Die konsequent praktizierte Ausradierung des Begriffes Ostdeutschland und dessen Verwendung für Mit- teldeutschland sind Teil des hier zu registrierenden Prozesses. Selbstverständlich darf um des Rechtes willen kein neues Unrecht begangen werden, aber die Vertreibung bleibt ein Verbrechen, das genau so wenig wie der Mord verjährt. Warum dann aber eine Vertreibung der Vertriebenen?“7 Signifikant an diesem Zitat ist der Vergleich der geringen und angeblich negativen Berichterstattung über die deutschen Vertriebenen mit einer Vertreibung. Hiermit wies Herbert Hupka auf den doppelten Opferstatus der deutschen Vertriebenenver- bände hin: Zunächst mussten sie ihre Heimat infolge der Grenzverschiebung zwi- schen Deutschland und Polen verlassen, nun wurde ihr Opferstatus durch die endgül- tige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesregierung und die damit verbundene Begriffsverschiebung gefestigt. Hupka richtete hier seine Aufmerksam- keit auch auf den großen Einfluss der Medien, den sie auf die öffentliche Wahrneh- mung der Vertriebenenverbände hatten. Das Verschwinden der Vertriebenenthemen von der massenmedialen Ebene setzte er gleich mit dem Verschwinden der Vertriebe- nen aus dem Bewusstsein der Bevölkerung. Die negative Berichterstattung über die Vertriebenenverbände sorgte wiederum für die negative Wahrnehmung ihrer Arbeit in der Gesellschaft. Hier kommt der theoretische Ansatz zur Funktion der Massenme- dien deutlich zum Ausdruck, wonach sie über den Eingang bestimmter Themen in

4 Vgl. GRAW, S. 41. 5 HORST EGON REHNERT: Kesseltreiben gegen den BdV. Eine Kampagne der Lügen!, in: DOD vom 14.12.1990, S. 1. 6 Ebenda. 7 HERBERT HUPKA: Eine zweite Vertreibung. Die Vertriebenen in der deutschen Öffentlich- keit, in: DOD vom 13.12.1991, S. 1; vgl. auch HORST EGON REHNERT: Liebe Freunde in Oberschlesien!, in: DOD vom 25.01.1991, S. 3.

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den öffentlichen Diskurs entscheiden.8 Hinter der in der oben zitierten Textpassage ausgedrückten Sorge Herbert Hupkas über das mangelnde Interesse der Medien an den Vertriebenenverbänden steckte zum großen Teil die Angst vor der Isolierung von dem öffentlichen Opferdiskurs, auf den der BdV Einfluss nehmen wollte. Während der BdV seit den 1960er Jahren in erster Linie von der Diskriminierung, Isolation und Marginalisierung der Vertriebenen in der Öffentlichkeit sprach, war die Rede von der „Vertreibung“ aus der Öffentlichkeit in seinem Argumentationsmuster neu. Nicht nur Herbert Hupka, sondern auch BdV-Präsident Fritz Wittmann beklagte sich 1994 dar- über, dass das öffentliche Bild des BdV und seiner Arbeit meistens „ein Zerrbild“ sei.9 All diese Vorwürfe scheinen vor allem die Reaktion auf die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gewesen zu sein, denn über den Verband wurde bisher nur in die- sem Kontext berichtet. Die endgültige Grenzanerkennung bedeutete, dass damit der alte Hintergrund verschwunden war, vor dem die Vertriebenenverbände in der west- deutschen Öffentlichkeit thematisiert werden konnten. Das hatte natürlich zur Folge, dass auch das mediale Interesse an den Vertriebenenverbänden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nachließ. Nicht nur über sein Medienbild war der BdV enttäuscht, sondern auch über den Umgang der Politiker mit der Vertriebenenproblematik. Der Dachverband befand sich 1990, ähnlich wie 1970, in einer Protestphase gegen die Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze und fühlte sich hierbei wie auch 20 Jahre zuvor allein gelassen. Er kehrte wieder zu seiner alten Kampfrhetorik zurück, indem er beispielsweise die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ein „Grenzanerkennungsdiktat durch Polen“ nannte und „eine ersatzlose Preisgabe der deutschen Ostgebiete“ strikt ablehnte.10 Seine Enttäuschung über die Haltung der Politiker und die Berichterstattung in den Massenmedien äußerte Herbert Czaja auf der Bundesversammlung des BdV, indem er sagte: „Sehr viele Politiker, auch beachtliche Teile der Bevölkerung – jedoch geringere Teile als bei Abgeordneten und Regierungsmitgliedern –, begannen uns, zusammen mit den Medien, im Stich zu lassen. Man neigte dazu, schwierigen Verhandlungen über Ostdeutschland aus- zuweichen, unsere Heimat rasch und total preiszugeben; 800 Jahre Geschichte fanden kaum Erwähnung. Ebensowenig der Umstand, daß es ,nur‘ um über 100 000 Quadratkilo- meter jenes Deutschlands der Weimarer Republik mit alten deutschen Provinzen geht, das der Versailler Vertrag, nach Abtrennung von damals nur 50 000 Quadratkilometern, übrig gelassen hat; also Deutschland in den Grenzen von 1937 und Memel ohne jeden Erobe- rungsgewinn.“11

8 Vgl. Kapitel 2.1 in dieser Arbeit. 9 WALTER STRATMANN: Historische Chance nutzen – Unrechtsfolgen der Vertreibung jetzt bewältigen, in: DOD vom 7.10.1994, S. 2. 10 MANFRED RIEDL: BdV lehnt Grenzanerkennungsdiktat durch Polen ab, in: DOD vom 9.03.1990, S. 3. 11 Zitiert nach: Keine Preisgabe Ostdeutschlands. Czaja mit großer Mehrheit wieder BdV- Präsident, in: DOD vom 22.06.1990, S. 9.

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Da die politische Tätigkeit des BdV jahrelang in erster Linie auf den Oder-Neiße- Konflikt ausgerichtet war, entstand 1990 die Frage nach der Zukunft des Verbandes. BdV-Generalsekretär Koschyk versuchte, die weitere Arbeit des Dachverbandes von dem Ausgang der Verhandlungen um die Oder-Neiße-Grenze abzukoppeln. Er gab zu, dass der Kampf gegen die Grenzanerkennung für den Verband eine zentrale Auf- gabe darstellte, warnte aber davor, diese als das einzige Ziel des BdV zu sehen: „Der Bund der Vertriebenen als Gesamtverband ist entschlossen, alle politischen und recht- lichen Möglichkeiten zu nutzen, um eine ersatzlose Preisgabe der Heimat von Millionen Ostdeutschen und einem Drittel Deutschlands zu verhindern. Die Konzentration des BdV auf die Oder-Neiße-Frage darf jedoch nicht dazu führen, daß man innerhalb und außerhalb des BdV dessen Arbeit nur auf dieses Thema reduziert und auch die Zukunft des BdV vom Ausgang dieser Auseinandersetzung abhängig macht.“12 In diesem Zitat versucht Koschyk auf die weitere Bedeutung der Verbandsarbeit hinzuweisen, auch wenn der BdV den jahrelang geführten Kampf um die Oder-Neiße- Gebiete verlieren würde. Ähnlich wie nach der Ratifizierung der Ostverträge 1972 bemühten sich die BdV-Funktionäre auch jetzt darum, die Notwendigkeit der weite- ren Existenz des Dachverbandes zu betonen. „Der Bund der Vertriebenen hat auch im Jahr 1993 nicht an Bedeutung verloren“, hieß es im DOD 1993.13 Bereits ein Jahr zu- vor hatte Herbert Czaja erklärt, dass der BdV seine Arbeit nicht auf Traditionspflege beschränken, sondern als „Mitgestalter der Ostpolitik“ weiterhin aktiv sein wolle.14 Der BdV wollte beispielsweise in der Aussiedlerpolitik mitwirken und sich für die Interessen und Rechte der in den ehemaligen Ostblockstaaten lebenden deutschen Minderheit einsetzen. Auch die Vertriebenen in den neuen Bundesländern wollte der Verband stärker unterstützen.15 Darüber hinaus sollte er zum Interessenvertreter für die deutschen Vertriebenen in Bezug auf ihre Eigentumsrechte werden.16 Ähnlich wie zum ersten Mal in den 1970er Jahren sah Herbert Czaja im BdV auch Anfang der 1990er Jahre einen „‚Mahner und Ratgeber‘ für unser ganzes Volk“.17 Mit der politischen Zäsur von 1989/90, d.h. dem Zusammenbruch des Kommu- nismus in Polen und der Wiedervereinigung Deutschlands, entstand für den BdV eine völlig neue Situation: Der politische Kampf zwischen dem Ostblock und den west- lichen Staaten ging zu Ende. In den deutsch-polnischen Beziehungen setzte die Phase der Versöhnungsarbeit ein. Auf einer Vertriebenenkundgebung erklärte BdV-General- sekretär Koschyk die Bereitschaft der deutschen Vertriebenen zu einem „ehrlichen und offenen Dialog mit dem polnischen Volk“.18 Er wies auch auf die Notwendigkeit

12 HARTMUT KOSCHYK: Unsere Aufgaben haben Zukunft, in: DOD vom 30.03.1990, S. 1. 13 Unsere Aufgaben 1993, in: DOD vom 29.01.1993, S. 1. 14 Zitiert nach FRITZ THOMA: In Geschlossenheit für Heimat und Recht. BdV-Mitarbeiter- kongreß 1992 in Braunschweig, in: DOD vom 13.11.1992, S. 1. 15 Vgl. Unsere Aufgaben 1993 (wie Kap. 6, Anm. 13). 16 Vgl. KOSCHYK, Unsere Aufgaben haben Zukunft (wie Kap. 6, Anm. 12). 17 THOMA, In Geschlossenheit für Heimat und Recht (wie Kap. 6, Anm. 14), S. 1. 18 Zitiert nach HARTMUT KOSCHYK: In Warschau ist ein Umdenken notwendig, in: DOD vom 4.05.1990, S. 3.

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des Umdenkens und eines Neuanfangs in den deutsch-polnischen Beziehungen hin.19 Koschyk zufolge sollte sich der BdV in der Verständigungsarbeit zwischen der Bun- desrepublik und ihren östlichen Nachbarn engagieren: „Kaum jemand unter den Deutschen kennt die Geschichte und Kultur unserer östlichen Nachbarn sowie deren Denken und Fühlen besser als die deutschen Vertriebenen und ihre in diesem Zusammenhang oftmals nicht weniger engagierten Nachkommen. Ihre Stimme und ihr Rat werden für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zu unseren Nachbarn im Osten unverzichtbar bleiben.“20 Auch Bundeskanzler Helmut Kohl hielt es für wichtig, die deutschen Vertriebenen in die deutsch-polnische Versöhnungsarbeit miteinzubeziehen. In seiner Regierungs- erklärung 1991 sagte er: „Wir wollen unsere Heimatvertriebenen in das Werk der Versöhnung einbeziehen. Sie ha- ben entscheidend zum Aufbau unseres freiheitlichen Gemeinwesens beigetragen. Sie haben sich bereits vor 40 Jahren in ihrer Stuttgarter Charta zum Gewaltverzicht bekannt und den Weg zur größeren Einheit Europas gewiesen. Sie verdienen deshalb unseren besonderen Dank und auch unsere Solidarität. Die Bundesregierung wird ihnen und ihren Organisatio- nen ein fairer und verständnisvoller Gesprächspartner sein und bleiben.“21 Nicht nur Helmut Kohl, sondern auch der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolf- gang Schäuble sah laut des DOD im Jahr 1992 in den deutschen Vertriebenen „Bot- schafter der Versöhnung“.22 Während der BdV nach der Grenzanerkennung von 1970 in seiner politischen Tätigkeit durch die mangelnde Unterstützung der sozialliberalen Regierung eingeschränkt war, pflegte er ähnlich wie in den 1980er Jahren gute Kon- takte zu der Bundesregierung und dem Bundeskanzler. Es kam immer noch zu Ge- sprächen zwischen Helmut Kohl und dem BdV-Präsidium, in denen der Bundes- kanzler seine politische Unterstützung für den Verband bekräftigte. Das tat er bei- spielsweise in einem Gespräch im Jahre 1994.23 In der Berichterstattung des DOD hieß es, dass die Diskussion mit dem Bundeskanzler von Aufgeschlossenheit gekenn- zeichnet gewesen und „in einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens“ verlaufen sei.24 Der Bundeskanzler habe dem BdV-Präsidium zugesagt, die Arbeit des Dachver- bandes weiterhin zu fördern.25 Nach der Grenzanerkennung sah BdV-Präsident Herbert Czaja, ähnlich wie 1970 bzw. 1972, noch lange keinen Grund dafür, den Dachverband aus der Politik zurück- zuziehen. In seinem Artikel im DOD unter dem Titel „Auf dem Weg in die Ungewiß- heit“ äußerte Czaja seine Vorstellung über die Zukunft des BdV und rief die Ver-

19 Vgl. ebenda. 20 KOSCHYK, Unsere Aufgaben haben Zukunft (wie Kap. 6, Anm. 12), S. 1. 21 Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl vom 30. Januar 1991, in: Die gro- ßen Regierungserklärungen, S. 341-369, hier S. 367; vgl. auch REHNERT, Die Vertriebenen – Botschafter der Aussöhnung (wie Kap. 6, Anm. 2). 22 FRITZ THOMA: Vertriebene als Botschafter der Versöhnung, in: DOD vom 11.09.1992, S. 2. 23 Vgl. BdV-Präsidium bei Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, in: DOD vom 18.02.1994, S. 2. 24 Ebenda, S. 2. 25 Vgl. ebenda.

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bandsmitglieder, ähnlich wie Anfang der 1970er Jahre, zu Geschlossenheit und Dis- ziplin auf: „Mein sorgenvoller Wunsch ist ein standfestes, politisch klares, der Geschichte verpflich- tetes, aber nicht an Äußerlichkeiten der Tradition und nur musealen Tendenzen hängendes, sondern auf Grundsatzpositionen und Details zu ihrer Realisierung ausgerichtetes Präsi- dium. Die Delegierten werden sorgfältig prüfen müssen. Wankelmut, Anpasserei, Funktio- närsdünkel sollten wegbleiben, es ist auch nicht Platz für praxisferne Ideologie, kein Raum für Karriereabsicherung, Hin- und Herpendeln und zu wenig zupackende und verläßliche Seniorenweisheit. Es sollten möglichst verschiedene politische Meinungen vertreten sein, nicht nur politisch abseits stehende; alle müssen aber zuverlässig auf dem Boden unserer Satzung stehen und Verbandsentscheidungen unabhängig von Parteieinflüssen mutig zu vertreten versuchen.“26 Diesen Wunsch äußerte Herbert Czaja als er bereits wusste, dass er sich zur nächs- ten BdV-Präsidentschaftswahl nicht mehr stellen würde. Zu seinem Nachfolger wurde 1994 der CSU-Abgeordnete Fritz Wittmann gewählt, der die Verbandspolitik Czajas fortsetzte. An dieser Stelle muss ein kurzer Exkurs zu dem Konflikt an der Spitze des BdV Anfang der 1990er Jahre eingeschoben werden. Dieser spielte sich zwischen BdV-Präsident Czaja und BdV-Generalsekretär Koschyk ab: Während Czaja im Hinblick auf die Problematik der Oder-Neiße-Grenze immer noch die seit zwanzig Jahren fast unveränderten Ansichten vertrat, blickte der CSU-Abgeordnete und Ver- treter einer jüngeren Generation der Vertriebenenfunktionäre Koschyk vielmehr in die Zukunft und war gegenüber einer Versöhnungsarbeit mit Polen aufgeschlossener. Koschyk stimmte zwar gegen den Grenzvertrag, doch für den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag.27 Czaja behauptete weiterhin bis Ende 1992, in Polen würden die Rechte der deutschen Minderheit verletzt, doch Koschyk stimmte ihm darin nicht zu.28 Im Jahre 1990 forderte er die Ablösung Czajas aus dem Amt des BdV-Präsiden- ten und verlangte vorgezogene Neuwahlen des Präsidiums.29 Doch war es zuletzt Koschyk, der infolge der Rivalitäten an der Spitze des Verbandes seinen Rücktritt als BdV-Generalsekretär ankündigte.30 Czaja wurde 1992 mit einer Zwei-Drittel-Mehr- heit als BdV-Präsident wiedergewählt.31 Unter der Führung des neuen BdV-Präsidenten Fritz Wittmann wurde die Ver- bandspolitik Czajas fortgesetzt. Auch Wittmann war der Meinung, dass der Dachver- band in der Politik aktiv bleiben sollte, und bekräftigte das auf einer Klausurtagung des BdV 1997:

26 HERBERT CZAJA: Auf dem Weg in die Ungewißheit, in: DOD vom 23.12.1993, S. 3. 27 Vgl. Die Abstimmung über die Polen-Verträge, in: DOD vom 25.10.1991, S. 1; vgl. auch OCIEPKA, S. 206. 28 Vgl. ebenda, S. 220. 29 Vgl. MICHAEL LEH: Die Position des BdV ist nicht bequem, in: DOD vom 6.09.1991, S. 1- 2. 30 Vgl. Offener Brief von BdV-Vizepräsident Rudolf Wollner an Hartmut Koschyk, in: DOD vom 5.07.1991, S. 2. 31 Vgl. Einmütig in Grundlage und Zielen, in: DOD vom 26.06.1992, S. 1-2.

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„Der Bund der Vertriebenen mit seinen Mitgliedsverbänden war, ist und bleibt ein politi- scher Verband mit politischen Anliegen. Wäre es nicht so, dann hätten jene recht, die uns am liebsten in einer nur folkloristischen Ecke sähen, und dann wäre diese Tagung nicht notwendig. Der politische Gestaltungsanspruch wird aber von uns nicht aufgegeben, er bleibt bestehen, bis die Folgen der völkerrechtswidrigen Vertreibung endlich angepackt und aufgearbeitet werden.“32 An diesem Zitat kommt deutlich zum Ausdruck, dass Wittmann, ähnlich wie Czaja, die Verbandsarbeit nicht auf Traditionspflege beschränken wollte. Bereits 1994 versicherte er, dass er die Namensänderung des BdV für „überflüssig und schädlich“ hielt.33 Er bediente sich der gleichen Argumentation wie Herbert Czaja in den 1980er Jahren, indem er den Namen des BdV beibehalten wollte, bis die Folgen von Flucht und Vertreibung „einigermaßen gerecht aufgearbeitet und geregelt“ sei- en.34 Auch Hartmut Koschyk ging auf die eventuelle Namensänderung für den BdV bereits 1990 ein. Ähnlich wie Czaja war er der Meinung, dass der Name des Verban- des an die Vertreibung der Deutschen erinnerte und deswegen nicht geändert werden sollte.35 Sowohl Czaja als auch Koschyk und Wittmann waren sich also einig, dass es sich beim Namen „Bund der Vertriebenen“ nicht nur um einen einfachen Namen han- delte, sondern fast um einen Begriff, mit dem auch Erinnerungsarbeit geleistet wurde. Die Erinnerungsaufgabe sollte er aber nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit seinen Veranstaltungen erfüllen. Am „Tag der Heimat“ 1994 forderten laut DOD alle Redner von den „Vertreiberstaaten“, sich für die Vertreibung zu entschuldigen.36 Ein Jahr später organisierte der BdV den „Tag der Heimat“ unter dem Motto „50 Jahre Flucht, Deportation und Vertreibung – Unrecht bleibt Unrecht“37, womit er die Öffentlichkeit auf die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg auf- merksam machen wollte. Im gleichen Jahr erschien im DOD ein Artikel, in dem Al- fred Theisen Polen und Tschechien zu einem offenen Dialog aufrief und von den bei- den Ländern einen Zugang zu Archivmaterialien zum Zweck der Erforschung der Vertreibungsgeschichte forderte.38 Die Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte wurde vom BdV seit Mitte der 1990er Jahre immer häufiger gefordert. Im Aufruf zum „Tag der Heimat“ 1996 wies der BdV-Präsident Wittmann auf die Bedeutung der Erinnerung an die Vertreibung hin:

32 Zitiert nach WALTER STRATMANN: BdV hält an politischem Gestaltungsanspruch fest, in: DOD vom 16.05.1997, S. 2. 33 FRITZ WITTMANN: Aufgaben und Ziele des Bundes der Vertriebenen, in: DOD vom 20.05.1994, S. 1. 34 Ebenda. 35 Vgl. KOSCHYK, Unsere Aufgaben haben Zukunft (wie Kap. 6, Anm. 12). 36 Vertreiberstaaten sollen sich für Verbrechen an Deutschen entschuldigen, in: DOD vom 9.09.1994, S. 1. 37 FRITZ WITTMANN: Aufruf zum Tag der Heimat 1995. „50 Jahre Flucht, Deportation und Vertreibung – Unrecht bleibt Unrecht“, in: DOD vom 25.08.1995, S. 1. 38 Vgl. ALFRED THEISEN: 1945 bis 1995: 50 Jahre Vertreibung, in: DOD vom 6.01.1995, S. 1- 2.

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„Der ,Tag der Heimat‘ soll in jedem Jahr die Weltöffentlichkeit daran erinnern, daß die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen aus dem Osten Deutschlands, aus Ost- und Süd- osteuropa eines der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit war. Wir gedenken der Millionen Deutschen, die dabei auf grausamste Weise umgekommen sind. Ihr Schicksal ist uns Erinnerung und Mahnung zugleich. [...] Die Vertreiberstaaten müssen sich endlich zu ihrer Verantwortung für die Vertreibung der Deutschen und die dabei begangenen Verbre- chen bekennen. Ansätze dazu sind zwar vorhanden. Sie reichen aber noch nicht aus. Wir fordern ein klares Bekenntnis zum begangenen Unrecht. Versöhnung kann nur auf dem Boden der geschichtlichen Wahrheit stattfinden.“39 An diesem Zitat lässt sich eine Kontinuität zu den 1970er Jahren beobachten, als der BdV sich als „Mahner“ bezeichnete und „Wache“ über den Vertreibungsbegriff sowie über die öffentliche Thematisierung der Vertreibung halten wollte. Stärker denn je zuvor trat der BdV in den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit mit der Forde- rung auf, die Vertreibung als Unrecht und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen. Die 1990er Jahre stellten sich für ihn ähnlich wie die 1970er Jahre als eine Zeit des Kampfes um Begriffe und um Enttabuisierung des Vertreibungsthemas dar. Das brachte Wittmann besonders stark im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Wir müssen darauf achten, daß unsere Geschichte wahrheitsgetreu vermittelt wird. Ver- drehungen und Verfälschungen sind dabei seit längerem an der Tagesordnung. Die Ver- wendung des Begriffs ,Ostdeutschland‘ für den Raum Mitteldeutschland ist eines der deut- lichsten Beispiele. Durch diese Begriffsverschiebung werden die Ostdeutschen zum zwei- ten Mal vertrieben, diesmal aber von ihren eigenen Landsleuten. Die deutschen Heimat- vertriebenen werden sich jedem Versuch widersetzen, die eigene Geschichte zu verfäl- schen, zu verharmlosen oder zu verschweigen.“40 Die für die 1970er Jahre zentrale Rolle des BdV als ein „Wächteramt“ kehrte in den 1990er Jahren insofern zurück, als sich der Verband auch jetzt als die einzige Instanz betrachtete, die die Geschichte der Vertreibung ohne Verfälschungen erzählen bzw. vermitteln konnte. Ähnlich wie Hupka 1991 sprach Wittmann 1996 erneut von einer zweiten Vertreibung der Deutschen. Während Hupka seine Kritik vor allem an die Massenmedien richtete, sprach Wittmann von den Vertriebenen als Opfern der eigenen Landsleute. Über die Isolierungstendenzen in der westdeutschen Gesellschaft beklagte sich der BdV zwar immer besonders stark in den 1960er Jahren, aber der Vergleich mit der Vertreibung kam zum ersten Mal in den 1990er Jahren vor. Ähnlich wie Herbert Hupka in den 1970er und 1980er Jahren auf die Begriffsverschiebung in Bezug auf Deutschland hinwies, bekräftigte das BdV-Präsident Wittmann auch in den 1990er Jahren und zudem in Bezug auf die Erinnerung an die Vertreibung. Ähnlich wie Hupka setzte er das Verschwinden bestimmter Begriffe aus dem Sprachgebrauch mit dem Vergessen bzw. mit dem Verschweigen bestimmter Geschichtsbilder gleich. An den letzten beiden Zitaten von Wittmann kann man erkennen, dass der BdV-Prä- sident den Opferstatus der deutschen Vertriebenen besonders stark betonen wollte:

39 FRITZ WITTMANN: Heimat ist unser Auftrag. Gerechtigkeit ist unser Ziel, in: DOD vom 30.08.1996, S. 1. 40 Ebenda, S. 2.

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Nicht nur die Polen, Tschechen oder Russen hatten ihren Anteil an der Vertreibung der Deutschen, sondern auch das eigene Volk, von dem sich die Vertriebenenver- bände zum zweiten Mal vertrieben fühlten. Einen Wendepunkt in der Verbandsgeschichte des BdV stellte die Wahl von Erika Steinbach zur neuen BdV-Präsidentin im Jahre 1998 dar. Mit ihrer Idee, ein Zentrum gegen Vertreibungen zu errichten, verschaffte sie dem BdV die stärkste Publizität in der Bundesrepublik und in Polen, die der Verband jemals hatte. Die langjährigen For- derungen des BdV-Präsidiums nach Wahrheit, Enttabuisierung und öffentlicher Aner- kennung des Opferstatus der deutschen Vertriebenen schien sie in ihrem Projekt an der Jahrtausendwende verwirklichen zu wollen. Der Zeitraum zwischen 1990 und 1998 stellte ähnlich wie Anfang der 1970er Jahre eine Phase der Selbstorientierung für den Verband unter neuen politischen Umständen dar. Der Unterschied lag aber darin, dass die Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte viel stärker als früher in den Mittelpunkt des Aufgabenbereichs des BdV rückte. Es war die Erinnerungsarbeit, die BdV-Präsident Wittmann in den 1990er Jahren für eine zentrale Aufgabe hielt. Inso- fern stellte die Selbstdarstellung des BdV in den Jahren von 1990 bis 1998 eine Vor- ankündigung dessen dar, was unter der neuen BdV-Führung ab 1998 realisiert werden sollte. Die Forderung nach „wahrheitsgetreuer“ Geschichtsvermittlung und Erinne- rungsarbeit wurde von Wittmanns Nachfolgerin, Erika Steinbach, aufgegriffen und in die konkrete Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen umgewandelt.

6.1.2 „Bedeutungslose Berufsflüchtlinge“ Genauso wie zwanzig Jahre zuvor stand der BdV 1990 wieder mitten im Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete und genauso wie damals wurde über seine Proteste gegen die Grenzanerkennung in der deutschen Presse berichtet. „Die Vertriebenen rüsten zur letzten Schlacht um Oder und Neiße“, meldete Der Spiegel 1990.41 Dem Nachrichten- magazin zufolge glaubte BdV-Präsident Czaja immer noch daran, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ließe sich vermeiden. In dem Blatt wurde darauf hingewiesen, dass die Grenzanerkennung ein Umdenken nicht nur bei den Vertriebenen, sondern auch in der CDU und im Kanzleramt erforderte.42 Der Spiegel machte auf die zö- gernde Haltung Kohls vor der Aushandlung des deutsch-polnischen Vertrags auf- merksam: „So schnell der Kanzler den Einigungsprozeß vorantrieb, so sehr eiert er im Umgang mit Polen und mit den tatsächlich längst völlig bedeutungslosen Berufs- flüchtlingen weiter herum“, hieß es im Nachrichtenmagazin.43 Ähnlich wie vor dem Hintergrund des „Tages der Heimat“ 1984 und des „Schlesiertreffens“ 1985 entstand auch jetzt der Eindruck, dass der Bundeskanzler nicht fähig war, eine klare Stellung zu beziehen, und sich von den Vertriebenenverbänden beeinflussen ließ. Im Spiegel wurde spekuliert, Kohl hätte um die Wählerstimmen der Vertriebenen bei der kom- menden Bundestagswahl gefürchtet und deswegen eine eindeutige Stellungnahme zur

41 „Weder jetzt noch in Zukunft“, in: Der Spiegel vom 8.01.1990, S. 21. 42 Ebenda. 43 Ersatzlose Preisgabe, in: Der Spiegel vom 29.10.1990, S. 83.

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Oder-Neiße-Grenze vermieden: Einerseits bestätige er, dass der aktuelle Verlauf der Oder-Neiße-Grenze endgültig sei und dass die Deutschen keine Gebietsansprüche ge- genüber Polen weder in Gegenwart noch in der Zukunft erheben würden. Andererseits sage er kein kritisches Wort gegenüber den Vertriebenenverbänden, die weiterhin mit alten Parolen gegen die Grenzanerkennung auftreten.44 Sicherlich fiel Helmut Kohl eine klare Stellungnahme umso schwerer, als die endgültige Grenzanerkennung unter der Regierung der Christdemokraten vollzogen werden sollte, also eines politischen Lagers, das seit den 1970er Jahren den Vertriebenenverbänden Unterstützung ver- sprach. Ähnlich wie 1970 wollte der BdV auch in den 1990er Jahren bei den deutsch-pol- nischen Verhandlungen mitwirken und sie beeinflussen. Anders als zu Zeiten von Bundeskanzler Brandt wurde der Verband von Helmut Kohl weiterhin als Gesprächs- partner der Bundesregierung betrachtet. Dadurch lässt sich zum Teil erklären, warum die Vorschläge der Vertriebenenfunktionäre zur Lösung des Oder-Neiße-Konflikts überhaupt noch von den Massenmedien thematisiert wurden. Die Vertriebenenver- bände wurden nicht wie Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre ausschließlich als eine Protestgruppe dargestellt, sondern auch als eine Interessengruppe, die eine politische Unterstützung durch den Bundeskanzler genoss. In der Zeit wurde bei- spielsweise der Vorschlag des BdV-Generalsekretärs Hartmut Koschyk thematisiert, der die betroffene Bevölkerung durch eine freie Abstimmung über die Zukunft der Oder-Neiße-Gebiete entscheiden lassen wollte. Seiner Meinung nach sollten die in Deutschland lebenden Vertriebenen sowie die in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden Deutschen und Polen darüber entscheiden, ob sie sich mehr Polen oder mehr Deutsch- land zugehörig fühlten.45 Die Wochenzeitung thematisierte auch einen anderen Vor- schlag von Koschyk, in dem er sich für ein „autonomes Gebiet“ in Oberschlesien als eine Lösung des Oder-Neiße-Konflikts aussprach.46 Anfang der 1990er Jahre lenkte der BdV die mediale Aufmerksamkeit auch des- wegen auf sich, weil er nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den Ost- blockstaaten seinen Tätigkeitsbereich auch auf Schlesien ausweiten wollte. Helga Hirsch berichtete beispielsweise in der Zeit über den zunehmenden Einfluss des BdV auf die deutsche Minderheit in Polen. Sie wies auf die Tatsache hin, dass der BdV „die Beziehungen zu den Deutschen im Oppelner Raum nahezu monopolisiert“ habe.47 Auch Der Spiegel machte darauf aufmerksam, dass BdV-Generalsekretär Koschyk ein „Dauergast in Schlesien“48 sei und dass sich „die deutsche Minderheit im früheren Schlesien fest in der Obhut obskurer Vertriebenenfunktionäre“49 befinde.

