Sabina ZWITTER-GRILC

“Schatten der Scham“

Eine Untersuchung der transgenerationalen Traumaweitergabe unter den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Romnija und Roma, Jüdinnen und Juden in Text und Film

DISSERTATION

zur Erlangung des akademischen Grades

Doktorin der Philosophie

Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Fakultät für Kulturwissenschaften

Betreuer/in A.o. Univ.-Prof.in Dr.in Brigitte Hipfl Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft

Gutachter/in A.o. Univ.-Prof.in Dr.in Brigitte Hipfl Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft

Gutachter/in A. o. Univ-Prof. i.R. Dr. Vladimir Wakounig Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Institut für Erziehungswissenschaft & Bildungsforschung

Oberdorf/Gornja vas, Juni/2018

Eidesstattliche Erklärung

Ich versichere an Eides statt, dass ich - die eingereichte wissenschaftliche Arbeit selbstständig verfasst und andere als die angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt habe, - die während des Arbeitsvorganges von dritter Seite erfahrene Unterstützung, einschließlich signifikanter Betreuungshinweise, vollständig offengelegt habe, - die Inhalte, die ich aus Werken Dritter oder eigenen Werken wortwörtlich oder sinngemäß übernommen habe, in geeigneter Form gekennzeichnet und den Ursprung der Information durch möglichst exakte Quellenangaben (z.B. in Fußnoten) ersichtlich gemacht habe, - die Arbeit bisher weder im Inland noch im Ausland einer Prüfungsbehörde vorgelegt habe und - bei der Weitergabe jedes gebundenen Exemplars der wissenschaftlichen Arbeit sicherstelle, dass diese mit der eingereichten digitalen Version übereinstimmt.

Mir ist bekannt, dass die digitale Version der eingereichten wissenschaftlichen Arbeit zur Plagiatskontrolle herangezogen wird.

Ich bin mir bewusst, dass eine tatsachenwidrige Erklärung rechtliche Folgen haben wird.

Sabina Zwitter, e.h. Oberndorf / Gornja vas, 18.6.2018

2

Ponižanim in razžaljenim

„In dem Massengeschiebe ein paar Ureinwohner, oder Angestammte, in dem Fall Indianer, vom Stamm der Athabasken. Die sind auch daran zu erkennen, daß sie sich nicht bewegen, sondern sitzen, hocken, kauern, und zwar auf dem bloßen Erdboden, und zwar ein jeder der paar Übriggebliebenen für sich, weit weg vom jeweils andern, und nur von Zeit zu Zeit stehen die paar, wie auf ein gemeinsames Zeichen, auf und winken einander von ferne, über die Touristenköpfe hinweg, kurz zu: He, ich bin noch da! – Und ich auch! – Und ich auch!, und dann hocken sie sich wieder hin.“

Peter Handke, Immer noch Sturm

Ich danke allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, dem gesamten Team von „Schatten der Scham“ sowie meiner Familie für ihr Vertrauen und ihre große Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt Tatjana Koren-Zwitter, die mich in Stunden der Not und Freude im Rahmen des Dissertationsprojektes unterstützt hat.

Hvala!

3

Inhalt 1. Einleitung ...... 9 2. Die Position der Forscherin ...... 14 2.1. Die Einbeziehung des Subjektiven ...... 14 2.2. Biografische Skizze: Die erste Opfergeneration ...... 15 2.2.1. Die Deportation, die NS-Lager und die Rückkehr ...... 15 2.2.2. Die Zeit nach dem Lager ...... 16 2.2.3. Die zweite Opfergeneration ...... 17 2.2.4. Die dritte Opfergeneration ...... 19 3. Zum Erkenntnisinteresse und zur Wahl des Forschungsverfahrens: Die Verschränkung von empirischer Forschung und Dokumentarfilm ...... 22 3.1. Dissertationslayout: Genesis ...... 22 4. Die Forschungsfragen ...... 24 5. Die Forschungshypothese ...... 25 6. Die theoretischen Grundlagen des schriftlichen Teils des Dissertationsprojektes 26 6.1. The Cultural Studies Approach ...... 26 6.1.1. Konstruktion von Geschichte: Jedem seine Narration ...... 30 6.1.2. Die Nationalstaat-Geburtsstunde der österreichischen Minderheiten ..... 31 6.1.3. Nationalsozialismus: Vertreibung und Holocaust ...... 33 6.1.3.1. NS-Gewalt gegen die Kärntner Sloweninnen und Slowenen ...... 34 6.1.3.2. 500.000 ermordete Roma: Verschwiegene Opfer des Holocaust ...... 36 6.1.3.2.1. Erinnerung aus eigener Kraft: Vereinsgründungen, Volksgruppenanerkennung und Erinnern ...... 38 6.1.3.3. Der Raub des Namens: Die KZ-Nummer ...... 40 6.1.3.4. Die Shoah ...... 41 6.1.4. Die drei Opfergruppen ...... 43 6.1.4.1. Rückkehr: Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma ...... 44 6.1.5. Die 68er-Bewegung: Eine politische Reaktion auf den Nationalsozialismus ...... 47 6.1.5.1. Ein Vertreter der 68-Bewegung: Der Künstler Gottfried Helnwein – Ein Exkurs ...... 48 6.1.6. Minderheitenpolitik ...... 51 6.1.7. Der Wiedergutmachungsdiskurs in Österreich nach 1945 ...... 54 6.1.7.1. Drei Sintize: Ein Exkurs ...... 54 6.1.8. Restitution: Gründung des Österreichischen Nationalfonds ...... 56 6.1.9. Die Täter-Opfer-Umkehr ...... 57 6.1.10. Der neue Erinnerungsdiskurs ...... 57

4

6.1.11. Neonazismus und Antisemitismus ...... 60 6.1.11.1. Der jüdische Politiker Bruno Kreisky und seine Haltung in der Erinnerungspolitik ...... 61 6.1.11.2. Der Fall Borodajkewycz-Kirchweger...... 63 6.1.12. Antisemitismus in Sprache und Gesinnung ...... 63 6.1.13. Das Neuaufkeimen alter nationalsozialistischer Bünde ...... 64 6.1.13.1. Der Ulrichsberg: Ressentiments gegen Slowenen werden durch Ressentiments gegen Migranten abgelöst ...... 67 6.1.13.2. Antiziganismus ...... 69 6.1.13.3. Antiziganismus in Österreich: Der Bericht ...... 70 6.1.14. Postkoloniale Kritik ...... 72 6.1.14.1. Konstruktion von ethnischer Identität und Abgrenzung ...... 73 6.1.14.2. Ethnisierung und Reethnisierung ...... 75 6.1.14.3. Solitarismus, Ethnisierungs- und Reethnisierungsprozesse im transgenerationalen Opfer-Diskurs...... 77 6.1.14.4. Fünf speziellen Formen des ethnischen Stranges bei der Konstruktion von Identität ...... 77 6.1.14.5. Umgang im Wandel ...... 83 7. Traumatheorien ...... 85 7.1. Das Trauma ...... 85 7.2. Das Gedächtnis und die Erinnerung ...... 87 7.2.1. Transgenerationale Erinnerung ...... 87 7.2.2. Die Postmemory ...... 89 7.2.3. Connective Memories ...... 90 7.2.4. Verstehen und Zuhören: Szenisches Verstehen als Ausweg aus der Sprachzertrümmerung ...... 91 7.3. Die Generation ...... 92 7.4. Transgenerationale Traumaweitergabe ...... 93 7.4.1. Traumaweitergabe über drei Generationen ...... 95 7.4.1.1. First Generation: Die erste Opfergeneration – Die Überlebenden ...... 95 7.4.1.2. Second Generation: Die zweite Generation - Ersatz für die Ermordeten ..... 98 7.4.1.2.1. Lily Brett: Das Sprachrohr der zweiten Generation ...... 102 7.4.1.3. Third Generation: Die dritte Generation ...... 103 7.4.1.3.1. „Die Background Musik meines Lebens“ ...... 103 7.4.1.3.2. Gelebte Muster: Stolpersteine, Memory Candles und der “gepackte Koffer” ...... 104 7.4.1.3.3. „Nicht zulassen, dass das Unrecht wieder Platz greift“: Drei Cousinen ...... 106

5

7.5. Retraumatisierungen durch politische Ereignisse ...... 111 7.6. Multidirectional memory ...... 112 7.6.1. Multidirectional memory nach Michael Rothberg am Beispiel der türkischen Schriftstellerin Aslı Erdoğan ...... 113 7.7. Traumatherapie, Resilienz, Heilung ...... 117 7.7.1. ESRA und Aspis ...... 119 7.7.2. Neue Formen der Traumatherapie: Yoga, Qi Gong, Theater, Neurofeedback ...... 120 7.7.3. Die Täter ...... 122 7.7.4. Vergebung als Heilung des NS-Traumas: Eva Mozes Kor ...... 124 7.7.5. „Wir wollen Recht, nicht Rache“: Nazi-Jäger, die durch Gerechtigkeit die Wunden der Opfer heilen wollen ...... 125 7.8. Rolle der Kunst in der Erinnerungskultur ...... 128 7.8.1. Sprachzertrümmerung: Das Benennen, dessen was war ...... 128 7.8.2. Künstlerischer Umgang mit dem von den Nazis verursachten Leid der Kärntner Sloweninnen und Slowenen ...... 130 7.8.2.1. Die Hafner-Brüder ...... 131 7.8.2.2. Das Theater „teatr trotamora“ ...... 133 7.8.2.3. Andrina Mračnikar ...... 134 7.8.2.4. Die Krištof-Brüder ...... 134 7.8.2.5. Valentin Oman und Karl Vouk ...... 135 7.8.3. Künstlerischer Umgang mit dem von den Nazis verursachten Leid der Romnija und Roma ...... 136 7.8.3.1. Sinti-Jazz ...... 136 7.8.3.2. Die jenische Autorin Simone Schönett: Ein Staat für die europäischen Roma ...... 137 7.8.3.3. Sandra und Simonida Selimović: Gorki Theater mit der Idee für eine Roma- Armee ...... 139 7.8.4. Künstlerischer Umgang mit dem von den Nazis verursachten Leid der Jüdinnen und Juden ...... 140 7.8.5 Die „Global Souls“: Solidarität der Künstler Ilija Trojanow und Konstantin Wecker mit heute Verfolgten ...... 142 7.9. Der dritte Raum: Das Projekt „Zila Revival“ ...... 145 8. Die filmtheoretische Einbettung des Dissertationsprojektes sowie die Rolle der Authentizität bei der Bearbeitung von Erinnerungskultur ...... 150 8.1. Die Differenz im Dokumentarfilm ...... 152 8.2. Wurzeln des Authentizitätsdiskurses: Von den Brüdern Lumière bis zum aktuellen Dokumentarfilm ...... 154 8.3. Der aktuelle Authentizitätsdiskurs im Dokumentarfilm: Abbildung der Wirklichkeit oder performative Umsetzung ...... 155

6

8.4. Die Auswahl der diskutierten Beispiele ...... 160 8.4.1. „Numbered“ von Uriel Sinai und Dana Doron ...... 160 8.4.2. „Defamation“ von Yoav Shamir ...... 161 8.4.3. „Das Weiterleben der Ruth Klüger“ von Renata Schmidtkunz ...... 162 8.4.4. „Hannah Arendt - Ihr Denken veränderte die Welt“ von Margarethe von Trotta ...... 163 8.4.5. „Die Geträumten“ von Ruth Beckermann ...... 163 8.5. Verortung des filmischen Teiles des Dissertationsprojektes „Schatten der Scham“ als Praxis der Cultural Studies ...... 164 9. Genesis: Erkenntnisinteresse und Hintergründe des filmischen Teiles des zweiteiligen Dissertationsprojekt ...... 167 9.1. Recherche ...... 167 9.2. Konzeptierung des Filmprojektes ...... 168 9.3. Die inhaltliche Gestaltung ...... 170 9.4. Die Zeitschiene ...... 170 9.5. Die dokumentaristische Schiene ...... 170 9.6. Das Auftreten der drei Opfergenerationen und ihre Traumata ...... 171 9.7. Die Opfergruppen ...... 171 9.8. Die Expertenschiene ...... 171 9.9. Das Auftreten der Künstlerinnen und Künstler ...... 171 9.10. Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner ...... 172 9.10.1. First Generation ...... 172 9.10.1.1. Thea Scholl ...... 172 9.10.1.2. Elisabeth (Liese) Scheiderbauer ...... 174 9.10.1.3. Adolf Papai ...... 175 9.10.1.4. Katja Sturm-Schnabl ...... 176 9.10.2. Second Generation ...... 177 9.10.2.1. Emil Krištof und Gregej Krištof ...... 177 9.10.2.2. Fortunat und Stanko Olip ...... 178 9.10.2.3. Margaretha Kopeinig ...... 179 9.10.2.4. Martin Sadounik ...... 180 9.10.2.5. Harri Stojka ...... 181 9.10.3. Third Generation ...... 181 9.10.3.1. Ajda Sticker ...... 181 9.10.3.2. Olivia Pixner-Dirnberger ...... 182 9.10.3.3. Sandra Selimović ...... 182 9.10.4. Die Experten ...... 182

7

9.10.5. Die Künstlerinnen und Künstler ...... 183 9.11. Sprache ...... 184 9.12. Finanzierung und Kooperationspartner ...... 185 9.13. Produktionszeitrahmen und Drehorte ...... 186 9.14. Die Reaktionen auf „Sence sramote“ ...... 187 9.15. Präsentationen: Vom österreichischen Parlament bis in den Libanon ...... 187 9.15.1. Die Premiere von „Schatten der Scham“ und die Ausstrahlungen im ORF ...... 188 9.15.2. Die Kinopremieren ...... 190 9.16. Der Prof. Claus Gatterer-Preis ...... 191 9.16.1. Die neue Rezeption von Gatterer in Südtirol ...... 192 9.16.2. Aufführungen in Südtirol ...... 193 9.17. „Schatten der Scham“ in Libanon ...... 193 9.18. Rezeption des Filmes durch die Presse ...... 194 9.19. Plot des Dokumentarfilmes „Schatten der Scham“ ...... 194 9.20. Im Rückblick kontextualisierte Reflexion des Dokumentarfilmes „Schatten der Scham“ ...... 195 10. Resümee ...... 243 11. Literaturverzeichnis ...... 245 12. Anhang ...... 261 13. Beilage ...... 263

8

1. Einleitung

Das zweiteilige Dissertationsprojekt „Schatten der Scham“, mit einem wissenschaftlich-schriftlichen Teil und einem Dokumentarfilm, hat sich im Sinne der Cultural Studies zum Ziel gesetzt, durch die konsequente Vermittlung der Perspektive der NS-Opfer in drei Generationen und der Reaktionen auf ihre Oral History-Berichte, eine neue Sicht der Dinge und eine neue Narration zu schaffen. Der Arbeit ist eine biografische Skizze der Autorin vorangestellt, durch die ersichtlich wird, dass ihr Vater mit seiner Familie in ein NS-Lager deportiert wurde und seine Kinder sowie auch die Enkelkinder auf die Weitergabe des durch die Nationalsozialisten verursachten Traumas in unterschiedlicher Weise reagieren. Die Verschränkung von Wissenschaft und Dokumentarfilm im Rahmen dieses Projektes hat ihre Basis in der Tätigkeit der Autorin als Journalistin. Zur Beantwortung der Forschungsfragen in Bezug auf die Auswirkungen des NS- Traumas in drei Generationen wurde der schriftliche Teil der Dissertation in drei große Themenbereiche gegliedert. Im ersten Abschnitt wird mit dem Cultural Studies Approach die Narration über die im Rahmen des Dissertationsprojektes erfassten Opfergruppen – das sind die Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma sowie die Kärntner Sloweninnen und Slowenen – dekonstruiert. Als Grundlage dafür dienen einerseits die Oral History- Berichte der Opfer in drei Generationen und andererseits das Offenlegen des hegemonial bestimmten Umganges mit den Überlebenden nach deren Rückkehr aus der Vertreibung sowie mit ihren Nachkommen. In einem Exkurs wird die Rolle der 68er-Bewegung – am Beispiel des Künstlers Gottfried Helnwein – im nachkrieglichen Verdrängungsdiskurs beleuchtet. Des Weiteren wird dargestellt, wie sich die österreichische Politik auf das ständige Aufkeimen von Neonazismus, Antiziganismus und Antisemitismus auswirkt. Dem Ansatz der postkolonialen Kritik folgend wird erläutert, dass die Stigmatisierung und Diskriminierung der NS-Opfer im Zuge von Ethnisierungs- und Reethnisierungsprozessen – nach Bukow und Wakounig – bestimmte Identitätskonstruktionen zur Folge haben. Gemäß Forschungsthese kommt es bei den Opfern in drei Generationen zu einem widerständigen, tabuisierten oder bewusst verdrängenden Umgang auf die NS-Gewalt. Diese drei Muster zur Konstruktion eines Identitätsstranges werden von zwei zusätzlichen Varianten umrahmt, die bei lediglich zwei Opfergruppen – nämlich den Romnija und Roma sowie den Jüdinnen und Juden – zutage treten: Dies sind der unversöhnliche und der lebenszentrierte Umgang mit Folgen der NS-Gewalt. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass ein jeder Umgang im Laufe des Lebens auch Veränderungen unterzogen werden kann.

9

Der zweite Themenbereich befasst sich mit der Traumaforschung, die durch unterschiedliche Formen von Gedächtnis und diverse Erinnerungsarten bestimmt wird. Transgenerationale Erinnerung, Postmemory, Connective Memories, das szenische Verstehen und das Zuhören werden als Wege aus der Sprachzertrümmerung der Opfer dargelegt. Laut Forschung erfolgt die Traumaweitergabe transgenerational. Es wird erläutert, dass Opfer der ersten Generation beispielsweise durch Schweigen auf das Leben und Empfinden ihrer Kinder und Enkelkinder Einfluss nehmen. Speziellen psychischen Mustern folgend – wie etwa durch großes gesellschaftliches Engagement – reagiert die zweite bzw. die dritte Opfergeneration entsprechend auf die weitergegebenen seelischen Verwundungen ihrer Vorfahren. Politische Ereignisse, wie z. B. das Aufkeimen von Neonazismus, können bei Opfern Retraumatisierungen hervorrufen. Im Exkurs „Multidirectional memory“ wird beleuchtet, wie der Schriftstellerin Aslı Erdoğan in türkischer Haft die Lektüre des Buches „Shoah“ von Claude Lanzmann dazu verhalf, ihr aktuelles Leiden verarbeiten zu können. Ein weiteres Kapitel erklärt die Rolle der psychosozialen Dienste „ESRA“ und „Aspis“ bezüglich Traumatherapie, Resilienz und Heilungsansätzen. Die führenden Traumaforscher dieser Organisationen, die im filmischen Teil des Dissertationsprojektes als Analytiker auftreten, stellen mit internationalen Expertinnen und Experten neue Formen der Traumatherapie – von Yoga über Qi Gong und Theater bis zu Neurofeedback – vor. Obwohl die Rolle der Täterinnen und Täter in diesem Dissertationsprojekt größtenteils ausgeklammert wurde, widmet sich ein Kapitel dennoch den Kindern von Täterinnen und Tätern, die von diesen wiederum im häuslichen Umfeld zu Opfern gemacht wurden bzw. werden. Es folgen Ausführungen über das Spektrum des Heilungsdiskurses, beginnend bei der von der Auschwitz-Überlebenden Eva Mozes Kor propagierten Forderung, Opfer sollten den Täterinnen und Tätern vergeben, um Selbstbestimmung über ihr Leben wiederzuerlangen, bis hin zu jüdischen Institutionen, die die Täterinnen und Täter zu ihrer Verantwortung ziehen wollen und in denen sich bestimmte Personen als Nazi- Jäger engagieren. Grundlegend für das Dissertationsprojekt ist die Rolle der Kunst in der Erinnerungskultur, die darum bemüht ist, das was war, entsprechend zu benennen. Die künstlerischen Beiträge aus den Reihen der Opfergruppen haben heute auf qualitativer Ebene internationales Niveau erreicht. Von dem Schriftsteller Peter Handke und der Schriftstellerin Maja Haderlap bis zum Roma-Künstler Karl Stojka treten Künstlerinnen und Künstler gegen das institutionalisierte Schweigen auf. Aufgrund der durch die NS-Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen mitverursachten Assimilation der Volksgruppe und des daraus resultierenden Verstummens des slowenischen Idioms wird die Schaffung einer Transtopie, eines dritten Raumes – in Form des Projektes „Zila Revival“ – vorgestellt. Darin wird auch

10 die künstlerische Praxis der Filmemacherin und Wissenschaftlerin Trinh T. Minh-ha berücksichtigt, in der die Möglichkeiten von Zwischenräumen ermittelt werden. Der dritte Themenbereich des schriftlichen Teiles des Dissertationsprojektes widmet sich der filmtheoretischen Einbettung des Dokumentarfilmes „Schatten der Scham“ – also dem zweiten Dissertationsteil – und der damit einhergehenden Rolle der Authentizität. Dabei wird evident, dass sich der Dokumentarfilm bei der Bearbeitung von Erinnerungskultur zwischen Realismus und Konstruktion bewegt. Darüber gibt die Filmhistorie erste Aufschlüsse. Die Beleuchtung der Geschichte des Authentizitätsdiskurses – von den Brüdern Lumière bis zum aktuellen Dokumentarfilm – und die Auseinandersetzung mit aktuellen Dokumentarfilmbeispielen ermöglichen eine Verortung von „Schatten der Scham“ im filmischen Erinnerungsdiskurs. Abschließend gibt die Dissertation einen detaillierten Überblick in die Entstehungsgeschichte des filmischen Teiles des Dissertationsprojektes „Schatten der Scham“, vom Drehbuch über die Finanzierung, die Wahl der Interviewpartnerinnen und -partner, bis hin zu den Filmvorstellungen und der Prämierung. Eine kontextualisierte Reflexion des Dokumentarfilmes „Schatten der Scham“ ermöglicht einen kommentierten Einblick in das Transkript des filmischen Teiles. Der spezielle Zugang zur Thematik ist als Resultat der rund 30-jährigen Tätigkeit der Autorin als Journalistin der ORF-Minderheitenredaktion in Wien zu verstehen. Im Kreise einer internationalen Kolleginnenschaft, die in über zehn verschiedenen Sprachen und Kulturen zu Hause war bzw. ist, befasste sich die Autorin neben Migrations-, Volksgruppen- und Minderheitenfragen immer wieder insbesondere mit Themen betreffend Romnija und Roma sowie Jüdinnen und Juden. So konnten sowohl die Problematiken als auch die Schönheiten ihres Lebens, ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft in zahlreichen Fernsehbeiträgen behandelt werden. Einen Schwerpunkt bildete diesbezüglich der Umgang mit der NS-Gewaltherrschaft, der die in dieser Arbeit behandelten Gruppen zum Opfer fielen. Sehr bald schon kristallisierten sich Parallelitäten heraus, denen sich dieses Dissertationsprojekt widmet. Autorinnen und Autoren, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Filmemacherinnen und Filmemacher, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Journalistinnen und Journalisten aus den Reihen der Volksgruppe der Kärntner Sloweninnen und Slowenen, der sich auch die Autorin zugehörig fühlt, befassten sich in den letzten Jahren in ihrer wissenschaftlichen bzw. künstlerischen Arbeit eingehend mit der Geschichte ihrer von den Nationalsozialisten verfolgten Mütter, Väter, Großmütter und Großväter. Es wurden aufrüttelnde, berührende und anklagende Dokumente geschaffen, die zu einem neuen Bewusstsein sowohl innerhalb als auch außerhalb der Minderheit geführt haben.

11

Es ist eine Zeit des Überganges, den der Kärntner slowenische Universalgelehrte Fabjan Hafner in seiner Preislaudatio für den Schriftsteller Peter Handke sprachlich erspürte: „Handke ist eben kein Grenzgänger, sondern er hält die Grenze aus, indem er sich auf die Grenze drauf stellt und auf beiden Seiten der Grenze zu stehen versucht. Es ist kein Hinüberwechseln – kein Grenzverkehr, kein kleiner und kein großer –, und es ist auch kein Grenzgang. Es ist ein Grenzstand, ein Bestehen der Grenze, er hält diese Grenze aus.“1 Eine solche Grenze ist erreicht, da es immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt, die als Betroffene der NS-Diktatur berichten können. So ist es ein Gebot der Stunde, das Leid dieser Opfergeneration zu benennen. „Zu sagen, was war“2, wie es Peter Handke im Interview für den zweiten Teil des Dissertationsprojektes, den Dokumentarfilm „Schatten der Scham“, formulierte. Das ist es, was nun ansteht: Jenen, die ihrer Sprache beraubt, deren Psyche gebrochen und deren Identität beschädigt wurde, ist die Gesellschaft schuldig, Zeugnis abzulegen. Sie sollten dies jedoch nicht nur für die Opfer tun, sondern vor allem auch für sich selbst. „Es kann keine Zukunft gedeihen, die einen nicht den Ruhm und den Schmerz der eigenen Vergangenheit verstehen lässt“3, analysiert der Bürgerrechtskämpfer Harry Belafonte im filmischen Teil des Dissertationsprojektes. Aufgrund des Zuganges des Dissertationsprojektes, die NS-Traumaweitergabe nicht auf eine einzige Opfergruppe zu beschränken, wurde das Leid der Kärntner Sloweninnen und Slowenen, der Jüdinnen und Juden sowie der Romnija und Roma – wie in Wissenschaft und Literatur Usus – in einen breiteren, universellen Zusammenhang gestellt. Das Trauma von NS-Opfern soll in Beziehung mit dem Leid ethnisch Diskriminierter weltweit gesetzt werden. Diese Vorgehensweise soll als Möglichkeit gewertet werden, die Scham der Überlebenden, da diese durch die nationalsozialistische Gewalt zu Opfern gemacht wurden, zu durchbrechen. Mittels Offenlegung der Universalität von Unterdrückungs- und Entmenschlichungsmechanismen sowie mithilfe der Benennung des Erlebten durch die Opfer soll die Möglichkeit der Heilung eröffnet werden. Eine zusätzliche besondere Eigenschaft dieser Arbeit ist die Zugriffsmöglichkeit auf ein bestehendes Arbeitsarchiv, das sich aus der langjährigen journalistischen Tätigkeit der Autorin ergibt. In den letzten Jahrzehnten ist es gelungen, Künstlerinnen und Künstler zur Thematik dieser wissenschaftlichen Arbeit zu befragen, und deren Aussagen können nun hier einfließen.

1 Hafner, Fabjan (2014). Oha, sivec! Peter Handke und die Slowenen / Peter Handke in Slovenci. Celovec-Ljubljana-Wien: Mohorjeva / Hermagoras, Seite 28 2 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 3 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 12

Im Zuge der Arbeit für das Dissertationsprojekt kristallisierte sich ein Bruch mit der derzeit gängigen transgenerationalen Traumaforschung4 heraus, da sich diese sowohl mit Opfern bzw. Überlebenden als auch mit Tätern befasst. Wie bereits angeführt, befasst sich diese Arbeit mit den Tätern und ihren Nachkommen nur von einem einzigen Aspekt aus. Zu bemerken bleibt aber dennoch, dass nur die Schuldeinsicht und die daraus resultierende Haltungstransformation von Tätern und ihren Nachfahren eine tatsächliche Befriedung mit sich bringen kann. Im filmischen Bereich wurden aus der Perspektive der Nachkommen von NS-Tätern hochinteressante Filmprojekte5 produziert, auf die nur kurz eingegangen werden kann. Durch die für das Dissertationsprojekt gewählte Perspektive auf die Opfer wurde die Täterforschung weitgehend ausgeblendet.

4 Vgl. Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag 5 Vgl. The End of the Neubacher Project: http://www.neubacherproject.com/d_synopsis.htm, 16.6.2018 13

2. Die Position der Forscherin

Die Perspektive auf die Problemstellung ergibt sich einerseits aus dem wissenschaftlichen Zugang der Forscherin und andererseits aus dem Blickwinkel der Journalistin. Darüber hinaus darf aber auch die persönliche Sichtweise, nämlich jene der Betroffenen als Tochter eines Opfers der NS-Vertreibung, nicht ausgeblendet werden. Da Opfer in drei Generationen ihre Erinnerungen für dieses zweiteilige Dissertationsprojekt der Autorin anvertraut und ihre traumatischen Reaktionen auf die NS-Gewalt mitgeteilt haben, soll eine biografische Skizze anhand der persönlichen Familiengeschichte die für die Arbeit relevanten transgenerationalen Aspekte offenlegen.

2.1. Die Einbeziehung des Subjektiven Das Mitdenken des persönlichen Zuganges in dieser Thematik ist für Philipp Mettauer unbedingt notwendig. Er meint als Herausgeber eines Sammelbandes zur transgenerationalen Traumaweitergabe: „(…) Ohne gleichzeitige Selbstreflexion oder eigene Standortbestimmung besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass Projektion, Übertragungen und Gegenübertragungen wirksam werden (…).“6 Jo Schmeiser zitiert, in eigener Übersetzung, die Wissenschaftlerin Grada Kilomba, die zum dekolonialisierten Wissen geforscht hat: „(…) das Persönliche und das Subjektive als Teile des akademischen Diskurses miteinbezieht. Denn wir alle sprechen aus einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Ort, aus einer bestimmten Geschichte und Wirklichkeit – es gibt keine neutralen Diskurse.“7 Es waren und sind die Kontakte und Freundschaften, die zu einer jahrzehntelangen inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Themen dieses Dissertationsprojektes führten und zur Folge hatten, dass sich einerseits die Menschen mir in den Interviews für das Dissertationsprojekt vertrauensvoll öffneten und anderseits die Empathie für ihre Erinnerungen in Bezug auf die leidvollen Erfahrungen seit dem NS-Regime und für ihre psychischen Belastungen ermöglicht wurde. Vor allem ist es aber der Grundidee des Dissertationsprojektes, den ethnischen, historischen und journalistisch-wissenschaftlichen „Grenzständen“8, zu verdanken,

6 Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 8 7 Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 211 8 Vgl. Fabjan, Hafner (2014). Oha, sivec! Peter Handke und die Slowenen / Peter Handke in Slovenci. Celovec-Ljubljana-Wien: Mohorjeva / Hermagoras, Seite 28 14 dass auch Künstlerinnen und Künstler sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich entschlossen, dieses Projekt zu unterstützen.

2.2. Biografische Skizze9: Die erste Opfergeneration 2.2.1. Die Deportation, die NS-Lager und die Rückkehr Mein Vater Stanko Zwitter wurde als zweieinhalbjähriges Kind mit seinen Eltern Marija und Janko Zwitter, seinem fünfjährigen Bruder Franzi und meiner Urgroßmutter Marija Zwitter aus Achomitz / Zahomec von den Nationalsozialisten deportiert. Die Familie Zwitter, vulgo Abuja, ist laut Chroniken seit Jahrhunderten auf diesem Bauernhof im Gailtal / Zila beheimatet und fühlte sich seit jeher der slowenischen Volksgruppe zugehörig. Meine Großonkel Franzi und Mirt Zwitter waren führende Funktionäre der slowenischen Volksgruppe in Kärnten. Sie wurden während des Nazi- Regimes zur Wehrmacht eingezogen. An der Tür ihres Bruders Janko, der den Bauernhof – von dem die Familie Zwitter abstammt – weiterführte, klopfte es am 15. April 1942. Fünf Polizisten ließen meinen Vorfahren eine Stunde Zeit, um ihr Hab und Gut zusammenzupacken. Eine Schwester, meine Großtante Paula, erinnerte sich, dass das ganze Dorf geweint hat, als sie mit Wagen abgeführt wurden. Für meinen damals fünfjährigen Onkel Franzi war an diesem Tage der Vertreibung die schrecklichste Frage, was mit dem von ihm so geliebten Fohlen passieren würde. „A boma cizlna mitvzelə? – dt.: „Werden wir das Fohlen mitnehmen?“ – fragte er immerzu. Mein Vater berichtete mir, was ihm später immer wieder erzählt wurde, dass ihn meine Großmutter während der Deportation eine Zeit lang auf einem Töpfchen sitzend herumtrug, da er an Durchfall erkrankt war. Meine Großeltern sind beide in ihren 50igern an einer Krebserkrankung verstorben. Ihre vier Söhne Franzi, Stanko und die nach dem Krieg geborenen Brüder Janko und Martin berichten, dass ihnen der Vater an langen Winterabenden – alle um und am Kachelofen liegend – wieder und wieder von der Zeit im Lager erzählt hatte. Mein Onkel Franzi erinnert sich, dass das Leben im Lager eine gefährliche Zeit war, denn jeder Verstoß gegen die Lagerordnung wurde schwer geahndet. Der Lagerführer schlug seinem Freund die Nase blutig, weil er und mein Onkel Franzi mit verfaulten Erdäpfeln spielten: „Mich rettete meine Mutter, die zufällig in der Nähe war. Mein Spielgefährte Joško Kokot ist aus dem Lager nie mehr heimgekommen“.10 Dass meine Großmutter in der Nähe

9 Vgl. Yildiz, Erol (2018). Gesichter der Migration. Innsbruck. Projektleitung Erol Yildiz: „(…) Wie sind Menschen in familiale und andere grenzüberschreitende Netzwerke eingebunden? Wie bewegen sie sich in transnationalen Räumen? Wie kombinieren sie unterschiedliches miteinander und entwickeln daraus eigene Lebensentwürfe?“, Folder 10 Vgl. Zwitter-Grilc, Sabina (2009). „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“: Was macht Journalismus aus politischen Strategien. Eine Analyse am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen der Kärntner Politik und dem slowenischen Interessensvertreter Rudi Vouk zur Durchsetzung der zweisprachigen Ortstafelfrage. Wien: Diplomarbeit, Seite 40f. 15 war, war reiner Zufall, denn die Frauen mussten in Haushalten von NSDAP- und NS- Funktionären arbeiten, die Männer in der Landwirtschaft und in den Rüstungsbetrieben. Onkel Franzi berichtete auch von einer Hierarchie im Lager. Es gab solche, denen es noch schlechter erging als meiner Familie. Sie mussten hungern und wurden eingesperrt. Mein Onkel bezeichnete meine Großmutter als eine Heldin, weil er beobachten konnte, wie sie ein Stück Brot in ihrer Schürze versteckte und es in einem unbeobachteten Moment einem verhungernden polnischen Gefangenen gab. Mein Großvater hat auch einen Brief aus dem Lager nach Hause, nach Achomitz / Zahomec, geschrieben, in dem seine Sorge und Verzweiflung erkennbar wird. Politisch führte die Tatsache, dass zwei Brüder der Familie Zwitter in der Wehrmacht dienten, während ein weiterer deportiert wurde, dazu, dass nach Interventionen der erwähnten Großonkel Franzi und Mirt Zwitter für ihren Bruder, einer Rückkehr in zugestimmt wurde. Diese scheiterte jedoch am Veto des lokalen Ortsgruppenleiters, d. h. die Rückkehr wurde durch einen Nachbarn im Heimatort verhindert. Meine Vorfahren überlebten die NS-Lager Ettlingen, Gerlachsheim, Hagenbüchach, Rastatt und Rehnitz. Viele Erinnerungen und Erzählungen ranken sich um die Rückkehr der Familie, wie etwa der erste Blick auf das heimatliche Gailtal / Zila, als sie mit dem Pferdewagen über die Windische Höhe fuhren. Diese Erzählung verursacht bis heute Tränen in den Augen aller Familienmitglieder sowie das Entsetzen darüber, dass der Hof nach ihrer Rückkehr leergeräumt war. Der Neffe meiner Urgroßmutter Marija Zwitter suchte am Tag der Deportation die „ščirca“, die kleine Hacke, seiner Tante, die sie immer bei sich trug. Sie konnte in Klagenfurt bleiben und musste nicht in den Deportationszug. Als sie nach Hause zurückkehrte, übergab ihr der Neffe, die Kärntner Skisprungtrainerlegende Franc Wiegele, stolz die „ščirca“, die er für sie wie einen Schatz gehütet hat.

2.2.2. Die Zeit nach dem Lager Mein Vater und mein Onkel wurden im Lager nicht unterrichtet, sie mussten später die Schule nachholen, was naturgemäß zu einer Stigmatisierung hätte führen sollen. Die Zwitter-Buben begegneten jedoch, so die Narration, jedem Versuch der Diskriminierung mit großem Selbstbewusstsein. Dass sich mein Vater – als wir Kinder im Volksschulalter waren – einen Deutschen Schäferhund11 anschaffte, der mehr einem Lamm ähnelte als den bösen Brüdern seiner Spezies, und drei Autos der Marke Mercedes12, die er im Endeffekt mithilfe seiner Kinder zu Schrott fuhr, ist wohl auch als ein Zeichen einer eher

11 Der Wachhund der Nationalsozialisten wird von vielen Opfern abgelehnt, da bereits durch das Gebell die Gefahr einer Retraumatisierung droht. 12 Viele Opfer verweigerten den Gebrauch von explizit deutschen Marken. 16 selbstbewussten Reaktion auf die Gewalt durch die Nationalsozialisten zu deuten. Alle Brüder der Familie lehnen gleichermaßen Uniformen und Marschmusik ab und mit dem Ausführen von Befehlen von oben haben sie es nie besonders ernst genommen. Auch in meiner Familie lebt ein Hund, ein sehr kleiner, von allen Nachbarn zurecht gefürchteter Mischlingshund. Er beschützt die Familienmitglieder – inklusive meiner zwei Wiener Nichten, die er zur Familie zählt – nicht nur sprichwörtlich, aufs Blut. Der Hund befolgt Befehle nur, wenn ihm danach ist. Wir lieben unseren widerständigen, kleinen Čepej. Mein Vater besuchte als Jugendlicher die Gastronomie-Schule in Ljubljana und arbeitete danach zwei Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff, damit kam er in den frühen 1960er Jahren sogar bis Tokio und über 50 Mal nach New York. Sein Bruder Franzi besuchte die Holzfachschule im Salzburger Kuchl. Beide heirateten, bekamen Kinder und eröffneten Gastronomiebetriebe. Sie wurden als Kärntner Slowenen stigmatisiert, bekämpft, bedroht und erarbeiteten sich letztendlich durch unermüdlichen Einsatz, mit Verzicht auf Privatleben und Schlaf, die Anerkennung, und damit meist die Sympathie in der gesamten Region. Ihre Mehrsprachigkeit und Offenheit machte sie zu öffentlichen Exponenten der Alpen-Adria-Region, wobei diese enorme Anstrengung gesundheitliche Folgen für beide mit sich brachte. Mein Vater fühlte sich seiner Familie und dem heimatlichen Hof sehr verbunden und es fiel ihm nicht leicht in die Fremde zu gehen. Einmal musste er am Weihnachtsabend das Zuhause verlassen. Mein Vater erinnert sich daran, dass es für ihn die größte Freude war, als er von seinem Lohn für seinen Vater den „Stall vollmachen konnte“, d. h. eine gewisse Summe an Geld für den Ankauf von Vieh zur Verfügung stellen konnte.

2.2.3. Die zweite Opfergeneration Meine Mutter, Waltraud Zwitter, war meinem Vater in seinem Lebensprojekt eine Partnerin, wie sie erst in meiner Generation gang und gäbe wurde. In unserer Familie gab es keine klassische Rollenteilung, jeder musste alles tun. So wickelte mein Vater – wenn nötig – meinen kleinen Bruder, während meine Mutter – wenn nötig – über 50 kg schwere Kochtöpfe hin und her hob. Sie war neben ihrer Funktion als Chefin und Köchin im Gastronomiebetrieb Thörl-Maglern/Vrata-Megvarje, Lehrerin, später Direktorin in der örtlichen Volksschule und Mutter von vier Kindern. Auch sie bekam die Stigmatisierung zu spüren. Deutschnationale im Ort sammelten Unterschriften, um zu verhindern, dass eine Kärntner Slowenin eine Anstellung im Ort bekam. Waltraud Zwitter war in ihrer Tätigkeit als Volksschulpädagogin – ohne jemals das Licht der slowenischen Sprache unter den Scheffel zu stellen – eine Versöhnerin. Sie begleitete ihre Schulkinder zu den 10. Oktober-Feierlichkeiten, bei denen das

17

Deutschtum Kärntens beschworen wurde, um sie dann am nächsten Tag – mit ihnen auf der Wiese liegend – aufzufordern, zu hören, welche Namen ihnen die Blumen in drei Sprachen zuflüsterten. Als meine Mutter als Volksschuldirektorin in den Ruhestand ging, waren an ihrer Schule rund 80 Prozent der Kinder zum Slowenisch- Unterricht angemeldet. Eine späte Genugtuung. Mein Vater ist ein überaus großzügiger, temperamentvoller Mensch, ein Mann voll Empathie und Witz. Er wurde zum Opfer der Nationalsozialisten gemacht und er betrachtete sein Überleben als Auftrag, das Leben mit beiden Armen zu packen. Legendär in unserer Familie ist auch die Geschichte, wie er einen tschechoslowakischen Flüchtling versteckte, wie er versorgt und an einen sicheren Ort geführt wurde, um seine Flucht fortsetzen zu können. Nach einem Jahr schrieb der Flüchtling eine Postkarte aus den USA, in der er sich für die unglaubliche Hilfe bedankte. Meine Eltern litten unter den Folgen des Jugoslawienkrieges, denn bei uns arbeiteten immer wieder Fachkräfte – man nannte sie „das Personal“ – aus Serbien, Bosnien und Kroatien. Diese Menschen, die uns Kinder unter anderem erzogen, für uns auch Familie waren und in geschäftigen Zeiten, in jeder Lebenslage zur Seite standen, wie etwa das Ehepaar Zoran und Lidija und unsere „Baka“ – die Großmutter – wurden durch den Krieg innerfamiliär zu Feinden. Rassistisch motivierter Wahnsinn, der meine Familie, meist unbewusst, an das durch den Nationalsozialismus verursachte menschliche Leid erinnerte. Es war mein Vater, der mir – seit ich mich erinnern kann – und jedem, der es hören wollte, sagte, dass ich später nach Klagenfurt / Celovec in das Slowenische Gymnasium gehen werde. Was ich und mein jüngster Bruder schließlich auch taten. Durch den Betrieb, in dem täglich bis zu 1.000 Gäste bewirtet wurden, wurde Deutsch zur Umgangssprache in unserer Familie und natürlich auch mit den Mitarbeitern. Es ist umso schöner und auch den Großeltern zu verdanken, dass für alle vier Enkel meiner Eltern – Ana, Ela, Jurij und Mira – das slowenische Idiom (ziljščina) ihre Muttersprache ist. Diese leicht gelungene Re-Assimilation kann als Beispiel für die reale Möglichkeit der Sprachrettung des Slowenischen im Gailtal / Zila gewertet werden, denn nur wenige Kinder sprechen in diesem Gebiet noch slowenisch, während es die über 70-Jährigen zum Großteil noch können. Die Deportation der Familie meines Vaters hat sich – wie diese Arbeit nicht im persönlichen, sondern im globalen Rahmen zeigen wird – auch auf seine Frau, auf uns Kinder und unsere Kinder übertragen. Diese eigene Betroffenheit hat sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit der transgenerationalen Traumaweitergabe des Öfteren und auf unterbewussten Ebenen nicht immer angenehm manifestiert. Emotionen und psychische Reaktionen kamen an den Tag, wie etwa folgende: Im Rahmen der Frage des Anspruches von Restitutionszahlungen war meine Ursprungsfamilie nicht bereit, den von Krankheit gezeichneten, lebensfrohen Vater irgendwelchen

18

Untersuchungen oder Evaluationen unterziehen zu lassen. Dies wurde von dem damals uns beratenden leitenden Arzt von ESRA, dem Psychosozialen Dienst der jüdischen Gemeinde, David Vyssoki, als typische Reaktion der zweiten Generation eingestuft. Eine Information und Erkenntnis, die jedoch an der Haltung der Familien nicht das geringste änderte. Als ich im Rahmen der Recherche für das Dissertationsprojekt erfuhr, dass Verica Sturm, an Scharlach erkrankt, im Arm ihrer Mutter ermordet wurde, durchfuhr mich ein kalter Schauer. Ich musste in meiner Kindheit zweimal über Wochen hinaus wegen dieser Krankheit ins Krankenhaus und wurde dort in Quarantäne behandelt. Ganz klar in Erinnerung blieb mir die Winterhaube meines Vaters, der sich hinter einem Baum vor dem Fenster des Krankenhauses versteckte, um sein Kind zu sehen. Er wollte nicht gesehen werden, wahrscheinlich um mein Heimweh in Grenzen zu halten. Auch mein Kind erkrankte mehrere Male an Scharlach, obwohl erkannt wurde, dass die Krankheit mit Antibiotika behandelbar ist, ließ mich das jedes Mal in Verzweiflung stürzen. Meine drei Brüder und mich eint – wie ich heute weiß – eine durch die NS- Vertreibung meines Vaters verursachte unsichtbare Verbindung. Diese drückt sich, obwohl wir sehr unterschiedliche Lebenswege beschreiten, oft auf verschiedenen Kontinenten leben und im Alltag durchaus Konflikte offen austragen, durch eine doch recht ähnliche Sicht der Dinge aus. Wir verabscheuen Bevormundung, hinterfragen alles und jeden, mögen keine Uniformen, machen unser Wohlergehen von jenem unserer Eltern abhängig und freuen uns über jeden Ausdruck von Kreativität und Freiheit. Dies mag in anderen Familien auch der Fall sein, in unserem Fall führt es auch zu einer professionellen Zusammenarbeit gegen Diskriminierung und Rassismus. Während ein Bruder Wissen ansammelt, ich dieses bearbeite, machen die anderen zwei – die beide Kameramänner sind – mit ihren Bildern unsere Arbeit anderen zugänglich. So geschehen auch im filmischen Teil dieses Dissertationsprojektes, dem Dokumentarfilm „Schatten der Scham“, der auch eine Verneigung vor den Opfern der NS-Gewaltherrschaft sein soll und sich für ein „never again“ stark macht.

