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1 2 3 4 * Zum 125. Geburtstag 5 6 Von Fritz Hellwig 7 8 Herr Oberbürgermeister! Verehrte Familie Adenauer! Sehr geehrte Damen und 9 Herren der Kölner Stadtverordnetenversammlung! Meine Damen und Herren! 10 Sie haben einem Zeitzeugen das Wort gegeben. Er soll zu dem Leben und 11 Werk von Konrad Adenauer Worte der Anerkennung, der Erinnerung und der 12 Würdigung sagen. Ich habe zunächst gezögert; bin ich doch älter, als Adenauer 13 war, als er aus dem Amt des Bundeskanzlers ausschied. 14 Wenn ich doch die Einladung angenommen habe – natürlich spielte die Ei- 15 telkeit von alten Herren dabei eine Rolle –, so aus zwei Überlegungen: Ade- 16 nauer fing in diesem Alter an, seine Erinnerungen zu schreiben, ein Ansporn 17 also, nun zwar nicht selbst Erinnerungen aufzuschreiben – das möchte ich Ih- 18 nen und der Zunft der Fachhistoriker ersparen –, wohl aber das eigene Ge- 19 dächtnis zu reaktivieren. 20 Zum andern bewegt mich eine ganz persönliche Bemerkung Adenauers. Vor 21 vierundvierzig Jahren, am 1. Januar 1957, bei der politischen Rückgliederung 22 meiner Heimat, des Saarlandes, begrüßte ich ihn in Saarbrücken nach heftigen 23 Auseinandersetzungen im Parteivorstand mit Dank und Glückwünschen. Seine 24 Antwort: „Sind Sie endlich mal zufrieden mit mir?“ 25 Nun, der Zufriedenheit Ausdruck zu geben möchte ich heute versuchen, in 26 der Hoffnung, dass auch er mit dem hier Vorzutragenden zufrieden sein möge. 27 In der Erinnerung des jungen Volkswirts, der im Sommer 1947 aus engli- 28 scher Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und im Februar 1948 dem da- 29 maligen Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone und der CDU-Land- 30 tagsfraktion vorgestellt wurde, war der Name Adenauer ein fester Begriff: Bei 31 uns Primanern der 20er Jahre hatte er einen legendären Klang: ein Oberbür- 32 33 * Festvortrag im Rat der Stadt Köln am 5. Januar 2001. In leicht erweiterter Fassung vor- 34 getragen am 12. Januar 2001 unter dem Titel „Konrad Adenauer: ein Kölner Bundeskanzler 35 – ein Kölner Europäer“ bei der 25. Tagung des „Krone/Ellwanger-Kreises“ ehemaliger Parla- 36 mentarier und Repräsentanten der Unionsparteien, zu der die Konrad-Adenauer-Stiftung all- jährlich nach Schloss Eichholz (Wesseling) einlädt. Wir dokumentieren hier die am Geburtstag 37 Konrad-Adenauers in feierlicher Sitzung des Rates der Stadt Köln vorgetragene Fassung. Die 38 Festsitzung des Kölner Rates, eine Gedenkveranstaltung der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer- 39 Haus in Rhöndorf am selben Tag und ein Pontifikalamt im Kölner Dom eröffneten das „Kon- 40 rad-Adenauer-Jahr 2001“. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat im Verlauf dieses Jahres mit zahlreichen Veranstaltungen und Ausstellungen das Leben und Werk des ersten Kanzlers der 41 Bundesrepublik Deutschland gewürdigt. 42

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2 Fritz Hellwig