44 Vgl. ebenda. 45 Vgl. GERHARD SPÖRL: Erhellendes Unwissen, in: Die Zeit vom 27.04.1990. 46 Vgl. HELGA HIRSCH: Vieles geklärt, in: Die Zeit vom 7.06.1991; Genaueres zu dem Vor- schlag von Koschyk bei OCIEPKA, S. 197 ff. 47 HIRSCH, Vieles geklärt (wie Kap. 6, Anm. 46). 48 Polen missen ruhig sitzen, in: Der Spiegel vom 12.11.1990, S. 27. 49 Ersatzlose Preisgabe (wie Kap. 6, Anm. 43), S. 83. Zum Verhältnis des BdV zur deutschen Minderheit in Polen vgl. auch OCIEPKA, S. 153 ff., 207 ff.

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Nach der Wiedervereinigung versuchte der BdV in den neuen Bundesländern Fuß zu fassen, stieß aber manchmal auf Widerstand. „Dem Vertriebenenverband droht die Spaltung“, hieß es im Spiegel 1992.50 Der Grund dafür lag darin, dass die Vertrie- benenfunktionäre aus den neuen Bundesländern, wie beispielsweise aus Brandenburg, mit dem politischen Kurs des BdV nicht einverstanden waren. Im Gegensatz zum BdV-Präsidium begrüßte beispielsweise der Brandenburger BdV-Landesvorstand den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag und akzeptierte die Oder-Neiße-Grenze.51 Die Meinungsunterschiede innerhalb des Dachverbandes ließen sich bereits 1991 im BdV-Präsidium beobachten. Es kam zur Spaltung an der Spitze des Verbandes. Aufgrund unterschiedlicher Ansichten in Bezug auf die deutsch-polnischen Ver- handlungen, die Zukunft der Oder-Neiße-Gebiete sowie das Engagement des BdV für die deutsch-polnische Verständigung kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem BdV-Präsidenten Herbert Czaja und dem BdV-Generalsekretär Hartmut Ko- schyk. Der Spiegel berichtete, dass Koschyk zwar seine politische Karriere BdV-Prä- sident Czaja verdanke, dessen Verbandspolitik aber nicht fortsetzen wolle. Er konnte sich keine Zusammenarbeit mehr mit Czaja vorstellen. Während der BdV-Präsident von seinen alten Rechtsstandpunkten nicht abrücken wollte, sah Koschyk die Not- wendigkeit, sich mit der neuen politischen Lage abzufinden. Der BdV-Generalsekre- tär habe Czaja den Mangel an realitätsbezogenem Denken vorgeworfen. Koschyk war der Meinung, dass der BdV die Verträge mit Polen nicht ausblenden solle, wenn er zukunftsorientiert arbeiten und politisch aktiv bleiben wolle. Zu der Auseinanderset- zung an der Spitze des BdV äußerte sich auch Bundeskanzler Kohl, der den Konflikt zwischen den beiden BdV-Funktionären bedauerte.52 Über den „Machtkampf an der Spitze“ berichtete auch Die Zeit.53 Das Blatt wies darauf hin, dass Hartmut Koschyk, der für den Generationswechsel stehe und als „Hoffnungsträger der Vertriebenenver- bände“ gelte, sich für die Verständigung mit den östlichen Nachbarn einsetzte.54 Außerdem hieß es: „Dem Bund der Vertriebenen (BdV) droht der Sturz in die politi- sche Bedeutungslosigkeit, weil die Riege der Gerontokraten an der Verbandsspitze vom Grenzkampf partout nicht lassen will.“55 An diesem Zitat lässt sich erkennen, dass die Zeit im Gegensatz zum Spiegel dem BdV politische Bedeutung Anfang der 1990er Jahren noch nicht definitiv absprach. Das Blatt sprach vielmehr von einer sich erst ankündigenden politischen Bedeutungslosigkeit, wenn an der Spitze des Verban- des weiterhin gestritten werden sollte. Im Gegensatz zur Zeit war die Berichterstat- tung im Spiegel dem Vertriebenenverband gegenüber eindeutig negativ. Das Nach- richtenmagazin stellte den BdV als einen Störfaktor auf dem Weg zur deutsch-polni- schen Verständigung dar.56 Es wies auch darauf hin, dass der Verband insgesamt

50 Alles erlaubt, in: Der Spiegel vom 10.08.1992, S. 80. 51 Vgl. ebenda. 52 Vgl. Einsamer Wolf, in: Der Spiegel vom 8.07.1991, S. 25-27. 53 Machtkampf an der Spitze, in: Die Zeit vom 5.07.1991. 54 Ebenda. 55 Ebenda. 56 Vgl. Langer Arm von rechts, in: Der Spiegel vom 5.08.1991, S. 17.

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„Probleme mit seinem Selbstverständnis“ habe: Der älteren Generation der Vertriebe- nenpolitiker wie Czaja und Hupka stand die junge Generation mit Hartmut Koschyk gegenüber, und beide Seiten hatten andere Vorstellungen, welchen Weg der BdV in Zukunft gehen sollte.57 Im Gegensatz zur Grenzanerkennung von 1970, nach der die Vertriebenenver- bände aus der Politik isoliert wurden, genossen sie nach der Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze von 1990 weiterhin die politische Unterstützung der Bundesregierung. Sie spiegelte sich auch in der Finanzierung der Vertriebenenorganisationen wider. Anfang der 1990er Jahre machte Die Zeit darauf aufmerksam, dass der BdV weiterhin mit hohen Summen finanziert wurde.58 Auch Der Spiegel thematisierte das und berichtete, dass die Finanzierung des Dachverbandes 1990 um das Fünffache höher war als 1983.59 Außerdem wurden die Vertriebenenveranstaltungen, ähnlich wie in den 1960er und 1980er Jahren, von den Spitzenpolitikern besucht und auch das war eine Manifestation ihrer Unterstützung für die deutschen Vertriebenen. Im Jahre 1996 nahm beispielsweise Bundespräsident Roman Herzog an dem vom BdV organisierten „Tag der Heimat“ teil und lenkte damit die mediale Aufmerksamkeit auf das Vertrie- benentreffen. Er hielt auf der Veranstaltung eine Rede, in der er von der Zugehörig- keit der ehemaligen deutschen Ostgebiete „zu unserem geschichtlichen und kulturel- len Erbe, aber nicht mehr zu unserem Staat“ sprach.60 Hierauf wurde er von einem der dort versammelten Vertriebenen als „Vaterlandsverräter“ beschimpft, wofür sich BdV-Präsident Czaja sofort bei ihm entschuldigte.61 Dieser Zwischenfall machte deutlich, dass es einigen Vertriebenen auch Mitte der 1990er Jahre noch schwer fiel, sich mit der Realität und dem Verlust der Oder-Neiße-Gebiete abzufinden. Der Zwi- schenfall wurde sowohl in der FAZ als auch in der Zeit thematisiert. 62 Die Frage nach der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände wurde ge- nauso wie früher auch in den 1990er Jahren von der Frage nach ihrem Wählerpoten- zial und der Anzahl der BdV-Mitglieder begleitet. In der FAZ hieß es beispielsweise im Februar 1995: „50 Jahre nach dem Ende des Krieges entscheiden die Heimatver- triebenen in Deutschland längst keine Wahlen mehr. Doch noch immer vertritt der ‚Bund der Vertriebenen‘ mehr als zwei Millionen Menschen. Insbesondere für die Unionsparteien bleiben die Vertriebenen deshalb wichtig.“63 Die Bedeutung der Vertriebenen als Wähler für die CDU/CSU bekräftigte BdV-Präsidentin Erika Stein- bach in einem Interview für die FAZ drei Jahre später: „Ohne die Vertriebenen kann die Union keine Wahlen gewinnen. Sie machen zwei bis drei Prozent aus. Die letzte

57 Aus dem Ruder, in: Der Spiegel vom 8.04.1991, S. 58. 58 Vgl. HIRSCH, Vieles geklärt (wie Kap. 6, Anm. 46). 59 Vgl. Polen missen ruhig sitzen (wie Kap. 6, Anm. 48). 60 Auf dem „Tag der Heimat“ Kritik der Sudetendeutschen an Prag, in: FAZ vom 9.09.1996. 61 Ebenda. 62 Vgl. ebenda; ’tschuldigung [sic!], Herr Präsident, in: Die Zeit vom 13.09.1996; Herzog will Zwischenruf nicht überbewerten, in: FAZ vom 10.09.1996; MICHAELA HRIBERSKI: Gegen- darstellung, in: FAZ vom 12.09.1996. 63 Hoffnung auf Europa, in: FAZ vom 23.02.1995.

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Bundestagswahl hat die Koalition mit einer Differenz von 175 000 Stimmen gewon- nen.“64 An diesem Beispiel kommt besonders deutlich zum Ausdruck, wie stark die Selbst- und die Fremddarstellung des BdV in diesem Punkt in den 1990er Jahren aus- einandergingen. Im Jahre 1994 kam es zu einem Wechsel an der Spitze des BdV, worüber die FAZ berichtete. Herbert Czaja verabschiedete sich nach 24 Jahren aus seinem Amt als BdV-Präsident. Zu seinem Nachfolger wurde der CSU-Abgeordnete Fritz Wittmann gewählt.65 Auch unter seiner Präsidentschaft blieb der BdV in der deutschen Öffent- lichkeit präsent. Vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Kriegsendes und der Erinnerung an die Vertreibung forderte der neue BdV-Präsident, das Unrecht der Ver- treibung der Deutschen aufzuarbeiten.66 Darüber hinaus kritisierte er die unzuläng- liche Interessenvertretung der deutschen Vertriebenen durch die Bundesregierung bei den Verhandlungen mit Polen und Tschechien über ihre Aufnahme in die NATO und die Europäische Union.67 All diese Forderungen wurden noch lauter, als 1998 die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach das Amt des BdV-Präsidenten übernahm.68 Deut- lich stärker als ihr Vorgänger nutzte sie die Verhandlungen um den Beitritt Polens und der Tschechischen Republik zur NATO und zur EU dazu, die Vertriebenenthe- men auf der massenmedialen Ebene zur öffentlichen Diskussion zu stellen. Zum 40. Jahrestag der Entstehung des BdV meldete die FAZ, die BdV-Präsidentin habe „konkrete Schritte zu einer umfassenden Aufarbeitung der Vertreibung“ und die Entschädigung der „Vertreibungsopfer durch die Vertreiberstaaten“ gefordert.69 Mit den „Vertreiberstaaten“ meinte sie vor allem Polen und Tschechien. Sie forderte für die deutschen Vertriebenen auch das Recht auf Rückkehr in ihre ehemalige Heimat.70 Man musste nicht lange warten, bis in Polen die alten Vorurteile und Ängste vor den Vertriebenenverbänden geweckt wurden. Die BdV-Präsidentin forderte, dass die Ent- schädigungsregelungen noch vor dem Beitritt Polens und der Tschechischen Republik in die EU geregelt werden sollten.71 Laut Steinbach sollten Polen und Tschechien zu- erst die Menschenrechte und Minderheitenrechte beachten, bevor sie in die EU aufge- nommen wurden.72 Auf dem „Tag der Heimat“ von 1998 wiederholte sie die Forderungen des BdV nach dem Rückkehrrecht und der Entschädigung der deutschen Vertriebenen. Darüber hinaus verlangte sie die Bestrafung derjenigen, die Verbrechen

64 „Von den Deutschen ist bei Kinkel nie die Rede“, in: FAZ vom 14.06.1998. 65 Vgl. Czaja will nicht mehr kandidieren, in: FAZ vom 12.10.1993; Wittmann Vorsitzender der Vertriebenen, in: FAZ vom 25.4.1994. 66 Vgl. Hoffnung auf Europa (wie Kap. 6, Anm. 63). 67 Vgl. Bund der Vertriebenen rügt Bundesregierung, in: FAZ vom 29.08.1997. 68 Vgl. CDU-Politikerin Steinbach führt Bund der Vertriebenen, in: FAZ vom 4.05.1998. 69 40 Jahre Bund der Vertriebenen, in: FAZ vom 15.12.1998; zu Entschädigungsforderungen des BdV vgl. auch das Interview mit Erika Steinbach unter dem Titel: „Von den Deutschen ist bei Kinkel nie die Rede“ (wie Kap. 6, Anm. 64). 70 Vgl. Vertriebene sprechen Polen EU-Reife ab, in: FAZ vom 5.07.1998. 71 Vgl. Steinbach: Sejm-Beschluß beweist Mangel an Europa-Reife, in: FAZ vom 8.07.1998. 72 Vgl. „Auch für Deutsche gelten die Menschenrechte“, in: FAZ vom 18.10.1998.

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an den Deutschen begangen hatten, und machte das zur Bedingung für einen EU-Bei- tritt Polens und der Tschechischen Republik.73 Die FAZ berichtete über die Danksa- gung der BdV-Präsidentin an Bundeskanzler Kohl, der in seinem Grußwort anlässlich des „Tages der Heimat“ den deutschen Vertriebenen und ihren Verbänden ihre Einbe- ziehung in den Prozess der EU-Erweiterung zugesagt hatte.74 Obwohl das eine sehr allgemeine Aussage des Bundeskanzlers war, stellte sie trotzdem ein Zeichen seiner Unterstützung für die Arbeit der Vertriebenenverbände dar. In dieser Hinsicht kann man in den 1990er Jahren eine Kontinuität zu den 1960er und 1980er Jahren beob- achten, als die politischen Forderungen des BdV aufgrund seiner Unterstützung durch den Bundeskanzler auf die massenmediale Ebene gelangten und öffentliche Aufmerk- samkeit erregten. Anhand der in diesem Kapitel aufgeführten Beispiele lässt sich für die Fremddar- stellung des BdV in den Jahren zwischen 1990 und 1998 Folgendes feststellen: Der Verband wurde zwar mit seinem Argumentationsmuster sowohl in der FAZ als auch in der Zeit und im Spiegel thematisiert, die drei Blätter bemühten sich aber im Ver- gleich zu den 1960er oder 1980er Jahren um keine größeren Kommentare mehr. Sie beschränkten sich jeweils auf eine kurze Thematisierung des BdV. Erst seit der zwei- ten Hälfte der 1990er Jahre lässt sich mit dem zunehmenden Interesse an dem Vertrei- bungsthema in der deutschen Öffentlichkeit auch das Interesse an dem BdV und den Vertriebenenverbänden beobachten. Mit der Debatte um das Zentrum gegen Vertrei- bungen rückte der BdV in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und neben seinem Projekt wurde er selbst zu einem Diskussionsgegenstand.

6.1.3 „Das Monopol des Bundes der Vertriebenen durchbrechen“ Die 1990 offiziell aufgehobene Zensur, Meinungsfreiheit und Etablierung der Öffent- lichkeit im demokratischen Sinne führten dazu, dass sich die polnische Presse mit Themen befassen konnte, die bisher tabuisiert oder nur begrenzt behandelt wurden. Die kommunistischen Blätter verschwanden entweder vom Pressemarkt oder waren einer Transformation ausgesetzt: Die Parteizeitung Trybuna Ludu wurde aufgelöst. Die Wochenzeitung Polityka sowie die ehemals kommunistische Regierungszeitung Rzeczpospolita wurden nach 1990 zu meinungsbildenden Blättern und gelten heute als Leitmedien.75 In der polnischen Historiografie sowie Publizistik begann nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Auseinandersetzung mit den „weißen Fle- cken“ der Geschichte, zu denen auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Westgebieten gehörte. Ein großer Unterschied zu den Jahren vor 1990 bestand auch darin, dass der BdV nicht mehr nur ein Objekt der polnischen Berichterstattung war, sondern in Polen auch als Öffentlichkeitsakteur agieren konnte und in Form von Interviews oder publizistischen Beiträgen in den polnischen Medien präsent war.

73 Vgl. Kritik an Prag und Warschau, in: FAZ vom 7.09.1998. 74 Vgl. ebenda. 75 Zu den Transformationsprozessen auf dem polnischen Pressemarkt vgl. Kapitel 2.2 in dieser Arbeit.

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Die Thematisierung des BdV in der polnischen Presse war in der ersten Hälfte der 1990er Jahren noch von vielen Ängsten und Vorurteilen gekennzeichnet. Der Vertrie- benenverband wurde vor allem als eine politische Pressure-group dargestellt, deren Tätigkeit in Polen mit Skepsis beobachtet wurde. Anfang der 1990er Jahre wurde ihm ähnlich wie auch in den 1980er Jahren ein großer politischer Einfluss auf die Bundes- regierung und den Bundeskanzler zugeschrieben. In der Rzeczpospolita wurde von der Druckausübung des BdV auf Helmut Kohl gesprochen: „Der Abgeordnete Czaja droht dem Bundeskanzler“, lautete eine der Schlagzeilen.76 Der Tageszeitung zufolge forderte BdV-Präsident Czaja vom Bundeskanzler einen Rücktritt, falls dieser sich nicht für die Rückgewinnung der Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie einsetzen würde. Außerdem berichtete die Rzeczpospolita, dass sich Czaja im Falle der Gren- zenwiederherstellung von 1937 eine autonome Verwaltung für die in den Oder-Neiße- Gebieten lebenden Polen vorstellen könnte.77 Während Herbert Czaja den Bundes- kanzler unter Druck setzte, versuchte BdV-Generalsekretär Hartmut Koschyk die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik von den, seiner Ansicht nach, fatalen Fol- gen der Ankerennung der Oder-Neiße-Grenze zu überzeugen. Er bediente sich eines finanziellen Arguments und warnte die deutsche Bevölkerung davor, dass die Grenz- anerkennung mit neuen Entschädigungen in Milliardenhöhe für die deutschen Ver- triebenen verbunden wäre. Die Autorin des Artikels, Krystyna Grzybowska, konsta- tierte in ironischem Ton, dass nach Koschyks Argumentationsmuster die Anerken- nung der Oder-Neiße-Grenze „zu einem persönlichen Unglück für jeden Steuerzah- ler“ werden würde und „ihn ein Vermögen kosten“ werde.78 Insofern könne der Wohlstand der Bundesrepublik nur durch die Nichtanerkennung der Oder-Neiße- Grenze und die weitere Finanzierung des BdV in Millionenhöhe gerettet werden, so der Kommentar von Grzybowska.79 Ähnlich wie in der FAZ und im Spiegel wurde auch in der Rzeczpospolita das Wählerpotenzial der deutschen Vertriebenen thematisiert. Die polnische Tageszeitung berief sich auf die deutschen Medien, in welchen die uneindeutige Haltung Kohls be- züglich der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze auf seine Angst vor dem Verlust der Wählerstimmen der Vertriebenen zurückgeführt wurde.80 Im Jahre 1990 gab Maciej Rybiński in der Rzeczpospolita zu, dass der BdV „eine nicht kleine Wähler-

76 Deputowany Czaja grozi kanclerzowi [Der Abgeordnete Czaja droht dem Bundeskanzler], in: Rzeczpospolita vom 5.03.1990. Zur Thematisierung des BdV als Pressure-group vgl. auch: MACIEJ RYBIŃSKI: Zamieszanie wśród ziomków [Verwirrung unter den Lands- männern], in: Rzeczpospolita vom 12.01.1990; KRYSTYNA GRZYBOWSKA: Kanclerz Kohl w ogniu krytyki [Bundeskanzler Kohl im Kreuzfeuer der Kritik], in: Rzeczpospolita vom 5.03.1990. 77 Vgl. Deputowany Czaja grozi kanclerzowi (wie Kap. 6, Anm. 76). 78 KRYSTYNA GRZYBOWSKA: Koschyk z miliardami [Koschyk mit Milliarden], in: Rzeczpos- polita vom 2.03.1990. 79 Vgl. ebenda. 80 Vgl. ebenda; KRYSTYNA GRZYBOWSKA: Przesiedleńcy nie chcą wracać [Umsiedler wollen nicht zurückkehren], in: Rzeczpospolita vom 13.03.1990.

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gruppe und eine politische Pressure-group“ repräsentiere.81 Im Gegensatz zu ihm schrieb Krystyna Grzybowska dem Bund der Vertriebenen keine politische Stärke mehr zu. Sie machte darauf aufmerksam, dass den Umfragen zufolge nur acht Prozent der deutschen Vertriebenen wieder in ihre „Heimat“ zurückkehren und 88 Prozent in der Bundesrepublik bleiben wollten. Grzybowska kam zu der Schlussfolgerung, dass der BdV mit seinen Forderungen laut der Umfragen nur eine kleine Gruppe der Ver- triebenen vertrete und es keinen Grund dafür gab, vor dem Verband oder vor den Ver- triebenen Angst zu haben.82 Interessant ist allerdings die Tatsache, dass in der Rzecz- pospolita noch ein paar Tage zuvor die Meinung vertreten wurde, dass sich die Wäh- lerstimmen der organisierten Vertriebenen tatsächlich auf die Wiederwahl Helmut Kohls auswirken könnten.83 Daran zeigt sich die Unsicherheit, die am Anfang der 1990er Jahre in der Einschätzung der politischen Bedeutung des BdV noch in Polen herrschte. Ähnlich wie in der Rzeczpospolita wurde der BdV auch im Tygodnik Powszechny Anfang der 1990er Jahre in mehreren Artikeln thematisiert. Auch hier wurden die Vorschläge des BdV zur Lösung des Oder-Neiße-Konflikts dargelegt. Für Władysław Bartoszewski hatten diese Vorschläge keine größere Bedeutung. In einem Interview für die katholische Wochenzeitung wies er darauf hin, dass die Bedeutung der Ver- triebenenverbände in Polen weit überschätzt werde, und plädierte dafür, „unsere anti- deutsche[n] Phobien“ zu lassen und sich auf den Aufbau guter Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zu konzentrieren.84 Ein paar Monate später erschien ein Arti- kel von Witold Bereś, in dem er unter anderem über die Einflussnahme des BdV auf die deutsche Minderheit in Polen berichtete. Laut Bereś wiesen viele Teilnehmer ei- nes in Gliwice organisierten Seminars zur deutsch-polnischen Problematik darauf hin, dass die Landsmannschaften in der Bundesrepublik zwar nicht mehr ernst genommen würden, in Schlesien aber durchaus Anhänger für ihre Konzepte fänden.85 Der Ein- fluss des BdV auf die deutsche Minderheit in Polen wurde im Tygodnik Powszechny auch in einem Interview mit dem polnischen Publizisten Artur Hajnicz thematisiert. Hajnicz machte darauf aufmerksam, dass man „das Monopol des Bundes der Vertrie- benen durchbrechen“ müsse, der sich bei der deutschen Minderheit in Schlesien gro- ßer Popularität erfreute.86 Den Grund dafür sah Hajnicz darin, dass die deutsche Min- derheit in Polen jahrelang keine Unterstützung erfahren hatte und der Dachverband

81 RYBIŃSKI, Zamieszanie wśród ziomków (wie Kap. 6, Anm. 76). 82 Vgl. GRZYBOWSKA, Przesiedleńcy nie chcą wracać (wie Kap. 6, Anm. 80). 83 Vgl. Deputowany Czaja grozi kanclerzowi (wie Kap. 6, Anm. 76). 84 Krzysztof Burnetko im Gespräch mit Władysław Bartoszewski: Polacy – Niemcy: Zapalne punkty [Polen – Deutsche: Ein Unruheherd], in: Tygodnik Powszechny vom 6.05.1990. 85 Vgl. WITOLD BEREŚ: Na Zachodzie zmiany [Im Westen Wandel], in: Tygodnik Powszech- ny vom 23.09.1990. 86 Witold Bereś und Krzysztof Burnetko im Gespräch mit Artur Hajnicz: Traktaty – Granice – Mniejszości [Verträge – Grenzen – Minderheiten], in: Tygodnik Powszechny vom 25.11.1990.

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diese „Lücke“ nun zu schließen suchte.87 Hajnicz wies allerdings zugleich darauf hin, dass man in Deutschland bereits überlege, andere Organisationen ins Leben zu rufen, die sich außer dem BdV für die deutsche Minderheit in Polen engagieren würden.88 Ähnlich wie in der Zeit und im Spiegel wurde 1990 auch in der Rzeczpospolita die Auseinandersetzung an der Spitze des BdV zwischen Herbert Czaja und Hartmut Koschyk thematisiert. Darin hieß es, dass der Konflikt zwischen den beiden BdV- Funktionären vor allem auf die Meinungsunterschiede in Bezug auf die Regelung der Oder-Neiße-Grenze zurückzuführen sei: Nach Maciej Rybiński habe Koschyk für Un- ruhe in seinem Verband gesorgt, weil er nicht mehr auf der Wiederherstellung der Grenzen vom 31. Dezember 1937 bestand, wie das BdV-Präsident Czaja tat. Rybiński wies auch darauf hin, dass es sich in der BdV-Führung nicht nur um Meinungsver- schiedenheiten, sondern auch um interne Rivalitäten zwischen der alten und der jun- gen Generation der Vertriebenen handelte.89 An dieser Stelle lässt sich eine gewisse Kontinuität zu den 1970er Jahren feststellen: Die Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze spaltete die deutschen Vertriebenen 1970 genauso wie 1990. Damals handelte es sich aber noch nicht um eine Krise an der Spitze des Verbandes. Der Konflikt zwi- schen Czaja und Koschyk beeinflusste allerdings das Bild des BdV in Polen kaum: Es wurden keine Hoffnungen auf den Zerfall des BdV geäußert, und die politische Be- deutung des Verbandes wurde ihm noch nicht definitiv abgesprochen. Im Hinblick auf die Verwendung des Namens „Bund der Vertriebenen“ lässt sich feststellen, dass er 1990, ähnlich wie in den Jahren vor dem Zusammenbruch des Kommunismus, unterschiedlich ins Polnische übersetzt wurde: Im Tygodnik Po- wszechny wurde er beispielsweise immer noch als „Bund der Umsiedler“ (Związek Przesiedleńców) bezeichnet.90 In der Rzeczpospolita dagegen war die Rede vom „Bund der Vertriebenen“ (Związek Wypędzonych), der Name kam aber immer noch mal mit und mal ohne Anführungsstriche vor.91 In der Tageszeitung wurden sowohl die Bezeichnung „Vertriebene“ als auch der Begriff „Umsiedler“, manchmal sogar im gleichen Artikel nebeneinander, verwendet.92 Insofern lässt sich sagen, dass Anfang der 1990er Jahre in Bezug auf die Terminologie noch eine gewisse Kontinuität zu den 1970er und 1980er Jahren vorherrschte. Dies änderte sich erst im Laufe der 1990er Jahre, als sowohl der Name „Bund der Umsiedler“ als auch die Anführungsstriche bei dem Begriff „Bund der Vertriebenen“ aus der Presseberichterstattung verschwanden.

87 Ebenda. 88 Vgl. ebenda. 89 Vgl. RYBIŃSKI, Zamieszanie wśród ziomków (wie Kap. 6, Anm. 76). 90 Vgl. Polacy – Niemcy (wie Kap. 6, Anm. 84); BEREŚ, Na Zachodzie zmiany (wie Kap. 6, Anm. 85). 91 Vgl. RYBIŃSKI, Zamieszanie wśród ziomków (wie Kap. 6, Anm. 76); Deputowany Czaja grozi kanclerzowi (wie Kap. 6, Anm. 76); GRZYBOWSKA, Kanclerz Kohl w ogniu krytyki (wie Kap. 6, Anm. 76); DIES., Koschyk z miliardami (wie Kap. 6, Anm. 78). 92 Vgl. GRZYBOWSKA, Koschyk z miliardami (wie Kap. 6, Anm. 78); DIES., Przesiedleńcy nie chcą wracać (wie Kap. 6, Anm. 80).

