Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Neue Spielregeln, neue Spielmacher von Karin Frick, Bettina Höchli Impressum

Autoren Karin Frick, Bettina Höchli

Gastautoren Peter Glaser (Die Geschichte der Vernetzung), Marcus Hammerschmitt (Geschichten zur Zukunft der Vernetzung - Scenario Fiction)

GDI Research Board David Bosshart, Alain Egli, Anna Handschuh, Mirjam Hauser, Martina Kühne, Marta Kwiatkowski, Daniela Tenger

Projektleitung Swisscom AG Ralf Koschmann, Christoph Caviezel, Regula Brand

Redaktion und inhaltliche Mitarbeit Detlef Gürtler

Korrektorat Agentur Scribe, Biel-Bienne

Grafik und Gestaltung Joppe Berlin, Illustration: Frances Franzke

© GDI 2014

Herausgeber GDI Gottlieb Duttweiler Institute Langhaldenstrasse 21 CH-8803 Rüschlikon / Zürich Telefon +41 44 724 61 11 [email protected] www.gdi.ch

Im Auftrag von Swisscom AG Hauptsitz, 3050 Worblaufen www.swisscom.ch GDI Gottlieb Duttweiler Institute 1

Inhalt

2 Management Summary

4 Vorwort Urs Schaeppi, CEO Swisscom

5 Es braucht mehr Fantasie

7 Die Geschichte der Vernetzung

12 Technologie-Trends a. Stand und Nutzung der Technik: Facts and Figures b. Weg der Innovation: Die Entwicklung von Mensch und Technologie c. Zukunftsvisionen aus heutiger Sicht

21 Ökonomische und gesellschaftliche ­Konsequenzen a. Eine neue Wirtschaftsordnung b. Eine neue technische Weltordnung

46 Die Zukunft der Vernetzung a. Internet und andere Netze b. Das magische Netz c. Das Killer-Netz d. Das digitale Ökosystem

55 Zukunftsszenarien der vernetzten Gesellschaft a. Übersicht Szenarien Digital 99 Percent Low Horizon Holistic Service Community Dynamic Freedom b. Geschichten zur Zukunft der Vernetzung – Scenario Fiction

69 Anhang 2 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Management Summary

Die Vernetzung hat unser Leben verändert. Aber Auch hier lassen sich zwei dauerhafte Konflikt- das ist erst der Anfang. Die Digitalisierung dringt felder identifizieren. im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts in alle > Qualität der Netze: Wie stellen wir gut funktio- Segmente von Wirtschaft und Gesellschaft ein – nierende, schnelle und flächendeckende Netze und auch in unsere Körper. Menschen und Ma- sicher? schinen verschmelzen, das Internet wird zu unse- > Privatsphäre: Wie stellen wir sicher, dass die rer zweiten Natur, zur Digisphäre. Privatsphäre respektiert wird und der Daten- schutz gewährt ist? Wem vertrauen wir welche Technisch ist heute schon viel mehr möglich, als Daten warum an? wir uns vorstellen können. Fiction wird Programm: selbststeuernde Autos, Telepathie, Wir müssen heute die Weichen für die digitale Maschinen, die sich selbst reproduzieren, smarte Welt von übermorgen stellen. Aber wie stellt man Pillen, die im Notfall den Arzt alarmieren... Wir in einem Netz eine Weiche? Und wie kann man stehen am Anfang einer Entwicklung hin zu einer überhaupt eine Richtung festlegen, wenn alles und beinahe magisch vernetzten Welt, in der Maschi- alle vernetzt sind? Vier Szenarien sollen veran- nen selber denken und lernen. Eine Welt, in der schaulichen, in welche Richtungen sich die Gesell- die Netze autonom werden und sich ohne unser schaft dabei in einer fernen Zukunft entwickeln Zutun selbst steuern. Dabei werden wir uns vor kann - als Gedankenexperimente, nicht als Prog- allem mit zwei Konfliktfeldern auseinanderset- nosen. Die Definition der Szenarien orientiert sich zen müssen: an den Antworten auf zwei Leitfragen: > Sicherheit: Wie schützen wir uns und unsere Netze vor Cyberwar und Cybercrime? Wie of- > Wer hat die Kontrolle über unsere Daten? fen, wie geschlossen müssen die Netze sein, ins- > Wie entwickelt sich unser (nicht nur finanzi- besondere die für kritische Infrastrukturen? elle) Wohlstand? > Robotisierung: Roboter und sich selbst steu- ernde Systeme spielen eine immer wichtigere 1) Digital 99 Percent. Die Gesellschaft spaltet sich Rolle in unserem Leben. Wie organisieren wir in eine technokratische Elite und eine grosse Mas- das Zusammenspiel zwischen Roboter und se, die sich mit mehrheitlich unqualifizierten Jobs Mensch? Wie weit lassen wir zu, dass sie für über Wasser hält und mit billiger Unterhaltung ru- uns entscheiden? hig gestellt wird (ausgehend von niedrigem Wohl- stand und niedriger Selbstkontrolle der Daten). Wirtschaftlich und politisch führen die Grösse und die Allgegenwart des Internets zu Macht- 2) Low Horizon. Die Menschen lehnen neue verschiebungen und zunehmenden Konflikten. Technologien ab und koppeln sich so weit wie Daten lösen als wichtigster Rohstoff das Öl ab. möglich von den digitalen Informationsströmen Konzerne, Staaten und Nutzer kämpfen im und ab (ausgehend von niedrigem Wohlstand und ho- mit dem Internet um die Durchsetzung ihrer her Selbstkontrolle der Daten). Interessen. Das Internet wächst auseinander, unterschiedliche Netze entwickeln sich mit un- 3) Holistic Service Community. Die Menschen terschiedlichen Graden von Freiheit und Trans- vertrauen alle ihre Daten einer grossen Instituti- parenz sowie von Sicherheit und Kontrolle. on an, die dann als „Big Mother“ über sie wacht GDI Gottlieb Duttweiler Institute 3

und für sie sorgt. Das Leben ist total transparent und sicher – solange man nicht versucht, das Sys- tem zu verlassen (ausgehend von hohem Wohl- stand und niedriger Selbstkontrolle der Daten).

4) Dynamic Freedom. Das Internet wird neu er- funden, radikal dezentral ohne Server, offen, de- mokratisch, flexibel. Kreativität und Unterneh- mergeist blühen, Menschen und Maschinen kooperieren, die Technik reguliert sich selbst (ausgehend von hohem Wohlstand und hoher Selbstkontrolle der Daten).

Die Vernetzung beschleunigt soziale Prozesse und verstärkt sowohl positive wie negative Ne- benwirkungen. Wir müssen darum heute disku- tieren, welche Rahmenbedingungen wir für die Vernetzung von morgen wollen. Wir bewegen uns dabei zwangsläufig auf unsicherem Boden: Wenn sich Märkte und Gesellschaftsbereiche schnell und dynamisch verändern, verändern sich auch die Parameter der Entscheidungen. Ge- rade weil es keine einfachen Antworten gibt, bie- tet sich die Orientierung an einfachen Fragen an. 4 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser bestritten ist, dass der Technologiefortschritt un- sere gesellschaftlichen Strukturen, Werte, Ver- Noch vor 15 Jahren erwirtschaftete Swisscom ih- haltensweisen, Lebensstile und Bedürfnisse auch ren Umsatz zum überwiegenden Teil mit Sprachte- in Zukunft stark prägen wird. Die Bedeutung lefonie. Das Internet steckte in den Kinderschuhen von zuverlässigen, leistungsfähigen und sicheren und für die Internetverbindung musste man sich Netzen wird künftig noch stärker zunehmen. So noch mit einem roboterähnlichen Geräusch über investiert Swisscom allein jährlich über eine die Telefonleitung einwählen. Für Musik, Foto, E- Milliarde Franken in den Ausbau ihrer Netz­ Mails und Telefonie gab es noch je ein separates infrastruktur. Die Netze sind Garant für das Funk- Gerät und Beziehungen wurden noch kaum per tionieren der heutigen Gesellschaft sowie für den SMS beendet. Wirtschaftsstandort Schweiz. Sicherheit und ­Datenschutz rücken dabei in den Fokus der In kurzer Zeit haben sich die Telekom- und Infor- ­Diskussion. Für Swisscom ist es besonders wichtig, mationstechnologien rasant entwickelt. Sprach- in der globalen, digitalen Welt ihre Verantwortung kommunikation ist auf dem Smartphone heute zu übernehmen. Gerade dank ihrer lokalen Veran- nur einer von einer Vielzahl an Diensten, das In- kerung kann Swisscom für den bestmöglichen ternet hat die Welt vernetzt und die 24-Stunden Schutz für Personendaten und einen sorgfältigen Gesellschaft ist längstens Realität. Schon nur ein Umgang mit Daten sorgen. kurzer Ausfall des Internets hat tiefgreifende Auswirkungen auf unseren Alltag, die Gesell- Die digitale Revolution ist eine Frage, die Swiss- schaft und die Wirtschaft. Es existieren viele -Un com, aber auch Gesellschaft und Politik beschäf- ternehmen und Dienste nur dank dem Internet tigen muss. Nicht alles, was technisch machbar und unser Alltag ist «always on». ist, findet einen Markt oder gesellschaftliche -Ak zeptanz. Aus diesem Grund hat Swisscom das Vieles, was heute möglich und alltäglich ist, er- GDI beauftragt, die digitale Zukunft zu skizzie- lebten wir vor noch einem Jahrzehnt bestenfalls ren und somit eine Diskussionsgrundlage für Po- in einem Science-Fiction-Film. So geht es uns litik, Wirtschaft und Gesellschaft zu erarbeiten. auch heute, wenn wir an die Zukunft denken: Lassen Sie sich mitnehmen auf eine faszinierende, Stichworte Machine-to-Machine-Kommunikati- inspirierende aber auch herausfordernde Reise in on, vernetzte Körperimplantate, vernetzte Autos. die Zukunft. Vor allem aber: Starten wir die Dis- Wie entwickelt sich die digitale Welt weiter? Un- kussion über die Zukunft heute.

Urs Schaeppi CEO Swisscom AG GDI Gottlieb Duttweiler Institute 5

Es braucht mehr Fantasie

Wenn wir eine Zeitmaschine hätten, um ins Jahr und Nebenwirkungen nur indirekt und erst län- 2030 zu reisen und von dort zwei Jahrzehnte zu- gerfristig spürbar. Gerade weil die Informations- rück zu schauen, würden wir vermutlich fest- revolution so vielfältig und schwer fassbar ist, ent- stellen, dass viele Dinge, die für das Leben der scheidet die Vorstellung, die wir davon haben, wie Menschen dann normal sein werden, 2014 noch wir damit umgehen. Wer zum Beispiel glaubt, nicht erfunden waren. Die Menschen werden ih- dass Daten dabei helfen, die Gesundheit zu ver- re Hirnerweiterungen aktivieren, durch ihre Per- bessern, wird in entsprechende Technologie in- sonal-Reality-Kontaktlinsen schauen und die vestieren und seine Daten teilen. Wer dagegen Smartphones und Tablets bestaunen, mit denen fürchtet, dadurch seine Privatsphäre zu verlieren, man vor 20 Jahren kommunizierte und die dann wird versuchen sich den entsprechenden Techno- vermutlich ebenso überholt anmuten, wie heute logien zu entziehen und strenge Datenschutz­ die ersten Mobiltelefone. gesetze durchzusetzen.

Bereits heute ist technisch sehr viel mehr möglich Das neue digitale Ökosystem ist ohne Visualisie- als wir uns vorstellen können – im Guten wie im rung kaum fassbar, die Bedeutung der Infrastruktur Schlechten. Für Justin Rattner, von 2005 bis 2013 und die Macht der Algorithmen bleiben abstrakt – CTO bei Intel, sind Forschung und Technik heute für die meisten Menschen eine Blackbox. Diese Stu- so weit fortgeschritten, dass wir damit eigentlich die will anhand von Szenarien und Geschichten alles bauen können, was wir wollen, und nur noch ­veranschaulichen, wie die digitale Revolution ge- durch unsere Vorstellungskraft beschränkt sind. sellschaftliche Strukturen, Prozesse, Einstellungen Uns fehlt wahrscheinlich einfach noch die Fanta- und Verhaltensweisen verändert und welche Folgen sie, um die vielfältigen Möglichkeiten zu erfassen, dies für das Leben des Einzelnen, die Gesellschaft die die digitale Revolution eröffnet. und die Wirtschaft hat.

Diese Studie entwirft Bilder und Szenarien einer Die vorliegende Studie fokussiert auf unser Leben zukünftigen hochgradig vernetzten Welt. Zu- im Jahr 2030. Zu Beginn wurde ein Überblick kunftsszenarien sind keine Prognosen, sondern über die wichtigsten Entwicklungen vor dem Hin- Gedankenexperimente für neue Lebens-, Arbeits- tergrund der zunehmenden Vernetzung skizziert: und Organisationsformen. Sie dienen dazu, unsere Von der Entstehung der digitalen Revolution über Vorstellungskraft zu inspirieren und die Diskussi- aktuelle Trends und bereits heute erkennbare on über zukünftige Entwicklungen anzuregen. Strömungen bis hin zu den wichtigsten damit ver- Denn ohne ein Bild von der Zukunft kann man bundenen Disruptionen in Bezug auf unser Zu- diese nicht gestalten. Nur wer sich eine Vorstellung sammenleben, auf die Wirtschaftsordnung sowie von der Zukunft macht, Träume hat, die er reali- die Organisation und Regierung des Internets. sieren will, oder Albträume, die er verhindern will, Auf Basis der daraus eruierten relevantesten Ent- wird Neues schaffen, Alternativen entwickeln und wicklungen und Polaritäten wurden in einem in neue Technologien investieren. Workshop vier Szenarien für den Alltag in der Schweiz 2030 entwickelt. Die Szenarien sind ein Im Unterschied zu Hardware-Innovationen wie Stilmittel, um das Wesentliche aus dem Komplex Robotern und fliegenden Autos sind Software-­ von Aussagen in wirksamer Weise zur Geltung zu Innovationen nicht direkt sichtbar und die Folgen bringen. 6 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft GDI Gottlieb Duttweiler Institute 7

Die Geschichte der Vernetzung

Seit es Computer gibt, wird daran gearbeitet, sie würde, unabhängig von Hardware und Übertra- miteinander zu verbinden. So wie ein einzelnes gungstechnik über verschiedenste Netzwerke mit- Telefon verlangt auch ein Computer förmlich da- einander kommunizieren zu können. Ein grund- nach, mit Seinesgleichen zu kommunizieren. legend neues Modell wurde entwickelt, das Unterschiede zwischen Netzwerken durch die Die erste Phase des Internets begann mit dem Einführung einer Abstraktionsschicht namens technischen Aufbau von Netzwerken wie dem Internet Protocol (IP) ausglich. Mit dem Trans- ARPANET in den USA (1969), dem Mark-I-Net- mission Control Program TCP/IP begannen die work in England (1970) und dem französischen Netzwerke von Universitäten, Forschungszentren, Forschungsnetzwerk CYCLADES (1972). Neu an Firmen und militärischen Einrichtungen damit, diesen Netzen war die Idee des «Packet Swit- sich zu einem «Netz der Netze» zu verbinden. ching». Datenfolgen werden dabei in «Päckchen» zerlegt, die sich selbständig ihren Weg durch das Auf Diagrammen gab es ein spezielles Symbol für Netz suchen und am Ziel wieder zusammenge- dieses «Internet»: eine Wolke. In der Netzent- setzt werden. Ein solches dezentrales Netz war wicklung des 21. Jahrhunderts taucht sie wieder kostengünstig und robust. Seine Intelligenz war auf: die Cloud. nicht mehr auf einen Zentralrechner beschränkt, sondern auf alle Knoten eines Netzes verteilt. Fiel www ein Netzknoten aus, suchten sich die «Packets» au- Anfang der Neunzigerjahre erschien das Internet tomatisch einen anderen Weg. mit der Wucht eines Urknalls in der Öffentlich- keit. Der komplizierte Umgang mit vernetzten @ Computern war bis dahin Wissenschaftlern und «Es ist zu kurz gedacht, dass Netzwerke Computer Experten vorbehalten gewesen; nun aber kam die miteinander verbinden», so der Internet-Pionier einfache Zugänglichkeit der Personal Computer, David D. Clark. «Sie verbinden Menschen mit­ die sich mit Mausklicks steuern liessen, auch im einander, die Computer als Medium verwenden. Internet an. 1989 hatte Tim Berners-Lee am Der grosse Erfolg des Internets liegt nicht im CERN das World Wide Web gestartet. Als er im Technischen, sondern im Menschlichen begrün- Sommer 1991 die erste Webseite ins Netz stellte, det. Etwas wie E-Mail ist vielleicht kein besonders begann der Aufstieg des Internets zum Massen- grosser Fortschritt in der Informatik, aber es ist medium. ein neuer Weg für Menschen, die miteinander kommunizieren wollen.» Der entscheidende Moment aber war Anfang 1993 erreicht, als «Mosaic» erschien, der erste grafische 1972 hatte der ARPANET-Entwickler Ray Tomlin- Webbrowser. (Die Entwickler, die sich kurz darauf son die E-Mail erfunden (und, ohne es zu ahnen, als «Netscape» selbständig machten, lösten mit ih- mit dem @-Zeichen das Symbol des Internet-Zeit- rem Börsengang 1995 einen beispiellosen Techno- alters). Bereits ein Jahr später waren 75 Prozent des logie-Boom an den Aktienmärkten aus, dem erst gesamten Datenverkehrs im Netz E-Mails. (Heute im März 2000 die Luft ausging). Netscape machte werden pro Tag etwa 200 Milliarden E-Mails ver- es ganz einfach, sich durchs Internet zu bewegen. schickt, der grösste Teil davon Spam). Früh wurde Nun musste jeder eine Webseite haben. Das Netz klar, wie wichtig künftig die Möglichkeit sein verwandelte sich in die längste Schaufensterfront 8 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

der Welt. Das Weisse Haus ging online und man nen des Internetzeitalters. Welche Dimension die- konnte Pizza übers Internet bestellen. Portale wie ses neuartige, planetenweit operierende Unter- America Online, Yahoo oder Microsoft Network nehmertum hat, wurde sichtbar, als Google sich (MSN) konkurrierten darum, das Internet-Ein- Anfang 2010 den Zensurwünschen der chinesi- gangstor für die Massen zu sein. schen Regierung entgegenstellte. «Wir haben Hochachtung vor dem, was China als Land voll- Es zeigte sich, dass die digitale Atomisierung, die bringt», betonte Google-Geschäftsführer Eric mit dem «Packet Switching» begonnen hatte, Schmidt auf dem nachfolgenden Weltwirtschafts- noch weit tiefer gehende Folgen nach sich zog. forum in Davos. «Wir mögen bloss die Zensur Musik, Texte, Bilder, Filme, Software – in der nicht. Wir hoffen, dass Verhandlungen oder ­digitalen Welt befindet sich alles in einem Zu- Druck die Situation für die Menschen in China stand latenter Zerlegung. Althergebrachte kultu- verbessern.» Netz-Enthusiasten sahen Google be- relle Bündelungsformen werden aufgeknackt wie reits als eine Art Aussenministerium des Inter- Kohlenwasserstoff-Moleküle in einer Raffinerie. nets. Schmidt sah sich veranlasst hervorzuheben, Das Musikalbum, zuvor die Produktion einer dass Google keine Nation sei, keine Gesetze be- Schaffensperiode, ist nun atomisiert zu einzel- schliesse und über keine Sicherheitskräfte verfüge. nen Tracks. Zeitungen zerflattern zu Artikeln, Die Entwicklung des Internets wurde von der Ver- die in sozialen Netzen durchgereicht werden. Die heissung begleitet, die Netzarchitektur stelle si- Standardlänge von Filmen auf YouTube ist zwei cher, dass das Internet nicht zentral beherrscht Minuten. oder kontrolliert werden könne. Welche Art von Daten er überträgt, wird von jedem Nutzer selbst Und diese Kulturatome wollen sich unbedingt wie- bestimmt («Netzneutralität»). Im Netz habe jeder der zu neuen Molekülen verbinden. Am erfolg- eine Stimme, Demokratie stelle sich damit quasi reichsten hat das bisher die Firma Google begriffen. automatisch ein. Jede Trefferliste, mit der eine Suchanfrage beant- wortet wird, ist ein Momentmolekül, zu dem die Zwar unterstützt dezentrale Netzkommunika­tion von Google ausgesuchten Informationsatome zu- demokratische Organisationsformen, sie stellt aber sammengefügt werden. Es geht um nichts Geringe- keine demokratischen Verhältnisse sicher. In res als die Neuordnung der Welt, ihren Remix. ­Ländern wie Ägypten, dem Iran oder der Türkei 1998 wurde Google gegründet, und innerhalb eines lernten die Netzteilnehmer schnell, dass ihre Inter- Jahrzehnts hat sich das Suchen von einer nützli- net-Provider in staatlicher Hand waren. Während chen Nebentätigkeit zum zentralen Dreh- und An- des Arabischen Frühlings in Ägypten genügten ein gelpunkt im Netz verwandelt. paar Anrufe, um Dienste wie Twitter,­ YouTube oder sämtliche Internet-Verbindungen ausser Lan- $ des abzuklemmen. Vor 30 Jahren war die Softwareindustrie als neuer Player auf den Plan getreten und hatte Microsoft 24/7 gross gemacht – nun sind Google, Facebook, Twit- Früher hat sich einmal pro Abend mit den Haupt- ter und Konsorten an der Reihe; ihre Eigentümer nachrichten das Medienfenster in die Welt geöff- und Manager gehören gemeinsam mit denen von net. Heute fliessen Meldungen, Informationen Apple, Amazon und eBay zu den Industriebaro- und Unterhaltungen unausgesetzt und vielarmig GDI Gottlieb Duttweiler Institute 9

in den digitalen Stream. Sonderbare Dinge wie «Testbild» oder «Sendeschluss» kennen junge Me- diennutzer nicht mehr. Früher gab es einen Zu- stand, dann kam eine Veränderung, dann ein neuer Zustand. Jetzt ist Veränderung der Zustand. Früher hat der Grosse den Kleinen gefressen, dann der Schnelle den Langsamen. Jetzt wird das Manchmal vom Immer verschluckt. Always on ist die Grundlage der neuen Lebensweise, die «On- line-Sein» heisst. 10 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Evolution des Internets: Von der Rauchwolke bis zur Cloud

1975 1976

1957 1976 Sputnik Erfolg der Schock Heimcomputer und Entstehen 0 des PC Marktes Botenpost, 1835 römisches Morse Code Kommuni­ 1684 1920 kationsnetz Semaphor kommerzielles Radio 1969 ARPANET

1000 BC 1983 Brieftauben Einführung in Ägypten des "Internet Protocol"und 1927 dem "Transi­ Fernsehen tion Control Program", TCP/IP 1973 2700 BC Mobiltelefon Erster Brief 1450 auf Papyrus Erfindung des 1958 in Ägypten Buchdrucks Mikrochip 1792 1946 1989 Erster 1876 Erstes Entwicklung Telegraph Telefon Mobilfunk­ des World gespräch Wide Web 8000 BC www Rauch­ zeichen, Signalfeuer, Fahnen, 1971 1979 Trommeln, Email Entwicklungs­ Hörner 500 BC 1500 1947 schritte für RFID Kurier von Postnetze Transistor Marathon in Europa

Landwirtschaftliche Revolution Industrielle Revolution 8000 BC 0 1500 1700 1800 1900

10'000 Jahre 200 Jahre 25 Jahre GDI Gottlieb Duttweiler Institute 11 Konkurrenzumfeld der Swisscom

1998 2004 2014 Gründung Swisscom AG Auf Seite Infrastruktur Kabel­ Trend: Digitalisierung/Verlagerung (davor Staatsmonopol netzbetreiber: Cablecom, auf Dienste ins Internet. Entkoppelung der PTT) Seite Telekommunikationsan­ Infrastruktur und Dienste. Auf Seite bieter: Tele2, Sunrise, Orange Infrastruktur: Kabelnetzbetreiber. Auf Seite Dienste: Skype, Viber, What's App, Google (Youtube), Apple Tv 1995 2003 1998 2006 2001 1994 2011 1999 2004 2005

2000 2030

Big Data / Smart Data, Mobile Health Monitoring, Machine to Machine Communication Services, Gamification

2014+ Cloud 2002 Computing, Erstmals ­werden 2004 Internet der mehr Infos Internetzugriff Dinge ­digital als analog mittels Mobil­ ­gespeichert. telefon, Handys werden allgegen­ Wearable User wärtig Interface, Ubiquitous Computing, 3D-Druck, 2003 2005 iTunes Music Social Media/ Store Social Compu­ 2030+ ting erreicht Brain ­Computer Mainstream Interface, 1994 ­Neurobusiness, Digitales Fernsehen ­B i o ­a c c o u s t i c S e n s i n g , Human 2.0 2010 Splinternet Industrie 4.0, Physical Web, VoIP Internet 2000 2007 Smart Advisors, Telefonie iPad Prescriptive Analytics, 1991 Dotcom iPhone Biocensor Chips, erste Blase Affective Computing, Website Smarte Roboter, Web 2.0: 3D-Bioprinting Systeme, Internet wird Smart Home / interaktiver 2001 Smart Workspace, 1993 und kollabora­ Virtueller Personal Mosaic, erster iPod tiver 2009 ­Assistant, Autonome grafikfähiger Web­ Deep Space ­Fahrzeuge browser Network der NASA

Digitale Revolution 2000 2030

25 Jahre Technologie-Trends a) Stand und Nutzung der Technik: Facts and Figures

Weltbevölkerung (in Mr d) Anzahl Internetnutzer

4 Mrd 3 Mrd 2018 7,2 8,3 2 Mrd 2014 1 Mrd 2010 2014 2030 2005

Quelle: Global Internet Society (2014), Quelle: Roland Berger International Telecommunication Union (2014), Cisco (2014)

Internet-Zugang (in Pro zent d er Bevölkerun g)

0 97

Quelle: Weltbank (Stand 2013)

Mobile auf d em V ormarsch Wachstum g lobales Datenvolu men

Pro 100 Einwohner Globale Werte Exabytes

100 95,5 Mobiltelefon- 45000 Abos

25000 50 40,4 Internetnutzer 32,0 Mobile Breitband­ anschlüsse 5000 9,8 Festnetz-Breit­ 0 band Anschlüsse -5000 2005 2010 2014* 2005 2010 2015* 2020*

*Schätzung, Quelle: GDI (2014), basierend auf Daten der *2014–2020 Schätzung, Quelle: GDI (2014), basierend auf Daten International Telecommunication/ICTWorld Indicators Database. Online: www.itu.int/ en/ITU-D/Statistics/Pages/publications/wtid.aspx International Telecommunication Union1 Data Corporation (2014), emc.com

1 Die m eistbesuchten W ebseiten d er W elt

Google Youtube Twitter Baidu Amazon Yahoo Facebook Wikipedia

Quelle: alexa.com, internetlivestats.com

200 Milliar den Mails tä glich ANTEIL VI DEOS A M INTERNET TRAFFIC

66% 79%

2 2 % gelesen 8 4 % Spam 2013 2018

Quelle: Jeffries (2014)2 Quelle: Cisco (2014)

Nutzung von F acebook

1,3 Milliarden 5 0 % loggen sich 2 3 % prüfen Account 20 Minuten 83 000 000 Nutzer monatlich 1x pro Tag ein 5x am Tag täglich Fake-Accounts

Quelle: iacpsocialmedia.org, jeffbullas.com -

Mobile Geräte Hauptmotivationen hinter Cyber-Angriffen

3 % 5 0 % Cyberkrieg 7 % Social Media wird bereits von Cyber-Spionage 71% der Nutzer über mobile Hacktivismus Geräte genutzt.