1 germeister in Köln, der in der Neugestaltung der Stadt beinahe Unglaubliches 2 zustande gebracht hatte: Universität, Rheinhafen, Mülheimer Hängebrücke, 3 Pressa mit Messehallen und Grüngürtel mit Fußballstadion – genug, um Klas- 4 senausflüge nach Köln zu rechtfertigen. Und für Pennäler geradezu aufregend: 5 Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich: Der verdient sogar mehr als der 6 Reichskanzler. 7 Von den Auseinandersetzungen zwischen dem Kölner Oberbürgermeister 8 und Berlin erfuhren wir im Saargebiet nicht viel. Wohl wurde das ärgerliche 9 Wort von Stresemann, dem langjährigen Außenminister, kolportiert, dass die 10 Oberbürgermeister die wahren Könige in der Weimarer Republik seien. 11 Und französische Pressestimmen wurden zitiert, wie die im Pariser „Le 12 Temps“ vom 1. Juni 1921 – ich zitiere –: „Das wahre Monument von Köln 13 ist sein Bürgermeister. Er könnte eines Tages den Platz des Reichskanzlers 14 einnehmen, und niemand in Deutschland würde sich darüber wundern.“ 15 Es war natürlich auch in Frankreich nicht unbekannt geblieben, dass Ade- 16 nauer in den verschiedenen Regierungskrisen der Weimarer Republik als mög- 17 licher Reichskanzler im Spiel war. Aber die konkreten Aufforderungen hat er 18 schließlich abgelehnt. Man mag das aus heutiger Sicht als Ausdruck seiner 19 Fähigkeit ansehen, abwarten zu können, Geduld zu haben. 20 Sicher waren auch die politischen Konstellationen nicht gerade einladend 21 für einen Mann, der nicht nur verwalten, sondern auch gestalten wollte. Dazu 22 aber brauchte er eine stabile Macht- und Arbeitsbasis wie in Köln, die ihm 23 jedoch nicht die Koalitionsregierungen nach Berliner Art bieten konnten. Man 24 vergleiche nur die Länge seiner Amtszeit in Köln mit dem ständigen Regie- 25 rungswechsel im Reich: Von 1919 bis 1933 20 Koalitionsregierungen mit 12 26 Reichskanzlern! 27 Als Student habe ich in der Verwaltungsgeschichte gelernt, was die Beson- 28 derheit der Rheinischen Städteordnung war: Der von der Stadtverordnetenver- 29 sammlung gewählte Oberbürgermeister war der alleinige Repräsentant und 30 Chef der Stadtverwaltung – nicht wie in der Preußischen Städteordnung der 31 kollegial verantwortliche Magistrat. Kein Wunder, dass das Oberbürgermeis- 32 teramt in den rheinischen Städten begabte und starke Persönlichkeiten anzog. 33 Die Begegnung im Februar 1948 war von veranlasst worden. 34 Er war von Adenauer beauftragt worden, einen Wirtschafts- und Sozialaus- 35 schuss der CDU in der britischen Zone zu bilden. Es war der Auftakt zu unserer 36 Arbeit an einem Programm für die Soziale Marktwirtschaft. Den stärksten Auf- 37 trieb erfuhr diese Arbeit durch den Erfolg der erhardschen Reform in Verbin- 38 dung mit der Währungsreform, begleitet von den Entscheidungen im Parla- 39 mentarischen Rat mit der Formulierung der Grundrechte: persönliche Freiheit, 40 Freiheit der Berufsausübung, Privateigentum usw. 41 Unter Adenauers Vorsitz nahm der Zonenausschuss der CDU im Februar 42 1949 die Grundzüge des Programms an. Adenauer hatte Erhard eingeladen,

Böhlau, Beenken, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK Konrad Adenauer zum 125. Geburtstag 3 der in einer seiner besten Reden ein Plädoyer für die Soziale Marktwirtschaft 1 vortrug. 2 Die hervorragende Wirkung erleichterte es Adenauer, die Widerstände ge- 3 gen Erhard, der dem Zonenausschuss nicht angehörte und zu dieser Zeit auch 4 noch nicht Mitglied der CDU war, zu überspielen. Die endgültige Fassung 5 des Programms wurde wenig später in Düsseldorf als Wahlprogramm für die 6 bevorstehende Wahl zum ersten verkündet. 