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Ähnlich wie der deutsch-polnische Grenzvertrag von 1970 die Grundlage für die Auseinandersetzung mit der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte während der Schulbuchgespräche schuf, war auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1990 für die Beschäftigung mit dem Vertreibungsthema ausschlaggebend. Die end- gültige Grenzregelung trug in großem Maße zum Abbau der Ängste der Polen vor den Deutschen bei. Bei der Thematisierung der Vertreibung bestand keine Furcht mehr, dass diese sich auf den Verlauf der Oder-Neiße-Grenze auswirken könnte. Nach der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der Unterzeichnung des deutsch-polni- schen Vertrags über die gute Nachbarschaft verlagerten der Tygodnik Powszechny und die Rzeczpospolita ihre Aufmerksamkeit von der Frage nach der politischen Be- deutung der Vertriebenenverbände auf das Vertreibungsthema. Dass der BdV bei der polnischen Presse in der ersten Hälfte der 1990er Jahre kein großes Interesse mehr weckte, lag vermutlich daran, dass der Verband angesichts der endgültigen Grenz- regelung seine Ansprüche auf die Oder-Neiße-Gebiete nicht mehr geltend machen konnte und seine weitere Tätigkeit keine Gefahr mehr für das deutsch-polnische Ver- hältnis darstellte. Im Jahr 1994 beschäftigte sich Krystyna Kersten im Tygodnik Powszechny mit der unterschiedlichen Terminologie in Bezug auf das Vertreibungsthema. In ihrem Arti- kel versuchte sie, Begriffe wie „Zwangsmigration“, „Vertreibung“, „Aussiedlung“, „Flucht und Vertreibung“, „Deportation“ sowie „Repatriierung“ zu erläutern.93 Doch schon 1989 kann in der Wochenzeitung der erste Schritt zur Erklärung der Begriffe beobachtet werden, die sich auf den Themenkomplex „Vertreibung“ bezogen. Grze- gorz Ziętkiewicz stellte damals fest, dass unter all den verschiedenen Bezeichnungen, wie beispielsweise „Aussiedler“, „Umsiedler“, „Vertriebene“ und „Zuwanderer“, dem polnischen Leser der Name „Bund der Vertriebenen“ am meisten bekannt sein müsse, weil dieser Name in früheren Jahren relativ häufig in der polnischen Presse vorge- kommen sei.94 Hier hatte er insofern recht, als der BdV tatsächlich bereits seit den 1970er Jahren immer häufiger in Polen thematisiert wurde, während viele andere für den westdeutschen Sprachgebrauch typischen Bezeichnungen, die sich auf Vertrei- bung bezogen, kaum verwendet wurden. Man kann aber 1989 im Tygodnik Powszech- ny noch eine gewisse Distanz zur Thematisierung der Vertreibung beobachten. Bei der Erläuterung des Namens „Bund der Vertriebenen“ hieß es beispielsweise: „Im Bund der Vertriebenen sind diejenigen organisiert, die die Polen aus ihrer Heimat vertreiben sollten.“95 Das Wort „sollten“ signalisierte hier, dass es sich um eine Wie- dergabe der westdeutschen Sicht und nicht um Fakten handelte. Diese Formulierung war vermutlich teilweise auf die erst 1990 abgeschaffte Zensur zurückzuführen. In dem Artikel von Ziętkiewicz griff nämlich die Zensur an der Stelle ein, an der Zięt-

93 Vgl. KRYSTYNA KERSTEN: Stulecie przesiedleńców [Das Jahrhundert der Umsiedler], in: Tygodnik Powszechny vom 23.01.1994. 94 Vgl. GRZEGORZ ZIĘTKIEWICZ: Zostać Niemcem ... [Ein Deutscher werden … ], in: Tygod- nik Powszechny vom 12.02.1989. 95 Ebenda.

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kiewicz von der Existenz der deutschen Minderheit in Polen sprach.96 Doch der Tygodnik Powszechny beschäftigte sich dennoch mit diesem Thema. Im Jahr 1990 stellte Maria Szmeja die Frage: „Gibt es Deutsche in Schlesien?“ und antwortete dar- auf: „Selbstverständlich, in Polen gab es und gibt es Deutsche“.97 Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten setzte zwar in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Polen an, aber nach Einschätzung von Piotr Majewski hatten die bis 1995 erschienenen wissenschaft- lichen Arbeiten zu diesem Themenbereich eher einen fragmentarischen Charakter.98 Seiner Ansicht nach kamen die wesentlichen Anregungen zur polnischen Debatte über die Zwangsmigrationen erst 1995, als in den deutsch-polnischen Beziehungen eine besonders gute Phase zu verzeichnen war.99 Diese Tendenz ist auch in der polni- schen Presse zu beobachten. Seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich immer häufiger die Auseinandersetzung mit der Täter- und Opferrolle der Deutschen und Polen bei der Thematisierung der Vertreibung feststellen. Dazu regte unter anderem das Jahr 1995 an, in dem an den 50. Jahrestag des Kriegsendes erinnert wurde. Auch das Vertrei- bungsthema rückte somit stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Adam Krzemiński zufolge stellte dieser Jahrestag ein „‚Rennen der Egoismen‘“ dar. „Wer ist der Erste und wer der Zweite oder der Dritte auf der Weltliste der Opfer?“, fragte Krzemiński in der Polityka.100 Die Deutschen hätten seiner Meinung nach „das Gewandt eines ‚schwarzen Charakters‘“ nicht mehr tragen und sich lieber „wenn nicht ‚im‘ dann zumindest ‚in der Nähe‘ des Lagers der Sieger“ befinden wollen.101 Kazimierz Wóycicki ging dagegen in der Wochenzeitung genauer auf die Vertrei- bungsthematik ein und versuchte, sie aus polnischer und deutscher Perspektive in den Blick zu nehmen. In seinem Artikel machte er darauf aufmerksam, dass die Deut- schen häufig ihren Hauptverfolger in den Polen gesehen hätten. Ein Teil der deut- schen Vertriebenen habe den Kontext der Vertreibung nicht wahrhaben wollen. Auf der polnischen Seite wiederum herrsche vor allem Unwissen und Gleichgültigkeit an- gesichts dieser deutschen Tragödie. Das sei zum Teil auf die Zensur und die damit verbundene Tabuisierung bestimmter Themen bis 1990 zurückzuführen. Wóycicki betonte, dass „der deutsch-polnische Dialog über Vertreibung“ nicht allein die Ver-

96 Eine ausführlichere Thematisierung der deutschen Minderheit in Polen wurde in dem Artikel von Ziętkiewicz von dem Eingriff der Zensur verhindert, der am folgenden Ver- merk erkennbar war: „[----] [Ustawa z dn. 31 VII 1981, O kontroli publikacji i widowisk, art. 2, pkt. 6 (Dz.U. nr 20, poz. 99, zm.: 1983, Dz. U. nr 44, poz. 204)]“. 97 MARIA SZMEJA: Czy na Śląsku są Niemcy [Gibt es Deutsche in Schlesien], in: Tygodnik Powszechny vom 1.4.1990. 98 Vgl. MAJEWSKI, S. 33. 99 Vgl. ebenda, S. 36; vgl. auch KRAFT, Platz der Vertreibung. 100 ADAM KRZEMIŃSKI: Kto w końcu wygrał tę wojnę? [Wer hat diesen Krieg schließlich gewonnen?], in: Polityka vom 13.50.1995. 101 Ebenda.

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treibungsopfer betreffe, sondern im Zentrum des deutsch-polnischen Dialogs stehe.102 Neben der Polityka beschäftigte sich 1995 auch der Tygodnik Powszechny mit dem Vertreibungsthema. Die Vertreibung wurde hier nicht nur als eine politische Maßnah- me, sondern auch als moralische Verantwortung thematisiert. Jerzy Holzer wies bei- spielsweise in seinem Artikel auf die Notwendigkeit der Verortung der Vertreibung in einen historischen Kontext hin.103 Helga Hirsch wiederum betonte, dass sich die Po- len nicht nur ausschließlich als unschuldige Opfer des Zweiten Weltkriegs darstellen sollten. Sie wies darauf hin, dass sie von ihrem Opferstatus nichts verlieren würden, wenn sie sich auch zu einer Täterrolle bekennen würden.104 In den hier aufgeführten Artikeln zum Vertreibungsthema wurde der BdV selbst nicht thematisiert. Die Aufmerksamkeit der polnischen Presse erregte der Verband nur Anfang der 1990er Jahre vor dem Hintergrund der Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze und dann erst wieder in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, allerdings zu- nehmend, als die neue BdV-Präsidentin mit den Entschädigungsforderungen für die deutschen Vertriebenen an die Öffentlichkeit trat.105 Seitdem aber stieg in Polen das öffentliche Interesse an dem BdV wieder kontinuierlich, bis es vor dem Hintergrund der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen einen Höhepunkt erreichte.

6.2 Der Bund der Vertriebenen um die Jahrtausendwende

6.2.1 Zentrum gegen Vertreibungen Im Jahr 1999 stellte BdV-Präsidentin Erika Steinbach der Öffentlichkeit die Idee von der Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen vor. Es sollte als „zentrale Infor- mations-, Dokumentations-, Archiv- und Begegnungsstätte“ fungieren, genauso wie

102 KAZIMIERZ WÓYCICKI: Wschód utracony [Der verlorene Osten], in: Polityka vom 17.06.1995; der Artikel wurde auch ins Deutsche übersetzt. Vgl. Verlorene Heimat. 103 Vgl. JERZY HOLZER: Zło historyczne, ale zło [Ein historisches Übel, aber eben ein Übel], in: Tygodnik Powszechny vom 24.09.1995. Der Artikel wurde ins Deutsche übersetzt. Fälschlicherweise wurde hier der Titel des Artikels „Ein historisches Übel, aber eben ein Übel“ als Untertitel verwendet. Vgl. Verlorene Heimat. 104 Vgl. HELGA HIRSCH: Nowy styl, stary temat [Der neue Umgang mit einem alten Thema], in: Tygodnik Powszechny vom 24.09.1995; für die deutsche Version des Textes vgl. Verlo- rene Heimat. 105 Vgl. WOJCIECH POMIANOWSKI: Przełamywanie lodów [Das Brechen des Eises], in: Rzecz- pospolita vom 22.04.1996; KRYSTYNA GRZYBOWSKA: Granice są nienaruszalne [Die Grenzen sind unverletzlich], in: Rzeczpospolita vom 11.09.1998; MACIEJ RYBIŃSKI: Cnota prostoduszności [Tugend der Treuherzigkeit], in: Rzeczpospolita vom 12/13.09.1998; KLAUS BACHMANN: Pod presją obrońców ludu [Unter dem Druck der Volksverteidiger], in: Rzeczpospolita vom 19/20.09.1998.

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es auch ein Ort des Gedenkens an die Vertreibung der Deutschen sein sollte.106 Das „Zentrum“ sollte in Berlin entstehen und mit Hilfe von Bund und Ländern finanziert werden. Es sollte die Geschichte der Vertreibung sowie der Vertriebenen in Nach- kriegsdeutschland darstellen.107 Mit diesem Vorhaben löste Steinbach eine ge- schichtspolitische Debatte aus, die nicht nur in der Politik, sondern auch in den deut- schen und polnischen Massenmedien geführt wurde. Vor dem Hintergrund der öffent- lichen Diskussion um das „Zentrum“ lässt sich die Rückkehr der alten Selbstbilder des BdV sowie seiner alten Aufgaben beobachten. Das folgende Kapitel zielt darauf ab, die starken Kontinuitäten zu den früheren Jahren aufzuzeigen, die sich in der Selbstdarstellung des BdV um die Jahrtausendwende feststellen lassen. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde die Präsenz des BdV auf massen- medialer Ebene immer stärker. Das lässt sich vor allem seit der Wahl der CDU-Ab- geordneten Erika Steinbach 1998 zur BdV-Präsidentin beobachten. Der Verband wur- de noch nie in seiner Geschichte so häufig in den deutschen und polnischen Medien thematisiert wie unter der Führung von Erika Steinbach und vor dem Hintergrund der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen. Eine gewisse Vorankündigung dieser Veränderung brachte Steinbach bereits 1997 auf einer Klausurtagung des BdV vor, in der sie damals noch als Vizepräsidentin ein Referat zum Thema „Strategische Über- legungen zum Selbstverständnis des BdV im politischen Spannungsfeld“ hielt.108 Darin setzte sie sich mit dem Bild der Vertriebenenverbände in der Öffentlichkeit auseinander und wies auf die Unkenntnis der jungen Generation über die Geschichte der Vertreibung hin. Sie hielt es für wichtig, dass der BdV in der Öffentlichkeit mehr Präsenz als bisher zeige und gleichzeitig dafür sorge, dass das Wissen über die Ge- schichte der Vertreibung vertieft werde.109 Diese beiden Aufgaben waren nicht neu. Bereits Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre sah BdV-Präsident Krüger die Notwendigkeit einer starken Präsenz des BdV in der Öffentlichkeit, um die Interessen der deutschen Vertriebenen einem breiten Publikum bekannt zu machen. Darüber hinaus plädierte er für die Weitergabe des Wissens von Zeitzeugen aus dem Kreis des BdV an die nächste Generation, um damit Erinnerungsarbeit zu leisten und das Ver- treibungsthema im Bewusstsein der westdeutschen Bevölkerung zu erhalten. Fünfzig Jahre später schien Erika Steinbach diese Aufgabe nun in einem Zentrum gegen Ver- treibungen fortsetzen zu wollen. Sie sprach von der Notwendigkeit einer „Informa-

106 ERIKA STEINBACH: Wir wollen mahnen und sensibilisieren, in: DOD vom 2.06.2000, S. 1; vgl. auch: Konzeption für Zentrum gegen Vertreibungen verabschiedet, in: DOD vom 2.06.2000, S. 1-2. 107 Vgl. Konzeption für Zentrum gegen Vertreibungen verabschiedet (wie Kap. 6, Anm. 106); Wir brauchen in Berlin ein „Zentrum der 15 Millionen“, in: DOD vom 26.03.1999, S. 5. 108 STRATMANN, BdV hält an politischem Gestaltungsanspruch fest (wie Kap. 6, Anm. 32), S. 2. 109 Vgl. ebenda; vgl. auch HUBERT MAESSEN: Vertreibung aus der Öffentlichkeit? Anmerkun- gen zum Verhältnis von Medien und Vertriebenen, in: DOD vom 29.05.1998, S. 5.

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tionsoffensive“, damit die Erinnerung an den „deutschen Osten“ und die Vertriebenen erhalten bliebe.110 Die Notwendigkeit einer stärkeren Präsenz der Vertriebenen in den Medien wurde im DOD 1998 folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Brauchen die Vertriebenen, braucht das Thema der deutschen Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg heute noch eine besondere publizistische Wahrnehmung? […] Die nicht ganz so hartgesottenen, oder auch raffinierteren Gegner der Vertriebenen und ihrer speziellen publizistischen Vertretung argumentieren dabei absichtlich unideolo- gisch, scheinbar rational, indem sie behaupten, das Thema sei einfach nicht mehr zeitge- mäß, die Zielgruppe werde immer kleiner und verliere sich mittlerweile in der Gesellschaft derart, daß eine eigene Medienpräsenz völlig sinnlos werde und jedenfalls ökonomisch gar nicht mehr zu rechtfertigen sei. Damit geht man einer politischen Diskussion aus dem Weg, schafft aber geräuschlos effektiv, worauf es den Gegnern ankommt: Die Vertriebenen aus der Öffentlichkeit zu vertreiben, sie publizistisch im Insider-Medium der Vereinsblättchen zu isolieren.“111 In diesem Zitat fällt die Ähnlichkeit zwischen dem Anfang der 1990er und dem Ende der 1960er Jahre besonders stark auf: In den 1990er Jahren sprach Herbert Hupka vor der „Vertreibung“ der Vertriebenen aus dem Bewusstsein der Bevölkerung und in den 1960er Jahren war es BdV-Präsident Rehs, der sich über die „Vertreibung“ der Vertriebenen aus der Öffentlichkeit beklagte. In beiden Fällen gingen diese Vor- würfe mit dem Wandel des Oder-Neiße-Diskurses und des Opferdiskurses einher. In diesem Zitat wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der öffentlichen Diskussion über die Vertriebenen und die Vertreibung um eine politische Diskussion handelt und sie aus diesem Grund immer wieder gemieden wird. Das neue BdV-Präsidium unter der Führung von Erika Steinbach wollte diesem Zustand entgegenwirken. Das lässt sich vor allem an Steinbachs Artikel für den DOD feststellen, dessen Titel lautet: „Vertreibungen können nicht mehr totgeschwiegen werden“112. Darin forderte sie die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Vertreibungsthema und wollte mit dem Zentrum gegen Vertreibungen dem „Verschweigen“ der Vertreibung ein Ende setzen. In ihrem Artikel hieß es: „In diesem Jahr haben wir uns ein großes Projekt vorgenommen und uns damit eine wich- tige Aufgabe für den Beginn des neuen Jahrhunderts gestellt: Das ,Zentrum gegen Vertrei- bungen – Stiftung der deutschen Heimatvertriebenen‘. Geschichte, Kultur und Leidensweg schuldloser Kinder, Frauen und Männer sollen durch unsere Stiftung im Zusammenhang erfahrbar werden. Im ,Zentrum‘ soll dieser einschneidende Teil gesamtdeutscher Geschich- te aufgearbeitet, dokumentiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zudem wollen wir mit dieser Einrichtung mahnen, Vertreibungen weltweit entgegenzuwirken, sie zu ächten und die Völkergemeinschaft zu sensibilisieren.“113

110 ERIKA STEINBACH: Aufruf zum Tag der Heimat, in: DOD vom 28.08.1998, S. 1. 111 MAESSEN, Vertreibung aus der Öffentlichkeit? (wie Kap. 6, Anm. 109), S. 5. 112 ERIKA STEINBACH: Vertreibungen können nicht mehr totgeschwiegen werden, in: DOD vom 17.12.1999, S. 1. 113 Ebenda, S. 2.

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Durch die Forderung nach der Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte erweckte die BdV-Präsidentin den Eindruck, als ob die Geschichte der Vertreibung bisher ver- nachlässigt und an die Opfer der Vertreibung bisher nie gedacht worden wäre. Die Er- richtung eines Dokumentationszentrums wurde von ihr fast wie eine Mission des BdV dargestellt, die nach Steinbachs Vorstellung in der endgültigen Enttabuisierung des Vertreibungsthemas um die Jahrtausendwende bestand. Die Sonderrolle des BdV sollte darin bestehen, das Thema der Öffentlichkeit überhaupt erst zugänglich zu ma- chen, als ob der öffentlichen Meinung bisher jegliche Informationen über die Vertrei- bung der Deutschen entzogen worden wären. Es ging außerdem darum, „die Tragödie der 15 Millionen deutschen Heimatvertriebenen als auch anderer Völker, insbeson- dere in Europa, im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu erhalten“114. Das waren die Gründe, warum der BdV auch in den 1990er Jahren die „Aufklärungsarbeit“ für not- wendig hielt. Auch hier lässt sich beobachten, dass der Verband wieder in seine Rolle aus den 1970er Jahren schlüpfte: Damals kämpfte er vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen gegen das „Verschweigen“ der Vertrei- bung in den Schulbüchern. Jetzt glaubte er, diesen Kampf wieder aufnehmen zu müs- sen und ihn im Zentrum gegen Vertreibungen zu beenden. Die BdV-Präsidentin schien auch das fortsetzen zu wollen, was bereits ihr Vorgänger für wichtig hielt: Fritz Wittmann sah es als eine wichtige Aufgabe des BdV an, „wahrheitsgetreue“ Ge- schichtsvermittlung zu leisten.115 Während der BdV sich in der Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der Defensive befunden und sich mit seinem Deutungsmuster nicht durchgesetzt hatte, schien die BdV-Präsidentin im Zentrum gegen Vertreibungen nicht nur die Vertreibungsgeschichte musealisieren, sondern auch das Deutungsmuster des BdV verewigen zu wollen. Erika Steinbach sprach von einem „weißen Fleck“, der aufgearbeitet werden soll- te, und erzeugte damit den Eindruck, als ob der BdV mit dem großen Projekt des „Zentrums“ die Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte erst initiieren sollte. Inso- fern stellte sie den Verband als einen Vorreiter dar. Im DOD hieß es: „Es gibt nach der festen Überzeugung der BdV-Präsidentin Erika Steinbach einen weißen Fleck in der öffentlichen Dokumentation und Aufarbeitung der deutschen und europäi- schen Geschichte dieses Jahrhunderts: Das Gesamtschicksal der 15 Millionen vertriebenen Deutschen. Nirgendwo ist ein Gesamtüberblick unter einem Dach über die größten Vertrei- bungs- und Gewaltaktionen, die es je gegeben hat, vorhanden, und an keinem Ort ist für den interessierten Bürger die Kultur und Geschichte der Vertriebenen und ihrer Heimat im Zusammenhang erfahrbar, ebensowenig wie die Deportation, die Zwangsarbeitslager, Fol- ter, Vergewaltigung und auch der Mord an mehr als zwei Millionen davon bis lange nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.“116

114 ADOLF WOLF: Großer Erfolg für Benefizkonzert in der Paulskirche zugunsten der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, in: DOD vom 1.03.2002, S. 1. 115 Vgl. Kapitel 6.1.1 in dieser Arbeit. 116 Wir brauchen in Berlin ein „Zentrum der 15 Millionen“ (wie Kap. 6, Anm. 107), S. 5; vgl. auch STEINBACH, Wir wollen mahnen und sensibilisieren (wie Kap. 6, Anm. 106).

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Im folgenden Zitat wird deutlich, dass das BdV-Präsidium vor allem auf die Größe und den inhaltlichen Umfang des geplanten Projekts hinzuweisen versuchte und damit die Sonderrolle des Verbandes zum Ausdruck brachte. Es wurde betont, dass sich vor dem BdV bisher keiner mit dem Vertreibungsthema so umfassend beschäftigt hatte. Es wurde auf die Einmaligkeit des Projekts hingewiesen, in dem nicht nur die Vertrei- bung der Deutschen, sondern auch die der anderen Volksgruppen aufgearbeitet wer- den sollte. Insofern trat hier der BdV in der Rolle auf, die er seit seiner Entstehung beanspruchte: Er wollte die öffentliche Meinung auf seine Sonderstellung unter allen anderen Interessenverbänden aufmerksam machen. Ähnlich wie der BdV alle Vertrie- benenverbände unter einem Dach zusammenschloss, wollte er nun die Geschichte der deutschen Vertriebenen „unter einem Dach“ darstellen. Er hatte sich immer als zent- raler Vertriebenenverband dargestellt und in gewisser Hinsicht versuchte er, im Zent- rum gegen Vertreibungen verschiedene Aspekte seiner bisherigen Arbeit zu realisie- ren. Im Zentrum schien Erika Steinbach nicht nur einen Dokumentationsort, sondern auch einen Erinnerungs- bzw. Gedächtnisort schaffen zu wollen.117 Obwohl die BdV- Präsidentin immer bestritt, dass das Zentrum gegen Vertreibungen als Gegenstück zu dem monumentalen Holocaust-Mahnmal gedacht war, schien es kein Zufall gewesen zu sein, dass der BdV sein Projekt 1999 vorstellte, als der Bau des Mahnmals für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus begann. Diese „Opferkonkurrenz“ war nicht neu. Sie lässt sich bereits an der Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren beob- achten, als nach dem Fernsehfilm „Holocaust“ über die jüdischen Opfer drei Jahre später in der ARD die Dokumentation „Flucht und Vertreibung“ folgte. Der BdV betonte jahrelang, dass er nicht nur der Vertreter der Verbandsinteressen sei, sondern auch die nationalen Interessen des ganzen deutschen Volkes repräsen- tiere. Jetzt bediente er sich eines ähnlichen Argumentationsmusters: Das Zentrum ge- gen Vertreibungen stellte der Verband ursprünglich als sein Projekt vor und im Laufe der Zeit betonte er immer stärker, dass es sich dabei nicht um Verbandsinteressen, sondern um eine nationale Angelegenheit handelte. Dementsprechend sollte das Pro- jekt auch von der Bundesregierung und den Bundesländern finanziell unterstützt wer- den. Die Errichtung des „Zentrums gegen Vertreibungen“ avancierte also zu einer nationalen Verpflichtung: „Bei der Aufgabenstellung für das Zentrum gegen Vertrei- bungen handelt es sich nicht nur um ein Anliegen der deutschen Heimatvertriebenen, sondern um einen Teil gesamtdeutschen Schicksals und gesamtdeutscher, ja euro- päischer Geschichte“, hieß es im DOD. 118 Mit einem solchem Argumentationsmuster stilisierte die BdV-Führung nicht nur das Projekt zu einer nationalen Aufgabe hoch, sondern konnte als Ideenstifter leichter eine Sonderstellung bei der Verwirklichung dieser Aufgabe fordern. Neben der Musealisierung der Vertreibung forderten BdV-Präsidentin Steinbach und die Bundesversammlung des BdV, den 5. August, also den Tag, an dem die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ unterzeichnet wurde, zum nationalen Ge-

117 Zum Konzept der Gedächtnisorte vgl. NORA. 118 Konzeption für Zentrum gegen Vertreibungen verabschiedet (wie Kap. 6, Anm. 106), S. 1.

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denktag zu erklären.119 Im Juli 2003 verabschiedete der Bundesrat einen Beschluss, „mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, den 5. August zum ‚Nationalen Ge- denktag für die Opfer von Vertreibung‘ zu erheben“120. Die Forderung nach dem nationalen Gedenktag für die Opfer der Vertreibung sowie nach der Errichtung des Zentrums gegen Vertreibungen zeigte, dass der BdV das Vertreibungsthema durch das Schaffen eines Gedenkrituals in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik veran- kern wollte. Ähnlich wie in den 1980er Jahren zeigte Bundeskanzler Helmut Kohl auch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre seine Anerkennung für die Arbeit des BdV. Als Erika Steinbach 1998 zur BdV-Präsidentin gewählt worden war, empfing sie der Bundes- kanzler zu einem Gespräch.121 Doch im gleichen Jahr wurde Kohl in seinem Amt von dem SPD-Politiker Gerhard Schröder abgelöst. Das seit der Ostpolitik Willy Brandts gestörte Verhältnis zwischen der SPD und den Vertriebenenverbänden bedeutete für den BdV, dass seine politische Unterstützung durch den Sozialdemokraten Gerhard Schröder unter einem Fragezeichen stand. Erika Steinbach kommentierte im DOD Schröders Verhältnis zu den Vertriebenen folgendermaßen: „Die Äußerung von Bun- deskanzler Schröder, er habe ‚keine Beziehung‘ zu den Anliegen der Vertriebenen, ist keine wirkliche Überraschung. Dennoch wird er sich als deutscher Bundeskanzler auch mit den ungelösten Fragen der völkerrechtswidrigen Vertreibung der Deutschen befassen müssen. Das ist seine Aufgabe.“122 Die erste öffentliche Unterstützung und Solidarität mit den Vertriebenen seitens der SPD-Spitzenpolitiker kam von Bundesinnenminister Otto Schily, als er auf dem vom BdV organisierten „Tag der Heimatvertriebenen“ im Rahmen des 50-jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland eine Rede hielt.123 Laut dem DOD habe Schily dem BdV „ein faires partnerschaftliches Verhältnis angeboten“ und „eine konstruktive sachliche Zusammenarbeit“ zugesagt.124 Auf dem „Tag der Heimat- vertriebenen“ begrüßte er die Idee des BdV, ein Zentrum gegen Vertreibungen zu er- richten, und bezeichnete dieses Vorhaben als „unterstützenswert“.125 Darüber hinaus

119 Vgl. WALTER STRATMANN: Menschenwürde und Menschenrechte sind Fundamente Deutschlands und Europas, in: DOD vom 18.05.2001, S. 1-4; Steinbach fordert nationalen Gedenktag für deutsche Opfer von Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit, in: DOD vom 6.07.2001, S. 1-2. 120 E RIKA STEINBACH: Bundesrat will 5. August als nationalen Gedenktag, in: DOD, 8/2003, S. 3. 121 Vgl. Vertriebene können auf Bundeskanzler zählen, in: DOD vom 28.08.1998, S. 1-2. 122 ERIKA STEINBACH: Menschenrechte gelten auch für deutsche Heimatvertriebene, in: DOD vom 13.11.1998, S. 3. 123 Vgl. WALTER STRATMANN: Bundesinnenminister Otto Schily Weltbürger und Antropo- soph, in: DOD vom 21.05.1999, S. 1. 124 Ebenda, S. 1. 125 Rede von Bundesinnenminister Otto Schily am 29. Mai 1999 im Berliner Dom, in: DOD vom 4.06.1999, S. 8; vgl. auch: WALTER STRATMANN: Spitzenpolitiker einstimmig für Zentrum gegen Vertreibungen, in: DOD vom 4.06.1999, S. 1-2; BdV wirbt landauf/landab für Zentrum gegen Vertreibungen, in: DOD vom 8.09.2000, S. 8.