Pro Tag entriegeln wir 150 Mal unser Handy.

4 0 % Internetkriminalität

3 World Telecommunication/ICTWorld Indicators Database. Online: www.itu.int/ en/ITU-D/Statistics/Pages/publications/wtid.aspx Meeker, M. & Wu, L. Internet (2013). Conference. Trends – D11 Kleiner, Per- kins, Caufield, Byers. Online: www.kpcb.com/insights/2013-internet-trends Business2Community Social (17.02.2014). Media ina Nutshell. Online:www.busi ness2community.com/infographics/social-media-nutshell-0781415 Quelle: Cisco (2014), Meeker & Wu (2013) Quelle: metrics.torproject.org/users.html, go-gulf.com/blog/cyber-crime/

1 2 3

14 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft Schnelle Technik – langsamer Mensch

Wandel

technischer Fortschritt

Realitätslücke (Present Shock)

Realität, Alltag

kulturelle Trägheit

Zeit

Quelle: GDI (2014), nach Rushkoff (2014) und Booty (2011)4

b) Weg der Innovation: Die Entwicklung von Mensch und Technologie

Während Computer immer leistungsfähiger wer- den, besser, schneller und billiger, verändern Menschen ihr Verhalten und ihre Einstellungen nur langsam. Sie können zwar ihre Hirn- und Denkfähigkeiten trainieren, stossen aber an die Grenzen der Biologie. Das unterschiedliche Ent- wicklungstempo von Mensch und Maschine ­erzeugt einen «Reality Gap», die technischen Möglichkeiten wachsen über das Menschenmög-

4 Booty, E. (2011). Majority report: looking through the digital hype. Originalveröffentlichung in Viewpoint 2011. Online: bbh- labs.com/tag/ed-booty/ GDI Gottlieb Duttweiler Institute 15 Stufenmodell der Technologie

unknown unknowns Jenseits unseres Wissens und Verstehens

Fiktion Menschheitsträume, die bisher technisch noch nicht realisiert werden können. Zum Beispiel: Singularität (Maschinen die sich selbst verbessern und weiter- entwickeln), Telepathie

Visionen Zukunftsideen, an denen zurzeit geforscht wird. Zum Beispiel: Quantum Computing, programmierbare Materie

Operational Funktionsfähige Prototypen existieren. Zum Beispiel: smarte Kontaktlinsen

ANGEWANDT Auf dem Markt verfügbar und erschwinglich. Zum Beispiel: Google Glass, 3D-Drucker

Etabliert Teil des Alltags. Zum Beispiel: Smartphone, GPS-Navigation

Vital Man kann nicht mehr leben ohne. Zum Beispiel: Internet

Unsichtbar Wird nicht mehr als Technologie wahrgenommen, Teil unserer Kultur. Zum Beispiel: Alphabet, Uhr

Naturalisiert Wird zum Teil unserer Natur. Zum Beispiel: Kleider, Kochen

Quelle: GDI (2014), nach Mensvoort (2014)

liche hinaus und überfordern uns. Der Sozialbio- läuft und die wir so wenig beachten wie Ölraffine- loge Eduard O. Wilson hat diese Diskrepanz der rien, Elektrizitätswerke, Container-Schiffe oder sozialen und technischen Entwicklung sehr schön Herzschrittmacher. Der US-Computerwissen- auf den Punkt gebracht: «We have created a Star schaftler Mark Weiser hat diese Entwicklung Wars civilization, with Stone Age emotions, me- schon 1991 beschrieben: «The most profound dieval institutions, and a godlike technology.» technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until Wenn das technisch Mögliche die Anpassungsfä- they are indistinguishable from it.»5 higkeit der Menschen übersteigt, hängt der tech- nische Fortschritt immer mehr vom Menschen ab. Die obige Darstellung gibt einen Überblick über Davon, ob er die neue Technik versteht, begehrt die Stufen, die eine Technologie durchläuft von der und nutzt. ersten Idee, Vision über Forschung und Entwick- lung bis sie auf den Markt kommt, selbstverständ- Dieser Anpassungsprozess geht manchmal sehr lich und alltäglich wird. schnell, doch meistens dauert es Jahrzehnte, bis eine bahnbrechende Idee den Alltag der breiten Bevölkerung erfasst und verändert. Im Zuge die- ses Prozesses wird die Digitaltechnologie aus un- serem Leben zurücktreten als Basisinfrastruktur, 5 Weiser, M. (1991). The Computer for the 21st century. Online: die im Hintergrund (oder in unserem Körper) www.ubiq.com/hypertext/weiser/SciAmDraft3.html 16 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft In Richtung einer dematerialisierten W elt

gestern Heute

Montag 28

Quelle: GDI (2014)

c) Zukunftsvisionen aus Schlüssel, Portemonnaie, Fotoapparat, ein Shop, ein Navigationsgerät, Fiebermesser... Die Vielfalt heutiger Sicht der Funktionen, Apps und Dienste, die auf Smartphones oder Tablets genutzt werden, ver- Menschen und Maschinen verschmelzen anschaulichen die vitale Bedeutung, die diese Die Digitalisierung steht in den meisten Bran- Geräte bereits heute für unser Leben haben. chen heute noch ganz am Anfang und dringt im- mer tiefer in immer mehr Lebensbereiche vor. Mit der Digitalisierung des Menschen, die sowohl Bereits heute ist das Smartphone für über vier die Forschung wie auch die ICT-Branche in den Millionen Schweizer viel mehr als ein Kommu- nächsten Jahren anstreben, erreicht die digitale nikationsmittel, es ist ein Arbeits-, Lehr- und Revolution eine neue Stufe. Unterhaltungsmittel, es ist auch eine ID, ein GDI Gottlieb Duttweiler Institute 17

Beispiel: Mit dem Moonshot-Projekt6 «Baseline» netzten kollektiven Geistes der Menschheit, der steigt Google auch in die Genforschung ein. sich wie eine «denkende Hülle», wie ein grosses, Google will das Erbgut von 175 Probanden vom gemeinsames Bewusstsein um den Globus legt. ersten bis zum letzten Basenpaar analysieren. Zusammen mit der Krankheitsgeschichte der Dieses Szenario wirkt heute noch sehr fremd – ­Eltern, soll bis hinunter zur molekularen Ebene klingt geradezu nach Science-Fiction. Die Devices das genaueste Gesundheitsbild von Menschen zur Vernetzung des Körpers, wie Google-Brillen, ent­stehen, das je gemacht wurde. Schrittmesser, Implantate, die heute vermehrt auf den Markt kommen, werden erst von einer sehr In Zukunft werden Menschen und Maschinen kleinen Gruppe von Geeks tatsächlich genutzt. noch enger zusammenwachsen, wir werden Doch entsprechend dem Stufenmodell der techno- mehr Technik im und direkt am Körper tragen, logischen Entwicklung bedeutet das vor allem, so dass sie uns quasi zur zweiten Natur wird. Die dass in den kommenden Jahrzehnten noch ver- Verschmelzung hat bereits begonnen. Google schiedene Stadien durchlaufen werden, bis solche experimentiert beispielsweise mit smarten Kon- Geräte schliesslich normal und alltäglich werden. taktlinsen. Damit können Diabetiker vorerst ih- Wir werden in Zukunft die Computer und Senso- ren Blutzuckerwert messen. In Zukunft wird ren so selbstverständlich tragen wie Kleider (in die man damit aber viel mehr können: zum Beispiel sie eingewoben sind), sie werden quasi zur zweiten durch Wände schauen, Menschen und Dinge se- Natur, so dass wir uns ohne unsere technischen hen, die sich im nächsten Raum befinden, im Erweiterungen nackt, blind und taub fühlen. Dunkeln Gegenstände und Gesichter erkennen oder die Welt wie durch ein Mikroskop oder Fern- Datendoppelgänger glas betrachten. Und das ist nur ein einziges, noch Heute haben wir uns bereits daran gewöhnt, dass nicht einmal in den Körper eindringendes Gerät. Internetdienste persönliche Profile von uns erstel- len. Wir überlegen, warum uns Google eine be- Die Vernetzung des Körpers zielt auf die Erweite- stimmte Werbung zeigt und sind verunsichert, rung der menschlichen Fähigkeiten und Sinne, wenn wir ein scheinbar unsinniges Angebot er- eine Verbesserung der Intelligenz, des Empfin- halten: Ist der Algorithmus einfach dumm oder dungsvermögens wie auch des menschlichen Ver- weiss Google etwas über mich, was ich nicht weiss? haltens – und schliesslich auf die Transformation Doch je mehr Daten wir produzieren, umso besser in eine neue posthumane Spezies. werden auch die digitalen Modelle von Menschen und umso ähnlicher werden uns unsere Avatare Nicht nur dem Körper, auch dem Geist kann eine (Daten-Ichs). Der Schritt vom abstrakten Daten- solche Transformation bevorstehen. Wenn nicht profil zum persönlichen Avatar wird ähnliche Fol- nur Artefakte und Körperteile, sondern auch die gen haben, wie der Schritt vom Arpanet zum Köpfe der Menschen vernetzt sind, werden wir al- www. Jeder wird einfach seine Daten analysieren so sowohl im eigenen als auch in einem anderen Hirn nach Informationen googeln können. Am Ende steht die positive Utopie der Noosphäre – ursprünglich ein religiöser Begriff, den Teilhard 6 Moonshot nennt Google «Projekte mit hohem Risiko, aber po- de Chardin geprägt hat –, die Vision eines ver- tenziell noch höherem Gewinn». 18 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Niemand muss mehr Geräte mit sich herumtragen. Was früher ein Bildschirmbild war, kann auf die Handfläche, einen Tisch, eine Wasseroberfläche projiziert werden.

können und feststellen, wie sich sein Profil (und ob Anwaltskanzlei, Finanzdienstleister, Schule, damit er selbst) verändert hat. Wir können uns in Zahnarzt oder Autowerkstatt, die Verarbeitung unseren Daten spiegeln und in Echtzeit beobach- von Daten und das Management von Informatio- ten, wie sich unsere physischen und psychischen nen werde zum Kern jedes Geschäfts. Zustände verändern. Das gilt sogar für so handfeste und undigitale Sobald die Daten, die wir selbst oder andere über Branchen wie die Müllabfuhr und die Landwirt- uns sammeln, in Form eines Daten-Doppelgän- schaft. Selbststeuernde Müllabfuhrfahrzeuge gers konkret Gestalt annehmen, können wir sie könnten mit smarten Müllcontainern kommuni- auch besser kontrollieren. Wenn unser Datendop- zieren und autonom ihre Route optimieren, um pelgänger Dinge tut, die uns seltsam erscheinen, die vollen Container zu leeren, den Müll automa- können wir ihn von einem unabhängigen Daten- tisch sortieren und den entsprechenden Recy­ Doktor überprüfen lassen. Wenn die Daten über clinganlagen zuführen. Und Monsanto hat im mich meine Gestalt annehmen, werde ich auch die Jahr 2013 die Firma Climate Corporation gekauft, Kontrolle darüber weniger leichtfertig aufgeben die am Thema «Precision Agriculture» arbeitet wollen. Vermutlich wird es für die digitalen Dop- und die Landwirtschaft zur reinen Datenanalyse pelgänger auch eine Art ID-Karte geben müssen, macht. Es gibt über 40 Parameter, die optimiert um sie vor illegalen Kopien (Identitätsdiebstahl) werden, wie Daten der Bodenqualität – Typus, zu schützen. ­Nitrogen-Gehalt und den damit notwendigen Düngemitteleinsatz – kombiniert mit dem Pflan- Das Prinzip, das dahinter steht, ist das gleiche, das zenwachstum, Sonneneinstrahlung, Wettervorher- hinter der Google-Suchmaschine steht: atomi­ sage usw. Die Felder werden von selbststeuernden sierte Informationsmoleküle werden wieder zu Maschinen bewirtschaftet, die Ernte von Robotern ­einem ganzen Bild zusammenfügt. Der Daten­ verarbeitet. Am Ende dieser Entwicklung steht die doppelgänger verbindet die atomisierten Daten vollautomatisierte Lebensmittelproduktion. über unser Leben und ermöglicht so neue Perspek- tiven auf uns selbst und die Welt. Das Internet der Dinge und nach den Dingen Das «Internet der Dinge» wird uns den nächsten Software frisst die Welt grossen Vernetzungsschritt bringen. Gemäss ei- «Software is eating the world» sagte Marc An- ner Analyse des US-Unternehmens Cisco werden dreessen (einst Mitbegründer von Netscape, heu- bis 2020 über 50 Milliarden Geräte vernetzt sein. te Venture-Capitalist) 2011 in einem inzwischen Das verändert unser Verhältnis zu den Dingen: legendär gewordenen Beitrag für das Wall Street Wenn wir alle Dinge mit einer Suchmaschine so Journal.7 Die Digitalisierung werde alle Branchen einfach suchen und finden können wie heute Infor- transformieren und die Gesellschaft mindestens mationen, wird auch die Einstellung zu materiellen so massiv verändern, wie die Industrialisierung vor 200 Jahren. So wie der Buchhandel, die Rei- sebranche und Musikindustrie in den letzten Jahrzehnten umgewälzt wurden, werde sich auch 7 The Wall Street Journal (20.08.2011). Why Software is Eating the jede andere Branche vom Agribusiness über die World. Online: online.wsj.com/news/articles/SB1000142405311 Bildung bis zur Medizin radikal verändern. Egal 1903480904576512250915629460 GDI Gottlieb Duttweiler Institute 19

Dingen sich ähnlich wandeln wie die zu immateri- kommene digitale Leichtigkeit erleben. Niemand ellen Informationen: Der Statuswert des reinen muss mehr Geräte mit sich herumtragen. Was Besitzes verringert sich, das Teilen und die ge- früher ein Bildschirmbild war, kann auf die Hand- meinschaftliche Nutzung wird einfacher und zu- fläche, einen Tisch, eine Wasseroberfläche proji- gleich aufgewertet. ziert werden. Diesen Zustand könnte man das «Internet nach den Dingen» nennen. Mit seinen Aber es verändert auch das Verhältnis der Dinge eigenen Chancen, aber auch eigenen Risiken. untereinander. Im Internet der Dinge wird prak- Denn natürlich verschwinden die Dinge nur tisch jeder Gegenstand ein Computer, der pro- scheinbar, in Wirklichkeit jedoch treten sie in ei- grammiert werden kann und mit anderen smarten­ nen Schatten, den wir weder durchschauen noch Dingen interagiert: Autos beispielsweise, die un- kontrollieren können, sondern nur noch befolgen. tereinander die Vorfahrt absprechen. Bereits in den Achtzigerjahren verkündete der damalige Leiter des Media Labs am MIT, Nicholas Negro- Digitalisierung, Miniaturisierung und Vernet- ponte, die Mission: «Things That Think». Im Jahr zung führen zu völlig neuen Qualitäten im Ver- 2014 wurde erstmals eine solche künstliche Intel- hältnis zwischen Menschen und Maschinen sowie ligenz in eine Geschäftsleitung berufen – in die zwischen Maschinen untereinander. Die frühere der Venture Capital Firma Deep Knowledge in Entscheidungshoheit des Menschen wird durch Hongkong.8 effizientere Methoden herausgefordert. Kurzfris- tig stösst dabei jede neue Technologie auf eine Negroponte schwärmte von kommunizierenden vergleichsweise geringe Anpassungsgeschwindig- Manschettenknöpfen und Computern, die so keit der Menschen (Reality Gap). Mittelfristig klein sind, dass man sie essen kann. Wir nähern wird die Digitaltechnologie jedoch – wie andere uns dem an. Ein iMac aus dem Jahr 2000 war Durchbruchsinnovationen vor ihr – immer mehr knapp 16 Kilo schwer und fast 50 Zentimeter tief. als Selbstverständlichkeit wahrgenommen und Heute wiegt ein iPad 140 Gramm, ist 9,3 Millime- in den Alltag integriert (Naturalisierung von ter dünn und um Klassen leistungsfähiger. Die Technologie). Miniaturisierung der Hardware stösst nicht mehr an technische, sondern an biologische Grenzen. Manche Geräte liessen sich, würde man sie weiter verkleinern, nicht mehr bedienen. Ab einem be- stimmten Punkt kann die Miniaturisierung nicht mehr schrittweise fortgeführt werden. Wir sind nicht mehr weit entfernt von dem Moment, in dem die Hardware auf einen Schlag komplett liquidiert­ wird.

Wenn so die Hardware verschwindet (oder in den 8 The Huffington Post UK (15.05.2014). Venture Capital Firm Hintergrund tritt) und nur noch die Funktionen Hires Artificial Intelligence To Its Board of Directors. Online: bleiben, die sich aus einer umfassenden techni- www.huffingtonpost.co.uk/2014/05/15/artificial-intelligence- schen Infrastruktur speisen, können wir die voll- board-directors_n_5329370.html 20 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft GDI Gottlieb Duttweiler Institute 21

Ökonomische und gesellschaftliche Konsequenzen

a) Eine neue genz, die herkömmliche Routinearbeiten ersetzen, 3D-Drucker, die sich selbst reproduzieren können Wirtschaftsordnung und das Internet der Dinge, weil es das Konsum- verhalten ändert. Teilen wird normal und Kaufen Digitalisierung und Vernetzung führen nicht nur immer mehr zur Ausnahme (wenn man nieman- dazu, dass wir die Produktion von vielen Waren den findet, der mit einem teilt). Wer zum Beispiel und Dienstleistungen automatisieren und damit Campingferien plant, kann in den Schränken und massiv günstiger machen können; sie führen Kellern der Nachbarschaft nach ungenutzten Zel- auch dazu, dass wir uns neu und anders organi- ten, Schlafsäcken und Camping-Kochern googeln sieren, zusammenarbeiten, Besitz und Wissen oder zum örtlichen Verleihshop gehen – oder teilen können. Und manchmal auch müssen. ­einfach losfahren, weil am Ziel bereits alles Notwen­ dige auf ihn wartet. Der Berliner Leihladen-Betrei- Dabei wird früher oder später jeder Bereich in ber Nikolai Wolfert zieht den Vergleich mit der Wirtschaft und Gesellschaft erfasst werden. Im Stromproduktion: Was für die «alltägliche Grund- Folgenden sind die wichtigsten Disruptionen in last» benötigt wird, sollte man weiter besitzen, für Wirtschaft, Infrastruktur, Gesundheit, Bildung, die «Spitzenlast» gebe es die Sharing-Economy. Mobilität aufgeführt. Ein Beispiel für deren grosses Potenzial ist der Er- Wirtschaft folg von Airbnb, der Vermittlungsbörse für Privat- Der Einsatz von Robotern und 3D-Druckern sowie unterkünfte.9 Die Firma verbindet rund 600’000 die Sharing-Economy werden die Produktionskos- Wohnungsinhaber in 160 Ländern mit Millionen ten massiv senken. So massiv, dass das gute Leben von Reisenden, die Unterkünfte suchen. Mit bis zu keine Kostenfrage mehr sein wird, verheisst Jeremy 250'000 Gästen in einer einzigen Nacht (Spitzen- Rifkin in seinem neuesten Buch «Die Null-Grenz- wert im Jahr 2013) und einem geschätzten Markt- kosten-Gesellschaft». Er entwirft darin die beste wert von zehn Milliarden Dollar ist Airbnb damit aller möglichen Welten, die sich auf der Basis der bereits auf Augenhöhe mit den grossen globalen neuen Technologien bauen lässt: Smarte Technik Hotelketten. Airbnb verdankt seinen schnellen wird es möglich machen, dass einzelne Haushalte Aufstieg zwei Vernetzungs-Phänomenen. Zum ei- ihren Bedarf fast völlig selbst produzieren können. nen sind die Marginalkosten nahe Null: Airbnb Durch das Ende der Knappheit werden die Men- kann sein Raum-Angebot praktisch ohne Zusatz- schen materiell anspruchsloser, ihr Lebensstil nach- kosten erweitern, indem es seinen Mitgliedern er- haltiger. Rifkins Gesellschaftsentwurf ist radikal möglicht, ungenutzte Räume anzubieten. Und optimistisch, doch nicht unrealistisch. Er basiert auf zum anderen werden ungenutzte Kapazitäten einem positiven Menschenbild, dem mitfühlenden, sichtbar: Die Räume, die bei Airbnb angeboten kooperativen Homo Empathicus der den egoisti- werden, waren in aller Regel auch vorher schon da, schen Homo Oeconomicus ersetzen wird, smarter, wurden nur eben nicht genutzt. Wenn hingegen umweltschonender Technologie und kollaborativen ein herkömmliches Hotel weitere Räume­ anbieten Produktions- und Konsumformen.

Die (technische) Basis für die nächste Überfluss­ gesellschaft bilden: Roboter und künstliche Intelli- 9 airbnb.com 22 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

möchte, müssen diese zuerst gebaut oder erwor- ssen, weitere Roboter anstellen oder auch Men- ben werden. schen. Die autonomen Computer-Corporations würden als künstliche Sonderintelligenzen im 3D-Drucker sind ein weiterer Faktor, der zur radi- Internet «leben», verteilt im Netzwerk der Stake- kalen Senkung der Produktionskosten beiträgt. holder, die die DACs hosten (ähnlich wie Bit- Die meisten Produkte, die 3D-Drucker (für den coin11, das als Prototyp gilt für eine Decentralised Hausgebrauch) heute produzieren, sind qualitativ Autonomous Corporation). noch nicht sehr überzeugend. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass der 3D-Druck heute dort Die mächtigen neuen Werkzeuge, die schon heute steht, wo die Digital-Fotografie vor 20 Jahren und in Zukunft noch viel mehr jedem zur Verfü- stand, wird das disruptive Potenzial dieser Tech- gung stehen, setzen viel kreative Energie frei und nologie deutlich. Wir werden uns in Zukunft fast wecken den Unternehmergeist. Noch nie war es so alles, was wir uns wünschen, einfach ausdrucken einfach und günstig, eine Idee in ein neues können. Produkte aus komplexen Verbundstoffen, ­Geschäft zu verwandeln. Auch jemand mit sehr ebenso schwer zu drucken wie zu entsorgen, bü- wenig Eigenkapital kann Dank dem einfachen ssen entsprechend an Beliebtheit ein. Da 3D-­ Zugriff auf riesige Rechenkapazitäten (Cloud-Ser- Drucker einer zukünftigen Generation sich selbst ver), Produktionsanlagen (3D-Drucker für Spezia­l­ replizieren, also neue 3D-Drucker herstellen ­­anforderungen), Experten- und Vertriebsnetze ein ­können, werden diese Maschinen auch nicht teuer Start-up aufbauen, Prototypen entwickeln und so und für jeden erschwinglich sein. neue Produkte auf den Markt ­bringen. Das nötige Kapital wird mit Crowd­funding beschafft. Die Die Maschinen werden sich in Zukunft nicht nur Maker-Bewegung gilt als ein Vorreiter dieser Ent- selbst reproduzieren können, sie werden sich auch wicklung. Sie verhilft Tüftlern und Heimwerkern selbst steuern, managen und mit anderen Maschi- dazu, ohne viel Geld und eigene Fabriken neue nen zusammenschliessen können. Selbststeuernde Produkte herzustellen und zu verkaufen und Fahrzeuge sind der Anfang einer Entwicklung hin «langsam das Gesicht der Industrie zu verändern», zur reinen Computer-Company, die nur noch aus so der ehemalige Wired-Chefredakteur Chris An- intelligenten Maschinen besteht und bei Bedarf derson in seinem Buch «Makers: Das Internet der Menschen anstellt. Oder brauchen die Roboter, die Dinge und die nächste industrielle Revolution». eines Tages unsere Abwasserkanäle selbständig warten werden, dafür unbedingt einen menschli- Aber auch um Do-it-yourself-Vertriebszentren wie chen Geschäftsführer? Etsy12 oder Dawanda13 sowie um Finanzierungs-

Unternehmen, die ohne Menschen operieren («Decentralised Autonomous Corporations» oder «DACs»)10, sind so programmiert, dass sie selbst- 10 ständig am Markt agieren, Güter produzieren, The Economist (28.01.2014). Computer corporations - DAC attack. Online: www.economist.com/blogs/babbage/2014/01/ verkaufen, Profit machen und sich weiterentwi- computer-corporations ckeln können. Voraussetzung dafür ist, dass intel- 11 bitcoin.org ligente Maschinen eigene Rechte erhalten, dann 12 etsy.com können sie Kapital besitzen, Verträge abschlie- 13 dawanda.com GDI Gottlieb Duttweiler Institute 23

Selbststeuernde Fahrzeuge sind der Anfang einer Entwicklung hin zur reinen Computer-Company, die nur noch aus intelligenten Maschinen besteht und bei Bedarf Menschen anstellt.