7 Für uns, die wir daran beteiligt waren, waren diese Düsseldorfer Leitsätze 8 mehr. Als letzter Überlebender der Redaktion darf ich sagen, dass dieses Pro- 9 gramm eine Art Leitfaden für die künftige Wirtschaftsordnung sein sollte – 10 und es schließlich auch wurde. 11 Der Unterschied der Temperamente war allerdings nicht zu übersehen: Er- 12 hard sprach als Missionar einer ordnungspolitischen Gesamtkonzeption, Ade- 13 nauer entschied als Praktiker, der den unentbehrlichen Beitrag der erhardschen 14 Konzeption zum Wiederaufbau und zur Überwindung der Nachkriegsnot er- 15 kannte, zugleich aber auch die werbende Wirkung für die bevorstehende Bun- 16 destagswahl richtig einschätzte. 17 Welchen Rang hatte die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Adenauers poli- 18 tischen Zielen? Golo Mann hat einmal von einer „Instrumentalisierung der 19 Wirtschaftspolitik“ gesprochen. Ja, stimmt. Aber instrumentalisiert zu welchem 20 Zweck? Selbstzweck oder im Dienste einer Politik, einer gesellschaftlichen, 21 einer sozialen Konzeption? 22 Adenauer hatte zu der Frage nach der besten Wirtschaftsordnung bestimmt 23 kein von Lehrmeinungen oder Dogmen geprägtes Verhältnis. Dies ist wieder- 24 holt umschrieben worden mit der Formulierung, dass er Pragmatiker war. Die 25 freiheitliche Wirtschaftsordnung gehörte für ihn eben zu dem freiheitlichen, 26 demokratischen Rechtsstaat. Ob sie nun mehr oder weniger einer bestimmten 27 nationalökonomischen Schule entsprach, kam auf die gegebene Situation und 28 ihre Erfordernisse an. 29 Die Wirtschaftspolitik stand im Dienste der Sicherung des jungen Staats- 30 wesens, seiner freiheitlichen Ordnung und seiner Anbindung an die freiheit- 31 liche westliche Staatenwelt. 32 Der Weg in das Amt des Bundeskanzlers führte über den Vorsitz im Par- 33 lamentarischen Rat, der das Grundgesetz für die Vereinigung der drei westli- 34 chen Besatzungszonen auszuarbeiten hatte. Kein Geringerer als Carlo Schmid, 35 Spitzenrepräsentant der SPD und Vorsitzender des Hauptausschusses im Par- 36 lamentarischen Rat, hat die Rolle Adenauers gerühmt. Er hat noch vor Been- 37 digung der Arbeit am Grundgesetz dem Rat eine „Parlamentarische Elegie“ 38 gewidmet; er besang das Gremium im klassischen Versmaß: 39 40 41 42

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1 Hoch über allen thront Konrad, 2 dem sinnenden Gotte vergleichbar, 3 und wie es Fürsten geziemt, 4 mischt er sich selten dem Volk. 5 Fast ins Gewölk entrückt, 6 spinnt kunstreicher Hand er die Weisheit, 7 die er zu köstlichem Hort sich gestapelt, 8 als er lenkte Coloniens Geschick. 9 10 Prosaischer, aber doch mit anerkennendem Respekt urteilt Carlo Schmid später 11 in seinen „Erinnerungen“: „Konrad Adenauer fühlte sich weniger als Verfasser 12 von Gesetzestexten denn als der Mann, von dem es abhing, dass der Parla- 13 mentarische Rat seinen Auftrag zu einem Abschluss bringen konnte ... Er war 14 darauf bedacht, kraft seines parlamentarischen Amtes als der demokratisch le- 15 gitimierte Sprecher des deutschen Volkes in den Westzonen zu gelten. Es lei- 16 det keinen Zweifel, dass ihm dies einen höheren Rang in der politischen Ach- 17 tung der Deutschen verschafft hat. Ich glaube nicht, dass Konrad Adenauer 18 seine politische Rolle in der Bundesrepublik so schnell hätte spielen können, 19 wäre er nicht zuvor Präsident des Parlamentarischen Rates gewesen.“ 20 So weit Carlo Schmid. 