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ging Schily in seiner Rede auf das Verhältnis der Sozialdemokraten zu den Vertriebe- nen und dem Vertreibungsthema ein: „Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das läßt sich leider nicht bestreiten, zeit- weise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebe- nen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftig- keit. […] Den Fehlern auf seiten der politischen Linken entsprach auf seiten der politischen Rechten der Versuch, die massenhafte Vertreibung aus ihrem historischen Kontext zu lösen und die Ereignisse nur isoliert zu betrachten und zu bewerten. Das weckte den Verdacht, es sollten die Geschehnisse am Ende des zweiten Weltkrieges in eine entlastende Aufrech- nung mit dem Holocaust gebracht werden.“126 Hier kam der erste starke Wendepunkt zum Ausdruck: Seit den 1970er Jahren hatte es für die Vertriebenenverbände keine politische Unterstützung seitens der SPD gegeben. Ende der 1990er Jahre waren die Sozialdemokraten aber dazu bereit, ihr Verhältnis zu den Vertriebenenverbänden zu verbessern. Nicht nur Otto Schily be- wies das in seiner Rede 1999, sondern auch Gerhard Schröder, als er die Einladung des BdV zum „Tag der Heimat“ im Jahr 2000 annahm. Die BdV-Präsidentin begrüßte die Zusage des Bundeskanzlers und wies darauf hin, dass er damit „ein Zeichen der Solidarität mit dem Schicksal der Heimatvertriebenen“ setze.127 Gerhard Schröder war nämlich der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, der auf einer Eröffnungs- veranstaltung zum „Tag der Heimat“ sprach.128 Schröder erinnerte in seiner Rede an das Leiden der Vertriebenen, zeigte sich aber, im Gegensatz zu Otto Schily, zurück- haltend gegenüber dem Zentrum gegen Vertreibungen. Laut dem DOD habe Schröder jedoch in seiner Rede hinzugefügt, dass die Zurückhaltung der Bundesregierung nicht gegen das Projekt des BdV spreche.129 Nicht nur die Anwesenheit der SPD-Politiker auf den Vertriebenenveranstaltungen war ein Zeichnen ihrer Unterstützung für die Vertriebenenverbände. Es waren auch Gespräche, die zwischen dem BdV-Präsidium und den Vertretern der SPD geführt wurden. Vor dem Hintergrund eines Gesprächs zwischen der SPD-Bundestagsfraktion und dem BdV-Präsidium im Jahre 2000 war beispielsweise im DOD von einem „konstruktiven Dialog“ zwischen den beiden Ge- sprächspartnern die Rede.130 Erika Steinbach wies im gleichen Jahr darauf hin, dass die Bereitschaft zu Gesprächen seitens der Bundesregierung bestand und dass ihr Ge-

126 Rede von Bundesinnenminister Otto Schily am 29. Mai 1999 im Berliner Dom (wie Kap. 6, Anm. 125), S. 6. 127 Die deutschen Heimatvertriebenen im Spannungsfeld der Politik, in: DOD vom 21.07. 2000, S. 2. 128 Vgl. Bundeskanzler Schröder hält Festrede am Tag der Heimat bei Charta-Jubiläum der Heimatvertriebenen, in: DOD vom 7.04.2000, S. 1. 129 Vgl. WALTER STRATMANN: Beeindruckender Festakt in Berlin. 50 Jahre Charta der Deut- schen Heimatvertriebenen, in: DOD vom 8.09.2000, S. 1-3. 130 Konstruktiver Dialog mit dem Bund der Vertriebenen wird fortgesetzt, in: DOD vom 31.03.2000, S. 1.

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spräch mit Bundeskanzler Schröder in einer aufgeschlossenen Atmosphäre verlaufen war.131 Zwei Jahre später bezeichnete Steinbach es als „ein gutes Zeichen“, dass Bun- despräsident Johannes Rau, Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie alle Ministerprä- sidenten mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern ihr Grußwort zum „Tag der Heimat“ 2002 geschickt hatten.132 Johannes Rau nahm ein Jahr später sogar persön- lich am „Tag der Heimat“ teil.133 Das Verhältnis der Parteien zum BdV um die Jahrtausendwende erinnerte an jenes in den 1950er und der ersten Hälfte der 1960er Jahre: Sowohl die Spitzenpolitiker der CDU als auch die der SPD besuchten die Vertriebenenveranstaltungen, hielten dort Reden oder schickten Grußworte an die organisierten Vertriebenen und drückten da- mit öffentlich ihre Unterstützung aus. Mit dem für die 1960er Jahre typischen Selbst- bewusstsein stellten die BdV-Präsidentin und die Bundesversammlung des BdV vier- zig Jahre später folgende Forderungen an die Bundesregierung und die Bundesländer: „Zentrum gegen Vertreibungen muss gefördert werden. Der BdV unterstützt mit allen Möglichkeiten das Zentrum gegen Vertreibungen, Stiftung der deutschen Heimatvertriebe- nen, und fordert die Bundesregierung auf, der Stiftung ein Gebäude in Berlin in museums- nutzbarem Zustand zur Verfügung zu stellen, das der Darstellung dieser Menschenrechts- frage angemessen ist, [fordert] die Bundesländer auf, die Stiftung finanziell so auszustat- ten, dass sie aus diesen Mitteln dauerhaft qualitätsvolle Arbeit leisten kann.“134 Die Finanzierung des BdV-Projekts durch die Bundesregierung würde bedeuten, dass es sich dabei nicht nur um ein Verbandsanliegen handelte, sondern auch um eine staatliche Initiative. Der BdV folgte einem klaren Argumentationsmuster: Bei dem Zentrum gegen Vertreibungen handelte sich nicht um Verbandsinteressen, sondern um ein nationales Anliegen, und wenn das Projekt für das ganze Volk so wichtig war, musste es auch vom Bund und den Ländern finanziert werden. Die Verweigerung der finanziellen Unterstützung würde bedeuten, sich die Erfüllung einer nationalen Auf- gabe zu verweigern. Vor dem Hintergrund der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen lässt sich feststellen, dass sich der BdV verstärkt als eine moralische Instanz darstellte. Ähnlich wie in den 1970er Jahren nahm er sich als ein „Mahner“ wahr. Mit seinem Projekt be- absichtigte der BdV, einen Ort der Mahnung vor weiteren Vertreibungen zu schaf- fen.135 Dieses Selbstbild griff auch Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem Gruß- wort zum „Tag der Heimat“ 1999 an die Vertriebenen auf, indem er die Vertriebenen

131 Vgl. Die deutschen Heimatvertriebenen im Spannungsfeld der Politik (wie Kap. 6, Anm. 127). 132 Erika Steinbach, MdB. Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, in: Tag der Heimat 2002. Reden und Grußworte, hrsg. vom Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände, Bonn 2002, S. 3. 133 Vgl. WALTER STRATMANN: Mit Menschenrechten Europa vollenden, in: DOD, 9/2003, S. 5-6. 134 STRATMANN, Menschenwürde und Menschenrechte (wie Kap. 6, Anm. 119), S. 2. 135 Vgl. STEINBACH, Wir wollen mahnen und sensibilisieren (wie Kap. 6, Anm. 106).

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als „Mahner gegen Vertreibung in Gegenwart und Zukunft“ bezeichnete.136 Darüber hinaus sprach die BdV-Präsidentin von der Vertreibung der Deutschen als Menschen- rechtsverletzung und griff somit auch hier auf das Argumentationsmuster der 1970er Jahre zurück. Laut Steinbach seien „Vertreibungen schwerste Menschenrechtsverlet- zungen“ und sollten im Zentrum gegen Vertreibungen geächtet werden.137 Bereits in den 1970er Jahren sprach BdV-Präsident Czaja darüber, dass Menschenrechte für je- des Volk gleich gelten, was auch Erika Steinbach bekräftigte: „Menschenrechte sind unteilbar!“ hieß das Motto des BdV für das Jahr 1999.138 Die BdV-Präsidentin machte darauf aufmerksam, dass auch die deutschen Opfer eine Anerkennung in der Öffent- lichkeit verdienten, weil auch sie unter Menschenrechtsverletzungen gelitten haben.139 Mit diesem Argumentationsmuster zielte der BdV deutlich darauf ab, die Deutschen aus der Täterrolle herauszulösen und im Zentrum gegen Vertreibungen auf ihre Op- ferrolle aufmerksam zu machen. Erika Steinbach deutete auf die Opferrolle der Vertriebenen nicht nur aufgrund ih- rer Vertreibung aus der Heimat hin, sondern auch im Hinblick auf ihr späteres Leben in der Bundesrepublik. Sie beklagte sich nicht nur darüber, dass das Vertreibungs- thema jahrelang verschwiegen wurde, sondern auch, dass die deutschen Vertriebenen mit diesem Thema allein gelassen wurden: „Das Thema Vertreibung wird zur Zeit umfassend in den Medien behandelt und in der Öf- fentlichkeit diskutiert. Das ist gut so, denn die Diskussion ist bitter nötig, nachdem man dem Thema in weiten Kreisen unserer Gesellschaft jahrelang mit Schweigen begegnete oder es bestenfalls am Rande behandelte. Die deutschen Heimatvertriebenen sind lange mit der Bewältigung ihres Schicksals alleine gelassen worden. Wenn sich das jetzt ändert, so ist das nur zu begrüßen.“140 Ähnlich wie in diesem Zitat aus dem Jahr 2002 lässt sich im Argumentationsmus- ter des BdV auch in den früheren Jahren die Gegenüberstellung der Vergangenheit und der Gegenwart beobachten. Die Vertriebenen und ihre Verbände kamen darin immer wieder als Opfer der Politik, der Medien und der Öffentlichkeit vor. Der BdV beklagte sich immer wieder über Diskriminierungs- und Isolierungsversuche gegen- über den deutschen Vertriebenen und ihren Verbänden. Mit dem Zentrum gegen Ver- treibung und der daraus entstandenen Debatte schien der Verband, nach der Nieder-

136 Deutsche Heimatvertriebene – Mahner gegen Vertreibung in Gegenwart und Zukunft. Grußwort des Bundeskanzlers zum „50. Tag der Heimat“ des Bundes der Vertriebenen am 5. September 1999 in Stuttgart, in: DOD vom 10.09.1999, S. 3. 137 ERIKA STEINBACH: Bewußtsein der Öffentlichkeit für Anliegen der Vertriebenen schärfen, in: DOD vom 8.01.1999, S. 1; vgl. auch: STEINBACH, Wir wollen mahnen und sensibili- sieren (wie Kap. 6, Anm. 106). 138 STEINBACH, Bewußtsein der Öffentlichkeit (wie Kap. 6, Anm. 137), S. 2. 139 Vgl. ebenda; vgl. auch: STRATMANN, Menschenwürde und Menschenrechte (wie Kap. 6, Anm. 119); WALTER STRATMANN: BdV-Präsidentin Steinbach, MdB: Recht auf die Heimat soll in die EU-Grundrechtscharta verankert werden, in: DOD vom 13.10.2000, S. 1. 140 ERIKA STEINBACH: BdV begrüßt Debatte in den Medien über die Vertreibung, in: DOD vom 28.03.2002, S. 1.

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lage bei dem Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete, sich mit seinem Argumentations- muster in der Politik und in der Öffentlichkeit endlich durchsetzen zu wollen. Er schien mit seinem Projekt nicht nur um die Erinnerung an die Vertreibung zu kämp- fen, sondern auch um sein eigenes Image als Dachverband der deutschen Vertriebe- nen. Es wirkt, als wolle er sich selbst mittels des großen Projekts Zentrum gegen Vertreibungen ein Denkmal errichten.

6.2.2 Der Bund der Vertriebenen als „Museumsdirektor“? Das vom BdV vorgeschlagene Zentrum gegen Vertreibungen löste in der deutschen Öffentlichkeit eine lebhafte Debatte aus. Es gab mehrere Gründe dafür, warum gerade zur Jahrtausendwende das Thema „Flucht und Vertreibung“ so umfangreich diskutiert wurde: Bereits in den 1990er Jahren lassen sich nach Ernst Wurl in der Ära Kohl Tendenzen beobachten, die Geschichte Deutschlands von „Schuldgefühl“ und „Min- derwertigkeitskomplexen“ zu befreien und ihr neuen Nationalstolz in Europa zu ver- leihen.141 Zu dieser Zeit habe sich in der deutschen Öffentlichkeit „eine Atmosphäre erhitzter, teilweise überbordender Diskussion über die eigene Geschichte“ entfaltet.142 Die Idee des Zentrums gegen Vertreibungen ist im Kontext des für die 1990er Jahre charakteristischen „Erinnerungsbooms“143 in der Bundesrepublik einzuordnen. Die Diskussionen um Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ sowie um die Wehrmachtsausstellung warfen die Frage nach der Verteilung von Täter- und Opferrollen auf. Die Fernsehbilder der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem ehema- ligen Jugoslawien lösten Erinnerungen an das Schicksal der deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg aus.144 Constantin Goschler sieht vier Faktoren, die mit den Forderungen des BdV nach einem Zentrum gegen Vertreibungen zusammenhän- gen: Zunächst seien es die diskursiven Rahmenbedingungen, die sich in den 1990er Jahren veränderten und ermöglichten, die Vertriebenen nicht nur als Opfer des Stali- nismus, sondern auch des Nationalsozialismus zu betrachten. Der Diskurs der „Un- vergleichbarkeit“ des Holocaust sei durch die Totalitarismustheorie unterminiert wor- den, was wiederum zum Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen Terror führte. Zweitens habe sich der wissenschaftliche Diskurs vom „Holocaust“ zu „ethnischer Säuberung“ und „Genozid“ verschoben. Insbesondere die Konflikte in Jugoslawien und Ruanda stellten nach Goschler die These über die Un- vergleichbarkeit des Holocaust, mit der auch die Unwiederholbarkeit eines Verbre- chens von so großem Ausmaß wie die Vernichtung der Juden zusammenhing, in Frage.145 Drittens habe die „Universalisierung“ des Gedenkens an den Holocaust dazu geführt, dass das Gedenken an die Ermordung der Juden zum „Modellfall“ wurde, an dem sich auch andere Opfergruppen orientierten. Damit sei seit den 1990er Jahren

141 WURL, S. 1117 f. 142 Ebenda, S. 1115; vgl. auch ASSMANN/FREVERT, S. 11. 143 Vgl. FRANZEN, Diskurs als Ziel, S. 4. 144 Vgl. ebenda, S. 4 f. 145 Vgl. GOSCHLER, S. 880 f.

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„ein globaler Opfer- und Restitutionsdiskurs“ entstanden, in dem die jüdischen Opfer als Vorbild fungierten.146 Viertens lasse sich in den 1990er Jahren die „Europäisie- rung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust“ beobachten, die auf die fortschreitende europäische Integration zurückzuführen sei und Vergleiche zwischen verschiedenen nationalen Opferdiskursen nach sich ziehe.147 Die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen zeigte, dass die Einbeziehung verschiedener Opferperspektiven in die Diskussion sich als sehr problematisch erwies und für neue Deutungskonflikte sorgte. Noch bevor der BdV seine Idee des „Zentrums gegen Vertreibungen“ der Öffent- lichkeit vorstellte, war die Vertreibungs- und Vertriebenenproblematik auf der mas- senmedialen Ebene bereits präsent. In der FAZ drückte beispielsweise Reinhard Mül- ler Bedauern aus, dass die Vertriebenen und ihre Verbände hauptsächlich ein negati- ves Bild in der Öffentlichkeit hatten: „Die Vertriebenen, ihre Organisationen und Stiftungen tauchen in der öffentlichen Wahr- nehmung vorwiegend als Störenfriede und Verhinderer einer Aussöhnung auf, obwohl das Gegenteil richtig ist. Ungeachtet radikaler Äußerungen einzelner, sind die Vertriebenen und ihre Nachkommen aufgrund unzähliger Kontakte mit der alten Heimat die wahren Brückenbauer zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarn.“148 Indem Müller in der Schlagzeile zu seinem Artikel von der „zweiten Vertreibung“ sprach, betonte er, ähnlich wie Herbert Hupka und Fritz Wittmann, den doppelten Opferstatus der deutschen Vertriebenen. Er wies außerdem auf die besondere Rolle der deutschen Vertriebenen bei der Versöhnungsarbeit zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn hin. Müller machte auch auf die Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Deutschland“ aufmerksam, die sich infolge der Wiedervereinigung vollzog und den BdV bereits in den 1970er und 1980er Jahren mit Besorgnis erfüllte: Er solidarisierte sich mit den Vertriebenen in dem Bedauern darüber, dass die ehema- lige DDR nicht als „Mitteldeutschland“, sondern als „Ostdeutschland“ bezeichnet wurde. Müller kritisierte außerdem den bisherigen öffentlichen Umgang mit der Erin- nerung an die Vertreibung und die seiner Meinung nach jahrelang andauernde „Ver- fälschung“ in Bezug auf den Deutschland-Begriff: „Eine Auseinandersetzung mit dem für die Nation einschneidenden Ereignis des Verlustes der Ostgebiete und der völkermordartigen Vertreibung hat bisher nicht stattgefunden, und dabei bleibt es. In den Lehrplänen der Schulen und im Unterrichtsalltag spielen die Ver- treibung und die deutsche Geschichte im Osten Europas kaum eine Rolle. Die Bezeichnung ,Ostdeutschland‘ wird oft in einer die Geschichte verfälschenden Weise verwendet. Die sogenannte Bodenreform fand nach dem Krieg in der Sowjetischen Besatzungszone im damaligen Mitteldeutschland und nicht in Ostdeutschland statt, das zu jener Zeit unter überwiegend polnischer Verwaltung stand.“149

146 Ebenda, S. 881. 147 Ebenda, S. 882. 148 REINHARD MÜLLER: Die zweite Vertreibung, in: FAZ vom 20.04.1998. 149 Ebenda.

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Nicht nur in der FAZ, sondern auch in der Zeit wurde Mitgefühl für die deutschen Vertriebenen gezeigt. Darin sprach Jan Ross von den „vergessenen Vertriebenen“.150 In seinem Artikel räumte er zwar ein, dass sich das Schicksal der unschuldig vertrie- benen Kosovo-Albaner nicht mit der Massenflucht der Deutschen, die infolge des Na- ziverbrechens stattfand, vergleichen lasse. Zugleich wies er aber darauf hin, dass die Erinnerung an die Vertreibung der deutschen Bevölkerung wichtig sei.151 Mit dem Zentrum gegen Vertreibungen erregten nicht nur die Vertriebenen und der Themenkomplex „Flucht und Vertreibung“ eine große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, sondern vor allem auch der BdV. Vor dem Hintergrund der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen erschienen in der deutschen Presse mehrere Artikel über die Vorgeschichte des BdV bzw. der Vertriebenenverbände. Der Dach- verband stand das letzte Mal in den 1960er Jahren so stark im Mittelpunkt der mas- senmedialen Aufmerksamkeit, als er gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze protestierte. Große Publizität verschaffte sich der BdV parallel zum „Zentrum“ durch seine Entschädigungsansprüche für die Vertreibungsopfer.152 Auch sein Versuch, die Aufnahme Polens und der Tschechischen Republik in die Europäische Union von der Anerkennung der Vertreibung und der Lösung der Entschädigungsfrage abhängig zu machen, wurde zu einem medialen Thema.153 Nichtsdestotrotz erreichte der BdV den Höhepunkt seiner medialen Präsenz vor allem dank der Debatte um das Zentrum ge- gen Vertreibungen. Interviews mit den BdV-Präsidenten erschienen letztmals im Spiegel in den 1960er Jahren. Nun führte das Blatt nach langjähriger Pause wieder ein Gespräch mit einem BdV-Präsidenten, diesmal aber mit der ersten Frau auf diesem Posten, Erika Steinbach.154 Das früher den Vertriebenenverbänden gegenüber so kritische Wochen- magazin widmete dem Thema „Flucht und Vertreibung“ sogar eine ganze Artikel- reihe im Rahmen einer so genannten Spiegel-Serie, in welcher es sich unter anderem mit dem Schicksal der deutschen Vertriebenen und ihren Verbänden auseinander- setzte. In einem der Artikel dieser Serie wurden das Verhältnis des BdV zu den politi- schen Parteien seit Ende der 1950er Jahre sowie die Mobilisierungskraft der deut-

150 So der Titel des Artikels von JAN ROß: Vergessene Vertriebene, in: Die Zeit vom 22.04. 1999. 151 Vgl. ebenda. 152 Vgl. Steinbach kritisiert Schröder und distanziert sich von Hardlinern, in: Spiegel-Online vom 4.09.2004; Polen und Deutschland erklären Entschädigungsfragen für erledigt, in: Spiegel-Online vom 14.09.2004; Schröder erteilt Entschädigungsforderungen klare Abfuhr, in: Spiegel-Online vom 30.07.2004; IRINA REPKE: Angst vor den Deutschen, in: Der Spie- gel vom 2.02.2004, S. 36-42. 153 Vgl. ANDRZEJ RYBAK, HANS-ULRICH STOLDT: Gift und Eiter, in: Der Spiegel vom 11.01. 1999, S. 44-47; ERICH WIEDEMANN: „Getanzt, getrunken und geweint“, in: Der Spiegel vom 15.11.1999, S. 238-243; DERS.: Handfeste Drohung, in: Der Spiegel vom 22.09.2003, S. 142-143. 154 Vgl. Hans Michael Kloth und Dietmar Pieper im Gespräch mit der BdV-Präsidentin Erika Steinbach: „Grandioses Versagen“, in: Der Spiegel vom 20.09.2004, S. 36-38.

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schen Vertriebenen vor verschiedenen Bundestagswahlen thematisiert.155 Angesichts der Tatsache, dass die Erlebnisgeneration der Vertriebenen ausstarb und die Grenzfra- gen geklärt waren, ging Hans Michael Kloth im Spiegel der Frage nach, ob die Ver- triebenenverbände noch eine Zukunft hätten.156 Er widmete dem Bund der Vertriebe- nen viel Raum in seinem Artikel und ging unter anderem auf seine Mitgliederzahlen ein. Mit „rund 2 Millionen Mitgliedern“ sei der Vertriebenenverband „immer noch eine starke Gemeinschaft“.157 Er sei einerseits „eine vom Aussterben bedrohte“, andererseits aber „eine bemerkenswert zählebige“ Organisation, deren Verbandsspitze im Gegensatz zu den früheren Jahren „erstaunlich anpassungsbereit“ geworden sei.158 Diese Veränderung führte Kloth auf das „Zauberwort Europa“ zurück, womit er das auf den Europagedanken ausgerichtete Argumentationsmuster des BdV meinte. Indi- rekt suggerierte er, dass es sich beim BdV um alte Ziele in einer neuen Form handel- te: „Das rhetorische Arsenal ist weitgehend abgerüstet“ und „wie man wirkungsvoll Geschichtspolitik betreibt, haben Steinbach und ihre Strategen offenbar begriffen“.159 Severin Weiland wiederum wies im Spiegel darauf hin, dass die neue BdV-Präsiden- tin Erika Steinbach sehr viel zum Imagewandel des Vertriebenenverbandes beitrug. Er machte außerdem darauf aufmerksam, dass Steinbach mittlerweile viele frühere Kritiker des „Zentrums gegen Vertreibungen“ für sich gewinnen konnte: „Im Alleingang krempelt eine Frau das Image der Vertriebenen um: Erika Steinbach bricht endgültig mit den alten Denkweisen. Für ihren Kampf um ein ,Zentrum gegen Vertreibun- gen‘ in Berlin konnte die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen sogar den scharfzüngi- gen Holocaust-Überlebenden Ralph Giordano gewinnen.“160 Dem Phänomen „Steinbach“ widmete auch Die Zeit ihre Aufmerksamkeit: „Was auch immer Steinbach anpackt, verfolgt sie mit terminatorhafter Entschlossenheit“, so Jörg Lau in der Wochezeitung.161 In seinem Artikel beschrieb Lau den Wandel des BdV, der sich seit der Wahl Erika Steinbachs zur BdV-Präsidentin vollzog: „Soeben ist Erika Steinbach zum dritten Mal als Präsidentin wiedergewählt worden. An diesem Pfingstwochenende, bei den traditionellen Vertriebenentreffen, wird sie gefeiert werden. Tatsächlich hat sie den Bund der Vertriebenen aus der politischen Paria-Existenz geführt. An die Stelle des Muckertons der frühen Jahre ist in ihrer Amtszeit ein selbstbe- wusster, konfrontativer Stil getreten. Es ist kein geringes Verdienst, die Vertriebenenver- bände zugleich aus der Ecke der Ressentimentpolitik geholt zu haben. Steinbach hat erst-

155 Vgl. CHRISTIAN HABBE: Der zweite lange Marsch, in: Der Spiegel vom 15.04.2002, S. 62- 69. 156 Vgl. HANS MICHAEL KLOTH: Zauberwort Europa, in: Der Spiegel vom 15.04.2002, S. 74- 75. 157 Ebenda, S. 74. 158 Ebenda. 159 Ebenda, S. 75. 160 SEVERIN WEILAND: Das neue Gesicht des Vertriebenen-Bundes, in: Spiegel-Online vom 29.07.2003; vgl. auch HANS MICHAEL KLOTH: Giordano bekennt sich zu Steinbachs Politik, in: Spiegel-Online vom 20.07.2004. 161 JÖRG LAU: Gedenken mit Schmiss, in: Die Zeit vom 27.05.2004.

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mals einen notorischen Auschwitzleugner als Funktionsträger abwählen lassen (,Glauben Sie mir, das war nicht einfach!‘). Sie hat ihren Verband mindestens verbal von der ,Preußi- schen Treuhand‘ distanziert, einem Club Ewiggestriger, der in den Beitrittsländern mit Restitutionsforderungen Angst und Schrecken verbreitet […]. Es ist ihr mit großem Ge- schick gelungen, das seit der Ostpolitik eingefrorene Verhältnis zur Sozialdemokratie auf- zutauen. Sie hat Otto Schily und Gerhard Schröder als Gastredner auf dem ,Tag der Hei- mat‘ gewinnen können. Peter Glotz sitzt mit ihr gemeinsam der Stiftung vor, die das ,Zentrum‘ errichten will. Ralph Giordano, Joachim Gauck und Lothar Gall unterstützen das Vorhaben.“162 Tatsächlich gelang es Erika Steinbach, viele prominente Politiker, Historiker, Schriftsteller und Publizisten für das Zentrum gegen Vertreibung zu gewinnen. Zu ei- nem Durchbruch kam es im Jahr 2000, als Bundeskanzler Schröder die Einladung des BdV zur Teilnahme am „Tag der Heimat“ annahm, auf dem auch das fünfzigste Ju- biläum der Verkündung der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ gefeiert wurde.163 Dass Schröder dort auch eine Rede halten sollte, wurde in der FAZ als „das bisher deutlichste Zeichen einer Annäherung zwischen der rot-grünen Bundesregie- rung und den Vertriebenen“ betrachtet.164 Das Besondere an der Teilnahme Schröders am „Tag der Heimat“ war, dass er der erste sozialdemokratische Kanzler war, der auf dieser BdV-Veranstaltung zu den Vertriebenen sprach.165 Die FAZ wies auf ein positives Verhältnis zwischen dem BdV und den Sozialdemokraten hin, das Erika Steinbach begrüßte. Dass Gerhard Schröder am „Tag der Heimat“ als Hauptredner auftreten sollte, verstand sie laut der FAZ-Meldung als Signal, dass sich der Bundes- kanzler dem Kapitel der deutschen Geschichte über Vertreibung zuwenden wolle.166 Steinbach habe Schröders geplanten Auftritt auf dem „Tag der Heimat“ nicht nur als „Zeichen der Zuwendung“167 gedeutet, sondern auch als „ein Zeichen der Solidarität mit dem Schicksal der Heimatvertriebenen“168. Sie habe die Tatsache begrüßt, dass die Sozialdemokraten nun versuchten, „‚ihr jahrzehntelanges Unverhältnis‘ zum Bund der Vertriebenen auf eine neue Basis zu stellen“.169 Die FAZ ging auf die Rede von Gerhard Schröder ein, die der Bundeskanzler anlässlich des „Tages der Heimat“ hielt und worin er das Verhältnis seiner Partei zum BdV thematisierte. Den Konflikt zwi- schen dem Verband und der SPD über die Ostpolitik habe er als Folge der „Instru- mentalisierung“ des BdV „von falschen Freunden“ gedeutet. Denn die Politik Brandts sei auch von den Nachfolgeregierungen fortgesetzt worden.170

162 Ebenda. 163 Vgl. REINHARD MÜLLER: Das Recht auf Rückkehr, in: FAZ vom 5.08.2000. 164 DERS.: Die Vertriebenen nehmen ein Zeichen der Zuwendung wahr, in: FAZ vom 2.09.2000. 165 Vgl. Schröder würdigt die Arbeit der Vertriebenenverbände, ist aber gegen eine Gedenk- stätte, in: FAZ vom 4.09.2000. 166 Vgl. Steinbach wirbt für Mahnzentrum, in: FAZ vom 5.08.2000. 167 MÜLLER, Zeichen der Zuwendung (wie Kap. 6, Anm. 164). 168 Schröder würdigt die Arbeit der Vertriebenenverbände (wie Kap. 6, Anm. 165). 169 Schröder spricht bei Vertriebenen, in: FAZ vom 2.04.2000. 170 Schröder würdigt die Arbeit der Vertriebenenverbände (wie Kap. 6, Anm. 165).

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Die Teilnahme Gerhard Schröders am „Tag der Heimat“ erzeugte den Eindruck, dass der Bundeskanzler damit auch die Unterstützung für das Zentrum gegen Vertrei- bungen ausdrücken wollte. Doch bei aller Anerkennung für die Leistungen der Ver- triebenen bei dem Aufbau der Bundesrepublik und für die Versöhnungsarbeit der Vertriebenenverbände zeigte er sich skeptisch gegenüber dem vom BdV geplanten Zentrum. Die FAZ berichtete über die von Schröder geäußerte „Zurückhaltung“ der Bundesregierung in dieser Hinsicht.171 Während es der BdV-Präsidentin gelang, für ihr Projekt die Unterstützung des Bundesinnenministers Otto Schily zu gewinnen, lie- ßen sich Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer nicht überzeugen.172 Die FAZ berichtete: „Bundesinnenminister Schily (SPD) hat in der Diskussion über ein Zentrum gegen Vertrei- bungen eine abweichende Haltung zu Bundeskanzler Schröder (SPD) und Außenminister Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) eingenommen. Während Schröder und Fischer in jüngs- ter Zeit gesagt hatten, daß sie eine solche Einrichtung nicht in Berlin und nicht unter der Ägide des Bundes der Vertriebenen befürworteten, sagte Schily dieser Zeitung, man könne nicht über Vertreibungen reden, ohne die Vertriebenen einzubeziehen.“173 Besonders Joschka Fischer zeigte sich als entschlossener Gegner des BdV. In ei- nem Zeit-Interview betonte er, der BdV dürfe nicht die Rolle eines „Museumsdirek- tors“ übernehmen.174 Dass sich der Außenminister gegen eine nationale Gedenkstätte und noch dazu unter der Führung der BdV-Präsidentin aussprach, wurde auch in der FAZ thematisiert.175 Nachdem der SPD-Abgeordnete Markus Meckel den Vorschlag eines europäischen Zentrums in die Diskussion eingebracht hatte, kam es damit zur Entstehung zweier Lager, die über ein nationales oder ein europäisches Zentrum, in Berlin oder in Breslau, stritten.176 Bundesinnenminister Otto Schily kritisierte in ei- nem Interview für die FAZ dieses „Lagerdenken“.177 „Seit Monaten wird über das Zentrum gestritten – quer durch die politischen Lager“178 oder „Der Streit um ein Zentrum gegen Vertreibungen entzweit nun auch das Bundeskabinett“179, meldete der Spiegel. Gerhard Schröder hielt Berlin für den falschen Ort für ein Zentrum gegen

171 Ebenda. 172 Vgl. Heimatvertriebene planen großes Zentrum in Berlin, in: FAZ vom 4.07.1999. 173 Schily will Debatte über Zentrum gegen Vertreibungen, in: FAZ vom 6.09.2003. 174 Gunter Hofmann und Bernd Ulrich im Gespräch mit Joschka Fischer: „Was haben wir uns angetan?“, in: Die Zeit vom 28.08.2003. 175 Vgl. Fischer kritisiert Vertriebenenbund, in: FAZ vom 28.08.2003. 176 Vgl. ADAM MICHNIK, ADAM KRZEMIŃSKI: Wo Geschichte europäisch wird, in: Die Zeit vom 20.6.2002; Breslau statt Berlin?, in: FAZ vom 23.02.2002. 177 Stefan Dietrich und Johannes Leithäuser im Gespräch mit Otto Schily: „Lagerdenken ist völlig unangemessen“, in: FAZ vom 6.09.2003. 178 S EVERIN WEILAND: Nazi-Vergleich empört Union, in: Spiegel-Online vom 18.09.2003; vgl. auch NICOLE JANZ: Streit über Gedenkstätte, in: Spiegel-Online vom 17.05.2002. 179 HANS MICHAEL KLOTH: „Wende Punkte“, in: Der Spiegel vom 4.08.2003, S. 36.