2.2.4. Die dritte Opfergeneration Mein Mann Rihard ist Tierarzt, Puppentheaterregisseur und Aktivist. Uns beide verbindet neben dem romantischen Aspekt das Engagement für den Erhalt der Minderheitensprache und Minderheitenkultur. Wir arbeiten hart für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle. Dieses Engagement hat uns in unserer Jugend, in der Zeit der Auseinandersetzung um die zweisprachige Schule in den späten 1980er Jahren, dazu gebracht, die Kärntner Landesregierung zu besetzen und mit Freunden am Christbaum auf dem Wiener Rathausplatz das Banner mit der Aufschrift „Apartheid bringt uns auf die Palme“ zu entrollen. 19

Meine berufliche Vita ist bestimmt von meiner knapp 30-jährigen Tätigkeit in der ORF-Minderheitenredaktion. Neben dem Kontakt zu meinen internationalen Kolleginnen und Kollegen hat mich vor allem ein Ereignis persönlich geprägt: Im Rahmen der Briefbombenserie von 1993 bis 1996 hat meine Kollegin und Freundin, die Journalistin und Moderatorin unserer Sendung „Heimat Fremde Heimat“, Silvana Meixner, stellvertretend für den ORF, eine Briefbombe von Franz Fuchs erhalten. Ihr gegenüber saß die damalige Sekretärin der Redaktion Elisabeth Schneeberger. Meixner öffnete den Brief, in ihrer Hand detonierte die Bombe. Die Journalistin überlebte und leidet bis heute an den Folgen des Attentats. Silvana Meixners größtes Anliegen war, sofort nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus wieder auf den Schirm zurückzukehren. Deutschnationales Gedankengut und Fremdenhass sollten nicht gewinnen. Ich war zum Zeitpunkt der Explosion im Schneideraum, als mich der damalige Leiter der Minderheitenredaktion, Helmut Kletzander, anrief, dass ich sofort kommen sollte, denn Silvana Meixner sei soeben Opfer einer Briefbombe geworden. Ich lief durch die Gänge des ORF, als ich bei der Redaktion ankam, lag meine Kollegin und Freundin in einer Blutlache auf einer Krankenbahre und beim Aufbrechen ins Krankenhaus. Helmut Kletzander schickte mich mit einem klaren Auftrag in den Schneideraum zurück: „Gehen Sie, machen Sie die Beiträge fertig, egal wie. Wir (Anm.: Heimat Fremde Heimat) sind diese Woche auf Sendung.“ Die Sendung „Heimat Fremde Heimat“, das interkulturelle Magazin des ORF, das jeweils sonntags um 13.30 Uhr auf ORF 2 ausgestrahlt wird, feiert 2019 unter der Leitung von Silvana Meixner sein 30-jähriges Jubiläum. Die Sendung wird nach wie vor von Silvana Meixner moderiert. Zurück zu meiner Familie. In den letzten Jahrzehnten habe ich neben künstlerischen Produktionen in unzähligen Projekten zur Erinnerungs- und Friedensarbeit versucht, Menschen zum kritischen Denken zu bewegen. Das letzte Projekt zu diesem Thema war die Zeitschrift „Was geht mich das an? / Kaj mene to briga?“13, die mit Jugendlichen, aktiv im slowenischen Kulturverein KPD Drava in Schwabegg / Žvabek, als inhaltliche Rahmung für die Enthüllung der ersten von einer Kärntner Gemeinde initiierten Gedenktafel für die deportierten slowenischen Familien während des NS- Regimes, herausgegeben wurde. Die Töchter Ana und Ela revoltieren zwar innerfamiliär auf vielen Gebieten, befinden aber meine Arbeit und jene meines Mannes als überaus wichtig. Wir haben unseren Töchtern schon im sehr jungen Alter erzählt, dass ihr Großvater als kleines Kind von den Nationalsozialisten von zu Hause vertrieben und drei Jahre in Lagern eingesperrt wurde. Beide Töchter tragen eine Art widerständiges Gen in sich: Die ältere, Ana,

13 Erinnerungsarbeit in Form der Zeitschrift „Kaj mene to briga? / Was geht mich das an?“: http://www.kpddrava.at/?p=14584, 16.6.2018 20 protestierte im Kärntner Landtag im Zuge der Diskussion, ob das Slowenische als zweite Landessprache in die Verfassung aufgenommen werden soll. Mehrere Jugendliche sangen auf der Landtagsgalerie das Protestlied „Vstani in se brani“ (dt.: Steh auf und wehre dich).14 Dieser friedliche Protest imponierte auch der Ikone der Kapitalismuskritik Jean Ziegler, der sich in einer Videobotschaft mit den slowenischen Jugendlichen solidarisiert.15 Ana studiert das künstlerische Lehramt an der Angewandten in Wien und engagiert sich im Klub slowenischer StudentInnen und Studenten in Wien / Klub slovenskih študentk in študentov na Dunaju (KSŠŠD), und zwar sogar als derzeitige Vorsitzende. Das engagierte Team – viele von ihnen sind Vertreterinnen und Vertreter der dritten Opfergeneration – agiert basisdemokratisch und will mit Vorträgen, Lesungen und Festen, wie etwa im Rahmen vom „Antifaschistischen Winter / Antifašistična zima“ oder dem „Feministischen Frühling / Feministična pomlad“, Studentinnen und Studenten eine neue Perspektive auf Politik und Gesellschaft eröffnen. Meine jüngere Tochter, Ela, besucht das Slowenische Gymnasium. Sie spricht mit mir im Gailtaler slowenischen Idiom, mit ihrem Vater im Jauntaler slowenischen Dialekt. In der Schule lernt sie die slowenische Hochsprache und Italienisch. Wir achten darauf, dass die Kinder mit uns und mit ihren Freunden nach Möglichkeit in der Minderheitensprache sprechen, was natürlich oft auch auf Widerstand stößt. Die Kinder innerhalb der slowenischen Volksgruppe werden oft insofern überfordert, da ihnen die Aufgabe von den Eltern übertragen wird, die Reste der Kultur und Sprache aufrechtzuerhalten. Sie spielen in den lokalen Theatergruppen und werden neben Sport und Erlernen eines Instruments in die Tätigkeit der lokalen slowenischen Kulturvereine eingeführt. Deshalb ist davon auszugehen, dass in einigen Jahren auch Ela mit ihren fast gleichaltrigen Cousinen Dunja und Dana in die Fußstapfen von Ana, meines Mannes und mir treten wird und das Kärntner slowenische Jugend- Kulturfestival „Kontaktna leča / Kontaktlinse“ organisieren wird. Letzteres wurde von uns vor 30 Jahren ins Leben gerufen. Meine Töchter haben ein besonders liebevolles Verhältnis zu ihren Großeltern und sehen es skeptisch, wenn wir Kinder ihnen kritisch oder wenig respektvoll begegnen. Sie lieben sie, verehren sie, sehen ihnen jeden Fehler nach und genießen jede Minute mit ihnen.

14 Protestlied im Kärntner Landtag: https://www.facebook.com/LutkeMladje/videos/1375141229207821/, 16.6.2018 15 Solidaritätserklärung von Jean Ziegler: https://www.facebook.com/LutkeMladje/videos/1383872925001318/, 16.6.2018 21

3. Zum Erkenntnisinteresse und zur Wahl des Forschungsverfahrens: Die Verschränkung von empirischer Forschung und Dokumentarfilm

Anlässlich der 70. Wiederkehr der NS-Vertreibung von weit über 200 slowenischen Familien aus Südkärnten im April 194216, soll die Weitergabe des verursachten Traumas bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Romnija und Roma, Jüdinnen und Juden sowie die gesellschaftspolitische Auswirkung in einem zweiteiligen Dissertationsprojekt behandelt und untersucht werden. In einem zweidimensionalen Verfahren wird die kommunikationswissenschaftliche Forschung mit der filmischen Praxis verschränkt. Dabei soll eine Sparte die andere befördern: Ein kommunikationswissenschaftlicher Zugang, der – zuletzt betrieben von Historiker und ORF-Legende Claus Gatterer – als bleibendes Exempel statuiert wurde.17

3.1. Dissertationslayout: Genesis Ursprünglich sollte der Dokumentarfilm als ein Teil des zweigliedrigen Dissertationsprojektes auf den fertigen Ergebnissen der schriftlichen Dissertation aufbauen. Jedoch war die 70. Wiederkehr der NS-Deportation der Kärntner Sloweninnen und Slowenen ein unumgängliches Eckdatum dieses Projektes, da die Stimmen der Opfer in ihrer Anwesenheit hörbar und sichtbar gemacht werden sollten. Mit der Dokumentation sollten so viele Opfer der ersten Generation als nur möglich erreicht werden. Daher wurde die Filmdokumentation „Schatten der Scham / Sence sramote“ vorgezogen und termingerecht präsentiert. Die im Rahmen des Filmes erhobenen Interviews mit den Opfern aus drei Generationen der Romnija und Roma, Kärntner Sloweninnen und Slowenen sowie Jüdinnen und Juden dienen damit auch dem schriftlichen Teil. Die Interviews sind Material für die Überprüfung der Forschungshypothese, die davon ausgeht, dass die NS-Traumaweitergabe spezielle Formen des ethnischen Stranges bei Identitätskonstruktionen hervorbringen kann. Die schriftliche Arbeit verortet weiters auf breiter wissenschaftlicher Basis – kulturwissenschaftlich, psychologisch (Psychotrauma-Forschung), kommunikationswissenschaftlich, filmtheoretisch und historisch – die im Dokumentarfilm bearbeiteten Themenkomplexe und bettet das gewählte Filmgenre in den aktuellen kommunikationswissenschaftlichen Diskurs ein. Dieser behandelt

16 Vgl. Zveza Slovenskih Izseljencev / Verband ausgesiedelter Slowenen et al. (Hg.) (1992). Narodu in državi sovražni. Pregon koroških Slovencev 1942 / Volks- und staatsfeindlich. Die Vertreibung von Kärntner Slowenen 1942. Celovec / Klagenfurt: Založba Drava Verlag - Mohorjeva založba / Hermagoras Verlag 17 Michael-Gaismair-Gesellschaft (Hg.) (1993). Claus Gatterer: der Mensch, der Journalist, der Historiker. Ein Symposium über Claus Gatterer. Bozen: Edition Raetia 22 die Möglichkeiten, wie Erinnerung heute filmisch bearbeitet werden kann. Der schriftlichen Begleitung der Produktion, von der Recherche bis zu den Präsentationen des filmischen Teiles des Dissertationsprojektes, wird im zweiten Teil der Dissertation Rechnung getragen. Eine kontextualisierte Reflexion des transkribierten Filmes – von den Interviews bis zur Bildbeschreibung und Motivationsoffenlegung – verbindet noch einmal die beiden Dissertationsstränge.

23

4. Die Forschungsfragen

Die über dem gesamten Dissertationsvorhaben stehenden Forschungsfragen lauten: 1. Wie haben die Opfer des Nationalsozialismus, im Speziellen die Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Jüdinnen und Juden sowie Romnija und Roma, ihr Trauma an ihre Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben? 2. In welchen Formen schlagen sich diese Traumata bei der ethnisch-kulturellen Identitätskonstruktion der zweiten und dritten Opfergeneration nieder? 3. Welche Möglichkeiten und Potenziale stellen Kunst, Sprache und Film, bei der Thematisierung von Erinnerungskultur und bei der Überwindung des NS-Traumas bereit? 4. Aus welchen Blickwinkeln und mit welchen filmischen Ausdrucksformen kann Erinnerungskultur über Filme transportiert werden? Auf die erste Forschungsfrage geben sowohl der Cultural Studies Approach als auch Traumatheorien Aufschluss. Zuerst wird ab Kapitel 6.1. der hegemonial determinierte Umgang mit den Überlebenden der NS-Lager und ihren Nachkommen auf historischer, politischer und soziologischer Ebene dekonstruiert. Dem Cultural Studies Approach folgend kommen die Opfer in drei Generationen zu Wort und teilen ihre Perspektive auf die Geschehnisse mit. Die Traumatheorien ab Kapitel 7. geben aus psychologischer Sicht Einblick in die transgenerationale Traumaweitergabe in drei Generationen. Die zweite Forschungsfrage wird im Rahmen des Kapitels zur Postkolonialen Kritik (Kapitel 6.1.1.4) behandelt. Im Rahmen von Ethnisierungs- und Reethnisierungsprozessen nach Bukow und Wakounig widmet sich das Kapitel 6.1.1.4.4. den fünf speziellen Formen des ethnischen Stranges bei der Konstruktion von Identität. Antworten auf die dritte Forschungsfrage werden im Kapitel 7.8. gefunden, wo beleuchtet wird, welche Rolle Kunst im Rahmen der Erinnerungskultur spielt. Im Speziellen wird dann der künstlerische Umgang mit dem von den Nationalsozialisten verursachten Leid bei den Romnija und Roma, Jüdinnen und Juden sowie Kärntner Sloweninnen und Slowenen anhand von konkreten Beispielen untersucht. Im Kapitel 8. wird in Beantwortung der 4. Forschungsfrage die Rolle der Authentizität bei der Bearbeitung von Erinnerungskultur sichtbar gemacht. Der Raum zwischen den Polen Realismus vs. Konstruktion hilft den zweiten Teil des Dissertationsprojektes filmtheoretisch einzubetten.

24

5. Die Forschungshypothese

Iris Wachsmuth führt in ihrem Beitrag „Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(inne)n und Mitläufer(inne)n“ aus, dass es verschiedene Arten von familiärer Weitergabe gibt. Das könne „(…) die tabuisierte, die verheimlichte, die bedeutungslos gewordene, die widerständige sowie die christlich eingebundene Familiengeschichte (…)“18 sein. Ähnlich dem Kategorisierungsschema von Iris Wachsmuth besagt die forschungsleitende Hypothese dieser Dissertation, dass die Überlieferung des Traumas im zu untersuchenden Kontext sich in fünf speziellen Formen des ethnischen Stranges bei der Konstruktion der Identität von Überlebenden, deren Kindern und Enkeln von NS-Opfern verdichtet. Unter den Nachfahren der Opfergeneration bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen sind drei Muster im Umgang mit der Familiengeschichte als Reaktionen auf die Deportation der Elterngeneration zu erwarten. Ausschlaggebend dabei sind die von Bukow und Wakounig untersuchten Mechanismen der Ethnisierung und Reethnisierung19, sowie die Art des innerfamiliären Umganges mit dem Familientrauma: 1. der widerständige Umgang 2. der tabuisierte, verheimlichte Umgang mit gravierenden Folgen für die Minderheit 3. der bewusst verdrängende Umgang - sich mit dem Täter verbünden Umrahmt werden diese drei Muster im Umgang mit der Familiengeschichte von zwei ethnischen Identitätsvarianten, die man bei den Kärntner slowenischen Opfern nicht findet, wohl aber bei den beiden anderen Opfergruppen, den Romnija und Roma sowie den Jüdinnen und Juden: 4. der unversöhnliche Umgang 5. der lebenszentrierte Umgang Das Kapitel 6.1.1.4.4. widmet sich ausführlich diesen Formen von Identitätskonstruktion.

18 Wachsmuth, Iris. Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(inne)n und Mitläufer(inne)n. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 196 19 Bukow, Wolf-Dietrich (1996). Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Budrich; Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift 25

6. Die theoretischen Grundlagen des schriftlichen Teils des Dissertationsprojektes

Für die Dissertation zeigt sich ein Kanon aus Ansätzen aus den Kulturwissenschaften, den Kommunikationswissenschaften, der Psychologie, der Soziologie und Geschichte sowie aus der Traumaforschung als taugliches Instrument. Weiters dienen die erhobenen und im zweiten Teil des Dissertationsprojektes, dem Dokumentarfilm „Schatten der Scham“, eingesetzten Interviews mit NS-Opfern in drei Generationen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstlern als Datenquelle für den schriftlichen Teil des Dissertationsprojektes. Zusätzlich dienen die Interviews zur gestellten Thematik, die in den letzten Jahrzehnten zu diesem Thema im Rahmen der ORF-Minderheitenredaktion für das interkulturelle Magazin „Heimat Fremde Heimat“ von mir gemacht wurden, als ergiebige Quelle.

6.1. The Cultural Studies Approach Dieses Dissertationsprojekt hat in den Cultural Studies nach Stuart Hall und Lawrence Grossberg ein wissenschaftliches Werkzeug gefunden, mit dem es möglich erscheint, der gestellten Aufgabe in Kombination von wissenschaftlichen und filmischen Ansätzen zu begegnen. Stuart Hall wurde in Jamaika geboren und studierte aufgrund eines Stipendiums in Oxford. Ab 1964 arbeitete der linke Theoretiker mit interkulturellem Erfahrungsschatz für das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) der Universität Birmingham. Der Hall-Schüler Lawrence Grossberg fasste die Besonderheit des CCCS zusammen: Es sei “(…) nicht nur intellektuell wichtig (…)“, sondern auch ein „(…) Modell interdisziplinärer, kollektiver und politisch engagierter Forschung.“20 Andreas Hepp, Friedrich Krotz und Tanja Thomas führen nach Grossberg aus, dass die in Birmingham verhandelten Diskurse die Verbindungen von Macht, Identitäten und Culture(s) verhandelten und dabei „(…) Überlegungen der Semiotik, des Strukturalismus und Poststrukturalismus, der Gender-Theorien, aber auch des Post- und Neomarxismus einbeziehen.“21 Stuart Hall vertrat bis zu seinem Tod die den Cultural Studies immanente kritische Haltung auch zu den hierarchischen Strukturen des akademischen Apparates, den er als oft hinderlich beim selbstreflexiven Erforschen, dessen was vor sich geht, auswies.

20 Grossberg, Lawrence (1997). Bringing it all back home. Essays on Cultural Studies. Durham: Duke University press, Seite 197 21 Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 7 26

So sah auch Grossberg in den Cultural Studies kontextuell bedingte „Formationen“, die auf ein politisches Projekt und ihre geschichtliche und theoretische Einbettung reagieren und sich nach Bedarf neu bestimmen müssten.22 In Anlehnung an Grossberg und Hall haben Hepp, Krotz und Thomas das Wesen der Cultural Studies in fünf Begriffen zusammengefasst: „(…) erstens dem der radikalen Kontextualität, zweitens dem Theorieverständnis der Cultural Studies, drittens ihrem interventionistischen Charakter, viertens ihrer Interdisziplinarität, und schließlich fünftens ihrer Selbstreflexion (…).23 Die „radikale Kontextualität“24, der erste Schwerpunkt in dieser Aufzählung, zeigt, dass gesellschaftliche Umstände nicht als essenziell gesehen werden können, dass nichts außerhalb seines Kontextes begreifbar ist. Dieser Ansatz sowie das Werkzeug der Artikulation spielen für diese Dissertation eine große Rolle, da sich „Schatten der Scham“ zum Ziel gesetzt hat, essenziell verhandelte Strukturen, die zur Entrechtung und Marginalisierung von Gesellschaftsgruppen geführt haben, durch das Offenlegen der dahinter liegenden Beziehungen sichtbar zu machen. Ansätzen der Cultural Studies folgend versucht das Dissertationsprojekt durch die Artikulation den global verbreiteten Einsatz von Gewalt, den Entzug von Menschenrechten und die hegemonial tolerierte oder gesteuerte anhaltende Diskriminierung von Opfern zu verkoppeln und somit die dahinterliegenden Strukturen und Beziehungen offenzulegen. Der zweite Punkt, der das „Theorieverständnis“25 im prozesshaften Umgehen mit derselben sieht, birgt nach Hall die Chance in sich, „(…) uns Möglichkeiten zu eröffnen, die historische Welt und ihre Prozesse zu erfassen, zu verstehen und zu erklären, um Aufschlüsse für unsere eigene Praxis zu gewinnen und sie gegebenenfalls zu ändern.“26 Diese offengelegten Verknüpfungen haben in der Geschichte zu Leid geführt, das über die transgenerationale Traumaweitergabe bis in die Kinder- und Enkelgeneration weiterwirkt. Um Veränderung im Heute bewirken zu können, ist es nach Hall notwendig, konkrete Fragen in der Vergangenheit zu artikulieren, um dann mit den Antworten die Möglichkeit zu schaffen, dem Leid der Third Generation27 zu begegnen.28

22 Vgl. Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 8 23 Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 8f. 24 Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 9 25 Ebda. 26 Hall, Stuart (1989). Ausgewählte Schriften: Ideologie, Kultur, Medien, , Rassismus. Hamburg: Argument Verlag, Seite 173 27 Dritte Opfergeneration 28 Vgl. Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 9 27

Das dritte Schlagwort, der „interventionistische Charakter“29 der Cultural Studies geht davon aus, dass erforschtes Wissen dazu dienen soll, konfliktlösend einzugreifen. Diesem Ansatz von Hall folgend richtet sich der filmische Teil des Dissertationsprojektes an ein interessiertes Publikum, dem durch die der Dokumentation immanente Artikulation neue Lebenspraktiken aufgezeigt werden sollen. Der nicht unumstrittene interventionistische Charakter der Cultural Studies stellt auch die Rolle der Wissenschaftlerin, des Wissenschaftlers in den Mittelpunkt der Betrachtung. Hall stellte die Forderung nach dem „organic intellectual“ und seinem Werk auf, der zwei Aufgaben erfüllen müsse. Einerseits sei seine Aufgabe im intellektuellen Rahmen zu theoretisieren, aber: „ (…) second aspect is just as crucial: that the organic intellectual cannot absolve himself of the herself from the responsibility of transmitting those ideas, that knowledge (….) to those who do not belong, professionally, in the intellectual class.”30 Wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als „organic intellectuals“ positionieren und sich damit mit dem Protest von Vertretern der klassischen Theorieaufteilung im akademischen Apparat konfrontiert sehen, zeigt etwa das Beispiel des Lektors an der Wirtschaftsuniversität Wien und Philologen Christian Felber. Felber ist Gründungsmitglied der globalisierungskritischen Bewegung „Attac Österreich“, auf Betreiben von 141 Ökonomen wurde er aus einem AHS-Schulbuch gestrichen. In der Petition heißt es, dass Felber als romanischer Philologe „(…) über keine ökonomische Ausbildung verfügt und keine wissenschaftlichen Publikationen aufweist, stellt einen Affront für alle (österreichischen) Wirtschaftsforscher dar".31 Dem vierten maßgeblichen Prinzip der Cultural Studies, der „Inter- und Transdisziplinarität“32 folgend ist es Aufgabe der Wissenschaftlerin, des Wissenschaftlers sich die notwendigen Instrumente intellektuell anzueignen, die für das Erfassen eines Diskurses relevant sind. In diesem Dissertationsprojekt wird durch das Zusammenführen von Oral History, Postkolonialer Kritik, Traumatheorien sowie Filmwissenschaften als wissenschaftliche Werkzeuge versucht, den gestellten Fragen gerecht zu werden. Der Einsatz eines Dokumentarfilmes als Vermittlungsinstrument der untersuchten Thematik folgt einem Ansatz von Hall.

29 Ebda. 30 Hall, Stuart. Cultural studies and its theoretical legacies. In: Grossberg, Lawrence / Nelson, Cary / Teichler, Paula (Hg.) (1992). Cultural Studies. New York: Routledge, Seite 281 31 „‘Gemeinwohl-Ökonom‘ Felber aus Schulbuch entfernt“, Die Presse, vom 24.11.2016: https://diepresse.com/home/wirtschaft/eco1848/5123653/GemeinwohlOekonom-Felber-aus- Schulbuch-entfernt, 16.6.2018 32 Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 10 28

Das fünfte Werkzeug der Cultural Studies, die „Selbstreflexion“33 ist ein Leitgedanke des gesamten Projektes. Es wird nicht nur die Position des Subjektiven klargemacht, sondern diese auch als Forschungsmotivation gezeigt. Das Dissertationsprojekt versteht sich als prozesshaftes, wissenschaftlich- journalistisches Unterfangen, das in der Tradition der Cultural Studies bestrebt ist, Veränderung zu schaffen. Zu diesem Streben meint Grossberg, dass das Ziel dieses wissenschaftlichen Tools sei: “(…) to produce the best – most rigorous – knowledge possible about the world people live in, in order to open up and chance the political possibilities of people living together in a more humane world.”34 Die Cultural Studies wollen laut Grossberg erforschen, warum die Weltgesellschaften zu bestimmten Zeitpunkten auf verschiedene oder gleiche Form Strukturen produzieren, die da sind: „(…) the structures of inequality, injustice, violence, enslavement, subordination, etc. that have for so long constituted the limits of possibilities of people´s lives.”35 Dieser aufklärerische Zugang, den Menschen die Verknüpfungen, hegemonial bestimmte Verkoppelungen und Beziehungen erkennbar zu machen, soll in diesem Dissertationsprojekt als Untersuchungsinstrument angewandt Möglichkeiten von Partizipation aufzeigen. Da in diesem Dissertationsprojekt der Umgang mit marginalisierten Ethnien und interkulturelle Beziehungen auf verschiedensten Ebenen verhandelt werden, helfen die Instrumente der Cultural Studies sichtbar zu machen, dass über den „new cultural racism“ angenommene kulturelle Differenzen als Antworten auf soziale und gesellschaftliche Probleme instrumentalisiert werden. „As cultural policy, racism fixes – determies, limits, constrains – the creative abilities of people: it decides in advance what our cultural needs and aspirations are, what our cultural achievements will be. Racism is precisely A FIXING OF DIFFERENCE”36, so eröffnen Glenn Jordan und Chris Weedon in ihrer Untersuchung den Diskurs über Differenz, der auch im Zusammenhang mit den Positionen der Wissenschaftlerin und Filmemacherin Trinh T. Minh-ha im Dissertationsprojekt mehrfach diskutiert wird.37 Vor allem wird jedoch der Artikulation in den Cultural Studies folgend die Rolle der Künstlerinnen und Künstler im Dissertationsprojekt beleuchtet. Stuart Hall hat sich mit zunehmendem Alter immer intensiver für Kunst als Praxis der Cultural Studies

33 Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 11 34 Grossberg, Lawrence (2015). Learning from Stuartrt Hall, following the path with heart. Cultural Studies, Volume 29: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09502386.2014.917228?scroll=top&needAccess=tru e, 16.6.2018 35 Ebda. 36 Jordan, Glenn / Weedon, Chris (1995). Cultural Politics. Class, Gender, Race and the Postmodern World. Oxford: Blackwell Publishers, Seite 482 37 Vgl. Thrin T. Minh-ha (1991). When the moon waxes red. Representation, Gender and Cultural Politics. New York: Routledge, Seite 65 ff. 29 interessiert. Der Künstler Glenn Jordan hebt das Engagement von Stuart Hall bei der Gründung des Center for international und multicultural arts hevor. Die schwarze britische Kunst bearbeitete zu dieser Zeit den Kern der Cultural Studies: “(…) Artworks questions of representation – including issues of objectification of the black subject, the dominant gaze and counter-discourse. They also explored themes such as subjectivity, identity, the body, history/memory, difference, diaspora, hybridity, race, gender, sexuality, power, hegemony, reflexivity, and cultural politics.”38 Diese Zugänge helfen das Werk von Künstlerinnen und Künstlern bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, den Romnija und Roma sowie bei den Jüdinnen und Juden zu diskutierten. Für Hall eröffnete sich durch die Kunst, die Möglichkeit des Theoretisieren, der Schaffung von neuen Konzepten, die Kritik am Bestehenden zu üben und vor allem durch Verstörung die hegemonialen Strukturen aufbrechen zu können.39 Dieser Analyse von Stewart Hall folgt auch die im Dissertationsprojekt diskutierte Kunst im NS-Erinnerungsdiskurs. Sie schafft durch das künstlerische Benennen von „dem was war“ neue Räume und nimmt sich der Forderung von Gayatri Chakravorty Spivak nach dem “unlearning one´s own privileges“40, als Reaktion auf die vom Menschen als essenziell empfundenen, antrainierten, kopierten und institutionalisierten Geisteshaltungen und Gewohnheiten, an. Dadurch entsteht die Chance, dass sich neue Räume ergeben, die es gilt – wie im Fall des im Dissertationsprojekt ausgeführten Projektes „Zila revival“41 – kulturell neu zu bespielen.

6.1.1. Konstruktion von Geschichte: Jedem seine Narration Der kulturwissenschaftliche Zugang, zu fragen, was nicht erzählt und gefragt wird, ist auch ein Schlüsselmoment in der Erforschung der transgenerationalen Folgen der NS- Gewalt. „Was erzählt werden darf, wie erzählt werden darf, wird immer von der Macht festgelegt. Die Macht bestimmt, welche Erzählungen bevorzugt und welche unterdrückt werden. Sie bestimmt, welche als wahr und welche als falsch zu gelten haben. Mehr noch, sie definiert, auf welche Probleme und Fragen die Erzählungen eine ‚wahre‘ Antwort bieten müssen.“42

38 Jordan, Glenn. Beyond essentialism: On Stuart and black British Arts. In: Hipfl, Brigitte (2017). Cultural Studies. Legacies, Potentialities, and Challenges for Art Education. Journal of Research in Art Education. Vol 18-4, Seite 67 39 Ebda. 40 Ebda. 41 Vgl. Kapitel 7.9. 42 Larcher, Dietmar. Heimat - Eine Schiefheilung. Südtirols große Erzählungen - ein Versuch der Dekonstruktion. In: Larcher, Dietmar / Schautzer, Wolfgang / Thuswald, Marion / Twrdy, Ute (Hg.) (2005). Fremdgehen. Fallgeschichten zum Heimatbegriff. Klagenfurt / Celovec: Drava & Meran / Merano: alpha beta, Seite 168 30

Gleich in welcher Narration, allem liegt die Sprache zugrunde und der Mut auszusprechen, was in der Geschichtsschreibung oder im Fall von Menschenrechtsverletzungen verschwiegen wird. Dazu der Schriftsteller und Denker Robert Menasse im Interview für die Sendereihe „Heimat Fremde Heimat- Weitblicke“: „Wie schon La Salle gesagt hat - Aussprechen das was ist, ist bereits eine revolutionäre Tat. Sprache kann sehr viel verschleiern, das wissen wir, aber Sprache kann auch Schleier wegziehen, Vorhänge zur Seite schieben, Fenster öffnen, Luft und Licht hereinlassen und kann das Licht auf das, was vorliegt richten. Sprache ist auch so was wie ein menschliches Gedächtnis, also in dem Maß wie man erzählt, was passiert oder was wichtig und relevant ist in seiner Lebenszeit, wenn das einen gültigen Ausdruck findet, dann bleibt das.“43

6.1.2. Die Nationalstaat-Geburtsstunde der österreichischen Minderheiten Es sind die „universellen“ Wahrheiten, die seit dem Diskurs um „News und Fake- News“ wieder ganz alltäglich beschworen werden, die im Zusammenhang mit den Verbrechen an den NS-Opfern, den Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma sowie Kärntner Sloweninnen und Slowenen, in drei Generationen als wirksames Instrument der Verdrängung, Diskriminierung und Weiterführung von Gewalt herangezogen werden. Diese „ewigen“ Wahrheiten stützen ein Gerüst, das in jedem Fall die Mächtigen schützt. Diese Narrationen, die Geschichtsbücher von Generationen füllen, sollen verhindern, dass jene, die sich schuldig gemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden. Das von ihnen verursachte Leid und ihre Gewaltausübung werden verschwiegen und somit unreflektiert tradiert. So war es beispielsweise durch eine bestimmte Konstruktion der Wirklichkeit und die Politik des Vergessens möglich, dass der NS-Euthanasiearzt am Spiegelgrund Heinrich Gross nicht nur das Große Verdienstkreuz der Republik bekam, der vielfache Kindermörder konnte auch als psychologischer Gerichtsgutachter weiterarbeiten. Dass die Idee des Nationalismus, die in gesteigerter Form im Rassismus ausartete, auf breiter gesellschaftlicher Ebene Fuß fassen konnte, ist ein Erbe des sogenannten „Wilson-Dekrets“. Um die Ära nach dem Ersten Weltkrieg zu befrieden, verspricht der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson jeder nationalen Gemeinschaft ihren eigenen Staat. Dies ist auch die Geburtsstunde der europäischen Minderheiten. Da die Minderheiten der Idee der Homogenität eines Staates widersprechen, werden sie seither als störend empfunden.44 Der Schriftsteller Robert Menasse erläutert im ORF-Interview: „Nationen sind Fiktionen. Es wird einfach versucht auf einem bestimmten Territorium, das man entweder erobert oder so wie bei Österreich, das

43 ORF-Heimat Fremde Heimat-Rohmaterial: Interview mit Robert Menasse, Februar 2017 44 Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift 31 man zugesprochen bekommen, hat verschiedene Kulturen und Mentalitäten, die sich auf diesem Territorium befinden, unter ein gemeinsames Narrativ zu bringen und das kann ja nur erfunden sein. (…) Nationen haben Interessen. Nationen konkurrieren gemäß ihren Interessen gegeneinander, im Kampf um Märkte, im Kampf um Ressourcen und Bodenschätzen. Nationen konkurrieren, Nationen definieren Feinde, Konkurrenten, Regionen nicht.“45 National definierte Kollektive bieten ihren Bürgerinnen und Bürgern vermeintliche Sicherheit gegen Einflüsse von außen. Es werden Wir-Gruppen durch die Definition von anderen, die nicht dazugehören, hergestellt. In diesem Zusammenhang werden Minderheiten, deren Mutterstaat oft der konkurrierende Nachbarstaat ist, als Störung empfunden und werden dann zwischen bilateralen Interessen stehend zerrieben. Minderheiten, das zeigt die Geschichte, eigneten sich immer als Sündenböcke. Menasse appelliert: „Glaube nicht an diese falschen Kollektive, vor allem, wenn dir gesagt wird, du gehörst dazu und damit schenken wir dir eine Identität. Du musst aber anerkennen, wir haben Gegner, wir haben Feinde. Die Juden, die Minderheiten, die Flüchtlinge oder Menschen, die da wohnen, die nicht deine Sprache sprechen, die gehören alle nicht dazu und durch die Abgrenzung von anderen Menschen, durch die Distanzierung von anderen Menschen und irgendwann durch die Verfolgung anderer Menschen, bist du wer. Wenn du das glaubst, dann bist du wirklich schwach, möchtest du so schwach sein?“46 Für die in diesem Dissertationsprojekt behandelten tradierten Opfer-Reaktionen auf die NS-Gewalt spielen die Narrationen des Nationalstaates, wie von Eric Hobsbawm und Benedict Anderson eingehend erforscht, und der daraus resultierende Nationalismus eine gravierende Rolle.47 Der Schriftsteller Robert Menasse meinte dazu in einer Rede zum Stiftungsdokument der Europäischen Union, den Römischen Verträgen: „Nationalismus ist keine schöne Utopie, schon gar kein Menschenrecht, sondern ein historisches Verbrechen. Der Nationalismus ist nicht die Lösung, er ist das Problem.“48 Geschichtsbücher, Erzählungen, Legenden und Mythen sind identitätsstiftend, sie geben nationalen Zusammenhalt und grenzen jene aus, die die Narration stören und als Feinde stilisiert werden. Wakounig spricht in diesem Zusammenhang von einer „(…) Identitätslogik, die das Identische vom Nicht-Identischen trennt und nur jene Sichtweise zulässt, die die Konstruktion und den Erhalt des jeweiligen ethnischen

45 ORF-Heimat Fremde Heimat-Rohmaterial: Interview mit Robert Menasse, Februar 2017 46 Ebda. 47 Vgl. Hobsbawm, Eric (2005). Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt: Campus Verlag; Anderson, Benedict (1983). Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso 48 Menasse, Robert (2017). Rede im Europäischen Parlament anlässlich der Feier „60 Jahre Römische Verträge“, 21. März 2017 in Brüssel 32

Kollektivs sichert.“49 Feindbilder werden konstruiert. Was in Kärnten beispielsweise die Geschichten über die Bedrohung durch die Partisanen sind, ist im Burgenland das Bild des stehlenden, arbeitsscheuen „Zigeuners“, der eine Gefahr für die örtlichen Gemeinschaften darstellt. Antisemitische Legenden halten sich seit Generationen und sorgen für eine bestimmte Art der Rezeption, Erzählung und Niederschrift und Verfilmung der Geschichte des Zusammenlebens zwischen Mehrheit und Minderheit bzw. der Gewalt an Minderheiten. Die zweiteilige Dissertation will zeigen, dass durch die Benennung des Leides durch eine neue Geschichtsschreibung – nun auch gespeist mit den Erinnerungen und Erzählungen der Opfer, die Verarbeitung des Geschehenen in der Literatur und Kunst – einen wichtigen Schritt aus der Instrumentalisierung („Sprachzertrümmerung“) der Opfer durch hegemoniale Diskurse bewirken könnte. Peter Handke meint dazu in „Schatten der Scham“: „Das ist Selbstbewusstsein, Rückgrat genug, dass man erzählt, wie es war, und dass man nicht verschweigt, was war. Dass man um Gottes willen keine Scham hat, keine Scham à la Franz Kafka. Die Scham ist schon was Gutes, aber wenn die Scham einen hindert, was zu erzählen, dann ist es nichts Gutes.“50

6.1.3. Nationalsozialismus: Vertreibung und Holocaust Während der NS-Vertreibung, dem Holocaust wurden von den Nationalsozialisten über 500.000 Romnija und Roma51, über sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Auch Angehörige der vergleichsweise kleinen Volksgruppe der Kärntner Sloweninnen und Slowenen wurden Opfer der Nationalsozialisten. Diese Zahlen – hinter welcher sich jeweils ein tragisches Menschenschicksal verbirgt – wurden in der österreichischen Narration bis vor Kurzem verdrängt und in jedem Fall wurde die Sicht der Geschichte vonseiten der Opfer ausgeblendet, oft mit der Argumentation, man wolle den sozialen Frieden bewahren und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen. Dazu meint der Schriftsteller Peter Handke im filmischen Teil des Dissertatiosnprojektes: „Das Nazitum zu relativieren, da bin ich total dagegen. Dass man sagt, die Nazis waren Menschen. Das waren keine Menschen. Das ist die Entmenschtheitzeit, wie es sie noch nie gegeben hat. Nein, nein, ich bin absolut auf der Seite der Entrechteten, auch der Sprache Beraubten. Jetzt inzwischen, das ist mir alles ganz klar, was die Tragödie war: Die Slowenen in Kärnten, zumindest was das Elternhaus bzw. das Großelternhaus betrifft, waren alle absolut gegen Tragödie.

49 Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift, Seite 18 50 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 51 Die Begriffe Romnija und Roma dienen laut der Roma-Konferenz in London im Jahr 1971 als Überbegriff für Roma, Sinti, Lovara, Kalderasch, Jenische. 33

Dass Menschen, die nie Tragödie erleben wollten, Tragödie erleben mussten, das ist die Tragödie.“52

6.1.3.1. NS-Gewalt gegen die Kärntner Sloweninnen und Slowenen Am 14. und 15. April wurden mehr als 200 slowenische Familien von ihren Höfen vertrieben.53 Die NS-Schergen kamen unangekündigt und die Menschen mussten ihr Hab und Gut zusammenpacken. Das NS-Opfer, die Slawistin Katja Sturm-Schnabl erinnert sich an die Fahrt ins Lager in „Schatten der Scham“: „Es gingen die Türen zu und es war stockfinster und es ist so etwas wie eine Panik ausgebrochen. Manche Leute haben ein Feuerzeug angezündet, andere haben wieder gekreischt, dass es gefährlich sei. Es war so, wie soll ich sagen, eine ganz schreckliche Situation und unsere Mutter hat uns dauernd versucht an sich zu halten, weil sie Angst hatte, dass sie uns vielleicht zertrampeln. Das ist die Hölle, wenn der Viehwaggon vollgestopft ist mit Menschen jeden Alters, Frauen, Männer, Kinder, Alte, Gebrechliche, Jüngere, also so sind wir eben, zwei Tage, zwei Nächte waren wir in diesem Waggon.“ Legitimiert wurde diese Verbrechen durch einen Befehl des Reichsführers SS , mit der „Anordnung Nr. 46/I des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums über die Umsiedlung der Kanaltaler und die Aussiedlung der Slowenen aus Kärnten“.54 Es wurden rund 1.000 Menschen deportiert, der jüngste war 16 Tage alt, der älteste 85. Wer „ausgesiedelt“ wurde, lag im Ermessen der Ortsgruppenleiter, die ihre Befugnis vom Standartenführer Alois Maier-Kaibitsch55 erhielten. Das Dreieck Ortsbauernführer, Bürgermeister und Ortsgruppenleiter hatte so die Entscheidungsmacht darüber, wer bleiben durfte und wer vertrieben wurde. Gehen musste, wer sich kritisch gegen das Regime äußerte, als nationaler Kärntner Slowene galt oder oft auch den wirtschaftlichen, oder gesellschaftlichen Interessen dieses Machtdreieckes widersprach. Als „volks- und staatsfeindlich“ gebrandmarkt mussten die Opfer Bescheide unterzeichnen, in denen sie auf ihren Besitz verzichteten, was den Weg für die Ansiedlung der Kanaltaler „rechtlich“ freimachte.56

52 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 53 Zveza Slovenskih Izseljencev / Verband ausgesiedelter Slowenen et al. (Hg.) (1992). Narodu in državi sovražni. Pregon koroških Slovencev 1942 / Volks- und staatsfeindlich. Die Vertreibung von Kärntner Slowenen 1942. Celovec / Klagenfurt: Založba Drava Verlag - Mohorjeva založba / Hermagoras, Seite 273 54 Zveza Slovenskih Izseljencev / Verband ausgesiedelter Slowenen et al. (Hg.) (1992). Narodu in državi sovražni. Pregon koroških Slovencev 1942 / Volks- und staatsfeindlich. Die Vertreibung von Kärntner Slowenen 1942. Celovec / Klagenfurt: Založba Drava Verlag - Mohorjeva založba / Hermagoras Verlag, 156f. 55 Vgl. Elste, Alfred (1997). Kärntens braune Elite. Klagenfurt / Celovec: Verlag Hermagoras / Mohorjeva, 112ff. 56 Vgl. Zveza Slovenskih Izseljencev / Verband ausgesiedelter Slowenen et al. (Hg.) (1992). Narodu in državi sovražni. Pregon koroških Slovencev 1942 / Volks- und staatsfeindlich. Die Vertreibung von Kärntner Slowenen 1942. Celovec / Klagenfurt: Založba Drava Verlag - Mohorjeva založba / Hermagoras Verlag, Seite 329 34

In Eichstätt, Frauenaurach, Hagenbüchach, Hesselberg, Rehnitz, Schwarzenberg und Weissenburg in Rastatt waren die Internierungslager, in die die Mehrzahl der Kärntner Sloweninnen und Slowenen in einem ersten Schritt deportiert wurde, und in der Umgebung dieser Lager Zwangsarbeit leisten musste.57 Für die Kärntner slowenische erste Opfergeneration steht im zweiten Teil des Dissertationsvorhabens Katja Sturm-Schnabl, die als sechsjähriges Kind mit ihrer Familie von den Nationalsozialisten deportiert wurde. In der Kärntner Geschichtsnarration und dem populären Sich-Erklären der Geschichte hat sich für lange Zeit – in jedem Fall bis zum Roman „Engel des Vergessens“ von Maja Haderlap (2011) – die Erzählung gehalten, dass das Leid der Kärntner slowenischen Opfer kein besonders Großes war. „Denen im Lager ist es ja besser gegangen als uns hier zu Hause“, „es sind ja fast alle zurückgekommen“, „sie haben ja da draußen arbeiten können“ – dies waren die Hauptargumente in einem Diskurs, in dem Täter zu Opfern gemacht wurden und das Leid der Vertriebenen ausradiert werden sollte. Die Schriftstellerin Maja Haderlap hat das Leid ihrer Großmutter, die Ravensbrück überleben konnte, die ihres Vaters und ihre eigene Betroffenheit beschrieben, und hat somit eine neue Narration der Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen miterschaffen. In diesem Sinne sind auch die Erinnerungen von Katja Sturm-Schnabl als Antwort einer betroffen Kärntner Slowenin zu werten, die die Lager der Nationalsozialisten überlebt hat, im Gegensatz zu ihrer Schwester Verica: „Da waren wir schon hilflose Würmer, ausgeliefert diesem einfach grausamen Menschen. Wie meine Schwester so richtig krank war, ist sie (Anm. die Mutter) mit ihr zum Lagerarzt gegangen und hat ihn angefleht, er soll sie auch ins Krankenhaus schicken. Der Lagerarzt, den hat das wenig gekümmert und der hat gesagt: Na, dann wollen wir mal versuchen, und hat dem Kind eine Injektion gegeben und auf diese Injektion hin war das Kind auf der Stelle tot, noch im Arm meiner Mutter. Im Arm meiner Mutter ist der Kopf umgefallen und sie war tot.“ 58 Dass es heute in Kärnten auch die Narration der Verfolgungsgeschichte der Kärntner Sloweninnen und Slowenen gibt, ist neben der künstlerischen Arbeit, dem unermüdlichen Engagement des Verbandes der ausgesiedelten Slowenen59, den wissenschaftlichen Untersuchungen des Slovenski Znanstveni Inštitut / Slowenischen Wissenschaftsinstitutes in Klagenfurt / Celovec, Avguštin Malle samt Kolleginnen und Kollegen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Alpen-Adria Universität, um nur einige zu nennen: Valentin Sima, Brigitte Entner, Peter Gstettner und Karl Stuhlpfarrer, zu verdanken.