21 Adenauers Meisterschaft in der Leitung von Verhandlungen und im Vorsitz 22 der verschiedensten Gremien – ob Parlamentarischer Rat, Fraktions- und Par- 23 teivorstand, später Bundeskabinett – blieb durch die Jahre hindurch anerkannt 24 und wohl auch beneidet. Sie ließ den souveränen Stil des ehemaligen Ober- 25 bürgermeisters erkennen, wie denn auch gelegentlich gegrollt wurde, er habe 26 den Ausschuss mit der Kölner Stadtverordnetenversammlung verwechselt. 27 Die Teilnehmer an unzähligen Sitzungen unter seinem Vorsitz erinnern sich 28 besonders gern, wenn der Vorsitzende mit rheinischem Mutterwitz vorlaute 29 Diskussionsredner abblitzen ließ oder verfahrene Diskussionsknäuel durch- 30 schlug. Dann kam auch seine überraschend reiche Kenntnis von Zitaten aus 31 der deutschen Literatur zur Geltung. 32 Ein Beispiel darf hier nicht fehlen: Es wurde heftig diskutiert, ob die CDU 33 eine Spendenaktion bei den Mitgliedern starten sollte. Gegen ablehnende Stim- 34 men antwortete Adenauer plötzlich mit einem allgemein kaum bekannten 35 Goethe-Epigramm: 36 Mann mit zugeknöpften Taschen, 37 dir tut keiner was zulieb. 38 Hand wird nur von Hand gewaschen. 39 Wenn du nehmen willst, so gieb! 40 41 Allzu eifrige, ehrgeizige Mitglieder liebte er mit Sonderaufträgen zu beschäf- 42 tigen. Viel herausgekommen ist dabei meist nicht. Die so Ausgezeichneten

Böhlau, Beenken, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK Konrad Adenauer zum 125. Geburtstag 5 waren eher Minenhunde in gefährlichem Gelände. Und Adenauer konnte den 1 Versuch abblasen, ehe es zu einer Abstimmungsniederlage gekommen wäre. 2 Noch war damals die Parlamentsarbeit nicht durch die später üblich gewor- 3 denen Koalitionsverträge eingeschränkt. Traten bei der parlamentarischen Be- 4 ratung innerhalb der Fraktion oder der Koalition Kontroversen auf, so konnte 5 sich Adenauer nächtelang in Kompromissverhandlungen um die Einigung be- 6 mühen. Dabei war er bestens präpariert durch die Vorlagen, die ihm die Mit- 7 arbeiter im Bundeskanzleramt lieferten – nicht selten besser, auch in strittigen 8 Detailfragen, als der Fachminister. 9 Adenauer nahm für sich auch das Recht in Anspruch, „sachverständige Ein- 10 zelpersönlichkeiten“, wie er es nannte, heranzuziehen, um unabhängig von 11 dem Fachministerium informiert zu werden. Versuche etwa des Wirtschafts- 12 ministers, dabei mit eingeschaltet zu werden, wies er deutlich zurück: „Sie 13 können nicht erwarten, das Sie das Recht haben zu kontrollieren, mit wem 14 ich Gespräche führe“, schrieb er einmal an Erhard. 15 Hier sprach der frühere Oberbürgermeister, wie er es im Verhältnis zu sei- 16 nen Beigeordneten gewohnt war. 17 Ich kann hier nicht näher auf die Intim-Gegnerschaft Adenauer–Erhard ein- 18 gehen. Ich wiederhole nur, was ich vor einigen Jahren über Erhard sagte: Trotz 19 aller Spannungen hielt sie das Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung 20 zusammen. 21 Hier ist, meine Damen und Herren, auch an die Einstellung Adenauers zu 22 Fürst Bismarck zu erinnern. In Köln ist dies ein Wagnis; ich weiß es. In einem 23 Elternhaus, das die Reichsgründung von 1871 freudig bejaht hatte, brachten 24 die inneren Konflikte im Bismarckreich die Ernüchterung. Adenauers Kinder- 25 jahre fielen in die spannungsreichen Jahre des Kulturkampfes und der Sozia- 26 listenverfolgung. Noch in hohem Alter erzählte er von Vorgängen, die gerade 27 bei dem als liberal geltenden rheinischen Katholizismus zur inneren Opposi- 28 tion geführt hatten. 