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Vertreibungen und sprach sich für die Europäisierung des BdV-Vorhabens aus.180 Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel dagegen hielt Berlin für den richtigen Ort, an dem der Opfer der Vertreibung gedacht werden sollte.181 Laut der FAZ forderte der Sozial- demokrat Peter Glotz, der zusammen mit Erika Steinbach in der von ihr gegründeten Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen im Vorstand saß, eine „ehrliche Diskussion“ und sprach sich gegen ein „politisch korrektes Gesäusel“ aus.182 Erika Steinbach be- grüßte wiederum die lebhafte Debatte um das Zentrum und plädierte dafür, dass „alle Fragen offen auf den Tisch“ gelegt werden.183 Dass die Debatte eine politische Bedeutung bekam, zeigte sich auch daran, dass sich Bundespräsident Rau und Polens Präsident Kwaśniewski in die öffentliche Auseinandersetzung um das BdV-Projekt einschalteten.184 Die Skepsis der Bundesregierung gegenüber dem Zentrum gegen Vertreibungen blieb nicht ohne Reaktion der BdV-Präsidentin. Laut der FAZ habe Erika Steinbach an Bundeskanzler Schröder und Bundesaußenminister Fischer die Forderung gerich- tet, „nicht nur ‚für die Gefühle unserer Nachbarländer Polen und Tschechien Ver- ständnis aufzubringen, sondern zumindest in gleichem Maße für ihre eigenen Bür- ger‘“.185 Erika Steinbach kritisierte die ablehnende Haltung Schröders und Fischers zur BdV-Idee.186 Sie war sich nämlich dessen bewusst, dass die Unterstützung der Bundesregierung notwendig war, wenn es sich beim Zentrum gegen Vertreibungen nicht bloß um eine Verbandsinitiative, sondern um ein nationales Projekt handeln sollte. Sie brauchte die finanzielle Unterstützung der Bundesregierung und appellierte in einem Leserbrief an die FAZ, „daß sich die Bundesregierung dieses Themas an- nimmt und es nicht ins Ausland abschiebt“187. An dieser Äußerung lässt sich beson- ders deutlich feststellen, dass der BdV mit dem Zentrum gegen Vertreibungen primär eine innerdeutsche Debatte auszulösen versuchte, die aufgrund ihrer Problematik ohnehin auf ein Echo im Ausland stoßen würde. Für die Befürworter des Zentrums handelte es sich bei dieser Initiative laut der FAZ-Meldung in erster Linie um eine „innenpolitische Frage“.188 Sie wünschten sich, dass den deutschen Vertriebenen das Mitgefühl gezeigt werde, das ihnen bisher verweigert worden sei. Die Vertreibung sei Teil der deutschen Geschichte und müsse daher „im Gedächtnis der Nation einen

180 Vgl. PATRICK BAHNERS: Ehrensache, in: FAZ vom 15.08.2003; vgl. auch: „Berlin nicht der richtige Ort“, in: Spiegel-Online vom 13.08.2003. 181 Vgl. „Selbstverständlich in Berlin“, in: FAZ vom 22.08.2003. 182 BAHNERS, Ehrensache (wie Kap. 6, Anm. 180). 183 Rau mahnt zu „europäischem Dialog“, in: FAZ vom 8.09.2003. 184 Vgl. ebenda; Hans Hoyng, Hans Puhl und Martin Doerry im Gespräch mit dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski: „Die Fronten haben sich verhärtet“, in: Der Spiegel vom 12.01.2004, S. 91-93. 185 Rau mahnt zu „europäischem Dialog“ (wie Kap. 6, Anm. 183). 186 Vgl. Schily will Debatte über Zentrum gegen Vertreibungen (wie Kap. 6, Anm. 173). 187 E RIKA STEINBACH: Unfähigkeit, der eigenen Opfer zu gedenken, in: FAZ vom 1.03.2002 (Leserbrief). 188 „Ein künstlicher Gegensatz“, in: FAZ vom 14.08.2003.

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zentralen Platz einnehmen“.189 Das Zentrum sei für sie allerdings auch als „internatio- nale Angelegenheit“ zu betrachten, was sich daran zeige, dass Erika Steinbach „Fach- leute aus mehreren von Vertreibung betroffenen Ländern“ zur Mitwirkung an dem BdV-Projekt eingeladen und damit „Bereitschaft zur Zusammenarbeit“ signalisiert habe.190 Der FAZ zufolge rief Steinbach die Bundesregierung, Landesregierungen und Nachbarländer der Bundesrepublik dazu auf, „durch Rat und Tat am Aufbau des Zentrums mitzuwirken“.191 Samuel Salzborn ist der Meinung, dass BdV-Präsidentin Steinbach zwar Offenheit für eine öffentliche Diskussion erklärte, allerdings für den BdV als Ideenstifter des Zentrums das letzte Wort behalten wollte.192 Im Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzung um das BdV-Projekt kristallisier- ten sich nach Salzborn drei Standpunkte bzw. Gruppen von Akteuren heraus: Die erste Gruppe sah im Zentrum gegen Vertreibungen ein „deutsches Opferzentrum“, die zweite „ein europäisches Vertreibungszentrum“ und die dritte lehnte das Entstehen eines Zentrums gegen Vertreibungen grundsätzlich ab.193 Obwohl die BdV-Präsiden- tin Aufgeschlossenheit manifestierte und immer wieder betonte, dass im Zentrum ge- gen Vertreibungen auch des Leides anderer Völker Europas gedacht werden sollte, war es ihr Ziel, ein nationales Gedenkzentrum für die deutschen Vertriebenen zu er- richten. Die Meinungen darüber, welche Rolle der Vertriebenenverband, der für die BdV-Präsidentin „primär eine nationale Organisation“194 war, bei der Entstehung ei- ner nationalen Gedenkstätte spielen sollte, gingen stark auseinander. In der FAZ wurde beispielsweise Günter Grass zitiert, der sich eindeutig gegen das vom BdV konzipierte Zentrum gegen Vertreibungen äußerte: „Erinnerung ja, aber nicht mit dem ‚Bund der Vertriebenen‘“, so die Haltung von Grass.195 Ein paar Monate später er- schien in der Tageszeitung ein Artikel von Thomas Schmid, in dem dieser Unver- ständnis für die große Skepsis dem BdV und seinem Projekt gegenüber äußerte: „Woher rührt diese an Böswilligkeit grenzende Ignoranz? Sie hat vor allem damit zu tun, daß es mit Erika Steinbach der ,Bund der Vertriebenen‘ (BdV) ist, der das Zentrum will. An der Oberfläche geht es um den Verdacht, der BdV sei nach wie vor eine revanchistische Organisation und so könne das Zentrum nur sinistren Interessen Ewiggestriger dienen, die nun auf das unverdächtige Feld des Kulturellen ausgewichen sind. […] Man hatte gehofft, das BdV-Problem werde sich auf biologische Weise erledigen: Irgendwann würde der letzte vierschrötige und rachelüsterne Trachtenträger unter der Erde liegen, und dem BdV wäre – da auch er die Unverletzlichkeit der Grenzen akzeptiert hat – der Gegenstand ab- handen gekommen.“196

189 Ebenda. 190 Ebenda. 191 Rau mahnt zu „europäischem Dialog“ (wie Kap. 6, Anm. 183). 192 Vgl. SALZBORN, Geschichtspolitik in den Medien, S. 1130. 193 Vgl. ebenda, S. 1123 ff. 194 Köhler: Die Geschichte wird nicht umgeschrieben, in: FAZ vom 16.07.2004. 195 REGINA MÖNCH: Unteilbar, in: FAZ vom 19.07.2003. 196 THOMAS SCHMID: Das dünne Eis der Gemeinsamkeiten, in: FAZ vom 12.10.2003.

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Dass Steinbach das Zentrum gegen Vertreibungen sehr schnell zu einem nationa- len Projekt erklärte, verwundert nicht, wenn man auf die Geschichte des Verbandes zurückblickt und seine Selbstdarstellung in Betracht zieht. Der Dachverband verstand sich seit seiner Entstehung als Vertreter nationaler Interessen und leitete daraus seine Sonderstellung unter allen anderen Verbänden in der Bundesrepublik ab. Indem er jetzt mit dem Zentrum gegen Vertreibungen versuchte, die Verbandsinteressen zu na- tionaler Angelegenheit zu stilisieren, wies er auf die Einmaligkeit seines Projekts und dabei auch auf seine besondere Rolle in der Verwirklichung dieses Vorhabens hin. Steinbach zufolge sei das Zentrum gegen Vertreibungen insofern ein großer Verdienst des BdV, weil er damit „den Grundstein für eine menschliche und versöhnliche Auf- arbeitung dieser Tragödie gelegt“ habe.197 Welche Probleme sich aus der Rolle des BdV bei der Entstehung eines nationalen Zentrums gegen Vertreibungen ergaben, brachte der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej in der FAZ zum Ausdruck. Er versuchte dabei zu erklären, warum die Polen so emotional auf das BdV-Projekt reagierten und kam zu einer sehr treffenden Schlussfolgerung: „Mißtrauisch macht die Polen der Initiator des Projekts, der Bund der Vertriebenen, und Frau Steinbach als dessen Sprecherin; im Hintergrund steht der Verdacht, das Zentrum sei Ausdruck einer neuen deutschen Vergangenheitspolitik, die die eigenen Opfer in den Mit- telpunkt rückt. Warum hat sich in Polen niemand über die ,Vertreibungs‘-Dokumentation von Guido Knopp aufgeregt oder über die Grass-Erzählung von der Versenkung der ,Gustloff‘? Aus dem schlichten Grund, daß Filme oder Bücher einen Nachbarn nicht aufzu- regen brauchen – egal, ob sie ihm gefallen oder nicht (wobei gerade Grass in Polen aus- gesprochen wohlwollend aufgenommen wurde). Ein anderes Kapitel stellt die offizielle, staatliche Geschichtspolitik dar, die nicht nur das Bild der eigenen Vergangenheit verän- dert, sondern auch das Bild des Nachbarn, in diesem Fall Polens, mitprägt. […] Stellen wir uns vor, die Initiatoren des Zentrums gegen Vertreibungen bauten es eigenständig, ohne Unterstützung der Bundesregierung. Dann hätten wir es mit einer privaten Institution zu tun; […] Ohne staatliche Beteiligung bliebe das Zentrum das Werk einer Gruppe von Per- sonen, die Zwangsumsiedlungen für das Symbol des Bösen im 20. Jahrhundert halten; es wäre aber kein Zeugnis eines staatlich gelenkten Wandels der deutschen Vergangenheits- politik.“198 Borodziej verdeutlichte hier, dass es einen großen Unterschied macht, ob der Ver- treibungsopfer im Rahmen einer Privatinitiative gedacht wird oder ob sie Bestandteil der Geschichtspolitik werden. Er wies darauf hin, dass der BdV als Initiator des Zent- rums gegen Vertreibungen als einer nationalen Angelegenheit automatisch zu einem der zentralen Akteure einer geschichtspolitischen Kontroverse wurde. Auch Karl Schlögel machte in der Zeit darauf aufmerksam, dass die Auseinandersetzung um das Zentrum deswegen so umstritten sei, weil es sich dabei um keine private Initiative handele. Sobald man sich um staatliche Finanzierung bemühe, gelange man mit dem Projekt auf die politische und im Fall des Zentrums gegen Vertreibungen sogar auf die außenpolitische Ebene. Dann aber gehe es „wie immer um Definitions- und Inter-

197 STEINBACH, Unfähigkeit, der eigenen Opfer zu gedenken (wie Kap. 6, Anm. 187). 198 WŁODZIMIERZ BORODZIEJ: Drei Möglichkeiten, in: FAZ vom 19.11.2003.

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pretationshoheit, letztlich aber um personelle und institutionelle Macht“199. Wenn man diesem Argumentationsmuster folgt, dann handelt es sich beim Zentrum gegen Vertreibungen um den Versuch des BdV, die Deutung der Vertriebenenverbände durchzusetzen und allgemein geltend zu machen. Es geht auch um die Manifestation der politischen Bedeutung, die sich der BdV seit seiner Entstehung zuschrieb. In der Zeit wurde sogar behauptet, dank der Unterstützung für das BdV-Projekt seitens deutscher Spitzenpolitiker und Intellektueller würde der Verband „einen späteren Triumph feiern“ und mit einem „derart national gefärbten und zentrierten Projekt […] seine Existenz knapp 60 Jahre nach Kriegsende neu begründen“ können.200 Selbst wenn Erika Steinbach betonte, dass es sich beim Zentrum gegen Vertrei- bungen um ein europäisches Projekt handelte, zeigten ihre Äußerungen, dass darin Opferkonkurrenzen ausgetragen wurden. In einem Leserbrief an Die Zeit sprach sie sich beispielsweise für die Stellung des „Vertreibungsverbrechens“ neben anderen Verbrechen auf gleicher Ebene aus. Dabei argumentierte sie folgendermaßen: „Es führt kein Weg daran vorbei, daß aus der Universalität der Menschenrechte das Gebot der Gleichbehandlung für Vertreibungsopfer folgt. Vertriebene wegen ihrer – zum Beispiel deutschen – Volkszugehörigkeit zu ignorieren, ihr Schicksal indolent zu einer abgeschlos- senen historischen Epoche zu erklären ist ein eklatanter Verstoß gegen einen der wohl fest- begründetsten Rechtssätze, das Diskriminierungsverbot.“201 Obwohl sie den Holocaust nicht direkt erwähnte, sprach sie sich hier für die Gleichstellung der Opfer jedes Unrechts aus, also auch für die Gleichstellung der jü- dischen Opfer mit anderen Opfergruppen. Wenn man hierzu den Leserbrief von Her- bert Hupka an die FAZ heranzieht, wird der Wunsch der Vertriebenenfunktionäre nach dem Heraustreten der deutschen Vertreibungsopfer aus dem Schatten der jüdi- schen Opfer noch deutlicher. Hupka sprach vom „Herunterspielen des Verbrechens der Vertreibung“ und protestierte gegen solche Praktiken.202 In den Leserbriefen von Steinbach und Hupka lässt sich ein altes Argumentationsmuster des BdV feststellen: Der Vorwurf einer Diskriminierung und Ignoranz gegenüber der deutschen Vertrie- benengemeinschaft kam zum ersten Mal und sehr stark in den 1960er Jahren zum Ausdruck, z.B. vor dem Hintergrund der Debatte um Fernsehfilme oder um Anerken- nung der Oder-Neiße-Grenze, und kehrte in den 1990er Jahren und im nächsten Jahr- tausend wieder. In ihrem Leserbrief sprach sich Erika Steinbach gegen die „Diskrimi- nierung“ der Vertreibungsopfer in einer großen europäischen Opfergemeinschaft aus. Sie implizierte damit, dass der BdV nun mit dem Zentrum gegen Vertreibungen um den Platz für die deutschen Opfer der Vertreibung in der europäischen Opfergemein- schaft rang. Dass es dem BdV neben politischen Ansprüchen auch um eine Identitätsanerken- nung der deutschen Vertriebenen ging, wurde in der Zeit von Jörg Lau bemerkt:

199 KARL SCHLÖGEL: Die Düsternis – in neuem Licht, in: Die Zeit vom 24.07.2003. 200 GUNTER HOFMANN: Unsere Opfer, ihre Opfer, in: Die Zeit vom 17.07.2003. 201 ERIKA STEINBACH: Ganz tief vergraben, in: Die Zeit vom 12.05.1999 (Leserbrief). 202 HERBERT HUPKA: Wider das selektive Verschweigen, in: FAZ vom 14.08.2003 (Leser- brief).

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„Sie [Steinbach] wollte ursprünglich auch die EU-Beitritte der Polen und Tschechen ver- hindern und verlangte deshalb unerfüllbare Entschädigungsregelungen und Rückkehrrechte für ihre Klientel. Nun soll das alles Schnee von gestern sein. Es geht ihr nicht mehr um Restitution, sondern um Identitätspolitik für eine alternde, langsam aussterbende Gruppe. […] Früher wollten die Vertriebenen für ihre Aufbauleistung zu Hause anerkannt werden, heute konzentriert sich der Ehrgeiz auf die Anerkennung des Leidens, gerade auch bei den Nachbarn.“203 Sehr schnell wurde der BdV-Präsidentin vorgeworfen, sie versuche in dem Kon- zept des Zentrums gegen Vertreibungen das „Vertreibungsverbrechen“ auf eine Ebe- ne mit dem Holocaust zu stellen und einen Vergleich zwischen den jüdischen und den deutschen Opfern zu ziehen. Im Spiegel war die Rede vom „Wettbewerb der Opfer“, der zwischen verschiedenen Opfergruppen des nationalsozialistischen Regimes statt- fand.204 Dabei tauchte außerdem die Frage nach der Verteilung der Opfer- und Tä- terrollen auf.205 Gunter Hoffmann schrieb in der Zeit: „Wie man es dreht und wendet, ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin wäre ein Kontrapunkt zum Holocaust- Mahnmal in der Nähe des Reichstages.“206 Für ihn stellte das Zentrum ein klares „Ge- genmahnmal“ zum Holocaust-Mahnmal dar.207 Erika Steinbach protestierte gegen solche Vorwürfe, was im Spiegel thematisiert wurde: „Und nichts findet die Präsiden- tin des Bundes der Vertriebenen kränkender als den Vorwurf, sie wolle mit dem ge- planten Zentrum gegen Vertreibungen einen Gegenpol zum Holocaust-Mahnmal schaffen. ‚Eine Gemeinheit! Das war mal irgendwo zu lesen, und seitdem schreibt es einer vom anderen ab!‘“208 Gleichzeitig brachte sie aber in anderen Interviews zum Ausdruck, dass das Vorbild für das Konzept des Zentrums das US-Holocaust Memo- rial Museum in Washington war.209 Wolfgang Benz zufolge sei das Zentrum gegen Vertreibungen als eine Reaktion auf die öffentliche Erinnerung an den Holocaust zu verstehen und Ausdruck des Wunsches, ähnliche Rituale auch im Bezug auf die deut- schen Vertreibungsopfer zu schaffen. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmittel- europa sei kein Genozid gewesen und Bestrebungen, dieses historische Ereignis in die Nähe des Holocaust zu rücken, seien nicht angebracht.210 Ähnlich wie die Größe des Holocaust-Mahnmals auch teilweise die Größe des Verbrechens zum Ausdruck bringen sollte, bemühte sich Steinbach, auch für das Zentrum gegen Vertreibungen einen zentralen Gedenkort in Berlin zu schaffen. Wie die FAZ berichtete, sollte es sich um „ein ‚repräsentatives Gebäude‘ in ‚zentraler

203 LAU, Gedenken mit Schmiss (wie Kap. 6, Anm. 161). 204 STEFAN BERG, HENRYK M. BRODER: Jedem das Seine, in: Der Spiegel vom 5.01.2004, S. 130. 205 Vgl. ACHATZ VON MÜLLER: Volk der Täter, Volk der Opfer, in: Die Zeit vom 23.10.2003. 206 HOFMANN, Unsere Opfer, ihre Opfer (wie Kap. 6, Anm. 200). 207 Ebenda. 208 BERG/BRODER, Jedem das Seine (wie Kap. 6, Anm. 204), S. 132. 209 Vgl. SALZBORN, Heimat ohne Holocaust, S. 18. 210 Vgl. BENZ, S. 9.

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Lage‘ der Hauptstadt Berlin“ handeln.211 Bei der Diskussion um den Gedenkort für die deutschen Vertriebenen wiesen einige Blätter, wie beispielsweise die FAZ, darauf hin, dass es einen solchen Ort bereits gebe: „Mitten auf dem Theodor Heuss-Platz in Berlin-Charlottenburg brennt eine ewige Flamme, ein flackerndes Lichtlein eher auf dieser ununterbrochen vom Großstadtverkehr umtosten Insel. Wer genau hinschaut, wird bemerken, daß das Feuer streng ausgerichtet auf der West-Ost-Achse der Stadt steht. Aber es schaut fast niemand mehr hin, und nur noch sehr wenige Berliner wissen überhaupt, wessen hier gedacht werden soll: Vierzehn Millionen deutscher Vertriebener.“212 Gleichzeitig machte das Blatt, wie an dem Zitat deutlich wird, darauf aufmerksam, dass der Gedenkort am Theodor-Heuss-Platz in der Erinnerungslandschaft Berlins kaum eine Rolle spiele. Kaum jemand wisse, dass dieser Ort der Erinnerung an die Vertreibung existiere. Auch in der Zeit wurde das problematisiert: „Die Vertriebenen- Mahnmäler, die es heute gibt – wie etwa die ewige Flamme am Theodor-Heuss-Platz in Berlin –, sind vernachlässigt, stehen allzu sehr im Abseits, sie sind nicht angemes- sen.“213 Wenn man annimmt, dass die Größe und die Lage eines Gedenkortes einer der Hinweise auf die Bedeutung eines gedachten Ereignisses im kollektiven Gedächt- nis der Nation ist, ist es nachvollziehbar, warum die Diskussion über den Ort für das Zentrum gegen Vertreibungen einen großen Teil der gesamten Debatte um das BdV- Projekt darstellte. Dass die BdV-Präsidentin versuchte, die Erinnerung an die Vertreibung nicht nur zu musealisieren, sondern auch zu ritualisieren, zeigt sich an dem Vorschlag ihres Verbandes, den 5. August zum „Gedenktag für die deutschen Opfer von Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit“ zu erklären.214 Außerdem wollte der BdV seine in den 1970er Jahren angesetzte Aufgabe als „Mahner“ weiter erfüllen. Ähnlich wie in den 1980er Jahren Herbert Czaja die Bedeutung des Wortes „Vertriebene“ in dem Namen seines Verbandes betonte und sich gegen die Umbenennung des BdV aussprach, so wies auch Erika Steinbach darauf hin, dass das Wort „Vertreibung“ in dem Projekt des BdV eine mahnende Funktion haben sollte. Sie brachte das zum Ausdruck, indem sie in einem Interview für den Spiegel darauf aufmerksam machte, dass in der von der Bundesregierung unterstützten Initiative „Europäisches Netzwerk“, das als eine Ge- geninitiative zum Zentrum gegen Vertreibungen von den Kultusministern Polens, Ungarns, Deutschlands und der Slowakei ins Leben gerufen worden war215, das Wort „Vertreibung“ nicht vorkam.216 Hier fällt eine Kontinuität zu den 1970er Jahren auf: Während das Wort in den deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen noch nicht in

211 JOHANNES LEITHÄUSER: Vertriebene wollen Wege zur Völkerverständigung weisen, in: FAZ vom 7.06.2000. 212 MÖNCH, Unteilbar (wie Kap. 6, Anm. 195). 213 SCHLÖGEL, Die Düsternis – in neuem Licht (wie Kap. 6, Anm. 199). 214 Vertriebene wollen Gedenktag, in: FAZ vom 13.05.2001. 215 Vgl. HANS MICHAEL KLOTH: Steinbach-Gegner setzen auf Warschau, in: Spiegel-Online vom 20.07.2004. 216 Vgl. „Grandioses Versagen“ (wie Kap. 6, Anm. 154).

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Erscheinung trat, sollte es nun einen zentralen Platz im Namen eines nationalen Pro- jekts zum Gedenken der Vertreibungsopfer, nämlich dem Zentrum gegen Vertreibun- gen, bekommen. Während der BdV seit den 1960er Jahren angesichts seiner umstrittenen Forde- rungen nach Rückgewinnung der Oder-Neiße-Gebiete immer mehr in die Defensive geraten war, gelang es ihm in den 1990er Jahren, in die Offensive überzugehen und sich mit seiner Deutung der Vertreibungsgeschichte in der Öffentlichkeit durchzuset- zen. Er stieß zwar mit seinem Konzept zuerst auf scharfe Ablehnung, schaffte es aber, sich trotz dessen als Öffentlichkeitsakteur zu bewähren, und wurde von den anderen Akteuren aus der Öffentlichkeit nicht an den Rand der Debatte zurückgedrängt. Das zeigt sich daran, dass der BdV sowohl in der FAZ als auch im Spiegel und in der Zeit noch nie so oft zitiert wurde wie vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um das Zentrum gegen Vertreibungen. Der Verband errang um die Jahrtausendwende die größte Publizität in seiner Geschichte. Seine Präsenz in der Öffentlichkeit begrenzte sich nicht mehr nur auf die Stellungnahmen zu den von anderen Akteuren erbrachten Initiativen oder Ereignissen. Er selbst brachte eine Initiative zur öffentlichen Diskus- sion ein und löste damit eine geschichtspolitische Debatte aus. Samuel Salzborn ver- tritt die These, dass es dem BdV als einem politischen Interessenverband gelungen sei, sein Projekt im öffentlichen Diskurs so zu verankern, dass die Ablehnung des Zentrums gegen Vertreibungen von den Massenmedien kaum thematisiert wurde und nicht mehr als diskursfähig erschien. Die mediale Debatte über das Zentrum habe so- mit eine besondere Dynamik entwickelt, in der der BdV vom Interessenverband zum „Richter über die Vergangenheit“ aufzusteigen versuchte.217 Diese These stimmt inso- fern, als der BdV seit seiner Gründung die Deutungshoheit über das Vertreibungs- thema beanspruchte. Doch Salzborn macht diese Aussage im Kontext der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen. Wenn man sich aber die Selbstdarstellung des BdV seit 1957 anschaut, lässt sich erkennen, dass sich der Verband bereits seit seiner Entstehung in der Rolle eines „Richters über die Vergangenheit“ wohlfühlte und diese nie aufgeben wollte. Schließlich entstand die Frage, warum der BdV mehr als fünfzig Jahre nach seiner Konstituierung wieder so aktiv wurde. Eine Erklärung dafür versuchte Johannes Leit- häuser in seinem Artikel aus dem Jahr 2000 in der FAZ zu liefern: „Mit dem Vorha- ben [Zentrum gegen Vertreibungen] wollen sich die Vertriebenen fünfzig Jahre nach Kriegsende und zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und der starren Nach- kriegsteilung Europas ein Vermächtnis schaffen in einer Zeit, in der ihre politische Bedeutung offenkundig schwindet.“218 Diese These von Leithäuser lässt sich überprü- fen, wenn man die Selbst- und Fremddarstellung seit den 1960er Jahren in Betracht zieht. Der BdV sieht sich bis heute als ein politischer Verband. Nachdem er seinen politischen Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete zuerst 1970 und dann 1990 endgültig verloren hatte, blieb damit seine zentrale Aufgabe der Rückgewinnung dieser Gebiete

217 SALZBORN, Geschichtspolitik in den Medien, S. 1130. 218 LEITHÄUSER, Vertriebene wollen Wege zur Völkerverständigung weisen (wie Kap. 6, Anm. 211).

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für immer unerfüllbar. Auch seine Mitwirkung in der Ostpolitik der Bundesregierung wurde seit 1970 deutlich eingeschränkt. Die politische Bedeutung des Verbandes schwand zusehends und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nun um mehr Ein- fluss auf die Geschichtspolitik und den damit verbundenen Diskurs über „Flucht und Vertreibung“ zu bemühen. Mit dem Zentrum gegen Vertreibungen scheint der BdV sich selbst als Verband und den Vertriebenen ein Vermächtnis schaffen und eine na- tionale Aufgabe erfüllen zu wollen, die er ursprünglich mit der Rückgewinnung der Oder-Neiße-Gebiete beabsichtigt hatte.