Plattformen wie Kickstarter14 oder Indiegogo­ 15 ent- Augenblicklich und auf absehbare Zeit ist das Ver- stehen Gründer-Szenen – jenseits der traditio- hältnis eher umgekehrt. Der Netzausbau kann mit nellen Industriestrukturen, aber auch abseits der steigenden Nachfrage nicht Schritt halten – der herkömmlichen Start-up-Kultur. So entste- die Diskussion um «Netzneutralität», also die hen neue dynamische Wirtschaftszweige mit technische Gleichbehandlung aller Datentrans- vielen unabhängigen Kleinbetrieben, die die fers, ist ein (noch vergleichsweise sachtes) Signal herkömmliche Wirtschaftsweise ergänzen und für zunehmende Kapazitätsengpässe, Zugangs- nach und nach ersetzen werden. und Verteilungskonflikte. Diese werden nicht zu- letzt dadurch verstärkt, dass nach langen Jahren Infrastruktur des Überangebots nur langsam das Verständnis Die technische Vernetzung hat einen Grad er- für die Notwendigkeit des Kapazitätsausbaus reicht, an dem man bereits über den Endpunkt wächst. Die «Kostenlosmentalität», mit der sich nachdenken kann: wenn alle Menschen online viele Content-Anbieter im Netz herumschlagen sein werden (und nicht nur jeder zweite wie heu- müssen, macht auch vor der Netz-Infrastruktur te), und alle Dinge noch dazu, und das zumindest nicht halt. potenziell rund um die Uhr – jenen Zustand also, wenn das Netz omnipräsent ist und alle Dienste Die Lösung für dieses Problem muss nicht in Mega- ohne Zeitverlust funktionieren. Projekten und zentraler Investitionslenkung liegen. Anders als bei allen Netzausbau-Phasen zuvor sind Das ist nicht nur ein gewaltiges soziales und gesell- diesmal auch dezentrale Lösungen vorstellbar, ins- schaftliches Experiment, sondern auch eine ­ewaltigeg besondere Sharing-Systeme, lokale Netze oder Herausforderung für die gesamte Netz-Infrastruk- Crowdinvesting-Projekte. Sie können zudem die tur. Denn wenn die Digitalisierung jede Industrie Nutzung bereits bestehender Kapazitäten optimie- erfasst und jeden Lebensbereich durchdringt, be- ren. Angesichts einer fortschreitenden Diversifizie- deutet dies umgekehrt ebenfalls, dass wie bei einem rung von einem zentralen Netz zu einer Vielzahl Stromausfall auch bei einem Internetausfall die gan- von Netzen (siehe Kapitel 6a) werden sektorale und/ ze Wirtschaft und das Leben stillstehen werden. Und oder regionale Investitionen eher durchsetzbar und das bedeutet: Die Netz-Infrastruktur muss massiv refinanzierbar sein. und vorausschauend ausgebaut werden. Je umfassender das Netz unser Leben bestimmt, Die letzte grosse, der Zeit und der Nachfrage voraus desto wichtiger wird die Aufgabe, für alle Beteilig- gelaufene Netz-Infrastruktur-Anstrengung datiert ten Spielregeln festzulegen und deren Einhaltung aus den Jahren um die Jahrtausendwende: der 3G- zu gewährleisten. Je dezentraler jedoch die Inves- Ausbau der Mobilfunknetze, der die technische Ba- titionen und die Infrastrukturen werden, desto sis für das mobile Internet darstellte. Er führte zu anspruchsvoller wird diese Aufgabe. Und je dyna- einem drastischen Überangebot an Daten-Kapazi- mischer sich der Datenverkehr und die Netz- tät, für die es kaum Verwendung gab. Erst das iPho- Infra­strukturen verändern, desto weniger sind die ne schaffte es ab dem Jahr 2007, das mobile Internet zu einem Massenmarkt zu machen – die Rendite für den Netzausbau kassierten nicht die ursprünglichen 14 kickstarter.com Investoren, sondern Apple. 15 indiegogo.com 24 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

bisher weltweit üblichen Regulierungs-Institu­ nology. This is far more effective than relying on tionen, die sich aus den Post- und Fernmeldebehör- external regulatory and legal systems that are of- den heraus entwickelt haben, in der Lage, darauf ten clueless about the technology and unable to angemessen zu reagieren. keep pace with change.»18 Eine dafür geeignete Methode seien nutzerorientierte «Smart Con- Daten, die nicht zirkulieren, verlieren schnell an tracts» mit eingebauten Algorithmen, die dem Wert, darum hilft es wenig, Daten in sicheren Ser- Nutzer eine bessere Kontrolle über seine digitalen vern zu bunkern. «Information wants to be free».16 Werte ermöglichen als Gerichte oder Behörden. Im Zeitalter der Mobilkommunikation müssen Daten frei fliessen und in Echtzeit analysiert wer- Technik, so stellt sich heraus, kann besser durch den können. Das mobile Netz ist dynamisch und Technik reguliert werden als durch Menschen- braucht darum auch Sicherheitsregeln, die dyna- hand. In einem System von sich selbststeuernden misch sind – wie beim Dynamic Pricing (dynami- Fahrzeugen werden die menschlichen Fahrer zum sches Preismanagement) das heute in vielen Bran- grössten Unsicherheitsfaktor. Zurzeit entstehen chen wie der Hotellerie, bei Fluganbietern sowie verschiedene Ansätze und Services für den ver- im Online-Einzelhandel gängige Praxis ist. schlüsselten, nutzerzentrierten Datentransfer nach dem Vorbild der neuen Krypto-Währungen. Um die Datensicherheit zu gewährleisten, braucht So wie Bitcoins anonyme Online-Zahlungen er- es neben Grundregeln, die von einem Staat auch möglichen, sollen in Zukunft ähnliche Krypto- durchgesetzt werden können, vor allem Vertrauen. Mechanismen einen Datenverkehr ermöglichen, Es braucht Vertrauen in ein System, das keiner total der sich quasi selbst steuert (self-encrypted-data) kontrollieren und durchschauen kann. Je komple- und nicht manipuliert werden kann. Open Mus- xer und abstrakter ein System, umso mehr sind wir tard Seed19 und Maidsafe20 sind Beispiele für zu- auf Vertrauen angewiesen. In einer komplexen Ge- verlässige und gesicherte dezentrale Netzwerke, sellschaft wächst der Bedarf an Vertrauen ständig.17 die jedermann nutzen kann.

Vertrauen ist nicht plötzlich da, sondern muss Weiteres Beispiel: Der ETH-Physiker Dirk Hel- aufgebaut, verstärkt, gefestigt und abgesichert bing, Vater des ambitionierten Future ICT Pro- werden – insofern ist eine Netzarchitektur, die die jekts21, hat mit seinem Team eine neue Methode Interaktion zwischen den verschiedenen Nutzern zur Selbststeuerung von Lichtsignalen entwickelt. und dadurch Gemeinschaft und Demokratie för- dert, ebenfalls eine wichtige Bedingung für die Sicherheit.

Daten löschen, vermeiden, einsperren macht in 16 Brand, S. (1985). Whole Earth Review. No. 46, Mai 1985. 17 ­einer mobilen Welt wenig Sinn, es braucht neue dy- Vgl. Luhmann (1968) 18 Clippinger, J. (2013). Let the Data Flow…then Audit. Data Science namische und smarte Lösungen, um den sicheren Summit 2013. Online: idcubed.org/home_page_feature/ let-the- Datenaustausch zu regeln. Der MIT-Computer- data-flow-then-audit/ wissenschaftler John Clippinger schlägt darum 19 idcubed.org vor, Technik zu nutzen, um die Technik zu steu- 20 maidsafe.net ern: «Use technology-based rules to manage tech- 21 futurict.eu GDI Gottlieb Duttweiler Institute 25

Selbststeuerung, weil dem Strassenverkehr kein ter in Chicago. Eine Nierenspende aus altruisti- Steuerungsprinzip aufoktroyiert wird, wie das schen Motiven hat 60 Operationen ausgelöst und normalerweise geschieht. Der Ansatz reagiert fle- 30 Leben gerettet. Dies war nur möglich, weil ein xibel auf lokale Messungen, auf Kurzzeitvoraus­ Algorithmus die passenden Kandidaten aus den sagen. Man kann Fahrzeug-Pulks erkennen und Daten von tausenden potenziellen Nierenspen- nutzt die Lücken zwischen den Pulks. Im Grunde dern und -empfängern und Milliarden Möglich- steuern die Verkehrsströme die Ampeln, die dann keiten ermitteln konnte.23 wiederum die Verkehrsströme steuern – eine Steuerung von unten. Aufgrund des Fortschritts der Bio- und Informa- tionstechnologie verfügen wir heute über so viele Gesundheit Gesundheitsdaten wie nie zuvor – und morgen Viele medizinische Probleme sind heute Informa- über noch viel mehr davon. Sie stammen zum ei- tionsprobleme. Je mehr man über einen Patienten nen aus Genanalysen, die immer schneller und und seine Krankheit weiss, umso besser kann billiger werden; zum anderen erzeugt die zuneh- man ihn behandeln. Die Menge an relevanter mende Nutzung von mobilen Geräten riesige ­Gesundheitsinformation wächst jedoch schneller Mengen von persönlichen Verhaltensdaten. als ein einzelner Spezialist sie verarbeiten kann. Intelligente Technologien wie Watson von IBM22 Während die Erkenntnisse aus Genanalysen be- sollen darum in Zukunft die Experten bei der reits für die Diagnose und Therapie bei verschie- ­Informationsverarbeitung unterstützen, indem sie denen Krankheiten eingesetzt werden, wurde das alles verfügbare Wissen und alle Studien über be- Potenzial persönlicher Gerätedaten für die Ge- stimmte, komplexe Erkrankungen durchforsten sundheit noch kaum genutzt. Doch bereits heute und dem Arzt als Berater und Sparringpartner weiss Google oder der Telco-Provider mehr über zur Verfügung stehen. Die Maschinen müssen die individuellen Gesundheitsrisiken einer Person nicht perfekt/allwissend sein, sie müssen Infor- als deren Hausarzt oder die Versicherung. Durch mationen nur besser als Menschen verarbeiten, die Auswertung von Suchanfragen kann Google um einen Nutzen zu erzeugen. zum Beispiel den Verlauf von Grippe-Epidemien vorhersagen oder kritische Wechselwirkungen Beispiel: Ein Altruist und ein Algorithmus retten zwischen Medikamenten früher als jede Behörde 30 Leben. Im Februar 2011 beschloss ein Mann in erkennen24 – und die Häufigkeit der Aufrufe ein- Los Angeles einem fremden Menschen eine Niere schlägiger Wikipedia-Seiten sollen noch bessere zu spenden. Dadurch wurde eine positive Ketten- reaktion ausgelöst. Die Niere des altruistischen Spenders wurde über Nacht von Los Angeles nach Newark geflogen, wo sie einem Rentner implan- 22 tiert wurde. Die Nichte des Rentners spendete ihre Online: www.ibm.com/smarterplanet/us/en/ibmwatson/ 23 Niere einer Frau in Madison. Der Exfreund der The New York Times (18.02.2012). 60 Lives, 30 Kidneys, All Linked. Online: www.nytimes.com/2012/02/19/health/lives-fo- Frau war dafür bereit, eine Niere einer Sekretärin rever-linked-through-kidney-transplant-chain-124.html?_r=0 in Pittsburgh zu spenden. Der Partner der Sekre- 24 Vgl. White, R. et al. (2012). Web-scale pharmacovigilance: liste- tärin gab eine Niere an einen jungen Vater in San ning to signals from the crowd. Journal of the American Medical Diego. Die Spenderkette endete sechs Monate spä- Informatics Association. Und www.google.org/flutrends/ch/#CH 26 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Prognosen ermöglichen.25 Eric Horvitz, Co-Direk- bricht. Damit verschiebt sich der Fokus der Be- tor der Microsoft Forschung, erwähnte in einem handlung von der Diagnose zur Prognose. Artikel der New York Times eine Software, die die Risiken einer postnatalen Depression mit unheim- Vorerst geht es beim digitalen Gesundheitsmonito- licher Genauigkeit vorhersagen kann, indem sie ring in erster Linie um Kurzfrist-Prognosen: Es auf Twitter die Beiträge von Müttern mit Neugebo- wird bei chronisch Kranken eingesetzt, um mögli- renen analysiert und misst, wie viele Male sie Wör- che Komplikationen vorherzusehen und frühzeitig ter wie «ich», «mir», «mich» verwenden.26 Die zu behandeln. In Zukunft werden für die gesamte Smartphone-App Ginger IO27 wiederum soll bei Bevölkerung Therapie und Prognose immer stärker Menschen mit Diabetes zwei Tage im Voraus sagen verschmelzen (= Theragnostik). Prävention wird können, ob eine Depression ausbricht, indem sie zentral und kann viel gezielter eingesetzt werden. Kommunikations- und Bewegungsmuster aus Der Fokus der Behandlung verschiebt sich dadurch Smartphone-Daten analysiert. allmählich von Pillen auf Apps und Geräte, die den individuellen Gesundheitszustand kontinuierlich In Zukunft werden mobile Geräte noch viel beobachten. Und auch Pillen müssen dann nicht mehr wertvolle Gesundheitsinformationen lie- unbedingt Wirkstoffe enthalten: Sogenannte Smart fern. Die nächste Generation (Google-Brillen, Pills werden künftig mit einem Mikrochip verse- Apple-­Watches) werden wir direkt am und bald hen und eingenommen oder mit einer Spritze inji- auch im Körper tragen. Sie zeichnen alles auf, was ziert. Sie messen unter anderem Körpertemperatur, wir tun, mit wem wir kommunizieren, wie viel wir Puls und Atemfrequenz und können den behan- uns bewegen, was wir essen, wie wir uns fühlen, delnden Arzt oder eine andere Person per SMS in- wie wir schlafen. Die Messung von Vitalwerten wie formieren, wenn das Arzneimittel eingenommen Puls oder Blutdruck gehört bald zur Standardaus- wurde oder sobald kritische Werte auftreten.28 stattung von mobilen Kommunikationsgeräten. Die Auswertung der Kommunikations- und Bewe- gungsmuster einer sehr grossen Zahl von ­Menschen ermöglicht es, auch individuelle Gesundheitsrisi- ken immer besser vorherzusagen. Je mehr Daten 25 zur Verfügung stehen, umso besser werden die Vaccine News Daily (23.04.2014). New model predicts flu trends using Internet traffic on Wikipedia articles. Online: vaccine- Resultate. newsdaily.com/medical_countermeasures/330585-new-model- predicts-flu-trends-using-internet-traffic-on-wikipedia-articles/ Mit der Verdatung des Lebens erhält die Medizin 26 The New York Times (15.04.2014). Tech Leaps, Job Losses and eine neue Grundlage. Bisher gehen die meisten Rising Inequality. Online: www.nytimes.com/2014/04/16/ Menschen erst zum Arzt, wenn gesundheitliche business/economy/tech-leaps-job-losses-and-rising-inequality. Beschwerden auftreten. Der Arzt untersucht den html?_r=0 27 Patienten, erstellt eine Diagnose und baut darauf ginger.io 28 die Therapie auf. Wenn wir nun aufgrund von Der Hersteller »Proteus Digital Health» spricht von einer neu- artigen Strategie zur Verbesserung der Compliance. Vgl. CIO – ­immer besseren Prognosemöglichkeiten unsere IT-Strategie für Manager (22.08.2012). Bessere Compliance als Gesundheitsrisiken früher kennen, setzt die Be- Ziel: Chip in der Pille sendet via App SMS. Online: www.cio.de/ handlung oder besser die Prävention viel früher healthcareit/strategien/2890955/. Und proteus.com. an, idealerweise lange bevor eine Krankheit aus- GDI Gottlieb Duttweiler Institute 27

Wir werden auch lernen müssen, traditionelle Kultur- techniken zu entlernen: das Autofahren, das Schreiben auf der QWERTZ-Tastatur, die Mülltrennung.

Bildung Industriezeitalters; im digitalen Zeitalter ver- Im Zuge der digitalen Revolution wird sich auch schwimmen all diese Kontraste, die Abgrenzun- grundlegend verändern, was, wie und warum wir gen lösen sich auf. Bildung wird in Zukunft wie lernen. Je höher das Tempo des Fortschritts, umso Information immer und überall verfügbar sein, schneller veraltet unser Wissen. Heute wissen wir überwiegend als Freeware, und oft als Spiel­ nur einen kleinen Bruchteil dessen, was wir in 20 mechanismus in alltägliche Konsum- und Ar- Jahren wissen werden. Dies bedeutet, dass der beitsprozesse eingebaut. grösste Teil des Wissens des Jahres 2030 in den kommenden Jahren erst entwickelt/entdeckt wer- Folgende fundamentale Änderungen zeichnen den wird. Also müssen wir mehr und schneller sich ab: lernen – «You need to get better, faster» sagt der > Neue Player wie Youtube und Wikipedia verän- amerikanische Innovationsforscher John Seely dern die Bildung bis 2030 fundamental: Vom Brown.29 Vielleicht müssen wir dabei auch lernen, hierarchischen Vermitteln (Lehrperson + Schü- zu entlernen: das Autofahren, die QWERTZ-Tas- ler) zum Peer- to- Peer oder Social Learning. tatur, die Mülltrennung. Und wir müssen neue > Künstliche Intelligenzen und Roboter unter- Wege finden, um das Lernen zu skalieren. stützen und ersetzen den traditionellen Lehrer. Der Einsatz von Robotern oder E-Learning Sys- Die Revolution des Bildungswesens steht noch temen hängt dabei von der Komplexität der ganz am Anfang. Es braucht Zeit, um jahrtausen- Aufgabe ab – Vokabeln kann ein Roboter prob- dealte Strukturen und Institutionen abzulösen. lemlos beibringen, philosophisches Denken Und der Lernvorgang bleibt trotz neuer Lerntech- eher nicht. nologie aufwändig – mindestens so lange, bis es > Das persönliche Feedback ist nicht länger ein möglich sein wird, Informationen ohne Aufwand Wettbewerbsvorteil für den physischen Unter- direkt in unser Gehirn zu «laden». E-Learning- richt. Automatische und permanente Auswertun- Formate gibt es zwar bereits seit einigen Jahr- gen unserer digitalen Bildungsdaten ermöglichen zehnten, aber seit die Digitalisierung dank ein konstantes und präziseres Feedback, als dies Smartphone, Cloud und Wifi unser ganzes Leben je eine Lehrperson liefern könnte. durchdringt, haben Anzahl und Vielfalt der > E-Learning macht Bildung zumindest prinzi­ ­Informationsvermittlungsformen rasant zuge- piell skalierbar. Dadurch entstehen – zumindest nommen. Trotz gewissen Anlaufschwierigkeiten in Teilsegmenten – sogenannte Winner-Takes- ist das disruptive Potential dieser Entwicklung All-Märkte. Am deutlichsten zeigt dies der ­also schon heute erkennbar. Die traditionelle Vor- ­Erfolg verschiedener MOOCs (Massive Open stellung, wonach Bildung etwas ist, das zu einer Online Courses) von amerikanischen Universi- bestimmten Zeit (vormittags oder abends), an ei- täten, wie beispielsweise die unter dem Namen nem bestimmten Ort (Schule oder Schulungsräu- HarvardX gestarteten Angebote der Harvard me), von einer bestimmten Person (Lehrer oder ­Dozent), mit einer bestimmten Methode (Frontal- oder kooperativer Unterricht) und einem be- stimmten Lernmedium (Schulbuch oder Internet) 29 Big Think (05.09.2013). Scalable Learning. Online: bigthink. passiert, passte möglicherweise in die strikt ar- com/todays-big-idea/12911c8eda906e30352c52433052e14275d beitsteilige und funktionentrennende Epoche des 3b621 28 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Der technische Fortschritt verheisst ein besseres, angenehmeres und längeres Leben und bedroht zugleich praktisch jedes etablierte Geschäftsmodell.

­University.30 Diese MOOCs erschliessen durch- Alten: Grosse Änderungen sind nicht beim Ver- aus ganz neue Kundengruppen, die ansonsten kehr, sondern bei der Mobilität zu erwarten, wie keine Universitätsweiterbildung absolvieren auch Froböse & Kühne (2013) in ihrer Studie und häufig aus Schwellen- oder Entwicklungs- schreiben. Unser Zugang zum eigenen Unterwegs ländern stammen. Dadurch werden sie – vor- sein in Bezug auf Qualität aber auch in Bezug auf erst in Entwicklungs- und Schwellenländern – die Kosten wird sich ändern. die klassischen Universitätsstudiengänge nach und nach ersetzen. Der Fokus liegt dabei auf der Software. Die Vernet- > Eine neue Star-Ökonomie bildet sich nicht nur zung verschiedenster Anbieter – sowohl Infra- im universitären Bereich heraus, sondern auch struktur wie auch Dienstleistungen – erlaubt die im Weiterbildungsmarkt (der immer wichtiger Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und wird, wenn lebenslanges Lernen Pflicht wird). macht den Zugang unkomplizierter, schneller und Eindrücklichstes Beispiel hierfür sind die Ma- flexibler. Nach allen bisherigen Erfahrungen in den thematik-Videos der Khan Academy31, die zei- Mobilitätsbranchen machen höhere Geschwindig- gen, dass auch komplexe Stoffe so unterrichtet keit und höhere Flexibilität das entsprechende Pro- werden können, dass sie verständlicher werden dukt teurer. Mittels intelligenter Softwareinnovation als bei den meisten Lehrern. Hierdurch kann sowie durch den Einsatz von Sharing-Produkten (theoretisch) ein einziger guter Lehrer Millio- wie Uber oder Mitfahrzentralen können die Rei- nen von Schülern in aller Welt beim Lernen senden jedoch Kosten sparen und sich bedürfnis- helfen und damit auch andere, schlechtere An- gerecht, «massgeschneidert» fortbewegen. gebote vom Markt verdrängen – und zwar nicht nur andere Lehrer, sondern vor allem Die Bewegungen sowie auch die Ansprüche der auch andere Medienformate wie das klassische Menschen werden in Zukunft viel individueller Lehrbuch. Ähnlich wie es bisher Klassiker un- sein und genau darauf zielen ein Grossteil der ter den Lehrmitteln gab, wird es in Zukunft Veränderungen, der neuen Konzepte und der Er- auch Klassiker unter den Lehrern geben – nur in findungen. Die Trennung zwischen öffentlichem digitaler Version. Da der Kreis der Zuhörenden und individuellem Verkehr wird immer schwieri- nicht mehr beschränkt ist, gibt es einen starken ger, bis die beiden schlussendlich eins werden. Anreiz für Lehrende, ihre Hörerschaft, ihre Be- Durch die Bandbreite an individuellen Bedürf- kanntheit und damit letztlich auch ihre Vergü- nissen werden sich auch ganz unterschiedliche tung zu erhöhen. Anbieter am Angebot im Rahmen der Reisekette beteiligen. Mobilität Die Verkehrsinfrastruktur kann sich bis 2030 Sollte die Nutzer-Orientierung im Vordergrund nicht grundlegend ändern. Die Änderungen in stehen (im Internet eine häufige Entwicklung), so Bezug auf Hardware – Strassen, Gleise, Züge und müsste der Fokus bei Mobilitäts-Angeboten auf Busse – sind in dieser Zeitspanne aufgrund der langfristigen Planung überschaubar. Ebenfalls werden sich die Bedürfnisse der Kunden nicht komplett ändern – Vorlieben und Einstellungen 30 harvardx.harvard.edu sind beständig. Dennoch bleibt nicht alles beim 31 khanacademy.org GDI Gottlieb Duttweiler Institute 29