57 Vgl. Malle, Avguštin / Entner, Brigitte (Hg.) (2016). Die Vertreibung der Kärntner Slowenen 1942 / Pregon koroških Slovencev 1942. Klagenfurt/Celovec: Drava 58 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 59 in Vertriebenenverband umbenannt 35

Karl Stuhlpfarrer war es, der sich im Besonderen der wissenschaftlichen Untersuchung der Geschehnisse um den Peršmanhof angenommen hat. Er forschte in Archiven und fand Belege dafür, was mit jenen geschah, die am 15. April 1945 eine ganze Familie, Zivilisten ausgelöscht hatten. Stuhlpfarrer fand Dokumente, die belegten, dass 1946 gegen Soldaten der 4. Kompanie des I. Bataillons des SS- und Polizeiregimentes 13 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Die Täter schützten sich gegenseitig und wuschen sich rein. Sie wurden bis heute nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht. Die Regisseurin Tina Leisch verschaffte, nachdem sie als Kustodin im Museum am Peršmanhof Erinnerungsarbeit geleistet hat, mit einem Theaterstück60 dieser Affäre eine breite Öffentlichkeit. Im Zuge der Recherche für das Stück „Elf Seelen für einen Ochsen – Enajst duš za enega vola", dessen Entstehungsgeschichte führt sie ihre Suche nach Linz: „Ferry Öllinger empfiehlt uns Wolfgang Aistleitner, der selber Richter am Oberlandesgericht in Linz ist und mit seiner nur aus RichterInnen und StaatsanwältInnen bestehenden Theatergruppe ‚Das Tribunal‘ schon mehrere Justiz-Stücke inszeniert hat. Wolfgang Aistleitner zeigt sich interessiert. Ich erhalte Einsicht in die Akten des Ermittlungsverfahrens gegen die Polizisten der 4. Kompanie des Polizeiregiments 13, die des Massakers gegen vier Erwachsene und sieben Kinder der slowenischen Familien Sadovnik und Kogoj am Peršman verdächtigt wurden. Von 1946 bis 1949 wurden am Landesgericht Klagenfurt im Auftrag des Volksgerichtes Graz ZeugInnen und Beschuldigte vernommen. Etliche Verdächtige saßen in Untersuchungshaft. Die Akten dokumentieren einen gespenstischen Verlauf: Je mehr sich Verdachtsmomente verdichten, je mehr Aussagen vor allem den Kommandanten des Einsatzes, den bayerischen Leutnant Josef Reischl belasten, umso mehr scheint das Interesse der Behörden an der Eröffnung eines Verfahrens zu sinken.“61 Die Aufarbeitung im Rahmen der Erinnerungskultur des NS-Verbrechens auf dem Peršmanhof über Eisenkappel / Železna Kapla ist eine Verschränkung von wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit. Im filmischen Teil der Dissertation legt ein Nachfahre der ermordeten Familie einen „bewusst verdrängenden Umgang“ mit der Thematik an den Tag.62

6.1.3.2. 500.000 ermordete Roma: Verschwiegene Opfer des Holocaust Während die Ermordung von über sechs Millionen Jüdinnen und Juden nach der Befreiung der Konzentrationslager die Staatengemeinschaft auf dem Gebiet der sich entwickelnden Erinnerungspolitik und -forschung zu beschäftigten begann, wurden

60 Leisch, Tina (2004). Elf Seelen für einen Ochsen - Enajst duš za enega vola. In: Trans. Internet Zeitschrift für Kulturwissenschaften. http://www.inst.at/trans/15Nr/10_6/leisch15.htm, 16.4.2018 61 Ebda. 62 Vgl. Kapitel 6.1.14.4. 36 die NS-Gewalttaten an den Romnija und Roma verschwiegen.63 Im globalen hegemonialen Diskurs hatten die Romnija und Roma keine mächtigen, im Prinzip keinerlei, Fürsprecher. Seit jeher wird das Volk der Romnija und Roma an den Rand aller Gesellschaften gedrängt. Obwohl die Roma als Volk noch nie einen Krieg geführt haben, wurde ihnen das nicht gelohnt. Die Kultur der Romnija und Roma hat wichtige Impulse in allen künstlerischen Sparten gegeben und hat die Entwicklung der europäischen Kulturen befördert. Trotzdem wurden die ursprünglichen Träger dieser Kultur verfolgt und wurden gezwungen, um zu überleben, sich auch teilweise außerhalb der von den Staaten gesetzlich verordneten Rahmen zu bewegen. Karl Stojka, Lovara, KZ-Überlebender und Künstler war einer der Ersten, dem es gelang das Schicksal und die Auslöschung seiner Volksgruppe durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges öffentlich zu thematisieren. Mit seinem Werk „Mein Name im Dritten Reich war Z:5742“64 und seinem Bilderzyklus „Die zwölf Kreuzwege der Roma und Sinti im Dritten Reich“ leistete er in ganz Europa, Tokio und im Holocaust Memorial Council in Washington bedeutende Erinnerungsarbeit. Karl Stojka überlebte drei Konzentrationslager. Stojkas Vater wurde, gekleidet in einen Pepita-Anzug, so die Erzählung seines Sohnes Karl, verhaftet und später erhielt die Familie ein Paket der SS-Verwaltung des Konzentrationslagers Mauthausen. Karl Stojka erinnert sich: „Als die Mutter das Paket endlich offen hatte, schreckten wir alle zurück: drinnen lag der helle Pepita Anzug, etwas Wäsche, dann nahm Mutter Vaters Schuhe heraus, die keine Sohlen und keinen Absatz mehr hatten und schließlich fiel ihr eine kleine Schachtel aus der Hand und der Inhalt verteilte sich auf dem Boden: Es war Asche und kleine Knochenstücke. Mutter schrie auf und begann herzzerreißend zu weinen. Sie rief immer wieder: „Diken gato sie du maro dad!“ Wir wussten nicht, was los war, aber als sie das sagte, begannen wir zu weinen und hielten uns an Mutters Kleidern fest. Sie sagte: „Seht, die Knochen und das bisschen Asche, das ist euer Vater!“65 Für den schriftlichen Teil des Dissertationsprojektes vermittelte der Vorsitzende des Volksgruppenbeirates der Roma und einer der ersten Roma-Aktivisten im Burgenland, Emmerich Gärtner-Horvath, den Zeitzeugen Adolf Papai, ursprünglich aus dem 350 Mitglieder zählenden Dorf Langental im Mittelburgenland. Sein Vater wurde im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Adolf Papai kam mit seinen Brüdern und Schwestern sowie seiner Mutter ins Lager Lackenbach.66 Adolf Papai erzählt: „Und einen kleinen Hund habe ich gehabt, der war sechs, sieben Monate alt.

63 Vgl. Baumgartner, Gerhard / Freund, Florian (2008). Namentliche Erfassung der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti. Wien: Datenbank 64 Stojka Karl (2000). Mein Name im Dritten Reich war Z:5742. Wien: Eigenverlag Prof. Karl Stojka 65 Stojka Karl (2000). Mein Name im Dritten Reich war Z:5742. Wien: Eigenverlag Prof. Karl Stojka, Seite 14 66 “Mri historia”, Oral History-Projekt: Interview mit Adolf Papai: http://www.roma- service.at/mrihist/06.html, 18.4.2018 37

Lumpi hat er geheißen und ich war damals zehn Jahre, nicht, im 41er, und ich hab ihn so gern, hab ich ihn nicht ausgelassen. Und dann hat er mich mit dem Hund, bei den hinteren Haxen, Beinen hat er ihn gehabt und hat er mich so viel geschlagen, dass der arme Hund, sind abgerissen die Haxerln, Beinchen, und dann hat er ihn weggeschmissen, naja, ich hab geweint und gehauen haben sie mich, und alles, was haben wir machen können? Nix. Das war so eine Armut.“67 Für den filmischen Teil der Dokumentation steht Adolf Papai für die erste Opfergeneration der Romnija und Roma.

6.1.3.2.1. Erinnerung aus eigener Kraft: Vereinsgründungen, Volksgruppenanerkennung und Erinnern Roma-Aktivistinnen und Aktivisten wollten in den 1980 Jahren das Verschweigen und die nicht enden wollende Diskriminierung nicht mehr auf sich nehmen und formierten sich. Dazu meint die Leiterin der Roma-Pastoral in Oberwart / Erba, Manuela Horvath: „Das war ja Ende der 80er Jahre der Fall, dass junge Roma nicht in die Diskotheken gelassen wurden und damals hat sich meiner Meinung nach aus dieser Jugendgruppe, die eben dieses Diskothekenverbot hatten, hat sich damals diese Bewegung, diese Selbstorganisation herauskristallisiert, weil die haben damals den Brief an den Waldheim, an den damaligen Bundespräsidenten von Österreich, geschrieben und eben gesagt, sie fordern ihre Recht als österreichische Staatsbürger ein und meiner Meinung war das der Grundstein für die österreichische Volksgruppenarbeit.“68 Ludwig Papai, Karl Stojka, Rudolf Sarközi, Elisabeth Feuerstein, Emmerich Gärtner- Hovath und Susanne Baranyai waren unter den ersten im Burgenland, die das Schweigen brachen, sich selbst ermächtigten und am 15. Juli 1989 in Oberwart / Erba / Felsőőr / Borta69 den „Verein Roma“ als erste österreichische Roma- Vertretungsorganisation ins Leben riefen.70 Der Volkstruppenvertreter Rudolf Sarközi, der 1944 im NS-Anhaltelager Lackenbach geboren wurde, gründete dann 1991 den „Kulturverein Österreichischer Roma". Die Mitgliedschaft im Österreichischen Volksgruppenzentrum, mit Sitz in der Wiener Teinfaltstraße, verstärkte die Zusammenarbeit mit den in Österreich anerkannten Volksgruppen. Der unermüdliche Einsatz des sozialdemokratischen Funktionärs – im Beruf Lenker eines Müllabfuhrwagens bei der Wiener MA 48 – und seine geschickte Verhandlungstaktik mündete am 16. Dezember 1993 in der Anerkennung der Roma als autochthone österreichische Volksgruppe. Seitdem gilt die Bezeichnung Rom als

67 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 68 ORF-Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Roma, 8.4.2018 69 Oberwart heißt auf Romanes Erba, auf Ungarisch Felsőőr und auf Kroatisch Borta 70 Vgl. Verein Roma in Oberwart, http://www.verein-roma.at/html/verein.htm, 16.6.2018 38

Überbegriff für alle in Österreich beheimateten Gruppen, für Romnija und Roma, Sintize und Sinti sowie Lovara und Kalderasch. Inhaltlich setzte Rudolf Sarközi einen Arbeitsschwerpunkt auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen an den Romnija und Roma. Dieser Schulterschluss der Volksgruppe mit der Wissenschaft erwies sich als wichtiger Eckpfeiler im Wiedergutmachungsdiskurs, in dem die Roma bisher missachtet wurden. Der Leiter des Dokumentationsarchives des Österreichischen Widerstandes (DÖW), Gerhard Baumgarntner71, sowie Selma Steinmetz72 und Erika Thurner73 waren die Ersten, die sich wissenschaftlich mit den NS-Verbrechen an der Volksgruppe auseinandersetzten und belegten, dass über 90 Prozent der österreichischen Roma während des Nationalsozialismus ermordet wurden.74 Die Häuser der 124 Roma- Siedlungen mit den bis zu 300 Bewohnerinnen und Bewohnern wurden nach der Deportation in die Konzentrationslager alle dem Erdboden gleichgemacht, was im Wiedergutmachungsdiskurs wiederum gegen die Volksgruppe ausgelegt wurde.75 Ein für die Nachfahren der Opfer und die Erinnerungspolitik des Landes wichtiges Projekt war die namentliche Erfassung der Opfer durch Baumgartner und Freund.76 Die Datenbank, die vom Kulturverein österreichischer Roma in Auftrag gegeben wurde und dort auch eingesehen werden kann77, umfasst um die 22.000 Datensätze, die das Schicksal der rund 11.000 österreichischen NS-Roma-Opfer belegen. Emmerich Gärtner-Horvath, der Vorsitzende des Roma-Volksgruppenbeirates und Obmann des Vereins Roma-Service, hat mit dem Oral History-Projekt „Mri historia“78 bahnbrechende Erinnerungsarbeit in der Volksgruppe geleistet. Emmerich Gärnter- Horvath und Josef Schmidt gelang es, die letzten Überlebenden des Holocausts, Opfer in erster Generation, zum Teil in ihrer Muttersprache zu interviewen. Der Volksgruppenvertreter ist auch Motor der Kodifizierung des von den Roma lange als

71 Baumgartner, Gerhard. „Wann endlich wird dies himmelschreiende Unrecht an uns gut gemacht werden?“. Frühe Zeugnisse österreichischer Roma und Romnija zu ihrer Verfolgung während des Nationalsozialismus. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.) (2015). Jahrbuch 2015. Feindbilder. Wien: Eigenverlag 72 Vgl. Steinmetz, Selma (1966). Österreichs Zigeuner im NS-Staat. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien: Europa Verlag 73 Vgl. Thurner, Erika (1982). Die Zigeuner als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Österreich. Dissertation. Universität Wien 74 Baumgartner, Gerhard. Die Roma-Siedlungen des Burgenlandes. Eine historische Analyse. In: Frühmann, Jakob (Hg.) (2018). Verschleppt, verdrängt, vergessen. Zur Erinnerung an die Romnija und Roma aus Jabing. Oberwart: Lex Liszt Edition 12, Seite 25f. 75 Vgl. Freund, Florian / Baumgartner, Gerhard / Greifeneder, Harald (2004). Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit, sowie Rückstellung und Entschädigungen seit 1945 in Österreich Bd. 23./2. Wien: Oldenbourg 76 Vgl. Baumgartner, Gerhard / Freund, Florian (2008). Namentliche Erfassung der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti. Wien: Datenbank 77 Kulturverein österreichischer Roma: http://www.kv-roma.at, 16.6.2018 78 „Mri Historija“, Oral History-Projekt: http://www.roma-service.at/mrihist-ausgaben.shtml, 16.6.2018 39

Schutzsprache gesehenen Romani, der Sprache der burgenländischen Roma. Gärtner-Horvath erstellte mit Unterstützung der Universität Graz nach der Verschriftlichung der Sprache Schulbücher und tourte mit dem „Rom-Bus“ von Dorf zu Dorf, um die Roma-Kinder von ihrer Muttersprache zu begeistern. Gärtner- Horvath kann in seinem nationalen, bilateralen und europäischen Engagement für Roma, wie Rudolf Sarközi auch, als Modell eines resilienten Opfers gesehen und nicht hoch genug geschätzt werden. Jakob Frühman, Pädagoge und Sprachkunststudent an der Angewandten in Wien, hat als gebürtiger Jabinger, ein Dorf in der Nähe von Oberwart / Erba, zur Ermordung von 90 Romnija und Roma während der NS-Zeit in seinem Heimatdorf geforscht: „(...) die Erinnerungen schienen mir immer zerbrechlich und deshalb umso wichtiger, tradiert zu werden.“79 Frühmann zitiert in „Verschleppt, verdrängt, vergessen“ eine Anordung des Landesrates des Kreises Oberwart vom 11. November 1941: „Die Zigeunerlager sind derart zu entfernen, dass auch keinerlei Spuren mehr hinterlassen werden. Es sind daher auch etwaige Grundmauern vollkommen zu entfernen und der Platz ist wenn möglich dem übrigen Landschaftsbilde gleich zu gestalten. Weiters wäre auch dafür Sorge zu tragen, dass etwa von Zigeunern herstammende Ortsbezeichnungen wie etwa Zigeunerkolonie oder sonstige örtliche Benennungen möglichst bald aus dem Sprachschatz der Bevölkerung verschwinden.“80 Dieser totalen Auslöschung, dieses „Niemand-Sein“81, wie es Frühmann nennt, wirkt das Projekt von Sabine Schweitzer entgegen, das vergessene Roma-Lager (romani: Pobisterde logertscha) wissenschaftliche ausfindig machen will. In einem Interview mit der Zeitschrift des Vereines Roma-Service „dROMa“ berichtet Schweitzer über erste Ergebnisse der unerforschten Lager. Gut untersucht seien die Anhaltelager mit Blick auf die NS- Vernichtung von Roma und Sinti: Lackenbach, Maxglan, Mauthausen, Auschwitz- Birkenau, Salzburg und Lodz. Schweitzer untersucht derzeit ein Lager in Amstetten. Das Projekt soll Ende 2019 beendet werden.82

6.1.3.3. Der Raub des Namens: Die KZ-Nummer Die Namen der Opfer zu erfassen, ist für die Überlebenden des Holocaust und der Gefangenschaft in den NS-Lagern von großer Bedeutung, da den Häftlingen in den Konzentrationslagern Nummern eintätowiert wurden, die ihre Namen im Vernichtungssystem ersetzten. Wie in Kapitel 6.1.3.2. ausgeführt, hat der Roma-

79 Frühmann, Jakob (Hg.) (2018). Verschleppt, verdrängt, vergessen. Zur Erinnerung an die Romnija und Roma aus Jabing. Oberwart: Lex Liszt Edition 12, Seite 13 80 Lang, Adi. NS-Regime, Kriegsende und russische Besatzungszeit im Südburgenland, zit. in: Frühmann, Jakob (Hg.) (2018). Verschleppt, verdrängt, vergessen. Zur Erinnerung an die Romnija und Roma aus Jabing. Oberwart: Lex Liszt Edition 12, Seite 14 81 Frühmann, Jakob (Hg.) (2018). Verschleppt, verdrängt, vergessen. Zur Erinnerung an die Romnija und Roma aus Jabing. Oberwart: Lex Liszt Edition 12, Seite 14 82 „Vergessene Lager“, dROMa 51/3/, 2017, Seite 3-9 40

Künstler Karl Stojka seine Mahnschrift gegen das Wiederaufkeimen von Faschismus „Mein Name im Dritten Reich war Z:5742“83 genannt und mit den Fotos der deportierten Roma – von vorne und der Seite – aus dem Bundesarchiv in Berlin bebildert. Ein Kärntner slowenischer Pädagoge hat in einem Interview für die ORF- Minderheitenredaktion erklärt, warum die Ausschilderung der slowenischen Ortsnamen für ihn so eine große Rolle spielen. „Der Name ist Träger deiner Identität und wenn du ihn verstecken musst, er weniger wert ist, dann beschädigt das die Seele. Das gilt eben auch für Ortsnamen, die die zweisprachige Identität eines Ortes tragen. Was am Anfang belanglos und als Aufbauschen von Unwichtigem gesehen wird, endet mit der in die Haut tätowierte KZ-Nummer.“84 Von jüdischer Seite her zeigen im eindrucksvollen, sensibel gestalteten, spannenden Dokumentarfilm „Numbered“ Dana Doron und Uriel Sinai die Problematik der rund 400.000 Menschen, denen in Auschwitz ihr Name und damit ihre Identität geraubt wurde. Im Pressetext zur Arte-Ausstrahlung heißt es: „Einige der Überlebenden sprechen zum ersten Mal über ihr Schicksal. Wie leben sie mit der Nummer und der damit verbundenen Erinnerung an die Vernichtungslager? Für einige Überlebende ist die Tätowierung eine Art Mahnmal, andere sehen sie als Zeichen des Triumphs über die Nazis. Nur wenige haben sie entfernen lassen. In manchen Familien hat die Nummer ein Eigenleben entwickelt, dient als Geheimnummer für den Safe oder als Zugangscode für das Internet. Die Tochter eines ehemaligen Auschwitz-Häftlings ließ sich die Nummer sogar auf den Fußknöchel tätowieren, um sich ihrem Vater nahe zu fühlen.“85 Erinnerungsarbeit in großem Stil wird auf diesem Gebiet in der „Hall of Names“ in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel betrieben.86

6.1.3.4. Die Shoah „(...) An die Adresse seiner deutschen Leser gerichtet, beschreibt Primo Levi die Scham, die er – das Opfer – empfindet 'die Scham über Auschwitz, die Scham, die jeder Mensch darüber empfinden müsste, daß es Menschen waren die Auschwitz erdacht und errichtet haben',“87 so zitiert der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich den Holcaust-Überlebenden, Chemiker und Schriftsteller.

83 Stojka Karl (2000). Mein Name im Dritten Reich war Z:5742. Wien: Eigenverlag 84 „Bueg nan dajte“, Filmdokumentation mit der Puppentheatergruppe „Pikce pr´ Zile“, von Sabina Zwitter Grilc und Martin Zwitter, 26.12.2004 85 Dokumentarfilm „Numbered“, Arte am 26.1.2015: http://programm.ard.de/TV/Themenschwerpunkte/Dokus-- Reportagen/Geschichte/Startseite/?sendung=2872413731608093, 16.6.2018 86 Yad Vashem: http://www.yadvashem.org/archive/hall-of-names.html, 16.6.2018 87 Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 44 41

Zu der Zahl der im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden erklärte der Gymnasiums-Direktor in Bad Aussee, Wilhelm Höttl, im Rahmen der Nürnberger Prozesse, dass ihm Eichmann, der für die Vertreibung und Deportation von Juden im Reichssicherheitshauptamt zuständig war, berichtete: „In den verschiedenen Vernichtungslagern seien etwa vier Millionen Juden getötet worden, während weitere zwei Millionen auf andere Weise den Tod fanden, wobei der größte Teil davon durch die Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei während des Feldzuges gegen Rußland durch Erschießen getötet wurde.“88 Von Österreichs 200.000 Juden wurden 130.000 vertrieben und 65.000 ermordet. Nach dem Krieg gab es in Wien nur noch rund 5.000 Juden.89 Hinter jeder dieser Zahlen steht ein Mensch, dem oder der Unrecht geschehen ist, der sein oder ihr Leben lassen musste. Die Ermordung von sechs Millionen Juden ist ein „Zivilisationsbruch“, eine „Zeitenwende“ in der europäischen Geschichte, eine Katastrophe, die viele nicht kommen gesehen hatten und nicht für möglich hielten. Claudio Magris, der sich mit dem Faschismus in seinem Roman „Verfahren eingestellt“ beschäftigt, schreibt: „Ich kämpfe nicht gegen das Vergessen, sondern gegen das Vergessen des Vergessens. In Triest sehe ich in jeder Straße den Rauch, den man nicht sehen wollte.“90 Im Interview zum Buch meinte der Triestiner Autor: „In Triest haben sich sogar die Opfer etwas vorgemacht. Viele Triestiner Juden waren am Anfang sogar Faschisten. Ich hatte einen Freund, Nathan Wiesenfeld. Er war Präsident der lokalen jüdischen Gemeinde und stammte aus einer streng orthodoxen jüdischen Familie in Polen. Ende der 1920er-Jahre beschloss sein Vater, seine Frau und sein Kind aus dem drückend antisemitischen Klima Polens nach Triest zu schicken. Der Bub wurde Ballila, also Mitglied der faschistischen Jugend. Als sein Vater, der stets Kaftan und Pejes trug, ebenfalls nach Triest übersiedelte, war er begeistert und pries Mussolini: „Was dieser Mojschele für uns Juden tut!“ Und er zwang seinen Sohn, in der Uniform durch die Stadt zu spazieren, und jedes Mal, wenn ihnen ein faschistischer Grande über den Weg lief, sagte er auf Jiddisch: „Hejb die Hand, meschugge!“ Das war vor den Rassengesetzen. Für mich ist der Satz ein Symbol für alle Illusionen geworden. Manchmal, wenn ich mich rassiere, blicke ich in den Spiegel und sag zu mir: Hejb die

88 Dokument 2738-PS, US-296 des Internationalen Militärgerichtshofs, zit. in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946. Nürnberg 1947, Bd. 3, Seite 635 89 Vgl. Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Keil, Martha / Mettauer, Phillip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 178 90 Magris, Claudio (2017). Verfahren eingestellt. München: Carl Hanser Verlag. Cover 42

Hand, meschugge! Und dann strecke ich die Hand zum römischen Gruß aus.“91 Diese Haltung, das Verbünden mit dem Feind wird im Kapitel 7. detalliert besprochen. Für den filmischen Teil des Dissertationsprojektes konnte Thea Scholl, die Mutter der ORF-Journalistin und ehemaligen Russland-Korrespondentin sowie Begründerin der Initiative „Omas gegen Rechts“, Susanne Scholl, gewonnen werden. Thea Scholl steht für jene Opfer, die als Jugendliche das Land in letzter Minute verlassen konnten, nach dem Krieg zurückkehrten und erkennen mussten, dass ihre Eltern umgebracht wurden. Diese Menschen leiden oft unter einer bestimmten „Überlebensschuld“. „Da sind die Leute hingekommen und wurden sofort erschossen. Ich glaube sogar mit Genickschuss. Es ist grauenhaft und es verfolgt einen im Traum und in vielen Nächten habe ich immer geträumt, dass meine Eltern da sind. Dass ich mit meiner Mutter, mit meinem Vater spreche. Das sind eben die Nachwehen oder die Folgen dieser, dieses Traumas, wenn Sie das so nennen wollen. Aber ich hab manchmal das Gefühl, ich habe nicht genug getan, um meinen Eltern zu helfen. Das liegt mir schon sehr schwer auf der Seele.“92 Für jene jüdische Opfergruppe, die die Konzentrationslager überlebt hat, erinnern sich die Wiener Jüdin Elisabeth Scheiderbauer und die australisch-amerikanische Schriftstellerin Lily Brett.

6.1.4. Die drei Opfergruppen Die wissenschaftliche und schriftstellerische Bearbeitung der Shoah füllt Bibliotheken. Diese Dissertation soll in diesem Kanon einen kleinen Beitrag leisten. Die Kärntner slowenische Protagonistin als Angehörige der dritten Opfergeneration meint zur Diskussion in „Schatten der Scham“, ob man die Opfergruppen vergleichen könne: „Vergleichen finde ich immer schwierig. Ich glaube, was wir alle gemeinsam haben, wenn ich jetzt von all den Opfern ausgehe, die die Nazis vernichten wollten, Roma, Sinti, Juden etc., wir haben den gleichen Täter gehabt, wir haben den gleichen Peiniger gehabt und sie wollten alle vernichten.“93 So die Ansicht von Ajda Sticker. Aus psychotherapeutischer Perspektive erklärt Klaus Mihacek, Primar des psychosozialen Dienstes ESRA: „Jeder Mensch ist sehr individuell mit seinem erlebten Trauma und es hat keinen Sinn dieses Trauma zu nivellieren oder nicht ernst zu nehmen, indem man Unterschiede macht.“ 94

91 „Schiffbruch nach der Morgenröte“, Interview mit Claudio Magris, Kleine Zeitung, Sonntagsbeilage, 21.1.2018, Seite 5 92 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 93 Ebda. 94 Ebda. 43

6.1.4.1. Rückkehr: Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma Befreiung! Dem kollektiven Aufatmen folgte in den Lagern, in denen die Kärntner Sloweninnen und Slowenen eingesperrt waren, die Sorge, wann sie nach Hause auf ihre Höfe zurückkehren können. Die Höfe wurde mittlerweile von den Kanaltalern, die „Heim ins Reich“ umgesiedelt wurden, in Besitz genommen. Ein anonymisiertes Kärntner slowenisches Deportationsopfer erinnert sich in der Arbeit von Christiane Schütte über die Schwierigkeiten bei der Rückkehr: „Na und wir müssen noch drei Monate im Lager warten. Ja, und was werden wir jetzt machen. Und da haben sich zwei Männer (...) zusammengetan und haben gesagt: Ja, wir werden mit dem Radl nach Vorarlberg zum Dr. Tischler fahren, ja der war früher Slowenenvertreter und war dort in Vorarlberg strafversetzt. Und muss man mal denken, das sind 500-600 Kilometer. Und dann sind sie mit dem Dr. Tischler gekommen und der Dr. Tischler hat sich nachher bei den Amerikanern eingesetzt wegen heimfahren und so. (....) Und dann kommen wir in den Bahnhof Villach rein und da war von Slowenien auch Waggone, die sind weitergefahren und wir sind dann in Villach gestanden.“95 In Villach wurden die Waggons, die Richtung Jugoslawien fuhren abgekoppelt, die mit den Kärntner Sloweninnen und Slowenen blieben stehen. Der Slowenenvertreter Joško Tischler verfasste Tage nach der Ankunft in Villach einen Bericht über die Geschehnisse: „Im Laufe des Nachmittages des 17. Juli hat sich die Abfahrt Richtung Klagenfurt von Stunde um Stunde verzögert. Gegen 21 Uhr wurden an die Waggons der Kärntner Slowenen, zwei Waggons mit 'Volksdeutschen' angekoppelt. Da wurde jedem klar, dass der Zug nicht nach Klagenfurt fahren sollte, sondern ins Reich, Richtung Mallnitz. Die Kärntner Slowenen befiel eine unbeschreibliche Aufregung und Verbitterung. Es wurde klar, dass die Leute, die vor 39 Monaten von der von ihren Höfen vertrieben und zu Zwangsarbeit gewzungen wurden, jetzt, nach der Befreiung ihrer Heimat, nicht nach Hause heimkehren dürfen. Augenblicklich haben alle Slowenen den Zug mit ihrem Gepäck verlassen. Gleich darauf rief der britische diensthabende Bahnhofsoffizier Dr. Tišler ins Büro. Er schlug mit dem Stock, knapp an Dr. Tišlers Kopf vorbei, auf den Tisch und verlangte, dass die Ausgesiedelten unverzüglich einsteigen müssten. Als Dr. Tišler entschlossen erklärte, dass er die Kärntner Slowenen in die Heimat leite, nicht aber in die Vertreibung, zog der britische Offizier seinen Revolver. Dr. Tišler antwortete auf diese Bedrohung: 'Sie können mich gerne erschießen, aber in Kärnten, nicht in Deutschland'.“96

95 Schütte, Christiane (2014). Heimkehr ohne Heimat. Über Rückkehr und Neubeginn der 1942 vertriebenen Kärntner Slowenen. Wien: Verlagshaus Hernals, Seite 39 96 Poročilo dr. Joška Tischlerja o povratku pregnancev. Bericht des Dr. Joško Tischler über die Heimkehr der Vertriebenen. In: Zveza Slovenskih Izseljencev / Verband ausgesiedelter Slowenen et al. (Hg.) (1992). Narodu in državi sovražni. Pregon koroških Slovencev 1942 / Volks- und staatsfeindlich. Die Vertreibung von Kärntner Slowenen 1942. Celovec / Klagenfurt: Založba Drava Verlag - Mohorjeva založba / Hermagoras, Seite 476ff. 44

Der Bericht von Dr. Tischler wird vom zuständigen Rail Transport Officer J. F. Longmuir des Villacher Westbahnhofes, wie Christiane Schütte in ihrer Arbeit belegt, aus einer anderen Perspektive, jedoch inhaltlich voll bestätigt. Er, Longmuir, sollte „the unexpected arrival of 400 Slovens“ zurück nach Mallnitz schicken.97 Nach einer Nacht am Villacher Westbahnhof und harten Auseinandersetzung der Deportierten mit der Villacher Polizei, die naturgemäß von Nationalsozialisten durchsetzt war, ließen die Briten die Opfer – es waren auch 140 Kinder im Alter von vier Wochen bis 14 Jahren dabei – nach Klagenfurt / Celovec fahren, wo sie dann eine ihrer schlimmsten Haftzeiten in der damaligen Jesuiten-Kaserne verbringen mussten. Es wurde schnell klar, dass man in der Heimat nicht mit ihrer Rückkehr gerechnet hatte und sie weiterhin unerwünscht waren.98 In den Heimatgemeinden der Kärntner Sloweninnen und Slowenen, kehrten nach kurzem Intermezzo, jene an die Macht zurück, die für die Misere verantwortlich waren und die Propaganda gegen die Minderheit fortführten. Bundeskanzler Bruno Kreisky, der selbst viele Angehörige im NS-Regime verlor, setzte auf die Politik des Vergessens. Die Opfer mussten keine Buße tun. Als Kreisky nach Kärnten fuhr, erzählte sein Sohn Peter Kreisky im ORF „Heimat Fremde Heimat“-Interview, dass ihn sein Vater völlig aufgelöst aus Kärnten angerufen hätte. Kreisky war vom sozialistischen Landeshauptmann Valentin Sima, der den Artikel 7 des Staatsvertrages erfüllen wollte99 und dementsprechend zweisprachige Ortstafeln aufstellen ließ, nach Klagenfurt eingeladen worden. Kreisky sollte in der Klagenfurter Arbeiterkammer zu den Genossen sprechen. In Klagenfurt angekommen wurde der Bundeskanzler mit Tomaten beworfen und als „Saujude“ beschimpft. Peter Kreisky schildert sein Entsetzen und dass der Vater gemeint hätte, das sind alles Nazi.100 Dies wirkte sehr beunruhigend auf die Opfer, die erste und zweite Generation, wie sich Emil Krištof im filmischen Teil des Dissertationsprojektes erinnert: „Ich kann mich sehr gut an das Jahr 1972 erinnern. Es sind die zweisprachigen Ortstafeln erstmals aufgestellt worden unter Bruno Kreisky und es waren damals bei weitem mehr als heute – nur nebenbei. Und dann hat es geheißen, die Tafeln werden abgerissen und das hat man gewusst und wir sind dann natürlich mit Angst besetzt, sind wir dann nach St. Michael gefahren, ich war eben ein Jugendlicher von ungefähr 14 Jahren und ich kann mich erinnern, wir sind in einem Haus oberhalb der Bundesstraße gesessen und haben zugeschaut, wie der ganze Konvoi, wie ein Faschingsumzug durch das Dorf

97 Vgl. Schütte, Christiane (2014). Heimkehr ohne Heimat. Über Rückkehr und Neubeginn der 1942 vertriebenen Kärntner Slowenen. Wien: Verlagshaus Hernals, Seite 47 98 Schütte, Christiane (2014). Heimkehr ohne Heimat. Über Rückkehr und Neubeginn der 1942 vertriebenen Kärntner Slowenen. Wien: Verlagshaus Hernals, Seite 49ff. 99 Vgl. Hren, Karl. Die SPÖ und der Kärntner Ortstafelsturm. In: Anderwald, Karl / Filzmaier, Peter / Hren, Karl (hg.) (2004). Kärntner Jahrbuch für Politik 2004. Klagenfurt: Kärntner Druck- und Verlagsgmbh, Seite 100-110 100 ORF-Heimat Fremde Heimat: Solidarität mit Kärntner Slowenen 12.5.2002 45 gefahren ist, hinten und vorne unter Polizeischutz und das war ja bezeichnend. Es haben österreichische Staatsbürger österreichisches Staatsgut vernichtet, beschädigt und das ganze unter dem Schutze der Polizei. Und irgendwie war das für uns eh klar, weil uns werden sie nicht schützen.“101 Für die jüdischen Überlebenden hatte sich alles verändert. Die Rückkehrerinnen und Rückkehrer wurden wieder stigmatisiert und man wollte den Teppich des Vergessens über alles Geschehene ausbreiten, wie der Künstler André Heller in „Schatten der Scham“ analysiert: „Dieser Satz – „Die Sache ist abgeschlossen“ – das hätten sie sich als Teil der Bundeshymne gewünscht. Das hätte am besten über jedem Gebäude stehen sollen in Österreich.“102 Die Diskussion, dass jetzt endlich ein Schlussstrich gezogen werden müsste, sieht Margit Reiter als Form von Antisemitismus: „Hinter der weit verbreitenden Angst, dass Juden und Jüdinnen von NS-Nachkommen ein Schuldbekenntnis erwarten und ihnen gegenüber Abneigungen hegen könnten, steht – wenn auch meist unbewusst – die (antisemitische) Vorstellung von der ‚jüdischen Unversöhnlichkeit‘ und die Angst vor einer gleichsam umgekehrten ‚Sippenhaftung‘ (…).“103 André Heller fährt in „Schatten der Scham“ fort: „Man hat, so habe ich das immer empfunden, die Opfer als jammernde oder durch ihre Stummheit anklagende Störenfriede empfunden. Man wollte nicht daran erinnert werden an die Bringschuld, die man selber hatte. Man wollte nicht, dass die Wahrheit auf der Tagesordnung ist. Und im Grunde war das auch eines der Motive, warum man die Leute nicht zurückgeholt hat, weil man nicht so viel Beweise haben wollt im Land, die für das unendliche Leid, für die unendliche Schuld, die man auf sich geladen hat, stehen. Und die Opfer und ich habe ja mit vielen alten Leuten, die ja damals noch so alt waren in den 60er Jahren geredet, die dann gesagt haben eines Tages nur nicht auffallen, Mund halten.“104 So verstummten die Opfer. Liese Scheiderbauer, die das Konzentrationslager Theresienstadt mit ihrer Mutter und Schwester überlebt hat, sagt: „Mir hat man gesagt, sprich nicht darüber. Es muss überhaupt niemand wissen, dass du in einem KZ warst. Du lebst jetzt hier in Wien. Du gehst in die Schule mit Kindern, deren Eltern SS-Männer waren. Sei still.“105 Margit Reiter fasst die Erkenntnisse von der Entmenschlichung der Juden, die empfundene und erfundene Gefahr, die von den Opfern ausgeht, ihrer Kriminalisierung, bis zur totalen Ignoranz der Bedürfnisse und Nöte der

101 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 102 Ebda. 103 Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“, zit. in: Keil, Martha / Mettauer, Phillip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 182 104 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 105 Ebda. 46

Opfergruppen. Reiter zitiert die Soziologin Gabriele Rosenthal folgend: „(…) Dass es bereits während der NS-Zeit zu einer sukzessiven Ausblendung (in Form einer Dehumanisierung und Derealisierung) der Juden aus der Wahrnehmung der (Mit-) Täter gekommen ist. Die mangelnde Empathie und die Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen setzten sich auch nach 1945 fort. Man begegnete ihnen ob KZ- Überlebenden, DPs oder aus dem Exil zurückgekehrten Reemigrant/inn/en, äußerst reserviert und ablehnend, oft auch feindlich. Die Überlebenden wurden als Bedrohung empfunden, denn sie erinnerten die ehemaligen (Mit)Täter an das offensichtliche Unrecht, das sie tatenlos mitangesehen, vielleicht auch gutgeheißen hatten, oder an dem sie vielleicht sogar mitbeteiligt waren, kurz: sie erinnerten an das eigene Versagen, die eigenen Mitverantwortung und Schuld.“106 Die damit einhergehenden Schuldgefühle und das schlechte Gewissen (sofern überhaupt ein Unrechtsbewusstsein existierte) mussten massiv abgewehrt werden, z.B. durch nachträgliche Schuldzuweisungen („Juden waren selbst schuld an ihrem Unglück“), Kriminalisierungen der jüdischen DPs (Schleichhandel, Diebstahl) und Unterstellungen gegenüber Emigrant/inn/en (Luxusleben im Ausland, Rachegefühle usw.). Im Großen und Ganzen wurden die jüdischen Überlebenden aber weitgehend aus dem patriotischen Wir-Kollektiv ausgeklammert und waren im allgemeinen Bewusstsein und in der Alltagsrealität kaum präsent.“107

6.1.5. Die 68er-Bewegung: Eine politische Reaktion auf den Nationalsozialismus In dieser Atmosphäre des Verdrängens und des Vergessenwollens in Österreich und Deutschland schwoll und schwillt, der Antisemitismus, die Diskriminierung und Entrechtung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen sowie der Antiziganismus. Der oft nicht bewusste Hass auf die Opfer und in Umkehr auf die eigene Situation, in die man geraten war, war allerorts gegenwärtig. Es wurde jedoch in der zweiten Generation eine gesellschaftliche Bewegung geboren, die sich mehr als kritisch mit der Vergangenheit ihrer Eltern auseinandersetzte. Iris Wachsmuth dazu in ihrem Beitrag über die innerfamiliären Auseinandersetzung mit der Shoah: „Eine wichtige Basis für die in den 1980er-Jahren einsetzenden Forschungen zu den sozialpsychologischen Folgewirkungen innerhalb der deutschen Gesellschaft waren die sogenannte „68-er Generation“, die daraus entstandene Frauenbewegung und die sozialen Bewegungen, die sowohl zur Demokratisierung in der Bundesrepublik

106 Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Martha Keil / Philipp Mettauer (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. Seite 178f. 107 Ebda. 47 insgesamt als auch zum Beginn der Auseinandersetzung mit den ehemals nationalsozialistischen Müttern und Vätern beitrugen.“108

6.1.5.1. Ein Vertreter der 68-Bewegung: Der Künstler Gottfried Helnwein – Ein Exkurs Ein schillerndes Beispiel der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte Österreichs ist der Künstler Gottfried Helnwein. In seinem Interview für die ORF Minderheitenredaktion, geführt anlässlich seiner Ausstellung in Bleiburg / Pliberk109, verdichten sich die politischen, psychologischen und künstlerischen Stränge dieses Dissertationsprojektes. Der gebürtige Wiener mit kroatischer Großmutter erinnert sich an sein Erstaunen als Kind über seine unmittelbare Außenwelt: „Ich bin nach dem Krieg in Wien geboren und habe immer das Gefühl gehabt als Kind: Ich bin in die Hölle geboren. Ich dachte mir immer, wo bin ich da? Die Leute schauen alle grantig aus. Es ist schiech, die Häuser sind schwarz, es war eine unglaublich bedrückende Stimmung. Was ich nicht wusste damals, dass kurz davor meine Elterngeneration, an einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte mitbeteiligt waren, direkt oder indirekt. Und dass das knapp vorbei war, zwar die Demokratie ausgerufen wurde, aber dieselben Menschen noch hier waren. Interessant war auch diese Sprachlosigkeit. Niemand hat geredet über das. Ich sah immer Fotos von unseren männlichen Verwandten in Uniform und ich habe gedacht: „Das sieht ja toll aus! Das sind alles Soldaten! Und was war da?“ Ich habe immer gehört, das verstehst du nicht, du bist ein Kind, das verstehst du nicht. Das war der Krieg.“110 Helnweins Erinnerungen, die graue Geburtsstadt und die überall herrschende Sprachlosigkeit, das Verschweigen, dessen was gewesen war, weckte das Interesse des Kindes an anderen Quellen. Gottfried Helnwein wollte herausfinden, was sich hinter der Mauer des Schweigens befand und stieß auf Zeitungs- und Radioberichte über die ersten Kriegsverbrecherprozesse: „Und das war für mich ein Moment des Schocks als ich, z.B. als manche dieser Gräueltaten in den KZs beschrieben wurden. Da waren z.B. zwei Brüder, die da gearbeitet haben. Einer hat erzählt, wie die Juden so lange in die Tür greifen mussten, bis ihnen die Finger abfielen. Das war für mich ein absoluter Schock, die Vorstellung, dass jemand zu jemandem so unglaublich grausam ist, zu jemandem, der sich nicht wehren kann. Das war mir auch unverständlich. Ich habe ja auch mitgekriegt, wie Zeugen aus Israel (bei den Prozessen) waren – es waren ja nicht viel Zeugen über –, aber die haben dann geweint und die Kriegsverbrecher in der Regel freigesprochen. Was ich damals nicht wusste, war, dass die Staatsanwälte und Richter, Kollegen und Kameraden im Krieg waren, allesamt Ex-Nazi. Die ganze

108 Wachsmuth, Iris. Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(innee)en und Mitläufer(inn)en. In: Martha Keil / Philipp Mettauer (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 195 109 ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Gottfried Helnwein, 11.3.2018 110 Ebda. 48

Regierung, die ganze Administration in Deutschland und Österreich war voll mit den Ex-Nazis. Für mich war das aber ein Bruch. Ich habe mir gedacht: Ich bin nicht Teil und will nicht Teil dieser Gesellschaft sein und will mit der Tradition und der Welt meiner Eltern nichts zu tun haben. Für mich war klar, ich gehöre nicht zu denen.“111 Gottfried Helnwein wird nicht direkt, sondern über Medien über die NS-Verbrechen seiner Elterngeneration informiert. Die Kriegsverbrecherprozessberichte erschüttern sein Weltbild. Aus der Bewunderung der Uniform der männlichen Familienmitglieder wird ein totaler Bruch mit der Familientradition, oder noch mehr, mit der Vergangenheit und Gegenwart der gesamten Elterngeneration. Helnwein wird Teil der 68- Protestbewegung, die mit allen Werten der Elterngeneration, deren Täterschaft und Mitläufertum das NS-Regime erst möglich gemacht hatten, abrechnet: „Dann war ich auch ein Teil dieser Studenten und Jugendrevolte, die auf der Welt stattgefunden hat. Das war nicht zufällig. Es war eine absurde historische Notwendigkeit. Nicht, dass die Bewegung besonders viel erreicht hat, aber es gab keine andere Möglichkeit als den Aufstand, die Anarchie, das Zurückschlagen. Dahinein gehört auch der Wiener Aktionismus und viele andere anarchistisch, aggressive Ausdrucksformen, die nicht verständlich sind, wenn man den historischen Hintergrund nicht kennt.“112 Diese Abnabelung und Suche waren die Anfänge eines künstlerischen Prozesses von Gottfried Helnwein, der sowohl die Ursache und Wirkung von nationalsozialistischer Gewalt als auch die Gewalt im Generellen sichtbar machen will: „Mich hat interessiert die Geschichte der Gewalt, weil die Menschheitsgeschichte ist auch eine Geschichte der nicht enden wollenden Gewalt. Aber man muss sagen, es ist Gewalt des männlichen Teils der Menschheit in erster Linie gegen den Rest der Menschheit. Das ist nicht gleich verteilt, denn über weit über 90 Prozent all diese Gräueltaten, diese Inquisitoren, diese Kreuzzüge, diese Folterer, Kinderschänder – das sind Männer. So einfach ist das. Ich bin dann irgendwann immer mehr dazu gekommen, die Kinder zu sehen, die Opfer werden von diesem Wahnsinn. Ich sah gerichtsmedizinische Fotografien von Kinderleichen, die gefoltert, umgebracht und im häuslichen Bereich missbraucht wurden. Jetzt, nicht in der Vergangenheit und das war für mich der Ausschlag. Ich habe beschlossen, ich werde Künstler, so komisch das klingt. Das war kein ästhetischer Grund, das war eher die Empörung und der einzige Ausweg, mich zu artikulieren zu dem Thema.“113 Die Empörung über Gewalt, verübt von Menschen im NS-Regime oder im häuslichen Bereich, waren für Gottfried Helnwein Antrieb, Künstler zu werden. Schon seine ersten Ausstellungen mit hyperrealistischen Bildern stießen in Wien auf große Ablehnung. Wobei es vordergründig weniger die künstlerische Technik war, auf die das Wiener Publikum peinlich berührt, erbost war und mit Tränen in den Augen reagierte. Es waren die Motive, verwundete Kinder und Bilder von Hitler, die nicht

111 Ebda. 112 Ebda. 113 Ebda. 49 nur für Empörung sorgten. Gottfried Helnwein traf auch auf jene, die ihre nationalsozialistische Gesinnung nicht im Verborgenen lebten und davon gab es viele: „Ich hatte meine erste Gruppenausstellung im Künstlerhaus mit anderen Künstlern. Ich war noch Student und habe meine Bilder mit dem Taxi hintransportiert. Der Taxifahrer kommt und wir laden diese Bilder hinten ein, diese verwundeten Kinder. Und ich habe auch ein Führerbild in der Technik der damaligen Zeit gemalt, schwulstig Götterdämmerung, gedacht im Kontext mit den verwundeten Kindern. Und wir laden es ein und der Taxifahrer sagt: ‚Wo haben Sie denn das her? Das habe ich gemalt! Was, das haben Sie gemalt? Warten Sie, da zeige ich Ihnen was!‘ Und da rennt er nach vor und holt etwas aus dem Handschuhfach und zeigt mir es in der hohlen Hand. Ich sehe einen Totenkopf, einen silbernen Totenkopf und ich wusste damals noch nicht, was das bedeutet. Und im Auto war der begeistert während der ganzen Fahrt und er sagte: ‚Das waren wir, wir sind aufgestanden wie ein Mann.‘ Er war ein SS-Mann. Er hat so begeistert erzählt über die Zeit und wie groß das war und dass sich die Kameraden noch immer treffen. Ich saß da und dachte: Ich hoffe, der wacht nicht auf! Weil ich hatte ganz lange Haare, wie ein Hippie, also ich war der natürliche Todfeind so eines Mannes. Der bemerkte das nicht, der war nur in seinem Rausch und seiner Begeisterung.“114 Jeder lebt seine Wahrnehmung und blendet den Rest aus. Die Begegnung des Hippie-Künstlers mit dem Taxi fahrenden ehemaligen SS-Mann ist ein Lehrstück von Konstruktion von Wirklichkeit: „Grundlegend ist da die These, dass wir die Welt, die wir erleben, unwillkürlich aufbauen, weil wir nicht darauf achten und dann freilich nicht wissen wie wir es tun.“115 Was wir nach Ernst von Glasersfeld sehr wohl könnten und auch tun sollten. Gefordert ist Reflexion unseres Agierens. Eben diese Reflexion, die Auseinandersetzung mit z.B. Gewaltverbrechen in aller Öffentlichkeit, das beabsichtigt Gottfried Helnwein. Der Künstler glaubt an die Möglichkeit der Veränderung: „Die Würde des Menschen sollte total unantastbar sein und in der Folge dazu, würde man einen Menschen auch nach seinen Handlungen bewerten. Nicht wie er aussieht, sondern nach den Handlungen.“116 Der Effekt von Gottfried Helnweins auf den ersten Blick von Ästhetik strotzenden Bildern ist es, Vergrabenes, Verborgenes an die Oberfläche zu bringen: „Das heißt, ich habe in kürzester Zeit derart viele Nazis getroffen, von deren Existenz ich gar nichts wusste und da habe ich bemerkt, dass Kunst oder Bilder eine unglaubliche Macht haben. Man kann plötzlich Dinge sichtbar machen, die sonst nicht sichtbar werden und die man sonst nicht wüsste. Plötzlich fangen alle an zu reden und kommen raus. Das ist der Grund, warum ich male, es gibt sonst keinen anderen. Es ist der ständige Dialog mithilfe von ästhetischen Mitteln.“117 Diesen

114 Ebda. 115 Glasersfeld, von Ernst. Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In: Watzlawick, Paul (Hg.) (1981). Die erfundene Wirklichkeit. Wie wir wissen, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München, Zürich: Piper, Seite 17 116 ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Gottfried Helnwein, 11.3.2018 117 Ebda. 50 durch Kunst provozierten Dialog suchte Helnwein auch schon mit einer 100 Meter langen Installation am Hauptbahnhof im Köln. Der Künstler suchte lange nach einem Ort für die Intervention im öffentlichen Raum, die er dem Gedenken an die dehumanisierenden Mechanismen des NS-Regimes widmete. Die Installation „Selektion - Neunter November Nacht“118 erinnert an die von den Nazis ausgerufenen Pogrome, die sogenannte „Reichskristallnacht“, die den Auftakt der Entmenschlichung der Jüdinnen und Juden markiert, indem sie als „vogelfrei“ erklärt wurden. Helnwein erinnert sich, dass die meterhohen Kindergesichter, die die Betrachterin bzw. Betrachter an die NS-Selektion erinnern sollte, von Neofaschisten aufgeschlitzt wurden: „Da stand das Wort Selektion und ich wollte, dass die Leute, die dort stehen und die ganzen Kindergesichter sehen, plötzlich den Auftrag bekommen: „Select! Also wähle aus! Wer soll leben und wer nicht!“ Das heißt, da habe ich bemerkt, diese schwachsinnige Idee ist nicht umzubringen und offensichtlich hat sich jemand gedacht, er muss diese Bilder aufschlitzen.“119 Helnweins Kunstwerke bringen Konflikte an die Oberfläche und oft wird der Künstler selber zum Objekt des Hasses. Der Leiter des Werner-Berg-Museums wurde im Rahmen der Helnwein-Ausstellung in der kleinen Grenzgemeinde Bleiburg / Pliberk in Südkärnten „wegen sexistischer und pornografischer Inhalte“120 angezeigt. Helnwein reagierte, indem er meinte, die Anzeige sage mehr über den Anzeiger als über seine Kunst aus.