29 Von hier aus ergeben sich Grundzüge der Innenpolitik, die der spätere Bun- 30 deskanzler entwickelte: die Überwindung der konfessionellen Zwietracht und 31 die Einbindung der Arbeiterbewegung in ein positives Verhältnis zum Staat. 32 Den ersten Initiativen zur Vereinigung von Katholiken und Protestanten in 33 einer neuen Volkspartei gab er kräftigen Auftrieb: Als Parteivorsitzender war 34 er stets darauf bedacht, die Eiferer auf beiden Seiten nicht zu laut werden zu 35 lassen. 36 In der Erinnerung an die Versäumnisse Bismarcks und unter dem Einfluss 37 der katholischen Soziallehre ging er die Arbeiterfrage an. Die soziale Frage 38 war in den Trümmern Deutschlands angesichts der Entwurzelung von 15 Mil- 39 lionen Heimatvertriebenen und Kriegsopfern weit über die Arbeiterfrage hi- 40 naus gewachsen. Ich kann hier nur Stichworte nennen: Zerstörung der Städte, 41 42

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1 Währungsverfall, Lastenausgleich, Wohnungsbau, Kriegsopferversorgung – 2 um das Ausmaß der inneren Neuordnung zu kennzeichnen. 3 Erhards Wirtschaftsreform schuf die wirtschaftlichen Voraussetzungen für 4 die Sanierung. Adenauers Handschrift war in den wichtigsten sozialpolitischen 5 Entscheidungen spürbar, nicht zuletzt in der Heranziehung der Arbeiterbewe- 6 gung durch die Mitbestimmungsgesetze. Die Reform der gesetzlichen Ren- 7 tenversicherung war schließlich durch sein ganz persönliches Engagement ge- 8 prägt. 9 Man hat Adenauer schon nach wenigen Jahren als Bundeskanzler mit Bis- 10 marck verglichen. Ich stehe nicht an, den Leistungen in der inneren Stabili- 11 sierung des neuen Staatsgebildes einen höheren Rang beizumessen. 12 Auch der Neubau des Staates nach völliger Zerstörung und die Wiederer- 13 langung der Unabhängigkeit im Konzert der Mächte geben uns zu denken: 14 Das war nicht wie die Reichsgründung von 1870/71 getragen von militärischer 15 Macht nach einem siegreichen Kriege, sondern musste in der Ohnmacht einer 16 furchtbaren Niederlage mit Geduld, Bescheidenheit und kluger Ausnutzung 17 der politischen Wechsellagen erarbeitet werden. 18 In dieser Ausgangslage ist Adenauers Europapolitik zu sehen. Die Erlan- 19 gung gesamtstaatlicher Autonomie, der vollen Souveränität und Gleichberech- 20 tigung, zugleich aber die Sicherung der äußeren und inneren Freiheit war die 21 alles überschattende Aufgabe. Der „Kalte Krieg“, verschärft mit der Berliner 22 Blockade 1948/49, eröffnete die Chance, in dem Verhältnis zu den West- 23 mächten ein höheres Maß von Anerkennung zu erreichen. 24 Der von der jungen Bundesrepublik erwartete Beitrag zur westlichen Ver- 25 teidigung und die Einbeziehung in das amerikanische Wiederaufbauprogramm 26 für Westeuropa, der Marshall-Plan, wurden von der Regierung Adenauer ziel- 27 strebig genutzt. Sie waren von der Frage nach der Organisation und dem 28 Selbstverständnis der europäischen Staaten aber nicht zu trennen. 29 Während der Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik heftig umstritten 30 war, wurde die europäische Bewegung von einer breiten Zustimmung in der 31 Bevölkerung getragen. Die europäische Einigung, in früheren Zeiten ein Kriegs- 32 ziel der Sieger, war nun die Hoffnung der Besiegten. 