der Zusammenarbeit und der Vernetzung der das Netz zu erobern, um eigene Interessen durch- vielen beteiligten Player liegen und nicht auf zusetzen. Dies führt zu einem Strukturwandel im Konkurrenz zwischen den verschiedenen Anbie- Internet, die Macht verschiebt sich und die Spiel- tern – bislang eine der höchsten Hürden auf dem regeln verändern sich. Weg zu integrierter Mobilität. Reisende schätzen die Kontrolle über ihren gewünschten Reiseweg, Heute stellen immer mehr Experten in Frage, ob die Auswahl und die Kombinationsmöglichkei- das Internet in Zukunft noch so funktionieren ten. Die Vernetzung von Velo, Auto, Bus, Zug und kann, wie es seinem Gründungsmythos ent- weiteren ist dabei zentral. Die unterschiedlichen spricht: offen, frei, überall gleich (schnell) zugäng- Verkehrsmittel werden mittels Software stärker lich, basisdemokratisch, ja anarchisch. Viele untereinander und auch mit den Menschen kom- fürchten, dass zunehmende geopolitische Kon- munizieren, um so eine stärkere Flexibilisierung flikte zu einem balkanisierten System und Data- in Bezug auf die Mobilität, das Arbeits- und Pri- Nationalismus führen werden oder, wie es der vatleben zu bringen. Das so entstehende Netz- Google-Chairman Eric Schmidt nennt, zu einem werk aus Hardware, Software und Reisenden wird « Splinternet».32 Sascha Lobo schreibt «Das Inter- immer komplexer. net ist kaputt»33, andere Experten prognostizieren ein Zerbrechen des Internets in spezialisierte Nach und nach wird jede Branche und jeder Le- Netzwerke, die sich politisch, wirtschaftlich und bensbereich von der Digitalisierung erfasst technisch bekämpfen. werden – von Produktion bis Dienstleistung, von Bildung bis Gesundheit. Der technische Technik ist weder gut noch böse; noch ist sie neu- Fortschritt verheisst ein besseres, angeneh­ tral, wie es im ersten der von Melvin Kranzberg meres und längeres Leben und bedroht zugleich vor 20 Jahren beschriebenen Gesetze heisst.34 Die praktisch jedes etablierte Geschäftsmodell. Da- Vernetzung beschleunigt soziale Prozesse und raus entstehende Gefahren werden durch Verbot verstärkt sowohl positive wie negative Nebenwir- und Verzicht allenfalls zeitlich verschoben – kungen. Die Vernetzung der Menschen hat die ­zukunftsweisender sind Ansätze, Technologie Revolution auf dem Tahrir-Platz in Kairo ermög- durch Technologie zu kontrollieren. licht, aber genauso erlaubt sie auch Terroristen- netzwerken, sich besser zu organisieren. Der Weisheit der Masse mit Wikipedia als heraus­ b) Eine neue technische ragendem Beispiel steht die Dummheit der Masse Weltordnung gegenüber, die mit Cyber-Mobbing Jugendliche in den Selbstmord treibt oder per Kickstarter- In den letzten Jahrzehnten ist das Internet ge- wachsen, ohne dass die Regierungen dieser Welt massgeblich eingegriffen hätten. Doch das enor- 32 me Wachstum, die Ausbreitung und Verdichtung Vgl. u.a. Schmidt, E. & Cohen J. (2013). 33 Frankfurter Allgemeine (12.01.2014). «Das Internet ist nicht der Netze schafft zunehmend Reibung. Mit der das, wofür ich es gehalten habe». Online: www.faz.net/aktuell/ Grösse und Allgegenwart des Internets nehmen feuilleton/medien/sascha-lobo-das-internet-ist-nicht-das-wo- auch die Konflikte und die Verteilkämpfe zu. Vie- fuer-ich-es-gehalten-habe-12747989.html le Wirtschafts- und Staatsmächte versuchen nun 34 Kranzberg, M. (1986) 30 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Crowdfunding 50'000 US-Dollar für banalen Kar- 1995 waren die Hauptverbindungen zwischen toffelsalat zahlt. diesen Netzwerken in den Händen der amerika- nischen National Science Foundation – weil die Die aktuellen Entwicklungen bestätigen auch das Verbindungen ursprünglich ausschliesslich US- vierte Kranzbergsche Gesetz: «Auch wenn Tech- Rechenzentren vernetzten. Damals hatten die Be- nik ein Hauptelement in vielen öffentlichen Fragen treiber dieses Netzes vollständigen Einblick in die sein mag, bestimmen nichttechnische Faktoren gesamte Infrastruktur; sie wussten, welche Router die politischen Entscheidungen.» Die Diskussion und Verbindungskabel die Daten weiterleiteten um das Internet wurde lange von Technik-Visio- und wo Schwachstellen entstanden. Je länger je nären angeführt, nun kommt die Politik zurück. mehr traten weitere, teils private und kommerzielle­ Spätestens seit Edward Snowdens Enthüllungen ist Netzbetreiber in den Markt ein. Dies erforderte klar: Staaten und Konzerne kämpfen im und mit ­eine Struktur, welche den weltweiten Datenverkehr dem Internet um die Durchsetzung ihrer Interes- sicherstellt und die Interessen und Geheimnisse sen. Das freie Internet wird zunehmend zur Illu­ der Netzbetreiber schützt. Heute ist das Internet ein sion, der Machtkampf zur wirtschaftlichen und komplexer Zusammenschluss aus kommerziellen, politischen Realität. voneinander abgeschirmten Netzwerken, welche jeweils für einen Teil der gesamten Infrastruktur Wenn Angela Merkel ein europäisches Internet verantwortlich sind. fordert35, auf das US-Geheimdienste keinen Zu- griff haben, ist dann kein Sündenfall, sondern nur Dadurch liegt inzwischen die Struktur des Inter- eines von vielen Beispielen für die Tendenz zum nets tatsächlich im Verborgenen. Und das gilt nicht Daten-Nationalismus, wie Daniel Castro von der nur für die Hardware der Netze, sondern auch für Information Technology and Innovation Founda- die Algorithmen, mit denen sie arbeiten. Rein tech- tion das Phänomen bezeichnet.36 Andere Staaten, nisch kann niemand das Internet heute noch über- die bereits spezielle Regulierungen zur Data-Relo- schauen – weder Google, Facebook oder Amazon, kalisierung erlassen haben sind u.a.: Australien, noch die NSA oder die grössten Netzbetreiber. Frankreich, Südkorea, Indien, Malaysia, Vietnam. Wenn ein Überblick gelingt, dann nur bis ans Ende Diese geschieht nicht nur aus Sicherheitsgründen, der eigenen Infrastruktur. Alles Weitere gleicht ei- Schutz vor Spionage, sondern auch, um die eigene ner Blackbox – oder ist das Geheimnis der Konkur- Wirtschaft und kleinere Industrien gegenüber den renten und Geschäftspartner, welche sich nur übermächtigen, meist amerikanischen, Gross­ ­ungern in die Karten schauen lassen. Es entstehen unternehmen zu schützen. fortwährend neue Kabel, alte werden gekappt und stillgelegt. Wie anfällig das Internet für technische Wer regiert das Internet? Pannen oder Hackangriffe ist, ob die digitalen Daten Je mehr Daten gesammelt und je öfter datenge- steuert entschieden wird, umso wichtiger wird 35 Die Bundeskanzlerin (15.02.2014). Merkel: Neue Projekte mit auch die Frage, wer die Kontrolle über die Daten Frankreich. Online: www.bundeskanzlerin.de/Webs/BKin/ hat. Das wiederum wird von der technischen DE/Mediathek/mediathek_node.html?id=845888 Struktur des Internets bestimmt: ein Zusammen- 36 Castro, D. (2013). The False Promise of Data Nationalism. The schluss aus unterschiedlichen Netzwerken. Bis Information Technology & Innovation Foundation. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 31 Wie ist das I nternet organisiert?

Haushalte, Endnutzer und Firmen wickeln ihre Aktivitäten im In- ternet über den Internet Service Provider (ISP) ab und sind dadurch mit dem Internet Backbone ISP verbunden. ISP Lokal

Google (USA)

Die Autonomen Systeme (hier exemplarisch 5) sind mittels dem Inter- Swisscom (CH) net Backbone unterei- nander verbunden und stellen so ein globales What's App (USA) Netz dar. AT&T (USA) Facebook (USA)

Internationale, teilweise staatliche Organisati- onen, NGOs, Privatun- Richtlinien und Standards ternehmen, Netzwerke oder Interessenge- meinschaften versu- Offene Debatte chen gemeinsam durch offene Debatten Richt- linien und Standards Multi Stakeholder zu definieren.

Quelle: GDI (2014)

frei fliessen oder an gewissen Stellen kein Austausch Autonome Systeme – die feudalistische Netz- stattfindet, bleibt Gegenstand der Forschung.37 Struktur Im Kampf um die Macht im Internet ist die kleins- Trotz der dezentralen physischen Geographie und te betrachtete Einheit nicht das einzelne Endgerät der verschiedenen Institutionen, die die Infra- (Smartphone, Tablet, PC etc.). Es ist auch nicht der struktur verwalten, gibt es zentrale Kontrollpunk- lokale Internet Service Provider (ISP), über den te. Einige sind virtuell, einige sind physisch wir unsere Internet-Aktionen abwickeln, der uns (Hardware), einige sind virtuell zentralisiert und mit dem Internet Backbone verbindet, um so ein physikalisch verteilt. Sie werden aber erkannt als globales Netz zu stellen. Die kleinste Einheit, die zentrale/kritische Kontrollpunkte über die Inter- net-Infrastruktur oder die Content Mediation/ Verteilung des Inhalts. 37 Hirstein, A. (2014) 32 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

dabei betrachtet wird, sind die autonomen Syste- Geräte, über welche wir ebenfalls nicht die volle me (AS): Netzeinheiten, die unter einer jeweils Kontrolle haben: iPhones, iPads, Android Pho- einheitlichen administrativen Kontrolle stehen. nes, ChromeBooks usw. Im Unterschied zu Das Internet ist heute eine Ansammlung solcher ­herkömmlichen Betriebssystemen sind diese Ge- AS, die vorwiegend von privaten Unternehmen räte viel stärker vom jeweiligen Anbieter kontrol- betrieben werden, einschliesslich grosser Telecom- liert – sie kontrollieren, welche Software genutzt Anbieter und Internet-Konzerne. Diese autono- werden kann, wozu die Geräte fähig sind oder wie men Systeme unterscheiden sich stark in ihrer Art, sie upgedatet werden. der Grösse und somit auch in der Rolle, die sie für den gesamten Datenfluss spielen. Die kleinsten AS Die meisten Nutzer schätzen die Convenience, die sind regionale ISPs sowie Firmennetzwerke. Da- Redundanz, die Übertragbarkeit, den reibungslo- nach folgen nationale ISPs wie Swisscom. An der sen Übergang vom einen zum anderen Gerät und Spitze stehen weltweit tätige Netzbetreiber wie die Simultanbenutzbarkeit von Geräten, welche AT&T und Level3 oder Content-Provider wie durch den Anbieter gelenkt werden. Wir mögen Face­book und Google (vgl. Abbildung S.31).38 Cloud Back-Ups und automatisierte Updates. Es ist uns nur allzu recht, dass wir von überall zu je- Je grösser die Datenbasis ist, auf welche ein auto- derzeit und jedem Gerät auf unsere Daten zugrei- nomes System Zugriff hat, desto grösser dessen fen können und uns nicht selbst mit Sicherheitsbe- Macht. Die im Netz kursierenden Informationen denken herumschlagen müssen; wir verlassen uns werden mittels Algorithmen analysiert, gebündelt zunehmend auf die Angebote der Unternehmen und vermarktet. Je mehr Daten gesammelt werden und geben die Kontrolle über unsere Daten ab. und je besser die Rechenleistungen sind, desto bessere Angebote sind dabei möglich – und somit Insbesondere kommerzielle Internetunternehmen mehr Verdienst. Die Fähigkeit, Daten zu sammeln haben aufgrund ihrer Grösse und dem direkten und zu berechnen, hat das Entstehen von Unter- Kontakt zum Endnutzer eine enorme Reichweite. nehmen ermöglicht, die eine Macht haben, die Durch das Design der direkten Schnittstelle zu teilweise über die Macht von Nationalstaaten den Nutzern mittels Browsern, Betriebssystemen, geht.39 Google dominiert bereits heute einen we- Anwendungsprogrammen oder Website Design, sentlichen Bereich der Wirtschaft, nicht nur im können diese AS entscheiden, wie die Informatio- klassischen E-Commerce. Mit Google, Apple, IBM und Microsoft sind die ersten vier Plätze der Liste der weltweit wertvollsten Marken von IT- 38 Vgl. Hirstein, A. (2014). Und Internet Corporation for Assigned Konzernen besetzt.40 Names and Numbers (06.02.2014). Who runs the Internet. Online: www.icann.org/en/system/files/files/governance-06feb13-en.pdf Der enorme Einfluss einiger autonomer Systeme 39 Vgl. CNBC (05.02.2014). After 3 years, Google clinches EU anti- wird durch zwei Strömungen zusätzlich ver- trust deal. Online: www.cnbc.com/id/101391618. Und Tagesan- stärkt. Der Anstieg von Cloud-Computing führt zeiger (21.03.2014). Google wirft China Blockade vor. Online: www.tagesanzeiger.ch/digital/internet/Google-wirft-China- dazu, dass wir die Kontrolle über unsere Daten, Blockade-vor/story/24842388?track über Mails, Fotos, Kalender, Adressbücher, zu- 40 Millward Brown (2014). BRANDZ - Top 100 most valuab- nehmend an AS abgeben. Zudem geschieht un- le global brands 2014. Online: www.millwardbrown.com/ ser Zugang zu diesen Daten zunehmend über brandz/2014/Top100/Docs/2014_BrandZ_Top100_Chart.pdf GDI Gottlieb Duttweiler Institute 33

nen aufgebaut und geliefert werden (was wir sehen, Wie das Beispiel Netflix – ein Internet Streaming finden und in welcher Reihenfolge) und damit das Dienst, welcher bis zu 30 Prozent des Download- Verhalten der Nutzer beeinflussen. Mit zuneh- Volumens in den USA verantwortet43 – zeigt, hat mender Datenbasis, wird diese Macht immer die Grösse der verschiedenen Akteure ganz kon- weiter ausgebaut. krete Auswirkungen auf ihr Einflusspotenzial: Netflix hat sich in den USA in Einzelverträgen mit Bruce Schneier, Experte für Kryptographie und Providern wie Comcast und Verizon bessere Da- Computersicherheit, vergleicht dieses System mit tenleitungen und den direkten Anschluss an de- dem Feudalismus aus dem Mittelalter. Internet- ren Netz gesichert.44 Daraufhin wurden Stimmen nutzer verpflichten sich gegenüber leistungsfähi- laut, welche die Gleichbehandlung aller Daten – gen Unternehmen zur Treue – zur Gefolgschaft.­ die Netzneutralität – gefährdet sehen. Die Unternehmen wiederum befreien­ die Nutzer von Pflichten der Systemadministration und Die Verbindungskabel werden herkömmlicher- schützen sie vor Sicherheitsgefahren. Die Macht weise von Internetprovidern zur Verfügung ge- konzentriert sich dabei in den Händen weniger, stellt. Je länger je mehr investieren aber auch welche in ihrem Eigeninteresse willkürliche Ent- Content Provider wie Google oder Facebook in scheide treffen und mit Absicht oder auch zufäl- Kabel, um ihr Netzwerk zu kontrollieren.45 Einer- lig die sozialen Normen verändern.41 seits können sie so sichern, dass ihr Datenverkehr genügend schnell zu den Kunden gelangt und nicht Backbones – die Klassengesellschaft im Internet durch allfällige Breitbandengpässe verlangsamt Die Kontrolle der Daten hängt nicht nur von den wird. Andererseits können so die Daten kontrol- autonomen Systemen ab, sondern auch von den liert und das Risiko verkleinert werden, dass die Verbindungen zwischen ihnen. Geht es darum, zwei AS zu verbinden, regeln das, je nach Verhält- nis der Datenvolumina zwei verschiedene Ver- tragsarten. Senden die AS ungefähr gleich viele 41 Vgl. Schneier (2012). Und The Atlantic (24.10.2013). The Batt- Daten zum anderen wie von dort hereinkommen, le for Power on the Internet. Online: www.theatlantic.com/ so schliessen sie sogenannte Peering-Verträge ab: technology/archive/2013/10/the-battle-for-power-on-the-inter- Unternehmen X darf die Verbindungen von Un- net/280824/ 42 The Washington Post (19.02.2014). The Comcast/Time Warner ternehmen Y nutzen und umgekehrt. Bei stark deal isn't about competition. It's about power. Online: www. unterschiedlichen Grössenverhältnissen werden washingtonpost.com/blogs/the-switch/wp/2014/02/19/the- hingegen Transit-Verträge geschlossen: Der klei- comcasttime-warner-deal-isnt-about-competition-its-about- nere Transaktionspartner zahlt für den Datenaus- power/ tausch mit dem grösseren. 43 Mashable (12.11.2013). Report: Netflix and YouTube Account for Half of Internet's Traffic. Online: mashable.com/2013/11/12/ Um Daten von jedem beliebigen Punkt A zu je- internet-traffic-downstream/ 44 Neue Zürcher Zeitung (23.06.2014). Nur Netflix sorgt für Stau dem beliebigen Punkt B transferieren zu können, an Datenknoten. Online: www.nzz.ch/mehr/digital/netflix-pee- müssen in der Regel mehrere AS beteiligt sein und ring-david-clark-mit-studie-traffic-netzneutralitaet-1.18328483 sich über die Route einigen. Die Grösse ist auch 45 The Wall Street Journal (16.12.2013). Tech Firms Push to hierbei von inhärentem Vorteil: Grössere Akteure Control Web's Pipes. Online: online.wsj.com/news/articles/SB haben bei den Verhandlungen bessere Karten.42 10001424052702304173704579262361885883936 34 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft Globale Übersicht der Tiefseekabel

Quelle: Telegeography 201446

Daten in fremde Hände gelangen – die Abhän- Die Gründe für diese Kontrollbegehren reichen gigkeit von externen Netzwerkbetreibern nimmt von der Überwachung und Suche nach möglichen ab. Dem gegenüber öffnen aber auchTelcos, ­ wel- Terroristen bis hin zur kompletten Überwachung che herkömmlicherweise auf die Netzinfra- und Kontrolle aller Bürger. Wie viel Sicherheit nö- struktur fokussieren, ihre Geschäftsmodelle und tig ist und wie viel Freiheit möglich, ist eine zent- investieren vermehrt in Software, Webanwen- rale Frage hierbei. dungen oder Cloud Services. Content Provider wie auch Infrastrukturbetreiber konvergieren Wie viel Eingriff der Staat in unsere Daten hat, also zunehmend. hängt stark von den jeweils landesspezifischen Re- gelungen ab. Regierungen stehen mehrere Möglich- Regierungen – der Leviathan im Internet keiten offen, wie sie in den Lauf des Internets ein- Aufgrund der Entstehungsgeschichte des Inter- greifen können: Blockieren von Zugängen zum nets finden auch heute noch viele Datenströme Internet Service Provider, Daten-Überwachung, ihren Weg über die USA. In Europa tauchen die Entfernung von Inhalten oder Zugangsverwei­ Überseekabel in England aus dem Atlantik auf. gerung bei Webseiten. Je nach nationaler Gesetzes- Sowohl der britische als auch der US-Geheim- lage unterscheiden sich das Ausmass und die Art dienst haben diesen privilegierten Zugang ausgie- big genutzt – wenn nicht gar missbraucht. Im Kampf um die Kontrolle der Daten spielen diese internationalen Datenströme eine zentrale Rolle auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. 46 submarinecablemap.com, Stand 15.09.2014 GDI Gottlieb Duttweiler Institute 35

Staatliche Zensurierungsmöglichkeiten im Internet

Gesetzliche Blockierung des Regelung oder direkte Zugangs und ISP Kontrolle Überwachung der Daten

Gesetzliche Hosting- Regierung Regelung oder Unternehmen Nutzer informelle Forderung

Verweigerung des Services

Anforderung von Entfernung von Benutzerdaten und Inhalt und Websites Aufforderung zur Verweigerung des Inhaltsentfernung Zugangs

Quelle: GDI (2014), nach evenyou.me47

des Eingriffs entscheidend.48 Global tätige Unter- einzuschränken, sondern kann auch die Profit- nehmen unterstehen dem Recht des Staates, in wel- Interessen der rund um das Internet aktiven chem der Hauptsitz angesiedelt ist. Facebook mit Unter­nehmen begrenzen. Damit ist ein Konflikt Hauptsitz in den USA unterliegt somit auch für vorstellbar, bei dem sich Wirtschaft und Politik Schweizer Nutzer der amerikanischen und nicht um die Macht über das Netz streiten. Insbesondere der Schweizer Gesetzgebung. Amerikanische Fir- wenn Regierungen sich dabei über die nationale men, welche Daten ausserhalb der USA speichern, Ebene hinaus zusammenschliessen, kann die Poli- müssen diese dennoch auf Gerichtsbeschluss der tik diesen Machtkampf sogar für sich entscheiden. USA offen legen. Betroffene Unternehmen sehen Allerdings steht dem die geringe Beweglichkeit dies als Bedrohung insbesondere für das Geschäft staatlicher Gremien entgegen, die durch den ho- mit Cloud-Computing. Regierungen wiederum hen Grad an Bürokratie und Regulierungen nur setzen vermehrt auf Staatstrojaner, um auch Daten, sehr langsam agieren können. welche nicht der nationalen Regulierung unterlie- gen – beispielsweise Telefongespräche über Skype Dezentrale Gruppierungen – die Netz-Rebellen mit Sitz in Luxemburg – abhören zu können. Während es das Internet zu Beginn ermö­glichte, herkömmliche Autoritäten zu umgehen und die Die geopolitische Bedeutung des Internets nimmt zu und beschränkt sich nicht nur auf defensive Massnahmen (vgl. Seite 50). Die nationale Regu- lierungs-Ebene ist dabei potenziell nicht nur in 47 archive.evanyou.me/censorship der Lage, Freiheit und Privatsphäre der Bürger 48 Hirstein, A. (2014) 36 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

breite Masse ermächtigte, so haben heute Gross- Methoden nutzt; und warum Whistleblower, Ak- unternehmen und Regierungen enormen Einfluss tivisten jeglicher Couleur und Gruppierungen wie auf das Internet. Technologie bringt Macht – für Anonymous als soziale und politische Bewegung die Kleinen wie auch die Grossen. Jedoch unter- Einfluss haben und halten können.49 scheidet sich die Adaptionsrate. Die Kleinen – ­unorganisierte, dezentrale, kleine Gruppen, Dissi- Aber er erklärt auch, warum dieser Einfluss nicht denten, Hacker oder Kriminelle – können neue immer weiter wachsen kann: Weil die Imperien Technologien viel schneller nutzen. Sie werden zurückschlagen. Die Innovationsraten der Tech- nicht durch Bürokratie oder ­Gesetze gehindert, giganten wie Google, Apple, Facebook und Co. sind kreativ und hoch motiviert, und können sich sind trotz ihrer enormen Grösse sehr hoch. Die aus diesen Gründen schneller ­entwickeln. Unternehmen agieren innovationsgetrieben und bewahren eine gewisse Start-up-Mentalität. Zu- Die grösseren Player hingegen nutzen ihre durch sätzlich übernehmen sie kleine, innovative Ak- technologische Mittel vergrösserte Macht zwar teure, um von deren Vorsprung zu profitieren. später, dafür dann umso effektiver. Syrische Dis- Google verzeichnete von Januar bis August 2014 sidenten verwendeten Facebook, um sich zu or- bereits 27 Unternehmensfusionen und -käufe, ganisieren – und die syrische Regierung nutzte Apple 7, Facebook 7 und Twitter deren 4. Dadurch Facebook später, um genau diese Dissidenten zu können diese Unternehmen den Vorteil der Ge- identifizieren und zu verhaften. schwindigkeit mit dem Vorteil der Grösse verbin- den. Im Gegensatz zu aktivistischen ­Gruppierungen Diesen zeitlichen Vorsprung der kleinen, dezent- erreichen sie grosse Bevölkerungsgruppen und ralen Gruppen nennt Bruce Schreier «Security können die Ideen nachhaltig vorantreiben. Durch Gap», oft wird er auch «Innovation Gap» genannt. den hohen Grad an Innovation sowie die verfüg­ Je mehr Technologie vorhanden ist und je schnel- baren Ressourcen spielen diese Akteure an vor- ler die Entwicklung vonstattengeht – je mehr In- derster Front mit und sind überdies attraktive novationen möglich sind – desto grösser wird Arbeitgeber für junge, intelligente und innovati- diese Lücke. Desto mehr Zeit haben also kleine, ve ­Menschen weltweit, was die jeweilige Vor- dezentrale Gruppen, um neue technische Mög- machtstellung ­sichert und vorantreibt. lichkeiten auszunutzen – zum Guten wie auch zum Bösen – bevor die grossen institutionali­ Das Multi-Stakeholder-Modell – die Internet- sierten Player nachziehen und ihre Vorteile aus- Zivilgesellschaft spielen können. Da mit vielen Innovationen Geteilte Prinzipien, Normen, Regeln, Entschei- ­Neuland betreten wird, fehlen in der Zeit des dungsprozesse und Programme, welche die Ent- Inno­vation Gaps Regulierungen. Die Innovatoren­ wicklung und den Gebrauch des Internets regeln, befinden sich in einem rechtlichen Graubereich, sind fundamental für das Funktionieren des In- bis institutionalisierte Player nachziehen und Re- gulierungen möglich sind.

Dieser Security oder Innovation Gap erklärt, war- 49 The Atlantic (24.10.2013). The Battle for Power on the Internet. um Cyberkriminalität heute noch allgegenwärtig Online: www.theatlantic.com/technology/archive/2013/10/the- ist, obwohl auch die Polizei immer intelligentere battle-for-power-on-the-internet/280824/ GDI Gottlieb Duttweiler Institute 37

Bis heute gibt es keine gemeinsame Auffassung davon, wie die zukünftige internationale Regierung des Internets gehandhabt werden soll.

ternets. Standards ermöglichen die Kompatibili- Das Multi-Stakeholder-Modell vereint viele politisch tät der verschiedenen Systeme im Internet, indem und wirtschaftlich stark divergierende Interessen. sie Protokolle, Formate, Schemata und Sprachen Aber durch seinen demokratischen Aufbau fehlt es festlegen. An dieser Regel- und Standardsetzung an Geschwindigkeit, um eine zentrale Position im beteiligt sind mehrere internationale, teilweise Machtkampf um das Internet einzunehmen. Die staatliche Organisationen, NGOs, Privatunter- auseinanderlaufenden Interessen der unterschiedli- nehmen, Netzwerke oder Interessensverbände. chen Stakeholder machen die Diskussionen um neue Zugrunde liegt das «Multi-Stakeholder-Modell», Organisationsformen, Richtlinien und Standards welches Wert auf eine möglichst breite Beteili- träge und langwierig. Realpolitische­ Konflikte gung von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ­übertragen sich auf diese­ Gremien und Diskussi- legt. Mittels Debatten, wie 2014 an der Net­ onsinhalte, was eine gemeinsame Entschei- Mundial in Brasilien50, sollen Konsense gefunden dungsfindung zusätzlich erschwert. Aus diesem werden, die mit dem Entwicklungstempo des Grund dürften das­Multi- ­Stakeholder-Modell Netzes Schritt halten. und entsprechende ­Gruppierungen in mittelfris- tiger Zukunft keine entscheidende Rolle bei der Die Steuerung des Internets ist im Umbruch. Vor Regierungsbildung für das Internet spielen. dem Hintergrund der stark mit den USA ver- bundenen Anfänge des Internets sind immer Vielmehr werden es Player sein, welche trotz noch einige zentrale Gremien amerikanisch do- kritischer Grösse schnell agieren und auf die of- miniert, die sich um die technischen Grundla- fenen Fragen Antworten liefern können. Der gen des Systems kümmern: IETF, IAB W3C Markt funktioniert nur mit Vertrauen. Wem die usw.51 Insbesondere die Internet-Adressverwal- Internetnutzer ihr Vertrauen schenken, wird tung ICANN, welche unter kalifornischem Recht steht, führte immer wieder zu hitzigen Debatten. Im März 2014 hat die US-Regierung angekün- digt, die Kontrolle der ICANN aufzugeben um die Internetverwaltung in Zukunft international 50 Die NetMundial ist ein globales Multi-Stakeholder-Meeting zu gestalten.52 und fokussiert auf die Frage nach der zukünftigen «Internet Governance». Online: netmundial.br 51 IETF: Engineering Task Force. Entwickelt und fördert zahlrei- Der Ruf nach einer international regulierten che Standards insbesondere in Bezug auf die Internetprotokoll- Macht, die in der Lage ist, die Freiheit zu schützen familie. www.ietf.org und gegen Partikularinteressen zu verteidigen, IAB: Internet Architecture Board. Beaufsichtigt technische Ent- wird lauter. Eine solche Ordnungsmacht soll auch wicklungen u.a. des IETF. www.iab.org in Zukunft ein freies Netz ermöglichen, welches W3C: World Wide Web Consortium. Erstellt Standards für ohne zentrale Macht in kleine Fürstentümer zu das World Wide Web mit dem Ziel einer Open-Web Plattform. zerfallen droht, die Barrieren errichten und ein- www.w3.org. zelne Akteure privilegieren. Doch bis heute gibt es Weitere Informationen unter Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (06.02.2014). Who runs the Internet. Online: keine gemeinsame Auffassung davon, wie die zu- www.icann.org/en/system/files/files/governance-06feb13-en.pdf künftige internationale Regierung des Internets 52 Berkman Center for Internet and Society (24.03.2014). US with- gehandhabt werden soll. draws from ICANN: Why it's no big deal. Online: cyber.law.har- vard.edu/node/9083 38 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Algorithmen werden eine Art digitaler Schutzengel, der auf uns aufpasst. Das ist hilfreich und bequem, macht uns aber auch manipulierbar.