6.1.6. Minderheitenpolitik Die österreichische Minderheitenpolitik stellt eine Politik der sukzessiven Entrechtung der österreichischen Minderheiten dar. Ein Beispiel aus Kärnten: Berief sich die österreichische Nachkriegsregierung im Rahmen der Moskauer Deklaration noch auf den einzigen bewaffneten Widerstand auf österreichischem Staatsgebiet, nämlich jenen der Kärntner slowenischen Partisaninnen und Partisanen, um nicht als Täter, sondern als Opfer den Verhandlungstisch zu verlassen, wurden nach dem Krieg die im Artikel 7 Staatsvertrag verbrieften Rechte – als Zugeständnis an Jugoslawien – für die Sloweninnen und Slowenen in Kärnten und in der Steiermark sowie der Kroatinnen und Kroaten im Burgenland negiert und ausgehöhlt. Wollte ein Politiker wie Valentin Sima 1972 den Staatsvertrag erfüllen, indem er die zweisprachigen Ortstafeln aufstellt, brach der sogenannte „Ortstafelsturm“ aus, mit dem Ergebnis,

118 „Selektion-Neunter November Nacht“ von Gottfried Helnwein: http://www.gottfried- helnwein.at/news/news_update/article_657-Installation-Selektion-Neunter-November-Nacht-in- Berlin-Installation-Selektion-Neunter-November-Nacht-in- Berlin;jsessionid=62AC72E916BEC351569BF42EE9EDE4A3?facet=42&facetgroup=8, 16.6.2018 119 ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Gottfried Helnwein, 11.3.2018 120 „Anzeige wegen Helnwein-Installationen“, Kleine Zeitung, 18.5.2017: http://www.kleinezeitung.at/kaernten/voelkermarkt/5220452/Kunst-oder-Pornografie_Anzeige- wegen-HelnweinInstallationen, 16.6.2018 51 dass am 10. Oktober 1972 keine einzige Ortstafel mehr stand.121 Der Erziehungswissenschaftler Mirko Wakounig bewertet die Annahme des Volksgruppengesetzes von 1976 – per Dreiparteienpakt – als eine politische Entscheidung, „(…) die insgesamt zu einer völligen Entmündigung und Ent- Subjektivierung der slowenischen Volksgruppe führte. Der Minderheit wurden alle wesentlichen Möglichkeiten genommen, um in die Volksgruppenpolitik eingreifen zu können. Sie wurde mit dem Gesetz zu einer Klientel degradiert, der nur mehr eine Bittstellerfunktion zugedacht wurde. Die Einrichtung von Volksgruppenbeiräten bedeutet die Zementierung des Klientelisierungsprozesses, aktive politische Beteiligung wird automatisch negativ konnotiert. Mit Sonderregelungen und Sonderdotationen wird versucht, die Volksgruppe zu beruhigen und ihr das Gefühl zu geben, sie sei ein wichtiges Anliegen der Herrschenden. In Wirklichkeit bleibt sie mit ihren Forderungen immer hinter der rechtlichen und faktischen Selbstverständlichkeit der Realität der Mehrheitsgesellschaft zurück.“122 Was bleibt ist eine ethnische Minderheit, die zwar seit jeher im Land zu Hause ist, aber sogar nach der Deportation durch die Nationalsozialisten wie „Fremde in der Heimat“123 von Politik und Gesellschaft behandelt wird. Tatjana Koren hat in ihrem Dokumentarfilm „Die Luken blieben geöffnet“ eindrucksvoll den Widerstand ihrer Vorfahren gegen den Nationalsozialismus während der Nazizeit nachgezeichnet. Im Zentrum der Erzählung steht das Heimathaus, der Truppi-Hof, der in über 1.000 Meter Seehöhe als stilles Mahnmal die Leidensgeschichte seiner Bewohnerinnen und Bewohner über Generationen hinweg bezeugt. Über das Werkzeug der Oral History wird untheatralisch der Überlebens- und Widerstandskampf der deportierten slowenischen Bauernfamilie erzählt, die als Heldinnen und Helden des gewaltdurchtränkten Alltages ihren Glauben an die Menschlichkeit bewahren konnten und für diesen gewillt waren, auch ihr Leben zu riskieren. Die Erzählungen der sechs Kinder der Familie Gallob darüber, warum der Vater den Partisanen beitrat, wirft ein neues Licht auf den antifaschistischen Widerstand der Kärntner Sloweninnen und Slowenen. Der Widerstand einer Volksgruppe, der nicht als Bereicherung empfunden wird. Die Forderungen der Volksgruppe zum Zwecke des Kultur- und Spracherhalts werden in jedem Fall als maßlos und belästigend stigmatisiert werden. In einem der drei Täler, in denen die Kärntner Sloweninnen und Slowenen seit jeher siedeln, sprechen

121 Vgl. Kattnig, Franz (1977). Das Volksgruppengesetz. Eine Lösung? Der Standpunkt der Kärntner Slowenen. Klagenfurt / Celovec: Slowenisches Informationscenter / Slovenski informacijski center, Seite 19ff.; Valentin, Hellwig (2005). Der Sonderfall. Kärntens Zeigeschichte 1918 – 2004. Klagenfurt / Ljubljana / Wien: Hermagoras / Mohorjeva, Seite 205ff. 122 Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift, Seite 200 123 Slogan aus der Kärntner slowenischen Protestbewegung 52 nur mehr einzelne Kinder slowenisch. Und sogar, ob diesen weit fortgeschrittenen Assimilationsgrades, wo die Volksgruppe praktisch ihr eigenes Aussterben beobachten kann und des allerorts proklamierten guten Klimas nach der Aufstellung der zweisprachigen Ortstafeln im Jahr 2011124 werden jene gemaßregelt, die für die Volksgruppe einstehen, wie aktuell der Schriftsteller Florjan Lipuš, der aus Protest seine Ehrenbürgerschaft der Gemeinde Sittersdorf / Žitara vas zurückgelegt hat. Grund dafür ist, dass sich im Jahr 2013 zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger von Sielach / Sele in der Gemeinde Sittersdorf / Žitara vas für die Aufstellung einer zweisprachigen Ortstafel ausgesprochen hatten. Die Errichtung dieser fällt in die Kompetenz der Gemeinde, die will aber keine zweisprachige Tafel will. Der Schriftsteller Florjan Lipuš argumentierte seinen Widerstandsakt wie folgt: „Ich will nicht Ehrenbürger einer Gemeinde sein, die vor der slowenischen Sprache und den Menschen, die sie sprechen, keine Hochachtung hat und es offensichtlich ist, dass Bürgermeister und Landtagsabgeordneter Jakob Strauß keine slowenischen Aufschriften wünscht.“125 Neben dem Bericht in der Kleinen Zeitung wurde im Jauntaler Regionalteil ein Kommentar unter dem Titel „Versöhnlichere Sprache“ platziert: „Der Streit um zweisprachige Ortstafeln in Kärnten wurde 2011 durch einen gemeinsamen Kraftakt aller Beteiligten beigelegt. Nach vielen Jahren mit teil überhart geführten Konfrontationen wurde gesetzlich festgelegt, wo Ortstafeln in zweisprachiger Form aufgestellt werden solle. (Abs.) In Sielach schien sich dieser Streit – freilich auf anderer Ebene – fortzusetzen. Die Ortsbezeichnungstafel sollen zweisprachig werden, fordert die Mehrheit der Bewohner. Der Gemeinderat hat abgewunken. (Abs.) Autor und Dichter Florjan Lipuš ist ein Meister der Sprache. Er ist sich der Macht des gesagten und geschriebenen Wortes bewusst. Umso verwunderlicher ist es, dass er in der schriftlichen Zurücklegung seiner Ehrenbürgerschaft keine feine Klinge führt. Wenn Sprache Brücken bauen und zu einer Lösung führen soll, dann bräuchte es versöhnlichere Töne.“ 126 In diesem Kommentar wird die von Wakounig analysierte „Bittstellerfunktion“ betont. Den Minderheitenvertretern, die 2011 als Verlierer den Verhandlungstisch verließen127, wurde im Zuge der Ortstafelregelung zugesagt, dass es immer noch Möglichkeiten gäbe, zusätzliche Ortstafeln aufzustellen. Den Ausführungen von Wakounig folgend wird die „aktive politische Beteiligung“ – in diesem Fall – des Schriftstellers Florjan Lipuš „negativ konnotiert.“ Der Autor des Kommentars spricht

124 ORF-Online: „Ortstafeln - Eine Chronologie“: http://kaernten.orf.at/news/stories/2734344/, 16.6.2018 125 „Lipuš legt aus Protest Ehrenbürgerschaft zurück“, Kleine Zeitung, 17.4.2018: http://www.kleinezeitung.at/kaernten/voelkermarkt/5407434/Streit-um-Ortstafeln_Lipus-legt-aus- Protest-Ehrenbuergerschaft-zurueck?xtor=CS1-15, 16.6.2018 126 „Versöhnliche Sprache“, Kleine Zeitung,18.4.2018, Seite 25 127 „Ortstafeln: Scharfe Attacken gegen Inzko“, Die Presse, 11.4.2011: https://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/649511/Ortstafeln_Scharfe-Attacken-gegen-Inzko, 16.6.2011 53 dem hochdekorierten und in Kollegenkreisen gefeierten Schriftsteller vor, sich im Ton zu vergreifen. Der Minderheitenangehörige wird aufgefordert, sich im Zuge des hegemonial konzipierten „Brückenbauens“ unterzuordnen. Die politische Auseinandersetzung mit den jüdischen Opfern und vor allem mit der Vergangenheit der Täter ist geprägt von der Figur Bruno Kreiskys. Der Umgang Kreiskys mit den ehemaligen Nazis, sorgte auch bei den Interviewpartnerinnen und - partnern im filmischen Teil des Dissertationsprojektes für Verwunderung und Ablehnung. Diese Thematik wird in Kapitel 6.1.11 zum Antisemitismus ausführlicher besprochen.

6.1.7. Der Wiedergutmachungsdiskurs in Österreich nach 1945 6.1.7.1. Drei Sintize: Ein Exkurs Den Wiedergutmachungsdiskurs für die Roma starteten drei starke Frauen: NS-Opfer in drei Generationen in Linz, die Sintize Rosa Winter, Gitta Martl und Nicol Sevik. Als erste aus der Volksgruppe der Roma meldete sich die Linzer Sintiza Rosa Winter im Wiedergutmachungsdiskurs öffentlich zu Wort und dies mittels ihrer Tochter Gitta Martl. Die 2005 verstorbene, selbstbewusste Grand Dame der österreichischen Sinti wurde mit ihrer Familie ins „Zigeunerlager“ Salzburg-Maxglan deportiert. Ihre gesamte Familie wurde in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Auschwitz umgebracht. Nur Rosa Winter konnte überleben. Sie erinnert sich im Interview, wie sie gezwungen wurde in einem Film der NS- Filmemacherin Leni Riefenstahl mitzuspielen.128 Riefenstahl begann 1940 mit den Dreharbeiten zum Film „Tiefland“ und suchte sich bis zu 60 KZ-Häftlinge aus, die im Film mitmachen mussten. Rosa Winter flüchtete vom Set, wurde inhaftiert und traf dann noch einmal auf Riefenstahl. Rosa Winter: „Ich war jung und dumm und sie hat halt gemeint, ich soll mich niederknien und bitten und betteln, und ich habe das halt nicht gemacht. Da hat sie gesagt: ‚Ja, sie kommen ins KZ!‘ Und meine Mutter hat sich niedergekniet und hat gebettelt um meine Freiheit. Und sie (Anm.: Leni Riefenstahl) hat gesagt: Nein! Ihre Tochter kommt ins KZ!“129 Die NS-Filmemacherin Leni Riefenstahl war ein Leben lang bemüht, sich als Opfer zu stilisieren und behauptete, sie habe „alle Zigeuner nach dem Kriegsende wiedergesehen.“130 Die Erinnerung von Rosa Winter und andern Opfer, wie auch im

128 Wege nach Ravensbrück: http://www.wegenachravensbrueck.net/current/winter/1.html, 16.6.2018 129 ORF-Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Roma, 8.4.2017 130 „Triumph der ‚Tiefland‘-Häftlinge“, Spiegel online, vom 16.8.2002: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/leni-riefenstahl-triumph-der-tiefland-haeftlinge-a- 209809.html, 16.6.2018 54

Artikel „Triumph der ‚Tiefland‘-Häftlinge“ auf Spiegel online131 ausgeführt, ist ein Beispiel dafür, wie die verdrängte Sicht der Opfer neue Wahrheiten schafft. Die Tochter Rosa Winters, Gitta Martl, und ihre Enkelin, Nicole Sevik,132 gründeten mit Mitstreiterinnen und anderen Sinti-Aktivistinnen und -Aktivisten im Jahr 1998 den Verein „Ketani für Sinti und Roma" in Linz. Die Frauen, die Diskriminierung am eigenen Leib erfahren hatten, setzten sich von Oberösterreich aus für die Sinti in ganz Österreich ein. Gitta Martl: „Bekommen haben sie nach 1945 nichts, keine Hilfe, keine Unterstützung, keine Wohnung, einfach nichts. So gingen meine Eltern hausieren. In Österreich gibt es bis heute dafür keine Erlaubnis und keinen Gewerbeschein. So war das ein einziger Teufelskreis: Hausieren - Gendarmerie - Anzeige - Vorstrafen - Diskriminierung. Doch sie waren fleißig und immer erwischten sie die Behörden dann doch nicht und so konnten sie in zwei Wohnwagen überleben. In der Schule hatten wir drei Kinder natürlich weiterhin mit Ausgrenzungen zu tun. Weil mein Vater den Lehrern verbot, uns zu schlagen, setzen sie andere Mittel ein. Nicht Versetzung meiner Brüder, andere Arten von Diskriminierungen, wie Sitzen in der letzten Bank, ganz allein usw. Es saßen in den 50er Jahren noch immer dieselben Nazis wieder in allen ihren alten Positionen. Das merkte man auch auf allen Ämtern. Öfters wurden Sätze wie ‚ach, so schlecht kann es im KZ nicht gewesen sein, sonst wären Sie ja nicht hier‘ oder ‚den Kopf haben Sie ja noch oben‘. Aber es gab auch ganz klare Aussagen seitens einiger Exekutivorgane, wenn man beim Hausieren betreten wurde: ‚Der Hitler hat vergessen euch zu vergasen‘. Doch die Sinti sind geduldig, bereit zu verzeihen, so legten meine Eltern keinen Hass in unsere Kinderherzen.“133 Nicole Sevik, Angehörige der dritten Opfergeneration, vertiefte ihr Wissen in einem Praktikum beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, studierte Recht und konnte als junge Volksgruppenvertreterin, die auch als Flüchtlingsberaterin Erfahrungen sammelte, den Verein versiert auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen präsentieren und neue, die Volksgruppe stärkende, Konzepte entwickeln. Martl und Sevik arbeiteten in Informationsoffensiven mit Stadt und Land zusammen und leisteten als Mauthausen-Guides Pionierarbeit in der Erinnerungsarbeit. Da die gestellten Aufgaben für die Frauen nicht mehr alleine zu bewältigen war und es keine Förderung für weitere Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter gab, musste 2016 der Verein Ketani und damit die einzige Vertretung der österreichischen Sintize und Sinti schließen. Im Jahr 1976 begann Gitta Martl für ihren Vater Arthur Schneeberger, der die langjährige Haft im KZ Sachsenhausen überlebte, und für ihre Mutter Rosa Winter Entschädigungsgelder zu beantragen. Ein langer Behördenkrieg, ein Krieg gegen das

131 Ebda. 132 Vgl. Laher, Ludwig (Hg.) (2004). Martl, Gitta / Martl, Nicole / Winter, Rosa. Uns hat es nicht geben sollen: Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen. Grünbach: Edition Geschichte der Heimat 133 Verein Ketani. Sinti und Romaportal: http://www.sinti-roma.at/verein-ketani.html, 18.4.2018 55

System des Vergessens und des Vertuschens, der erst viel später zu ersten Erfolgen führen sollte. In jedem Fall befanden sich die Opfer und ihre Nachkommen in einem Dilemma: Sollte man überhaupt beim Täter um Entschädigung ansuchen? Nicole Immler zitiert Milton Kestenberg: „Insgesamt gesehen hat das Entschädigungsprogramm das Leben einer ganzen Generation Überlebender sowie ihrer Kinder beeinflusst, gleichgültig, ob sie Entschädigung erhielten, ob ihre Ansprüche von den westdeutschen Behörden abgewiesen wurden oder ob sie sich aufgrund moralischer Prinzipien weigerten, das so dringend benötigte Geld anzunehmen.“134

6.1.8. Restitution: Gründung des Österreichischen Nationalfonds Ob die Opfer des Nationalsozialismus Anspruch auf Entschädigung haben, ob sie überhaupt Opfer sind, ob Österreich Opfer oder Täter war während des Zweiten Weltkrieges? Diese und ähnliche Fragen wurden im Zuge der sogenannten Waldheim-Affäre ab dem Jahr 1986 international diskutiert. So wurde die Kandidatur des früheren UN-Generalsekretärs für das Bundespräsidentenamt von der Debatte über seine Kriegsvergangenheit überschattet. Waldheim behauptete, dass nicht er, sondern nur sein Pferd bei der SS gewesen wäre. Eines der Argumente, die die Polarisierung im Land an die Spitze trieb. Die Filmemacherin Ruth Beckermann hat die Auseinandersetzung, Demonstrationen und gesellschaftliche Entzweiung in der Zeit der sogenannten Waldheim-Jahre mit einer kleinen Filmkamera begleitet und schließlich „Waldheims Walzer - Eine Filmdokumentation über Lüge und Wahrheit“ 2018 prominent auf dem Filmfestival Berlinale präsentiert und den Dokumentations-Preis gewonnen. Beckermann im Zeitungsinterview: „Wir haben vor vier Jahren mit dem Film begonnen und es ist ein Film, der zeigt, wie man mit Rassismus, Populismus und Antisemitismus Wahlen gewinnen kann.“135 Schließlich konnte Kurt Waldheim die Wahl für das Bundespräsidentenamt für sich entscheiden, mit der Folge, dass er von der US-Regierung im Jahr 1987 auf eine Watchlist gesetzt wurde und ihm damit als österreichischer Bundespräsident die Einreise in die USA verweigert wurde. Es folgten eine permanente Konfrontation des Bundespräsidenten Waldheim mit dem internationalen Jüdischen Weltkongress, dem World Jewish Congress.

134 Milton Kestenberg, zit. in: Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Martha Keil / Philipp Mettauer (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. Seiten 101f. 135 „Ruth Beckermann gewinnt mit Waldheim-Doku Berlinale-Preis“, Kleine Zeitung, 24.2.2018: http://www.kleinezeitung.at/kultur/kino/5378003/Bester-DokuFilm_Ruth-Beckermann-gewinnt-mit- WaldheimDoku, 16.6.2018 56

Die damals eingesetzte Historikerkommission konnte Beweise dafür finden, dass Waldheim selbst keine Verbrechen begangen hat, aber über Deportationen und Ermordungen informiert gewesen war. Erst durch die Diskussion und die Arbeit der Historikerkommission wurde die These, Österreich sei während der Nazi-Herrschaft Opfer gewesen, erstmals infrage gestellt. In Folge gewann die Historikerkommission generelle, wichtige Erkenntnisse über die Opfer des Nationalsozialismus.

6.1.9. Die Täter-Opfer-Umkehr Nach 1945 manifestiert sich neben klassischen Antisemitismus, eine neue Form des Judenhasses. Werner Bergmann und Rainer Erb stellen den sogenannten „sekundären Antisemitismus“136 fest, der die NS-Täter von ihrer von der Gesellschaft tabuisierten Schuld freimachen soll und verschiedene Ausdrucksformen findet: „In Form einer Täter-Opfer-Umkehr, der Ablehnung von Entschädigungen für die NS- Opfer, der Forderung nach einem Schlussstrich, in NS-Vergleichen zum Zweck der Relativierung und Aufrechnung usw.(…).“137 Die Kulturwissenschaftlerin Margit Reiter sieht in diesem Diskurs um die Täter-Opfer-Umkehr die Erkenntnis als maßgeblich, dass sich Täter mit ihren Verbrechen auseinandersetzen müssen. Für Alaida Assman ist in diesem Zusammenhang problematisch, dass sich die Täter nur mit sich beschäftigen, denn nur das „dialogische Erinnern“ stelle einen Ausweg aus dieser Selbstfixierung dar: „(...) Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt (Stichwort: Selbstviktimisierung), nimmt die dialogische Erinnerung das den Nachbarn zugefügte Leid ins Gedächtnis mit auf. Dialogisches Erinnern meint dabei keinen auf Dauer gestellten ethnischen Erinnerungspakt, sondern das gemeinsame historische Wissen um wechselnde Täter- und Opferkonstellationen in einer geteilten traumatischen Gewaltgeschichte.“ 138

6.1.10. Der neue Erinnerungsdiskurs Am 8. Juli 1991 setzte der damalige Bundeskanzler der Republik Österreich, Franz Vranitzky, im österreichischen Nationalrat einen Wendepunkt, indem er die Mitschuld Österreichs an den Verbrechen der Nationalsozialisten eingestand: „Es gibt eine Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben. Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres

136 Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. Seite 170 137 Ebda. 138 Assmann, Aleida (2013). Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: Beck, Seite 199 57

Volkes, zu den guten wie zu den bösen; und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen – bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten.“139 Ein Jahr später wurde der Entschluss gefasst, Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter sowie jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen, die während der NS- Zeit vertrieben worden waren, zu leisten. Es folgte im Jahr 1995 die Gründung des Österreichischen Nationalfonds, der sich mit Fragen der Restitution und Erinnerungsarbeit auseinandersetzen sollte. Eine neue Dynamik erreicht die Frage der Entschädigung mit den Klagen des World Jewish Congress, welche von dem US- amerikanischen Rechtsanwalt Ed Fagan geführt wurden. Davor konnte er schon die Rückgabe von jüdischem Vermögen bei Schweizer Banken erfolgreich einklagen und dies führte dazu, dass Fagan folglich Opfer der Shoah bei Restitutionsklagen in Deutschland und Österreich vertrat. Im Juli 2000 wurde in Deutschland die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet, die wie der Österreichische Nationalfonds neben den Restitutionszahlungen auch zukunftsorientierte Projekte für Menschenrechte und gegen Rassismus unterstützt. 2001 wurde in Österreich die Restitution beschlossen. Hannah Lessing, die Vorsitzende des Österreichischen Nationalfonds, kann als Art Schlüsselfigur in der Widergutmachungs- und Restitutionspolitik des Landes gesehen werden. Lessing, selbst Opfer der zweiten Generation, weiß im Umgang mit den Opfern aus mehreren Generationen einen sensiblen Umgang an den Tag zu legen: „Das Wort Wiedergutmachung ist für mich ein Unwort. Ich habe meinen Vater gefragt, was er von mir erwarten würde nach 60 Jahren, von einer österreichischen Beamtin, die auf ihn zugeht. Er ist selber Überlebender, seine Mutter ist in Auschwitz vergast worden. Eigentlich hat er mir gar nicht geantwortet. Und ich habe immer wieder gefragt und dann hat er gesagt: Kannst du mir meine Kindheit zurückgeben? Kannst du mir meine Mutter aus Auschwitz zurückbringen? Das waren zwei ganz maßgebliche Punkte für mich. Nein, ich kann nichts wiedergutmachen. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ich kann auch nichts mit Geld bewerten. Soll ich meinem Vater eine Summe Geld anbieten für die Ermordung seiner Mutter? Aber es gibt nichts Fürchterlicheres für mich, als zu wissen, dass es 90-jährige Holocaustopfer aus jeder Verfolgungsgruppe gibt, die sich heute vielleicht ein Abendessen nicht leisten können. Und für die sind wir da.“140 Nicole Immler analysiert den Diskurs zur Wiedergutmachung in ihrer Arbeit zur Entschädigungspolitik: „Es waren innenpolitische Debatten wie die um die Präsidentschaftskandidaten des von seiner NS-Vergangenheit belasteten Kurt

139 Vranitzky Rede im Parlament: https://www.onb.ac.at/museen/prunksaal/sonderausstellungen/vergangene-ausstellungen/1945- zurueck-in-die-zukunft/, 16.6.2018 140 ORF-Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoah, 5.11.2017 58

Waldheim, der 50. Jahrestag des „Anschlusses“ an Hitler-Deutschland (1988) und das öffentliche Versprechen von Kanzler Franz Vranitzky vor dem Nationalrat, „historische Verantwortung“ zu übernehmen“ (1991), welche es in den 1990er Jahren – nach Dekaden von leisen doch kontinuierlichen Verbesserungen, vor allem in der Sozialgesetzgebung – erstmals ermöglichten, öffentlichkeitswirksame Entschädigungsleitungen durchzusetzen, die sich nicht mehr alleine auf materielle Fragen beschränkten, sondern auch einen Dialog suchten.“141 Der Österreichische Nationalfonds, der Entschädigungsfonds und der Friedhofsfonds entwickelten sich in den letzten Jahren zu wichtigen Anlaufstellen für NS- Überlebende in drei Generationen, für andere Hilfe Suchende sowie für Menschen, die sich dieser Thematik annehmen wollten. So konnten bislang um die 1.500 Projekte, die sich mit der NS-Geschichte und ihren vielfältigen Folgen auf künstlerischer, wissenschaftlicher oder journalistischer Art beschäftigen, unterstützt werden. Der Nationalfonds betreibt unter anderem auch eine Kunstdatenbank, der Friedhofsfonds verwaltet das Wissen von über 60 jüdischen Friedhöfen in Österreich und eine Erinnerungs-Datenbank will im Sinne der Oral History die Erzählungen von Zeitzeugen in Zusammenarbeit mit den Opfer- und Minderheitenverbänden wachhalten.142 Die für den Schulunterricht gedachte Publikation „Erinnerungen“ des Nationalfonds wirft eine breite Perspektive auf die Opfergruppen und erzählt die Lebensgeschichten von Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma, Sintize und Sinti, Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Deserteuren, politisch Verfolgten, von Menschen, die von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ diffamiert wurden, Zeugen Jehovas und veröffentlicht auch Texte von Wiener Tschechinnen und Tschechen, von Kindern am Spiegelgrund sowie von einer „Gerechten“.143 Eine am filmischen Teil der Dissertation vorgebrachte Kritik war die fehlende Mitberücksichtigung von Häftlingen, die von den Nationalsozialisten mit dem rosa KZ- Stern gekennzeichnet wurden, also die schwulen und lesbischen NS-Opfer. Während die schwulen KZ-Häftlinge in der Forschung der letzten Jahre häufig Berücksichtigung fanden, wurde in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück ein Workshop abgehalten, in dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erstmals Gedanken über das Schicksal lesbischer Opfer des Nationalsozialismus machten. Dies unter dem Motto „Weibliche Homosexualität und Nationalsozialismus. Über die Möglichkeiten und Grenzen des Gedenkens an

141 Immler, Nicole L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 110 142 Entschädigungsfonds: https://www.entschaedigungsfonds.org/meldung/der-neue-webauftritt- von-nationalfonds-allgemeiner-entschaedigungsfonds-und-friedhofsfonds.html, 16.6.2018; Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. Entwicklung, Aufgabe, Perspektiven (2010). Wien: Eigenverlag 143 Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (2010). Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Wien. Eigenverlag 59 lesbische Frauen im NS: Ein Kolloquium in der Gedenkstätte Ravensbrück lotete Möglichkeiten und Grenzen des Gedenkens an lesbische Frauen im Nationalsozialismus aus.“144

6.1.11. Neonazismus und Antisemitismus „Die Juden sind in meinen Augen so wenig ein ausgewähltes Volk, wie ein verfluchtes. (…) Sie sind, ich sage das eben, die Opfer von Zufall mehr als von Notwendigkeit – und auch jener Trägheit des Herzens, die im Mittelalter die Bauern, im Hochkapitalismus den Proletarier in namenloses Elend stieß (...).“145 Diese Ansicht verfolgt der österreichische Widerstandskämpfer und Schriftsteller Jean Améry über den Antisemitismus, der zum Tod von sechs Millionen Juden geführt hat. Der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich, Experte im filmischen Teil des Dissertationsprojektes, befasste sich mit der antisemitischen Haltung der Bevölkerung Österreichs. Vom Leugnen des Holocausts über die Verächtlichmachung, die Diffamierung bis hin zur willentlichen Bedrohung reicht für Gottschlich der Antisemitismus im öffentlichen Diskurs.146 Gemäß Satre versteht Gottschlich die große Abneigung als Krankheitsbild: „(...) Indem der Antisemit Juden erniedrigt, erhöht er sich selbst, ganz ohne für seine imaginierte Höherwertigkeit etwas tun zu müssen.“147 Gottschlich berichtet im filmischen Teil des Dissertationsprojektes „Schatten der Scham“ von den Untersuchungen für seine Studie „Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich?“148: „Nahezu jeder zweite Österreicher macht das internationale Judentum, die Juden, in der Finanzwelt für diese Wirtschaftskrise, in der wir derzeit leben, verantwortlich. Oder ein anderes Beispiel: Jeder fünfte Österreich meint, wir brauchen Politiker, die etwas gegen den jüdischen Einfluss in der österreichischen Gesellschaft tun. Und immerhin 12 Prozent, das ist in absoluten Zahlen für Österreich nicht wenig, 12 Prozent, sagen, dass sie eigentlich keine Juden in Österreich haben wollten.“149 Die NS-Opfer in drei Generationen sind sich, wie sie im „Schatten der Scham“ erklären, der Gefahr des Wiedererstarkens des nationalsozialistischen Gedankengutes durchaus bewusst. Sie halten es mit dem Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Primo Levi: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen, darin liegt der Kern dessen, was

144 Weibliche Homosexualität und Nationalsozialismus: http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=216 , 16.6.2018 145 Améry, Jean (1982). Weiterleben-aber wie? Essays 1968-1978. Stuttgart: Klett-Cotta, Seite 162f. 146 Vgl. Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 186 ff. 147 Gottschlich, Maximilian (2012). Die Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 33 148 Ebda. 149 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 60 wir zu sagen haben.“150 Gottschlich verfolgt einen Lösungsansatz, der sehr simpel erscheinen mag, der aber Wirkungspotential in sich birgt. Es ist die Rede von einer „Kultur des Mitgefühls“: „Wenn Satre sagt, dass der Antisemitismus eine Bewegung der Seele ist, dass Antisemitismus eine Obsession ist, dass mit Antisemitismus Hass verbunden ist, dann kann die Antwort auf den Hass nicht das Vernunftargument sein, dann kann die Antwort nur eine neue Kultur des Mitgefühls sein. Und diese neue Kultur des Mitgefühls, die sich für die Bedürfnisse der Opfer öffnet, diese Kultur müssen wir erst entwickelt, dann besteht auch die Möglichkeit in den Juden quasi auch die Opfer zu sehen. Die Opfer über 2000 Jahre hinweg.“ 151

6.1.11.1. Der jüdische Politiker Bruno Kreisky und seine Haltung in der Erinnerungspolitik Dass der österreichische Antisemitismus und die nationalsozialistische Vergangenheit der Menschen und dabei insbesondere der politischen Verantwortungsträger nach dem Krieg vom Politiker und langjährigen Bundeskanzler der Republik Bruno Kreisky übergangen wurde, führte zu einem Konflikt mit Simon Wiesenthal, der KZ-Überlebender war und sein ganzes Leben der Suche nach NS- Gewaltverbrechern weltweit gewidmet hat. Er war bemüht die NS-Täter nicht nur zu finden, sondern dass diese auch durch juristische Verfahren zur Verantwortung gezogen werden. Gottschlich Analyse zeigt, dass weder dieser in der Öffentlichkeit und bei Gerichten ausgetragene Konflikt zwischen Kreisky und Wiesenthal, die beide große Opfer durch den Nationalsozialismus erleiden mussten, noch die Affäre um die SS-Mitgliedschaft des FPÖ-Obmannes Friedrich Peter, den Kreisky in der Regierung haben wollte, „(...) politisch dazu genützt (wurden), die Defizite der österreichischen Vergangenheitspolitik aufzuzeigen.“152 Im filmischen Teil des Dissertationsprojektes äußert Thea Scholl, jüdisches Opfer in erster Generation, ihre Verwunderung darüber, dass Kreisky sich mit den Tätern politisch arrangierte. Dies wurde als „ein Schlag ins Gesicht der Opfer“ empfunden, die ihr Leid ab diesem Zeitpunkt zum Großteil nicht öffentlich thematisierten.153 Bruno Kreisky verminderte mit seiner die Nazis inkludierenden Politik die öffentlichen Konflikte zwischen Opfern und Tätern und legte seinen politischen Fokus auf Themen der Zukunft. Es gelang ihm außenpolitisch, das kleine Österreich als internationalen Player zu positionieren und der intellektuelle Medienkanzler schaffte – in Oppositionszeiten mit Unterstützung von 1400 Experten und Expertinnen – die

150 Holocaust-Unterrichtsmaterialien: http://www.holocaust-unterrichtsmaterialien.de/index.html, 9.5.2018 151 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 152 Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 42f. 153 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 61 bildungspolitsche wie sozialpolitische Modernisierung Österreichs.154 Im Interview mit den Profiljournalisten Alfred Worm und Helmut Voska erklärt Kreisky, schon als Altkanzler, zitiert in der Arbeit von Gottschlich, seine Position in der Vergangenheitsbewältigung. „(...) Glaubt denn wirklich irgend jemand, daß es durch Plaudern und Reden gelinge, dass sich ein ganzes Volk beknirscht? Wer seiner inneren Struktur nach bereit ist zum Mord, zur Grausamkeit (...), so hat er eben eine gewisse innere Veranlagung, diese Dinge zu tun. Auch wenn man jetzt ununterbrochen hin und her diskutiert, was da während der Nazi-Zeit passiert ist, so wird man diese Menschen nicht verändern können – außer in sehr seltenen Fällen, wo eine tiefe Wandlung vor sich gegangen ist. Aber viel wichtiger als alles andere ist, daß ihre Kinder andere Wege gehen und die Vergangenheit ihrer Väter überwunden haben“.155 Kreisky verstand also das Problem als eine Frage von Generationen. Mit jenen, den Unbelehrbaren, die unveränderlich zu solchen Verbrechen fähig wären, müsse man sich arrangieren. Seine Hoffnung setzte der Politiker auf die zweite Generation, die mit der Vergangenheit gebrochen hat und die für eine Art Neustart bereit wäre. Ein nahezu unmögliches Unterfangen, wie diese Arbeit zeigen will. Folgende Schlussfolgerung liegt nahe: wenn das Verbrechen und das Leid der Opfer nicht benannt werden, erfolgt eine Übertragung von Trauma der Opfer sowie der Gräueltaten der Täter auf nächste Generationen. Dass durch dieses, unter den Teppich kehren, Antisemitismus von den Kindern und Enkeln in ihrer Erziehung, wie nebenbei, aufgesogen wurde, hat Margit Reiter transgenerational untersucht: „(...) So erinnern sich viele der zweiten Generation, dass der österreichische Bundeskanzler in ihren Familien wörtlich als ‚Saujude‘ diffamiert worden sei, oder dass man seinen und auch andere jüdisch klingende Familiennamen, bewusst falsch ausgesprochen habe, um sich auf diese Weise über ihn lustig zu machen. Dieses Spiel mit den Namen ist bis heute ein perfides Mittel, auf indirekte Weise die Herkunft einer Person anzudeuten und auf solche Art zu verunglimpfen.“156 Jener Aspekt des Antisemitismus, der sich der Verunglimpfung von Namen bedient, findet in Kapitel 6.1.13 eine detailliertere Betrachtung.

154 Kopeinig, Margaretha / Petritsch, Wolfgang (2009). Das Kreisky-Prinzip. Im Mittelpunkt der Mensch. Wien: Czernin Verlag. Seite 20ff. 155 Voska/Worm Interview im Profil mit Bruno Kreisky (1986). In: Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 132f. 156 Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Keil, Martha / Mettauer; Phillip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 172 62

6.1.11.2. Der Fall Borodajkewycz-Kirchweger Ein tragischer Anlass war es, nämlich der Tod eines Holocaust-Überlebenden, dass sich das offizielle Österreich erstmals mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen hatte. In den 1960er Jahren kam es zu einem Erstarken der akademischen Burschenschaften, die sich mittels Unterstützung von Universitätsprofessoren mit nationalsozialistischer Vergangenheit in eine offene Auseinandersetzung mit der sogenannten 68er-Bewegung begaben. An der Wiener Hochschule für Welthandel lehrte der nationalsozialistische Historiker Taras Borodajkewycz, der in seinen Vorlesungen intensive antijüdische Propaganda betrieb. 1965 meinte er in einer Vorlesung, die vom ORF aufgezeichnet wurde: „Nun kennen sie meine Vorlesungen und sie wissen, dass ich tatsächlich Persönlichkeit aus dem Judentum als solche deklariere und ich werde das auch weiter tun, weil ich das als meine Pflicht sehe. Ich habe niemals meine Mitgliedschaft bei der NSDAP verleugnet, ich bin ihr freiwillig beigetreten im Gegensatz zu manchen Zeitgenossen, die behaupten, sie sind gezwungen worden.“157 Die linksorientierten Studentenschaften Wiens und Innsbrucks meldeten eine Demonstration gegen Borodajkewycz an, welche vom Stephansplatz über die Kärntner Straße führte. Aber auch eine Gegendemonstration vom Ring Freiheitlicher Studenten wurde veranstaltet. Die Situation spitzte sich zu, wie sich der damalige Medizinstudent, Gerhard Wenzel, erinnert. Er beobachtete, wie der Holocaust-Überlebende Ernst Kirchweger den Versuch unternahm, zwischen den Fronten zu vermitteln. „Dann steigt ein alter Mann im Hubertusmantel zwischen diese Fronten und sagt: Buben hört auf! Ich war im KZ, ich möchte das nicht noch einmal erleben! Und einer von den freiheitlichen Studenten (Günther Kümel) geht hin und stoßt ihn auf die Brust und er fällt um, auf die Gehsteigkante und der Schädel bricht.“158 Das Begräbnis von Ernst Kirchweger wurde zur Manifestation des antifaschistischen Teils Österreichs.