33 Köln ist in den 20er Jahren einer der Brennpunkte in der Diskussion um 34 die Zukunft Europas nach den Wirren der ersten Nachkriegsjahre und nach 35 dem verhängnisvollen Ruhrkonflikt. Die Auseinandersetzungen um die fran- 36 zösische Sicherheitspolitik, die Gefährdung Kölns und des Rheinlandes wäh- 37 rend der französischen Rheinlandbesetzung hatten das deutsch-französische 38 Verhältnis zu einem Schlüsselproblem für die Neuordnung Europas werden 39 lassen. 40 Dem Streit um die Ruhrkohle will der Kölner Oberbürgermeister durch eine 41 wirtschaftliche Verständigung ein Ende bereiten. Der Reichsregierung schlägt 42

Böhlau, Beenken, Historisch-Politische-Mitteilungen, 1. AK Konrad Adenauer zum 125. Geburtstag 7 er 1925 eine wirtschaftliche Verflechtung der Montanindustrien beider Länder 1 und eine Zollunion vor. 2 Er ist Vorstandsmitglied der Paneuropa-Union, lädt 1930 gleich zwei Red- 3 ner nach Köln ein: den Lothringer Graf Jean de Pange und den amerikanischen 4 Unternehmer Danny Heineman. Jean de Pange gehörte der katholischen Er- 5 neuerungsbewegung in Frankreich an und sprach über „Staat und Kirche in 6 Frankreich“. Er ist aber vor allem für die Deutschen als ein Hauptgegner des 7 lothringischen Publizisten Maurice Barrès wichtig, der der Wortführer der An- 8 nexionisten in der französischen Rheinlandpolitik der ersten Nachkriegsjahre 9 war. 10 Heineman sprach über das Thema „Skizze eines neuen Europa“. Der tem- 11 peramentvolle Geschäftsmann, der später in der Zeit der politischen Gefähr- 12 dung zu den wenigen helfenden Freunden Adenauers gehören wird, beklagte 13 den Konflikt zwischen den wirtschaftlich-technischen grenzüberschreitenden 14 Vorgängen und der kleinräumig nationalstaatlich orientierten Politik. 15 „Dieser Gegensatz der Politik und der Wirtschaft ist die große Krankheit 16 Europas“, so klagt er. Über die fortschreitende Zusammenarbeit müssten – so 17 Heineman – die administrativen wirtschaftlichen technischen und finanziellen 18 Voraussetzungen eines späteren Europäischen Bundes geschaffen werden. 19 Es ist öfters die Frage gestellt worden, ob Robert Schuman in diesen Jahren 20 mit Adenauer schon in Verbindung stand. Tatsächlich sind die beiden aber 21 erst im Oktober 1948 zusammengekommen. Der französische Außenminister 22 wollte den als kommender Mann geltenden Präsidenten des Parlamentarischen 23 Rates kennen lernen. Beide – in ihren Studentenjahren in katholischen Kor- 24 porationen aktiv – fanden leicht zueinander in dem Bestreben, eine deutsch- 25 französische Aussöhnung herbeizuführen, wozu die wirtschaftliche Verflech- 26 tung, mit Kohle und Stahl beginnend, der erste Schritt sein sollte. Es galt, 27 einen Rückfall in dem Kampf um die Ruhrkohle wie im Ruhrkonflikt von 1923 28 zu vermeiden. 29 Genau diese Überlegung bewog den Berater Robert Schumans, Frankreichs 30 Planungskommissar Jean Monnet, Anfang 1950 seinem Minister zu sagen: Der 31 Frieden kann nur auf Gleichheit gegründet sein. Wir haben 1919 die Gelegen- 32 heit zum Frieden verpasst, weil wir Diskriminierung und den Geist der Be- 33 vormundung ins Spiel gebracht haben. Wir sind jetzt dabei, die gleichen Irr- 34 tümer zu begehen. 35 Robert Schuman und Jean Monnet leiteten den Kurswechsel der französi- 36 schen Deutschlandpolitik mit der Erklärung vom 9. Mai 1950, dem Schuman- 37 Plan, ein. Was Adenauer seit den 20er Jahren vorgeschwebt hatte, wurde ein- 38 geleitet: Die Aussöhnung beider Länder und die deutsch-französische Ver- 39 ständigung wurden zum Kernstück der europäischen Integrationspolitik. 40 Die Montanunion, wie die aus dem Schuman-Plan hervorgehende Europäi- 41 sche Gemeinschaft für Kohle und Stahl bald abgekürzt genannt wurde, wurde 42