entscheidend sein und ist momentan noch alles man die Mehrheit der Netz-Bevölkerung als «Pro- andere als klar. Vertraut man lieber der eigenen grammierte» sehen, die immer mehr fremd­ Intuition oder der höheren Intelligenz der Big gesteuert werden, während eine Minderheit von Data Companies? Oder der kollektiven Intelli- «Programmierern» durch die neue Technologie genz von ganz neuen unabhängigen persönli- mehr Autonomie gewinnen. Oftmals sind es eini- chen Cloud-Diensten? Dieser Entscheid wird ge wenige Personen, welche für die Vernetzung von den Nutzern gefällt. der gesamten Community verantwortlich sind.54 Während diese Personen für einige Vermittler Endnutzer – der Souverän des Internets sind, so können sie für andere Personen genauso Das Internet hat grossen Einfluss auf moderne gut Gatekeeper und Informationsregulatoren sein. Gruppendynamik und Organisation. Menschen, welche vorher nicht miteinander vernetzt waren, Soziale Effekte liegen immer hinter den technolo- haben heute Zugriff auf Instrumente, welche gischen Veränderungen zurück. Technischer ­ihnen erlauben, gemeinsam Dinge zu tun, ohne Fortschritt sowie ökonomische Krisen sind zwei auf herkömmliche Organisationsstrukturen der wichtigsten Kräfte beim Aufbau neuer sozialer ­zurückzugreifen. Dadurch erfahren die Konsu- Strukturen. Aus diesem Grund ist heute noch un- menten eine Ermächtigung. Gruppenbildung, Zu- klar, in welche Richtung sich die Nutzung dieser sammenarbeit und die gemeinsame Schaffung neuen Möglichkeiten entwickeln wird. von Aktivitäten ist heute einfacher als je zuvor und eröffnet dem einzelnen Nutzer ein grösseres Algorithmen – der Macht-Joker im Netz Spektrum an Möglichkeiten: Unbezahlte Freiwil- Wir werden immer mehr vorhergesagt und vor- lige gründen Wikipedia; ungerecht behandelte hergedacht. Das Auto, der Kühlschrank, die Hei- Kunden tun sich zusammen, um mit den jeweili- zung denken in Zukunft für uns (voraus) und der gen Airlines oder Banken abzurechnen; Bürger Supermarkt wird uns Waren liefern, bevor wir protestieren gemeinsam gegen ein unterdrücken- wissen, dass wir sie wollen.55 Algorithmen neh- des Regime.53 men uns immer öfter das Suchen, Denken und Entscheiden ab. Sie analysieren die Datenspuren, Dieses vergrösserte Möglichkeitsspektrum führt die wir erzeugen, entschlüsseln Verhaltensmuster, zu höherer Selbstständigkeit und -bestimmung. messen Stimmungen und leiten daraus ab, was gut Durch das wachsende Angebot an Produkten und (Internet-)services übersteigt das Angebot die Nachfrage, was dazu führt, dass die Zufrie- denheit der Konsumenten ausschlaggebend für 53 vgl. Shirky (2008). den Erfolg von Unternehmen ist. Die Nutzer be- 54 Malcolm Gladwell nennt diese Personen «Connectors». Vgl. stimmen somit den Erfolg eines Produktes oder Gladwell (2000). 55 Services. Durch verbesserte Algorithmen will Amazon in Zukunft vorher- sehen, was wir bestellen und die Bestellung schon losschicken, bevor wir den Einkauf getätigt haben (Predictive Delivery). Web-basierte soziale Tools fördern Offenheit, The Wall Street Journal (17.01.2014). Amazon Wants to Ship Transparenz und Dezentralisierung. Sie eröffnen Your Package Before You Buy It. Online: blogs.wsj.com/di- aber auch Möglichkeiten für die Manipulation der gits/2014/01/17/amazon-wants-to-ship-your-package-before- Nutzer. In Anlehnung an Douglas Rushkoff kann you-buy-it/ GDI Gottlieb Duttweiler Institute 39

für uns ist und was nicht. Algorithmen werden ei- bestimmen. Dabei wurde analysiert, wie sich ein ne Art digitaler Schutzengel, der uns durch den unter Beschuss stehender Pilot voraussichtlich Alltag leitet und aufpasst, dass wir nicht vom gu- verhalten wird. ten Weg abkommen. Das ist hilfreich und be- quem, macht uns aber auch manipulierbar, wie Im Kern geht es darum, aus dem Verhalten in der das umstrittene Facebook-Emotion-Experiment Vergangenheit das Verhalten der Zukunft zu be- deutlich zeigt56: Um die Ausbreitung von Emotio- rechnen (für technische und soziale Systeme). Da- nen in Netzwerken zu erforschen, hatte Facebook für braucht man die richtigen und auch genügend die Nutzereinträge von hunderttausenden Mit- Daten – im Zeitalter von ein lösbares gliedern vorgefiltert. Die Studie zeigte, dass Men- Problem. Die Politik baut heute immer öfter auf schen, die mehr positive Nachrichten sahen, eher diese Logik auf, unter anderem in der Sicher- dazu neigten, auch selbst Einträge mit positivem heits-, Gesundheits- und Verkehrspolitik. Kriti- Inhalt zu veröffentlichen und umgekehrt. sche Ereignisse sollen frühzeitig erkannt und durch gezielte Eingriffe verhindert werden. Was auf Mikroebene das Leben erleichtert, eröff- net auf Makroebene ungeahnte Perspektiven für Zum Beispiel: Mit Predictive Policing sollen die Steuerung von sozialen Systemen (die sich Straftaten verhindert werden bevor sie geschehen. mit herkömmlichen Instrumenten, Geboten und Der Landeskriminaldirektor des Ministeriums Verboten, immer weniger kontrollieren lassen). für Inneres von Nordrhein-Westfalen erklärt, wie Staats- und Unternehmensführer erhalten neue Einbruchsdelikte dank einer besseren Datenaus- Werkzeuge, «Sozioskope» (soziale Teleskope), wertung in Zukunft schon im Vorfeld verhin- mit denen das menschliche Zusammenleben dert werden können. «Stellen wir in einem Ort erstmals in seiner ganzen Komplexität erfasst das gleichzeitige Aufkommen ausländischer werden kann.57 Durch die neue Technologie wer- Transportfahrzeuge und die Verwendung eben- de es möglich, die Gesellschaft gleichsam mit so ausländischer Telefonkarten fest, und das in dem Auge Gottes zu betrachten, schreibt der regionalen Bereichen, die sich für mobile Ein- MIT-Professor Sandy Pentland in seinem Buch bruchstäter aufgrund ihrer Lage, etwa in Grenz- «Social Physics». Das präzisere Abbild eines sozi- alen Systems soll in der Folge auch eine schnellere präzisere Steuerung und Kontrolle der Gesell- 56 Zeit Online (29.06.2014). Facebook manipulierte für Studie Nach- 58 schaft ermöglichen. richtenstrom. Online: www.zeit.de/digital/internet/2014-06/face- book-nutzer-manipulation-studie Die Idee, die Gesellschaft über Algorithmen zu 57 Pentland (2014) steuern ist nicht neu. Die Kybernetik ist die Wis- 58 Ein Forschungsteam um ETH-Professor Dirk Helbing möchte senschaft von der Steuerung von komplexen Sys- mit dem Projekt FuturICT politische und wirtschaftliche Kri- temen. Sie geht zurück auf die Forschungen des sen vorausberechnen und letztlich vermeiden. Beispielsweise amerikanischen Mathematikers Norbert Wiener, Finanzkrisen, Kriege, Hungersnöte, Völkerwanderungen und dergleichen mehr. Dieser Echtzeit-Weltsimulator soll von Daten der seine Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit aus dem Internet, aus Twitter und aus Archiven aller Art ge- Flugabwehrgeschützen im 2. Weltkrieg gewonnen füttert werden. Mittels Computer-Simulation soll er am Schluss hat. Mit einem mathematischen Modell wurde Lösungen zuhanden von Entscheidungsträgern ausspucken. versucht, die Flugbahn von Flugzeugen vorherzu- Online: www.futurict.eu 40 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

nähe oder Nähe der Autobahn, besonders eignen, Potenzial für die Erforschung unseres Alltags. sollte man aufmerksam werden.»59 Auch im Gesundheitswesen werden Datenspen- den getestet: Am Unispital Lausanne werden seit Wenn die Informationsmenge zu gross ist, um Anfang 2013 alle stationären Patienten gefragt, ob sich selbst durchzuarbeiten und die Zusammen- sie ihre Gesundheitsdaten wie Blut- und Gewebe- hänge zu komplex, um sie zu durchschauen – was proben der Bio-Bank des Spitals spenden möchten. in einer vernetzten Welt der Normalfall ist – brau- «Nur 14 Prozent der Patienten haben die Verwen- chen wir die Unterstützung von Algorithmen/ dung ihrer Daten abgelehnt», sagt Vincent Moo- künstlicher Intelligenz. Weil die Algorithmen für ser, Vize-Dekan der CHUV-Forschung. Denkbar die meisten Menschen eine Blackbox sind und sind auch Wiki-Algorithmen – also künstliche bleiben, wird es wichtiger, diese Steuerungsinst- ­Intelligenzen, die kollektiv entwickelt und verändert rumente zu kennen. Es muss transparent sein, wer werden können. und welche Interessen hinter einem Algorithmus stehen: So wie ich die Herkunft des Huhns kennen Wer verdient am Internet? möchte, das ich esse, möchte ich in Zukunft wis- sen, wer einen Algorithmus kontrolliert, der für Zugang zum Internet gilt heute vielen Bürgern ge- mich entscheidet. radezu als Menschenrecht und Grundvorausset- zung für Chancengleichheit. Wir haben gelernt zu Je abstrakter die Mechanismen werden, die uns glauben, dass in Netzwerken alle mit allen kom- steuern, umso wichtiger wird das Vertrauen oder munizieren und sie darum per se demokratisch umgekehrt das Misstrauen in die höheren techni- sind und die Verteilung der Macht fördern. Und schen Intelligenzen. Transparenz, Open Data und wir haben gelernt, dass eine der grossen Open Source werden für die Vertrauensbildung Verheissungen­ (und Drohungen) des Internets ist, zentral. Nur wenn Datensätze offen zugänglich dass es die Zwischenhändler, die Makler, die Ver- sind, kann ein Markt für Algorithmen entstehen mittler aus dem Rennen wirft: Cutting out the und kann die Leistungsfähigkeit von Algorith- Middlemen, die direkte Verbindung zwischen Pro- men getestet und miteinander verglichen werden. duzent und Konsument, Autor und Leser, Sucher So wie wir heute den Informationen in Wikipedia und Gesuchtem. Ohne Überbau, ohne Wasserkopf, mehr trauen, als den Informationen, die auf Un- mit voller Transparenz. ternehmenswebsites stehen, werden wir in Zu- kunft unabhängigen Algorithmen mehr trauen, Und manchmal ist das ja auch tatsächlich so: Im die auf Open Source und Open Data basieren. Internet kann jeder sein E-Book selbst publizie- ren, kann schreiben und verkaufen, was er will, Je stärker sich Daten als Wirtschaftsgut etablie- ohne Verlag, ohne Vertreter, ohne Buchhändler, ren, desto näher rücken offene Datenbibliotheken und die gesamten Erlöse selbst einstreichen. Theo- oder auch Datengenossenschaften, die das Beste für die Allgemeinheit herausholen wollen. Twitter beispielsweise spendete 2010 sein komplettes Ar- 59 Golem.de (04.07.2014). Polizei will Straftaten mit Predictive chiv der öffentlichen Tweets an die Library of Con- Policing verhindern. Online: www.golem.de/news/data-mi- gress. Die Milliarden von Kurznachrichten sind ning-polizei-will-straftaten-mit-predictive-policing-verhin- ein echter Datenschatz mit aussergewöhnlichem dern-1407-107638.html GDI Gottlieb Duttweiler Institute 41

So wie ich die Herkunft des Huhns kennen möchte, das ich esse, möchte ich in Zukunft wissen, wer einen ­Algorithmus kontrolliert, der für mich entscheidet.

retisch. Praktisch entscheiden sich die meisten relativen Position (nicht ihrer Leistung) im Netz- Online-Autoren für Verkaufsplattformen wie werk einen unverhältnismässig hohen Gewinn Ebay oder Amazon, die wiederum einen Teil des erzielen. Erlöses für sich reklamieren. Die alten Zwischen- händler der klassischen Buchbranche mögen alle Das Internet wird dominiert von wenigen gro- aus dem Rennen geworfen sein – aber neue treten ssen Hubs: Google, Facebook, Amazon, Youtube, an ihre Stelle. Twitter, Apple. Keiner dieser Hubs produziert selbst Inhalt, ihre Einnahmen basieren auf dem Eine MIT-Studie von César Hidalgo zeigt, wie Vertrieb von Inhalten, die andere erzeugt haben. sehr die Macht- und Einkommensposition dieser Das Modell Hidalgos zeigt, dass solche Hubs be- neuen Zwischenhändler von der Grösse des Netz- ziehungsweise Middlemen immer dann einen werks abhängt. Hubs/Superknoten können allein besonders hohen Anteil der gesamten Einkom- aufgrund ihrer relativen Position im Netz unver- men erzielen, wenn die Mitglieder des Netzwerks hältnismässig hohe Gewinne abschöpfen. Um dies nicht allzu intensiv miteinander verbunden sind. zu belegen, teilten die Forscher die Social Media Die Faustregel (siehe folgende Abbildung): Wo je- Welt in zwei Gruppen auf: Content-Creators der mit jedem verbunden ist, geht der gesamte Er- («Rockstars»), die den Inhalt produzieren und lös an den Content-Produzenten, wo man nur mit Content Curators («Middlemen»), die den Inhalt einer verschwindend geringen Zahl der Mitglie- zugänglich machen beziehungsweise vertreiben. der verbunden ist, geht fast der gesamte Erlös an Die Forscher wollten herausfinden, bei welcher die Middlemen. Der Übergang von Meritokratie Grössenordnung eine meritokratische Gesell- zu Autokratie liegt dort, wo die Zahl der Verbin- schaft, die Menschen primär aufgrund ihrer Leis- dungen der Wurzel aus der Zahl der Mitglieder tung entlöhnt, in eine autokratische Gesellschaft entspricht. Wenn also in einem Social Network kippt, in welcher die Mittelsmänner rein aufgrund mit einer Million Menschen jede Person mit 1000 ihrer relativen Position im Netz mehr verdienen anderen verbunden ist, ist die Schwelle der Meri- als die Inhalteproduzenten.60 tokratie erreicht. In grösseren Systemen mit vielen hundert Millionen Mitgliedern sind demnach Relativ kleine Systeme, in denen sich die Men- Hubs automatisch im Vorteil und Inhaltsprodu- schen persönlich kennen, wie zum Beispiel in zenten automatisch im Nachteil. ­Arbeitsgruppen, sind in der Regel eher meritokra- tisch, die einzelnen Mitglieder der Gruppe werden Das ist nicht per se negativ, Mega-Hubs können gemäss ihrer Leistung entlöhnt. Wenn das Netz sehr nützlich und effizient sein. Auch wenn das wächst, wächst die Bedeutung von Hubs/Knoten, digitale Ökosystem von Megahubs dominiert die die Information verwalten und verteilen. wird, können daneben kleine meritokratische Wenn eine Buchhandlung 5000 Titel im Sorti- Netze bestehen. Hidalgo zitiert Etsy, eine Ver- ment hat, kann eine gute Buchhändlerin dem kaufsplattform für Selbstgemachtes, sowie den Kunden helfen das richtige Buch zu finden. Wenn Wohnungsvermittler Airbnb als Beispiele für das Sortiment 50’000 oder 5 Millionen Titel um- fasst, braucht es eine Suchmaschine und ein auto- matisches Empfehlungssystem. Und diese Daten- Hubs können allein aufgrund ihrer Grösse und 60 Borondo, Borondo, Rodriguez-Sickert & Hidalgo (2014) 42 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft Middlemen und R ockstars

10 0 %

Mittelsmänner Rockstars g rtra E t m

5 0 % Topokratie Meritokratie m Gesa nteil a A

0 % 1 N 1/2 N

Durchschnittliche Konnektivität

Quelle: Borondo et al. (2014)

meritokratische Netze, da dort die Nutzer direkt Zahl, nämlich 2N – N – 1, steigt bei grossen Mit- die Qualität der Produzenten erleben und bewer- gliederzahlen exponentiell an, und lässt die Zahl ten können (und nicht Algorithmen wie bei der möglichen Verbindungen in einem Netzwerk, Google). Zudem verweist er auf Bitcoin als Bei- nämlich (N(N – 1))/2, weit hinter sich. spiel für ein dezentralisiertes Peer-to-Peer-Mo- dell, das den Verdienst der Produzenten fördert Dieses Gesetz, das häufig als Beleg für den «Netz- und die Erlöse der Mittelsmänner wie Master- werkeffekt» herangezogen wird, belegt eben gera- card, Visa oder Paypal begrenzt. de nicht, dass besonders grosse Netzwerke beson- ders hohen Nutzen bringen. Es belegt vielmehr So wichtig, mächtig und ertragreich Netzwerk- den grossen Nutzen einer grossen Zahl möglicher grösse also sein kann, sie findet ihre Grenzen, Untergruppen. Innerhalb dieser Untergruppen wenn innerhalb des Netzwerks neue Unternetze wiederum sind die Verbindungen der Mitglieder entstehen. Die theoretische Begründung dafür intensiver als im Gesamtnetz, Rockstars haben bietet das Reedsche Gesetz.61 Nach dieser Behaup- tung des Internet-Pioniers David P. Reed wird die Nützlichkeit eines Netzwerks (mit N Mitgliedern) stark davon bestimmt, wie viele mögliche Unter- 61 Reed, D.P. (2003). Weapon of Math Destruction. Context Maga- gruppen darin gebildet werden können. Diese zine. Februar 2003. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 43 Reed’s Law – die K raft der U ntergruppen

Sarnoff Metcalfe Reed V=n V=n2 V=2n

Quelle: Assini (2005)62

­also entsprechend höhere Erlösanteile, Middlemen den Kontakten der Menschen Geld gemacht wer- entsprechend kleinere. den könnte. Doch das Internet hat diese Versuche immer wieder abgewehrt. Und das wird es weiter- Netzwerke, die flexible Verbindungen ermöglichen, hin tun. Unsere digitalen Netzwerke sind auf sozi- mit beliebig grosser und kleiner Mitgliederzahl der ale Verbindungen und menschliche Kontakte aus- Untergruppen und ohne dominante Zentralkraft, gerichtet. Jeder Versuch, diese Verbindungen neu können von Reed’s Law profitieren, weil sie für In- zu definieren oder für Profitzwecke zu missbrau- halteproduzenten auch bei grossem Volumen at- chen, gefährdet die Integrität des Netzwerks und traktiv bleiben. Netzwerke, die umgekehrt versu- den wahren Nutzen menschlicher Kontakte. Jeder chen, den Erlösanteil der Zentrale zu maximieren, kommerzielle Social-Networking-Anbieter – egal, laufen Gefahr, für die Rockstars unattraktiv zu wie beständig er auch scheint – wird am Ende den werden. Douglas Rushkoff erkennt hier insbeson- Weg seiner Vorgänger gehen.»63 dere bei sozialen Medien ein Muster: Wer zu gierig wird, geht unter: «AOL, Geocities, Friendster, Or- kut, Myspace und Facebook haben es geschafft, so- 62 Assini, P. (2005). Principles and Patterns of Social Knowledge ziale Energie an einem einzigen, zentralen Ort zu Applications. Online: ska.quicquid.org bündeln, wo sie zu Geld gemacht werden kann. 63 Rushkoff, D. (2011). Verkaufe deine Freunde nicht. GDI Impuls Viele nachfolgende Investoren glaubten, dass aus 01/2011. 44 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Das Internet stellt immer häufiger und drän- gender die Machtfrage – gibt aber noch keine Antwort darauf. Die Grosskonzerne der On- line-Welt scheinen zwar derzeit am besten posi- tioniert, um den Löwenanteil an Einfluss und Erlösen abzuschöpfen; ihre Vormachtstellung wird ihnen aber sowohl von oben (Staaten, inter­nationale Institutionen) als auch von unten (Nutzer, Rebellen) streitig gemacht. Kleinere Netzwerke mit intensiveren Verbindungen kön- nen sich eine dauerhafte ökologische Nische ­neben oder innerhalb der grossen Hubs sichern. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 45 46 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Die Zukunft der Vernetzung

a) Internet und andere Netze und man kann ihnen kaum widerstehen (wie den Sirenen in der griechischen Mythologie, die See- In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Welt durch fahrer durch Gesang unwiderstehlich anzogen das Internet wirtschaftlich und technisch zusam- und ins Verderben lockten). Die Anziehungskraft mengewachsen. Nun zeichnet sich eine Trend- der Megahubs besteht aus Dienstleistungen, die wende ab: Das Internet wächst weiter, aber es das Leben leichter machen. Aufgrund ihrer Grö- wächst auseinander. An die Stelle des offenen, sse können sie Menschen nahtloser, zuverlässiger überall gleichen Internets treten unterschiedliche und besser umsorgen als kleinere Dienste und ste- (konkurrierende und kooperierende) Netzwerke hen ihnen als smarte Assistenten jederzeit und mit unterschiedlichen Technologien, Visionen, überall mit Rat und Tat zur Seite. Die künstlichen Regulierungen und unterschiedlicher politischer Intelligenzen auf den künftigen Smartphones ma- und wirtschaftlicher Stärke/Schlagkraft. chen ihren Job so gut, dass viele Menschen ihnen mehr vertrauen und sie mehr lieben werden als Folgende Ausprägungen zeichnen sich ab: ihre Partner, Familie und Freunde. Es geht dabei nicht nur um Trost für einsame Herzen wie im Megahubs: Dies ist das Internet, wie wir es ken- Film «Her», die Liebesbeziehung zwischen nen. Hier herrschen Google und die NSA, die Mensch und Maschine ist subtiler und geht weiter, globale Marktwirtschaft und die Sicherheitspoli- wie dies der amerikanische Schriftsteller Jonathan tik der Grossmächte, hier dominieren die grossen Franzen sehr treffend analysiert hat: «Die Technik Player. Es geht um Standardisierung, Shopping, hat ein extremes Geschick darin bewiesen, Pro- Socializing und Unterhaltung, um Geld, Markt- dukte zu entwickeln, die unserem fantasierten anteile und Macht. Freiheit ist vor allem Mittel Ideal einer erotischen Beziehung entsprechen, in zum Konsum. der das Objekt des Begehrens nichts nimmt und sofort alles gibt und keine fürchterlichen Szenen Auch wenn es das Internet ist, wie wir es kennen – macht, wenn man es durch ein noch begehrens- es ist nicht mehr «das» Internet. Es ist ein Spielfeld werteres Objekt ersetzt und der Schublade über- für Riesen. Bruce Sterling, ein bekannter Science- antwortet.»64 Fiction-Autor und Internetpionier empfiehlt, nicht mehr über «das Internet» zu sprechen, sondern zu Big Mother: Um den Sirenen zu widerstehen, ver- analysieren, was Google, Apple, Facebook, Ama- stopfte Odysseus seinen Gefährten die Ohren mit zon und Microsoft tun. Diese fünf grossen, vertikal Wachs, und liess sich selbst an den Mast fesseln, organisierten Silos verändern die Welt nach ihren um auch ja nicht in Versuchung zu geraten, ihren eigenen Vorstellungen. Gesängen zu folgen. Einen ähnlichen Service der fürsorglichen Freiheitsbeschränkung wird es Supercomputer mit enormer Rechnerleistung, die auch im Netz geben, und zwar dort, wo grund­ alle anderen Rechner im Netzwerk übertreffen, legendes Misstrauen gegenüber den Megahubs bilden die Basis für die wachsende Dominanz von wenigen grossen Playern. Jaron Lanier, ein be- kannter Internetpionier und heute -kritiker, nennt 64 Die Welt (02.07.2011). Schmerz bringt dich nicht um. Online: sie die «Sirenenserver»: Sie ziehen einen Grossteil www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article13463367/ der im Netz kursierenden Informationen an sich Schmerz-bringt-Dich-nicht-um.html GDI Gottlieb Duttweiler Institute 47

besteht. Aktuelle Beispiele für diese Variante sind freien und friedlichen Netzgemeinschaft. Eine per Russland und China. Das fürsorgliche Internet Internet organisierte Basisdemokratie, in der per- wacht über die Bürger und Konsumenten und manent alle Bürger in Echtzeit an der Entschei- sorgt mit kleinen Nudges dafür, dass alle bekom- dungsfindung teilnehmen, würden Parteien und men, was für sie am besten ist. Wer sich korrekt Parlamente ersetzen. Als technische Basis dienen verhält, kann sich in diesen Netzen frei bewegen sogenannte Mesh-Netzwerke, die Computer und wird unterstützt. Frei nach dem Motto: «Wer drahtlos und direkt mit anderen Geräten verbin- nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu be- den, ohne dass die Daten durch zentrale Daten- fürchten.» Das Leben ist total transparent, soziale knoten wie Telefongesellschaften laufen müssen. Kontrolle erzeugt korrektes Verhalten. «Wir wer- den endlich gezwungen, bessere Menschen zu Mithilfe von WLAN-Routern und Funkanten- sein,» sagt die total transparente Heldin in Dave nen können Menschen ihre Geräte verbinden Eggers' Roman «The Circle». Big Data, Predictive und damit ihre eigenen, unabhängigen, lokalen Analytics und Behavioral Economics schaffen Parallel-Internets einrichten. Ein Beispiel dafür die Basis für eine Art perfektionierte Planwirt- ist Freifunk.net. Freifunk steht für freie selbst- schaft, in der nur noch nach Mass produziert verwaltete Datennetze, sie sind öffentlich zu- wird, Häuser selbst denken und ihren Energiebe- gänglich, nicht kommerziell, unzensiert und im darf reduzieren, der Verkehr sich selbst steuert Besitz der Gemeinschaft der Nutzer. Auch wenn und Verbrechen aufgedeckt werden, bevor sie der Betrieb von Freifunknetzen einfacher und passieren, E-Mails automatisch beantwortet wer- billiger wird, bleibt die Nutzung im Vergleich den oder gelöscht, wenn der Inhalt negative Fol- zum offiziellen Netz aber relativ kompliziert und gen für den Absender oder Empfänger haben die Verbindungen unsicherer und langsamer als könnte. Das Big-Mother-Netz schränkt die Frei- im offiziellen Netz. heit ein auf Konsumvorlieben, bietet dafür aber Sicherheit und Planbarkeit. Darknet: Seit Jahrzehnten existiert abseits des kommerzialisierten und überwachten Internets ei- Totale Kontrolle: Der Übergang von Regulie- ne verschlüsselte Parallelgesellschaft. Dort können rung zur Repression ist fliessend. Autoritäre Re- Nutzer anonym kommunizieren, Informationen, gime isolieren das nationale Internet und nutzen Waren und Geld austauschen. Ein herkömmlicher es zur Verbreitung von Propaganda, zur Mani- Internetbrowser kann die verschlüsselten Seiten pulation und Überwachung der Bürger und im Darknet nicht anzeigen, dazu sind spezielle Unter­drückung der Opposition. Programme nötig, das bekannteste ist wohl der Tor-Browser. Das Darknet ist so konstruiert, dass Aktuelle Beispiele für dieses Big Brother Szenario die Nutzung möglichst nicht nachweisbar ist. Es ist sind: Iran, Syrien oder das türkische Verbot von frei, anonym, nicht zensierbar gleichzeitig aber Twitter. auch unzuverlässiger und nicht rechtssicher.