6.1.12. Antisemitismus in Sprache und Gesinnung Laut europäischer Wertestudie159 rangiert die Alpenrepublik in ihrer Ablehnung von Minderheiten, Juden, Roma und Migranten an europaweit 2. Stelle.160 Die Dozentin für Zeitgeschichte an der Universität Wien Margit Reiter geht in ihrer Arbeit für die Festschrift „Geliebter Feind – gehasster Freund“ auf antisemitische,

157 ORF-Archiv: Vorlesung von Taras Borodajkewycz, 29.3.1965 158 ORF-Heimat Fremde Heimat: Interview mit Gerhard Wenzel, 4.12.2016 159 Vgl. Polak, Regina (Hg.) (2011). Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990-2010. Österreich im Vergleich", Wien: Böhlau Verlag; Repräsentativbefragung der österreichischen Bevölkerung (2010/11), durchgeführt vom Institut: ipr-Sozialforschung, Institut für Publizistik- und Kommunikationsforschung mit 1070 Probanden In: Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 35 und 254 160 Ebda. 63 sprachliche Bilder ein. Begriffe aus der NS-Zeit werden weitertradiert und so sind der „Halbjude“, das „Judenproblem“ im alltäglichen Gebrauch. Diese Begriffe werden von der zweiten Generation übernommen, obwohl sich diese deren Bedeutung gar nicht bewusst machen würden und Phrasen, wie „bis zur Vergasung“ so „(…) meist ungewollt und oft auch unbemerkt – ‚rausrutschen‘“.161 Laut Reiter haben biografische Einblicke in die Nachkriegserinnerungen ergeben, dass das Wort „Jude“ eines der zentralen Tabuwörter der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft gewesen sei.162 Die Relativierung des Holocausts und die Meinung, dass auch die Alliierten Verbrecher gewesen wären, wird von Reiter als „sekundärer Antisemitismus“ bezeichnet, welcher allerdings von den Nachfahren meist nicht als solcher erkannt wurde.163 Dass junge Jüdinnen und Juden der ethnischen Stigmatisierung entfliehen wollen, wie sie in Gesprächen anvertrauten, hat die Wissenschaftlerin Nicole Immler in ihrem Beitrag für das Sammelwerk „Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis“ wie folgt erfasst: „(…) ‚Man ist Jude in Österreich.‘ Diese Zuschreibung spürt sie auch in ihrem Berufsalltag, oft in Form eines Philosemitismus, während sie danach strebt, ‚als Psychologin‘ anerkannt zu werden. In Großbritannien fühlt sie sich in dieser Hinsicht viel freier: ‚Ob du Jude bist, Moslem, rosa; das interessiert hier niemanden in England‘ (…).“164

6.1.13. Das Neuaufkeimen alter nationalsozialistischer Bünde Der Kärntner Landeshautpmann, Jörg Haider, diffamierte bei der sogenannten Aschermittwoch-Rede 2001 den damaligen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant. Er, Haider, verstehe nicht, wie jemand, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben könnte.165 Die Wissenschaflter Ruth Wodak und Anton Pelinka belegten unter anderen in Gutachten aus verschiedenen

161 Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 174 162 Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Keil, Martha / Mettauer, Phillip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 174f. 163 Ebda. 164 Immler, Nicole L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 130 165 Vgl. „Haiders Rede als Prototyp des Antisemitismus“, Standard online: https://derstandard.at/1187013/Dreck-am-Stecken---Haiders-Rede-als-Prototyp-des-Antisemitismus https://www.youtube.com/watch?v=qzVW_-0pGT0, 16.6.2018 64

Wissenschaftsrichtungen, dass Jörg Haider Antisemitismus als Tool in der politischen Auseinandersetzung ganz offen einsetzte.166 Dass 2017 bei der von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) gebildeten Regierung Mitglieder von Burschenschaften in Regierungsämter gehoben wurden, führte zu einem Teilnahmeboykott der Israelitischen Kultusgemeinde Österreichs bei den Gedenkfeierlichkeiten im März 2018, anlässlich des 80. Jahrestages des einst bejubelten Anschlusses Österreichs zu Nazideutschland. Das Interview in der Nachrichtensendung ZiB2 mit Ariel Muzicant, dem jetzigen Vizepräsidenten des World Jewish Congress, spiegelt die Position der österreichischen Jüdinnen und Juden im aktuellen Diskurs wider.167 Im Vorfeld dieses Gedenktages konnte die Journalistin Nina Horaczek für die Wiener Stadtzeitung „Der Falter“ aufdecken, dass in Lokalitäten von Burschenschaften Liederbücher mit nationalsozialistischem Inhalt existieren, in denen es heißt: „Wir schaffen die siebte Million“168. Dieses Thema war dann einige Wochen lang bestimmend für die österreichische Innenpolitik und nahm zudem Einfluss auf die Landtagswahl in Niederösterreich am 28. Jänner 2018. Ariel Muzicant zeigte sich ob des Vorwurfes der Dialogverweigerung seitens der Israelitischen Kultusgemeinde entrüstet über die Texte im Liederbuch der Burschenschaft „Germania“ und in diesem Zusammenhang auch über die Rolle der Freiheitlichen Partei, die sich seit Jahrzehnten im Antisemitismus-Diskurs „durchschummeln“ wolle. „Schauen sie, meine Verwandten sind in eine Scheune gesperrt worden und angezündet worden. Die Familie meiner Frau wurde nach Auschwitz deportiert. Ihre Eltern waren dort und 90 Prozent der Menschen sind aus Auschwitz nicht mehr zurückgekommen. Nun sitzt eine FPÖ in verschiedenen Regierungspositionen und erklärt, sie sei gegen den Antisemitismus und gleichzeitig versucht sie einen Großteil dieser Mandatare in diesen deutschnationalen Burschenschaften in Positionen zu bringen und da poppt jede Woche irgendetwas neues auf, was in diesen Burschenschaften so vor sich geht und jetzt – diesen Menschen das Gedenken an meine toten Verwandten, ich bitte um Verständnis, aber es gibt eine Grenze des Zumutbaren.“169 Auf die Frage der Journalistin, ob der Boykott nicht nach hinten losgehen würde und damit der jüdischen Community schaden könnte, betonte Muzicant, dass er sich entschuldigt und auch deponiert hätte, dass er nicht gegen die Veranstaltung sei. „Ich habe auch versucht zu erklären, warum wir, und da bin ich ja nicht alleine, das ist: der Jüdische Weltkongress, der Europäische

166 Vgl. Pelinka, Anton / Wodak, Ruth (Hg.) (2002).“Dreck am Stecken“. Politik der Ausgrenzung. Wien: Czernin Verlag 167 ORF, ZIB 2-Interview mit Ariel Muzicant, 25.1.2018 168„Wir schaffen die siebte Million. Die Burschenschaft des FPÖ-Spitzenkandidaten Udo Landbauer treibt ihre ‚Späße‘ über die Schoah“, Falter 04/18, 23.1.2018: https://www.falter.at/archiv/wp/wir- schaffen-die-siebte-million, 16.6.2018 169 ORF, ZIB 2-Interview mit Ariel Muzicant, 25.1.2018 65

Kongress, die Jüdische Gemeinde Frankreichs, die Jüdische Gemeinde in Deutschland, der Präsident des Staates Israel, die Europäische Rabbinerkonferenz und, und, und, praktisch das gesamte jüdische Europa, auf einem Standpunkt stehen: Wir wollen mit den Rechtspopulisten, die nach wie vor eine Nähe zum Nationalsozialismus haben, nichts zu tun haben.(…).“170 Warum es trotz Geschichtsaufarbeitung möglich war, dass dieses antisemitische Liederbuch 1997 von den Burschenschaften verlegt wurde, antwortete Muzicant: „Das ist ja viel schlimmer. Und wenn ich höre, man hat nichts gesehen, man hat nichts gehört und auch nicht gesungen, dann erinnert mich das ein bisschen an die Strategie von Waldheim, wo man gesagt hat, nur sein Pferd war bei der SS“.171 Wenig später nimmt das Gespräch eine aufschlussreiche Wendung: Auf die Frage, ob er der von der FPÖ geplanten Historikerkommission eine Chance geben wolle, nimmt Muzicant auf den ehemaligen Landeshauptmann Jörg Haider, der ihn persönlich antirassistisch diffamiert hatte, Bezug. „Also schauen Sie, der Jörg Haider hat, damals als er das BZÖ abgetrennt hat, das der Grund für diese Trennung war, und das hat er vielen Leuten mitgeteilt, er möchte sich von den Neonazis, man nannte das damals auch Keller-Nazis, loskommen. Und dieses Loswerden war ein Grund für ihn das BZÖ zu gründen. Alle diese Leute sind in der FPÖ geblieben und stellen heute 40, 50 Prozent der Mandatare dieser Partei in Wien, im Nationalrat. Ein Dutzend Burschenschafter, die die Ministerien als Sekretäre und als Funktionäre ernannt werden. In die Industriebetriebe überall kommen also diese Burschenschaftler hin und was wollen sie dann mit einer Historikerkommission machen? Überprüfen, ob die Gothia oder die Olympia und alle diese Leute auch noch Liederbücher haben.“172 Weiters betonte Muzicant, dass Österreich kein Nazi-Land sei und er auf den Bundeskanzler vertraue, dass ihm ein entsprechendes internationales Bild auch wichtig sei. Seiner Meinung nach sei es zu unterbinden, dass Kriegsverbrecher als Helden gefeiert würden. „(…) Burschenschaften, die den 8. Mai dafür missbraucht haben, um der toten Soldaten, SS-lern und anderer zu gedenken, Ulrichsberg, alle die Dinge, die immer noch kommen, immer noch stattfinden. (…)“173 In einem Beitrag für die Sendung „Heimat Fremde Heimat“ vom 5.11.2017 erzählen jüdische Jugendliche aus Wien von ihrem Leben nach der Shoah. „Wenn Sie möchten, können wir auch nicht diplomatisch antworten und wir können die Wahrheit sagen: Ich wurde bedroht und auf meinem Auto war ein Hakenkreuz draufgekratzt, auf die ganze Motorhaube. So habe ich schon gelernt, dass es wichtig ist auf sich aufzupassen, z.B. indem man keinen Davidstern trägt. Ich bin früher immer mit einer Davidsternkette herumgegangen und das mache ich heute nicht mehr, aus Angst wieder bedroht zu werden.“174 Die Jugendlichen sind in dem Dialogprojekt „Likrat“175

170 Ebda. 171 Ebda. 172 Ebda. 173 Ebda. 174 ORF-Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoah, 5.11.2017 175 Likrat: http://likrat.at/, 16.6.2018 66 organisiert. „Likrat“ will in Workshops an Österreichs Schulen gegen Antisemitismus auftreten. Oft seien vor allem jene Menschen gegen Jüdinnen und Juden, die gar keine jüdischen Menschen kennen. Daher stehen die jungen Aktivistinnen und Aktivisten Rede und Antwort und erarbeiten gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern Konzepte des Miteinanders. Neben Jüdinnen und Juden, die nicht sichtbar ihre Religion leben, sind vor allem Menschen, die die von der Religion vorgeschriebene Kopfbedeckung Kippa tragen, besonders rassistischen Angriffen ausgesetzt. Michael erzählt im Interview: „Ich sage es ganz offen und ehrlich, ich trage die Kippa nicht überall. Ich entscheide das schon situationselastisch. Normal im täglichen Gebrauch, sei es auf der Uni in der Arbeit, trage ich die Kippa. Wenn ich mich an Orten bewege, wo es eher unsicher ist, da nehme ich sie runter. Das ist Tatsache und das will ich nicht schön sprechen.“176 Nach den Terroranschlägen in Paris Anfang Februar 2015 meinte Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg im Interview, dass die europäischen Juden schon seit der Shoah mit „gepackten Koffern“ leben würden. Viele würden sich angesichts des Terrors entschließen, nach Israel zu ziehen. In Wiens jüdischer Community zeige man sich abwartend und vor allem vorsichtig. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, erklärte, dass die Alija, also die Heimkehr in die geistige Heimat Israel, in Wien ein wichtiges Thema sei. Der in Wien lebende französische Historiker Jérôme Segal sieht, dass derzeit vor allem Österreichs Muslime unter Beschuss stehen würden und fordert diesbezüglich Bildungsinitiativen für gefährdete Jugendliche.177

6.1.13.1. Der Ulrichsberg: Ressentiments gegen Slowenen werden durch Ressentiments gegen Migranten abgelöst Alljährlich treffen sich am Kärntner Ulrichsberg rund um das Datum des Kärntner Landesfeiertags, dem 10. Oktober, nationalsozialistisch Gesinnte um ihrer Opfer zu gedenken, Reden zu halten und sich auszutauschen. Dieses Treffen wird von der slowenischen Volksgruppe seit jeher als Aggression gegen die Minderheit gewertet, da nationalsozialistisches Gedankengut und Deutschtümelei hochgepriesen werden. Am Tag der Volksabstimmung, am 10. Oktober 1920, mussten sich die Kärntnerinnen und Kärntner für den Verbleib des Landes bei Österreich oder den Anschluss an den SHS-Staat entscheiden. Obwohl der Verbleib bei Österreich dem Abstimmungsverhalten der Kärntner Sloweninnen und Slowenen zu verdanken war,

176 ORF-Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoah, 5.11.2017 177 ORF-Heimat Fremde Heimat: Koffer gepackt?, 1.2.2015 67 brach alljährlich um den 10. Oktober der Volksgruppenkonflikt auf und schlug sich in der Öffentlichkeit nieder.178 Im Vorfeld treffen sich Vertreterinnen und Vertreter der deutschnationale Internationale im Klagenfurter Konzerthaus und in Krumpendorf. Diese Zusammenkünfte nationalsozialistischer und neonazistischer Kräfte spielen im filmischen Teil der Dokumentation „Schatten der Scham“ eine aufklärerische Rolle. Die Kärntner slowenische Protagonistin in dritter Generation, Ajda Sticker, besucht in Kamera-Begleitung diese Zusammenkünfte, um sich selber ein Bild zu machen. Schließlich kommt es zu einem Eklat.179 Das Treffen im Vorfeld der Ulrichsberg-Feier in Krumpendorf, bei dem vor Jahren die als NS-Ikone gefeierte Gudrun Burwitz, Tochter von Heinrich Himmler, ihren Auftritt hatte, stellt sich als Zusammenkunft neonazistischer Gruppen aus aller Welt dar. Die Kamera fängt bei einem dieser Treffen ein auf die Hände tätowiertes „Sieg-Heil“ ein. Noch im Jahr 1995 begrüßte Jörg Haider Veteranen der Waffen-SS in Krumpendorf als „anständige Menschen mit Charakter“ und „ (...) dass es in dieser Welt einfach noch Menschen gibt, die einen Charakter haben und die auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind."180 Im Rahmen der Dreharbeiten entdeckt der Kameramann auch den kroatischen Kriegsverbrecher Milivoj Ašner, dem Jörg Haider bis zu seinem Tod in Klagenfurt Zuflucht bot. Auf dem Weg auf den Ulrichsberg wird eine Gruppe von Menschen, die gegen das Treffen demonstrieren, verhaftet. Als Ajda Sticker mit dem Kameramann am Ulrichsberg ankommt, wird dieser von einer Gruppe von Skinheads attackiert und als „Stück Scheiße, das von uns allen Fotos macht“ und als „politische Zecke“ beschimpft sowie die Kamera auf den Boden gestoßen. Sticker und der Kameramann werden daraufhin von der Polizei vom Berg eskortiert, die Skinheads hingegen nicht. Dass sich der Hass von Neonazis gegen ein neues Ziel richtet, das begründet die Besetzung eines Hörsaales an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt / Celovec durch die sogenannten Identitären. Die vom Wissenschaftler Daniel Wutti181 – selbst auch Kärntner Slowene – gehaltene Ringvorlesung galt dem Thema Flucht und Asyl. Studentinnen und Studenten protestierten, der Rektor der Universität stellte sich einem Besetzter entgegen, um seine Identität zu erfragen, und wurde in die Magengrube geschlagen. Dies lässt den Schluss zu, dass sich der Hass der

178 Vgl. Zwitter-Grilc, Sabina (2009). „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Diplomarbeit. Wien, Seite 60ff. 179 Vgl. „Schatten der Scham“, filmischer Teil des Dissertationsprojektes 180 „Die braunen Rülpser der FPÖ“, Kurier, 19.7.2017: https://kurier.at/politik/inland/antisemitismus- rechte-ruelpser-der-fpoe/275.981.465, 16.6.2018 181 Daniel Wutti hat als einer der Ersten wissenschaftlich die transgenerationale Traumaweitergabe von Kärntner Sloweninnen und Slowenen bearbeitet. 68 deutschnationalen Kräfte auf ein neues Objekt richtete, nämlich gegen Migranten, insbesondere geflüchtete Menschen.182

6.1.13.2. Antiziganismus Erwin Horvath, Karl Horvath, Peter Sarközi und Josef Simon, alle Kinder und Enkelkinder von KZ-Überlebenden, wurden in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar Opfer eines rassistisch motivierten Rohrbombenanschlages in der Nähe der Oberwarter Roma-Siedlung. Als die vier jungen Männer die Tafel mit der Aufschrift „Roma zurück nach Indien“, welche vom Attentäter Franz Fuchs mit einer Bombe versehen und dort hingelegt wurde, berührten, kam es zum schwerwiegendsten rassistischen Verbrechen in der Zweiten Republik. Als sich das Attentat ereignete, befand sich Manuela Horvath, Verwandte der Opfer und heute Leiterin der Roma-Pastoral, damals ein zehnjähriges Kind, in der Siedlung. Sie berichtet, dass es laut war, alle schrien und standen unter Schock. Ihr Onkel Helmut Horvath berichtet im ORF-Interview: „Das war ja eine Katastrophe, der Vater hat wieder das Bild gehabt vor den Augen vom KZ, dass man wieder unsere ermordeten Menschen (Anm.: Roma) aufgeladen hat. Er hat immer davon erzählt. Er hat immer gehabt, das gleiche Bild vom KZ, wie er nach Hause gekommen ist. Wer hat sich das vorgestellt, dass so etwas passiert? Keiner. Rassismus und Hass. Dass man so weit kommt, dass man Menschen umbringt. Das kann man nicht vergessen und ich will es auch nicht vergessen.“183 Für die KZ-Opfer war es unvorstellbar, dass nach dem eigenen Erlebten nun auch ihre Kinder sozusagen vor ihrer Haustür ermordet wurden und das aus dem Grund, dass sie Roma waren. Am Anfang ging die Polizei von einer Fehde unter den Roma aus und durchsuchte die Roma-Siedlung, was sich für die schockierten Opfer als zusätzliche Demütigung herausstellte. Die Protagonistin der dritten Opfergeneration der Roma, die Romni Sandra Selimović, spannt im filmischen Teil des Dissertationsprojektes den inhaltlichen Bogen vom Holocaust zum Antiziganismus, zur Bedrohung und Diskriminierung der Romnija und Roma in Österreichs Nachbarstaaten heute: „Es betrifft einen nicht so selber, aber es passiert immer da und dort was und irgendwann ist es dann plötzlich da. Dann kann man gar nicht weg und dann nimmt man das hin und ist einfach Opfer von dem. Man kommt gar nicht aus und ist schon mitten drin und steckt schon im KZ. So von einem Tag auf den anderen, dass es so „klack“ geht und man merkt es gar nicht. Und ich habe das Gefühl, dass es jetzt auch ein bisschen so ist. Man hört immer, da ein paar Hetzgeschichten, dort werden Häuser verbrannt und in Ungarn in einem Roma-Dorf

182 Besetzung der AAU durch Identitäre: https://www.youtube.com/watch?v=h14tgF6XIoI; https://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/5011706/Identitaere-stuermen-Vorlesung-an- der-Universitaet-Klagenfurt, 16.6.2018 183 ORF-Heimat Fremde Heimat-Spezial: Roma, 8.4.2018 69 wird geschossen und die Paramilitärs dringen dort ein und machen ein Schießzentrum und Frauen und Kinder müssen evakuiert werden.“184 Anhaltende Diskriminierungen und Ausschreitungen gegen die größte europäische Volksgruppe, die Roma, werden im filmischen Teil des Dissertationsprojektes behandelt. So wurde etwa einer Romni in Slowenien das Grab verwehrt. Als man die Tote in einem Ort im Süden Sloweniens auf den Friedhof bringen wollte, stellten sich ein Teil der dortigen Bevölkerung dagegen und konnte damit eine Beerdigung der Frau verhindern. Erst durch das Einschreiten von militärischen Polizeisondereinheiten aus der Hauptstadt Ljubljana konnte die Situation befriedet werden.185 In einem anderen Dorf Sloweniens hatten sich im Jahr 2006, kurz vor Weihnachten, einige Menschen zusammengerottet, marschierten mit Motorsägen in Richtung einer Roma-Siedlung im Wald und legte diese in Schutt und Asche. Diesmal eilte der slowenische Staatspräsident Janez Drnovšek herbei, um der betroffenen Roma- Familie zwei Wohnwagen zu bringen, um dort Unterkunft beziehen zu können.186 Frankreich, Italien, Rumänien, Tschechien und Bulgarien sind nur einige Länder, in denen rassistische Übergriffe gegen Romnija und Roma dokumentiert sind.187

6.1.13.3. Antiziganismus in Österreich: Der Bericht Auch in Österreich gab es zu Beginn des Jahres 2016 mehrere Brandanschläge auf Zelt-Unterkünfte von Romnija und Roma in Linz, die dabei vollständig zerstört wurden.188 In einem Waldstück lebten rund 50 Romnija und Roma, darunter auch einige Kinder, die damit zur Flucht gezwungen wurden. Der ermittelnde Stadtpolizeikommandant konnte auch zwei Monate nach den Anschlägen über keinerlei Erkenntnisse bezüglich der Tat und der Täter berichten. Die von den Brandanschlägen betroffenen Romnija und Roma seien laut Polizei „Armutsmigranten“ gewesen, die vom Betteln in Linz gelebt hätten. Der Bürgermeister von Linz, Klaus Luger, reagierte mit einem lokalen, temporären Bettelverbot für die Linzer Innenstadt und meinte im Interview: „Für mich hat das keine parteipolitische Facette, geschweige denn, dass ich vor der FPÖ in die Knie ginge. Es geht um etwas anderes, es geht darum, dass man in unseren Städten nicht das Problem von Millionen unterdrückter, verfolgter, sozial an den Rand gedrängter,

184 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 185 Ebda. 186 „Slowenischer Staatspräsident bei Familie Strojan“, moj video, 25.12.2006: http://www.mojvideo.com/video-drnovsek-pri-strojanovih/75c2b643afb4ecbfc8ecegen, 16.6.2018 187 Zentralrat deutscher Sinti und Roma (2017). Der Kampf gegen Antiziganismus in Europa: http://zentralrat.sintiundroma.de/download/7018, 16.6.2018 188 „Dritter Brandanschlag auf Romazelte in Linz“, Presse online, 3.3.2016: https://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/4938200/Dritter-Brandanschlag-auf- RomaZelte-in-Linz, 16.6.2018 70 in diesem Fall Roma, Menschen in Ungarn, Rumänien oder anderen Staaten lösen kann.“189 Der Bürgermeister machte in dem Gespräch einen klaren Unterschied zwischen den guten, autochthonen Roma bzw. Sinti, die in Linz leben und von Verein Ketani vertreten werden, und den problematischen Roma aus Ländern Südosteuropas. Hier sei eine kurze Randbemerkung erlaubt: Als der Kameramann bei den Dreharbeiten auf den Balkon des Bürgermeisterbüros treten wollte, um zu filmen, wurde er darauf hingewiesen, dass das Filmen am Balkon nicht erwünscht sei, denn von hier habe nämlich Hitler vor der jubelnden Linzer Bevölkerung am Hauptplatz gesprochen. Der Antiziganismus-Bericht des Wiener Vereins Romano Centro hat es sich zur Aufgabe gemacht, Diskriminierungen und Angriffe gegenüber Romnija und Roma zu erfassen. 190 Die von Betroffenen gemeldeten Fälle werden in Kooperation mit der Antirassismus-Anlaufstelle „Zara“ (Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit)191 dokumentiert. Die Vertreterinnen und Vertreter von „Romano Centro“ wollen mit diesem kontinuierlich erscheinenden Bericht, Fälle von Diskriminierung vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch bei der Wohnungssuche und in anderen gesellschaftlichen Bereichen erfassen. Antiziganismus ist keineswegs ein neuartiges Phänomen. Die Menschen beispielsweise in der burgenländischen Oberwarter Siedlung befinden sich seit Jahrzehnten und bis heute in einer Art Teufelskreis. Aufgrund der Herkunft und des Namens wird den Romnija und Roma die Arbeit in der Umgebung verwehrt, das fehlende Einkommen bringt Armut und Isolation mit sich. Ähnlich ist auch die Situation im Bildungsbereich. Eine Partizipation im regulären Schulwesen wurde den Kindern der Roma-Volksgruppe verwehrt, sodass sie in Sonderklassen unterrichtet wurden. Durch Eigeninitiativen im Rahmen der Vereinsarbeit konnten sie einen Weg einschlagen, um einen Bildungsweg geprägt von Stigmatisierung und Diskriminierung zu bewältigen. Im Jahr 1991 wandte sich der mittlerweile verstorbene Obmann des Kulturvereins österreichische Roma, Rudolf Sarközi, an den damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky, indem er Bezug nahm auf einen Bericht im Wochenmagazin „profil“. Demnach würden 49 Prozent der Befragten einer Erhebung nicht neben einem „Zigeuner“ wohnen wollen. Der Bundeskanzler wurde vom Roma-Vertreter Sarközi aufgefordert konkrete, politische Schritte zu setzen.192

189 ORF-Heimat Fremde Heimat: Roma-Brandanschlag in Linz, 17.4.2016 190 Österreichischer Antiziganismusbericht: http://www.romano- centro.org/index.php?option=com_content&view=article&id=135%3Apressekonferenz- antiziganismus-bericht&catid=14%3Astartseite&Itemid=11&lang=de, 16.6.2018 191 ZARA: https://www.zara.or.at/, 16.6.2018 192 Kulturverein österreichischer Roma (1991). Vom Rand in die Mitte. 20 Jahre Kulturverein Österreichischer Roma. Wien: Eigenverlag, Seite 40f. 71

Die für die Volksgruppe stigmatisierende und seit Gedenken verwendeten Bezeichnung „Zigeuner“ hat den Künstler Harri Stojka, einer der Protagonisten im filmischen Teil des Dissertationaprojekts und Opfer in zweiter Generation, veranlasst, sich mit einer Aktion gegen die Verwendung der für Romnija und Roma beleidigenden Bezeichnung zu richten. Dabei lassen sich Aktivistinnen und Aktivisten mit ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin gegen das Wort Zigeuner“ vor der Kamera ablichten.193 Häufig wird Aktionen wie dieser der Vorwurf einer übersteigerten political correctness gemacht. Kommunikationswissenschaftler Fritz Hausjell von der Universität Wien bringt diese Argumentation in einen journalistischen Kontext. Die Dinge, ihre Beziehung zueinander und etwaige Entwicklungen sind dabei beim Namen zu nennen. Dabei sei ein respektvoller Umgang miteinander prioritär: „Man sollte immer dann, bestimmte Begriffe als Außenstehender nicht verwenden, wenn die betroffene Gruppe das als Diskriminierung empfindet. Veränderung in der Begrifflichkeit stehen auf der Tagesordnung.“194

6.1.14. Postkoloniale Kritik Trinh T. Minh-ha, Filmemacherin und Theoretikerin der Gender und Postcolonial Studies an der University of California, betont im ORF-Interview den besonderen Stellenwert der Tradition von Oral History für Frauen aus der sogenannten Dritten Welt. Eine hegemoniale, vom Westen dominierte Geschichtsschreibung habe diese Stimmen nicht einmal wahrgenommen, denn nur das geschriebene Wort sei von Bedeutung: „Das gesprochene Wort ist dort nach wie vor unglaublich wichtig. Die Geschichten der Mütter und Großmütter spielen eine wichtige Rolle. Doch die Geschichtsschreibung verdrängt diese mündlichen Überlieferungen, die klar weiblich konnotiert sind, in den Bereich des Fiktionalen, des Mythos. Und diese Geschichten werden so aus der Geschichte ausgeklammert.“195 Im Rahmen dieses Dissertationsprojektes spielt diese Oral History-Tradition eine zentrale Rolle, denn dieses von Minh-ha erfasste „Nicht-zuhören-wollen“ gepaart mit kolonialistischem Denken stellt ein signifikantes Merkmal auch im Umgang mit Opfern der NS-Verbrechen in drei Generationen dar. Daher werden im filmischen Teil der Dissertation die Interviewpartnerinnen und -partner jeweils mit den ihnen zuhörenden Enkelinnen bzw. Gruppen-Angehörigen jüngerer Generation inszeniert. Diese Dramaturgie steht im Zeichen des gewollten Zuhörens, im Sinne von Minh-ha. Für die Volksgruppe der Romnija und Roma spielt diese Oral History-Tradition eine entscheidende Rolle. Romnija und Roma benutzten ihre Muttersprache bedingt

193 Harri Stojka über den Fotoworkshop "Ich bin gegen das Wort Zigeuner": https://www.youtube.com/watch?v=CukNPZTooBc, 16.6.2018 194 ORF-Heimat Fremde Heimat: Interview mit Fritz Hausjell, April 2018 195 „Die Stimme der Differenz: Interview mit Trinh T. Minh-ha“, science.ORF.at, 14.10.2011: http://sciencev2.orf.at/stories/1689202/index.html, 16.6.2018 72 durch ihre Diskriminierungsgeschichte immer als Art Schutzsprache. Die Sprache wurde ausschließlich an Menschen weitergegeben, denen die Familie bzw. der Clan vertraute. Das gesamte Wissen konnte sich durch eine mündliche Überlieferung erhalten und blieb dabei vor Außenstehenden, die stets Unheil über die Gruppe brachten, verborgen. In diesem Zusammenhang ist die Kodifizierung des burgenländischen Romani als ein großer Vertrauensvorschuss an die Mehrheitsbevölkerung zu werten. Motor dieses Sprachenprojektes, das in Schulbüchern und Zeitschriften in der Muttersprache der Romnija und Roma mündete, war der Roma-Vertreter Emmerich Gärtner-Horvath, der ab 1993 mit Unterstützung der Universität Graz die Kodifizierung der Sprache begann. Ein wissenschaftliches Projekt, das im Sinne von Minh-ha das Prozesshafte in den Vordergrund stellt. „Eine Grenze ist dort, wo etwas endet und gleichzeitig etwas beginnt.“196 In ihrem Buch „Elsewhere, within Here” beschäftigt sich Minh-ha als postkoloniale Wissenschaftlerin mit dem für die Arbeit wichtigen Begriff der Grenze. Demnach können Grenzen in ethnischen Belangen klare Trennlinien setzen, die jedoch von den Unterdrückten, wenn auch nur in ihren Visionen, unterlaufen werden. Es gäbe jedoch auch Grenzen, die sich dem Bewusstsein erschließen und wo neues entstehen kann: „Zum Beispiel das Zwielicht, das ist ein Moment zwischen Tag und Nacht, wo die Stimmung sehr düster, sehr verworren wird. In diesem Moment kann man Grenzen rammen, sie verformen. Dort transformieren sich Identitäten. Die Menschen können dann zum Beispiel einen Hund für einen Wolf halten.“197 Für dieses Dissertationsprojekt sind „Zwischenräume“, wie sie vom Wissenschaftler Homi Bhabha definiert werden, von besonderer Bedeutung. Erst die Schaffung eines definierten „Dritten Raumes“ 198 kann, nachdem das Leid der Opfer benannt wurde, es ermöglichen, dass neue Strategien der Minderheitenkultur und -sprache als gemeinsames Projekt aller in Angriff genommen werden können. Festzuhalten ist, dass die Erkenntnisse aus der postmigrantischen, postkolonialen Forschung angewandt auf den Erinnerungsdiskurs und im Umgang mit autochthonen Minderheiten neue, zukunftsweisende Perspektiven eröffnen.

6.1.14.1. Konstruktion von ethnischer Identität und Abgrenzung Die Identitätsforschung ist ein breites Feld und gewinnt von Studie zu Studie an Bedeutung im wissenschaftlichen Kanon. Dieses Dissertationsprojekt wirft einen Blick auf jene mit der Identitätsbildung und deren Erhalt verbundenen Mechanismen, die

196 Ebda. 197 Ebda. 198 Vgl. Bhabha, Homi K. (1997). „Die Frage der Identität“ In: Ellen Frieben-Blum u.a. (Hg.) Wer ist fremd? Ethnische Herkunft, Familie, Gesellschaft. Opladen, Seite 183 ff. 73 für die gesellschaftliche Position der in dieser Arbeit behandelten Minderheiten verantwortlich sind. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen hat den Begriff des „Solitarismus“ geprägt, welchen er als ein anderes exkludierendes Identitätskonstrukt beschreibt, und der mit Vorsicht zu genießen sei. Deshalb schlägt Sen sogar vor, bei Anwendung einen Warnhinweis zu formulieren: „Der Inhalt gefährdet ihre Gesundheit und kann Menschen töten“199 zitiert der Psychologe und Traumatologe Klaus Ottomeyer den indischen Wissenschaftler. Ottomeyer wendet die Theorie auf den Kärntner politischen Diskurs an und erkennt das Modell des „Solitarismus“ in Wahlkampfslogans Jörg Haiders wieder: „(…) Die Hauptparole ‚Kärnten wird einsprachig‘ ist bereits eine Aufforderung zur ethnischen Säuberung. Denn Kärnten ist weder in der Realität noch in der Verfassung einsprachig.“200 Wieso Jörg Haider mit dieser seiner solitaristischen Strategie Menschen von sich und seiner Partei überzeugen konnte, erklärt der Traumaforscher wie folgt: „Haider konnte in Kärnten auch so erfolgreich sein, weil viele Kärntner und Kärntnerinnen gerne ihre Identität reinigen möchten. Ihre Identität ist nicht nur durch Traumata und Fragmentierung bedroht, sondern auch durch ihre ethnische Gemischtheit.“201 Ottomeyer stellt in seinen Ausführungen das Naturalistische, nämlich dass man mit einer ethnischen Identität geboren wird und mit derselben stirbt, infrage. Die Assimilation sei ja gerade Beweis dafür, dass sich Menschen, obwohl sie mit der slowenischen Muttersprache aufgewachsen sind, sich dann bewusst oder unbewusst, freiwillig oder gezwungenermaßen einen andern ethnischen „Mantel“ anziehen, den sie bei Bedarf wieder ablegen können oder könnten. Die Volksgruppe lebe seit schon 1000 Jahren in Südkärnten. (…) Immerhin kann man davon ausgehen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch jede(r) vierte oder fünfte Bewohner(in) Kärntens Slowenisch gesprochen hat. 2001 wurden nur noch rund 13.000 Slowenischsprachige gezählt. Wo sind die andern geblieben?“202 Da es keine größeren Migratonswellen gegeben habe, folgert Ottomeyer: (…) dass in der Mehrheit der Kärntner Familien slowenische Wurzeln existieren.“203 Da Sprachkenntnis leichter als Hautfarbe zu verbergen ist, war es für slowenischsprachige Kärntnerinnen und Kärntner um vieles leichter sich zu assimilieren als etwa für die Romnija und Roma in Oberwart. Sie erzählen, dass sie aufgrund ihres Aussehens und ihres Namens gesellschaftlich exkludiert werden und

199 Ottomeyer, Klaus (2009). Jörg Haider - Mythenbildung und Erbschaft. Klagenfurt/Celovec: Drava, Seite 97ff. 200 Ottomeyer, Klaus (2009). Jörg Haider - Mythenbildung und Erbschaft. Klagenfurt/Celovec: Drava, Seite 102 201 Ebda., Seite 93f. 202 Ottomeyer, Klaus (2009). Jörg Haider- Mythenbildung und Erbschaft. Klagenfurt / Celovec: Drava, Seite 94 203 Ebda. 74 ihnen so die Möglichkeit der Integration verwehrt bleibt, was wiederum große Auswirkungen auf die Identitätsbildung hat. Der Traumaforscher Ottomeyer spielt darauf an, dass sich die Kärntner slowenischer und deutscher Muttersprache nur durch ihre Sprache unterscheiden, die nebenbei bemerkt, jederzeit erlernt werden kann und auch das Bekenntnis zu einer Volksgruppe bei Bedarf nicht abgelegt wird. Die alten slowenischsprechenden Menschen, denen man nicht erklären konnte, dass der Gebrauch des Slowenischen in Kärnten Nachteile mit sich bringt, wurden versteckt oder sie wurden angehalten vor Dritten zu schweigen: „Es gibt in Kärnten schon länger das geflügelte Wort von der ‚slowenischen Oma im Keller‘. Mancher lokale Funktionär soll die Oma schnell versteckt haben, wenn der Landeshauptmann zu Besuch kam(…).204 Motor des Schweigens ist, so Ottomeyer, die Scham und die Angst davor als minderwertig gesehen zu werden: „(…) man wünscht sich eine ethnisch einheitliche, nicht geteilte, nicht zerrissene Identität.“205 Dass in dem Diskurs der solitaristischen Identitätsbildung der Weg zum Nationalismus und Rechtsradikalismus nicht weit ist, zeigen Beispiele aus Kärntens politischem Alltag, in dem Jörg Haider in seiner ethnischen Politik alles auf diese Karte setzte und so sollte ‚Am Kärntner Wesen soll die Republik genesen‘. von sich gegeben. Im Jahr 2006 erklärte der damalige Verkehrsreferent Dörfler das verfassungswidrige Verrücken von zweisprachigen Ortstafeln: ‚Der Rechtsstaat ist das Eine und ein gesundes Volksempfinden das Andere – ich glaube, ich habe ein gesundes Volksempfinden‘. Dörfler meinte später, es täte ihm leid, er habe diesen Begriff nicht als Parole der Nationalsozialisten gekannt. 206

6.1.14.2. Ethnisierung und Reethnisierung Dem Muster der solitaristischen Identitätsbildung liegt das Etikettieren zugrunde, bei dem ein Merkmal oder ein Zeichen eines Menschen zu dessem Wesen gemacht wird. Das Prinzip funktioniert auch mit einer Gruppe, denn laut Soziologe Wolf-Dietrich Bukow, der den Tannenbaumschen „labeling approach“ weiterentwickelt hat, werden Dinge, die eigentlich nur eine Person betreffen, „(...) in der Regel von Einheimischen aus dem eigenen Traditionsfundus entnommen oder notfalls auch neu geschaffen und dann kunstvoll arrangiert, genau adressiert und dabei kulturell und

204 Ottomeyer, Klaus (2009). Jörg Haider- Mythenbildung und Erbschaft. Klagenfurt / Celovec: Drava, Seite 95 205 Ottomeyer, Klaus (2009). Jörg Haider- Mythenbildung und Erbschaft. Klagenfurt / Celovec: Drava, Seite 97 206 Ottomeyer, Klaus (2009). Jörg Haider- Mythenbildung und Erbschaft. Klagenfurt / Celovec: Drava, Seite 99 75 politisch aufgeladen.“207 Ethnisierung bedeute somit, dass Prozesshaftes als unentrinnbares Wesen gesehen und argumentativ gestützt wird.208 Konkret werden durch diese Stigmatisierungen Ausgrenzungsmechanismen geschaffen, die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft statten sich mit „territorialen Rechten und schließlich nationalstaatlichem Habitus“ aus. „Das Einheimische stilisiert sich allmählich zu einem Staatswesen mit entphsprechenden Rechten.“209 Verwunderlich ist, dass die Stigmatisierten nicht ausbrechen, in dem sie nach Judith Butler, Philosophin und Gender-Theoretikerin, dieses Rollenanbot schlicht nicht annehmen und im Gegenzug etwas Eigenes performieren. Dem entspricht auch die slowenische Volksgruppe in Kärnten, indem sie dieses Stigma, das Label annimmt und es auch für sie zum wichtigsten identitätsstiftenden Merkmal wird.210 Der Wissenschaftler Vladimir Wakounig hat die Ethnisierungstheorie von Bukow auf die Kärntner Minderheitensituation umgelegt. Die Minderheit wurde von den deutschnationalen Verbänden als kommunistisch, illoyal, rückständig stigmatisiert und kriminalisiert. Anstatt diese Etikettierung zurückzuweisen, wurde die Exklusion als identitätsstärkendes Merkmal von der Volksgruppe wie ein Schild vor sich hergetragen. Da man keinen zweisprachigen Unterricht an den höheren Schulen in Kärnten einrichten wollte, kam es zur Errichtung des Slowenischen Gymnasiums in Klagenfurt / Celovec. Dieses Ausschlussmodell wurde jedoch von der Volksgruppe und ihren Angehörigen im Zuge eines Reethnisierungsprozesses in eine „identitätsstiftende Institution“ – im Sinne von „naša šola / unsere Schule“ – umdefiniert.211 Eine klare Form der Ethnisierung hat Jakob Frühmann in seiner Arbeit zu den vom NS- Regime ermordeten Romnija und Roma in seinem Heimatdorf Jabig erarbeitet. Neben einer Definition von Antiziganismus wurden von ihm auch Kategorien geschaffen, die erläutern, wann dieser Ethnisierungsprozess klar vorliegt und zum Strafbestand wird: „Antiziganismus ist ein historisch hergestellter, stabiler Komplex eines gesellschaftlich etablierten Rassismus gegenüber sozialen Gruppen, die mit dem Stigma ‚Zigeuner‘ oder anderen verwandten Bezeichnungen belegt werden.“

207 Bukow, Wolf-Dietrich (1996). Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Burdrich, Seite 65 208 Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich (1996). Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Burdrich, Seite 64 209 Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich (1996). Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Burdrich, Seite 64ff. 210 Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich/ LLaryora, Roberto (1998). Mitbürger aus der Fremde. Soziogenese ethnischer Minoritäten. Opladen: Westdeutscher Verlag, Seite 63; Butler, Judith. Performative Akte und Geschlechterkonstruktion. In: Wirth, Uwe (Hg.) (2002). Performanz-Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, Seite 301ff.; Sabina Zwitter-Grilc (2009). „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Diplomarbeit. Wien, Seite 23ff. 211 Vgl. Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift, Seite 92 ff. 76

Frühmann stellt Kategorien auf, die Antiziganismus ausweisen: „Eine homogenisierende und essentialisierende Wahrnehmung und Darstellung dieser Gruppen, (das bedeutet, dass alle so bezeichneten Personen als einander gleich und ihrer Wesensart als unveränderbar angesehen werden). Die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften an diese (beispielsweise Kriminalität, Nicht-Arbeiten- Wollen oder Unehrlichkeit) und vor diesem Hintergrund entstehende, diskriminierende, soziale Strukturen und gewalttätige Praxen, die herabsetzend und ausschließend wirken und strukturelle Ungleichheit reproduzieren.“212

6.1.14.3. Solitarismus, Ethnisierungs- und Reethnisierungsprozesse im transgenerationalen Opfer-Diskurs Ethnisierungsprozesse und ihrer tatsächlichen Umsetzungen, wie in der Zeit des Nationalsozialismus, wo im Rahmen von Rassismus und Antiziganismus nur solitaristische Identitätsbildungen zugelassen wurden, führten zum Völkermord. Für das Fremde bzw. das Andere gab es da keinen Platz mehr. Menschen wurden ermordet und jene die überlebten, gaben ihre seelischen Verwundungen an ihre Kinder und Enkelkinder weiter. Die Überlebenden konnten die gesellschaftliche Stigmatisierung nicht zurückweisen. Ihre Verwundungen wurden lächerlich gemacht, sie wurden aufgefordert zu schweigen und vor allem aber wurden sie in ihrem Leid alleine gelassen. In einem Prozess der Reethnisierung haben die Überlebenden und ihre Nachkommen die ihnen zugewiesene Opferrolle angenommen und das Überleben des Holocaust sowie das damit verbundene Leiden wurden für die von NS- Gewalt Betroffenen ein wichtiger, wenn nicht der bestimmende Identitätsstrang. Dies gilt nicht nur für jene, die die NS-Verbrechen an ihrem eigenen Leib ertragen haben, auch die Kinder und Enkel bauen ihre Identität um das Opfersein ihrer Eltern auf.

6.1.14.4. Fünf speziellen Formen des ethnischen Stranges bei der Konstruktion von Identität Die Forschungshypothese des Dissertationsprojektes geht bei der Konstruktion es nationalen bzw. ethnischen Identitätsstranges von Opfern in zweiter und dritter Generation, angelehnt an das Modell von Iris Wachsmuth,213 von zumindest fünf Formen aus, die durch die im Kapitel 6.1.14.2 besprochenen Prozesse der

212 Frühmann, Jakob (Hg.) (2018). Verschleppt, verdrängt, vergessen. Zur Erinnerung an die Romnija und Roma aus Jabing. Oberwart: Lex Liszt Edition 12, Seite 17 213 Wachsmuth, Iris. Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(inne)n und Mitläufer(inne)n. In: Keil, Martha; Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. Seite 196 77

Ethnisierung und Reethnisierung nach Bukow und Wakounig214 erklärbar werden. Weiters spielen psychologische Aspekte aus der Traumaforschung eine entscheidende Rolle.

1. Der widerständige Umgang Für die Kategorie des widerständigen Umgangs steht in der Dokumentation „Schatten der Scham“ unter anderem das Interview mit Prof. Katja Sturm-Schnabl, die während der Zeit ihrer Vertreibung als Kind sich ihren widerständigen Geist bewahrt hat. Eine Haltung, die laut Sturm-Schnabl, ihr von ihrer Mutter auch in schwersten Stunden vorgelebt wurde. „Meine Mutter hatte so ein sehr verbissenes ernstes Gesicht und ich kann mich erinnern, meine Tanten haben beide geweint und ich kann mich erinnern, dass meine Mutter ihnen zugezischt hat, sie sollen nicht weinen, sie sollen ihren Feinden nicht zeigen, wie es in ihrem Inneren aussieht. Sie sollen mehr Stolz haben.“215 Auch während ihrer Lagerinhaftierung verweigerte Sturm-Schnabl jede Zusammenarbeit mit Tätern bzw. deren Zuwendung. „Ich habe nicht gegessen, mein Teller ist einfach voll geblieben und irgendwann hat das dieser Lagerführer bemerkt und beim nächsten Mal vorbeigehen hat er irgendetwas Kreischendes gesagt und ich habe trotzdem nicht gegessen. Ich habe mir das dann schon vorgestellt, die Endphase dieses Spiels: Weil ich gedacht habe, gut, zuletzt wird er mich von seinem Schäferhund zerreißen lassen und dann habe ich gedacht: Aber ich esse es trotzdem nicht, weil ich will von den Deutschen nichts essen! Und wie er dann das letzte Mal am Ende des Tisches war, hat meine Schwester die Teller getauscht und hat meinen Brei so in einem Dings hinuntergeschlungen. Dann war ich ihr eigentlich sehr dankbar, weil ich überzeugt war, sie hat mir das Leben gerettet.“216 Nach der Zeit in der NS-Gefangenschaft führte diese Erfahrung nicht zur Aufgabe der Muttersprache und Kultur, sondern zu einem bedingungslosen Einsatz für die Minderheit. Die Ethnisierung, nach Bukow,217 wird im Zuge eines Reethnisierungsprozesses nach Bukow und Wakounig218 zur Stärke und zu einem Hauptstrang bei der Identitätsbildung herangezogen. So meint der

214 Bukow, Wolf-Dietrich (1996). Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Budrich; Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift 215 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 216 Ebda. 217 Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich / Nikodem, Claudia / Schulze, Erika / Yildiz, Erol (2001). Die multikulturelle Stadt. Von der Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag. Opladen: Lesek+Budrich. Seite 392f. 218 Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich / LLARYORA, Roberto (1988). Mitbürger aus der Fremde. Soziogenese ethnischer Minoritäten. Opladen: Westdeutscher Verlag. 49ff.; Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift. Seite 92 78

Minderheitenaktivist Fortunant Olip, der im Zuge der Volkszählung besonderer Art219 aus Protest die Wahlurne in Zell Pfarre / Sele Fara entwendete, zu seinem von den Eltern, auch Opfer des Nationalsozialismus, tradierten Lebensmotto: „Wir sind so erzogen worden und das haben wir von den Eltern, vom Vater direkt übernommen, wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht und so haben wir das auch im Jahr 76 gesehen. Wir haben diese Volkszählung besonderer Art als extremes Unrecht gegenüber der slowenischen Volksgruppe gesehen und haben ein Zeichen des Protests und des Widerstandes gesetzt.“220 Der widerständige Umgang mit der Familiengeschichte der Opfer in mehreren Generationen zeigt sich dadurch, dass diese Protagonistinnen und Protagonisten die Minderheitensprache an ihre Kinder weitergegeben haben, auch wenn das bezüglich des Prestiges oder auf wirtschaftlicher Ebene Nachteile mit sich brachte. Sie werden von der Gegenseite oft als „nationale Slowenen / narodno zavedni Slovenci“ gesehen und es kommt auch dabei meist zu einem Reethnisierungseffekt. Mann und Frau sind stolz, Kärntner Slowene bzw. Slowenin und Nachfahren von Opfern zu sein und schöpfen aus dem Leid ihre widerständige Kraft. Traumaforscher Klaus Ottomeyer betont diesbezüglich in „Schatten der Scham“: „Die meisten von ihnen (Kinder von Opfern) übernehmen diese Aufgabe, die Eltern zu schützen, sie zu stützen, dafür zu sorgen, dass die Ungerechtigkeit, die den Eltern passiert ist, nie wieder auf der Welt Platz greifen darf usw. das ist ein großes Identitätsthema, manchmal ein lebenslanger Schatten auch auf den Angehörigen der zweiten Generation.“221

2. Der tabuisierte, verheimlichte Umgang und die Folgen für die Minderheit „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht genießen. Dafür, muss man wissen, wer man ist, wie man überlebte und was einen überleben ließ. Das will ich diesen jungen Menschen sagen, die ihre Vergangenheit als Roma oder ihre Vergangenheit als eine österreichische Minderheit, aus der sie stammen, nicht wahrhaben wollen. Diese Dinge sollten in ihrem Kontext gesehen werden. Es kann keine Zukunft gedeihen, die einen nicht den Ruhm und den Schmerz der eigenen Vergangenheit verstehen lässt.“222 So die Analyse des US-amerikanischen Bürgerrechtskämpfers Harry Belafonte im filmischen Teil der Dissertation „Schatten der Scham“, als Reaktion auf die Beschreibung des verheimlichten Umganges mit der Familiengeschichte der Opfer. Das Tabuisieren der Familiengeschichte geht die Nichtweitergabe der Sprache einher, was gravierende Folgen für den Erhalt der Minderheitenkultur und der Sprache hat.