6.2.3 „Zentrum gegen Versöhnung“ Das Projekt des BdV „Zentrum gegen Vertreibungen“ stieß in Polen auf heftige Kri- tik. Von einem „Denkmal der Missverständnisse“219, einem „Zentrum der Zwie- tracht“220 und sogar einem „Zentrum gegen Versöhnung“221 war die Rede. In der pol- nischen Debatte um das Projekt lassen sich nach Adam Krzemiński zwei miteinander verbundene Diskussionsstränge unterscheiden: Zum einen wurden das Zentrum gegen Vertreibungen und der Themenkomplex „Flucht und Vertreibung“ im Kontext der Zwangsmigrationsprozesse im Europa des 20. Jahrhunderts diskutiert. Zum anderen setzte man sich mit der Rolle des BdV bei der Entstehung eines nationalen Zentrums gegen Vertreibungen auseinander.222 In dem Zeitraum zwischen 1999 und 2004 er- schienen sowohl im Tygodnik Powszechny als auch in der Polityka und der Rzeczpos- polita zahlreiche Artikel, die dem Konzept des Zentrums wie auch dem Bund der Vertriebenen viel Raum widmeten. Aufgrund des großen Umfangs der publizistischen Debatte kann im folgenden Kapitel nicht auf alle Aspekte eingegangen werden. Es geht hier nicht um die Rekonstruierung der Debatte, weil dazu bereits mehrere Stu- dien vorliegen.223 Das Ziel ist vielmehr, am Beispiel dreier ausgewählter Zeitungen der Frage nachzugehen, wie der BdV vor dem Hintergrund der Debatte um das Zent- rum gegen Vertreibungen in Polen dargestellt wurde. Beim Studieren der polnischen Presseberichterstattung über den BdV nach der Jahrtausendwende fällt auf, dass die Frage nach der politischen Bedeutung des Ver- bandes bzw. seinen politischen Ansprüchen auf die massenmediale Ebene zurück- kehrte. Jaromir Sokołowski blickte in der Rzeczpospolita auf die Geschichte der Ver- triebenenverbände zurück und kam zu der Schlussfolgerung, dass die deutschen Ver- triebenen und ihre Verbände jahrelang in den polnischen Medien thematisiert wurden. Über ihre Veranstaltungen habe regelmäßig insbesondere die Trybuna Ludu berichtet.

219 ADAM KRZEMIŃSKI: Pomnik nieporozumień [Denkmal der Missverständnisse], in: Polityka vom 26.07.2003. 220 WOJCIECH PIĘCIAK: Centrum niezgody? [Zentrum der Zwietracht?], in: Tygodnik Po- wszechny vom 6.08.2000. 221 Centrum przeciwko pojednaniu [Zentrum gegen Versöhnung], in: Rzeczpospolita vom 17.09.2003. 222 Vgl. ADAM KRZEMIŃSKI: Upiory nasze i wasze [Unsere und eure Gespenster], in: Polityka vom 4.10.2003. 223 Vgl.: Z. MAZUR, Centrum; ŁADA; VÖLKERING; RÖGER, Medien als diskursive Akteure.

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Nach der Wende von 1989/90 seien die Vertriebenen, ihre Verbände und ihre Rechts- ansprüche in Polen fast in Vergessenheit geraten: „Den Bund der Vertriebenen (BdV) begann man als ein Relikt des Kalten Krieges zu betrachten, der am Rande des politi- schen Lebens in der Bundesrepublik vegetierte.“224 Ähnlich wie Sokołowski 2003 blickte auch Zdzisław Krasnodębski in seinem Artikel ein Jahr zuvor in die Vergan- genheit zurück und erinnerte sich daran, dass man für die Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik der 1970er Jahre keine Zukunft mehr sah. Man habe ihnen keine besonders große Bedeutung zugeschrieben, weil sie sich vor allem aus alternden Men- schen zusammensetzten. Man habe gedacht, dass sich mit dem Prozess der Alterung und des Aussterbens der Vertriebenen die Landsmannschaften schließlich auf natür- liche Weise von selbst auflösen würden. Krasnodębski ging in seinem Artikel der Frage nach, warum entgegen dieser Prophezeiungen die Vertriebenenverbände aus dem öffentlichen Leben nicht verschwunden seien und warum das Vertreibungsthema nach so vielen Jahren wieder zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen wur- de und um die Jahrtausendwende so stark in den Mittelpunkt der öffentlichen Auf- merksamkeit gerückt war.225 Seiner Meinung nach sei die Rückkehr des öffentlichen Interesses an der Vertreibung der Deutschen unter anderem dadurch bedingt, dass sich das Verhältnis der bundesdeutschen Politiker zum Themenkomplex „Flucht und Ver- treibung“ deutlich geändert habe. Früher wäre Joschka Fischer mit seinen Freunden auf die Straße gegangen, um gegen das Zentrum gegen Vertreibungen zu protestieren. Heute habe er höchstens davor gewarnt, dass sich das Zentrum nicht nur auf die Vertreibung der Deutschen beschränken dürfe. Krasnodębski wies auch auf Günter Grass’ Buch „Krebsgang“ hin und bemerkte, dass der Schriftsteller früher das Thema des Untergangs des Schiffes „Wilhelm Gustloff“ wahrscheinlich nicht aufgegriffen hätte, weil er damit einem „falschen Lager“ hätte zugerechnet werden können.226 Frü- her galten die Vertreter der Landsmannschaften als Nationalisten, heute werden die Tschechen als solche bezeichnet, die die Forderungen der Vertriebenenverbände nicht erfüllen wollen. Einen wichtigen Grund für die „Rückkehr der Vertriebenen auf die Bühne“ sah Krasnodębski in der „Globalisierung“ des Gedenkens an den Holocaust sowie in der „Renaissance des Nationalbewusstseins“.227 Auch auf die Veränderungen in der politischen Ordnung Europas sei die Rückkehr des Vertreibungsthemas zurück- zuführen: Vor 1989 hätten die Alliierten der Entstehung des Zentrums gegen Vertrei- bungen vermutlich nicht zugestimmt, weil sie Kritik an ihrer Politik bedeuten würde. Krasnodębski machte auch auf das Argumentationsmuster der Vertriebenenverbände aufmerksam: Ihre Forderungen nach sofortiger Ächtung der Vertreibung, der Aner- kennung des „Rechts auf die Heimat“ sowie nach Entschädigung für das verlorene Gut werde nicht mit der nationalsozialistischen oder nationalen Ideologie wie bei-

224 JAROMIR SOKOŁOWSKI: Odwetowcy czy ofiary historii? [Revanchisten oder Opfer der Ge- schichte?], in: Rzeczpospolita vom 20./21.09.2003. 225 Vgl. ZDZISŁAW KRASNODĘBSKI: Polskie milczenie [Polnisches Schweigen], in: Rzeczpos- polita vom 22./23.06.2002. 226 Ebenda. 227 Ebenda.

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spielsweise das „Recht auf Lebensraum“, die „Zivilisierungsmission der Deutschen im Osten“ oder mit historischen Rechten begründet, sondern man erhebe Forderungen im Namen Europas, der Menschenrechte, des Liberalismus und der Demokratie.228 Im Kontext der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen setzte sich in der Rzeczpospolita auch Wojciech Pięciak mit dem Vertreibungsthema und dem Argu- mentationsmuster des BdV auseinander. Er wies darauf hin, dass das Projekt des BdV keine isolierte Erscheinung sei, sondern in verschiedene Prozesse zu verorten sei, die in Deutschland seit einigen Jahren stattfänden. In der Bundesrepublik seien seiner Ansicht nach neue Paradigmen im kollektiven Gedächtnis entstanden. Eines von ihnen sei das Kriterium der Menschenrechte, nach dem die Vertreibung der Deut- schen betrachtet werde. Der Paradigmenwechsel sei ein Grund dafür, warum auch Sozialdemokraten wie Günter Grass oder Otto Schily größeres Verständnis für die deutschen Vertriebenen zeigten.229 Pięciak berief sich im Kontext der auf Menschen- rechten basierenden Argumentation auf einen Artikel der Frankfurter Rundschau, in dem ironisch eine Kette von Fragen zusammengestellt wurde, für die es nur beja- hende Antworten gibt: „Bist du für die Respektierung und Verbreitung der Menschen- rechte? Ja. War die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Un- recht und ein Leid? Ja. Bist du also für die Entstehung des Zentrums gegen Vertrei- bungen? Ja.“230 In einem anderen Artikel für die Rzeczpospolita ging Pięciak genauer auf die Entwicklungen im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ein und unterteilte sie in drei Abschnitte: Seiner Meinung nach habe man es nach 1945 zunächst mit einer „These“, dann mit einer „Antithese“ und nach 1990 mit einer „Synthese“ zu tun gehabt. In den 1950er und 1960er Jahren wurde überwiegend die „These“ vertreten: „Wir waren Opfer des Krieges“. In den 1970er und 1980er Jahren tauchte eine „An- tithese“ auf und lautete: „Wir waren (d.h. unsere Väter) die Täter“. Nach 1990 lasse sich seiner Meinung nach eine „Synthese“ beobachten: „Wir sind Täter und Opfer gewesen“.231 Insofern wurden nach Pięciak zwei scheinbar widersprüchliche Kompo- nenten nebeneinander in das kollektive Gedächtnis der Deutschen integriert – die Erinnerung an das eigene Verbrechen und an das eigene Leid.232 An den hier aufgeführten Artikeln kann man sehen, dass man in Polen der Frage nach den Hintergründen für die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen nach- ging. Unvergleichbar mehr Interesse erregten allerdings das Projekt an sich und sein Ideenstifter, der Bund der Vertriebenen mit Erika Steinbach an seiner Spitze. Im Kontext der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen sind in der Rzeczpospolita mehrmals Informationen zum BdV, seiner Geschichte und seiner Arbeit erschie-

228 Ebenda. 229 Vgl. WOJCIECH PIĘCIAK: Naród ofiar [Nation der Opfer], in: Rzeczpospolita vom 2./ 3.08.2003. 230 Ebenda. 231 WOJCIECH PIĘCIAK: Drezno, akt oskarżenia [Dresden, eine Anklageschrift], in: Rzeczpos- polita vom 22./23.02.2003. 232 Ebenda.

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nen.233 Auch über den Vertriebenenstatus der BdV-Präsidentin wurde nachgeforscht. In der Tageszeitung erschien ein umfangreicher Artikel, der sich mit der Vergangen- heit Steinbachs befasste und ihren Vertriebenenstatus in Frage stellte.234 In der Poli- tyka und im Tygodnik Powszechny war ebenfalls von einer „falschen Vertriebenen“ die Rede.235 Doch nicht nur über die BdV-Präsidentin wurde in der Rzeczpospolita geschrieben, sondern sie selbst veröffentlichte in dieser Zeitung einen Artikel. 236 Außerdem nahm sie auch an einer Podiumsdiskussion teil, die in der Redaktion der Rzeczpospolita zum Thema „Zentrum gegen Vertreibungen“ stattfand. 237 In der Poli- tyka erschienen beispielsweise Interviews mit Erika Steinbach und Herbert Hupka.238 Der BdV konnte auf diese Weise nun auch in Polen als Öffentlichkeitsakteur agieren und war nicht mehr nur der Gegenstand der Diskussion. Im Gegensatz zu ihren Vor- gängern, die vor 1990 diese Möglichkeit nicht hatten, konnte die BdV-Präsidentin in der polnischen Pressedebatte um das Zentrum gegen Vertreibungen in Form eines Interviews oder eines eigenen publizistischen Beitrags zu Wort kommen. Nicht nur das Zentrum gegen Vertreibungen als Konzept an sich, sondern auch die Rolle des BdV bei der Entstehung dieses Projekts wurden in der polnischen Presse heftig diskutiert. In der Polityka versuchte beispielsweise Adam Krzemiński zu er- klären, warum das Zentrum so einen starken Protest in Polen hervorrief. In seinem Artikel hieß es: „Wenn das Zentrum nicht vom Bund der Vertriebenen, sondern von einer Person oder In- stitution vorgeschlagen worden wäre, die tatsächlich mit dem Dialog und der Versöhnung assoziiert wird, würde die Diskussion anders aussehen. […] Das Zentrum gegen Vertrei- bungen stieß deswegen auf so einen heftigen Protest, weil sein Initiator der Bund der Ver- triebenen war. Der BdV hat seine Politik nie revidiert. Er war als politische Lobby tätig, die im Falle der Verhandlungen eines Friedensvertrags die deutsche Position stärken sollte. Seine Spitzenfunktionäre sprachen sich bis zum Ende gegen die Anerkennung der Grenze aus und als diese 1990 endgültig anerkannt wurde, erhoben sie weiter materielle, rechtliche

233 Vgl. ERIKA STEINBACH: Prawo Niemców do pamięci [Das Recht der Deutschen auf Erinnerung], in: Rzeczpospolita vom 13.08.2003; PIOTR JENDROSZCZYK: Związek Wypę- dzonych. Słownik polityczny [Der Bund der Vertriebenen. Ein politisches Wörterbuch], in: Rzeczpospolita vom 3.09.2003; SOKOŁOWSKI, Odwetowcy czy ofiary historii? (wie Kap. 6, Anm. 224). 234 Vgl. JERZY HASZCZYŃSKI, PIOTR ADAMOWICZ: W poszukiwaniu Heimatu szefowej wypędzonych [Auf der Suche nach der Heimat der Vertriebenenpräsidentin], in: Rzeczpos- polita vom 9.06.2000. 235 JOACHIM TRENKNER: Fałszywa wypędzona [Die angeblich Vertriebene], in: Tygodnik Powszechny vom 14.9.2003; KRZEMIŃSKI, Upiory nasze i wasze (wie Kap. 6, Anm. 222). 236 Vgl. STEINBACH, Prawo Niemców do pamięci (wie Kap. 6, Anm. 233). 237 Vgl. Centrum przeciwko pojednaniu (wie Kap. 6, Anm. 221). 238 Vgl. Marek Orzechowski im Gespräch mit Erika Steinbach: Diabelski krąg pojednania [Teufelskreis der Versöhnung], in: Polityka vom 5.09.1998; Adam Krzemiński im Ge- spräch mit Herbert Hupka: To ja byłem „Hupkoczają“ [Ich war „Hupka-Czaja“], in: Polity- ka vom 6.07.2002.

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und moralische Forderungen und schlüpften in die Rolle eines Wächters, der ein Urteil über die Fähigkeit Polens und Tschechiens zum EU-Beitritt abgibt.“239 Auch in einem weiteren Artikel bezeichnete Krzemiński den BdV als einen „Wächter“, diesmal aber als einen „Wächter der Erinnerung an das Vertreibungsver- brechen und einer Mahnung für die Zukunft“. 240 Hierbei fällt auf, dass die in der Selbstdarstellung zum Ausdruck gebrachte Rolle des BdV als „Wächteramt“ in Polen erkannt und artikuliert wurde. Krzemiński kam in seinem Artikel zur Schlussfolge- rung, dass die Auseinandersetzung um die kontroversen Forderungen des BdV gegen- über Polen und Tschechien dem Verband viel mediale Aufmerksamkeit verschaffte. Dabei habe der Verband in keiner Weise auf die deutsch-polnische Versöhnung abge- zielt: „Es ist nicht die Zusammenarbeit mit den Nachbarn, sondern eine Konfrontation mit den ‚Vertreiberstaaten‘ (wie einmal Erika Steinbach Tschechien und Polen be- zeichnete), die die mediale Existenz des BdV verlängert“, so Krzemiński.241 Auch Jaromir Sokołowski vertrat in der Rzeczpospolita die Meinung, dass sich der BdV seine weitere Existenz sichern wollte und mit dem Zentrum gegen Vertreibungen das zu erreichen versuchte. Das „Zentrum“ stelle „eine Art Garantie für das Überleben des BdV“ dar, und Erika Steinbach sei dank des Projekts zu einer „bekannte[n] Persönlichkeit in der politischen Szene in der Bundesrepublik“ geworden, so Soko- łowski.242 Sowohl Krzemiński als auch Sokołowski sahen im Zentrum gegen Vertrei- bungen eine versteckte Taktik des BdV, durch die der Verband wieder in der massen- medialen und politischen Öffentlichkeit bemerkt werden wollte. Indem der BdV nach Musealisierung der Erinnerung an Vertreibung strebte, versuchte er, sich mit seinem Projekt eine Arbeit für die Zukunft zu sichern und Einfluss auf die Geschichtspolitik zu gewinnen. Die Skepsis gegenüber dem BdV war in Polen so groß, weil der Vertriebenenver- band durch seine Forderungen gegenüber Polen den Eindruck erzeugte, dass er sich seit seiner Entstehung gar nicht gewandelt habe. Durch seine Forderungen nach mate- rieller Entschädigung für die deutschen Vertriebenen, Aufhebung der so genannten Beneš- und Bierut-Dekrete und seinen Versuch, die Aufnahme Polens und Tsche- chiens in die EU zu blockieren, erweckte er in Polen den Eindruck, wieder auf die Po- litik Einfluss nehmen zu wollen. Die jahrelang von der polnischen kommunistischen Propaganda gepflegten Bilder des BdV als eines starken politischen Interessenverban- des kehrten zurück. Die Unterstützung des Verbandes durch den CDU/CSU-Kanzler- kandidaten Edmund Stoiber und die Wiederbelebung des zerstörten Verhältnisses zwischen den Sozialdemokraten und den Vertriebenenverbänden waren ein zusätz- licher Hinweis dafür, dass der BdV zur Jahrtausendwende seine politische Bedeutung wiedergewinnen könnte. Vor dem Hintergrund der EU-Ostverweiterung wurde das Vertreibungsthema von Erika Steinbach politisch insofern instrumentalisiert, als davon die Aufnahme der

239 KRZEMIŃSKI, Upiory nasze i wasze (wie Kap. 6, Anm. 222). 240 DERS., Pomnik nieporozumień (wie Kap. 6, Anm. 219). 241 DERS., Upiory nasze i wasze (wie Kap. 6, Anm. 239). 242 SOKOŁOWSKI, Odwetowcy czy ofiary historii (wie Kap. 6, Anm. 224).

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neuen Mitglieder abhängig werden sollte. Piotr Jendroszczyk meldete in der Rzecz- pospolita, dass der BdV an die Bundesregierung, die Regierungen anderer EU-Staaten sowie an die EU-Politiker appellierte, die Verhandlungen zur Aufnahme neuer Mit- glieder so lange zu verzögern, bis vor allem Polen und Tschechien aus ihrer Gesetz- gebung diejenigen Beschlüsse entfernt hätten, auf deren Grundlage die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet worden waren.243 Im Falle Polens handelte es sich dabei um die so genannten Bierut-Dekrete, d.h. vier Gesetze aus den Jahren 1945 und 1946, und im Falle Tschechiens richtete sich die Kritik des BdV gegen die so ge- nannten Beneš-Dekrete.244 In dieser Angelegenheit genoss der Verband die Unterstüt- zung des Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber.245 „Der Bund der Vertriebenen zählt auf Stoiber“, lautete die Schlagzeile in der Rzeczpospolita.246 Interessant ist, dass in diesem Artikel neben „Vertriebenen“ erneut von „Umsiedlern“ die Rede war. Indem Jendroszczyk für die Vertriebenen eine Bezeichnung aus der Zeit des Kalten Krieges verwendete, drückte er die angespannte Stimmung in den deutsch-polnischen Bezie- hungen aus. In der Rzeczpospolita ging man der Frage nach, ob Stoibers Forderungen nach der Aufhebung der Dekrete nur eine Wahlkampfrhetorik oder vielleicht doch tatsächlich eine Vorankündigung der offiziellen Entschädigungsforderungen gegen- über Polen bedeuteten.247 Mit dem „Appell betreffs die Änderung polnischer Gesetze“248 erzeugte der BdV den Eindruck, dass er Einfluss auf die polnische Gesetzgebung nehmen wollte. Seine politischen Ansprüche wurden aber auch in dem Untertitel des Artikels von Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita zum Ausdruck gebracht, der lautete: „BdV stellt Bedingungen zur Aufnahme Polens in die Europäische Union“.249 Piotr Jendroszczyk berichtete wiederum darüber, dass die Bundestagsdebatte zur Ratifizierung des Ver- trags über den Beitritt der zehn neuen Staaten in die Europäische Union „nach dem Diktat der Vertriebenen“ verlaufen sei.250 Jendroszczyk wies in einem anderen Artikel

243 Vgl. PIOTR JENDROSZCZYK: Apel o zmianę polskich ustaw [Appell betreffs die Änderung polnischer Gesetze], in: Rzeczpospolita vom 14.05.2001. 244 Vgl. ebenda; PIOTR JENDROSZCZYK: Związek Wypędzonych liczy na Stoibera [Der Bund der Vertriebenen zählt auf Stoiber], in: Rzeczpospolita vom 30.01.2002; STRATMANN, Menschenwürde und Menschenrechte (wie Kap. 6, Anm. 119). 245 Vgl. PIOTR JENDROSZCZYK: Stoiber stawia Polsce żądania [Stoiber stellt Forderungen an Polen], in: Rzeczpospolita vom 24.06.2002. 246 JENDROSZCZYK, Związek Wypędzonych liczy na Stoibera (wie Kap. 6, Anm. 244). 247 Vgl. BERNADETA WASZKIELEWICZ, MARCIN DOMINIK ZDORT: Nie chować głowy w piasek [Den Kopf nicht in den Sand stecken], in: Rzeczpospolita vom 25.06.2002. 248 JENDROSZCZYK, Apel o zmianę polskich ustaw (wie Kap. 6, Anm. 243). 249 JERZY HASZCZYŃSKI: Wypędzeni żądają odszkodowań. BdV stawia warunki przyjęcia Polski do Unii Europejskiej [Vertriebene fordern Entschädigungen. BdV stellt Bedingun- gen zur Aufnahme Polens in die Europäische Union], in: Rzeczpospolita vom 22.05.2000. 250 PIOTR JENDROSZCZYK: Debata pod dyktando wypędzonych [Debatte nach dem Diktat der Vertriebenen], in: Rzeczpospolita vom 4.07.2003; vgl. auch JANUSZ REITER: Ratyfikacja, odszkodowania i Centrum [Ratifizierung, Entschädigung und das Zentrum], in: Rzeczpos- polita vom 4.07.2003.

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darauf hin, dass BdV-Präsidentin Erika Steinbach auf dem „Tag der Heimat“ 2003, an dem Bundespräsident Johannes Rau teilnahm, staatliche Unterstützung für die Entste- hung des Zentrums gegen Vertreibungen forderte.251 „Der Bund der Vertriebenen […] wird in seiner Tätigkeit vor der Bundestagswahl in Deutschland aktiver“, hatte die Rzeczpospolita ein Jahr zuvor gemeldet.252 All das implizierte, dass der BdV immer noch politische Ansprüche stellte und mit der gleichen Entschlossenheit wie in der Zeit des Kalten Krieges versuchte, seine Interessen in der Politik durchzusetzen. Im Argumentationsmuster des BdV war die Idee der Menschenrechte in den 1990er Jahren stark präsent. Erika Steinbach forderte beispielsweise von den Staaten, die in die Europäische Union aufgenommen werden wollten, sich zur Menschen- rechtsverletzung während der Vertreibung der Deutschen zu bekennen und sich dem Thema der „materiellen Folgen der völkerrechtswidrigen Aussiedlung und Enteig- nung“ zu stellen.253 Steinbach sei sich Jerzy Haszczyński zufolge allerdings bewusst, dass all diese Forderungen von der Bundesregierung keine Unterstützung bekommen würden.254 Wenn sie in der Entschädigungsdebatte ohnehin nicht mit einem Erfolg rechnete, scheinen die Entschädigungsforderungen dem einzigen Zweck gedient zu haben, die öffentliche Aufmerksamkeit auf den BdV und sein Projekt zu lenken. Dass Erika Steinbach die Entschädigungsfrage vielmehr instrumentalisierte, als dass sie sich tatsächlich damit beschäftigen wollte, brachte sie in einem Interview für die Poli- tyka 1998 zum Ausdruck. Vor dem Hintergrund der Debatte um die EU-Osterweite- rung wurde sie gefragt, was Warschau tun sollte, damit Steinbach zufrieden sei. Die BdV-Präsidentin antwortete: „Wir bestimmen keine Details. Dank dessen hat Polen viel mehr Freiraum. Einer Sache sind wir uns jedoch absolut sicher, dass es die Wie- dergutmachung 1:1 nicht geben wird, weil es sie nicht geben kann. Wir brauchen irgendeine symbolische Geste, um die Vertriebenen zu überzeugen, dass ihr, der rechtswidrig Vertriebenen, Schicksal anerkannt wurde.“255 Was sie mit dieser symbo- lischen Geste meinte, wurde erst ein Jahr später deutlich, als Steinbach den Bau eines Zentrums gegen Vertreibungen vorschlug und von Polen und Tschechien die Aner- kennung des Leids der deutschen Vertreibungsopfer forderte. Vor dem Hintergrund der Forderungen Edmund Stoibers nach der Aufhebung der Beneš- und Bierut-Dekrete schrieb Adam Krzemiński in der Polityka: „Die Erinne- rung an die Rechte der Vertriebenen erzeugt den Eindruck, dass die Deutschen wieder etwas aushecken.“256 Die Skepsis über den Wandel des BdV teilten auch Krzysztof Burnetko und Wojciech Pięciak mit. In ihrem Artikel für den Tygodnik Powszechny hieß es:

251 PIOTR JENDROSZCZYK: Pojednanie według wypędzonych [Versöhnung gemäß den Vertrie- benen], in: Rzeczpospolita vom 8.09.2003. 252 JENDROSZCZYK, Związek Wypędzonych liczy na Stoibera (wie Kap. 6, Anm. 244). 253 HASZCZYŃSKI, Wypędzeni żądają odszkodowań (wie Kap. 6, Anm. 249). 254 Vgl. ebenda. 255 Diabelski krąg pojednania (wie Kap. 6, Anm. 238). 256 Vgl. ADAM KRZEMIŃSKI: Nie wracajcie, przyjeżdżajcie [Kehrt nicht zurück, kommt], in: Polityka vom 6.07.2002.

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„Erika Steinbach ist noch etwas gelungen: Obwohl der Bund der Vertriebenen seit seiner Gründung seine Ideologie und Phraseologie praktisch nicht geändert hat, hat seine Präsi- dentin der öffentlichen Meinung eingeredet, dass er schon eine völlig neue Qualität im öffentlichen Leben der Bundesrepublik darstellt.“257 Doch während einige im BdV keinen Wandel sahen, waren die anderen, wie bei- spielsweise Ralf Giordano, von den Veränderungen im Verband überzeugt. „Der Bund der Vertriebenen hat sich geändert“, lautete die Schlagzeile zum Interview mit dem Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden in der Rzeczpospolita.258 Laut Gior- dano sei der Wandel des BdV unter anderem daran zu erkennen, dass er mit seinem scharfen Kritiker, d.h. Giordano, Kontakt aufgenommen habe. Erika Steinbach stelle die Einmaligkeit des Holocaust nicht in Frage und wisse über die Unvergleichbarkeit des Verbrechens an den europäischen Juden.259 Der Eindruck eines Wandels wurde vor allem durch das Argumentationsmuster des BdV erzeugt, in dem das Kriterium der Menschenrechte an zentrale Stelle rückte. Obwohl es bereits in den 1970er Jahren aufgetaucht war, erlangte es erst in den 1990er Jahren eine wesentliche Position in der Argumentationskette des BdV. Im Jahre 2003 veröffentlichte Erika Steinbach einen Artikel in der Rzeczpospolita, in dem sie schrieb: „Alle Opfer des Genozids und der Vertreibung brauchen einen Ort in unserem Herzen und im kollektiven Gedächtnis. Dieser Ort soll das Zentrum gegen Vertreibungen sein. Wir wollen dort klar und deutlich zeigen, dass Menschenrechte sich nicht teilen lassen.“260 Dem BdV warf Jerzy Kranz „eine ahistorische Art und Weise der Erinnerung an das deutsche Schicksal“ vor.261 Wojciech Pięciak wies, ebenfalls in der Rzeczpospolita, darauf hin, dass die Herauslösung des Vertreibungs- komplexes aus dem historischen Kontext erfolge, wenn man mit dem Kriterium der Menschenrechte argumentiere. Die Denkkette von Ursache und Folge verliere an Bedeutung.262 Pięciak zufolge ging es nicht darum, dass die Deutschen ihrer eigenen Opfer nicht gedenken durften. Sie hätten das Recht, an sie zu erinnern. Wichtig sei aber, wie diese Erinnerung in den öffentlichen und staatlichen Bereich integriert werde. Welche Form, Sprache und Denkmäler es geben und wer sie repräsentieren werde. „Wird das der Bund der Vertriebenen sein?“, fragte Pięciak in seinem Artikel und fuhr fort: „Dieser, der bis 1990 die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze be- kämpfte? Dessen Präsidentin sich der Sprache aus den 1950er Jahren bedient, als

257 KRZYSZTOF BURNETKO, WOJCIECH PIĘCIAK: Nieznana przyszłość II wojny [Die unbekann- te Zukunft des Zweiten Weltkriegs], in: Tygodnik Powszechny vom 31.08.2003. 258 Piotr Jendroszczyk im Gespräch mit Ralph Giordano: Związek Wypędzonych się zmienił [Der Bund der Vertriebenen hat sich verändert], in: Rzeczpospolita vom 19.02.2004. 259 Vgl. ebenda. 260 STEINBACH, Prawo Niemców do pamięci (wie Kap. 6, Anm. 233). 261 JERZY KRANZ: Poza granicą debaty [Außerhalb der Debattengrenze], in: Rzeczpospolita vom 18.07.2003. 262 Vgl. PIĘCIAK, Naród ofiar (wie Kap. 6, Anm. 229).