Parallelnetze: Das Internet der Idealisten/Utopis- Das Darknet ist ein Teil des Deep Web. Damit ten orientiert sich an der romantischen Urvision wird der Teil des Internets bezeichnet, der von einer vollkommen unregulierten, basisdemokra- Suchmaschinen wie Google nicht gefunden wer- tischen, selbstverwalteten, nicht-kommerziellen, den kann. Man kann sich das Internet wie einen 48 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Wir sind auf dem Weg in eine Welt, die unseren Eltern magisch vorgekommen wäre – und die Dinge möglich macht, die noch vor kurzem als physikalisch unmöglich galten.

Eisberg vorstellen: Der grösste Teil ist unter Was- Um das Internet zu befreien, soll es auch technisch ser und wird von Suchmaschinen nicht gefunden. auf eine neue Basis gestellt werden. Zurzeit entste- Die Datenmenge im Deep Web wird als 400- bis hen weltweit verschiedene Initiativen, die das Inter- 500-mal so gross angenommen wie im Oberflä- net «neu erfinden» wollen. Das schottische Start-up chen-Web, dem allgemein zugänglichen Teil des Maidsafe hat sich zum Beispiel zur Aufgabe ge- Internets. macht, das Internet total zu dezentralisieren und alle Server überflüssig zu machen. An deren Stelle Das freie Internet – das neue Ideal: Im freien In- soll dabei ein P2P-Netzwerk aller Nutzer treten. Je- ternet ist Freiheit der «Default Mode», Grundein- der Maidsafe-Teilnehmer stellt einen Teil seines stellung und Grundrecht und kann von keiner Festplattenspeichers für das System bereit. Daten höheren Autorität eingeschränkt werden. Die werden im System in verschlüsselte Einzelteile zer- Freiheit und die Selbstbestimmung des Individu- hackt und über verschiedene Verbindungen trans- ums haben Priorität. portiert, auf verschiedenen Rechnern gespeichert. Dadurch soll echte Anonymität gewährleistet wer- Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide den und sich das System auch nicht überwachen, Web hat eine digitale Magna Charta erstellt, um kontrollieren und zensieren lassen. Geschwindig- die Unabhängigkeit des Internets und die Rechte keit- und Kapazitätsprobleme sollen bei Maidsafe der Benutzer auf der ganzen Welt zu gewährleis- nicht auftreten, weil sich das System mit wachsen- ten. Er fordert eine weltweite Verfassung für das der Zahl der Teilnehmer entsprechend skaliert. Ad- Internet. «The web we want» ist eine Initiative, die ministratoren gibt es bei Maidsafe nicht. Das dazu aufruft, in jedem Land eine digitale Verfas- ­System soll sich in nahezu Echtzeit automatisch sung auf die Beine zu stellen. Es geht darum, das einrichten und konfigurieren, also selbst verwalten. Internet und Big Data zum Vorteil der Gesell- schaft zu nutzen und die Vorherrschaft von wirt- Bitcoin ist ein weiteres Beispiel dafür, dass ein schaftlichen oder staatlichen Grossmächten zu Netzwerk ohne Zentralisierung und auch ohne verhindern. «Freedom of Speech», freie Mei- das Vertrauen zwischen den Mitgliedern funktio- nungsäusserung und Schutz der Privatsphäre sind nieren kann. Mit Bitcoins könnten auch Knoten Rechte, die garantiert und verteidigt werden müs- in einem freien Internet finanziell belohnt und so sen. Dafür braucht es Institutionen, Politik und zentralisierte Dienste wie YouTube, Dropbox, Staaten(-bünde). Face­book, Spotify durch dezentralisierte Open- Source-Alternativen ersetzt werden. In einem freien Internet wäre jeder Mensch der Ei- gentümer seiner Daten. Jaron Lanier hat zum Bei- Das autonome Swarm-Net: Wenn das Internet spiel ein Modell entworfen, in dem jede Person der Dinge das «Next Big Thing» ist, sollten wir Nanozahlungen erhält in dem Ausmass in dem aus den Gedanken zumindest zulassen, dass die ihren Daten Wert geschöpft wird. Diese Nanozah- «Things» dann auch ihr eigenes Internet haben. lungen würden sich summieren und die Grund­ Die Maschinen und selbstlernende Software wer- lage bilden für einen neuen Gesellschaftsvertrag, den so intelligent, dass sie quasi autonom werden. bei dem die Menschen für ihre substanziellen Bei- Telekommunikation findet in Zukunft nicht mehr träge zur Informationsökonomie bezahlt würden. in fixen Endgeräten, sondern in Netzen statt, die Data-Rappen als Entgelt für den Datenfussabdruck. ein Eigenleben führen. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 49

Die Maschinen werden über die Menschen hin- innerung zu Hilfe nehmen zu können, sondern auswachsen und es wird nicht mehr so wichtig, multimediale Verläufe - Private Big Data, wie man wie wir Maschinen sehen, die entscheidende Fra- sich durch den Alltag bewegt hat, wem man be- ge wird, wie Maschinen uns sehen. Wohin entwi- gegnet ist, alles eingebettet in die zugehörigen ckelt sich eine Welt, in der der Mensch nicht mehr Umgebungen, durch die man sich, wie in den das Mass aller Dinge ist? ­Panoramen von Google Street View, nach Belie- ben bewegen kann. Was Datenschützer unter dem b) Das magische Netz Begriff «Profil» zusammenfassen, nämlich die Spuren unserer Person und unseres Lebens in der An die Stelle des PCs tritt eine beinahe magisch digitalen Welt, bleibt dank der technischen vernetzte Welt der interaktiven Dinge. Frühere ­Entwicklung in immer detaillierteren Verläufen Kulturen glaubten daran, dass Sachen belebt sein verfügbar. Da diese Datenspuren den gesamten können, bei kleinen Kindern ist dieses magische Zeitstrom in immer höherer Auflösung nachvoll- Denken ebenfalls zu beobachten. Für sie kann ein ziehbar machen, wird eine Art der Rückschau Stuhl oder ein Tisch lebendig sein, sie beziehen denkbar, die einer Zeitreise ähnelt. Der Kriminal- Gegenstände in ihre Spiele mit ein und sprechen schriftsteller Thomas Hillenbrand («Drohnenland») mit ihnen. Bald schon werden die Dinge in unse- ahnt bereits: « Wo waren Sie gestern Abend - dieser rem Alltag elektronisch tatsächlich belebt und ge- Krimiklassiker funktioniert in der totalüberwachten ben Antwort, wenn man sie anspricht. Zukunft nicht mehr.»

Wir sind also auf dem Weg in eine Welt, die noch Auch die Welt der Wunder, traditionell den Reli- unseren Eltern magisch vorgekommen wäre – gionen vorbehalten, wird durch das Netz erobert und die sogar Dinge möglich macht, die noch vor werden. Jaron Lanier beschreibt in seinem Buch kurzem als physikalisch unmöglich galten. Ein «Wem gehört die Zukunft», wie die Menschen mit Beispiel hierfür ist die Telekinese: Das Bewegen den Vögeln reden können, so wie man es sonst physischer Objekte durch reine Gedankenkraft ist nur Franziskus von Assisi zuschreibt: ein Standard-Trick von Magiern und Illusion­isten, so sehr ein Standard, dass jeder im Publikum «Eine Möwe mit einer neuronalen Schnittstelle weiss, dass es sich nur um einen Trick handeln hockt vor dir und scheint mit dir zu sprechen. Sie kann. Inzwischen ist Telekinese nicht nur tech- sagt dir, dass es dich vielleicht interessieren wird, nisch möglich, sondern wird bereits betrieben. dass Nanoroboter gerade deine Herzklappe repa- Mittels Messung der Gehirntätigkeit lassen sich riert haben (wer hätte gedacht, dass du es mit dem einfache Gedanken-Impulse wie «Ja» und «Nein» Herz hast?), der Sponsor dafür sei das Kasino voneinander unterscheiden – woraus sich Befehle oben an der Strasse, das diese Vogelnachricht und erstellen lassen, die Objekte überall in der Welt be- auch die automatische Herz-OP durch Google fi- wegen können. nanziere – oder was für ein Unternehmen es auch immer sein mag, das in Zukunft diese Art Ver- Eine andere dieser physischen Unmöglichkeiten, mittlungsdienste anbiete.» die demnächst möglich werden, ist die Zeitreise. Denn wer heute aufwächst, hat die Chance, später Die biblische «Speisung der Fünftausend» mit nicht nur Bilder oder Filme seines Lebens zur Er- niemals endendem Brot und Fisch wurde in der 50 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

In der digitalen Revolution entsteht aus von Menschen geschaffener Technik in der Vernetzung etwas ganz und gar Unmaschinelles: ein Ökosystem.

Science-Fiction gerne aufgenommen, zum Bei- wacht werden. Wir wissen, dass die Datenspuren, spiel im «Replikator» der Fernsehserie «Star die wir hinterlassen, von vielen verschiedenen Trek». Bis die 3D-Drucker in der Lage sind, aus Stellen gelesen, verfolgt und manipuliert werden Software und Rohstoffen (fast) jedes Produkt auf können. Kommando herzustellen, wird es zwar noch eini- ge Jahre dauern, aber der Weg ist bereits vorge- Experten sehen das Netz aus verschiedenen zeichnet. Das Netz wird sich dann in etwas ver- Richtungen bedroht. Repressive staatliche Kont- wandeln, das früher in Kinderbüchern Zauberei rollversuche können zu einer weiteren Zunahme hiess. Man wünscht sich etwas, hebt die Hand von Sperrungen, Filterung, Segmentierung und oder die Stimme – und der Wunsch geht in Erfül- Balkanisierung des Internet führen. Fortwäh- lung. Vielleicht braucht man ihn dann auch nur rende Enthüllungen über exzessive Über­ noch zu denken. wachungsmassnahmen sowohl von staatlicher als auch privatwirtschaftlicher Seite – und deren Genau dafür spielt der Erfahrungsschatz, den wir drohende Zunahme – könnten einen drastischen Mythen, Märchen, Romanen und Science-Fiction- Vertrauensschwund nach sich ziehen. Druck Filmen verdanken, eine zentrale Rolle. Denn er und Lobbyismus von Grossunternehmen auf bildet den Rahmen, in dem wir uns das vermeint- ­digitale Lebensgrundlagen, von der Internet-­ lich Unmögliche vorstellen können. Einen Zau- Architektur bis zum individuellen Informations- berspiegel kennen wir schon von Schneewittchen, fluss, gefährden die offene Struktur des Internets also würde ein Mechanismus, der uns morgens im und das unerlässliche Gefühl der Souveränität Badezimmer auf den neuesten Stand der Dinge im Umgang damit. bringt, vom Konsumenten am ehesten akzeptiert, wenn er im Spiegel eingebaut würde – Wasch­ Zudem werden die Grenzen neuartiger Bedrohun- becken, Duschvorhang oder Handtuchhalter hät- gen durch das Netz immer schwerer erkennbar. ten keine Chance dagegen. Er würde auch von den Was, wenn chinesische Agenten von Internet-Ca- Ingenieuren viel lieber als ein Zauberspiegel ent- fés in den USA aus über russische Server einen wickelt, und von Investoren viel lieber finanziert. ­digitalen Angriff auf das amerikanische Stromnetz Der Stoff, aus dem die Märchen sind, wird also die starten? Unausgesprochen zwischen den wie von Entwicklungsrichtung ins Magische massgeblich Schachmeistern durchdachten Optionen neuge- bestimmen. gründeter nationaler Cyber-Kommandos steht ­eine gefährliche Illusion – ein «friedlicher Krieg». c) Das Killer-Netz Wer die kritischen Systeme des Gegners unter sei- ne Kontrolle bringen kann, ohne sie erst zerstören Die Überwachungs-Szenarien sind spätestens seit zu müssen, könne das, was einen «herkömmli- Edward Snowden zum Allgemeingut geworden. chen» Krieg ausmacht, womöglich vermeiden. Snowden hat Dinge ans Licht gebracht, die das Das Internet spielt nun auch eine geopolitische Vertrauen in elektronische Kommunikation und Rolle. Und es geht längst nicht mehr nur um die Integrität des Internets grundlegend erschüt- defensive­ Massnahmen. tern. der Unschuld in der digitalen Welt ist vorbei – einer Welt, die auf algorithmischen Dass es sich dabei tatsächlich um eine neue Di- Berechnungen basiert. Wir wissen, dass wir über- mension des Risikos handelt, wird uns erst lang- GDI Gottlieb Duttweiler Institute 51

sam bewusst. Denn je weiter das Netz in unseren denen an ein Atomkraftwerk: Es muss für alle Alltag und in unseren Körper hineinreicht, desto Eventualitäten gewappnet sein – egal was passiert, verletzlicher sind wir, wenn es auf einmal ver- ihm darf nichts passieren. schwindet. Noch wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen, wenn die Vernetzung im Wort- Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, sinn überlebensnotwendig geworden ist. dass die Technik uns nichts tut. Die «Roboter­ gesetze», von Isaac Asimov 1942 formuliert, Am Beispiel Elektrizität lässt sich diese neue Di- machten das noch unmissverständlich klar: «Ein mension deutlich machen: Strom ist wichtig, ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen Stromausfall allerdings ist kurzfristig eher lästig oder durch Untätigkeit gestatten, dass einem als gefährlich – es sei denn dort, wo er über­ menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird.» lebensnotwendige Maschinen betreibt, wie Brut- Aber spätestens, wenn die selbstfahrenden Autos kästen, Herz-Lungen-Maschinen oder AKW- sich ausbreiten, kann dieses Gesetz nicht mehr Kontrollanlagen. Überall dort, wo solche Risiken aufrechterhalten werden. Es gibt Situationen im bestehen, werden deshalb Notstrom-Aggregate Strassenverkehr, in denen jedes Handeln eine vorgehalten, um bei einem Stromausfall in Sekun- Schädigung von Menschen zur Folge hat – und denschnelle den Weiterbetrieb der Geräte zu si- der Algorithmus des Google-Cars bestimmt chern. Das Internet ist zwar ursprünglich speziell dann, wer am Leben bleiben darf. Selbst wenn der dafür konzipiert worden, dass es auch im automatisierte Strassenverkehr die Mobilität im schlimmsten Fall nicht völlig zerstört werden Allgemeinen sicherer macht, kann sich ein Unbe- kann. Aber Hacker-Angriffe, DDoS-Attacken hagen darüber ausbreiten, wie die Macht der und Viren-Epidemien führen immer wieder zu Technik uns gefährdet. Ausfällen. Und überall dort, wo uns das Netz in einem Masse nützlich ist, dass sein Ausfall mehr d) Das digitale Ökosystem als nur lästig sein würde, sollte es nicht nur Prä- ventionsmassnahmen, sondern auch Sicherheits- In der industriellen Revolution haben die Gesetze netze für Notfälle geben. der Maschinen unserer Welt ihren Stempel aufge- drückt. Die (vom Menschen geschaffene) Technik Noch weitergehende Vorsichtsmassnahmen wer- gab ihm ihren eigenen Takt vor. In der digitalen den insbesondere dort gefordert sein, wo die Tech- Revolution entsteht aus wiederum von Menschen nik direkt mit unserem Körper verbunden ist. geschaffener Technik in der Vernetzung etwas Wenn über das Netz beispielsweise Nano-Cont- ganz und gar Unmaschinelles: ein Ökosystem. roller in unserem Körper gesteuert werden, die Körperfunktionen überwachen und auftauchende Die Vorstellung des einen, allumfassenden globa- Störungen frühzeitig beheben – müssen wir hun- len Netzes, die wir mit dem Internet verbinden, dertprozentig sicher sein können, dass niemand passt immer weniger zur technischen und gesell- sie so umprogrammieren kann, dass sie unseren schaftlichen Entwicklung. Zwar überziehen wir Körper zerstören statt beschützen. Noch einmal die ganze Welt mit einem elektronischen System, den Vergleich mit der Elektrizität ziehend, ent- aber es sind ganz verschiedene Netze mit ver- sprechen in diesen Fällen die Sicherheits-Anfor- schiedenen Freiheits- und Sicherheits­standards, derungen nicht so sehr denen an das Netz, sondern­ die uns umgeben, mit uns interagieren, gar in uns Digisphäre – auf dem W eg zum digitalen Ökosystem

Schule

Hospital GDI Gottlieb Duttweiler Institute 53

eindringen. Die Vernetzung wird in dieser Weise Nahrung für die Füchse, also nimmt in der Folge unsere zweite Natur – in der auch Natur-Gesetze deren Population ab, und die Überlebenschancen gelten. für die Hasen steigen wieder. Ähnliche Relationen bestehen im Digitalen beispielsweise zwischen Innerhalb dieser digitalen Ökosphäre, kurz Digi- Suchmaschinen und Content-Anbietern oder zwi- sphäre, entstanden, entstehen, vergehen und mu- schen Online-Händlern und Produzenten. tieren digitale Lebensformen, die sich in einzelnen digital-ökologischen Nischen ausbreiten. Einige Andere dieser Verbindungen sind fast oder gänz- dieser Lebensformen richten sich in heimeligen, lich unbekannt, führen aber zu völlig überraschen- vergleichsweise sicheren Biotopen ein, andere den, unkalkulierbaren, chaotisch anmutenden sind in der Wildnis im ständigen Kampf ums Rückkopplungseffekten. In der Biosphäre wird Dasein aktiv. Einige entwickeln besonders effizi- hier vom Schmetterlingseffekt gesprochen: Der ente Angriffswaffen, andere verstehen sich besser Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien auf Verteidigung oder Tarnung, wieder andere könne einen Tornado in Texas auslösen. In der Di- versuchen durch Schönheit zu beeindrucken gisphäre geschah ein solcher Fall beispielsweise am oder sich wie ein Kuckuck durchs Leben zu trick- 20. Dezember 1996: Ein schwer angeschlagenes, im sen. Das «Survival of the Fittest» der (für das Markt fast unbedeutend gewordenes Computer- biologische Ökosystem entwickelten) Evolutions­ Unternehmen holte seinen einst herausgeworfenen theorie besagt eben nicht, dass unbedingt der Gründer namens Steve Jobs zurück. grösste, der stärkste, der schnellste, der schönste gewinnt, sondern derjenige, der am besten an Und immer wieder einmal scheint eine Lebens- die jeweils geltenden Umweltbedingungen ange- form stark genug zu sein, um sich die gesamte passt ist. Ökosphäre zu unterwerfen: Microsoft vor 15 Jah- ren oder Google derzeit. Aber wie in der analogen Jede dieser digitalen Lebensformen, ob Unter- Natur gibt es auch in der digitalen kein ewiges nehmen oder Institution, Hard- oder Software, Wachstum. Für die Biosphäre wissen wir das spä- Algorithmus oder Protokoll, versucht dabei sich testens seit 1972, seit den «Grenzen des Wachs- auszubreiten: zum Teil parallel zu anderen, zum tums» des Club of Rome. Und wie man die Natur Teil in Symbiose, zum Teil im Konflikt mit jenen, nachhaltig bewirtschaftet, haben wir ebenfalls ge- die in der gleichen Nische die gleichen Ressour- lernt: auch wenn es drei Jahrhunderte gedauert cen beanspruchen. Und alle Lebensformen im hat. Mit der zweiten Natur werden wir gerade erst digitalen Ökosystem befinden sich in einer ge- vertraut – aber auch für sie werden wir nachhal­ genseitigen Abhängigkeit – wie in der biologi- tige Bewirtschaftung lernen können. schen Natur ist auch in der digitalen Natur alles mit allem verbunden; irgendwie. Netze sind kaum fassbar, Digitales noch viel weni- ger; aber mit Ökosystemen kennen wir uns aus. Einige dieser Abhängigkeiten sind klar erkennbar Ökologische Nischen, Biotope, Evolution und oder gar messbar, etwa die wechselseitige Abhän- Mutation sind unserer Lebenswelt deutlich näher. gigkeit zwischen Jäger und Gejagtem: Je mehr Wenn wir die Vernetzung als ein digitales Öko- Füchse, desto schlechter für die Hasen – ihre Popu- system verstehen, haben wir deshalb eine bessere lation nimmt ab. Aber damit gibt es auch weniger Chance, Entwicklungen zu verstehen; wir haben 54 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

eine bessere Chance, Entscheidungen in ihrer Tragweite abzuschätzen; wir haben eine Vielzahl von Möglichkeiten, unterschiedliche Unterneh- mens- oder Produktstrategien zu entwerfen; und wir haben eine bessere Chance, noch nicht besetzte­ digital-ökologische Nischen zu erkennen und zu erschliessen. Wir sind dadurch ein Teil der digita- len Evolution – und nicht ihr Opfer.

Wir haben es in Zukunft nicht mehr nur mit einem Netz zu tun, sondern mit einer ganzen Reihe von ihnen. Die Unterschiede liegen da- bei nicht so sehr in der physischen Ausgestal- tung der Netze, sondern in den Graden von Freiheit und Transparenz sowie von Sicherheit und Kontrolle, die sie bieten. Je stärker ein Netz mit unserem Alltag oder unserem Körper interagiert, desto wichtiger ist es für Nutzer und Betreiber, gegen Ausfall oder Manipulation gewappnet zu sein. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 55

Zukunftsszenarien der vernetzten Gesellschaft

a) Übersicht Szenarien Wie entwickelt sich unser Wohlstand? Der Wohlstand ist ausschlaggebend für die Aus- Strömungen und Trends der technologischen und gestaltung des Alltags und unsere Handlungs- gesellschaftlichen Entwicklung werden im Folgen- möglichkeiten. Je besser es uns (materiell wie im- den anhand von vier Zukunftsszenarien veran- materiell) geht, desto grösser sind die Spielräume schaulicht. Diese Szenarien dienen dabei nicht so für Individuum und/oder Gesellschaft. sehr als Prognose, sondern als Werkzeug, um mög- liche künftige Zustände herauszuarbeiten und um Aus den Antworten auf diese Leitfragen lassen neue Perspektiven zu erschliessen. Sie sollen die sich vier Szenarien ableiten: Diskussion anregen und uns gleichzeitig einen Blick auf die Zukunft ermöglichen, der weitestmöglich – – Digital 99 Percent Niedriger Wohlstand, von den Zwängen der Vergangenheit losgelöst ist. niedrige Selbstkontrolle – + Low Horizon Niedriger Wohlstand, hohe Die Definition der Szenarien orientiert sich an Selbstkontrolle zwei Leitfragen: + – Holistic Service Community Hoher Wohl- stand, geringe Selbstkontrolle Wer hat die Kontrolle über unsere Daten? + + Dynamic Freedom Hoher Wohlstand, hohe Stärkere Vernetzung und zunehmende Digitali- Selbstkontrolle sierung bedeuten: immer mehr Daten. Was pas- siert mit diesen Daten? Wem gehören sie? Wer hat Wir sind immer online. Ein Offline-Leben gibt es – die Kontrolle darüber? Können wir selbst bestim- ausser im Szenario Low Horizon – nicht mehr. men, was mit den Daten passiert? Oder stehen wir unter Fremdkontrolle und andere können mit un- seren Daten anstellen, was sie wollen?

Übersicht Szenarien

DATEN-SELBSTKONTROLLE

Low Horizon Dynamic Freedom

Sinkender wachsender Wohlstand Wohlstand Holistic Service Digital 99 Percent Community

DATEN-FREMDKONTROLLE

Quelle: GDI (2014) 56 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Digital 99 Percent

Die Gesellschaft wird sich spalten, als wollte sie George ­Orwells «Animal Farm» noch einmal aufführen. Eine schmale Ober- schicht lässt die Maschinen für sich und ihre Vormachtstellung arbeiten. Wer nicht dazugehört und nicht mit den Maschinen umzugehen weiss – also der ­grosse Rest – verliert die Per­ spektive und kann allenfalls in virtuelle Realitäten flüchten. Um ­soziale Unruhen zu verhindern, sorgt die technokratische Elite für billige Unterhaltung und ­Konsumgüter. «Panem et ­Circenses», wie der Lateiner sagen würde.

Technologie Gesellschaft > Die digitale Vernetzung schreitet voran. In die > Starke Segmentierung zwischen Arm und Reich, technologische Entwicklung wird viel investiert – zwischen Programmierern und den Program- jedoch von wenigen, die in Folge auch bestimmen mierten. können, was wie ausgebaut wird. > Ivy League Society: Die Elite profitiert von jegli- > Maschinen ersetzen Arbeitskräfte. Fast jeder chen Privilegien und erhält Top Jobs. Sie organi- Wirtschaftssektor wird immer weniger von siert sich so, dass sie ihre Macht unter sich be- menschlicher Arbeit abhängig sein. halten kann. > Daten-Vernetzung führt zur zentralen Erfas- > Die grosse Masse hält sich mit «Bullshit-Jobs» sung aller privaten und beruflichen Geheim­ über Wasser oder ist arbeitslos. Soziale Mobili- nisse. Transparenz gilt dabei allerdings nur für tät ist kaum vorhanden. 99% der Bevölkerung. > Flucht in virtuelle Realitäten führt zu Realitäts- verlust. Wirtschaft > Durch die zunehmende Automatisierung ent- Politik steht Wachstum ohne Jobs. > Moloch City: Die wirtschaftliche wie auch poli- > The winner takes it all: Die wirtschaftliche tische Macht ballt sich im Zentrum. Die Regie- Macht polarisiert sich, Grossstrukturen ent­ rungen handeln vorwiegend technokratisch, stehen. Diese agieren global und im Interesse ihre Machtbasis ist klientelistisch. der Elite. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 57

Low Horizon

Die Menschen ziehen sich aus der Gesellschaft zurück, als ­wollten sie alle Landkommunen ­gründen. Zum einen verzichten sie be- wusst auf neue Technologien – wegen eines nur geringen ­spürbaren Nutzens des technischen Fortschritts und um ihre ­Eigenständigkeit zu bewahren. Zum ­anderen entscheiden sie sich bewusst für Ruhe, Langsamkeit und regionale Verankerung. ­Diese Deglobalisierung führt zu einer dezentral vernetzten Gesellschaft mit wenig Verbindungen. Die konsequentesten Vertreter dieses Lebens könnte man durchaus mit den «Amish» ­vergleichen.