219 Slawisches Österreich: www.uni-graz.at/slaw4www_lk_slawischesoesterreich.pdf, 16.6.2018 220 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 221 Ebda; Ottomeyer, Klaus / Zöchmeister, Markus / Aspis (2010). Vom Leben danach – eine transgenerationale Studie über die Shoah. Forschungsbericht. Band II. Klagenfurt, Seite 310 222 Ebda. 79

Aufgrund des enormen Druckes, der vonseiten der öffentlichen Hand auf die Opfer in erster Generation ausgeübt wurde, verzichteten diese weitgehend auf die Weitergabe der Sprache, welcher Grund für ihre Deportation war. Dazu die renommierte Journalistin und Europa-Expertin Margaretha Kopeinig: „Da bin ich mit meiner Mutter hingegangen, in die Volksschule in Loibach und der damalige Direktor hat eben zu meiner Mutter gesagt, Frau Kopeinig, Sie wissen, die Sprache des Aufstieges ist Deutsch. Meine Mutter hat gleich einmal zu zittern begonnen usw. und hat nicht daran gedacht, mich zum Slowenischunterricht eben anzumelden.“223 Dieses Nachgeben der Opfer beruht laut Traumaforscher Klaus Ottomeyer auf einem zermürbendem Dilemma: „Vielleicht ist es besonders anstrengend, sozusagen im Alltag, bei den kleinen Alltagsgeschäften, beim Einkaufen, beim Schulbesuch, eigentlich ständig vor der Entscheidung zu stehen, soll ich jetzt mich dem Druck der Mehrheit beugen, z.B. auf meine Sprache, diskriminierte Sprache, zu verzichten, oder soll ich Widerstand leisten?“224 Die Gruppe, die sich wissentlich oder unterbewusst für den tabuisierten Umgang mit der Geschichte entschied, wurde als Assimilanten und Assimilantinnen bezeichnet. Viele sahen sich selbst als „Windische“225, da sie sich weiter ihrer Muttersprache bedienten, die offiziell nur noch im Haus und Stall geduldet wurde, und mit der Minderheit politisch nicht in Verbindung gebracht werden wollten. Es kam in Folge zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit jenen Opferfamilien, die sich für einen widerständigen Umgang entschieden hatten. Dazu der Philosoph und Tanzlehrer Gregej Krištof im Interview: „Die Verlierer haben nicht aufgehört Druck auszuüben. Und wir? Ich weiß nicht, warum wir so schwach sind? Man hätte sich ja gar nicht auflehnen müssen. Man hätte nur sagen müssen, wenn du noch einmal sagst, dass Slowenisch hässlich ist, dann aber. Aber sie haben immer weiter gewonnen, weil sich die Leute wie von selbst assimilierten. Man musste nur auf die Sprache verzichten und schon haben die anderen wieder gewonnen.“226

3. Der bewusst verdrängende Umgang und das Sich-Verbünden mit dem Täter „Man rührt da an die offene Wunde, sowie die Opfer sehr oft sich schämen, die Opfer zu sein, das ist das große Problem und das ist auch der Trick der Gewalthaber, dass sie die Opfer so erniedrigen, dass sie sich schämen und dadurch dann gegen ihr eigenes Volk sind.“227 So analysiert der Schriftsteller Peter Handke das Phänomen. Der Traumaforscher Klaus Ottomeyer spricht in diesem Zusammenhang von einer Variante des Stockholm-Syndroms: „Es gibt da sehr folgenschwere Vorgänge, die nennen wir in unserem Jargon also Identifizierung mit dem Angreifer. Man

223 Ebda. 224 Ebda. 225 Vgl. Bogataj, Mirko (1989). Die Kärntner Slowenen. Klagenfurt: Hermagoras Verlag. Bogataj, 1989, 72ff. 226 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 227 Ebda. 80 identifiziert sich mit dem, der die Macht hat, in einer verzweifelten Hoffnung, dann der schlimmsten Behandlung zu entgehen.“228 Aus der Perspektive der widerständigen Familien wird diese Identitätsverdichtung als radikale Assimilation, die sich in einen deutschen Mantel hüllt, verurteilt. Um die eigene Opfergeschichte zu verbergen, stellen diese Opfer in zweiter und dritter Generation oft die Geschichte ihrer Vorfahren infrage und relativieren das Ausmaß des Leidens. In „Schatten der Scham“ stellt ein junger Chorleiter und Nachfahre von Opfern am Peršmanhof, im Gespräch mit der Protagonistin Ajda Sticker naive Fragen zu den Vorgängen am Peršmanhof229, die suggerieren sollen, dass alle Seiten ein wenig schuldig sind. Iris Wachsmuth spitzt diese naive Haltung im Umgang – ob nun von Opfer- oder Täter- Seite – in ihren Überlegungen zum Naiven zu, indem sie meint, dass diese Menschen keine Verantwortung für die familiäre Geschichte übernehmen wollten230: „Diese rhetorischen Fragen gehen mit antisemitischer und empathischer Kälte gegenüber den verfolgten Menschen einher.“231 Zwei weitere Kategorien der Ausformung des ethnischen Identitätsstranges spielen bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen eine untergeordnete Rolle, während sie häufig bei Romnija und Roma sowie Jüdinnen und Juden auftreten.

4. Der unversöhnliche Umgang Ein erster Kontakt mit dieser unversöhnlichen zweiten Generation konnte im Rahmen der Dreharbeiten in Mauthausen gewonnen werden. Im Gespräch mit einem New Yorker jüdischen Ehepaar stellt sich heraus, dass sie nach Österreich gekommen waren, um jene Orte zu sehen, die sie durch Erzählungen ihrer Eltern, seit sie denken konnten, begleiteten. „Ich kann Ihnen nicht die Hand reichen, Sie sind Österreicherin. Was Ihr Volk meinem Volk angetan hat, ist unverzeihlich“232, sagte die New Yorker Jüdin zu mir. Meine Beteuerungen, dass auch mein Vater ein NS-Opfer sei, machte für sie keinen Unterschied. „Als ich in Wien überall dieses royale Schönbrunn-Gelb sah, musste ich mich fast übergeben“233, fuhr sie fort. „Wir sind in New York mit Geschichten der blutroten Donau in den Schlaf gewiegt worden.“234 Die Unterhaltung

228 Ebda. 229 Am 25.4.1945 wurden am Peršmanhof über Eisenkappel / Železna Kapla sieben Kinder und vier erwachsene Zivilisten von SS-Männern erschossen. 230 Wachsmuth, Iris (2008). Geschlechterbilder im intergenerationellem Transfer. Erbschaften aus dem Nationalsozialismus. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Themenheft Auto/Biographie, Gewalt und Geschlecht, 19/2, Seite 185-193 231 Wachsmuth, Iris. Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(innee)en und Mitläufer(inn)en. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp Mettauer (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. Seite 197 232 ORF-Heimat Fremde Heimat: Recherchegespräch für den Beitrag „Roma-Führung in Mauthausen“, 2.5.2010 233 Ebda. 234 Ebda. 81 fand im Steinbruch unter der Todesstiege im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen bei strahlendem Sonnenschein statt. Marianne Hirsch spricht in diesem Zusammenhang von einer wütenden, zweiten Generation. Diese „generation of post-memory“235 empfinden die Erzählungen ihrer Eltern wie ihre eigenen, obwohl sie gar nicht dabei waren. „Die negativen Emotionen zu zeigen, ermöglicht manchen Nachkommen, Verbundenheit mit ihren Eltern, aber auch ihre Wut über ihre möglicherweise schwere Kindheit zu formulieren.“236 Diese unversöhnliche Haltung nachvollziehbar zu machen, darum bemüht sich die Holocaust-Überlebende, Literaturwissenschaftlerin und Literatin Ruth Klüger. „Unrecht wird ja nicht ausgeglichen durch die Gemütsverfassung derer, die davon betroffen waren. Ich bin mit dem Leben davongekommen, das ist viel, aber nicht mit einem Satz voller Schuldscheine, die mir die Gespenster mitgegeben hätten zur beliebigen Verteilung. Da könnten ja gleich die Täter den Opfern dafür verzeihen, dass die Opfer sie in eine schwierige Gewissenslage gebracht haben.“237 So wird Ruth Klüger in der Arbeit „Verzeihung denken“ von Klaus-Michael Kodalle zitiert. Die Überlebenden, zweite und dritte Generation hätten somit nicht das Recht, im Namen der Ermordeten zu verzeihen. Mehr als bedenklich würde es sein, betont Ruth Klüger in der Arbeit von Kodalle, wenn es im geforderten Versöhnungsprozess zu einer Opfer-Täter-Umkehr käme. „(…) Ruth Klüger fügt hinzu, es geschehe ja tatsächlich manchmal, dass die Täter sich großzügig vorkommen, wenn sie Erinnerung auf sich nehmen. Dazu zitiert sie den Vers Wolf Biermanns: ‚Sie haben uns alles verziehen, was sie uns angetan haben‘.“238 Der Eigenbeschädigung, hervorgerufen durch die Weigerung, den Tätern zu verzeihen, ist sich Klüger sehr wohl bewusst. Sie erklärt dieses tragische Dilemma, das die Grenze des persönlichen Befindens bei weitem sprengt und symptomatisch für den Diskurs steht, ob Vergebung gedacht werden kann. „Es geschah einmal, dass eine gute Freundin Ruth Klüger vorhielt, sie sei nachtragend. ‚Das warst Du immer schon. Ein Charakterfehler von Dir.‘ ‚Du solltest lernen zu verzeihen, Dir selbst und anderen, dann wäre Dir besser.‘ Ruth Klüger bedenkt das und reagiert: ‚Mir rinnt ja sowieso die Zeit durch die Finger, und wann habe ich je mein Leben im Griff gehabt: Scherben wo man hinschaut. Nur an meiner Unversöhnlichkeit erkenne ich mich, an der halte ich mich fest. Die laß mir.‘ ‚Verzeihen ist zum Kotzen, denk ich oder sag ich, und ich lehne mich in die Polster zurück, es wird mir schwarz, denn mir fällt dazu der Brechreiz ein, der der Lähmung vorausging‘.“239

235 Vgl. Hirsch, Marianne (2008). The generation of post-memory. In: Poetics 29/1, Seite 103-128 236 Immler, L. Nicole. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. Seite 120f. 237 Kodalle, Klaus-Michael (2013). Verzeihung denken: Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse. München: Wilhelm Fink Verlag, Seite 420 238 Ebda. 239 Ebda. 82

5. Der lebenszentrierte Umgang „Wir Roma und Sinti sind die Blumen dieser Erde. Man kann uns zertreten, man kann uns aus der Erde reißen, man kann uns vergasen, man kann uns verbrennen, man kann uns erschlagen – aber wie die Blumen kommen wir immer wieder (…).“240 Dies schreibt der bereits verstorbene Roma-Künstler Prof. Karl Stojka241, der als einer der ersten auf die NS-Geschichte der österreichischen Roma auf nationaler und internationaler Ebene aufmerksam gemacht hat. Die Geschichte der europäischen Minderheit der Romnija und Roma, der Sintize und Sinti ist eine Geschichte der Verfolgung, Diskriminierung und Stigmatisierung. Während des Dritten Reiches wurden über 500.000 Roma und Sinti ermordet. Die Angehörigen der österreichischen Volksgruppe mussten sich seit sie in Österreich leben – und das geht urkundlich auf das Jahr 1647 zurück242 - nach jeder rassistisch motivierten Verfolgung und Diskriminierung wiederaufrichten. Von den vor dem NS-Regime in Österreich beheimateten über 30.000 Romnija und Roma haben nur 10 Prozent überlebt. Eine Opfergruppe, deren leidvolle Erinnerung in Österreich niemand hören wollte, die Fürsprecher unter den Mächtigen weder in der Politik oder Medien noch in der Religion fand, ist das europäische Beispiel für Resilienz, die sich rein aus dem eigenen Überlebenswillen ergibt. Jenen Volksgruppenangehörigen, die in der Mehrheit aufgehen wollen, wird dies bis heute lediglich aufgrund ihrer Herkunft und ihres Aussehens verwehrt243, was die Gruppe allerdings nicht davon abhält, ihre Kultur weiter zu leben und weiter zu entwickeln. Jedoch sind die Romnija und Roma davon überzeugt, dass sie immer mit Verfolgung werden rechnen müssen. Im filmischen Teil des Dissertationsprojektes meint das NS-Opfer Adolf Papai: „Unterdrückt werden wir überall, egal, auf der ganzen Welt, ein Rom ist unterdrückt. Ich sag das immer. Und die sollen aufpassen. Ich wird es nicht erleben, aber sie sollen aufpassen, wenn sie drauf kommen, hab ich gesagt. Weil jetzt, wenn das kommt, wenn es die Kraft ist, nicht mehr im Lager, so wie uns, da werden sie sie im Haus niederbrennen gleich.“244

6.1.14.5. Umgang im Wandel Der Umgang der Opfer in drei Generationen mit den Folgen der NS-Gewalt kann sich im Laufe des Lebens eines jedes Opfers bzw. Überlebenden verändern. Deshalb kann in keinem Fall von einer versteinerten Identitätskonstruktion die Rede sein. Es ist

240 Stojka, Karl. (2000). Mein Name im Dritten Reich. Z:5742. Wien: Eigenverlag, am Cover 241 Die Verleihung des Professorentitels an Karl Stojka wurde von der Volksgruppe als große Anerkennung empfunden. 242 Vgl. Archiv der Reformierten Pfarrgemeinde Oberwart. In: Kulturverein Österreichischer Roma (2011). Vom Rand in die Mitte. 20 Jahre Kulturverein Österreichischer Roma. Wien: Eigenverlag, Seite 192ff. 243 Vgl. Romano Centro (2017). Antiziganismus in Österreich. Falldokumentation 2015-2017. Sonderheft. Nr. 88 244 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 83 sogar erklärtes Ziel der transgenerationalen Traumatherapie, den zusätzliches Leid verursachenden Umgang der Opfer in drei Generationen mit den Folgen der NS- Gewalt zu lösen. Aus dieser Perspektive ist auch der in Kapitel 7.7.4 besprochene Vergebungsdiskurs zu verstehen. Äußere politische und gesellschaftliche Impulse können verantwortlich sein für einen Wandel des Umganges mit den Folgen der NS- Gewalt und zum Psychotrauma werden.

84

7. Traumatheorien

Nach Gabriele Rosenthal müssen sich sowohl ehemalige NS-Täter und Täterinnen, wie auch NS-Opfer, täglich mit neuen Umständen und Veränderungen konfrontiert, im Rahmen der gesellschaftlichen Erwartungen positionieren: „(…) Entweder gelingt es dem Subjekt die neuen Erfahrungen in den bisherigen Erfahrungsvorrat problemlos einzufügen oder diese neue Erfahrung hat ein Infragestellen des Bisherigen bzw. bestimmter Anteile zur Folge (…).“245 Dass die NS-Opfer gefangen in diesem gesellschaftlichen Rollenspiel große Traumata davongetragen hatten, wurde lange tabuisiert. Es waren die behandelten Psychologen und Ärzte, die begannen, ausgehend vom Leid der Opfer, die seelischen Folgen der NS-Gewalt zu untersuchen.

7.1. Das Trauma Von Gesellschaft und Politik wurde lange negiert, dass die NS-Gewalt bei den Opfern und Überlebenden physische und psychische Wunden hinterlassen hat. Es hat Jahrzehnte gedauert bis diese erkannt, anerkannt und therapiert wurden. Zeitgleich wurde von Kritikerinnen und Kritikern des Opferbegriffes angemerkt, dass es sich bei den durch die NS-Gewaltverbrechen verursachten „Traumen“ nicht um pathologische, sondern um angemessene Reaktionen auf die Gewalt handle. Ein Leben und Überleben am Abgrund, so benennen Opfer ihre Lebenssituation. Die psychischen, sozialen Verletzungen werden wie eine körperliche Wunde empfunden, die nicht verheilen will. Dies gilt in speziellem Maße für die Opfer der Vertreibung, des Holocausts, der Shoah und der Porajmos246. In den folgenden Kapiteln werden die aktuellen Erkenntnisse aus der transgenerationalen Traumaforschung vorgestellt, die für dieses Dissertationsprojekt von Bedeutung sind, wie etwa der Tagungsband mit Beiträgen der 23. Sommerakademie des Instituts für jüdische Geschichte247, welche die transgenerationale Forschung aus „(…) historischen, psychoanalytischen, therapeutischen, psychologischen, künstlerischen sowie literatur- und bildungswissenschaftlichen Perspektiven“248 beleuchtet haben. Was für die künstlerische Auseinandersetzung gilt, gilt auch für die wissenschaftliche Seite der Erforschung des transgenerationalen Traumas. Wenn Wissenschaftlerinnen

245 Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1987). „…Wenn alles in Scherben fällt…“. Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration. Opladen: Leske und Budrich, Seite 27 246 NS-Völkermord an den Romnija und Roma 247 Verein Erinnern: http://www.erinnern.at/bundeslaender/wien/termine/23.-internationale- sommerakademie-drei-generationen-shoa-und-nationalsozialismus-im- familiengedaechtnis/soakfolder_2013_RZ5-1.pdf, 16.6.2018 248 Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Covertext 85 und Wissenschaftler, wie in „Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis“ ihr näheres gesellschaftliches, soziologisches, historisches Umfeld untersuchen, werden zusätzliche Perspektiven der subjektiven Betroffenheit mitgebracht, welche bei angemessener Reflexion eine große Bereicherung für die Arbeit darstellen kann. Die aktuellen Erkenntnisse der Traumaforschung spielen für das Verständnis der Interviews mit NS-Opfern bei den Romnija und Roma, den Jüdinnen und Juden sowie den Kärntner Sloweninnen und Slowenen in drei Generationen eine große Rolle. Zwei führende Traumaforscher, Klaus Mihacek und Klaus Ottomeyer, analysieren die Aussagen der Opfer in drei Generationen mit dem Analyseinstrumentarium der Traumaforschung. Klaus Mihacek, Primar des psychosozialen Dienstes der jüdischen Gemeinde ESRA, veranstaltete zum 20-jährigen Bestehen der Einrichtung im Jahr 2014 mit seinem Team im Schloss Schönbrunn ein internationales Symposium zum Thema Psychotrauma mit hochkarätigen Expertinnen und Experten, wie etwa mit dem französischen Resilienzforscher Boris Cyrulnic, Harvey Weinstein von der Universität Berkeley, Bessel A. van der Kolk von der Boston University, mit der Psychiaterin und Professorin für Klinische Psychologie, Judith Lewis Herman von der Harvard University in den USA, Zahava Solomon von der Tel Aviv University in Israel.249 Der Traumaforscher Klaus Ottomeyer hat neben seinen universitären Aufgaben den Verein Aspis, ein psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt, gegründet. Aspis berät und therapiert traumatisierte Gewaltopfer. Eine zentrale Forschungsarbeit, durchgeführt von Aspis, unter der Leitung von Klaus Ottomeyer, ist die Studie „Vom Leben danach – eine transgenerationelle Studie über die Shoah.“250 Die Anglistin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann betont, dass Zeit im Fall von Trauma kein Heilungsinstrument ist, es bedarf „(...) rückwirkende(r) Handlungen der Anerkennung der Opfer und Übernahme von Verantwortung. Das Veto gegen diese Zeit-Orientierung hat Elias Canetti in einem prägnanten Satz formuliert: 'Vorbei ist nicht vorüber'.“251 Im Rahmen dieses Fokussierens auf neue Arten der Erinnerung sei es entscheidend, dass einzelne Menschen ihre Erinnerungen formulieren und mit der Öffentlichkeit teilen. Für das gemeinsame, gesellschaftliche Gedächtnis müssten jedoch in jedem Fall neue Räume geschaffen werden.252

249 ESRA hat den Tonmitschnitt des Symposiums für dieses Dissertationsprojekt zur Verfügung gestellt. 250 Ottomeyer, Klaus / Zöchmeister, Markus / Aspis (2010). Vom Leben danach – eine transgenerationale Studie über die Shoah. Forschungsbericht. Band II. Klagenfurt 251 Assmann, Aleida (2013). Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: Beck, Seite 210f. 252 Vgl. Assmann, Aleida (2006). Der lange Schatten der Vergangenheit – Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Verlag C. H. Beck; Assmann, Alaida. Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. In: Ehalt, Hubert Christian (Hg.) (2006). Wiener Vorlesungen. Wien: Picus Verlag 86

7.2. Das Gedächtnis und die Erinnerung Der Historiker und Pädagoge Jakob Frühmann fordert eine interventionistische Erinnerung: „(...) Erinnerung ist hier keine bloße ritualisierte Pietät, sondern muss in Empörung, Solidarität und kritischer Praxis münden. Ähnlich wie wir in der Migrationsgesellschaft nicht primär mit dem Anderen, sondern mit uns selbst konfrontiert werden, nehmen wir uns in der Erinnerung als Subjekt der Geschichte wahr und fühlen uns mit unserem Innersten konfrontiert: Er-Innerung.“253 Frühmann geht in seiner Arbeit zur Ermordung der aus seinem Heimadorf Jabig im Südburgenland vertriebenen und in zum großen Teil in Auschwitz ermordeten Romnija und Roma im ORF-Interview noch einen Schritt weiter: „Nichterinnern ist sozusagen eine Fortführung der Gewalt, das ist eine Kontinuität und ich glaube mit einer Nichterinnerungskultur wie sie mit Roma und Romnija und auch vielen Widerstandskämpfer und -kämpferinnen gepflegt wird, verlängert man in gewisser Weise diese Gewalt.“254 Frühmann ortet eine Form von leiser Komplizenschaft mit den Tätern, gegen die auch der Wissenschaftler Peter Gstettner, der 1993 das Mauthausen Komitee Kärnten / Koroška gründet hat, auftritt. Erst die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bewirke die Schaffung des Gedächtnisses255, die eine Investition in die Zukunft sei: „Wir verstehen uns dabei weder als Moralapostel noch als Richter über eine Vergangenheit, die wir selbst nicht erlebt, sondern nur schuldlos geerbt haben. Wir wollen aber auch kein unreflektierten Zuarbeiter für diejenigen sein, die die Geschichte still und rasch entsorgen wollen, in dem sie auf das gesellschaftlich geprägte Kurzzeitgedächtnis und auf die Macht der Verdrängung und des Vergessens setzen.“256 Peter Gestettner hat bislang unentdeckte Spuren des NS-Regimes gefunden. Er entdeckte am Loibl- Nordportal ein Konzentrationslager und widmete all sein Engagement der Öffentlichmachung des verborgenen KZs. Der Wissenschaftler hat sich mit den Überlebenden in Verbindung gesetzt und es ist ihm gelungen, die verantwortlichen Politiker dafür zu gewinnen, den Opfern Denkmäler zu setzen. Das brachte dem Kärntner Wissenschaftler auch die Anerkennung des polnischen Staates ein.

7.2.1. Transgenerationale Erinnerung Der Begriff der Generation als Maßstab von gesellschaftlicher Veränderung und die Erinnerung daran stammt von Karl Mannheim, einem Philosophen und Soziologen jüdischer Herkunft mit österreichisch-ungarischen Wurzeln: „Seit Karl Mannheims

253 Frühmann, Jakob (Hg.) (2018). Verschleppt, verdrängt, vergessen. Zur Erinnerung an die Romnija und Roma aus Jabing. Oberwart: Lex Liszt Edition 12. Seite 88f. 254 ORF-Heimat Fremde Heimat: Roma und Europa, 29.4.2018 255 Vgl. Assmann, Aleida (2006). Der lange Schatten der Vergangenheit – Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Verlag C. H. Beck 256 Vgl. Gstettner, Peter (2012). Erinnern an das Vergessen. Gedenkstättenpädagogik und Bildungspolitik. Klagenfurt: KITAB, Seite 8 87

Aufsatz ‚Das Problem der Generationen (1928)‘ galt die Kategorie ‚Generation‘ als eine ‚aussagekräftige Kategorie zur Systematisierung und Deutung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse‘.“257 Erinnerung ist kein Phänomen, das von Singularität geprägt ist. Menschen erinnern sich nicht alleine, Erinnerungen entstehen durch das Zusammenspiel von menschlichen Geschichten und der mündliche und schriftliche Austausch von ihnen. In Form des Gesagten, Erwiderten, Mitgefühlten entstehen die gemeinsamen Erinnerungen von vielen, seien dies nun Familien oder Gesellschaften. So beruft sich Nicole Immler vom Geschichts- und Kulturwissenschaftsinstitut, der Abteilung für Globalisierungs- und Dialogforschung in Utrecht, auf Maurice Halbwachs, der in den 1920 Jahren das Familiengedächtnis untersucht hat. Nach Halbwachs wird Erinnerung im Austausch mit anderen geschaffen und ihr imaginativer Charakter sei auch nur in diesem Rahmen zu verstehen: „(…) Der Gedächtnisrahmen der Familie besteht mehr aus Vorstellungen denn aus Gesichtern und Bildern; Vorstellungen von Personen und Vorstellungen von Tatsachen.“258 Die Theorie des französischen Philosophen und Soziologen, Maurice Halbwachs, über das kollektive Gedächtnis, wurde dreißig Jahre später weiterentwickelt, das Erinnern über mehrere Generationen hinweg wird seitdem auch untersucht. Immler bezieht sich auf die Pioniere der transgenerationalen Forschung, Gabriele Rosenthal259, und den israelischen Psychotherapeuten und Holocaustforscher, Dan Bar-On260, der sich mit den Bedingungen für Frieden wissenschaftlich auseinandergesetzt hat. Bar-On zeigt, dass sich seit den 90ern der transgenerationale Zugang in der Forschung durchgesetzt hat. Die Familie ist in den Mittelpunkt von Psychologie und Literatur gerückt: „Dieses verstärkte Interesse am Familiengedächtnis wurzelt in innerfamiliären Prozessen (der Generationenablösung und dem Sterben der letzten Zeitzeugen), gemeinschaftlichen Erinnerungsritualen (Gedenkfeiern) und technologischen Impulsen (Datenbanken, Internet, soziale Netzwerke), die das Phänomen Erinnerung in den letzten Jahren multiplizierte.“261

257 Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 106 258 Maurice Halbwachs, zit in. Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 104 259 Vgl. Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoa und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag 260 Vgl. Bar-On, Dan (1997), Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden zu den Enkeln – Drei Generationen des Holocausts. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 261 Nicole. L. Immler. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 105 88

Während die Soziologie nach Mannheim untersucht, was eine Generation an gemeinsamen Erlebnissen und Ausdrucksformen aufweisen kann und das Alter der Gruppe als Grenzziehung verstanden wird, legt die Psychologie den Fokus auf die innerfamiliäre Tradierung und spricht: „(…) vom „Ineinanderrücken von Generationen“ (telescoping) und der Wiederkehr des Verdrängten (…)“262 und wird in den Arbeiten von Ulrike Jureit, Michael Wildt, Maria V. Bergmann, Martin S. Bergmann sichtbar. Eine Strategie, um die Opfer nicht mit ihren Erinnerungen alleine zu lassen, legt der Historiker Philipp Mettauer vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs an den Tag. Werden Erinnerungen im Familienverband geteilt, wird mit den Familienmitgliedern, die keine Opfer erster Generation sind, „(…) die Grundlage für den Akt des „re-membering“ (geschaffen), der Einzelne an das Kollektiv bindet und sie auf diese Weise erst zu Gruppenmitgliedern macht.“263 Was wird erinnert? Was wird vergessen? Kann das Trauma vom Einzelnen und der Einzelnen benannt werden? Assmann erklärt, dass das Gedächtnis „subjektiv, selektiv und fragmentarisch“264 ist und, dass Erinnerung lückenhaft sei, die das Weglassen, Verdrängen und Vergessen, aber auch das oft unbewusste Hinzufügen behinhaltet.

7.2.2. Die Postmemory Der Begriff der „Postmemory“ wurde von der in Rumänien geborene Marianne Hirsch geprägt, Lehrende für Genderwissenschaften, Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University. Hirsch nähert sich dem „Nach- erinnern“ aus der persönlichen Perspektive von Opfern in zweiter Generation, die die traumatischen Erfahrungen rein aus Erzählungen, Texten, Bildern, Verhaltensweisen und vermittelter Stimmung der Eltern-Opfer erster Generation kennen. Hirsch spricht im Gegensatz zu eigenen von „fremden Erinnerungen“, die sich aus Fantasien speisen und die Gefahr in sich tragen, dass die Nachfahren von Opfern ihr eigenes Leben nicht in Angriff nehmen265: „Postmemory is not an identity position but a generational structure of trans-mission deeply embedded in such forms of mediation.“266 Es sei

262 Nicole. L. Immler. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 106 263 Mettauer, Phillip. Generationen und Familiengedächtnis. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 11 264 Assmann, Aleida. Wie wahr ist Erinnerung? In: Harald Welzer (Hg.) (2001). Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition, Seite 103ff. 265 Postmemory: https://www.postmemory.net/, 16.6.2018 266 Marianne Hirsch, zit. in: Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 120f. 89 ein Prozess von Identifikation, Imagination und Projektion“267 zitiert Nicole Immler Marianne Hirsch zur Schaffung von Erinnerungen in der zweiten Opfergeneration. Es sind diese „fremden Erinnerungen“ zum Beispiel aufgrund des Familiengeheimnisses, die sich aus dem Fantasiefundus ergeben, die massive psychische Auswirkungen auf die zweite Generation haben können: „Die Kinder entwickeln ein ängstliches und schamerfülltes Verhalten gegenüber dem ‚Familiengeheimnis‘ und haben oft entsetzliche Phantasien darüber, was ihren Eltern angetan wurde und auf welche Weise sie überlebten“268, zitiert Gabriele Rosenthal Shamai Davison zu den Auswirkungen von vererbtem Trauma.

7.2.3. Connective Memories Andrew Hoskin von der Glasgow Universität erforschte im Rahmen eines Forschungsstipendiums „Gedächtnistechnologien zur Kommunikationswende“ und ruft das Ende einer Ära von Gedächtnisforschung aus, denn: “(…) even and especially if the new metaphors of technology and media are struggling to grasp the speed and the scale of the mediatization of memory, it is much too late to put memory back into its box.”269 Hoskins zeigt, wenn es auch einen Bruch mit allen Traditionen gibt, können Gedächtnis und Gedenken nicht mehr in eine Schachtel gesperrt werden. Erinnerung in den Kommunikationsnetzen habe ihr Eigenleben entwickelt. Es gälte nun diese für alle zugängliche Fülle, der digitalisierten Erinnerungen, neu zu sortieren und zu bewerten. Hoskin entwickelte den Terminus der „Connective Memories“, die an einem geschichtlichen Wendepunkt, an dem die Zeitzeugen des NS- Gewaltregimes nach und nach verstummen von großer Bedeutung ist. Marianne Windsperger Germanistin an der Universität Wien untersucht in einem Beitrag, die „Generationen 3.0: Narrative der dritten Generation“. Die Gesetzmäßigkeiten des virtuellen immer zugänglichen Gedächtnisspeichers haben zur Folge: „ (...) dass große Narrative des Kollektiven durch individuelle Erzählungen des Zugriffs und der Suche abgelöst werden.“270 Die „Connective Memories“ spielen für dieses Dissertationsprojekt eine Rolle, da der zweite, der filmische Teil „Schatten der Scham“ als ein Beispiel von Connectiv Memories bewertet werden kann.

267 Ebda. 268 Davison, Shamai. The clinical effects of massiv psychic trauma in families of Holocaust survivors, zit. In: Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag, Seite 23 269 Hoskins, Andrew (2011). Media, Memory, Metaphor: Remembering and the Connectiv Turn. Parallax 17/4 (2011), 19-31, http://dx.doi.org/10.1080/13534645.2011.605573, 16.6.2018 270 Windsperger, Marianne. Generationen 3.0: Narrative der dritten Generation. Eine Bestandsaufnahme. In: Keil, Martha/ Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2016, Seite 95 90

7.2.4. Verstehen und Zuhören: Szenisches Verstehen als Ausweg aus der Sprachzertrümmerung Mit Gewalt, Deportation, Vertreibung, ethnischer Säuberung, dem Todesmarsch, den Konzentrationslagern, mit dem Entzug all, dessen was der Mensch zum Überleben braucht, geht die Zerstörung des Grundvertrauens in die Menschheit einher, jedes Gefühl der Sicherheit und Freiheit wird vernichtet. Mit dieser massiven Gefährdung der körperlichen und psychischen Gesundheit geht auch eine Form der Sprachzertrümmerung einher. Ohne Sprache, ohne Sprechen gibt es auch keine subjektive, und schon gar keine öffentliche Erinnerung. Der Psychoanalytiker Kurt Grünberg am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main postuliert in diesem Zusammenhang ein Verstehen, das über das gewöhnliche Zuhören hinausgeht. Dieses Verstehen sieht er als einen der therapeutischen Eckpfeiler im Umgang mit traumatischen Erinnerungen. Grünberg beruft sich auf den deutschen Psychoanalytiker und Soziologen, Alfred Lorenzer, der sich als einer der ersten öffentlich mit dem Trauma von Holocaustopfern beschäftigt hat. Hier seine Erklärung der Theorie zum „szenischen Vestehen“, die er in seiner Arbeit „Sprachzerstörung und Rekonstruktion“ entwickelt hat:271 Lorenzer setzt das szenische Verstehen mit dem logischen und psychologischen in Verbindung. Das szenische Verstehen befasse sich: “(...) mit den Vorstellungen des Subjekts, und zwar so, dass es die Vorstellung als Realisierung von Beziehungen, als Inszenierung der Interaktionsmuster ansieht‘.“272 Die Kunst bestehe darin, so Lorenzer in seiner Arbeit: „(…) jedes Material nach Vorbild der Traumdeutung zu verstehen“.273 Grünberg wendet die Erkenntnisse um das szenische Verstehen im Umgang in der Psychoanalyse der Tochter einer Holocaustüberlebenden an und begibt sich mit seiner Patientin nicht nur symbolisch auf einen „Todesmarsch“. In diesem Prozess ist das szenische Verstehen eine Grundvoraussetzung so Grünberg: „Das Szenische hat in der psychoanalytischen Praxis wie in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine grundlegende Bedeutung und beinhaltet neben dem Sprachlichen alles über das Verbale Hinausgehende, also den Ton, den Tonfall, der wie ein Musikstück einer Interpretation bedarf, die Gestik, die Mimik, den Blick mit seinem Gefühlsausdruck in den Augen, die Dimension des Handelns, die inszenierte Abwehr und die unbewusste Bedeutung dieser Vorgänge. Auch die Reihenfolge der Geschehnisse und Einfälle ist

271 Lorenzer, Alfred (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt/Main: Suhrkamp, Seite 142 272 Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung – Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 233 273 Lorenzer, Alfred (2002). Die Sprache, der Sinn, das Unterbewusste. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, Seite 110 91 relevant (…).“274 Grünberg durchquert bei dieser Analyse mit seiner Patientin den Leidensweg der ersten Generation, bis diese abmagert, bis sie einem KZ-Häftling gleicht. Aus der Postmemory wird wirkliches Nacherleben. Grünberg zitiert in diesem Zusammenhang den jüdischen Psychoanalytiker, Schriftsteller und Pädagogen Hans Keilson, der jüdische, jugendliche KZ-Überlebende therapiert und unterstützt hat und mittels szenischem Erinnern in der Therapie dorthin gelangen wollte, ‚Wohin die Sprache nicht reicht‘: “Mit diesem Konzept wird das Paradoxon anerkannt, dass Verfolgungserfahrungen szenisch in Erscheinung treten, die weder kohärent gespeichert und erinnert noch sprachlich symbolisiert und integriert werden konnten. Mit dem Ansatz des szenischen Erinnerns der Shoah soll ein kohärenter Zusammenhang zwischen den traumatischen Erfahrungen, deren Spätfolgen und der Tradierung an nachfolgende Generationen erkennbar werden (…).“ 275 Auch Gabriele Rosenthal setzt das „Szenische Erinnern“ bei den Interviews für mit den Studienteilnehmern und Teilnehmerinnen für ihre wissenschaftlichen Untersuchungen ein, da es ermöglichte Verdrängtes, Außersprachliches an den Tag zu fördern.276

7.3. Die Generation Die Neuzeithistorikerin Ulrike Jureit definiert die Voraussetzung für den Generationenbegriff: „(…) ein gemeinsamer kultureller Kontext, chronologische Gleichzeitigkeit sowie die Wahrnehmung des Geschehens aus einer vergleichbaren Lebenssituation heraus (…)“.277 Nicole Immler thematisiert in diesem Zusammenhang die Rolle der Familie als hinterfragter Baustein des Generationenbegriffes: „Sehen die einen die Familie als Schlüsselelement bei der Weitergabe von Wissen und Werten, Praktiken und Vorstellungen, hinterfragen andere, ob Familie überhaupt ein privilegierter Ort der Erinnerungsübertragung ist, und betrachten die

274 Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung – Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 233 275 Vgl. Keilson, Hans (1996). Wohin die Sprache nicht reicht. Vorträge und Essays aus den Jahren 1936-1996. Gießen: Klett Cotta / Psychosozial-Verlag; Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung - Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 238 276 Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag, Seite 13 277Ulrike Jureit, zit. in: Mattauer, Philipp. Generationen und Familiengedächtnis. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 10 92

Generationenzugehörigkeit als nur eine von vielen Wir-Zugehörigkeiten.“278 In jedem Fall spielt der Begriff der Generation für die Weitergabe von Trauma eine entscheidende Rolle.

7.4. Transgenerationale Traumaweitergabe Nach der Befreiung vom NS-Regime wurde in Psychologie-Fachkreisen bezweifelt, ob eine psychische Erkrankung überhaupt eine Folge von NS-Gewalttaten sein konnte. Der Psychiater und Psychoanalytiker William Niederland, Sohn eines Rabbiners, der aus Deutschland, nach Italien, dann nach England und in die USA vor den Nazis flüchtete, erkannte schnell, dass es sich bei diesem Diskurs um den Versuch handelte, den NS-Opfer keine Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Niederland prägte die Begriffe des „survivor syndrome“ und der Überlebensschuld „survivor guilt“279, die das „Schuldgefühl“ selbst entkommen zu sein, während andere sterben mussten, beschreibt. Diese Überlebensschuld könne sich in Schlaflosigkeit, Angst, innerer Unruhe, Depression und ihren physischen Auswirkungen bis zu Wahnvorstellungen manifestieren. Die psychischen Manifestationen des Syndroms sind, neben den klinischen, so Niederland, dass die Opfer das Gefühl haben, in ständiger Bedrohung zu leben, sie Angst vor drohende Katastrophen haben, die sie nicht näher benennen können. Sie sind ständig von Todesangst begleitet und können kein Vertrauen in ihre Mitmenschen fassen. Die Opfer haben das Gefühl keinen rechtlichen Schutz zu erfahren und ohne Rechte zu sein. Sie reagieren sensibel darauf, wenn sie in ihrer Wahrnehmung als Opfer, beschimpft, verdächtigt, verleumdet und beschuldigt werden, da sie dem Staat nicht vertrauen.280 Dorit Bader Whiteman geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, wie jene, die etwa mit den Kindertransporten nach England flüchten konnten, ihre Entkommen empfanden. Sie stellt die Frage: „Was geschah mit jenen, denen überhaupt nichts geschah?“281 Die Wiener Jüdin Thea Scholl verließ als Jugendliche auf Wunsch ihrer Eltern Wien Richtung England. Sie erinnert sich im Interview für den schriftlichen Teil des Dissertationsprojektes: „Erst wie ich zurückgekommen bin, habe ich erfahren, was mit meinen Eltern geschehen ist. Und die eine Kollegin hat meine Mutter irgendwo noch, bevor sie wegtransportiert wurde, getroffen. Und meine Mutter hat ihr stolz

278 Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seiten 104f. 279 Vgl. Niederland, G. William (1980). Folgen der Verfolgung. Das Überlebende-Syndrom. Seelenmord. Frankfurt/Main: Suhrkamp 280 Vgl. Niederland, William (1980). Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom, Seelenmord. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, Seite 10ff. 281 Bader-Whiteman, Dorit (1995). Die Entwurzelten. Jüdische Lebensgeschichten nach der Flucht 1933 bis heute. Wien-Köln-Weimar: Böhlau 93 erzählt, dass ich einen Arzt geheiratet habe und dass ich einen Buben zur Welt gebracht habe, voll Freude. Da war sie noch am Leben. Und das war kurz bevor sie deportiert wurden. Und 1942 wurden sie (von Wien) nach Minsk deportiert und dort ist ja niemals zurückgekommen.“282 Auf die Frage, ob sie versucht hätte in Erfahrung zu bringen, was mit ihren Eltern geschehen sei, antwortete Thea Scholl: „Nun, was konnte man da noch nachforschen? Es sind alle umgebracht worden. Was sollte man da noch nachfragen? Da gab es nichts mehr nachzuforschen. Da sind die Leute hingekommen und wurden sofort erschossen. Ich glaube sogar mit Genickschuss. Es ist grauenhaft und es verfolgt einen im Traum und in vielen Nächten habe ich immer geträumt, dass meine Eltern da sind. Dass ich mit meiner Mutter, mit meinem Vater spreche. Das sind eben die Nachwehen oder die Folgen dieses Traumas, wenn Sie das so nennen wollen. Aber ich hab manchmal das Gefühl, ich habe nicht genug getan, um meinen Eltern zu helfen. Das liegt mir schon sehr schwer auf der Seele.“283 Thea Scholls Beispiel zeigt, dass sich diese Überlebensschuld auf die nächste Generation übertragen hat, obwohl geboren im Zeitrahmen der First Generation, „geschah ihr vordergründig nichts“. Scholl wird jedoch von der Überlebensschuld bis in ihre Träume verfolgt. Ob die Weitergabe der Folgen der NS-Gewalt in Form eines Psychotraumas von Generation zu Generation prozesshaft, interaktiv oder linear verläuft, diese Auseinandersetzung ist ein wichtiges Thema im derzeitigen wissenschaftlichen Diskurs. Während einige Wissenschaftler von der einseitigen Weitergabe des Psychotraumas ausgehen, die: „(…) Nachkommen wenig Spielraum für ein eigenes Erleben und Fühlen zu lassen, sie folglich mit Konflikten (zu) belasten, die primär nicht ihre eigenen sind“284, erklärt Bettina Völter vom Institut für angewandte Forschung in Berlin die Gegenposition, die von einem interaktionistischen Ansatz ausgehen: „Neuere Forschungen in der Sozialpsychologie gehen von einem Traditionsangebot aus und zeigen, wie familiäre Traditionen im Familiengespräch ‚verfertigt‘ werden, wie ein Familiengedächtnis aus dem Bedürfnis der Gegenwart für den Nutzen der Zukunft konstruiert wird (…).“285 Claudia Lenz sieht die Folgen dieser Positionierungen für die Identitätskonstruktion. Es gelte: „(…) die diachrone und synchrone – (Anm.: Verortung) stärker aufeinander zu beziehen; die genealogische, welche Familiengedächtnis und die Übertragung zwischen den Generationen adressiert, und die selbstreferentielle, die Selbstkonstitution einer Generationen-

282 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 283 Ebda. 284 Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 107 285 Bettina Völter, zit. in: Immler, Nicole L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 107 94

Identität durch eine Erfahrungsgemeinschaft im Sinne Mannheims. Während die eine durch Kontinuität und Tradition definiert ist, kennzeichnet die andere der Bruch und die Abgrenzung.286

7.4.1. Traumaweitergabe über drei Generationen 7.4.1.1. First Generation: Die erste Opfergeneration – Die Überlebenden Viele Opfer des Nationalsozialismus reagierten aufs Trauma mit Schweigen, da sie befürchteten, dass schon die Erzählung Nähe zum Tod brächte und „ansteckend“ wäre. Das Schweigen sollte die Kinder beschützen.287 Elisabeth Scheiderbauer erinnert sich im filmischen Teil des Dissertationsprojektes an das Schweigen ihres Vaters: „Mein Vater hat über Auschwitz nicht geredet. Er hat nur einmal gesagt, er war so verzweifelt, dass er die Absicht hatte in den elektrischen Zaun hineinzulaufen und sich selbst zu töten. Und dann war wieder der Gedanke, vielleicht leben wir doch. Und das hat ihn dann vor Selbstmord abgehalten. Die Güte, die er in sich hatte, konnte Auschwitz auch nicht ruinieren, er war ein guter Mensch. Alles was er gesehen hat, hat ihn nicht schlechter gemacht. In seinem Charakter ist der das geblieben. Die Schwäche, die er hatte mit den Drogen, war wahrscheinlich das, dass seine Seele es nicht überwinden konnte. Aber seinen Charakter hat er durch Auschwitz nicht verändert.“288 Mit den Jahren kamen die Erinnerungen an die Oberfläche und deren ungeheure Tragik wurde sichtbar, die erkennen lässt, dass ein einfaches Opfer-Täter- Schema nicht greift. Liese Scheiderbauer über den Kern des Traumas ihres Vaters: „Sein bester Freund, den er in dem Lager in Italien kennengelernt hat, der kam zu ihm in die Krankenabteilung und er wusste, dass er am nächsten Tag ins Gas gehen muss und das hat er ihm erspart, indem er ihm eine Luftinjektion gegeben hat. Er hat faktisch seinen besten Freund getötet. Was gegen den hippokratischen Eid natürlich schon sehr dagegen spricht, dass das ein Arzt macht. Aber er hat es aus Mitleid getan. Das hat ihn schwer getroffen.“289 Die Zertrümmerung der Sprache und Seele der Überlebenden ergab sich das Unvermögen über das, was ihnen geschehen war, zu sprechen. Über das Schweigen wurde jedoch ein atmosphärisches Wissen, eine geheime Ahnung, ein unheimliches Wissen an die zweite Generation übertragen, hat Gabriele Rosenthal untersucht. Sie betrachtet in ihren Untersuchungen, sowohl die Opfer- als auch die Täter- Perspektive: „Wenn Großeltern und Eltern als Überlebende der Shoah nicht von ihren