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1 Ausgangsbasis und, was die institutionelle Ausgestaltung angeht, Kern der 2 weiteren Integrationsformen. 3 Es mag wohl die Erinnerung an den Ruhrkonflikt von 1923 gewesen sein, 4 wenn Adenauer für die Montanunion ein auffälliges Interesse hatte, vor allem 5 nach dem Ausbruch der Kohlenkrise. 6 Ich war im Sommer 1959 von der Bundesregierung als Mitglied der Hohen 7 Behörde der Montanunion nach Luxemburg entsandt worden. Adenauer bat 8 um baldigen Besuch zu einem längeren Gespräch, das in seinem Ruheraum 9 im Palais Schaumburg stattfand. Er hatte beim Bocciaspiel einen Fuß ver- 10 knackst und musste liegen. Der Gast musste beim Wechseln des kühlenden 11 Umschlags behilflich sein. 12 Für den privat genutzten Raum im Bundeskanzleramt musste Adenauer üb- 13 rigens Miete zahlen. Es folgten viele Gespräche, als in der Kohlenkrise die 14 Bundesregierung mit den Hilfen für den Kohlenbergbau mehrfach in Konflikt 15 mit der Hohen Behörde kam, wobei Adenauer mehr an vertragskonforme Lö- 16 sungen dachte als das Bundeswirtschaftsministerium, das in der Kohlenfrage 17 entgegen der sonstigen Wettbewerbsphilosophie des Hauses ausgesprochen 18 kartellfreundlich war. 19 Die Montanunion sollte der erste Schritt zu einer für die Erhaltung des Frie- 20 dens in Europa notwendigen Föderation sein. Groß war die Enttäuschung bei 21 Adenauer wie bei Robert Schuman, als der nächste Schritt, die Europäische 22 Verteidigungsgemeinschaft, im Sommer 1954 an der Ablehnung in der fran- 23 zösischen Nationalversammlung scheiterte. 24 Die Fortsetzung der Integrationspolitik mit den Römischen Verträgen, der 25 Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG und der Europäischen Atomge- 26 meinschaft Euratom wurde zwar begrüßt, aber Adenauer hatte weiterhin die 27 Sorge, dass über den ökonomisch-technischen Elementen der Integration die 28 eigentliche politische Zielsetzung, nämlich die politische Einigung in einer Eu- 29 ropäischen Union, vernachlässigt würde. Zu dieser Sorge gab das ständige 30 Drängen Ludwig Erhards, Großbritannien zu beteiligen, Anlass. 31 Auch war Adenauer nicht verborgen geblieben, dass , der 32 erste Präsident der EWG-Kommission, in Paris mehr und mehr auf Kritik stieß. 33 Der politischen Zielsetzung mehr Gewicht zu geben, war sicher auch die Ab- 34 sicht des deutsch-französischen Vertrags, den Adenauer mit de Gaulle 1963 35 abschloss; eine Antwort auf die Aufweichtendenzen, die er in der wieder auf- 36 lebenden Diskussion um den Beitritt Großbritanniens und um eine große eu- 37 ropäische Freihandelszone befürchtete. Der Perfektionismus der sich entwi- 38 ckelnden europäischen Bürokratien war ihm zutiefst suspekt. 39 Die Römischen Verträge konnten die politische Einigung nicht ersetzen, 40 auch wenn sie die so genannte Westbindung der Bundesrepublik zunehmend 41 verstärkten. 42