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wäre das etwas Selbstverständliches, und Tschechien und Polen als Vertreiberstaaten bezeichnet?“263 Wojciech Pięciak wies in einem anderen Artikel, diesmal für den Tygodnik Po- wszechny, darauf hin, dass sich der Charakter des Zentrums gegen Vertreibungen radikal änderte, je nachdem ob das Projekt von Bund und Ländern oder aus nichtstaat- lichen Quellen finanziert würde. Wenn das BdV-Projekt aus staatlichen Mitteln finanziert werden sollte, würde es zum Bestandteil der offiziellen Politik der Bundes- republik werden.264 Das würde wiederum bedeuten, dass der BdV bei der Geschichts- politik der Bundesregierung mitwirken würde. Deswegen erhob sich in Polen der Protest gegen die staatliche Finanzierung des Zentrums, was beispielsweise im Tygodnik Powszechny folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wurde: „Es geht auch darum, dass der deutsche Staat keine Initiativen firmiert, die mit der Wiederbelebung der Nationalismen und des neuen ‚Kalten Krieges‘ drohen – diesmal um die Ge- schichte.“265 An diesem Zitat wird deutlich, dass der BdV ähnlich wie früher als ein Kampfverband dargestellt wurde: Vor 1990 kämpfte er um die Oder-Neiße-Gebiete, nun führte er einen Kampf um die Durchsetzung seiner Geschichtsdeutung über Ver- treibung und versuchte, auf die Geschichtspolitik einzuwirken. Jetzt strebte er keine Revision der europäischen Nachkriegsordnung an, sondern die Revision der bisher klaren Verteilung von Opfer- und Täterrollen. „Revanchisten oder Opfer der Ge- schichte?“, fragte Jaromir Sokołowski in der Rzeczpospolita ironisch.266 Sicherlich trug in großem Maße die Entschlossenheit und selbstbewusste Rhetorik der BdV-Präsidentin dazu bei, dass der BdV wieder als ein kämpferischer Verband dargestellt wurde. Die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen fügte sich schließlich in den „Kampf um die Erinnerung“267 ein, wobei der BdV hier die Haupt- rolle spielte. Als die Finanzierung des BdV-Projekts durch die Bundesregierung nicht sicher war, schrieb Piotr Jendroszczyk in der Rzeczpospolita: „Der zur Defensive zurückgedrängte Bund der Vertriebenen legt die Waffen nicht nieder.“268 „Steinbach beginnt eine Kampagne“, hatte es in der Tageszeitung drei Jahre zuvor geheißen.269 All diese Zitate sind ein Hinweis darauf, dass das in Polen durch die kommunistische Propaganda gepflegte Bild des BdV als eines Kampfverbandes mehrere Jahrzehnte später zurückkehrte. Als „Kampagne“ wurden in diesem Fall die Bemühungen der BdV-Präsidentin bezeichnet, die Bundesregierung und die Parteien für ihr Projekt Zentrum gegen Vertreibungen zu gewinnen. Es ging Steinbach dabei nicht nur um

263 Ebenda. 264 Vgl. PIĘCIAK, Centrum niezgody? (wie Kap. 6, Anm. 220). 265 BURNETKO/PIĘCIAK, Nieznana przyszłość II wojny (wie Kap. 6, Anm. 257). 266 SOKOŁOWSKI, Odwetowcy czy ofiary historii? (wie Kap. 6, Anm. 224). 267 Vgl. ZDZISŁAW KRASNODĘBSKI: Walka o pamięć [Kampf um die Erinnerung], in: Rzecz- pospolita vom 18./19.09.2004. 268 PIOTR JENDROSZCZYK: Narodowy projekt na razie bez szans [Nationales Projekt vorerst ohne Chancen], in: Rzeczpospolita vom 29.08.2003. 269 JERZY HASZCZYŃSKI: Steinbach zaczyna kampanię [Steinbach startet eine Kampagne], in: Rzeczpospolita vom 5./6.08.2000.

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politische, sondern auch um finanzielle Unterstützung, die sie von Bund und Ländern erwartete, stellte Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita fest.270 Ein Zeichen für die politische Unterstützung der Vertriebenenverbände war schon immer die Teilnahme der bundesdeutschen Spitzenpolitiker an ihren Veranstaltungen. Deswegen erregte auch der Besuch Bundeskanzler Schröders auf dem „Tag der Hei- mat“ 2000 große massenmediale Aufmerksamkeit in Polen. Ähnlich wie die deutsche wies auch die polnische Presse darauf hin, dass Gerhard Schröder der erste sozial- demokratische Bundeskanzler war, der an dieser BdV-Veranstaltung teilnahm und dort eine Rede hielt.271 Ähnlich wie in den deutschen Medien wurde Erika Steinbach auch in der polnischen Presse zitiert, die die Teilnahme Schröders an dem vom BdV organisierten „Tag der Heimat“ als Signal dafür deutete, dass „der Bundeskanzler sich auch für dieses Kapitel der Geschichte verantwortlich fühlt“272. Dass Gerhard Schrö- der auf der Vertriebenenveranstaltung seine Zurückhaltung gegenüber dem Zentrum gegen Vertreibungen zeigte, verminderte die in Polen jahrelang von der kommunisti- schen Propaganda gepflegte Angst vor dem allzu großen Einfluss des BdV auf die Bundesregierung deutlich. Drei Jahre später nahm auch Bundespräsident Johannes Rau am „Tag der Heimat“ teil, die Aufmerksamkeit der polnischen Presse war allerdings kaum auf ihn, sondern vielmehr auf den Brief von Johannes Paul II. gerichtet, der anlässlich dieser Veran- staltung an die deutschen Vertriebenen Grußworte und seinen Segen schickte. Woj- ciech Pięciak warf im Tygodnik Powszechny dem BdV „Manipulation mit dem Papst“ vor.273 In seinem Artikel wies er darauf hin, dass Erika Steinbach auf dem „Tag der Heimat“ den päpstlichen Brief vorlas und sich über die Unterstützung des Heiligen Vaters für das BdV-Projekt Zentrum gegen Vertreibungen freute, auch wenn diese im Brief nicht direkt zum Ausdruck kam.274 In der gleichen Ausgabe meldete sich der Chefredakteur des Tygodnik Powszechny zu Wort und erklärte, dass das Grußwort des Papstes an die Vertriebenen als Unterstützung für das BdV-Projekt zu deuten weit übertrieben sei.275 Auch in der Rzeczpospolita wurde darauf hingewiesen, dass in dem Brief des Papstes kein Wort der Unterstützung für das Zentrum gegen Vertreibungen vorzufinden war.276 Die in Polen vorhandenen „Ängste und Aggression gegen die Stiftung der deut- schen Vertriebenen“ führte Erika Steinbach auf den Informationsmangel zurück.277

270 Ebenda; vgl. auch JERZY HASZCZYŃSKI: Niemcy nie mają roszczeń [Deutschland erhebt keine Ansprüche], in: Rzeczpospolita vom 4.09.2000. 271 Vgl. HASZCZYŃSKI, Niemcy nie mają roszczeń (wie Kap. 6, Anm. 270). 272 DERS., Steinbach zaczyna kampanię (wie Kap. 6, Anm. 269). 273 WOJCIECH PIĘCIAK: Manipulowanie Papieżem [Manipulation mit dem Papst], in: Tygodnik Powszechny vom 21.09.2003. 274 Vgl. ebenda. 275 Vgl. ADAM BONIECKI: Sympatie niemieckich prałatów [Sympathien der deutschen Präla- ten], in: Tygodnik Powszechny vom 21.09.2003. 276 Vgl. JENDROSZCZYK, Pojednanie według wypędzonych (wie Kap. 6, Anm. 251). 277 STEINBACH, Prawo Niemców do pamięci (wie Kap. 6, Anm. 233).

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Doch das war eine vereinfachte Erklärung. Die negative und skeptische Einstellung dem BdV gegenüber lag vor allem an der langjährigen Haltung seiner Führung zur Oder-Neiße-Grenze: Der Verband konnte sich jahrelang mit der Grenzverschiebung an der Oder-Neiße-Linie nicht abfinden, und auch die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach, die jetzt an der Spitze des BdV stand, stimmte 1990 gegen die Anerken- nung der Oder-Neiße-Grenze.278 Deswegen verwundert es nicht, dass es den Polen schwer fiel, den BdV als einen „Brückenbauer“ zwischen den Deutschen und den Polen zu betrachten, wie sich das Helmut Kohl Anfang der 1990er Jahre vorstellte. Auch durch seine Forderungen nach materieller Entschädigung und nach Gesetzesän- derungen in Polen konnte sich der BdV in Polen nur schwer eines positiven Bildes er- freuen. Eine wichtige Rolle spielten auch Vorurteile gegenüber den Vertriebenenver- bänden aus der kommunistischen Zeit. Der polnische Schriftsteller Stanisław Lem vertritt sogar die Meinung, dass die geschürte Angst vor den Vertriebenenorganisa- tionen nicht nur einen Propagandazweck erfüllen, sondern auch tatsächlich vor den Interessenverbänden der deutschen Vertriebenen warnen sollte: „Mindestens ein Fünftel der Deutschen unterstützt den Bau des Zentrums in Berlin und hinter ihrem Rücken verstecken sich die berühmten Revanchisten, vor denen uns die Machthaber in der Volksrepublik Polen Angst machten – wie sich leider herausstellt, nicht ohne Grund. Hinter einigen Lügen des kommunistischen Apparats in der Volksrepublik Polen steckte ein kleines Stück Wahrheit.“279 Eine sehr aufschlussreiche Erklärung dafür, warum der BdV in Polen so stark auf Ablehnung stieß, lieferte Zdzisław Krasnodębski in einem seiner Artikel für die Rzeczpospolita. Hier wies er darauf hin, dass die „Zurückführung aller Probleme auf die Person der BdV-Präsidentin, ihre Dämonisierung, […] nur ein bequemes, beruhi- gendes Täuschungsmanöver“ sei.280 Dabei vertrete sie gemäßigtere Positionen als vie- le andere Vertriebenenfunktionäre. Die Missverständnisse zwischen Polen und Deut- schen hätten ihren Grund in der „Ungleichzeitigkeit“.281 Beide Völker würden wie in zwei unterschiedlichen Epochen leben. In Polen sei die Epoche des Zweiten Welt- kriegs erst 1989 zu Ende gegangen. Erst danach seien freie Debatten über die Ver- gangenheit und eigene Geschichte möglich, erst jetzt „kehren wir nach Europa zurück und müssen um unseren Platz kämpfen“. In Deutschland habe man sich mehrmals mit der eigenen „Schuld“ auseinandergesetzt und sie anerkannt. Jetzt komme dort die „Zeit der Erlösung“. Die Deutschen glauben, alles wäre schon über ihre „Schuld“ ge- sagt, und reagieren deswegen auch mit einem gewissen Erstaunen auf die Reaktionen aus Polen.282

278 Vgl. PIOTR JENDROSZCZYK: Centrum europejskie, nie niemieckie [Europäisches, nicht deutsches Zentrum], in: Rzeczpospolita vom 24.09.2003. 279 STANISŁAW LEM: Żar w popiele [Die Glut in der Asche], in: Tygodnik Powszechny vom 7.09.2003. 280 KRASNODĘBSKI, Walka o pamięć (wie Kap. 6, Anm. 267). 281 Ebenda. 282 Ebenda.

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Vor dem Hintergrund der Bundestagswahl von 2002 versuchte auch Thomas Ur- ban, der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, in der Rzeczpospolita einen Bei- trag zum Abbau der in Polen herrschenden Ängste vor dem BdV zu leisten. Zu die- sem Zweck blickte er auf die politische Unterstützung der Vertriebenen durch die westdeutschen Politiker in der Vergangenheit zurück. In seinem Artikel sprach er un- ter anderem darüber, dass Konrad Adenauer die Revision der Oder-Neiße-Grenze in offiziellen Aussagen befürwortete und seine Unterstützung für die Vertriebenenver- bände zeigte, obwohl er sich in Wirklichkeit der Unausweichlichkeit der zukünftigen Grenzanerkennung bewusst war.283 Mit der Übernahme der Bundesregierung durch Willy Brandt und der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags 1970 seien die Ver- triebenen „an den politischen Rand zurückgedrängt“ worden.284 Hupka und Czaja hät- ten zwar gegen die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1990 protestiert, doch „der politisch schwache Bund der Vertriebenen“ habe sich schließlich mit sei- nem Schicksal abgefunden und auf revisionistische Rhetorik verzichtet. „Kommt es in der deutschen Politik gegenüber Polen zu einer revisionistischen Wendung? Besteht seitens des Bundes der Vertriebenen eine reale Gefahr für Polen?“, fragte Urban in seinem Artikel und versicherte dem polnischen Leser, dass keine der Parteien im Bundestag revisionistische Positionen vertrete.285 In der Politik gegenüber Polen werde sich nichts ändern, auch wenn es zum Regierungswechsel kommen sollte. Der Bund der Vertriebenen sei zwar vom Bund finanziert, aber wenn er revisionistische Forderungen stellen sollte, würde die finanzielle Unterstützung gestoppt werden. Au- ßerdem habe sich der BdV politisch deutlich von Rechts ins Zentrum bewegt.286 Ähnlich wie in der Bundesrepublik wurde auch in Polen die Frage nach dem Cha- rakter des Zentrums gegen Vertreibungen diskutiert: Handelte es sich dabei um ein nationales oder ein europäisches Projekt? Sollte es in Berlin oder Breslau entstehen? – fragte man in der Rzeczpospolita.287 In der Tageszeitung wurde die Befürchtung ge- äußert, dass ein Zentrum gegen Vertreibungen, wenn es in Berlin entstehen sollte, „eine politische Plattform der Vertriebenenorganisationen und ihrer Entschädigungs-

283 Dass sich Konrad Adenauer entgegen seiner offiziellen Haltung in Wirklichkeit mit der Oder-Neiße-Grenze abfand, wurde nicht nur in der westdeutschen, sondern auch in der polnischen Presse thematisiert. Vgl. MARIAN PODKOWIŃSKI: Adenauer i polskie granice zachodnie [Adenauer und die polnische Westgrenze], in: Rzeczpospolita vom 25.07.1989. 284 THOMAS URBAN: Wypędzeni wszystkich krajów [Vertriebene aller Länder], in: Rzeczpos- polita vom 29./30.06.2002. 285 Ebenda. 286 Vgl. ebenda. 287 Vgl. PIOTR JENDROSZCZYK: Siedziba we Wrocławiu? [Sitz in Breslau?], in: Rzeczpospolita vom 26.02.2002; MARKUS MECKEL: Dlaczego Wrocław? [Warum Breslau?], in: Rzeczpos- polita vom 7.03.2002; KLAUS BACHMANN: Więcej pokory [Mehr Demut], in: Rzeczpos- polita vom 8.07.2002; Piotr Jendroszczyk im Gespräch mit Markus Meckel: Wypędzenia z europejskiej perspektywy [Vertreibungen aus europäischer Perspektive], in: Rzeczpospo- lita vom 15.07.2003.

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forderungen gegenüber Polen und anderen Ländern“ werden könnte.288 Bei der Aus- einandersetzung um die Form des Zentrums und seinen Ort wurde in der Rzeczpospo- lita die Stellung der BdV-Präsidentin Steinbach hierzu wiedergegeben. Sie sagte, Deutschland sei ein unabhängiges Land und die Entscheidung über die Gestaltung des Zentrums solle ihm überlassen werden.289 Mit diesen Worten manifestierte sie das jahrelang vom BdV geforderte „Selbstbestimmungsrecht“, das sich nun nicht mehr auf die Grenzbestimmung bezog, sondern auf die Entscheidung über den nationalen Gedenkort für die deutschen Vertriebenen. Auf Kritik stieß in Polen auch der Vergleich der deutschen Vertreibungsopfer mit den anderen Opfergruppen des Zweiten Weltkriegs, der in der Debatte um das Zent- rum gegen Vertreibungen zu einem wichtigen Diskussionsgegenstand auch in der Bundesrepublik wurde. Im Tygodnik Powszechny wurde das Zentrum gegen Vertrei- bungen von Joachim Trenkner als ein „Versuch der ‚Entlastung‘ der Deutschen“ und die Bemühung verstanden, „von ihren Schultern das Gewicht der Geschichte zu neh- men“.290 Wojciech Pięcak machte auf die Tatsache aufmerksam, dass das Zentrum in seiner Größe und Bedeutung dem Holocaust-Mahnmal ebenbürtig sein sollte.291 In einem anderen Artikel wurde die Angst geäußert, dass die Idee einer in Berlin ge- planten Vertriebenengedenkstätte, wenn sie verwirklicht werden würde, zur Relativie- rung des Holocaust und des nationalsozialistischen Verbrechens führen könnte.292 Das geplante Zentrum würde eine „Kopie des Holocaust-Denkmals“ werden und dazu beitragen, dass die Deutschen nicht mehr als Täter betrachtet werden würden, dafür aber die Polen und die Alliierten.293 Władysław Bartoszewski protestierte gegen „das selektive Erinnern“, das seiner Ansicht nach mit dem Zentrum gegen Vertreibungen beabsichtigt wurde.294 Der ständige Vergleich zwischen den Opfern des Holocaust und den Vertreibungsopfern, der in der Bundesrepublik ein zentraler Punkt der Aus- einandersetzung um das Zentrum gegen Vertreibungen war, sorgte in Polen für Pro- test. Es wurde daran erinnert, dass auch die Polen eine große Opfergruppe der Natio- nalsozialisten darstellten und in der Diskussion übergangen würden. Darauf machte Zdzisław Krasnodębski in der Rzeczpospolita aufmerksam: In einem Atem spreche man von den Juden und den Deutschen als Opfer des Krieges und diese Opfergruppen

288 PIOTR JENDROSZCZYK: Rząd stawia na Berlin [Die Bundesregierung setzt auf Berlin], in: Rzeczpospolita vom 6.06.2003. 289 Vgl. DERS.: Fischer przeciw, Stoiber za [Fischer dagegen, Stoiber dafür], in: Rzeczpospo- lita vom 19.08.2003. 290 TRENKNER, Fałszywa wypędzona (wie Kap. 6, Anm. 235). 291 Vgl. WOJCIECH PIĘCIAK: Powrót „Centrum“ [Rückkehr des „Zentrums“], in: Tygodnik Powszechny vom 10.03.2002. 292 Vgl. NAWOJKA CIEŚLIŃSKA: To nie niewinność miała kolor biały [Nicht die Unschuld trug die weiße Farbe], in: Tygodnik Powszechny vom 20.07.2003. 293 BURNETKO/PIĘCIAK, Nieznana przyszłość II wojny (wie Kap. 6, Anm. 257). 294 WŁADYSŁAW BARTOSZEWSKI: Przeciw wybiórczej pamięci [Gegen selektive Erinnerung], in: Rzeczpospolita vom 15.07.2003.

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stünden im Vordergrund. Der Rest verschwinde in der Anonymität.295 Adam Krze- miński machte wiederum in der Polityka auf die in Polen diskutierte Frage aufmerk- sam, ob sich das Schicksal der durch Hitler und Stalin vertriebenen Polen mit dem Schicksal der aus den östlichen Gebieten vertriebenen Deutschen überhaupt verglei- chen ließe.296 Während in Deutschland hauptsächlich der Vergleich zwischen den deutschen und den jüdischen Opfern des Krieges diskutiert wurde, fand in der polni- schen Presse eine Diskussion über den Vergleich zwischen dem Opferstatus der Deut- schen und dem der Polen statt.297 Anna Wolf-Powęska zufolge zeigte die Auseinandersetzung um das Zentrum ge- gen Vertreibungen, dass „die Reflexion über die Vergangenheit der Gesellschaften, Völker, ethnischen Gruppen nie in einem politischen Vakuum“ stattfinde.298 Bei der Abrechnung mit der Vergangenheit versuche man nicht nur die Vergangenheit zu ver- stehen und ein Muster für die politische Moral zu finden, sondern es gehe dabei um die Macht. Die Erinnerung an Geschichte sei immer ein Element der Politik. Die chaotische Diskussion über die Zwangsmigration der Deutschen breche immer kurz vor der Bundestags- oder Landtagswahl aus. Den Vertriebenenfunktionären gehe es nicht um die Vertiefung des Wissens über das Vertreibungsthema und über seinen historischen Kontext. Sowohl ihnen als auch den Politikern gehe es bei einer ge- schichtspolitischen Debatte wie über das Zentrum gegen Vertreibungen nur um die Errichtung eines Denkmals für sich selbst.299 Wolf-Powęska machte hier deutlich, dass es sich bei der Debatte um das Zentrum sehr stark um eine politische Instrumen- talisierung handelte. Das Vertreibungsthema wurde um die Jahrtausendwende erneut zu einem Werkzeug der Politiker und des BdV, dessen sie sich bedienten, um ihrer öffentlichen und politischen Existenz die Zukunft für die nächsten Jahre zu sichern. Vielleicht war auch deswegen die Darstellung des BdV in der polnischen Presse durch alte Vorurteile und Ängste aus der Vergangenheit bestimmt, weil auch jetzt der Dachverband nicht fähig war, mit dem Vertreibungsthema an die Öffentlichkeit zu treten, ohne es sofort zum Politikum zu machen.

295 Vgl. KRASNODĘBSKI, Polskie milczenie (wie Kap. 6, Anm. 225); vgl. auch: JERZY HASZCZYŃSKI: Pytania do Helgi Hirsch [Fragen an Helga Hirsch], in: Rzeczpospolita vom 30.07.2003; PIĘCIAK, Naród ofiar (wie Kap. 6, Anm. 229). 296 Vgl. KRZEMIŃSKI, Pomnik nieporozumień (wie Kap. 6, Anm. 219). 297 Vgl. HASZCZYŃSKI, Pytania do Helgi Hirsch (wie Kap. 6, Anm. 295); PIĘCIAK, Naród ofiar (wie Anm. 229); KRASNODĘBSKI, Walka o pamięć (wie Kap. 6, Anm. 267); SŁAWOMIR SIERAKOWSKI: Wspólna pamięć – nie o wszystkich [Gemeinsame Erinnerung – nicht an alle], in: Tygodnik Powszechny vom 7.09.2003. 298 ANNA WOLF-POWĘSKA: Pamiętając Polibiusza [An Polybios denkend], in: Rzeczpospolita vom 18.07.2003. 299 Vgl. ebenda.

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7 Zusammenfassung

In der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, dass die Selbst- und Fremddarstellung des BdV zwischen 1957 und 2004 sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Polen eng mit dem politischen Wandel in diesen beiden Ländern verbunden war. Es wurde dargelegt, dass der westdeutsche Oder-Neiße-Diskurs und der Opferdiskurs ei- nen großen Einfluss auf das Selbst- und Fremdbild des Verbandes hatten. Die Tätig- keit des BdV bewegte sich stark im Rahmen dieser beiden Diskurse, die er in seinem Sinne zu beeinflussen versuchte. Entscheidend waren nicht zuletzt die bis 1990 unter- schiedliche Form der Öffentlichkeit und die Funktion der Massenmedien, die sich auf das öffentliche Bild des BdV in der Bundesrepublik und in Polen auswirkten. Die Analyse der Selbstdarstellung des BdV ergab, dass sich der Verband, unab- hängig von seiner tatsächlichen politischen Durchsetzungsfähigkeit, immer als ein po- litischer Interessenverband verstand. Seine zentrale Aufgabe sah er darin, die deut- schen Vertriebenen nach außen zu vertreten und ihre Interessen durch Einflussnahme auf die (west)deutsche Politik und Öffentlichkeit durchzusetzen. Seine politische Stärke betonte der BdV insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren. Immer wieder wies er beispielsweise auf das große Wählerpotenzial der deutschen Vertriebenen hin und leitete daraus die politische Bedeutung der Vertriebenenverbände ab. Der Ver- weis auf das Wählerpotenzial ermöglichte es dem BdV, Forderungen und Ansprüche gegenüber den Parteien zu erheben, so z.B. bei der Aufstellung von Vertriebenen als Kandidaten für Bundestagswahlen. Der Verband setzte die Parteien unter Druck, in- dem er betonte, die deutschen Vertriebenen könnten jederzeit ihre Wählerstimmen einer Partei entziehen, wenn diese ihr Anliegen nicht gut genug vertreten würde. Dementsprechend genossen die Vertriebenenverbände bis Ende der 1960er Jahre die Unterstützung der beiden großen Parteien, sowohl der CDU/CSU als auch der SPD. Die westdeutschen Spitzenpolitiker brachten dies in der Öffentlichkeit am besten zum Ausdruck, indem sie an den Vertriebenenveranstaltungen teilnahmen. Um seine poli- tische Stärke noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen, stellte sich der BdV nicht nur als Interessenvertreter der deutschen Vertriebenen, sondern auch als Vertreter natio- naler Interessen dar. Er sah sich als Vorkämpfer der deutschen Einheit und Träger des deutschen Patriotismus. Auf diesem Argument basierte sein Anspruch sowohl auf die Mitwirkung in der Ostpolitik der westdeutschen Bundesregierung wie auch auf eine Sonderstellung unter allen anderen Interessenverbänden in der Bundesrepublik. Er stellte sich als Gesprächspartner der Bundesregierung dar, der in politische Entschei- dungen, die mit dem „deutschen Osten“ zusammenhingen, einbezogen werden sollte.

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Neben der politischen Tätigkeit, bei der das zentrale Ziel die Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 und die Rückkehr der deutschen Vertriebenen in die Oder-Neiße-Gebiete waren, sah der BdV seine zweite zentrale Aufgabe in der „Aufklärung“ der Öffentlichkeit über das Schicksal der deutschen Vertriebenen und über alle Themen, die mit der Vertreibung und dem „deutschen Osten“ zusammenhin- gen. Als Zeitzeugen-Verband glaubte er, der einzig glaubwürdige Träger der Erinne- rung an die Vertreibung zu sein. Am Beispiel der Debatte um die Fernsehsendungen „Polen in Breslau“ von Jürgen Neven-du Mont (1963) und „Deutschlands Osten – Polens Westen“ von Hansjakob Stehle (1964) wurde in der Arbeit gezeigt, wie sehr der BdV um seine Deutungshoheit in Bezug auf Themen wie „deutscher Osten“ und „Vertreibung“ rang. Der Verband kritisierte scharf die beiden Fernsehreportagen, in denen die Oder-Neiße-Gebiete als polnische Gebiete dargestellt wurden. Als der BdV im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung um die beiden Fernsehsendungen den westdeutschen Medien Mangel an objektiver Berichterstattung und Verfälschung historischer Fakten vorwarf, geriet er mit seinem Argumentationsmuster immer mehr in die Isolation. Der BdV wies immer wieder darauf hin, dass niemand besser die Ge- schichte der Vertreibung an die nächste Generation weitergeben könne als die Betrof- fenen selbst. Nun wagten es aber auch andere, wie beispielsweise Neven-du Mont oder Stehle, sich mit diesem Teil der deutschen Geschichte aus einer anderen als der Zeitzeugen-Perspektive auseinanderzusetzen. Vor dem Hintergrund der Debatte um die beiden Fernsehsendungen nahm die Opferrhetorik des BdV deutlich zu. Der Ver- band stilisierte die westdeutschen Medien und die öffentliche Meinung zu Feinden der Vertriebenen und warf ihnen vor, die Vertriebenen diskriminieren, aus der Öffent- lichkeit isolieren und zum Schweigen bringen zu wollen. Der scharfe Protest des BdV richtete sich zwar auf den ersten Blick gegen die beiden Sendungen, doch dahinter steckte das Ringen des Verbandes, den Wandel im Oder-Neiße-Diskurs zu verhin- dern. Dass der Bund der Vertriebenen den Diskurswandel in der Bundesrepublik ver- zweifelt aufzuhalten versuchte, lässt sich an seinem Argumentationsmuster und seiner Rhetorik in den 1960er Jahre beobachten. Als die Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze im Laufe der 1960er Jahre in der Bundesrepublik immer mehr Befürworter fand, begann der BdV immer stärker zwischen der „Wir“-Gruppe der patriotischen Vertriebenen und der „Sie“-Gruppe der „Verräter“ zu unterscheiden. Als „Verräter“ wurden von dem Verband all diejenigen in der Bundesrepublik bezeichnet, die sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprachen. Durch die Neigung der BdV-Funktionäre zur scharfen Polarisierung zwischen der „Wir“-Gruppe der Patrio- ten und der „Sie“-Gruppe der „Verräter“ bereitete sich der Dachverband zum großen Teil selbst den Weg in die politische und öffentliche Isolation. Der scharfe Protest des BdV gegen das „Tübinger Memorandum“ (1962), die EKD-Denkschrift (1965) und das „Bensberger Memorandum“ (1968) war hauptsächlich dadurch bedingt, dass sich in diesen Schriftstücken Publizisten, Intellektuelle und Kirchenvertreter für die Not- wendigkeit der Grenzanerkennung auf der Oder-Neiße-Linie aussprachen und damit einen Wandel im Oder-Neiße-Diskurs in Gang setzten.