Technologie: Gesellschaft > Abnehmende Investitionen. Die Rolle von Alt- > Brain Drain durch Abwanderung vorwiegend bewährtem nimmt zu, der analoge Teil des Le- jüngerer Menschen in innovationsstärkere bens gewinnt an Bedeutung. ­Regionen. > Bewusste Ablehnung einiger Seiten des techni- > Die Bevölkerung schrumpft; sie wird älter, är- schen Fortschritts. mer und (technik-) ängstlicher. > Nur partielle Vernetzung – und dadurch auch > Das Leben wird langsamer. Ruhe und Privat- nur sehr geringe digitale Transparenz. sphäre wird geschätzt. > Face-to-Face-Kommunikation ist zentral, auch Wirtschaft die Bedeutung von Vereinen nimmt zu. > Langsamer wirtschaftlicher Abstieg, veraltende > Lebensunterhalt wird wichtiger als unterhalt-­ Infrastruktur. s­ames Leben. > Abkoppelung von globalen Informations- und Warenströmen. Politik > Slowconomy: Lokale Märkte, der Community > Freiheit von statt Freiheit für: Die Entschei- Market Place gewinnen an Bedeutung. Selbst- dungsfreiheit des Einzelnen ist wichtiger als versorgung meldet Wachstumsraten. ökonomische Handlungsspielräume. Selbstkont­ rolle soll, materielle Grundversorgung muss si- chergestellt werden. > Erodierendes Fundament: Politische Kohäsion ist eine grosse Herausforderung. Dies führt zu einer grösseren Einflussnahme des Staates (Na- tionalstaat). 58 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Holistic Service Community

Die Menschen vertrauen sich einem Unternehmen an, als wäre es ein guter Hirte. Indem sie die Kontrolle über ihre Daten einer Firma überlassen, ob Arbeitgeber oder Dienstleister, gewinnen sie sehr viel Convenience. Man sorgt sich um sie, berücksich- tigt ihre Meinung, macht ihnen ­passende Angebote. Sogar den Lebenspartner findet man einfacher im Unternehmen. Unan­ genehm wird diese Fürsorge erst, wenn man in eine andere Community wechseln möchte. Dies ist praktisch nicht möglich, im Silo sind alle Daten gespeichert. Die Generation X würde ­diesen Zustand wohl «Matrix» nennen.

Technologie Gesellschaft > Hohe privatwirtschaftliche Investitionen in Infra­ > Segmentierung anhand der Zugehörigkeit zu struktur und Vernetzung – Vorsprung durch Corporate States. Diese bietet Komfort (Conve- Technik als Instrument der Mitgliederwerbung. nience), Sicherheit und Sinn. Der Venture Capi- > Hypertech – Smart Things: Völlige Vernetzung talist Peter Thiel plant bereits heute neue liber­ und Datenfülle. täre Gesellschaftsformen auf Hochseeinseln, die > Algo-Care: Das Netz sorgt und denkt für seine ganz ohne Staat auskommen. Mitglieder – die einer totalen Transparenz un- > Komfort: Filter bewältigen die Informationsflut, terliegen. Datenhistorie hilft bei der Entscheidung. Die > Datenspeicherung auf grossen zentralen Ser- Technik denkt für mich und sagt meine Wün- vern gespeichert – gesichert von und für Corpo- sche voraus (z.B. Amazon Predictive Delivery). rate States. > Sicherheit: Totale Überwachung sowie Vernet- > Hinter jeder Software/App stehen knallharte zung mit Gleichgesinnten machen sicher – und Interessen. führen zu konformem Verhalten. > Sinn: Corporate States ermöglichen Konsum Wirtschaft und Status, bieten eine Freiheit im gesetzten > The bigger, the better: Grossstrukturen beherr- Rahmen. schen das Wirtschaftsgeschehen, die grossen > Es herrscht Gruppendruck und gibt einen sozia- Player agieren global. len Anschlusszwang. > Hyperspezialisierung innerhalb der Unterneh- men wird vorangetrieben. Politik > Invisible Government: Der Staat tritt kaum noch in Erscheinung. Der Regulierungskontext ist zwar Top-down gestaltet. Den Ton geben aber die mächtigen Unternehmen an. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 59

Dynamic Freedom

Die Menschen spielen mit dem Netz, als wäre es ein Klavier. Sie sind es, die Kommunikation, Produktion und Logistik be- herrschen, nicht umgekehrt. Die Macht wird nicht nur ­dezentralisiert, sondern auch flexibilisiert: Man muss ja nicht immer die gleiche Selbstverantwortung übernehmen. Die Menschen leben nicht nur im Netz – sie leben das Netz. Und verfügen dabei über alles, was sie für ein gutes Leben brauchen: freien Zugang zu Wissen, digitale Bildung und de- zentrale Produktionsmittel. Frühere Generationen hätten ­diesen Zustand wohl ­«Paradies» genannt.

Technologie: Gesellschaft > Hohe Zukunfts-Investitionen, umfassende und > Globale, gemeinschaftliche Orientierung. garantierte Infrastruktur. > Ökonomisch unabhängige, offen aufeinander > Internet der Dinge als allgegenwärtiger Butler, zugehende Bürger in einer transparenten, nicht der die Alltagsorganisation erledigt. gespaltenen Gesellschaft. > Internet als Plattform für und Wegbereiter von > Streben nach Lebensqualität statt Streben nach Kreativität und Innovation. Jeder kann jede Idee Reichtum und Besitz. unternehmerisch umsetzen. > Kreativität und Innovationskraft als identitäts- > Radikale Dezentralisierung der Macht: distri- stiftende Eigenschaften. buted Networks ohne Server. Netzarchitektur basiert auf der Autonomie jedes Einzelnen. Freie Politik Entscheidung des Einzelnen über Kontrolle und > Verlagerung des Machtgefüges: Ein dynami- Verwendung seiner Daten. sches Netz braucht keine Zentralgewalt, son- dern allenfalls eine dezentral organisierbare Si- Wirtschaft cherung wie Airbag oder Notbremse. > Enorme Produktivitätssteigerung durch digitale > Basisdemokratie/Ipsokratie: Das Volk braucht Revolution: Informationen, Energie aber auch keine gewählten Vertreter, jeder vertritt sich Hardware oder Dienstleistungen werden nahe- selbst. zu kostenlos. Alles ist im Überfluss vorhanden. > Kleinere Kluften: Weniger Zentralgewalt bedeu- > Hyper Local Markets: Jeder Konsument ist tet geringere Macht- und geringere Vermögens- gleichzeitig auch Produzent. Eigeninitiative konzentration. nimmt zu, ein Start-up-Spirit ist bemerkbar. In- > Glokalstaat: Globale wie auch lokale Bewegun- formationen werden global ausgetauscht, pro- gen, Zusammenhänge und Einflussfaktoren duziert wird lokal mit 3D-Druckern. können für den Einzelnen relevant sein, die > Collaborative Commons: Dezentrale Wirt- Spannweite der Entscheidungen ist frei wählbar. schaftsorganisation, basierend auf Tausch und Selbstverwaltung. Grosse hierarchisch organi- sierte Unternehmen werden von kleinen Playern abgelöst, die durch Sharing und Zusammenar- beit gemeinsam Skaleneffekte erzielen. > Market Place gewinnen an Bedeutung. Selbst- versorgung meldet Wachstumsraten. 60 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Geschichten zur Zukunft der Vernetzung Scenario Fiction

einen Lebensabend in einem anderen Segment zu ermöglichen. Was wahrscheinlich für Oleg das- selbe wie für die meisten Basis-Mitglieder bedeu- tete: «Einmal Basis, immer Basis.» Wer daran schuld war? Gute Frage. Wer an seinem abendli- chen Ausflug schuld war, liess sich eindeutig sa- gen. Er selbst hatte es verschlafen, rechtzeitig den Antrag für die Reparatur seines Wahlterminals zu stellen, also musste er sich eben auf die Socken machen, um seiner monatlichen Abstimmungs- pflicht zu genügen. Oleg schaute auf seine alte Uhr. In den feineren Segmenten, so hörte er, war so was derzeit wieder in Mode. Schon spät, er 1. Oleg stimmt ab musste sich sputen. Die Abstimmungs-Stütz- (Szenario: Digital 99%) punkte, die für Fälle wie ihn bereit standen, für Fälle ohne Terminal also, würden bald schliessen. Eigentlich wäre das ein schöner Tag, dachte Oleg, als er sich auf den Weg machte. Wobei das Prob- Oleg bewegte sich wie von selbst nur durch Basis- lem, wie immer, im «eigentlich» steckte. Denn gebiet. Nicht, dass er sich woanders nicht hätte einerseits schien die Sonne, so kraftvoll und ein- aufhalten dürfen. Er fand es nur unangenehm, in deutig wie schon lange nicht mehr. Andererseits den feineren Bezirken mit seiner einfachen Klei- war er immer noch er selbst. Und er war immer dung, seinem Mangel an Gadgets und seinem noch ein Mitglied der »Basis» und nicht eines der Gang aufzufallen. Wissenschaftler hatten das mit anderen Segmente, die die Stadt unter sich auf- dem Gang erforscht. Seit der Segmentierung hat- teilten. Die Stadtverwaltung gab sich manchmal ten sich angeblich in den Segmenten nicht nur Mühe, Oleg und seinesgleichen nicht auf die Idee unterschiedliche «Soziolekte» entwickelt, son- kommen zu lassen, sie befänden sich am unteren dern auch unterschiedliche Gangarten. Oleg war Ende der Nahrungskette. Im Magistrat, der nicht sich sicher, dass das stimmte. so furchtbar viel zu entscheiden hatte, sassen auch Mitglieder der Basis. Nicht zu viele halt. Die Strasse, durch die er lief, war jetzt, am späten Und die, die da sassen, wohnten nicht auf Basis- Nachmittag, fast leer. Viele der Ladenfronten wa- gebiet, sondern vertraten die Basis nur. Nun ja. ren tot und eingestaubt, ein paar Katzen wischten um die Ecken, ab und zu kleinere Ansammlun- Oleg war Mitglied der Basis, weil er sich etwas an- gen von Müll. Richtig vernachlässigt konnte man deres gar nicht leisten konnte. Die Arbeit als Sor- die Gegend nicht nennen, denn überwacht wurde tierer im grössten Recyclinghof seiner Basis- sie schon. Die Drohnen waren so klein und leise Community brachte nicht genug ein, um den wie Insekten, und stationäre Kameras waren lan- Sprung in ein anderes Segment zu schaffen, und ge nicht mehr sichtbar. er hatte sich vom Mobilitätsausschuss ausrechnen lassen, dass auch sein Rentenbonus nur «unter Fünf Minuten vor Schluss kam er an seinem Ab- Idealbedingungen» hoch genug sein würde, um stimmungsstützpunkt an, und der kleine, dicke GDI Gottlieb Duttweiler Institute 61

Abstimmungsleiter machte ein Gesicht, als wür- klaubte eine Ziegelscherbe vom Boden auf, und de ihm das gar nicht passen. ritzte schnell zwei Andreaskreuze in die Wand, jedes etwa so gross wie seine Handfläche. Er setz- «Sie sind spät», sagte er, während er Olegs ID- te zum dritten an, als ein E-Trike um die Ecke Token kontrollierte. «Sehr spät.» bog. Viel zu verblüfft, um zu reagieren, sah er dem Gefährt einfach beim Vorbeirollen zu. Das Er startete das Terminal. Oder jedenfalls versuch- Trike passte nicht zum Basisgebiet, und die Frau te er es. Denn der Bildschirm an der alten, schlecht darin erst recht nicht. Sie war offenbar ebenso gewarteten und offensichtlich wenig benutzten verblüfft wie er, schaute ihn mit grossen Augen Maschine zuckte nur kurz auf, erlosch sofort wie- an. Als sie vorbei war, liess Oleg die Scherbe fal- der, und dann war da ein durchdringender Ge- len und sah zu, dass er Land gewann. ruch nach verschmorter Platine in der Luft. Auf dem Weg nach Hause hoffte er, dass seine -un «Oh», sagte der Abstimmungsleiter. Es dauerte bedachte Aktion nicht dumm aufgefallen war. ein paar Sekunden, bis er auf die Idee kam, den Aber an seiner Wohnungstür hing bereits der Netzstecker zu ziehen. Verwarnungszettel. Ein Tageslohn Abzug, wegen Vandalismus. Der Verwarnungszettel war blau. «Ich kann sie wahlfrei stellen», sagte er. «Sie wa- ren ja hier. Rechtzeitig. Ich kann das bestätigen. Das hätte ihn jetzt wütend machen können. Es Ich stelle sie wahlfrei.» Er kramte in den Unterla- machte ihn auch wütend, aber er war hauptsäch- gen auf seinem wackeligen Campingtisch und lich wütend auf sich selbst. Wenn die Basisgebiete fand schliesslich die erforderlichen Formulare. nicht völlig herunterkommen sollten, dann muss- Sie waren hellgrün. ten sie von den Admins vor Vandalismus ge- schützt werden. Das sah er ein. Er hatte sich zu Oleg faltete den Wisch sorgfältig zusammen und einer dummen Handlung hinreissen lassen, und steckte ihn langsam ein. Er trat nach draussen. wurde relativ milde dafür bestraft. Und letztend- Auf dem Weg nach Hause kam er an ein paar lich ging es ihm immer noch viel besser als den Schwarzmarkttypen vorbei, und nach dem drit- Unsegmentierten, Elendsgestalten, die gar keiner ten, der ihm verstohlen zuwinkte, fasste er einen Community angehörten, und in den Stadtteilen Entschluss. Er bog in eine Seitengasse ab. Nicht betteln mussten, in denen das überhaupt erlaubt auf der Suche nach Schwarzmarktkram, der so war. lächerlich war, dass er sogar von den Admins ge- duldet wurde. Sondern, weil er eine Idee hatte. «Das Fussballspiel!», dachte Oleg. Darauf hatte er sich doch schon den ganzen Tag gefreut! Er öffne- Er musste nicht lange laufen, um eine geeignete te geschwind eine Bierflasche und schaltete den Hauswand zu finden. Das Haus stand offenbar Fernseher ein. Die landesweite Basisauswahl hat- leer. Von den Holzlatten, mit denen man die te dieses Jahr gute Chancen auf den Cup. Fenster zugenagelt hatte, waren einige schon wie- der auf den Bürgersteig gefallen, genau wie ein paar Dachziegel, die der Sturm vor zwei Tagen heruntergeschmissen hatte. «Ideal», dachte Oleg, 62 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Und Matthias war schliesslich Stammkunde. Ein klassischer Bricco. Die Basis mochte Jolie nicht, das war klar, aber bei den Briccos war die Sache komplizierter. Und zwar nicht nur, weil sie teil- weise von ihnen lebte, sondern weil sie sie auch teilweise verstehen konnte. Die Briccos blieben gern unter sich. Sie waren vor zwanzig Jahren ei- ne der ersten Communities gewesen, die für die Segmentierung gestimmt hatten. Sie hatten keine Lust mehr darauf gehabt, dass sich alles immer schneller änderte, sie hatten kein Interesse mehr an den immer kürzeren technologischen Innova- tionszyklen gehabt und sich in ihre eigenen 2. Das Gerät Schneckenhäuser zurückgezogen. Die Briccos (Szenario: Low Horizon) neigten zum Konservatismus. Sie waren oft in Kommunen organisiert, deren Mitglieder sich al- Jolie ärgerte sich darüber, dass ihr blödes Navi sie le untereinander kannten, und das schon lange. auf Basisgebiet gelotst hatte (obwohl ihm das ex- In den Städten pflegten sie, was die Soziologie pliziert abtrainiert worden war). Als sie den komi- »urbane Genügsamkeit» nannte, und auf dem schen Typen bemerkte, der auf dem Bürgersteig Land nutzten sie Flächen, die von einer hoch­ mit dem Gesicht zur Wand stand, ärgerte sie sich industrialisierten Landwirtschaft nicht mehr ge- auch über sich selbst, denn sie musste schon wie- braucht wurden. Manche Bricco-Subsegmente der daran denken, dass die Mitglieder des Basis- erinnerten eher an historische Hippiekollektive, Segments in ihrer Heimatstadt Basel nicht «Bas- andere waren patriarchal bis zur Karikatur, und ler» hiessen, wie überall sonst. Sondern «Basis», liessen sich von »Ältestenräten» regieren, die aus- mit langem i. Wer als Basler lustig sein wollte, schliesslich aus bärtigen Männern bestanden. nannte sie auch «Basemen», «Bassmen» oder «Bas- Die extremsten luden diesen Zirkus auch noch sisten», aber auf keinen Fall «Basler». Jolie hatte mit Religion auf. Eines hatten sie alle gemeinsam: Basel vor fünf Jahren hinter sich lassen wollen, Sie standen der Technik skeptisch gegenüber. «So deswegen war sie ja hergekommen. Den Basi, der viel Technik wie nötig, so wenig wie möglich», auf dem Bürgersteig stand, bemerkte sie erst ziem- war die grosse Devise. Weswegen sie manchmal lich spät. Was der da trieb, war nicht ganz klar. wie Zeitkapseln wirkten: Jolie hatte Briccos gese- Anscheinend schmierte er irgendwas an die Wand. hen, die noch mit Telefax arbeiteten. So was fand Das kam ihr ziemlich kühn vor, denn Graffiti -wa Jolie rührend, drollig und interessant, weil sie ren auf Basisgebiet streng verboten – in anderen sich selbst für alte Technologie interessierte, aber Segmenten kamen sie entweder gar nicht oder nur sie wusste auch, dass die Genügsamkeit der Bric- als gefeierte Kunst vor. Sie hoffte, er würde nicht cos zumindest teilweise auf Heuchelei beruhte: zu hart bestraft werden. Ansonsten sah sie zu, dass Ohne die Technosphäre um sie herum, von der sie Land gewann. Denn sie war schon spät dran, sie sich bewusst fern hielten, hätte ihre «Genüg- und sie wusste zwar, dass Matthias sie mochte, samkeit» schnell dazu geführt, dass sie wirklich aber sie hasste es, Kunden warten zu lassen. bis vor die erste Industrialisierung zurückgefal- GDI Gottlieb Duttweiler Institute 63

len wären, und das hätte selbst den radikalsten waren geplatzt und hatten ihr Elektrolyt überall unter ihnen keinen Spass gemacht. hin verteilt. Totalschaden.

Matthias war keiner von den Ultras, eher im Ge- «Aua», meinte sie trocken. genteil. Er war so was wie der Netzbeauftragte sei- ner Bricco-Kommune, denn nur er allein hatte «Was ist?», fragte Matthias, der ihr näher stand, Zugriff auf das einzige Netzterminal, über das sie als sie das eigentlich gut fand. verfügte, und nur er allein konnte es bedienen. Reparieren konnte er es aber nicht, wenn es Prob- «Tja», sagte sie gedehnt. «Nicht mehr viel. Eigent- leme machte, und da kam Jolie ins Spiel. Mit der lich gar nichts mehr. Das Ding hier sollte nie mehr Zeit hatte ihr Interesse an alter Technik dazu ge- angeschaltet werden, wegen Brand- und Verlet- führt, dass sie den ganzen Kram auch reparieren zungsgefahr.» konnte, und schliesslich hatte sie die Kindergärt- nerei aufgegeben und ihr Hobby zum Beruf ge- Matthias hatte die Augen geschlossen und rieb macht. Wenn Matthias mit seinem Terminal sich die Stirn. Schwierigkeiten hatte, rief er Jolie. Ausserdem glaubte sie, dass er sie ein bisschen mehr mochte «Kannst du», fragte er leise, «kannst du was ma- als bloss so. chen?»

«Armer Matthias», dachte sie, als sie ihr Trike «Matthias. Das Motherboard ist hin. Ich dürfte es durch die Toreinfahrt der kleinen Waschmaschi- dir gar nicht mehr einbauen, selbst wenn ich ge- nenfabrik zirkelte, die die Kommune von Matthias nug Ersatzkondensatoren zum Reinlöten hätte. seinerzeit entkernt und in ihr urban-genügsames Da können hundert Kurzschlüsse drin stecken. Refugium verwandelt hatte. Sie fand ihn wie üblich Tut mir leid.» bei den Gewächshäusern. Da stand er vor dem Ka- buff, das ihm als Büro diente – es war wohl früher, «Aber ich habe ein Problem.» zu Fabrikzeiten, ein Maschinenleitstand gewesen. Matthias in seinen selbstgemachten Klamotten, «Das sehe ich.» mit besorgter Miene und mit einem Bart, der wie- der ein wenig grauer geworden war. «Nein, ich meine die Tomaten. Den Tomaten geht es schlecht.» «Jolie, hallo. Schön, dass du kommst. Ich hätte ja schon selbst was versucht, aber ich glaube … ich Die Tomaten von Matthias hätten nun überhaupt glaube, diesmal ist es schlimm.» nicht ihr Problem sein sollen. Aber sie kannte ihn lange genug, um zu verstehen: Er wollte, dass sie «Dann wollen wir mal sehen», meinte sie bloss, sich die Sache ansah, und mit ihrem Smarty nach und fing an, das Museumsstück aufzuschrauben. einer Lösung suchte. Matthias hatte schon öfter gemeint, dass es viel- leicht «schlimm» sei, aber diesmal war das eher «Ok.» untertrieben, das sah sie sofort. Nahezu alle Kon- Er führte sie zu den Gewächshäusern. Mit sorgen- densatoren auf dem Motherboard des Terminals voller Miene öffnete er die Tür und bat sie hinein. 64 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Auf den ersten Blick wirkte alles normal, orden­ tliche Reihen von Tomatenpflanzen von einem Ende des Gewächshauses bis zum anderen. Aber als sie sich hinkniete, fielen ihr viele weisse ­Punkte auf den Blättern auf. Und als sie unabsichtlich eine der Pflanzen streifte, flogen Dutzende von kleinen weissen Mücken auf.

Jolie zückte ihr Smarty und fotografierte ein To- matenblatt. Dann sagte sie: «Analyse». Die Ant- wort kam fast schneller, als sie zu Ende gesprochen hatte.

Sie steckte das Gerät wieder ein und sagte: «Du 3. Fast wie Verrat hast Glück. Das ist Mottenschildlausbefall. Und (Szenario: Holistic Service damit werden Schlupfwespen fertig. Encarsia for- mosa. Gibt’s im Fachhandel.» Community)

Das Gesicht von Matthias hellte sich auf, als sei Gertrud hörte es in der Küche rumoren. Das gerade eben die Sonne aufgegangen. konnte eigentlich nur eines bedeuten: Jolie war früher als gedacht von einem ihrer Reparaturauf- «Danke!», sagte er nur. «Du … du bist toll!» träge zurückgekommen und hatte jetzt Hunger. Ein feines Sirren bestätigte sie: der Assembler Sie lachte, und er wurde tatsächlich ein bisschen rot. machte Jolie was zu essen, wahrscheinlich irgend- was Ungesundes. Heute war Ungesund-Tag. Den «Ja also –», sagte er verlegen. «– kannst du für liess Jolie nie aus. mich nach einem Ersatzterminal schauen? So eins wie das alte?» Gertrud seufzte. Eigentlich hätte sie nur in Ruhe mit Roman reden wollen, ihrem Bruder, der still «In Ordnung», sagte sie, ohne zu wissen, wo sie so und unbeteiligt neben ihr sass und seinen Tee eine alte Kiste auftreiben sollte. Eines Tages würde noch nicht angerührt hatte. Die Stille und der sie für Matthias wohl noch in ein Technikmuse- Mangel an Beteiligung kamen daher, dass sich um einbrechen müssen. «Aber ich muss jetzt los. Roman im Moment nur wenig für sie interes­sierte. Nächster Termin und so.» Sondern für die Datenströme, die durch all die Implantate in seinem Schädel rauschten. Seine «Natürlich», sagte er. grossen Augen und sein kahlrasierter Schädel wirkten immer besonders unangenehm auf sie, «Ich find allein raus», sagte sie winkend. wenn er sich einer seiner Datenabsenzen hingab, oder «Hooks», wie er das nannte. Für einen Total Sein Heiratsantrag konnte nicht mehr lange auf gab er sich manchmal noch ziemlich viel Mühe, sich warten lassen. mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Er sagte GDI Gottlieb Duttweiler Institute 65

dann zum Beispiel Sachen wie: «Der Amazonas Leib, mit denen sie nicht auf die Welt gekommen führt gerade ungewöhnlich wenig Wasser, und waren, von Med-Sensoren bis zu verschiedenen der evolutionäre Druck auf bestimmte Fischpopu- Gewebearten, die man speziell für sie assembliert lationen steigt. Die DNA wird mal wieder gekit- und ihnen dann eingepflanzt hatte. So was war in zelt.» Oder: «Einen Moment, ich bin gerade Gate- I/O-Segmenten wie der Connexion nichts Beson- keeper bei einer Klasse-C2-Entschränkung von deres. Aber Roman war in dieser Hinsicht viel, Metatron.» Metatron war ein Quantencomputer viel radikaler, er bewegte sich auf einen Zustand der Universität von Mexiko-City, den Roman als zu, in dem kein Teil seines Körpers mehr natürli- einer von Tausenden Sysadmins manchmal dazu chen Ursprungs war. Er war ein Total wie aus dem brachte, interessante Ergebnisse auszuspucken. Bilderbuch. Die Totals sahen sich oft als die Elite Meistens allerdings lieferte Metatron nur vage po- der I/O-Segmente. Nicht-Totals unter den I/Olern, etischen Müll, mit dem kein Mensch etwas anfan- auch in der Connexion, sahen sie als Grenzfälle. gen konnte, ausser eine von allen guten Geistern Und Roman wollte jetzt einen Schritt weiter ge- verlassene Literaturkritik, die sich auf «Quanten- hen. Vom Total zum Trans. dichtung» spezialisiert hatte. Jetzt gerade aber liess Roman sie nicht an seinen Abenteuern teil- «Genau, deine Entscheidung. Da wollte ich mit dir haben. Seine Augen waren ganz blank und seine drüber reden.» Stirn war ganz glatt. Er nutzte seine ganze Band- breite nur für sich. Roman nippte jetzt doch an seinem Tee.