286 Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 107 287 Spiegel, Miriam Victory (2012). Black boxes and Doublebinds. Geheimhaltung und Weitergabe von Erinnerung in Holocaust-Familien. In: Im Fokus 37/3, 178ff. 288 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 289 Ebda. 95

Erlebnissen sprechen, so ist ihr Schweigen mit ganz anderen Problemen und Motiven verbunden als das Schweigen der Großeltern und Eltern, die aktiv an den Naziverbrechen teilgenommen haben. Eine Großmutter beispielsweise, die das Ghetto und das Vernichtungslager überlebt hat, leugnet im Unterschied zu den Tätern und auch den Mitläufern ihre Vergangenheit als Verfolgte nicht. Wenn sie darüber nicht spricht, dann u.a. deshalb, weil sie ihre Kinder und Enkel vor all den Tag- und Nachtträumen, von denen sie selbst verfolgt wird, schützen will. Überlebende wollen mit ihrem Schweigen den Kindern Belastungen ersparen und sich anderen mit ihren schmerzhaften Erlebnissen nicht zumuten. Ein Großvater und eine Großmutter oder Eltern, die an Naziverbrechen beteiligt waren, schützen dagegen mit ihrem Schweigen und darüber hinaus mit ihrem Leugnen in erster Linie sich selbst vor Anklage und Verlust von Zuneigung.“290 Die Zeithistorikerin Margit Reiter zitiert den israelischen Wissenschaftler Dan Bar-On zur Weitergabe von Erinnerungen an erlittene NS-Verbrechen von den Eltern an die Kinder und Enkelkinder: „Ich stimme der Feststellung des israelischen Sozialpsychologen Dan Bar-On zu, der darauf hinwies, dass ‚unerzählte Geschichten oft mit größerer Macht von Generation zu Generation weitergegeben (werden) als Geschichten, die erzählbar sind‘.“291 Im filmischen Teil des Dissertationsprojektes spricht ESRA-Primar Klaus Mihacek von einem „Pakt des Schweigens“: „Generell muss man sagen, dass es einen gegenseitigen Pakt des Schweigens zwischen der Elterngeneration und der nachfolgenden Generation gibt. Einerseits versuchen die Eltern, die Kinder zu schonen, indem sie ihre Erlebnisse und ihr Leiden verschweigen, anderseits traut sich die zweite Generation nicht zu fragen, was die Eltern erlitten haben, weil sie natürlich Angst haben, sie damit verletzten zu können und Dinge hervorbringen können, die für die Eltern schwer verkraftbar sind.“292 Klaus Ottomeyer sieht darin eine unbewusste Reaktion auf das Leid: „Es ist sehr schwer, in angemessener Form über das Trauma zu erzählen, weil die Traumaerfahrung zum großen Teil sprachlos ist, in den Körper eingeschrieben, als Schreckreaktion, als Erstarrung und das findet nicht ohne weiteres Zugang zur gesprochenen Erzählung.“293 Die Überlebenden fanden im neuen Lebensabschnitt keinen Platz für ihre Erinnerung. Er spät kamen die Worte zurück und Katja Sturm-Schnabl, die als Kind mit ihrer Familie deportiert wurde, erzählt, wie sie das Wiedersehen mit ihrer Mutter

290 Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag, Seite 19 291 Dan Bar-On, zit. in: Reiter, Margit. Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 177 292 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 293 Ebda. 96 empfunden hat, nachdem der Lagerarzt ihre Schwester Verica am Arm der Mutter mit einer Spritze ermordete: „Einige Zeit später ist dann aber meine Mutter gekommen. Und ich habe sie so von der Ferne gesehen und habe gesehen, ja, das ist meine Mutter, aber sie war für mich total verändert und irgendwann einmal habe ich so den Eindruck gehabt, dass sie sich so wie durch Eis oder durch Glas bewegt. Dass sich das Eis an ihrer Silhouette herunterzersplittert, sowie sie das Eis durchbricht, splittern diese Eiszapfen an ihrer Silhouette herunter, bis sie dann zu uns gekommen ist. Und sie war irgendwie so anders und wahrscheinlich so von Schmerz erfüllt. Also ich konnte auch nicht weinen, das war so etwas Schreckliches, es war so schrecklich, weil sich diese Frau so verändert hat, weil sie etwas erlebt hat, was für jede Mutter das Schrecklichste ist, wenn ihr das Kind im Arm stirbt. Aber wenn es noch ermordet wird, dann ist es noch schrecklicher.“294 Was durch die Nazi--Gewalt zwischen Mutter und Kind im NS-Lager zerbrochen ist, konnte auch nach dem Krieg nicht gekittet werden. Manches wurde benannt, über anderes aus der Vertreibung wurde in der Familie nicht gesprochen. Katja Sturm-Schnabl: „Sie ist zwar immer eine gute, also eine funktionierende Mutter geblieben, sie hat uns auch immer versorgt, auch später als wir zu Hause waren, aber sie war irgendwie, wie abgerückt und fern. Wir hatten keinen wirklichen seelischen Kontakt zu ihr, wie früher. Also sie war da und nicht da. (…) Es war so ein Familientrauma, ist es auch immer geblieben, aber auch später zu Hause, also wir haben nicht so viel vom Lager gesprochen, aber der Tod von der Verica war jeden Tag am Tapet.“295 Die Überlebenden wollten in ihrem Leben nach dem Lager alles tun, was ihnen die Nationalsozialisten verwehrt hatten, indem sie sie einsperrten und versuchten, sie zu ermorden. Sie wollten zeigen, dass sie nicht wertlos waren und alles erreichen konnten, der Forschungsbericht „Vom Leben danach“296, spricht in diesem Zusammenhang von „Eine Antwort geben.“ Elisabeth Scheiderbauer erinnert sich dazu im filmischen Teil des Dissertationsprojektes: „Ich habe das schon im Hinterkopf, dass ich beweisen muss, dass ich nicht ein Abschaum bin oder dass man ein Recht gehabt hätte, mich umzubringen. Und wir haben uns immer bemüht, dem dagegen zuarbeiten. Meine Schwester als hervorragende Ärztin, die nie einen Unterschied gemacht hat, ob es ein SS-Mann war oder ein Jude. Ich habe mich immer bemüht, besonders ‚polite‘ zu sein, dass man nur nicht auf die Idee käme zu sagen: ‚Ach, das ist a miese Jüdin‘.“297

294 Ebda. 295 Ebda. 296 Ottomeyer, Klaus / Zöchmeister, Markus / Aspis (2010). Vom Leben danach – eine transgenerationale Studie über die Shoah. Forschungsbericht. Band II. Klagenfurt, Seite 273 297 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 97

7.4.1.2. Second Generation: Die zweite Generation - Ersatz für die Ermordeten Der Jazzmusiker und Wiener Lovara, Harri Stojka, erzählt, wie sich das Trauma des Vaters, der schon vor der Gaskammer in der Reihe stehend auf den Tod in Auschwitz wartete, sich in seinem Alltag als Kind niederschlug: „Wenn ich in der Schule, da wird man ja gemessen, das hat er nicht ausgehalten, weil im Lager sind sie ja alle abgemessen worden. Das war für ihn ein Symbol der Vernichtung. Also ich wollte immer wissen, wie groß ich bin und wir haben so ein Messband gehabt, zu Hause: ‚Gib das sofort weg!‘.“298 Derart ist Mongo Stojka seinen Sohn angefahren. Der Überlebende wollte nicht, dass sein Sohn mit dem Holocaust in irgendeiner Form in Berührung kam: „Weil er hat ja die Nummer von Auschwitz-Birkenau eintätowiert am linken Unterarm, und ich hab ihn einmal gefragt, was das für eine Nummer ist, da war ich acht, neun Jahre alt, da hat er mich total zusammen geschrien, zusammen geschimpft, und ich hab nicht verstanden warum, natürlicherweise ich hab ihn dann auch nie mehr gefragt. Und dann, wie ich dreißig Jahre worden bin, da hat er angefangen zu erzählen.“299 Der Traumaforscher und Psychiater Klaus Mihacek analysiert im filmischen Teil der Dissertationsprojektes: „In diesen Familien ist eine Atmosphäre, in der die Shoah da ist, die ist von Beginn an da und wird weitergegeben in Form von Sprache, Mimiken, Gesten oder auch durch psychische Zustände der Eltern.“300 Harri Stojka versteht heute seinen Vater und setzt sich auch aktiv für ein „never again“ ein: „Also jetzt so im Rückblick, würd ich sagen, mein Vater hat es verdrängt. Er hat es nicht verarbeiten können, weil, das hat sich dadurch gezeigt, dass er, als er älter geworden ist, ein sogenanntes Holocaust-Syndrom bekommen hat. Das heißt, er hat Panikattacken bekommen, er hat müssen in Behandlung gehen, er hat müssen in Therapie gehen. Er hat das nicht verarbeiten können.“301 Auch beim Opfer in zweiter Generation zeigte das Trauma konkrete Folgen: „Also bei mir hat es sich so bemerkbar gemacht, dass ich Panikattacken auch bekommen habe und eine Zeit lang wirklich in therapeutischer Behandlung war und ich habe Medikamente nehmen müssen. Das hat viel damit zu tun gehabt, dass ich manchmal so Flash302es gehabt hab, wenn mir das passiert wäre, was meiner Familie passiert ist, wenn ich plötzlich steh in einem Vernichtungslager, wie es mir gegangen wäre, wie ich das überlebt hätte, wie das gehandelt hätte.“303 Der Therapeut Kurt Grünberg begibt sich mit einem Opfer der Second Generation auf einen physischen und psychischen Todesmarsch, eine Grabwanderung, wie es im Titel seiner Arbeit heißt, die die Patientin bis kurz vor ihre Selbstaufgabe bringt, bevor

298 Ebda. 299 Ebda. 300 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 301 Ebda. 302 „Flash-back“: Stojka bedient sich des Wortes des Wiedererlebens. Es handelt sich dabei um ein Wiedererleben dessen, was der Vater erlebt hat. 303 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 98 sie dann wieder Lebensmut schöpft. Die Patientin identifiziert sich mit dem Leid der Eltern und in der Therapie steigt sie mit dem Therapeuten durch eine Art Zeittunnel, über Transposition304 in die Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern, die Opfer des Holocausts waren, „um nachzuerleben welch Leid die Eltern durchlitten haben. Yolanda Gampel zufolge agieren ‚alle Kinder (von Überlebenden) ein Drehbuch (…), dass sie selbst nicht kennen, ein Drehbuch, das nicht ihr eigenes, sondern in Wahrheit Teil der Geschichte ihrer Familien und insbesondere jener Angehörigen ist, die den Holocaust überlebt haben.‘‘305 In ein er Therapiesitzung erzählt die Patientin: „Das Leben war wie ein endloses „Shive- Sitzen“ für die Toten, ein wortloses Trauern. Unübersehbar litten die Eltern eine Überlebenden-Schuld und Verlustpanik, die alle Lebendigkeit erstickte. Die Familie blieb zusammen, keiner sollte fehlen, es sollte aber auch niemand Fremdes hinzukommen. Man lebte, doch das Leben schien wertlos zu sein. Im Grunde hatte man kein Recht zu leben. An den Wohnzimmerwänden hingen Fotos der ermordeten Familienangehörigen. (…) Immer wurde die Gegenwart mit Auschwitz verglichen: „Dagegen war alles nichts“ (…) „Wus lachst Di?“ (Wie kann man nur lachen?). Jede Fröhlichkeit wurde erstickt. (..)“306 Grünberg zitiert Yossi Hadar, der genauer beschreibt, wie die Opfer zweiter Generation über eine Art Zeittunnel, nach Kestenberg 307 ins Leben ihrer Eltern gelangen: „(…) Die ‚‚chronologische Zeit‘‘ der Zweiten Generation beginne zwar erst nach der Shoah, doch gefühlsmäßig liege der Geburtszeitpunkt im Konzentrationslager. Die Zweite Generation sei gewissermaßen ‚in den Holocaust hineingeboren worden (…).“308 Dieser Generation fehle die Zeit vor dem Holocaust, an welche sich die Opfer erster Generation sehr wohl erinnern und aus der sie Kraft schöpfen. Die sich schuldig fühlenden Überlebenden gaben ihren Kindern oft die Namen der Verstorbenen, die dann als sogenannte „Erinnerungskerzen“ fungierten. Durch das Defizit an Aufmerksamkeit kommt es bei der zweiten Generation oft zu

304 Ottomeyer, Klaus / Zöchmeister, Markus / Aspis (2010). Vom Leben danach – eine transgenerationale Studie über die Shoah. Forschungsbericht. Band II. Klagenfurt, Seite 293 ff. 305 Yolanda Gampel, zit. in. Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung - Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 255 306 Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung - Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 243 307 Vgl. Kestenberg, Judith. (1989). Neue Gedanken zur Transposition. Klinische, therapeutische und entwicklungsbedingte Betrachtungen. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 24. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog verlag, 79ff. 308 Yossi Hadar, zit. in: Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung - Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 250 99 einer versteckten Rivalität mit den ermordeten Liebsten der Eltern oder einer Idealisierung der Untoten in der Familiengeschichte. Für die Nachkommen der Überlebenden ist es schwierig, sich von den Eltern, die so viel Leid erfahren mussten, zu lösen. Die Erfahrungen von Eltern und Kinder kreuzen sich und die Eltern setzen Spuren der Erinnerung, Spuren des Traumas, in der Lebenswelt der Kinder. So kommt es, dass eine Welt doppelt, und die andere, die der zweiten Generation, oft gar nicht, gelebt wird: „Auf die Schwierigkeit der Nachkommen von Überlebenden, sich von ihren Eltern zu lösen und ein eigenes Leben zu leben, hat Haydée Faimberg mit ihrem Konzept des ‚Teleskoping‘ hingewiesen. Sie beschreibt das unbewusste In- und Aneinanderrücken der beiden Generationen in Überlebenden-Familien durch Identifizierung. Das Teleskoping erschwere in beträchtlichem Ausmaß den Individuations- und Separationsprozess der Zweiten Generation“, zitiert Kurt Grünberg Haydée Faimberg.309 Gabriele Rosenthal hat die Forschung um die Position der Täter erweitert und konstatiert eine große Nähe zwischen den Generationen, die die Entwicklung eines erfüllten, eigenen Lebens behindert: „Nachkommen von Überlebenden haben in ihren Familien häufig die Rolle der Beschützer eingenommen, haben gelernt, Fürsorge für die Eltern aufzubringen und dabei ihre eigenen Bedürfnisse, vor allem ihre Konflikte und Ablösungswünsche in der Adoleszenz, ihre Aggression gegen die Eltern, zu unterdrücken. (…).“310 Gabriele Rosenthal hat untersucht, dass sich die zweite Generation im Rahmen dieses über den Zeittunnel erlebte Trauma, für ihr „nicht dabei sein“, wie im Fall von Thea Scholl erläutert, schämt, dass sie die Eltern nicht retten konnten. Im Fall von Thea Scholl stand Raum zwischen ihr und ihren von den Nazis verfolgten Eltern, im Fall von Nachgeborenen ist es die Zeit. Diese Second Generation möchte das im Dialog mit den Eltern wiedergutmachen. Rosenthal zitiert Klein-Parker: „Diese Schuldgefühle schließen den Druck ein, die Eltern mit naches (Freude) durch persönliche Leistungen für ihr Leiden zu entschädigen; den Wunsch, die Eltern zu beschützen und für sie zu sorgen; Empfinden tiefer Traurigkeit und Schmerz durch die Erinnerungen an den Holocaust; und Gefühle der Hilflosigkeit angesichts der Unfähigkeit, den Holocaust für die Eltern ungeschehen zu machen.“311

309 Haydée Faimberg, zit. in: Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung - Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 253 310 Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag, Seite 21f. 311 Fran Klein-Parker, zit. in: Rosenthal, Gabriele / Bar-On, Dan (1992). A biographical case study of a vicitmizer’s daughter. In: Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial- Verlag, Seite 20 100

Um die Eltern davor zu schützen, dass ihnen wiederum Leid zugefügt wird, übernimmt die zweite Generation Schutzfunktionen. Der Traumaforscher Klaus Ottomeyer analysiert im filmischen Teil des Dissertationsprojektes: „Die meisten von ihnen übernehmen diese Aufgabe, die Eltern zu schützen, sie zu stützen, dafür zu sorgen, dass die Ungerechtigkeit, die den Eltern passiert ist, nie wieder auf der Welt Platz greifen darf usw. das ist ein großes Identitätsthema, manchmal ein lebenslanger Schatten auch auf den Angehörigen der zweiten Generation.“312 Gabriele Rosenthal hat untersucht, dass bei diesem Prozess jedes Kind eine bestimmte Aufgabe oder Rolle übernimmt: „Unsere Analysen, die stärker auf die Familiendynamik als auf die individuelle Psychodynamik abzielen, verdeutlichen nun, dass bei Familien von Tätern, wie aber auch von Überlebenden mit mehreren Kindern, unterschiedliche Rollenverteilungen auftreten; Beispielweise nimmt ein Kind die Position des gebundenen Delegierten der Eltern ein, während ein anderes Kind die Familie verlässt und in der Rolle des Anklägers agiert. (…)“313 Das Teleskoping kann das Leben der zweiten Generation derartig dominieren, dass jede beliebige Situation zu „Auschwitz“ werden kann, zitiert die Künstlerin Nina Flurina Carpez, Miriam Spiegel, die Prozesse beschreibt durch die Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Generation in jeder Situation, eine möglich Gefahrenquelle erkennen, die im Zusammenhang mit dem Leid der Opfer in erster Generation steht. 314 Im filmischen Teil des Dissertationsprojektes erzählt eine der lautesten Stimmen der Second Generation, die Schriftstellerin Lily Brett: „Meine Freundin, die in China lebt, war mit mir unterwegs und sie sagte: ‚Das ist ein perfektes Wetter, um dieses Kloster zu besuchen, denn ich war noch nie bei einem solchen Wetter hier‘. Ich antwortete: ‚Ja, das ist wie in Auschwitz, man will nicht nach Auschwitz an einem sehr sonnigen Tag‘. Und sie sah mich an und sagte: ‚Geht es bei dir immer um Auschwitz?‘ Ich antwortete: ‚Ich bin mir dessen nicht bewusst, bis es aus meinem Mund kommt.‘“315 Jedes Erzählen birgt auch ein Schweigen bzw. Verschweigen in sich. Durch das Schweigen entstehen Aufträge an die zweite Generation, die dann eigene Fantasien über das Geschehene entwickelt. Dieses unbewusste Wissen ist die Basis der Angst. Dieses vorsprachliche Wissen stellt einen Sog dar, dem sich nur wenige entziehen können. Wenn die First Generation schwieg, dass sie Angst hatte, dass sie ihre Kinder mit dem Leid ansteckt, ist genau das über Gesten und nichtsprachliche Vermittlung

312 Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag, Seite 22 313 Ebda. 314 Vgl. Caprez, Nina Flurina. Leben „dank“ der Shoah. Spuren der Verfolgung bei einer Überlebenden und ihrer Enkelin In: Keil, Martha / Mettauer, Phillip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 85 315 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 101 von Trauma geschehen, die Berührung mit dem Alb ist über den Zeittunnel für die Second Generation zur Lebensrealität geworden. Im Dunkeln brütet die Angst ums eigene Leben. Rosenthal und Bar-On haben diese bei Kindern von Opfern und Tätern untersucht: „(…) so hatte z.B. die Tochter eines Euthanasiearztes in ihrer Kindheit diese Angst vor ihrem Vater und verheimlichte aus diesem Grund ihre Kurzsichtigkeit. Als Kind hatte sie miterleben müssen, wie der Vater den jüngeren Bruder als Baby in den Swimmingpool warf, um dessen von ihm angezweifelte ‚Reinrassigkeit‘ zu testen (…).“316

7.4.1.2.1. Lily Brett: Das Sprachrohr der zweiten Generation Die Autorin Lily Brett nimmt für den filmischen Teil des Dissertationsprojektes „Schatten der Scham“ eine wichtige Rolle ein, da sie plastisch die Auswirkungen der Weitergabe des NS-Traumas auf die Kinder im Alltag schildert. Die in Auschwitz gezeugte, hat wie keine Zweite weltweit auf die Second Generation aufmerksam gemacht. Wie auch in der kontextualisierten Reflexion von „Schatten der Scham“ weiter unten genauer beschrieben, gibt die Autorin Einblick in die Problematiken der Second Generation, der zweiten Opfergeneration. Brett schildert das Schicksal ihrer Eltern, die beide nach getrennter fünfjähriger Lagerhaft in den letzten Transporten nach Auschwitz kamen und sich dort zwischen Tod und Horror gefangen, wiederfanden. Brett erzählt, dass sie alle Verwandten, ihr Land, ihre Sprache, ihre Jugend und ihre Erziehung verloren hatten und auch nach dem Krieg als unerwünscht galten, als sie in die Emigration nach Australien gingen. Obwohl in der Familie nicht direkt über Auschwitz geredet wurde, wusste das Kind, dass die Eltern schrecklich gelitten hatten. Es waren nicht zur Situation passende Aussagen, wie die, dass es keinen Gott gäbe, während die Mutter eine Sauce anrührte, oder dass sie ihrer Tochter plötzlich Erinnerungsfetzen, wie die Ermordung eines Kindes detailliert schilderte, mit der Bemerkung, dass die Tochter nicht wüsste, wozu der Mensch fähig sei. Lily Bretts Mutter arbeitete in eine Fabrik, konnte wundervoll kochen und saß täglich stundenlang am Küchentisch und weinte. Die Tochter überkam Schuld. Sie fühlte sich verantwortlich dafür, dass ihre Eltern nicht glücklich waren und sie fühlt bis heute die Verpflichtung ihnen zu helfen, sie zu heilen. In ihrer Bemühung ein Kind zu sein, das die Eltern endlich glücklich macht, spielte jugendliches Aufbegehren keine große Rolle. Lily Brett enttäuschte ihre Mutter nur auf zwei Gebieten. Sie wurde nicht Rechtsanwältin, denn die Eltern wünschten sich eine Tochter, die sie rechtlich vor beständig drohendem Unheil beschützen konnte, und sie wurde dick. Bretts Mutter wollte nicht, dass ihre Tochter dem Stereotyp eines kleinen, dicken Juden entsprach. Ihre Mutter ließ sie auch wissen, dass sie Dicksein

316 Ebda. 102 im Lager mit Kriminalität in Verbindung brachte, denn wenn wer zunahm, tat das auf Kosten anderer. Im Umgang mit der Third Generation, mit ihren eigenen Kindern, war Brett immer überängstlich. Wenn die Kinder am Abend nicht nach Hause kamen, hatte sie die Angst sie würden verschwinden und sich in Luft auflösen. Sie hat ihren Kindern Empathie beigebracht. Sie sollten sich vorstellen, wenn es sie wären, die stigmatisiert oder in Not wären.

7.4.1.3. Third Generation: Die dritte Generation 7.4.1.3.1. „Die Background Musik meines Lebens“ “Narrative der dritten Generation thematisieren das Ende des kommunikativen Gedächtnisses, den Tod der Großelterngeneration oder das schwindende Gedächtnis jener Menschen, die als Zeitzeugen bezeichnet werden können. In einem Radiointerview bezeichnet Vanessa Fogel die Geschichte ihres Großvaters als ‚background music‘ ihres Lebens, sie kann sich ein Leben ohne seine Erzählungen nicht vorstellen (…).“317 Was für Vanessa Fogel das Hintergrundgeräusch ihres Denkens und Seins ist, wurde in Israel zum identitätsbildenden Ritual der Weitergabe von Geschichte gemacht, was von aktuellen israelischen Filmemachern kritisiert wird. Anfänglich wurde in Israel aber geschwiegen, bis man das Nachfragen der Enkel zur Tradition machte. Sie legen sogenannte „Roots Papers“ an und sprechen im Rahmen ihrer Bar-Mizwah mit ihren Großeltern über deren Erinnerungen und oft wird hier das erste Mal in der Familiengeschichte das Schweigen über die Shoah gebrochen.318 Anders in Europa. Die Schweizer Biografie-Forscherin Nina Caprez ist eine Vertreterin in der Third Generation. Als solche hat sie wissenschaftlich ihre Familiengeschichte untersucht. Die Auswirkungen, die der Holocaust auf ihre Großmutter und ihre Mutter hatte, folgt, so Caprez, den für die Generationen typischen Mustern. Alle drei Generationen beteiligen sich am „Pakt des Schweigens“ und das Wort „jüdisch“ rief bei den Vertreterinnen aller drei Generationen Beklemmung hervor: „Belastende Fragen zu stellen, vermieden wir. (…) Noch heute senkt meine Mutter automatisch die Stimme, wenn sie im öffentlichen Raum jüdisch sagt. Kommt jüdisch in meinem Sprechertext vor, suggeriere ich Gelassenheit und versuche so zu tun, als wäre es ein x-beliebiges Wort und Thema. Möglich, dass meine Wangen aber warm werden oder mein Herz einen Zwischenschlag einlegt. Offensichtlich habe ich die Angst vor

317 Vaness Fogel, zit. in: Windsperger, Marianne. Generationen 3.0: Narrative der dritten Generation. Eine Bestandsaufnahme. In: Keil, Martha / Mettauer, Phillip (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 98 318 Vgl. Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag, Seite 27 103 antisemitischen Reaktionen von Oma und Mama übernommen und kämpfe dagegen, auch ihre Schutzmechanismen anzuwenden. (…) Das Wort jüdisch habe ich Oma nie aussprechen hören. Ich habe nur gesehen, wie sie es tonlos mit ihren Lippen formt. Im Gespräch mit ihrem Mann ihren Töchtern benutzte Ruth Burghardt (Großmutter) ein geheimes Handzeichen anstelle des Ausdruckes jüdisch.“319 Wenn Antisemitisches geäußert wird, ist es für Caprez bis heute als würde ein unsichtbares Schwert den Lauf der Dinge augenblicklich durchtrennen. Der Körper stellt sich sofort auf einen alarmierten Wahrnehmungsmodus ein: „Als junge Idealistin habe ich versucht, andere aufzuklären. Heute höre ich mir rassistische Bemerkungen meiner Kolleginnen und Kollegen (Nebenjob als Flugbegleiterin) fassungslos an und schweige, wie Mama und Oma.“320 Nina Caprez und ihre Mutter übten Rücksicht im Umgang mit der Großmutter, man wollte das Opfer schützen und hielt von ihr belastende Themen fern, da die Vertreterinnen der Second und Third Generation – wenn auch unterbewusst – eine Retraumatisierung befürchteten. Das fragile Lebensgebäude, das sich das Opfer geschaffen hatte, sollte nicht durch unbedachte Gesprächsthemen oder Bilder ins Wanken geraten. Ein Tabuthema war der Tod und die „Überforderung im Umgang mit dem Tod“321 war für die Enkelin glasklar: „Weder waren ihre ersten Verluste natürlicher Art, noch wurden sie in der Trauer begleitet, noch gab es Beerdigungen oder Grabsteine.“322

7.4.1.3.2. Gelebte Muster: Stolpersteine, Memory Candles und der “gepackte Koffer” Dem Muster der Third Generation, dem Umgang mit dem vererbten Trauma folgend, ergriff Nina Caprez die Initiative, um Stolpersteine für ihre im NS-Regime ermordeten Verwandten im Schweizerischen Kassl zu ermöglichen: „Erst jetzt erkenne ich, dass mein Engagement auch einem Versuch gleichkommt, die fehlenden Grabsteine zu ‚ersetzen‘. Das Phänomen der memorial candles bezeichnet Nachfahren von Shoah- Überlebenden, die einen verstorbenen Verwandten gewissermaßen erneuern sollen.

319 Caprez, Flurina Nina. Leben „dank“ der Shoah. Spuren der Verfolgung bei einer Überlebenden und ihrer Enkelin In: Keil, Martha / Mettauer Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 81f. 320 Caprez, Flurina Nina. Leben „dank“ der Shoah. Spuren der Verfolgung bei einer Überlebenden und ihrer Enkelin In: Keil, Martha / Mettauer Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 81 321 Caprez, Flurina Nina. Leben „dank“ der Shoah. Spuren der Verfolgung bei einer Überlebenden und ihrer Enkelin In: Keil, Martha / Mettauer Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 83 322 Ebda. 104

Hierfür erhalten sie beispielsweise Namen von Toten, oder es werden visuelle Ähnlichkeiten mit einem Verstorbenen herausgestrichen.“323 Dass die Nachfahren als Erinnerungskerzen fungieren, ist ein Phänomen, das zeigt, dass die NS-Überlebenden als Wiedergutmachung eine Form von „Wir haben Euch nicht vergessen“ gelebt haben. Die dritte Generation saugt dieses transponierte, erlittene Trauma quasi als unbewusste familiäre Besonderheit mit der Muttermilch auf: „(…) die Metapher ‚der gepackten Koffer‘ passt in manchen Belangen auf meinen Lebensstil. Ich besitze nicht übermäßig viel, hänge nicht an materiellem Gut und meine Papiere sind stets in Ordnung. Wie alle von Oma erzogenen Personen meiner Familie besitze ich immer einen gültigen Pass in Griffnähe, und meine multiplen Staatsangehörigkeiten geben mir ein Sicherheitsgefühl.“324 Obwohl die Third Generation ihren Pass immer griffbereit hat, reagiert sie sehr widerständig. Die Enkel und Enkelinnen wollen das Leid, dass ihren Großeltern widerfahren ist, publik machen und spüren auch eine besondere Verbundenheit mit ihnen. Die Konflikte werden eher zwischen erster und zweiter Generation sowie zweiter und dritter Generation ausgetragen. Caprez dazu in einem Gedicht:

Oma ist eine stumme Zeugin. Mama wurde stumm gemacht. Ich erzähle.

„Ich versuche, das Thema Jüdisch-Sein in unserer Familie zu enttabuisieren. Die Shoah hat vielen Unschuldigen das Leben und vielen Überlebenden die innere Ruhe und Sicherheit genommen. Ich will dieses Erbe der Nationalsozialisten nicht.“325 Dazu eine Vertreterin der Third Generation im Beitrag von Nicole Immler, die das Rollenangebot nach Judith Butler „Third Generation“ nicht annimmt: “(…) I am

323 Caprez, Flurina Nina. Leben „dank“ der Shoah. Spuren der Verfolgung bei einer Überlebenden und ihrer Enkelin In: Keil, Martha / Mettauer Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 83; Vgl. Mendelsohn, Daniel (2010). Die Verlorenen. Eine Such nach sechs von sechs Millionen. Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag; Vgl. Wardi, Daina (1992). Memorial Candles. Children of . New York: Routledge 324 Caprez, Flurina Nina. Leben „dank“ der Shoah. Spuren der Verfolgung bei einer Überlebenden und ihrer Enkelin In: Keil, Martha / Mettauer Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 87 325 Caprez, Flurina Nina. Leben „dank“ der Shoah. Spuren der Verfolgung bei einer Überlebenden und ihrer Enkelin In: Keil, Martha / Mettauer Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 85 105 running a conversation on the Holocaust. I do an inquiry. I am against performing the “third generation” Holocaust.”326

7.4.1.3.3. „Nicht zulassen, dass das Unrecht wieder Platz greift“: Drei Cousinen Am 25. April 2018 postet eine Vertreterin der Third Generation, eine Kärntner Slowenin, Lena Stern, auf Facebook: “Lena Stern: To everyone who would like to know a little bit more about what's going on in Nicaragua or who hasn't heard yet that there's even something going on (as Austrian and most foreign media still lack on any kind of good news). After spending 3 months in this beautiful country with its heartwarming people I grew to love this place. To see all these people suffering to express their (justified) opinion left me speechless. Presidents who rule the country as they want to, spend money as they want to, support police violence and censorship and expect people to support them. When people are getting killed by governmentally sponsored youth groups and the police while using their right to demonstrate in a so called democracy things are far from being right. Freedom of speech and freedom of press has yet another time become a thing to value. It is not a matter of course. So, please don't read over this post, read the article, share it, let as many people know as possible. Let Nicaraguans know you support them!: #sosnicaragua.327 Lena Stern absolviert 2018, nach ihrer Matura, ein soziales Jahr in Mittelamerika, als sie in Leon in Nicaragua, wo sie auf einer Finca arbeitet, die Proteste gegen die Reform des Sozialversicherungssystems ereilen. Der ehemalige Kommandeur der Sandinistischen Revolution, Daniel Ortega, der seit 2007 an der Macht ist, praktiziert

326 Immler, Nicole. L. Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha/Mettauer Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 85 327 Übersetzung: Für alle, die wissen wollen, was in Nicaragua gerade vor sich geht, oder für jene, die nichts davon gehört haben, was in Nicaragua gerade passiert (genauso, wie die österreichische Presse, berichten die meisten internationalen Medien nicht qualitativ). Nachdem ich drei Monate in diesem wunderschönen Land mit seinen herzerwärmenden Menschen gelebt habe, wuchs mir dieses Land ans Herz. Und nun muss ich zusehen, wie diese Menschen leiden müssen, nur weil sie ihre (berechtigte) Meinung kundtun, das macht mich sprachlos. Der amtierende Präsident, verfügt beliebig über seine Macht, er verschwendet das Geld, wie er will, er unterstützt die polizeiliche Gewalt und die Zensur und erwartet, dass die Leute ihn dabei unterstützen. Wenn Menschen von der Regierung angeheuerten Jugendbanden und der Polizei ermordet werden, während sie von ihrem Recht auf Demonstration und freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, läuft etwas falsch. Es ist die Zeit gekommen, dass freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit wieder geschätzt werden. Sie sind nicht selbstverständlich. Ich bitte Euch diese Nachricht nicht zu übergehen, lest den Artikel, teilt ihn und informiert so viele Menschen wie nur möglich. Lasst die Nicaraguaner und Nicaraguanerinnen wissen, dass ihr sie unterstützt: #sosnicaragua. Lena Stern postet den Link von Vice-News: https://news.vice.com/en_us/article/43bevj/were-fed-up-meet-the-protesters-dying- for-change-on-the-streets-of-nicaragua 106 neoliberalistische Politik zugunsten seines eigenen Familienclans. Die Studentenschaft steht auf und Ortega lässt „seine“ Kinder ermorden.328 Lena Stern bringt sich in einer 16-stündigen Fahrt mit dem Autobus in Sicherheit und versucht nun auf das Schicksal der Studentinnen und Studenten Nicaraguas Aufmerksamkeit zu lenken. Die Kärntner Slowenin befindet sich mit diesem Engagement in einer Reihe mit dem Kärntner slowenischen Schriftsteller Mirko Messner, der sich mit Ernesto Cardenal solidarisierte und ihn tatkräftig unterstützte. Ernesto Cardenal, der bekannteste Vertreter der Befreiungstheologie, wurde, damals noch nicht als Priester suspendiert, nicht nur vom Papst für sein Engagement für die Armen und Unterdrückten gemaßregelt. Der ehemalige Kulturminister Nicaraguas, durfte, nach einer Reise durch Europa, nicht in sein Land zurückkehren. Präsident Daniel Ortega hatte ihm übelgenommen, dass Cardenal seinen ausschweigenden Lebensstil öffentlich kritisierte. Das deutsche PEN-Zentrum protestierte. Das alles geschah schon 2008: „Mit fadenscheinigen Begründungen ist Cardenal zu einer Geldstrafe verurteilt worden; der Strafvollzug wird nun unter Bruch geltenden Rechts (Verjährung), offensichtlich auf Betreiben Daniel Ortegas, angestrebt. Mit zahlreichen Schriftstellern und Intellektuellen aus aller Welt wendet sich der deutsche PEN gegen diese zynische Praxis. Die Sandinisten, die einst angetreten sind, um die Diktatur Somozas zu beenden und um Menschenrechte in Nicaragua durchzusetzen, verlieren mit ihrem Kampf gegen Ernesto Cardenal jede Glaubwürdigkeit. Die politische Befreiung, für die sie einst gekämpft haben, ist ohne Respekt vor der Opposition und ohne Toleranz nicht möglich. Der Fall des Kritikers Ernesto Cardenal ist der Prüfstein für das demokratische Selbstverständnis der sandinistischen Regierung in Nicaragua.“329 2018 ist das Fass im Überlaufen und die Vertreterin der Third Generation saß mitten im Konflikt. Die Sanftmütige reagierte mit Erschrecken und dann mit dem öffentlichen Aufruf. Lenas Schwester, Hannah Stern, engagiert sich als begeisterte Feministin im Rahmen der Sozialistischen Jugend, deren Sprecherin sie auch ist. Hannah Stern ist Kärntner Slowenin, die in Wien aufgewachsen ist. Im Interview mit der Kärntner slowenischen Wochenzeitung Novice330, wird die Studentin zu ihrer Identität befragt und antwortet: „Die Minderheit ist ein Teil von mir. Wenn ich nach Kärnten / Koroška komme, dann fühle ich mich wie ein Teil einer Gruppe. Wenn man jemanden aus der Minderheit trifft, auch wenn man ihn oder sie nicht kennt, ist man trotzdem verbunden – durch die gemeinsame Minderheitensprache. Andererseits ist das auch ein unendlicher Kampf. Die slowenische Volksgruppe in Kärnten ist noch immer nicht

328 Vice News: https://news.vice.com/en_us/topic/nicaragua, 16.6.2018; ORF.at: http://orf.at/stories/2435048/, 16.6.2018 329 PEN-Zentrum Deutschladnd: http://www.pen-deutschland.de/de/2008/09/26/cardenal- erklarung/, 16.6.2018 330 Das Interview wurde in slowenischer Sprache gedruckt - hier Auszüge in deutscher Übersetzung 107 gleichberechtigt. Das ist auch ein Kampf gegen das Vergessen. Denken wir nur daran, was die Partisanen für uns erreicht haben, das wird immer vergessen.“331 Obwohl in Wien aufgewachsen bedauert die Studentin, dass die Rechte der Kärntner Sloweninnen und Slowenen nicht erfüllt wurden. Sie kreidet den Umgang der Gesellschaft mit den Kärntner slowenischen Widerstandskämpferinnen und - kämpfern an. Auf die Frage, warum sich die Kärntner Sloweninnen und Slowenen nicht mehr auflehnen, antwortet Hannah Stern: „Das Problem ist, dass die Leute müde geworden sind. Sie kämpfen und kämpfen und irgendwann sehen sie keinen Sinn mehr darin, weil sich nichts ändern, zu wenig ändert. Sie haben aufgegeben. Genau diesen Menschen muss man wieder Mut machen, denn der Kampf ist ein langer. Große Veränderung in der Gesellschaft dauern Jahrhunderte. Aber sie passieren nur, weil Menschen dafür einstehen. Nur zu jammern hilft niemandem, wir müssen auf die Straße gehen und unsere Präsenz zeigen. Immer wieder müssen unsere Probleme thematisiert werden, obwohl das unglaublich mühsam ist. Aber genau das ist, was Veränderung mit sich bringt.“332 Die Kärntner Slowenin analysiert eine aus der Ignoranz der Machthaber resultierende „Depression“ der Volksgruppenaktivistinnen, die vom langen erfolglosen Kampf müde geworden sind und sich nicht mehr für ihre Rechte einsetzen. Sie will ihre Gruppe ermutigen, sich wieder zu engagieren. Hannah Stern ist Frauenvorsitzende der Sozialistischen Jugend und bezieht die aus ihrer Vita verinnerlichte Minderheitenperspektive in ihre Feminismus-Arbeit ein und erteilt der kolonialen Sicht eine Absage: „Jeder und jede bestimmt für sich, was Feminismus ist. Mein Feminismus ist interdisziplinär. Man muss auf allen Ebenen nachdenken. Es geht nicht nur darum, dass wir die Situation der weißen Mittelschichtfrau verbessern. Wir müssen auch die Situation der Frauen mit Migrationshintergrund oder die Arbeiterinnen mitdenken. Das gibt es ganz andere Probleme. Feminismus darf nicht anwaltschaftlich sein. Aus der Arbeiterbewegung stammt der Slogan, dass die Arbeiterin und der Arbeiter sich selbst befreien müssen. Befreiung kommt nie von oben, sie kommt von unten. So ist es auch im Feminismus. Die Männer können die Frauen nicht befreien, das können sie nur selbst tun. (…) Ich sehe meine Aufgabe unter anderem darin, dass ich für FLINT Menschen (Women, Lesbian, Inter, Non-Binary, Trans) feministische Seminare organisiere. Beim letzten haben wir zum Beispiel das Regierungsprogramm aus feministischer Sicht diskutiert. Weitere Themen waren: Frauen im Widerstand, Rassisten und feministische Argumentationen, Neoliberale Vermarktung von Feminismus.“333 Hannahs und Lenas Cousine, Ana Grilc334, hat die Rede geschrieben, die sie bei der Gedenkfeier an die 14 während des NS-Regimes enthaupteten Kärntner Sloweninnen

331 „Zoon-politikon“ - Interview mit Hannah Stern, Novice, 13.4.2018 332 Ebda. 333 Ebda. 334 Ana Grilc, Hannah Stern und Lena Stern sind mit der Autorin verwandt. 108 und Slowenen im Wiener Landesgericht am 29. April 2018 als Vorsitzende des Klubs slowenischer Studentinnen und Studenten in Wien / KSŠŠD vorgetragen hat335:

„Liebe Erben! Liebe Erbinnen ‚Bis sie mir Scherben auf die Augen legen‘, schrieb Manés Sperber. Solange ich noch in meiner Haut stecke, werde ich mich nicht ergeben. Bis sie mir nicht alles nehmen, sie mich nicht verbrennen, sie mich nicht vernichten, bin ich bei mir, bin ich im Widerstand. Jede Kärntner Slowenin und jeder Kärntner Slowenen sollte den 2. Weltkrieg in sich tragen. Er ist uns ins Hirn gebrannt, ein eiserner Draht durchbohrt unsere Seele. In manchen Familien wird über die Vertreibung in die NS-Lager, wie über Albträume in stürmischen Nächten, gesprochen. Zitternd, flüsternd im Mantel des Zwielichts. In anderen Häusern ist es die Stille, die schreit. Geschlossene Lippen und die betäubende Sprachlosigkeit. Einige Enkel erfahren von dem Leid ihrer Großeltern erst, wenn sie erwachsen sind. Und manche sogen das Leid mit der Muttermilch auf. Jede Kärntner Slowenin trägt ein wenig von dem in sich. Dieses Wissen, das sich oft wie eine schwere Last des Himmel auf den Schultern anfühlt, ist wertvoll. Diese Erinnerung, dieses Geschichtsbewusstsein, sollte unbezahlbar sein. Denn nur wenn wir uns an das Leid, die Unmenschlichkeit, die Ungerechtigkeit, das unseren Vorfahren widerfuhr, erinnern, wissen wir warum und worum wir kämpfen müssen. Unsere Vorfahren waren Menschen, und das in einer Zeit in der diese Tatsache sie verdächtig und verhasst machte. Blüten in der Hölle. Heute ist die Erinnerung an sie meist nicht in Bronze gemeißelt, sondern sie ist mit Kreide auf Schornsteine geschrieben. Darum widmen wir diesen Tag dem Erinnern. Dem Erinnern an rabenschwarze Tage der Menschheit, die uns so viele Leben entrissen und so viele Menschen vergiftet haben. Wir erinnern uns daran, dass es im Menschen beides gibt – die unaussprechliche Grausamkeit und die endlose Güte. Wir erinnern uns daran, dass man sich entscheiden muss, was und wem wir folgen wollen. Vor allem erinnern wir uns aber an die 14 Menschen, die sich diesem Regime der Grausamkeit wiedersetzten. Vor 75 Jahren haben die Nationalsozialisten in diesen Räumlichkeiten Kärntner SlowenInnen aus den Gemeinden Ferlach / Borovlje, Sele / Zell und Eisenkappel / Železna Kapla enthauptet, nur weil sie sich dem Regime wiedersetzten: Wir erinnern uns an: Ivan Dovjak, Franc Gregorič, Florijan Kelih, Urh Kelih, Micka Olip, Tomaž Olip, Jakob Oraže, Janez Oraže, Jernej Oraže, Jurij Pasterk, Franc Pristovnik, Franc Weinzierl, Miha Županc und an Tomaž Olip, den älteren, der zu acht Jahren Kerker verurteilt wurde. Sie haben ihn gefoltert bis er am Sitz der Gestapo in Klagenfurt starb. 14 verstummte Pulsschläge, 14 Ermordete zu viel. Wenn wir uns an sie erinnern, denken wir auch daran, was wir für diese Opfer tun können. Denken wir darüber nach, wie wir die Wiederholung dieser Hölle verhindern können in einem Land, das sich immer mehr dem Nazierbe annähert. Wie können wir

335 Die Rede wurde in slowenischer Sprache verfasst und wird hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben. 109 uns auf die Seite der Hilflosen stellen? Wie können wir uns und die Menschen zum Guten verändern? Erinnern wir uns heute an die im NS-Regime ermordeten Jüdinnen und Juden, Roma und Romnija, die Homosexuellen, die politischen Häftlinge, die Euthanasieopfer und all die Menschen, die ihr Leben wegen einer Wahnidee hingeben mussten. Wir werden Euch nie vergessen!“336