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In den 1950er und 1960er Jahren war der BdV sowohl in der Berichterstattung der FAZ als auch des Spiegels und der Zeit stark präsent. Im Spiegel erschienen im Laufe der 1960er Jahre Interviews mit Hans Krüger und Wenzel Jaksch, worin die zwei BdV-Präsidenten den Standpunkt des Verbandes zur Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze schilderten und die Geschichtsdeutung des Verbandes zum Ausdruck brach- ten. In der Zeit wurde beispielsweise ausführlich über die Nominierung des BdV-Prä- sidenten Hans Krüger zum Vertriebenenminister 1963 berichtet. In der FAZ wurden laufend Stellungnahmen der Vertriebenenfunktionäre zur Oder-Neiße-Grenze zitiert. Alle drei Blätter tendierten allerdings zu den für die Massenmedien typischen Verall- gemeinerungen und sprachen meistens allgemein von den „Vertriebenen“, obwohl sie ihre Verbände meinten. Das Selbstbild des BdV als eines starken politischen Interes- senverbandes war in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in der Fremddarstellung des BdV stark präsent. Sowohl die FAZ als auch die Zeit und der Spiegel thematisierten das große Wählerpotenzial der Vertriebenen, zitierten die Mitgliederzahlen des BdV und berichteten über die politische Unterstützung der Bundesregierung für die Ver- triebenenverbände. Vor dem Hintergrund der Bundestagswahl 1969 wurde die politi- sche Bedeutung des BdV bzw. der Vertriebenenverbände in der FAZ, im Spiegel und in der Zeit allerdings zum Teil in Frage gestellt. Starke Publizität erreichte der BdV nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner Kritik an den Fernsehsendungen von Jürgen Neven-du Mont und Hansjakob Stehle. Hier gelang es dem Verband zum ersten Mal, so klar auf der massenmedialen Ebene seinen Anspruch auf Deutungshoheit über das Thema der Oder-Neiße-Gebiete zum Ausdruck zu bringen. Nach der Unterzeichnung und Ratifizierung der Ostverträge durch die Bundes- regierung lässt sich in der Selbst- und Fremddarstellung des BdV ein starker Wandel beobachten. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze stellte einen außenpolitischen Schritt dar, mit dem die politische Isolierung der Vertriebenenverbände insgesamt sowie die Marginalisierung des BdV als „politische Kraft“ vollzogen wurden. Das vom Verband beanspruchte und angestrebte Mitspracherecht in der Ostpolitik der Bundesregierung wurde ihm jetzt verweigert. Vor der Ratifizierung der Ostverträge wies die Rhetorik des BdV einen stark kämpferischen Charakter und militärischen Wortschatz auf. Das Argumentationsmuster des BdV war in diesem Zeitraum von Kompromisslosigkeit gekennzeichnet. Seit der Ratifizierung der Ostverträge hingegen setzte für den BdV eine Art „Reflexionsphase“ ein. In seiner Rhetorik und in seinem Argumentationsmuster ließen die Schärfe und der offensive Charakter nach. Das lag zunächst daran, dass die Vertriebenenverbände in den 1970er Jahren keine politische Unterstützung mehr von der Bundesregierung erfuhren. Der BdV versuchte sich in diesem Zeitraum neu zu definieren, was neue Selbstbezeichnungen nach sich zog. Er nannte sich „Mahner“, „Rufer“ und „Helfender“. Obwohl er sich auch in den 1970er und 1980er Jahren unverändert politische Bedeutung zuschrieb, verschwanden die Selbstzuschreibungen wie „politische Kraft“ oder „politischer Faktor“ aus seinem Ar- gumentationsmuster. Das Selbstbild als „politische Größe“ tauchte zwar Mitte der 1970er Jahre noch einmal auf, blieb aber eher eine Ausnahme. Die „Reflexionsphase“ des BdV bewirkte, dass alte Forderungen nach „Selbstbestimmungsrecht“ und „Recht auf die Heimat“ in einen neuen Kontext gesetzt wurden: Die bisher national ausge-

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richtete Perspektive wurde durch eine stärker europäische ersetzt. Darüber hinaus ver- stand der BdV seinen Kampf um die Oder-Neiße-Gebiete, das „Selbstbestimmungs- recht“ und das „Recht auf die Heimat“ in den 1970er und 1980er Jahren als Kampf um ein freies Europa und um Menschenrechte. Die Berufung auf Menschenrechte und die Forderungen nach Anerkennung der Vertreibung als Menschenrechtsverletzung kamen im Argumentationsmuster des BdV immer häufiger vor. Neben dem Wandel im Oder-Neiße-Diskurs der 1960er Jahre setzte Anfang der 1970er Jahre der Wandel im westdeutschen Opferdiskurs an. Die Tatsache, dass der integrationistische Opferdiskurs von dem auf die Opfer des Holocaust fokussierten partikularistischen Opferdiskurs ersetzt wurde, wirkte sich auf die Arbeit und die Ar- gumentationsmuster des BdV stark aus. Nach dem zunächst einmal verlorenen Kampf gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze begann der BdV in den 1970er Jah- ren vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Schulbuchgespräche einen Kampf gegen das „Verschweigen“ der Vertreibung und um die Erinnerung an die Vertrei- bungsopfer zu führen. Zum einen fühlte er sich dazu durch die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen verpflichtet, in denen das Wort „Vertreibung“ nicht erwähnt, sondern mit Bezeichnungen wie „Transfer“ oder „Bevölkerungsverschiebung“ um- schrieben wurde. Zum anderen lässt sich der Kampf gegen das „Verschweigen“ auf den für die 1970er Jahre charakteristischen partikularistischen Opferdiskurs zurück- führen, in dessen Mittelpunkt die Erinnerung an die Opfer des Holocaust stand. Die Fokussierung auf die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs im westdeutschen Op- ferdiskurs und die Nichterwähnung des Wortes „Vertreibung“ in den deutsch-polni- schen Schulbuchempfehlungen führten dazu, dass sich der BdV seitdem verstärkt der Rolle als „Wächter“ der Erinnerung an Vertreibung und der damit verbundenen Be- grifflichkeit betrachtete. In den 1970er Jahren versuchte er, mit seinem auf die deut- schen Vertreibungsopfer ausgerichteten Argumentationsmuster ein Gegengewicht zum partikularistischen Opferdiskurs zu bilden. Während er sich in den 1960er Jahren an der öffentlichen Debatte um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze beteiligte, versuchte er jetzt das gleiche im Hinblick auf die Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen zu tun und die mediale Auferksamkeit auf die deutschen Op- fer der Vertreibung zu lenken. Dass sich der BdV mit seinem Argumentationsmuster im westdeutschen Opferdiskurs der 1970er Jahre nicht durchsetzen konnte, lässt sich an seiner Fremddarstellung in diesem Zeitraum beobachten. In den 1970er Jahren wurde der BdV mit seinem Argumentationsmuster in der FAZ, dem Spiegel und der Zeit deutlich seltener als in den 1960er Jahren thematisiert. Mit den BdV-Präsidenten wurden keine Interviews mehr geführt. Die Frage nach der politischen Bedeutung der Vertriebenenverbände wurde seit der Ratifizierung der Ostverträge in den drei Blättern nicht mehr diskutiert. Nur die FAZ bot dem Verband noch ein Forum zur Präsentation seines Standpunktes, dies allerdings vor allem in der Leserbriefspalte. Während in den 1960er Jahren den Vertriebenenverbänden und ih- rem Anliegen ganze Artikel gewidmet wurden, wurde jetzt die Vertriebenenproble- matik meistens am Rande anderer Themen behandelt. In den 1980er Jahren lässt sich weder im Oder-Neiße-Diskurs noch im westdeut- schen Opferdiskurs ein klarer Wandel feststellen. Auch in der Selbst- und Fremddar-

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stellung des BdV kann man nur wenig Veränderung beobachten. Der wohl einzige und große Unterschied zu den 1970er Jahren bestand darin, dass die Vertriebenenver- bände wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten. Der Grund dafür war vor allem die öffentlich manifestierte Unterstützung der deutschen Vertriebenen und ihrer Verbände durch Bundeskanzler Helmut Kohl. Die Vertriebe- nenveranstaltungen wurden wieder von den westdeutschen Spitzenpolitikern besucht. In seinen Reden versicherte Helmut Kohl den Vertriebenenverbänden immer wieder die Unterstützung seiner Regierung. Vor allem seine Teilnahme am „Tag der Heimat“ 1984 und am „Schlesiertreffen“ 1985 sorgte in der westdeutschen Presse für Diskus- sionen. Erneut wurde die Frage nach der politischen Bedeutung der Vertriebenenver- bände aufgegriffen. Insofern erinnerten die 1980er Jahre auf den ersten Blick an die 1960er, als der politische Einfluss der Vertriebenenverbände diskutiert und die Ver- triebenenproblematik in den Zeitungsartikeln auf den ersten Seiten behandelt wurde. Der große Unterschied zu den 1960er Jahren bestand allerdings darin, dass in den 1980er Jahren weder in der FAZ noch in der Zeit oder im Spiegel den Vertriebenen- verbänden tatsächlich eine politische Bedeutung zugeschrieben wurde. Obwohl die Blätter diese Frage diskutierten, äußerten sie Skepsis darüber, dass die offiziellen Gesten Helmut Kohls auf den Vertriebenenveranstaltungen einen Wandel in der Ost- politik der Bundesregierung bedeuteten würden. Trotz der Unterstützung des Bundeskanzlers gewann der BdV sein politisches Selbstbewusstsein aus den 1960er Jahren in den 1980er Jahren nicht wieder zurück, was an seiner Selbstdarstellung deutlich wird: Die „Reflexionsphase“ der 1970er Jahre dauerte auch in den 1980er Jahren an. Es wurde viel über die Zukunft des BdV nachgedacht. Im Kreis des BdV-Präsidiums wurde die Frage nach der Namensände- rung des Verbandes vom „Bund der Vertriebenen“ in „Bund für Deutschland“ oder „Patriotischer Bund“ diskutiert. Während sich einige Präsidialmitglieder einen Wan- del in der Verbandspolitik wünschten, fürchteten sich die anderen vor Veränderungen und vor allzu großer Modifizierung der Verbandsziele. In den 1980er Jahren führte der BdV weiterhin seinen Kampf gegen das „Verschweigen“ der Vertreibung. Auch die Menschenrechte und der europäische Ansatz waren in seinem Argumentations- muster stark präsent. Der Opferstatus der Vertriebenen wurde in den Reden Herbert Czajas genauso stark wie in den 1970er Jahren betont. Einen Wandel zugunsten des integrationistischen Opferdiskurses zu bewirken, gelang dem BdV auch in den 1980er Jahren nicht. Auf allen Öffentlichkeitsebenen – sowohl auf der „Versammlungsebene“ als auch auf der „massenmedialen Ebene“ –, die im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit ausführlich beschrieben wurden, versuchte der BdV seine Interessen möglichst stark zum Ausdruck zu bringen. Indem der Verband Vertriebenenveranstaltungen organi- sierte, an denen die (west)deutschen Spitzenpolitiker teilnahmen, lenkte er automa- tisch die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf die Vertriebenenverbände und ge- langte dadurch auf die massenmediale Ebene der Öffentlichkeit. Das ermöglichte ihm zum einen, ein uneingeschränkt breites Publikum zu erreichen, zum anderen konnte er sich an massenmedial ausgetragenen Debatten und, mit seinem Argumentationsmus- ter, an der Diskursgestaltung beteiligen.

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Die bis 1990 unterschiedliche Form der Öffentlichkeit und die Funktion der Mas- senmedien in der Bundesrepublik und Polen wirkten sich auf das öffentliche Bild des BdV aus. Denn der Zweck der Kommunikation in der Öffentlichkeit war in beiden Ländern bis dahin verschieden gelagert: Während Öffentlichkeit in der Bundesrepub- lik durch freie Kommunikation gekennzeichnet war, war der öffentliche Meinungs- austausch in der Volksrepublik Polen aufgrund der Zensur deutlich eingeschränkt. Der Bund der Vertriebenen war in der Bundesrepublik ein aktiver Öffentlichkeitsak- teur. Er bemühte sich sehr stark um die Aufmerksamkeit der westdeutschen Massen- medien und bekam sie auch direkt in Form von Interviews, wie z.B. mit den BdV- Präsidenten Hans Krüger und Wenzel Jaksch. Das war in der Volksrepublik nicht möglich. Bis 1990 hatte der BdV keinen Zugang zur polnischen Öffentlichkeit und konnte nicht mithilfe der polnischen Medien auf seine Fremddarstellung in Polen Stellung nehmen. Das änderte sich mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Aufhebung der Zensur. In der polnischen Presse erschienen erst nach diesem po- litischen Wandel Interviews mit den BdV-Funktionären wie Herbert Hupka oder Erika Steinbach; die BdV-Präsidentin veröffentlichte sogar einen Artikel in der Rzecz- pospolita. Ein freier Meinungsaustausch war aufgrund der Zensur in der Volksrepublik Polen zwar erschwert, allerdings nicht unmöglich. Während der Bund der Vertriebenen den kommunistischen Blättern wie der Trybuna Ludu, der Polityka und der Rzeczpospo- lita in erster Linie als Propagandainstrument diente, gelang es dem Tygodnik Po- wszechny, der kommunistischen Diktion ein wenig zu entkommen und sachlicher an die Problematik der Vertreibung und der Vertriebenenverbände heranzugehen. Ein Informationsaustausch fand zwar in der polnischen Presse statt, von öffentlichen Debatten im demokratischen Sinne konnte aber noch lange keine Rede sein. In der Volksrepublik Polen fand also kein offen ausgetragener Deutungskonflikt zwischen dem BdV und der Öffentlichkeit statt, wie das in der Bundesrepublik der Fall war. Der Bund der Vertriebenen wurde in polnischen Zeitungen wie der Trybuna Ludu, der Polityka und dem Tygodnik Powszechny in den 1950er und 1960er Jahren selten thematisiert. Meistens war die Rede von den Vertriebenenverbänden im Allgemeinen. Wenn der BdV erwähnt wurde, dann wurde sein Name entweder mit einem anderen Vertriebenenverband verwechselt, wie beispielsweise 1963 im Tygodnik Powszechny, oder man sprach in den meisten Fällen gemäß der kommunistischen Diktion vom „Bund der Umsiedler“ (Związek Przesiedleńców). Die Vertriebenen wurden als „Um- siedler“ (przesiedleńcy) und die Vertreibung als „Umsiedlung“ (przesiedlenie), selten als „Aussiedlung“ (wysiedlenie), bezeichnet. Obwohl der BdV unter seinem richtigen Namen als „Bund der Vertriebenen“ (Związek Wypędzonych) in der Trybuna Ludu 1964 erstmals auftauchte, blieb das eine Ausnahme. In der Parteizeitung war bis Ende der 1960er Jahre konsequent vom „Bund der Umsiedler“ die Rede. Im Jahr 1969 und 1970 lässt sich im Bezug auf die Terminologie ein klarer Wandel beobachten: Der Bund der Vertriebenen wurde seitdem sowohl in der Trybuna Ludu als auch in der Polityka immer häufiger unter seinem richtigen Namen, also als „Bund der Vertriebe- nen“ und nicht als „Bund der Umsiedler“ aufgeführt. Sein Name wurde wörtlich als „Związek Wypędzonych“ ins Polnische übersetzt. Obwohl die frühere Bezeichnung

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„Bund der Umsiedler“ weiterhin verwendet und die deutschen Vertriebenen als „Re- visionisten“ und „Revanchisten“ bezeichnet wurden, stellte die Zeit um 1969/1970 in der Fremddarstellung des BdV in der Volksrepublik Polen einen klaren Wendepunkt dar. Diese Tendenz lässt sich in erster Linie auf die angekündigte neue Ostpolitik der Bundesregierung sowie auf ihre Bereitschaft, die Oder-Neiße-Grenze offiziell an- zuerkennen, zurückführen. Dadurch wurden die Ängste vor den Vertriebenenverbän- den und ihrem Einfluss auf die westdeutsche Politik deutlich abgebaut und die erste klare Aufgeschlossenheit der kommunistischen Blätter bei der Thematisierung der Vertriebenenverbände bewirkt. Ironischerweise protestierte der BdV sehr heftig ge- gen den Warschauer Vertrag von 1970 und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, aber es war der damit verbundene politische Wandel, der dazu führte, dass der Ver- band fortan in Polen unter demselben Namen bekannt war, unter dem er auch in der Bundesrepublik agierte. Auch die deutsch-polnischen Schulbuchgespräche trugen zum Wandel bei der Thematisierung des BdV und der Vertreibung in der polnischen Presse bei. In der Trybuna Ludu wurde der Verband seit den 1970er Jahren deutlich häufiger als noch in den 1960er Jahren thematisiert. Sein richtiger Name trat immer häufiger an die Stelle der alten Bezeichnung „Bund der Umsiedler“. Manchmal kam es dazu, dass in ein und demselben Artikel vom „Bund der Vertriebenen“ und vom „Bund der Umsiedler“ die Rede war. Trotz der Pressezensur lassen sich Unterschiede in der Berichterstattung der kommunistischen Zeitungen wie der Trybuna Ludu und der Polityka auf der einen Seite und des Tygodnik Powszechny auf der anderen Seite feststellen. In der Trybuna Ludu wurden die deutschen Vertriebenen und ihre Verbände vor allem als eine homo- gene Gruppe dargestellt. Pauschalisierungen waren typisch für die Parteizeitung. Zwi- schen den organisierten und nicht-organisierten Vertriebenen wurde hier nicht unter- schieden. Das kommunistische Wochenblatt Polityka entfernte sich von diesem homogenen Bild der Vertriebenenverbände erst seit den 1970er Jahren allmählich. Während die Vertriebenenverbände in der kommunistischen Presse in erster Linie aus politischer Perspektive thematisiert und instrumentalisiert wurden, berichtete der Ty- godnik Powszechny dagegen in einem größeren historisch-politischen Kontext über sie und versuchte, dem polnischen Leser bereits seit den 1960er Jahren klar zu ma- chen, dass die Vertriebenenverbände keine politische Gefahr darstellten. Dadurch baute die katholische Zeitung die Angst vor den Vertriebenen in Polen deutlich ab und bildete einen starken Gegenpol zu den kommunistischen Zeitungen. Das Wo- chenblatt ging noch ein Stück weiter und brachte in einigen Artikeln Verständnis für das Schicksal der deutschen Vertriebenen zum Ausdruck. Der Versuch, von dem ei- genen Opferstatus ein wenig abzurücken und auch auf den Opferstatus der deutschen Vertriebenen aufmerksam zu machen, war etwas völlig Neues. Seit den 1970er Jahren lassen sich in der Berichterstattung nicht nur Unterschiede zwischen der „kontrollierten Presse“ (Tygodnik Powszechny) und der „gelenkten Presse“ (Trybuna Ludu, Polityka, Rzeczpospolita) feststellen, sondern auch innerhalb der kommunistischen Blätter. Während in den 1960er Jahren nur der Tygodnik Po- wszechny einen starken Gegenpol zur kommunistischen Presse darstellte, war es seit den 1970er Jahren auch die Polityka, die in ihren Artikeln über die Vertriebenenver-

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bände mehr Sachlichkeit zeigte. Die Darstellungen der Vertriebenenverbände in der Trybuna Ludu und der Rzeczpospolita wichen voneinander nur wenig ab, während sich zwischen der Trybuna Ludu und der Polityka seit den 1970er Jahre Unterschiede feststellen lassen. Stellte die Parteizeitung die deutschen Vertriebenen weiterhin hauptsächlich als eine homogene Gruppe mit revanchistischen und revisionistischen Ansprüchen dar, widmete indessen die Polityka ihr Interesse auch der Spaltung unter den deutschen Vertriebenen im Hinblick auf die neue Ostpolitik. Es erschien bei- spielsweise ein umfangreiches Interview mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Günter Slotta, der versicherte, dass die Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik keine politische Bedeutung mehr haben und es Vertriebene gebe, die die Ostpolitik der Bundesregierung unterstützten. Damit wurden die Vertriebenen als eine differen- zierte Interessengemeinschaft dargestellt und gleichzeitig signalisierte die Polityka, dass sie sich um Perspektivenvielfalt bemühte. Einen zusätzlichen Wandel durchlief die Wochenzeitung in den 1970er Jahren in Bezug auf die Thematisierung des deut- schen Opferstatus: Neben dem Leiden der Polen wurde, wenn auch nur in knapper Form, das Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg eingestanden. Allen in die Analyse einbezogenen polnischen Zeitungen war die Übernahme der westdeutschen in die eigene Berichterstattung gemeinsam. Sowohl die kommunis- tischen Blätter als auch der Tygodnik Powszechny orientierten sich häufig an den westdeutschen Presseerzeugnissen. Die Trybuna Ludu und die Polityka bezogen sich beispielsweise im Kontext des Angriffs auf Jürgen Neven-du Mont auf dem „Schle- siertreffen“ 1963 unter anderem auf die Bericherstattung des Spiegels, und vor dem Hintergrund des „Schlesiertreffens“ 1985 knüpfte die Trybuna Ludu an die Bericht- erstattung der Zeit an. Bei der Berichterstattung über die Konstituierung des BdV be- zog sich die Parteizeitung wiederum auf die in der FAZ erschienen Artikel zu diesem Thema. Im Tygodnik Powszechny wurde zwar die westdeutsche Berichterstattung mit einbezogen, allerdings ohne dass die Autoren ausdrücklich auf die eine oder andere Zeitung explizit Bezug nahmen. Vielmehr bemühten sie sich um eigene Analysen, so beispielsweise Stefan Kisielewski oder Władysław Bartoszewski in den 1960er Jah- ren, die über ihre Reisen in die Bundesrepublik und ihre Eindrücke aus eigener Zeit- zeugenperspektive berichteten. In den 1970er Jahren begann die katholische Wochen- zeitung Artikel westdeutscher Autoren zu veröffentlichen. Das Erscheinen ihrer Arti- kel war ein Zeichen der Aufgeschlossenheit des Blattes gegenüber der westdeutschen Perspektive und seines Interesses an der Berichterstattung aus erster Hand. Die politische Wende von 1989/90 wirkte sich in ähnlich hohem Maße wie die von 1970 auf die Selbst- und Fremddarstellung des BdV in der Bundesrepublik und in Polen aus. Die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1990 bedeutete für den BdV, genauso wie zwanzig Jahre zuvor, einen neuen Einschnitt in seiner Ge- schichte. Den langjährigen Kampf um die Rückkehr der Vertriebenen in die Oder- Neiße-Gebiete verlor er definitiv mit dem 1990 unterzeichneten deutsch-polnischen Grenzvertrag. Er betrachtete sich allerdings weiterhin als einen politischen Interessen- verband und versuchte jetzt, auf dem Gebiet der Geschichtspolitik aktiv zu werden. Das gelang ihm allerdings erst, als 1998 die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach zur neuen BdV-Präsidentin gewählt wurde. Mit ihrer Wahl setzte in der Geschichte des

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Vertriebenenverbandes eine völlig neue Phase an. Seitdem erregte der BdV im Ver- gleich zu den früheren Jahren die größte Aufmerksamkeit der deutschen und polni- schen Medien. Für die starke Publizität sorgte der Verband zunächst, als seine Präsi- dentin eine Entschädigung für die Opfer der Vertreibung und die Anerkennung der Vertreibung als Unrecht und Menschenrechtsverletzung forderte. Außerdem machte sie die Aufhebung der so genannten Beneš- und Bierut-Dekrete in der Öffentlichkeit zur Bedingung für die Aufnahme Polens und Tschechiens in die Europäische Union. Mit solchen Forderungen versuchte sie, die politische Bedeutung des BdV zu mani- festieren, was bereits ihre Vorgänger immer wieder in der Öffentlichkeit taten. Als Erika Steinbach 1999 die Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen der Öffentlichkeit vorstellte, löste sie damit eine heftig umstrittene geschichtspolitische Debatte aus. Vor dem Hintergrund dieser Debatte erschienen sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Presse zahlreiche Artikel, die sich mit der politischen Vergangenheit des BdV und der Geschichte der Vertriebenenverbände beschäftigten. In beiden Ländern wurde mit Erstaunen beobachtet, wie Erika Steinbach für ihr Projekt des Zentrums gegen Vertreibungen Politiker, Publizisten und Wissenschaftler gewann und das seit der Ostpolitik Willy Brandts eingefrorene Verhältnis zur SPD wieder auftaute. Wenn man dem Ansatz von Michel Foucault folgt und Diskurse als „Machtinstru- mente“ und „Machteffekte“ sieht, lässt sich für die vorliegende Untersuchung Fol- gendes konstatieren: In der Selbst- und Fremddarstellung des BdV in dem Zeitraum zwischen 1957 und 2004 spiegelt sich das langjährige Bemühen des Verbandes wider, den Oder-Neiße-Diskurs und den Opferdiskurs zu beeinflussen und damit seine politi- sche Bedeutung in der Öffentlichkeit zu manifestieren. Nach dem misslungenen Ver- such des BdV, sich mit seiner Geschichtsdeutung in den 1960er Jahren im Oder- Neiße-Diskurs durchzusetzen und in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund der Debatte um die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen auf den westdeutschen Opferdiskurs Einfluss zu nehmen, wagte der Verband an der Jahrhundertwende er- neut, an einem Diskurswandel teilzuhaben. Denn in der Idee des Zentrums gegen Vertreibungen drückt sich die Bestrebung des BdV aus, den deutschen Opferdiskurs mit der Geschichtsdeutung der Vertriebenenverbände zu prägen. Seit seiner Entste- hung stellte sich der BdV als Interessenvertreter nicht nur der Vertriebenen, sondern des ganzen deutschen Volkes dar. Nicht anders war sein Argumentationsmuster vor dem Hintergrund der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen. Sein Verbands- projekt stilisierte er zum nationalen Anliegen und bewirkte, dass das Projekt des Zent- rums tatsächlich national und sogar international diskutiert wurde. Die vorliegende Untersuchung zeigte, dass sich der BdV seit seiner Entstehung um Einfluss auf Dis- kurse und politische Entscheidungen bemühte. Mit dem Zentrum gegen Vertreibun- gen scheint er nicht nur die Geschichtspolitik und den deutschen Opferdiskurs be- einflussen und an die Opfer der Vertreibung erinnern zu wollen, sondern auch danach zu streben, sich selbst nach über fünfzig Jahren seiner Existenz als Ideenstifter im Zentrum zu verewigen.

220 8 Quellen- und Literaturverzeichnis

8.1 Quellen

Vertriebenen-Korrespondenz (VK) 1957 bis 1959 Deutscher Ostdienst (DOD) 1959 bis 2004 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 1957 bis 2004 Die Zeit 1957 bis 2004 Der Spiegel 1957 bis 2004 Spiegel-Online 2002-2004 Trybuna Ludu 1957 bis 1989 Polityka 1957 bis 2004 Tygodnik Powszechny 1957 bis 2004 Rzeczpospolita 1982 bis 2004 Filme (NDR-Archiv): Jürgen Neven-du Mont: Polen in Breslau. Porträt einer Stadt Jürgen Neven-du Mont: Sind wir Revanchisten? Die Deutschen und die Oder- Neiße-Linie Film (HR-Archiv): Hansjakob Stehle: Deutschlands Osten – Polens Westen?

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235 9 Abkürzungsverzeichnis

AfS Archiv für Sozialgeschichte APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland bearb. bearbeitet Bd. / Bde. Band / Bände BdV Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesver- bände BHE Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten BRD Bundesrepublik Deutschland BvD Bund der vertriebenen Deutschen BVerfG Bundesverfassungsgericht CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CSU Christlich-Soziale Union DDR Deutsche Demokratische Republik ders. derselbe dies. dieselbe(n) DJO Deutsche Jugend des Ostens / Deutsche Jugend in Europa DOD Deutscher Ostdienst dpa Deutsche Presse-Agentur EKD Evangelische Kirche in Deutschland EU Europäische Union FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung

236 FDP Freie Demokratische Partei Deutschlands GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HR Hessischer Rundfunk hrsg. herausgegeben MdB Mitglied des Bundestags NDR Norddeutscher Rundfunk NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands o.V. ohne Verfasser o.T. ohne Titel PZPR Polska Zjednoczona Partia Robotnicza [Polnische Vereinigte Arbeiter- partei] Red. Redaktion SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands VdL Verband der Landsmannschaften VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VK Vertriebenen-Korrespondenz VOL Vereinigte Ostdeutsche Landsmannschaften ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZMO Zentralverband der Mittel- und Ostdeutschen ZvD Zentralverband der vertriebenen Deutschen

237

10 Personenregister*

113-117, 122-123, 124, 129, 131, 134- Adenauer, Konrad 45-47, 58, 61, 62, 63, 136, 137, 141, 143-146, 151, 152, 68, 70, 71, 72, 132, 143, 151, 209 156, 158-159, 164, 168, 178, 186,

194, 201, 209, 217 Bartoszewski, Władysław 92, 93, 172,

210, 219 Jaksch, Wenzel 33, 36, 41, 44, 49, 57, Brandt, Willy 1, 15, 24, 39, 47, 58, 64-66, 77-80, 83-84, 92, 214, 217 61-62, 70, 71, 72, 79-80, 82, 86-87,

90, 93-96, 102-103, 112, 120, 121, Kather, Linus 31, 35 126, 141, 166, 181, 189, 209, 220 Kisielewski, Stefan 67, 73-74, 219

Kohl, Helmut 2, 15, 47, 114, 122-123, Carstens, Karl 149-150 132-135, 138-145, 150-153, 156, 157, Czaja, Herbert 16, 78, 82, 83, 98-106, 161, 165-167, 170-172, 173, 181, 185, 108-111, 114, 119, 121, 124-126, 207, 216 130-131, 133-135, 137-138, 140-141, Koschyk, Hartmut 157, 160-163, 143-146, 149, 151, 157, 159-163, 165, 166-168, 171, 173 167-169, 171-173, 184, 196, 201, 209, Krüger, Hans 5, 33-34, 36, 38-42, 43, 216 48-49, 54, 58-60, 63-64, 67, 69, 78,

136, 177, 214, 217 Erhard, Ludwig 42, 46-47, 59, 68, 143, Kwaśniewski, Aleksander 191 151

Manteuffel-Szoege, Georg Baron 31, 35 Fischer, Joschka 190-191, 199, 210 Mocker, Karl 33, 40

Neuhoff, Hans 108, 129-130 Genscher, Hans-Dietrich 97, 120, Neven-du Mont, Jürgen 53-54, 55, 143-145 56-57, 61-63, 66, 71-72, 107, 213- Gierek, Edward 97, 107 214, 219, 221 Glotz, Peter 189, 191

Oberländer, Theodor 60 Honecker, Erich 153

Hupka, Herbert 16, 49, 50, 55-56, 97, Parplies, Hans-Günther 108, 129 98-99, 104-106, 108-109, 110,

* Kursiv gesetzte Seitenzahlen weisen auf Nennungen in den Fußnoten hin.

238

Rau, Johannes 183, 191, 192, 204, 207 Rehs, Reinhold 51, 78-79, 81, 86-91, 93-94, 104, 105, 113, 120, 135, 178 Rhode, Gotthold 117-119

Sauer, Helmut 118, 129, 135, 151 Schellhaus, Erich 33, 36, 54, 61-63, 84 Schily, Otto 181-182, 189, 190, 191, 200 Schröder, Gerhard 181-183, 187, 189-191, 207 Skubiszewski, Krzysztof 153 Stehle, Hansjakob 54, 56-57, 64, 72, 107, 213-214, 221 Steinbach, Erika 4, 165, 168-169, 176-184, 187-189, 191-196, 200-202, 204-208, 210, 217, 219-220 Stoiber, Edmund 202-204, 210

Wittmann, Fritz 148, 159, 162-165, 169, 179, 186

239 Verlag Herder-Institut Marburg 2012

ISBN 978-3-87969-372-6

9 783879 693726