«Roman», sagte sie, und schnipste mit Daumen «Dass du jetzt den Datenzugriff auf zellulärer und Zeigefinger vor seinen Augen herum. «Je- Ebene zulassen willst, und dich sogar für experi- mand zu Hause?» mentelle Transprogramme gemeldet hast, macht mir Sorgen.» Sie suchte nach Worten für diese Be- Romans Augen fokussierten, er sah sie an. Miss- sorgnis, fand aber nicht viel Treffendes. «Das ist mutig. mir zu … radikal. Das geht mir zu sehr in Rich- tung Exodus.» «Was denn jetzt?», fragte er sie. «Exodus» – ein Mythos unter den I/Olern. In sei- «Wir wollten reden.» ner paranoidesten Form besagte er, dass die Digi- talisierung menschlichen Bewusstseins nicht nur «Du wolltest reden. Ich hab mich entschieden.» funktionierte, sondern schon lange praktiziert wurde, massenhaft. In diesem Moment kam Jolie herein, mit einem Teller voller ungesunder Sachen. Sie sah Roman, Roman sah sie wütend an. Jetzt hatten sich doch sagte nur «Oh!» und machte kehrt. Jolie mochte Falten auf seiner Stirn gebildet. Roman nicht. Sie hatte schon öfter bezweifelt, dass er noch voll menschlich war. «Du redet wie ein Bricco! Warum gehst du nicht gleich zu denen! Wie ein Verräter redest du!» Jolie und Gertrud hatten eine Menge Sachen im 66 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Sie musste ihre Reserven mobilisieren, um ruhig zu bleiben. Aber da waren nicht mehr viele Reser- ven. Susanne, ihre letzte Klientin an diesem Tag, hatte mit ihrem endlosen Gerede über ihre Bezie- hungsprobleme an Gertruds Nerven gezerrt.

«Du vergisst wohl, wer dich überhaupt hierher ge- bracht hat», sagte sie mit einem Ton in der Stim- me, der ihr selbst nicht gefiel.

Roman grinste bösartig. «Und du hast noch nicht bemerkt, dass ich dich nicht mehr brauche. Schon lange nicht mehr.» 4. Der Brief Viel später erkannte sie, dass in genau diesem Mo- ment ein entscheidender Bruch stattgefunden hat- (Szenario: Dynamic Freedom) te. Jetzt brachte sie gerade genug Beherrschung auf, um Romans Tasse nicht vom Tisch zu fegen. Der Sommer war jetzt nicht so der Renner, fand Stattdessen sagte sie nur: sie. Erst nicht vorhanden, dann zu heiss. Sie schwitzte, und die Versprechungen des Deo-Her- «Du gehst jetzt besser.» stellers waren mal wieder masslos übertrieben ge- wesen. Wenigstens hatte ihre Haustür keine Pro­ Ohne ein weiteres Wort stand er auf und verliess bleme mit dem olfaktorischen Teil ihrer Biometrie den Raum. haben. Die Einkaufstaschen liess sie gleich an der Garderobe sinken. Da war eh nichts von Bedeu- tung drin, nur Krimskrams, den sie eingekauft hatte, weil sie nicht gleich hatte nach Hause gehen wollen, in die leere Wohnung. Wie schon so oft dachte sie daran, demnächst ein bisschen mehr zu arbeiten. Die drei täglichen Stunden Webdesign bei Moda/Modus, einem Magazin für Mode und Design, brachten zwar genug ein, aber sie hielten die Langeweile nicht in Schach. Das Problem: Sie würde dann täglich noch länger mit Leuten zu- sammenarbeiten müssen, die ihr so schon gewal- tig auf die Nerven gingen. Sie liess den Gedanken an die Aufstockung ihrer Arbeitszeit fallen, wie schon so oft.

Ihre Wohnung war klimatisiert, aber sie selbst schien die Hitze mit hereingebracht zu haben. Es GDI Gottlieb Duttweiler Institute 67

war niemand da, bei dem sie sich über die Hitze «Aber die Kerykes haben dir schon eine Nach- beschweren konnte. Sie hatte sich auch schon bei richt geschickt, dass du bitte ein bisschen mehr ihrer Therapeutin Gertrud ausgiebig über alles Interesse zeigen sollst. Du weisst ja, dass unsere beschwert, vor allem natürlich wieder über Julien, Community auf informierte und interessierte ihre Unfähigkeit, ihn hinter sich zu lassen, und Bürger angewiesen ist, die sich am politischen ihre Wut über diese Unfähigkeit. Mein Gott, wie Entscheidungsprozess intensiv beteiligen, von be- sie sich selbst gelangweilt hatte mit ihrem eigenen gründeten Ausnahmen abgesehen. Ich, als dein Gerede, und wie deutlich zu sehen gewesen war, persönlicher Abstimmungsassistent, bin dazu da, dass sie Gertrud auch gelangweilt hatte – die ein- dir zu helfen.» zige, die sich den Quark noch anhörte, weil sie da- für bezahlt wurde. Julien, Julien, Julien. Andert- Susanne fing innerlich an zu brodeln. Eine Ma- halb Jahre, nachdem sie ihn verlassen hatte, sehnte schine hielt ihr einen Vortrag über politische Ver- sie sich immer noch nach einem Mann, dessen antwortung, nach einem Tag wie diesem, in einer herausragende Eigenschaft es gewesen war, ihr Situation wie dieser. Das mochte wohl der Preis für Selbstwertgefühl zu mindern. Alles besprochen, ihre Zugehörigkeit zur Ekklesia sein. Wie die meis- alles durchgekaut. Sie setzte sich an ihren Wohn- ten Communities im Ekklesia-Segment, verstand zimmertisch, eigentlich ihr Lieblingsplatz. Über sich Aion als eine freie Vereinigung von Freien, die alle glatten Oberflächen – also die Tischplatte nur dann funktionieren konnte, wenn die Mitglie- selbst, den gläsernen Lampenschirm, eine stehen- der von ihrer Entscheidungsfreiheit auch Gebrauch gebliebene Tasse von gestern – flimmerten die machten. Im Moment war ihr der Preis einfach zu Nachrichten des Tages: Texte, Bilder und Filme. Je hoch. Vor ihren gekreuzten Armen stand die Tas- näher ihr einer dieser Gegenstände war, desto se. Sie sah den roten, pulsierenden Punkt, der sie persönlicher die Nachrichten: Auf dem Lampen- immer noch umrundete, wie eine kleine, rot schirm gab es Weltpolitik, auf der Tasse E-Mails. leuchtende, nervende Stechmücke. Das war mit Si- Sie sagte «Kusch!» und der ganze Nonsens ver- cherheit die Ermahnungs-E-Mail der Kerykes. schwand. Die Einrichtungsgegenstände und das Geschirr waren wieder normale Einrichtungsge- «Fuck you», sagte sie leise. genstände, normales Geschirr. Halt, nein: Da kreiste noch ein roter, blinkender Punkt um die «Das ist nicht sehr hilfreich», gab das System zu- Tasse. Was Wichtiges. Vielleicht von …? Sie schüt- rück, und klang dabei fast beleidigt. Am gegen- telte nur den Kopf über sich selbst. 18.34 Uhr. Es überliegenden Tischende erschien ein Avatar, dort würde draussen noch lange hell sein. hinprojiziert von ihrem Tisch selbst. Das machte das System nur, wenn es etwas für wirklich wich- «Hallo Susanne», sagte eine Stimme. tig hielt. Das letzte Mal war das vor etwa zwei Jah- ren vorgekommen, als sich die Kerykes für einen Sie stöhnte. Der hatte ihr grade noch gefehlt. Fehler bei der Auszählung von Abstimmungser- gebnissen hatten entschuldigen müssen. Dumm «Es haben sich ein paar Abstimmungen ange- war nur, dass dieser Avatar Julien glich, weil sie häuft, die ich mit dir durchgehen muss.» das seinerzeit so bestimmt hatte. «Grossartig», dachte sie. «Heute wird mir wirklich dreckig ein- «Nicht jetzt.» geschenkt.» 68 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

«Basis-Avatar Gwendolyne», sagte sie, und der «Aber sicher», dachte Susanne. «Was denn noch Geist ihres ehemaligen Geliebten verwandelte sich alles?» in eine junge, rothaarige Schönheit von der Stan- ge, wie sie das System für Ekklesia-Neulinge be- Es klingelte leise aus der Küche. Das hörte sich reithielt. nach ihrem Assembler an, der ihr wohl mitteilen wollte, dass er einen Arbeitsgang beendet hatte. «Also», sagte die Rothaarige, sprach dabei aber Nur konnte sie sich nicht in Erinnerung rufen, immer noch mit einer Männerstimme. Juliens ihm einen Arbeitsauftrag erteilt zu haben. Als sie Stimme, um genau zu sein. Für einen kurzen Au- die Fronttür des Assemblers öffnete, lag da etwas genblick war Susanne verblüfft, dann lachte sie so Überraschendes, dass sie ihren Augen nicht kurz und sarkastisch auf. Sollte sie jetzt auch noch traute: ein Brief. Aus Papier. Jedenfalls sah das verspottet werden? Ding so aus und es fühlte sich auch so an, als sie es in die Hand nahm. Der Stoff war noch ein wenig Der Avatar wirkte peinlich berührt. «Entschuldi- warm, von der Assemblierung. Auf der Vorder­ gung, Susanne. Wir haben eine Störung in der seite trug das Papier das Aion-Logo. Sie konnte es Sprachsynthese. Ich kann die Stimme gerade nicht schier nicht fassen. Die Aion-Kerykes hatten ihr ändern. Wollen wir die nötigen Abstimmungen einen Brief schreiben wollen, und weil es schon durchgehen?» lange keine Briefkästen und keine Post mehr gab, hatten sie dazu Susannes eigenen Assembler be- «Ja natürlich», sagte Susanne, mit dem Gesicht in nutzt. Superwitzig. ihren Händen. «Natürlich. Vielleicht hört dieser Alptraum dann ja auf.» Der Brief selbst wiederholte dann die wohlmei- nenden Mahnungen, die sie schon von ihrem Es ging um die Wasserversorgung, die Mittags- Abstimmungsassistenten gehört hatte. Verant- menüs in den Schulen von Aion, die Allokation wortung. Engagement. Beteiligung. Mündigkeit. von Rechnerpower für Intensivnutzer und an- Das waren wichtige Werte, und um sie zu stützen, deren Kleinkram, wie immer. Susanne fand das würde sie ein halbes Jahr lang wieder eigenhändig Wasser gut, sie hatte keine Kinder, und ihr wur- abstimmen müssen. Danach würde ihr Abstim- de mehr Rechnerpower zugestanden, als sie je mungsassistent «neu kalibriert» sein und ihr wie brauchen würde. Sie nickte alle Zustimmungen bisher zur Verfügung stehen. Ihre Bürgerrechte und Ablehnungen ab, die der Assistent ihr vor- sollten in der «Kalibrierungsphase» unberührt schlug. bleiben.

Sie waren gerade fertig geworden, da fror der Ava- Susanne liess den Brief sinken. Ungefähr dreissig tar kurz ein. Als er wieder aufwachte, hatte er sei- Abstimmungen in je drei Zehnerblöcken pro Wo- ne weibliche Stimme wiedergefunden. Aber was che. Ein halbes Jahr lang. er sagte, klang zunächst rätselhaft. 19:11 Uhr. Sie ging ins Schlafzimmer und warf «Danke, wir sind fertig. Die Kerykes werden sich sich aufs Bett. Vielleicht würde morgen alles an- bei dir melden.» ders sein. GDI Gottlieb Duttweiler Institute 69

Anhang

Methodisches Vorgehen

Die vorliegende Studie basiert auf einem mehrstu- Unser Dank gilt folgenden Teilnehmern des figen Verfahren. Die einzelnen Schritte werden im Workshops: Folgenden erläutert: > Christoph Caviezel 1. Desk Research In einem ersten Schritt wurden > Daniel Gerber mittels Desk Research und in Gesprächen mit > Detlef Gürtler ausgewählten Experten die wichtigsten Trends, > Mathias Kienholz Strömungen und zukünftigen Entwicklungen > Ralf Koschmann eruiert, um einen umfassenden Blick zu erhalten > Marta Kwiatkowski und die Zusammenhänge vor dem Hintergrund > Adrian Raass der digitalen Revolution zu skizzieren. > Thomas Robinson > Marcus Hammerschmitt 2. Workshop – Megatrends In einem nächsten > Adrian Schimpf Schritt wurden im April 2014 ein halbtägiger Workshop mit GDI-Researchern durchgeführt Die Resultate wurden in Gesprächen mit Peter und die aktuellen Mega- und Gegentrends mit Fo- Ehrsam (Swisscom AG) Thomas Müller (Swiss- kus auf die digitale Gesellschaft und zukünftige com AG) und Juri Jaquemet (Museum für Kom- technologische Entwicklungen verfeinert. Als munikation) zusätzlich vertieft. Diskussionsgrundlage dienten die Erkenntnisse des Desk Research. 4. Geschichten Zukunftsszenarien Der Science- Fiction Autor Marcus Hammerschmitt hat die 3. Workshop – Szenarien In einem zweiten Work- Szenarien auf Basis des Experten-Workshops shop mit Vertretern der Swisscom AG und ausge- künstlerisch dargestellt. Die daraus entstandenen wählten Experten im Juni 2014 wurden Zukunfts- Geschichten basieren auf den vier im Workshop szenarien erarbeitet. Die Grundstruktur der definierten Szenarien und setzen diese miteinan- Szenarien wurde auf Basis des Desk Research vor- der in Verbindung. gegeben. Diese Szenarien wurden im Anschluss von den Autoren mit zusätzlichen Erkenntnissen ergänzt und überarbeitet. 70 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Glossar

Algorithmus Beschreibt ein Lösungsverfahren in Crowdfunding/ Crowdinvesting Auch Schwarm- Form einer Verfahrensanweisung, welche in einer finanzierung. Beschreibt eine Form der Finanzie- genauen Abfolge von wohldefinierten Schritten rung (funding) unterschiedlichster Projekte durch und einer endlichen Anzahl von Regeln zur Prob- eine grosse Menge (crowd) von Internetnutzern. lemlösung führt. Diese Verarbeitungsvorschrift Dabei wird online zur Spende aufgerufen. Privat- ist so präzise, dass sie von einem mechanisch oder personen stellen einem Unternehmen oder Start- elektronisch arbeitenden Gerät ausgeführt wer- up Eigenkapital zur Verfügung und erhalten eine den kann. symbolische Gegenleistung. Bei Crowdinvesting investieren Nutzer in eine Idee und erhalten dafür Always on Kurz für Always Online. Beschreibt – meist als stille Beteiligung – einen Anteil des die ständige Verbindung mit dem Internet und so- Unternehmens. Somit sind sie zum Beispiel auch mit die ständige Erreichbarkeit. an potenziellen Gewinnen beteiligt.

Avatar Beschreibt eine künstliche Person, ein Hypertech Vorhersehbare technologische Durch- Symbol oder eine Gestalt als grafischer Stellver- brüche, welche noch nicht im Alltag angekommen treter einer echten Person im Internet. sind.

Big Data Bezeichnet Datenmengen, die zu gross, ICT Steht für «Information and Communication zu komplex oder zu schnelllebig sind, um sie mit Technology». Die Verbindung der beiden Begriffe klassischen Methoden der Datenverarbeitung Informations- und Kommunikationstechnologie auszuwerten. ist in den achtziger Jahren aufgekommen. Sie steht für das Zusammenwachsen von Informations- Browser Ist ein Programm zur grafischen Dar- technologie (Informations- und Datenverarbei- stellung des World Wide Web. Beispiele sind In- tung sowie die dafür benötigte Hardware) und ternet Explorer, Safari, Firefox oder Google Kommunikationstechnologie (technisch gestützte Chrome. Kommunikation).

Cloud/Cloud-Computing Beschreibt das Spei- Internet der Dinge Bezeichnet die Vernetzung von chern von Daten in einem entfernten Rechen- «intelligenten» Gegenständen mit dem Internet, zentrum aber auch die Ausführung von Pro- damit diese Gegenstände selbstständig über das grammen, die nicht auf dem lokalen Rechner Internet kommunizieren können. Das Internet der installiert sind. IT-Ressourcen wie Server oder Dinge (Englisch «Internet of Things» oder IoT) soll Anwendungen müssen somit nicht mehr in pri- die Menschen bei ihren Tätigkeiten unmerklich vaten oder unternehmenseigenen Rechnern unterstützen ohne abzulenken oder aufzufallen. und Rechenzentren betrieben werden, sondern Dabei werden beispielsweise miniaturisierte Com- können flexibel und bedarfsorientiert als puter – sogenannte Wearables – mit unterschied- Dienstleistung über das Internet oder Intranet lichen Sensoren direkt in Kleidungsstücke einge- bezogen werden. arbeitet. Der Anwendungsbereich des IoT erstreckt GDI Gottlieb Duttweiler Institute 71

sich dabei von einer allgemeinen Informations- bringen zu wachsen oder sich zu ändern, wenn sie versorgung über automatische Bestellungen bis neuen Daten ausgesetzt sind. hin zu Warn- und Notfallfunktionen. MOOCs Massive Open Online Courses. Bezeich- Internet Service Provider (ISP) Anbieter von net eine Form von Onlinekursen, welche offen für Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit alle eingeschriebenen Studenten sind und zahlrei- dem Internet stehen. Häufig wird alternativ der che (massive) Teilnehmerzahlen aufweisen. Wäh- Begriff Internetdienstanbieter oder Internetprovi- rend xMOOCs auf Video aufgezeichnete Vorle- der/Provider verwendet. Die angebotenen Dienst- sungen mit anschliessenden Prüfungen sind, so leistungen umfassen beispielsweise die Verbin- verfolgen die cMOOCs die Idee eines Seminars dung zum Internet, das Hosting (die Registrierung oder Workshops und sind eher lernzentriert, in- und den Betrieb von Internetadressen, Webseiten formell und den sozialen Medien verpflichtet. oder Webservern) oder die Bereitstellung von In- halten. Netzneutralität Bezeichnet die technische Gleich- behandlung von Daten bei der Übertragung im Kollektive Intelligenz Auch Gruppen- oder Internet. Ein netzneutraler Internetdienstanbieter Schwarmintelligenz genannt, ist ein emergentes behandelt alle Datenpakete bei der Übertragung Phänomen und beschreibt die Fähigkeit eines gleich, unabhängig vom Sender oder Empfänger, Kollektivs zu sinnvoll erscheinendem Verhalten. vom Inhalt der Pakete und der Anwendung, die Kommunikation und spezifische Handlungen die Pakete generiert hat. von Individuen können intelligente Verhaltens- weisen des betreffenden „Superorganismus”, d. h. Open Data Bedeutet die freie Verfügbar- und der sozialen Gemeinschaft, hervorrufen. Nutzbarkeit von, meist öffentlichen, Daten und stützt auf die Annahme, dass vorteilhafte Ent- Künstliche Intelligenz Ist ein Teilgebiet der In- wicklungen unterstützt werden, wenn Daten für formatik und beschreibt die Automatisierung von die Allgemeinheit frei zugänglich sind und da- intelligentem Verhalten. Im Allgemeinen wird mit mehr Transparenz und Zusammenarbeit er- versucht, eine menschenähnliche Intelligenz möglichen. nachzubilden, also Computerprogramme oder Maschinen so zu bauen, dass sie eigenständig Pro- Open Source Bezeichnet eine Software, deren bleme bearbeiten können. Das Ziel ist, eine Intelli- Quelltext offenliegt, so dass jeder Nutzer den genz zu erschaffen, die wie der Mensch kreativ Quellcode einsehen und verändern kann. Die nachdenken sowie Probleme lösen kann und sich Open Source Initiative (OSI) definiert Kriterien, durch eine Form von Bewusstsein und Emotionen die Open Source Software erfüllen soll. auszeichnet. Peer-to-Peer (P2P) Bezeichnet eine Kommunika- Machine Learning Ist eine Form von künstlicher tion unter Gleichen. In einem P2P-Netzwerk sind Intelligenz, welche Computer befähigt zu lernen, alle Rechner im Netz gleichberechtigt: Jeder ohne explizit programmiert zu sein. Machine ­Rechner bietet anderen Rechnern Funktionen und Learning fokussiert auf die Entwicklung von Dienstleistungen an und nutzt wiederum von ande- Computerprogrammen, welche sich selbst bei- ren Rechnern angebotene Funktionen, Ressourcen, 72 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Dienstleistungen oder Daten. Ein zentraler Server schaftskonsum. Die Güter wechseln den Besitzer, ist dafür nicht notwendig. Populär wurden P2P- solange sie brauchbar bzw. verfügbar sind. Netzwerke durch den Austausch von Musik- und Videodateien über sogenannte Tauschbörsen. Der Begriff der Share Economy wird auch in Be- Peer-to-Peer-Learning bezieht sich auf das Errei- zug auf das Teilen von Informationen und Wissen chen von Bildungszielen mittels Interaktion von verwendet. Insbesondere im World Wide Web Studenten mit anderen Studenten. werden Inhalte und Wissen nicht mehr aus- schliesslich durch den Rezipienten konsumiert, Router Bezeichnet Netzwerkgeräte, welche mehre- sondern Rezipienten werden zunehmend auch zu re Rechnernetze koppeln oder trennen. Dabei ana- Distributoren. lysiert der Router die ankommenden Daten, die zu diesem Zweck in einzelne Datenpakete zerlegt wer- Smarte Dinge/Smart Objects Smart Objects den, nach ihrer Zieladresse, blockt diese oder leitet (intelligente Objekte) sind Objekte, die durch die sie entsprechend weiter (die Pakete werden «gerou- Einbettung von Informationstechnologien über tet»). Router kommen in unterschiedlichen Aus- Fähigkeiten verfügen, die über ihre ­ursprüngliche prägungen vor: von grossen Maschinen im Netz Bestimmung hinausgehen. Die wesentlichen Fä- bis hin zu kleinen Geräten beim Privatkunden. higkeiten dieser Gegenstände bestehen darin, Informationen zu erfassen, zu verarbeiten und Server Beschreibt ein Computerprogramm oder zu speichern und mit ihrer Umgebung zu inter- einen Computer, welche den Zugriff auf eine zen- agieren. trale Ressource oder einen Dienst im Netzwerk ermöglichen. Splinternet Auch Cyber-Balkanisierung oder Internet-Balkanisierung. Beschreibt, dass das In- Der Server als Software ist ein Programm, welches ternet aufgrund von zahlreichen Faktoren wie mit dem Nutzer kommuniziert, und ihm Zugang Technologie, Handel, Politik, Nationalismus, Re- zu speziellen Dienstleistungen verschafft. ligion und weiteren Interessen in geografische, nationale oder wirtschaftlich motivierte Teile Der Server als Hardware (auch Host) ist ein Com- aufgesplittet und geteilt wird. Die Fragmentie- puter, auf welchem mehrere Server (Software) rung des Internets bedroht seine Rolle als welt- laufen. umspannendes Netz.

Sharing Economy/Share Economy Der Begriff Clyde Wayne Crews, Forscher am Cato Institute, Share Economy wurde vom Harvard Ökonomen hat den Begriff zum ersten Mal benutzt, um ein Martin Witzman geprägt und besagt im Kern, Konzept von parallelen Internets, welche als un- dass sich der Wohlstand für alle erhöht, je mehr terschiedliche, private und autonome Universen unter allen Marktteilnehmern geteilt wird. Dabei funktionieren würden, zu beschreiben. Crews soll man als Nachfrager etwas nicht zum Eigentum hat den Begriff im positiven Sinn genutzt. In machen, sondern vorübergehend benutzen, be- letzter Zeit wird der Begriff aber zunehmend ne- wohnen oder bewirtschaften. Voraussetzung dafür gativ besetzt. ist das Eigentum eines Anbieters. Im Mittelpunkt steht die Collaborative Consumption, der Gemein- GDI Gottlieb Duttweiler Institute 73

TCP/IP Transmission Control Program/ Internet Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer phy- Protocol (TCP/IP) ist eine Protokoll-Familie für sikalischen Eigenschaften in einer in Echtzeit die Vermittlung und den Transport von Datenpa- computergenerierten, interaktiven virtuellen keten in einem Netzwerk und stellt die Basis für Umgebung. Virtual Reality bildet eine hochwerti- den Datenaustausch im Internet dar. Das Proto- ge Benutzerschnittstelle, die über Kopf- und koll beschreibt eine Vereinbarung, nach der die Handbewegungen, über die Sprache oder den Datenübertragung zwischen zwei oder mehreren Tastsinn gesteuert wird. Parteien abläuft.

Das TCP definiert, auf welche Art und Weise Da- ten zwischen Computern ausgetauscht werden sollen. TCP bildet damit die Transportschicht für den Datenverkehr im Internet und leistet Aufgaben wie die Herstellung der Verbindung, die Ab­ sicherung gegen Übertragungsfehler, die Auftei- lung des anfallenden Datenstroms in Pakete beim Absender und das korrekte Zusammenfügen der Datensegmente beim Empfänger.

Das IP bildet die Vermittlungsschicht der Daten- übertragung, auf die TCP aufbaut. Im IP wird die Adressvergabe der vernetzten Rechner geregelt. Man spricht auch von der IP-Adresse, die jeden mit dem Netzwerk verbundenen Rechner eindeu- tig identifiziert. IP bietet die Möglichkeit, unter- schiedliche Dienste auf einem Netz zu integrieren.

Tor Ist ein Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten und schützt seine Nutzer vor der Analyse des Datenverkehrs. Die Open-Source Software dient dazu, die eigene IP-Adresse zu ver- schleiern, indem sie Anfragen nicht direkt an die Zieladresse im Netz schickt, sondern über eine Kette von Proxyservern (Kommunikationsschnitt- stellen in einem Netzwerk) leitet. Jeder Proxy kennt nur seinen Vorgänger und Nachfolger, aber keiner kennt den ursprünglichen Absender der Anfrage und gleichzeitig den Empfänger.

Virtual Reality/Personal Reality Bezeichnet die Darstellung und gleichzeitige 74 Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft

Literaturauswahl

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