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Die innenpolitische Diskussion flammte immer wieder auf um die Frage: 1 Verhindert die zunehmende Integration der Bundesrepublik in die westeuro- 2 päische Integration nicht die angestrebte Wiedervereinigung der aus der Nach- 3 kriegsbesatzung hervorgegangenen beiden Nachfolgestaaten? Zugespitzt lau- 4 tete die Frage: West-Integration oder Wiedervereinigung? Für Adenauer lau- 5 tete die Antwort eindeutig: keine Wiedervereinigung ohne West-Integration. 6 Er hatte die feste Überzeugung, dass die Einbindung der Bundesrepublik in 7 die Wirtschaftsordnung der freien Welt für deren Sicherheit und für den Frie- 8 den unerlässlich sei und dass eines Tages auch die Sowjetunion diese Realität 9 erkennen werde. 10 Bis dahin empfahl er: „Geduld ist und bleibt die stärkste Waffe der Besieg- 11 ten, und wir sind doch noch immer ein besiegtes Volk“. So meinte er auf dem 12 Parteitag der CDU im März 1966. Seine letzten großen Reden auf dem Par- 13 teitag 1966 und noch im Februar 1967 in Madrid galten der deutschen Zukunft 14 in Europa: „Wir bleiben dabei, dass Deutschland in Frieden wieder vereinigt 15 werden muss ... Ich gebe die Hoffnung nicht auf: Eines Tages wird auch 16 Sowjetrussland einsehen, dass diese Trennung Deutschlands und damit die 17 Trennung Europas nicht zu seinem Vorteil ist. Wir müssen aufpassen, ob der 18 Augenblick kommt. Aber wenn ein Augenblick naht oder sich zu nahen 19 scheint, der eine günstige Gelegenheit bringt, dann dürfen wir ihn nicht un- 20 genutzt lassen!“ 21 Meine Damen und Herren, ein politisches Testament? Zehn Jahre nach der 22 Wiedervereinigung stehen wir staunend vor dieser Zukunftsvision. War es nur 23 Wunschdenken des alten Mannes? 24 Ich neige zu einer anderen Interpretation. Am Ende eines langen Lebens, 25 geprägt und bereichert durch insgesamt dreißig Jahre an Schaltstellen politi- 26 scher Verantwortung und Macht, aber auch durch zwölf Jahre persönlicher 27 Gefährdung und Demütigung, verfügte Adenauer über einen Schatz an Erfah- 28 rungen, an Menschenkenntnis und an Einsichten, die ihn weit über das Ta- 29 gesgeschehen hinaus in langen Zeiträumen an langfristige Entwicklungen den- 30 ken ließen. 31 Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zu der kurzsichtigen Diskus- 32 sion, wie sie auch jetzt wieder geführt wird, mit der Fragestellung: Hat Ade- 33 nauer die Wiedervereinigung jemals gewollt? – Wer so fragt, der sei an eine 34 historische Erfahrung in unserem Nachbarland erinnert. Als Frankreich 1871 35 Elsass-Lothringen verloren hatte, war die Rückgewinnung das erklärte Ziel 36 aller politischen Kräfte. Aber befolgt wurde der Grundsatz: Immer daran den- 37 ken, aber nicht davon sprechen! 38 Bei uns war es mit der Wiedervereinigung in der Schlagzeilen-Publizistik 39 Jahrzehnte hindurch genau umgekehrt: „Ohne zu denken immer davon spre- 40 chen“. Das war das Phänomen, das wir in den vergangenen Jahren immer wie- 41 der zu bekämpfen und zu vermeiden hatten. 42

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1 Wie soll ich die Einsichten Adenauers in seinen letzten Jahren besser kenn- 2 zeichnen? Ich denke immer an ein Wort des dänischen Religionsphilosophen 3 Kierkegaard. Es mag den Rückblick des alten Mannes und seine Zukunfts- 4 hoffnung erklären: 5 Das Leben wird im Rückblick verstanden, aber nach vorne gelebt! 6 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42