Diese drei Vertreterinnen der Third Generation eint ihr gesellschaftspolitisches Engagement, das aktuelle Diskriminierungen von z.B. Flüchtlingen, Frauen und Minderheiten aller Art verhindern soll. Sie sind Umweltaktivistinnen und setzen sich für Tierrechte ein. Sie arbeiten in NGOs und wollen Entrechteten in aller Welt zur Seite stehen, da sich ihnen die Mechanismen der Unterdrückung wie von selbst erschließen. Das Leid ihrer Großeltern dient als „Background-Music“ ihres Engagements. Die drei Frauen, allesamt Feministinnen, sehen sich nicht als Opfer, sondern als Gestalterinnen, die die Welt bereichern wollen. Auch die drei Vertreterinnen der Third Generation im filmischen Teil des Dissertationsprojektes setzten sich zivilgesellschaftlich für mehr Gerechtigkeit ein, die Kärntner Slowenin als Musikerin, Journalistin und Aktivistin, die Romni durch ihre Theaterarbeit und Arbeit mit Schülerinnen und Schülern und ihrem Roma- Kulturverein, die Jüdin mit ihrem Holocaust-Gedenkverein „Morah“, die Jugendliche mit den Überlebenden des Holocausts zu konfrontieren. Die Schülerinnen und Schüler sollen, auch auf einer Reise nach Auschwitz erkenne, dass die Mechanismen der Ausgrenzung und Entmenschlichung von Mitmenschen der zum NS-Massenmord geführt hat, auch die Grundlage von heutigem Rassismus und Völkermorden ist. Olivia Pixner-Dirnberger hat sich wegen des Schweigens ihrer Vorfahren ihren Weg in die Vergangenheit selber gebahnt, jetzt will sie andere junge Menschen zum kritischen Hinterfragen motivieren: „Es hat sicher mit meinen ganz feinen Antennen bezüglich Minderheitenthemen zu tun und wie man vielleicht etwas ein bisschen besser machen kann. Ich glaube, es war Scham und Angst, die meine Großeltern dazu gebracht hat, darüber nie wieder zu reden und das auch ignorieren und ausblenden zu wollen und so war das in meiner Kindheit auch kein Thema, also weder religiös noch traditionell und mit der Pubertät sind Fragen gekommen. Dann war das in der Schule immer mehr, Geschichtsunterrichtsthema und das ist es, und da ist es mir immer mehr bewusst geworden, dass das mein Thema ist. Dass ich da auch einen anderen Zugang habe als die Mitschüler und Kollegen in der Klasse, weil das nicht die Geschichte und Katastrophe der Juden war, sondern das war das Schicksal und die Katastrophe meiner Familie und ich habe angefangen, in Dokumenten zu stöbern und immer mehr Fragen zu stellen.“337

336 Rede anlässlich der Kommemoration im Wiener Landesgericht, 29.4.2018 337 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 110

7.5. Retraumatisierungen durch politische Ereignisse „Also es waren nicht wenige von unseren Patientinnen, die, als die Ortstafeldiskussion wieder hochkam, sie so aggressiv auch hochkam, wirklich gezittert haben, nicht haben schlafen können und dann uns gefragt haben, ja, werden wir wieder abtransportiert?“ 338, berichtet der Traumaforscher Klaus Ottomeyer über seine Arbeit mit Kärntner slowenischen Opfern aus erster Generation. Als im sogenannten „Ortstafelsturm“ in Südkärnten der Mob loszog, um die zweisprachigen Ortstafeln niederzureißen, kam es zu einer Retraumatisierung der Überlebenden der NS-Gewalt. Es ist die Stimmung, die die Menschen wieder in ihr Trauma verfallen lässt. Albträume, Flashbacks und Depression sind seelische Antworten auf die Gewalt. Die Wiederkehr des Porajmos, der NS-Vernichtung der Romnija und Roma, bedeutete für die österreichischen Roma das Bombenattentat in Oberwart, dem vier junge Roma aus der Oberwarter Roma-Siedlung zum Opfer fielen.339 Die vier jungen Männer waren allesamt Nachfahren von Holocaust-Überlebenden. Anstatt die Roma zu trösten, reagierte die Polizei zuerst mit Ermittlungen in der Roma-Siedlung. Das Attentat löste eine Traumatisierung aller österreichischen Roma aus, denn über 90 Prozent der Volksgruppe wurden durch die Nationalsozialisten ermordet und der gegenwärtige Antiziganismus bewirkt Retraumatisierungen. Der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich berichtet im filmischen Teil des Dissertationsprojektes über die Ergebnisse einer aktuellen Studie, die besagt, dass es ein dreiviertel Jahrhundert nach der Shoah ein Höchstmaß an Antisemitismus in allen europäischen Ländern gibt. Nahezu jeder zweite Österreicher macht das internationale Judentum, die Juden in der Finanzwelt, für diese Wirtschaftskrise, in der wir derzeit leben, verantwortlich. Jeder fünfte Österreich meint, wir brauchen Politiker, die etwas gegen den jüdischen Einfluss in der österreichischen Gesellschaft tun. 12 Prozent sagen, dass keine Juden in Österreich haben wollten.340 Für die jüdische Opfer-Community war der Fall um den Euthanasiearzt Heinrich Gross, der in der „Euthanasie“-Klinik „Am Spiegelgrund“ an der Ermordung von 800 Kindern beteiligt war, beispielgebend für den Umgang der Opfer in der zweiten Republik. Es war unter anderem die Sammlung der Hirne dieser Kinder, auf die Heinrich Gross seine Karriere in der zweiten Republik aufbaute. Das „Ludwig Boltzmann-Instituts zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems“ wurde

338 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 339 In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1995 wurden vier junge Roma durch einen rassistisch motivierten Bombenanschlag in Oberwart ermordet. 340 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes; Repräsentativbefragung der österreichischen Bevölkerung (2010/11), durchgeführt vom Institut: ipr-Sozialforschung, Institut für Publizistik- und Kommunikationsforschung mit 1070 Probanden In: Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 35 & 254 111 für ihn geschaffen und er war der meistbeschäftigste Gerichtsgutachter Österreichs. Als er in dieser Funktion auf den Spiegelgrund-Überlebenden Friedrich Zawrel traf, der ihn wiedererkannte, verurteilte er diesen zu schwerem Kerker. Es ist dem Arzt Werner Vogt von der Kritischen Medizin zu verdanken, dass Zawrel freigelassen wurde. Gross wurde von der Republik mit dem Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst I. Klasse ausgezeichnet. Thea Scholl meint dazu im filmischen Teil des Dissertationsprojektes: „Ich bin empört gewesen. Ich war über alles, was da geschehen ist, empört. Über diesen Gross zum Beispiel, der die Kinder umgebracht hat. Aber schauen Sie, was jetzt auch wieder geschieht, es geschieht ja ununterbrochen: schreckliche politische Ungerechtigkeiten und Niederträchtigkeiten. Jetzt, die Nazis sind weg, aber Ungerechtigkeiten und schreckliche Verbrechen geschehen nach wie vor. Na ja, ich erinnere mich da nur an einen Satz aus einem Brecht-Stück: ‚Der Bauch ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.‘ Natürlich kann es noch einmal passieren. Es passiert ja eigentlich auch in anderer Form aber es passiert doch wieder. Faschismus ist noch immer nicht tot!“341 Die Filmemacherin Elisabeth Scharang hat im Dokumentarfilm „Meine liebe Republik“ und mit dem Spielfilm „Mein Mörder“ dem Spiegelgrund-Opfer Friedrich Zawrel ein Denkmal gesetzt. Der Puppenspieler Nikolaus Habjan tourt aktuell mit seinem Stück „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“. Er hat sich, wie bereits Elisabeth Scharang auch, in enger Zusammenarbeit mit Friedrich Zawrel der Opferbiografie künstlerisch angenähert.

7.6. Multidirectional memory Michael Rothberg wendet Perspektiven des Cultural Studies Approach auf die Erinnerungspolitik an und sucht einen interdisziplinären Zugang zu den Holocaust- und Postkolonialen Studies. Durch einen transnationalen Zugang werden in der Erinnerungskultur neue Beziehungen und Verknüpfungen geschaffen, die Frage, was die Geschichten und Erinnerungen der Opfer eint und was sie unterscheidet, thematisiert. Der Themenbereich, wie diese Narrationen Opfer beeinflussen, wird im nächsten Kapitel beleuchtet.342 Die Multidirectional Memory ist ein wichtiges Werkzeug für dieses Dissertationsprojekt, da durch das In-Beziehung-Setzen der Verfolgungsgeschichte dreier NS-Opfergruppen mit dem Leid von ethnisch Diskriminierten weltweit Auswirkungen der Multidirectional Memory sichtbar gemacht werden.

341 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 342 Vgl. Rothberg, Michael (2009). Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Redwood City: Stanford University Press 112

7.6.1. Multidirectional memory nach Michael Rothberg am Beispiel der türkischen Schriftstellerin Aslı Erdoğan Das Beispiel der Schriftstellerin Aslı Erdoğan zeigt, wie die Verflechtung von Opfergeschichten im Sinn der Multidirectional Memory positiven Einfluss auf das Leid von Opfer nehmen kann. Die türkische Schriftstellerin war, nachdem ihr prokurdische Propaganda vorgeworfen wurde, vier Monate in der Türkei inhaftiert. Aslı Erdoğans Gewalterfahrungen, ihre posttraumatischen Reaktionen sowie ihr Weg, mit Kunst für ihre Mithäftlinge einzutreten, und der damit einhergehende Versuch ihr Trauma zu bewältigen, liest sich wie ein Belegbeispiel für dieses Dissertationsprojekt. Die Geschichte von Aslı Erdoğan zeigt auch die Universalität von Gewalt und ihren Folgen. Im August 2016 klopft es an der Wohnungstür der Wissenschaftlerin und Journalistin Aslı Erdoğan, sie wird verhaftet. Es wird der Schriftstellerin vorgeworfen, sie zerstöre die Einheit und Integrität des türkischen Staates, da sie einer illegalen Organisation angehöre. Die Schriftstellerin erschrak zutiefst. Das Vertrauen in die Welt, wie sie sie kannte, zerbrach. Aslı Erdoğan erfuhr, dass ihre beste Freundin eine Abhöranlage auf ihrem Computer installiert hatte. Die Freundin wurde später tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Die kafkaeske Gerichtsverhandlung bewies Aslı Erdoğan, dass sie gegen den Apparat, der sie ins Gefängnis brachte, keine Chance hatte: „Das Schlimmste war, sich zu verteidigen. Der Ankläger nahm ein paar Sätze aus meinen Büchern heraus, las sie vor und versuchte ein Verbrechen zu konstruieren. Es war wirklich schrecklich, das was man geschrieben hatte, zu verteidigen und zu sagen: ‚Hören sie, das ist T. S. Eliot. Ich spreche über die Brutalität des Menschen und nicht über die türkischen Soldaten.‘ Das war irgendwie ein Witz und ich habe versucht, die lustige Seite daran zu sehen. T. S. Eliot stand da vor Gericht, können Sie sich das vorstellen.“343 Aslı Erdoğan kam in Haft: „Es ist ein großer Schock. Die meisten Gefangenen würden bestätigen, dass, ob nun zwei Wochen oder 20 Jahre, dass es sich gleich anfühlt, denn das Schlimmste ist der Schock, in einem Käfig gefangen zu sein, wie ein wildes Tier. Mit drei Schlössern an einem selbst und die Handschellen, das ist nicht leicht, für keinen Gefangenen. Die, die neu kommen, leiden am meisten. Man gewöhnt sich daran. Wir Menschen tragen in uns die Fähigkeit, uns an Umstände zu gewöhnen. Das Allerschlimmste ist der Gedanke, dass man dort sterben wird. Das ist die größte Folter, durch die ein Mensch gehen kann.“344 In diesen Momenten größter Verzweiflung half der inhaftierten Aslı Erdoğan, ein beeindruckendes Beispiel der Mulitdirectional Memory, das Drehbuch zur Fernsehserie Shoah von Claude Lanzmann: „Ich habe mir das Buch aus der Bücherei des Gefängnisses ausgeliehen. Es gab eine gute Bücherei im Gefängnis, anders als in anderen Gefängnissen. Ich sah das Drehbuch der Dokumentation Shoah, es wurde noch nie ausgeliehen. Ich habe die Interviews der Überlebenden von Treblinka und

343 ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Aslı Erdoğan, 16.3.2018 344 Ebda. 113 dem Warschauer Ghetto gelesen. Ich las und weinte, las und weinte. Ich behielt das Buch für drei Wochen, das war meine Bibel. Ich las sie und weinte.“345 Die Schriftstellerin konnte unter Schock stehend bis dahin ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen. Sie musste Haltung bewahren, sich einen Panzer anlegen, damit sie in Gefangenschaft überleben konnte. Erst durch die Erinnerungen an das Leid der Opfer des Holocaust konnte Aslı Erdoğan endlich weinen. Es war ein erlösendes Weinen, denn die Lektüre weckte wieder Hoffnung in der Gefangenen: „Was mir am meisten Hoffnung gab, war, dass der Holocaust, wahrscheinlich der schrecklichste Genozid, der je passiert ist bis jetzt, es lag Trost in der Erkenntnis, dass sogar die Holocaust- Menschen überlebt haben und er ging zu Ende. Irgendwie war das das Gefühl, das ich im Gefängnis brauchte, dass das eines Tages enden würde. Manche Menschen weinen, wenn sie inhaftiert werden 48 Stunden durchgehend. Manche weinen Wochen lang, ich konnte nicht weinen. Aber durch das Buch Shoah konnte ich weinen.“346 Die Erkenntnis, dass das NS-Regime besiegt wurde, dass dieses Grauen ein Ende fand, ist nicht die einzige Erkenntnis, die Aslı Erdoğan Trost spendete. Das Wissen, aus historischer Perspektive nicht völlig isoliert zu sein, wirkte tröstlich: „Vielleicht ist das auch eine egoistische Art die Sache zu betrachten, denn andere Opfer sollten einen nicht trösten. Aber die Einsicht, dass man nicht die Einzige ist, hilft in dieser Welt in der man großer Ungerechtigkeit begegnet ist. Und irgendwie entsteht ein Gefühl der Solidarität mit den Opfern, die man nie getroffen hat und die man nie treffen wird.“347 Dass das aktuell erfahrene Leid als Opfer mit den Opfern des Nationalsozialismus in Beziehung gesetzt wird, ergab für die Schriftstellerin neue Aussichten, die ihr Trost in ihren schwersten Stunden spendeten und ihr neue Perspektiven eröffneten, was die eigentliche Intention von Erinnerungsarbeit ist. Die Geschichte der türkischen Intellektuellen bieten weitere Parallelen zum Leid der NS-Verfolgten. Nicht nur ihre Verhaftung, die ansatzweise an die Deportation der Kärntnern Sloweninnen und Slowenen erinnert, auch die Auswirkungen auf die Haft zeigen ähnliche, psychische Spuren auf, die auch die NS-Opfer bei Tag und in ihren Träumen verfolgen. Aslı Erdoğan wurde nach ihrer Freilassung in einem „Zentrum für posttraumatische Störungen nach Folter und Gefängnis“ behandelt. Ihr wird eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert, die sich auf ihren Alltag schrecklich auswirkt: „Ich leide unter Amnesie. Ich kann mit jemandem am Telefon einen Termin ausmachen und im nächsten Moment habe ich es vergessen. Ich vergesse Namen, auch die meiner literarischen Vorbilder, oft fällt mir der Name Kafka nicht mehr ein. Eine zweite körperliche Reaktion ist die Übelkeit. Vor zwei, drei Tagen begann es wieder. Zu völlig unerwarteten Zeiten beginne ich zu würgen, es ist eine sehr schmerzhafte Übelkeit. Mein Körper versucht zu erbrechen, aber kann nicht. Das ist sehr schmerzhaft. Es fing im Gefängnis vor allem während der Nacht an. Früher war

345 Ebda. 346 Ebda. 347 Ebda. 114 es jede Nacht, jetzt kommt es alle drei Monate, aber es ist nicht verschwunden. Und die Schlaflosigkeit, es gibt viele Auswirkungen des Gefängnisses. Die schrecklichen Albträume natürlich, Nacht für Nacht, Nacht für Nacht. Sogar im Gefängnis sind die Nächte eine Tortur, denn die Albträume sind schlimmer als die Realität im Gefängnis und im Unterbewusstsein sieht man immer das Gefängnis. Wenn man aufwacht, ist man erleichtert, dass man im Gefängnis ist und es ertragen kann. Alle Gefangenen leiden unter Schlaflosigkeit und Albträumen, oft ein Leben lang.“348 Wie in diesem Dissertationsprojekt eingehend diskutiert, ist es auch bei Aslı Erdoğan die Kunst, die auf Heilung hoffen lässt. Die Schriftstellerin erhofft sich Linderung ihres Leidens durch ihr Schreiben. Wie im Fall der Opfer des Nationalsozialismus soll das Benennen des Leides und des Unrechtes die Welt informieren und das Trauma bändigen. Aslı Erdoğan beschäftigt sich seit jeher eingehend damit, wie man dem Leid, dem Trauma durch Kunst begegnen kann. Dabei spielt auch das im Dissertationsprojekt thematisierte Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität eine entscheidende Rolle. In ihrem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ und in ihrem neuesten Werk „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“349 geht die Schriftstellerin der Frage nach, ob Schreiben Katharsis oder eine andere Form von Gefangensein ist. „Das ist die Essenz meiner Literatur, eine Sprache für das Trauma zu finden. Ich habe mich immer damit beschäftigt. Das ist nicht leicht und es gibt keine magische Formel. Man wird ein Gefangener seiner eigenen Fiktion bleiben und ich glaube, das ist auch ein weiterer Aspekt von Trauma. Man wird vom eigenen Trauma gefangen genommen. Oft dadurch, indem man schweigt, manchmal dadurch, dass man es erzählt. Jede Erzählung ist eine Fiktion, auch wenn man die ganze Realität erzählen will, kann man das nie tun, wenn es um große Traumata wie Folter und Kerker geht. Man beginnt automatisch zu fiktionalisieren, um die Erinnerung in eine verdauliche Form zu pressen. Aber es bleibt immer etwas Unverdauliches über.“350 Um sich selbst von den Praktiken der Gewalthaber zu befreien, setzen viele Opfer auf einen friedvollen Umgang mit ihrer Umgebung. Trotz ihrer Gewalterfahrungen geht Aslı Erdoğan der Frage nach, wie man eine Theorie der Gewaltlosigkeit in einem System, das durchtränkt ist von Gewalt, entwickeln kann: „Die Kurden im Gefängnis sahen mich oft als die klassische Bürgerliche, die zu Hause sitzt. ‚Für so jemanden ist es leicht, gegen die Gewalt zu sein, aber was würdest du tun, wenn du an unserem Platz wärest?‘, fragten sie mich. Und das ist ein Dilemma, das ich nicht beantworten kann. Ich sagte: ‚Das ist auch ein Grund, warum ich nicht in die Politik gehe. Ich war nie ein Parteimitglied oder einer Organisation. Ich will keine Macht und daher

348 Ebda. 349 Vgl. Erdoğan, Asli (2008). Die Stadt mit der roten Pelerine. Zürich: Unionsverlag; Vgl. Erdoğan, Asli (2017). Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch / Artık Sessizlik Bile Senin Değil. München: Knaus Verlag 350 ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Aslı Erdoğan, 16.3.2018 115 genieße ich den Luxus, gegen Gewalt zu sein‘.“351 Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sei zum absoluten Machthaber geworden: „Stellen sie sich vor, was die Leute fühlen, wenn sogar die Ärzte als Terroristen angeklagt werden, weil sie Nein zum Krieg sagen. Die Leute haben Angst, ihre Träume zu flüstern.“352 Die interventionistische Schiene der Cultural Studies ist eine Grundhaltung von Aslı Erdoğan. Schriftstellerkolleginnen und -kollegen hätten die Literatin gewarnt, sie verschwende ihr Talent mit dem Schreiben von Kolumnen, und verurteilten ihrer Parteinahme: „Ich glaube, die Menschen missverstehen, was Literatur sein soll. Es ist nicht für Preiszeremonien, es ist nichts, das man schafft, um Applaus von den Kollegen zu bekommen. Das ist nur ein Spiel und die gegenwärtige Kunst und Literatur spielt zu viele Spiele. Nein, kannst du wirklich die Geschichte eines Opfers von Vergewaltigung oder eines Opfers des Holocausts erzählen. In diesem Fall muss man ein Schriftsteller sein. Es ist immens schwierig, die Geschichte von Opfern zu erzählen, aber die Welt braucht das. Zumindest brauchen die Opfer Öffentlichkeit.“353 Als nächster Bezugspunkt zu den NS-Opfern ist die Exil-Erfahrung von Aslı Erdoğan. Wie Stefan Zweig definiert sie ihre Heimat nicht über Territorium, sondern über ihre Sprache. Wie viele emigrierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller während des NS- Regimes muss sie ihr Verhältnis zu ihrem literarischen Werkzeug neu sortieren. Sie sieht sich in der Tradition des jüdischen Schriftstellers Paul Celan: „Ich habe keine starke Bindung zur Türkei. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich dort hingehöre, dass ich es besitze. Ich habe nie voll Stolz gesagt: Das ist mein Land. Ich bin nicht türkisch national, aber da ist diese nicht zu zerstörende Verbindung zwischen mir und dem Land durch meine Sprache. Ich liebe es auf Türkisch zu schreiben, noch immer, auch nach dem Gefängnis. Ich fühle mich am wohlsten in meiner Muttersprache und ich kann hören, wie sich die Worte einander zuflüstern. In der Diaspora verblasst das Türkische jeden Tag mehr. Das ist eine weitere Tragödie. Ich bin zwar nicht Celan und muss auf Deutsch schreiben. Das Türkische ist für mich noch nicht so schrecklich, wie für die jüdischen Intellektuellen ihre deutsche Muttersprache. Ja dieses Exil ist auch ein sprachliches Exil und als eine Schriftstellerin ist das nicht so leicht.“354 Die Schriftstellerin zieht im Interview immer wieder, ganz im Sinne der Multidirectional Memory, Vergleiche mit dem NS-Regime und seinen Opfern. Asli Erdoğan wurde der Simone-de-Beauvoir-Preis für die Rechte der Frauen 2018 verliehen.

351 Ebda. 352 Ebda. 353 Ebda. 354 Ebda. 116

7.7. Traumatherapie, Resilienz, Heilung Während sich der Wissenschaftskanon in den letzten Jahrzehnten eher mit der Frage beschäftigt hat, ob nationalsozialistische Gewalt Auswirkungen in Form von traumatischen Belastungsstörungen hat und wie sich diese auswirken, liegt der Fokus der gegenwärtigen wissenschaftlichen und klinischen Forschung vor allem auf Bewältigungsstrategien. Die Forschung in Psychologie und Medizin stellt sich die Frage, wie diese Traumata geheilt werden könne. Wie können die Auswirkungen des Traumas, von Schlafstörungen bis hin zur Psychose, geheilt werden. Wie können die psychischen Reaktionen der Opfer auf die NS-Gewalt in drei Generationen, die zu starren Identitätssträngen werden, reflektiert, verwandelt, oder „überwachsen“ werden. Strategien, die sich das Überleben oder ein gutes Leben der Traumatisierten zum Ziel setzen, sind: Die Aktivierung von Selbstheilungskräften und Resilienz355, eine Rückkehr ins Leben durch gesellschaftliches Engagement, die die gängigen Strategien der Verdrängung, Resignation und der Vermeidung von Erinnerung entgegenwirken. Ein Pionier im Umgang mit den durch die Nationalsozialisten verursachten Trauma in drei Generationen war der österreichische Psychiater und Neurologe Viktor Frankl. Der KZ-Überlebende Frankl entwickelte die Existenzanalyse und Logotherapie. Viktor Frankl war, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, leitender Arzt der jüdischen Klinik in Wien. Als seine Geschwister emigrierten, stand der Arzt vor der Entscheidung bei seinen Eltern zu bleiben oder sein Fluchtvisum zu nutzen. Für das Dableiben sprach, dass Frankl überzeugt war, durch seine Position die Eltern vor der Deportation retten zu können. Aber es galt jedoch auch, seine wissenschaftlichen Arbeiten356 zu schützen, die in jedem Fall von den Nationalsozialisten zerstört werden würden. Im Interview mit Rose Kern für den ORF, ausgestrahlt am 13.3.1994, erinnert sich der damals 89-jährige Viktor Frankl an die Stunden der Entscheidung: „Ich komme nach Hause, auf einmal merke ich dort auf dem Radiotisch ein Drum Stein liegen, frage meinen Vater, was ist denn das. Sagt der Vater: ‚Ach Viktor, das habe ich dir vergessen zu erzählen, heute Vormittag bin ich um unseren Häuserblock herumgegangen und auf dem Terrain, wo die größte Synagoge von den Wiener Nazis niedergebrannt worden war, in der jetzigen Tempelgasse, dort habe ich herumgekramt und finde diesen Stein und merke, das ist was Heiliges, das darf ich nicht liegen lassen.‘ Sagt er: ‚Schau mal her, eingraviert ist ganz groß und vergoldet ein hebräischer Buchstabe.‘ Ich wusste sofort, sagte mir doch einst mein Großvater, dass das ein Stück von den 10 Gebote Tafeln über dem Altar in der Synagoge ist: ‚Und ich kann dir mehr sagen, Viki‘, sagt er, ‚ich kann dir sogar verraten, zu welchem der 10 Gebote dieses Stück gehört, denn dieser Buchstabe dient als Abkürzung in einem

355 Vgl. Fröhlich-Gildhoff, Klaus / Rönnau-Böse, Maike (2015). Resilienz. München: Ernst Reinhardt 356 Vgl. Frankl, Viktor (1981). Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: dtv 117 einzigen der 10 Gebote.‘ Und ich sagte: ‚Und das wäre?‘ ‚Ehre Vater und Mutter, auf das du bleibest im Lande‘. In dem Augenblick habe ich beschlossen, in Wien zu bleiben und habe am nächsten Morgen das Visum verfallen lassen.“357 Die Eltern von Viktor Frankl werden, wie seine Frau, in den KZs der Nazis umgebracht. Viktor Frankl überlebte vier Konzentrationslager und arbeitet im Lager an den Konzepten der Logotherapie und Existenzanalyse weiter. Der Freiheit des Willens, der Wille zum Sinn und die Verantwortung jedes Einzelnen und jeder Einzelnen, diesen Sinn in seinem Leben umzusetzen, sind die drei Grundpfeiler Frankls Psychologischer Schule. Frankl glaubt, dass die geistige Dimension den Menschen befähigt in Freiheit – auch in Gefangenschaft – das Sein zu gestalten sowie die Kranken befähigt, das Leben zurückzuerobern. Der Mensch soll den Sinn des Lebens in jeder Situation ausfindig machen: „Demnach ist der Mensch durch seine Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit aufgerufen, das Bestmögliche in sich und der Welt zur Geltung zu bringen, indem er in jeder Situation den Sinn des Augenblicks erkennt und verwirklicht. Wesentlich ist hier auch, dass das Sinnangebot des Augenblicks, obwohl objektiv gegeben, situations- und personengebunden ist und als solches einem fortwährenden Wandel unterliegt.“358 Elisabeth Gruber, Vorständin des Viktor Frankl Zentrum Wien, erklärt im ORF- Interview, dass Frankl sich von allen Hassgefühlen und Ängsten359 aktiv befreit habe, und das, obwohl er fast alle Menschen, die ihm nahe standen, durch die NS- Gewaltherrschaft verlor: „Er war ja 40 Jahre als er befreit worden ist vom KZ, aber durch all seine Erfahrungen mit seinen Patienten, wusste er, dass jedes Hassgefühl den Menschen lähmt. Er trägt das wie einen großen Rucksack am Rücken und er weiß um die Belastung. ‚Es ist was es ist‘, meinte Frankl. Wir können dem Schicksal niemals in den Rachen greifen und die Geschichte umdrehen.“360 Zu akzeptieren, dass die Zeit im KZ und die Ermordung seiner Angehörigen nicht mehr zu ändern sei, sei der schwierigste Prozess. Wenn man das jedoch erkannt hätte, könne man sich dem Leben wieder zuwenden. Um seine Last und Angst loszuwerden, müsse man ihr ins Auge sehen, so Frankl. Frankl sorgte, da er sich gegen die kollektive Schuld der Täter aussprach, für Aufregung. Eine Versöhnungsgeste, die bis heute umstritten ist. Frankl formuliert im Interview mit Rose Kern provokant: „Das ist typisch nationalsozialistisches Gedankengut könnte man fast sagen, die Nationalsozialisten waren es, die pauschal verurteilt haben, eine ganze Volksgruppe oder wie immer sie das nennen wollen. Und

357 ORF-Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoa, 5.11.2017; ORF-Dokumentarfilm von Rose Kern: http://tvthek.orf.at/profile/Archiv/7648449/Frankl-Trotzdem-Ja-zum-Leben-sagen/6955229, 16.6.2018 358 Was ist Logotherapie und Existenzanalyse von Alexander Batthyany: http://www.viktorfrankl.org/d/logotherapie.html, 16.6.2018 359 Frankl hatte Höhenangst und bestieg daher hohe Berge und machte mit 67 Jahren den Flugschein. 360 ORF-Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoa, 5.11.2017 118 das müssen wir nicht mitmachen. Das ist ein Rückfall in eine nationalsozialistische Ideologie.“361 Frankl Lebensziel war es, die Opfer wieder ins Leben zurückzuholen und er entwickelte dafür spezielle lebenszentrierte Therapiemethoden. Katharina Ratheiser, Enkelin von Viktor Frankl, bringt Frankls psychologische Hilfestellung auf den Punkt: „Es geht nicht darum, was ich als Nächstes will, sondern wofür bin ich hier und was kann nur ich, wie kann ich die Welt nur ein kleines bisschen verändern zum Besseren.“362 Wie man dem Trauma entfliehen kann, auch wenn nur für Stunden, erzählt der Jazzmusiker Harri Stojka. Er sieht in diesem Umgang auch eine Besonderheit seiner Volksgruppe, der Roma. Im filmischen Teil des Dissertationsprojektes gibt Stojka Einblicke in die Familientradition: „Unsere Überlebensstrategie war die Lebensfreude, würde ich sagen, ist meine Meinung, wie ich es aus meiner Familie kenne. Man sagt in Wien, das unschöne Wort „die Sau rauslassen“, also wirklich feiern, abfeiern, bis ins Morgengrauen trinken, essen, Musik machen und das ist eine gute Überlebensstrategie. Also ich mach das gern, Party einfach. Aber bei den Festen, wenn sich die Feste bei meiner Großmutter so dem Ende geneigt haben und es war schon ein bisschen eine Weinlaune da, sind sie irrsinnig traurig geworden unsere Leute. Alle haben zu weinen begonnen, weil dann ist immer das Wort Auschwitz gefallen, Auschwitz, Auschwitz, Vernichtungslager. Dann war es für mich schon Zeit, nach Hause zu gehen. Dann war die Stimmung vorbei.“363 Diese Lebensfreude ist in der Tradition der Roma auch mit dem freien Leben in der Natur verbunden und der Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

7.7.1. ESRA und Aspis Zwei Institutionen, die sich professionell mit der Bewältigung des NS-Traumas in drei Generationen beschäftigen ist der psychosoziale Dienst der jüdischen Gemeinde ESRA in Wien und das psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt in Klagenfurt / Celovec Aspis. Die Traumaforscher Klaus Mihacek und Klaus Ottomeyer zeichnen für die analytische Schiene des filmischen Teiles des Dissertationsprojektes verantwortlich. Beide Institutionen haben sich neben der Behandlung von NS-Opfern in drei Generationen, der Beratung und Therapie von aktuellen Verfolgungsopfern verschrieben und stehen den heute Geflüchteten jeder kulturellen und religiösen Herkunft beratend zur Seite.

361 ORF-Dokumentarfilm von Rose Kern: http://tvthek.orf.at/profile/Archiv/7648449/Frankl- Trotzdem-Ja-zum-Leben-sagen/6955229 , 16.6.2018 362 ORF-Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoa, 5.11.2017 363 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 119

ESRA, das hebräische Wort bedeutet auf Deutsch Hilfe. Die Anfänge des psychosozialen Dienstes sind eng mit den jüdischen Wiener Ärzten osteuropäischer Herkunft Alexander Friedmann und David Vyssoky verknüpft, die erkannten, dass NS- Opfer und ihre Nachfahren große psychische Not litten, deren Ursprung über individuelle Symptomatik hinausreichte. Friedmann erklärt im ORF-Interview: „Wenn man weiß, Kreuzschmerzen kriegt man, wenn man ein Kreuz zu tragen hat und krank wird man, wenn man sich kränkt, da beginnt man zu begreifen, dass es so etwas wie ein Wörterbuch des Leidens gibt.“

7.7.2. Neue Formen der Traumatherapie: Yoga, Qi Gong, Theater, Neurofeedback ESRA, seit jeher im internationalen Wissenschaftskanon vernetzt, schenkte sich zu seinem 20-jährigen Bestehen einen internationalen Trauma-Kongress in der Schönbrunner Orangerie. Peter Schwarz, Geschäftsführer von ESRA, und Primar Klaus Mihacek wollen internationale Erkenntnisse in ihre Therapiearbeit einbauen: „Es stellt sich immer mehr heraus, dass es nicht nur mehr eine Form oder eine Methode von Traumabehandlung gibt, sondern dass es eine Vielfalt von Ansätzen gibt. Wir wollen das Spektrum in ESRA erweitern und wollen das auch irgendwann einmal anbieten können.“364 Bessel A. van der Kolk, von der Boston University, beschäftigt sich mit neuen Therapieformen, um dem Ungesagten zu Leibe zu rücken: “Reden bewirkt nicht, dass man sich sicher fühlt, aber es bringt Traumatisierten Zuhörer, das ist gut. Am meisten belastend sind jedoch jene Dinge, die m an selbst nicht wissen will. Freud kannte sich da gut aus, denn man erzählt nur einen Teil der Geschichte. Aber am schwersten zu ertragen ist, was man nicht erzählen kann.“365 Erfahrene Gewalterlebnisse schreiben sich im Körper fest. Das Trauma wird zur zweiten Natur, welches die Liebesfähigkeit, Angst und das Aggressionspotential reguliert. Das Trauma manifestiere sich auch in Form von Krankheiten. In der Therapie noch neu, aber über die Maße erfolgreich, sei der Einsatz von östlichen Körpertechniken wie Yoga, Qi Gong und die Theatertherapie: „Das Trauma lebt körperlich weiter und der Patient muss lernen den Körper zu beherrschen. Dabei sind Atemtechniken und Meditation wie es im Yoga und Qi Gong praktiziert sehr effektiv und sie gehören zu unseren ständigen Trauma- Therapieformen. Durch das Theater als Therapieform ist es möglich die Rolle des ‚Holocaustopfers‘ für einige Zeit abzulegen. Man spielt zum Beispiel König Kronos oder Antigone oder fühlt sich wie eine wunderschöne Jungfrau. Man lernt das Gefühl kennen, ein wütender Killer zu sein. Die Patienten erkennen durch diese Gewalt- Performances: Das ist auch ein Teil von mir. Das Theater ist eine unserer älteren Methoden. Unsere neueste Methode, die wir anbieten ist Neurofeedback. Die

364 ORF- Heimat Fremde Heimat: 20 Jahre ESRA, 7.11.2014 365 Ebda. 120

Menschen spielen am Computer mit ihren eigenen Gehirnströmen und schaffen neue Verbindungen.“366 Dass bei einer bestimmten Perspektive auf die Geschichten von Opfer und Täter, es zu einer unreflektierten Nivellierung kommen kann, wurde schon von Vertretern der Cultural Studies als Irrweg der Postmoderne kritisiert. Bessel A. van der Kolk erläutert dies im ORF-Interview anhand der südafrikanischen „Truth-commission“, bei der er als Berater fungierte. Traumatisierte Opfer und Täter wurden nach der Befreiung vom Apartheidsystem zusammengebracht, um ein gemeinsames Leben zu ermöglichen: „Nelson Mandela und Desmond Tutu erlaubten den Menschen ihre Geschichten zu erzählen. Die Leute hatten das Gefühl, dass man ihnen zuhört, sie versteht und das minderte den Zorn. Aber am Ende wurde weder Wiedergutmachung noch Entschädigung geleistet. Es war also ein Prozess, der hauptsächlich nur den Weißen und nicht den Schwarzen etwas brachte.“367 Harvey Weinstein von der Universität Berkeley in den USA hat mit traumatisierten bosnischen und kroatischen Müttern therapeutisch gearbeitet, deren Kinder im Jugoslawienkrieg gestorben waren. Er führte sie zu diesem Zweck an einen Ort nach Ungarn, der keine Konnotationen bei den Opfern hervorrief. Es entbrannte eine Debatte, wer Opfer und wer Täter sei. Niemand könne von seiner Verantwortung für seine Entscheidungen entfliehen: „In Budapest beschimpften sie sich voll Hass. Dann sahen sie ihr gemeinsames Ziel als Mütter, zu erfahren, was mit den Kindern geschehen war. Menschen treffen Entscheidungen, oft treffen sie sie unter Druck. Manche treffen sie, weil sie verleitet wurden, die Anderen zu hassen. Um die Vergangenheit zu verstehen, muss man sich in diese Zeit zurückversetzen. Aber jeder muss für seine Entscheidungen verantwortlich gemacht werden. Egal warum wer machte, was er machte.“368 Mit aktuellen Traumatisierungen in Nahostkonflikt beschäftigt sich Zahava Solomon von der Tel Aviv University in Israel. Auch ihre Perspektive umfasst sowohl die Sicht der Täter als auch der Opfer. Solomon hat untersucht, dass die Motivation von Gewalt oft die Überwindung eigener Ängste ist. Eine weitere Untersuchung umfasste, wie Ehepartner das Leid von Traumatisierten spiegeln und inwiefern es zu einer horizontalen Traumaweitergabe kommt. Eine weitere Thematik ist, wie Grenzen in der Täter-Opfer-Beziehung verschwimmen und Kinder von Tätern oft zu Opfern gemacht werden: „Die Familien der Täter haben schlechte Karten. Sie werden für Sachen angeklagt, die ihre Eltern verbrochen haben. Sie tragen bis zum Lebensende das Kainsmal auf der Stirn und können nichts dagegen tun. Andererseits werden sie

366 Ebda. 367 Ebda. 368 Ebda. 121 zu sekundären Opfern ihrer Väter und Mütter, wenn die Täter in der Familie weiterwüten.“369

7.7.3. Die Täter Die fundierte Auseinandersetzung mit der Rolle der NS-Täter, ihrer Kinder und Enkel übersteigt die Möglichkeiten dieses Dissertationsprojektes, dennoch sollen kurz interessante Zugänge erläutert werden. Dass man sich mit den Tätern von Opferseite über Hass- und Rachegedanken hinausgehend auseinandersetzt, war für viele Opfer in drei Generationen keine Option. Als Hannah Arendt dem Kriegsverbrecherprozess gegen Adolf Eichmann als Berichterstatterin folgte, entstand daraus die Arendt These von der „Banalität des Bösen“. Eichmann entsprach in den Augen der jüdischen Wissenschaftlerin und Reporterin nicht dem Bild von dem massenmordenden Monster, das sie erwartet hatte. Der unscheinbare Mann konnte erklären, wie er zu solchen Taten fähig war. Der Psychoanalytiker Arno Gruen schrieb dazu: „Als Adolf Eichmann 1962 in Israel wegen der von ihm organisierten Judenvernichtung im Dritten Reich vor Gericht stand, leugnete er nicht, dass diese Massenvernichtung böse und grausam gewesen sei. Seine Beteiligung sah er jedoch nur als Pflichterfüllung eines gehorsamen Beamten. Verantwortung für sein Handeln übernahm er nicht. ‚Er habe seine Pflicht getan (…), er habe nur Befehlen gehorcht‘, schreibt Hannah Arendt (1963), ‚er beteuerte, sein Leben lang den Moralvorstellungen Kants gefolgt zu sein und vor allem im Sinne des Kantischem Pflichtbegriffes gehandelt zu haben (…) Und zu jedermanns Überraschung konnte Eichmann eine ziemlich genaue Definition des kategorischen Imperativs vortragen (…) Weiter erklärte er, daß er im Augenblick, als er mit den Maßnahmen zur ‚Endlösung‘ beauftragt wurde, aufgehört habe, nach Kantischen Prinzipien zu leben, er habe das gewußt und habe sich mit dem Gedanken getröstet, nicht mehr länger „Herr über mich selbst“ gewesen zu sein‘.“370 Ein gehorsamer Beamter, der sich bewusst war, dass seine Taten böse waren, hörte auf nach seinen eigenen moralischen Prinzipien zu leben und organisierte, ohne die persönliche Verantwortung dafür zu übernehmen, den Tod von Millionen von Juden. Eichmann wurde 1962 in Israel hingerichtet. Die Untersuchung des Psychologen und Psychotherapeuten Jürgen Müller-Hohagen zur Frage, wie sich Täterschaft auf Nachkommen auswirkt, sind erschreckend. Der Autor zeigt, dass NS-Täter im für sie geschützten Rahmen nach dem Krieg ihren gewalttätigen Neigungen im Umgang mit ihren Nachkommen auslebten. Diese Verbrecher machten ihre Kinder und Enkel zu Opfern: „Viele Täter und auf welche

369 Ebda. 370 Gruen, Arno (1997). Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. München: dtv, Seite 112 122

Weise immer Tatbeteiligte haben nach 1945 weitergemacht, weitergemacht dort, wo es gefahrlos ging, nämlich besonders im Schoß der Familie. Dies ist hinter Mauern von Tabus verborgen. Solche Täter und Täterinnen, Komplizen und Komplizinnen haben es heraus, sich durch Biederkeit, Wohlanständigkeit, Vorbildlichkeit und dergleichen nach außen und vor sich selber zu tarnen. Kinder waren ihnen ausgeliefert, wurden zu Sündenböcken, wurden seelisch, körperlich und sexuell misshandelt und missbraucht, wurden – und dies erst recht, wenn sie sich zu wehren versuchten – für verrückt erklärt und tödlich bedroht.“371 Diese von Müller-Hohagen beschriebene „(…) direkte(n) Übertragung zwischen politischer und familiärer Gewalt (…)“372 ist auch im Rahmen der Dreharbeiten zum filmischen Teil von einer, später im Dokumentarfilm „Schatten der Scham“ nicht berücksichtigten Interviewpartnerin, in Form von einfachen Erinnerungen an den Tag getreten. Die Interviewpartnerin war, wie sie nach dem Interview betonte, selber überrascht, dass sie von den sexuellen Übergriffen ihres NS-Großvaters, als sie ein Kind war, erzählte. Ihre Mutter, die wahrscheinlich ähnlichen Tortouren ausgesetzt war, schütze die eigene Tochter nicht, sondern ignorierte deren Leid. Auf diese unerwartete Erzählung wurde mit großer Betroffenheit seitens des Produktionsteams reagiert und es kam zu einer sofortigen emotionalen Solidarisierung zwischen den Opfern in zweiter und dritter Generation, die einen Nachkommen von NS-Opfern, die andere Enkelin eines NS-Gewalttäters. Dass die Tochter des NS-Gewalttäters nicht ihr Kind, sondern ihren Vater schützt, erklärt Müller-Hohagen wie folgt: „So tradiert sich Nazi-Gewalt weiter und wird geschützt durch todesangstbesetzte Loyalitäten der Kinder gegenüber ihren Eltern. Das führt öfter als man meint, zu unbewussten oder halbbewussten Komplizenschaft der Nachgeborenen, es nistet sich im Gewissen ein, in dem einerseits dunkle Schuldgefühle herumgeistern und sich zum anderen genau zu deren Abwehr Ressentiments aufbauen.“373 Weiters führt der Wissenschaftler Müller-Hohagen aus, dass sich die Weiterführung der NS-Gewalt nicht auf die eigene Familie beschränkte, sondern in tabuisierten Räumen, wie Gefängnissen und Heimen Platz greifen konnte: „(…) so etwas wie eine deutsche Unterwelt zu bestehen scheint, die allmählich ans Licht kommt, eine Unterwelt der Ausübung von Nazi-Gewalt in den Familien, aber auch in Heimen und anderen öffentlichen Institutionen, insbesondere dort, wo die Wahrnehmung von

371 Müller-Hohagen, Jürgen. Seelische Auswirkungen der NS-Zeit bei Nachkommen von Tätern und Mitläufern. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2016, Seite 153f. 372 Müller-Hohagen, Jürgen. Seelische Auswirkungen der NS-Zeit bei Nachkommen von Tätern und Mitläufern. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 154 373 Müller-Hohagen, Jürgen. Seelische Auswirkungen der NS-Zeit bei Nachkommen von Tätern und Mitläufern. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 157 123 außen eingeschränkt war oder ist„ und die Frage, die bislang nicht gestellt wurde, sei: (…) ob und wie viel von der gigantischen Nazi-Gewalt auf uns, wie auch immer, überkommen ist, wie wir damit umgehen, was wir davon eventuell weitertragen.“374

7.7.4. Vergebung als Heilung des NS-Traumas: Eva Mozes Kor „Das Vergeben ist ein Weg, sich von Schmerz, Trauma und Tragödie zu heilen“375, dass das eine Überlebende der medizinischen Versuche an Zwillingen des NS-Arztes Josef Mengele verlautete, sorgte für große Ablehnung in der Opfer-Community. Zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vergab die Jüdin allen Nazi-Tätern. Eva Mozes Kors Eltern und ihre zwei älteren Schwestern wurden in Auschwitz vergast, sie und ihre Zwillingsschwester Miriam überlebten das Konzentrationslager, wanderten nach Israel aus und gingen zur Armee. Eva Mozes Kor zog nach Amerika und heiratete den Holocaust-Überlebenden Michael Kor. In Terre Haute in Indiana gründete das NS-Opfer eine NGO, die „Children of Auschwitz-Nazi’s Deadly Lab Experiments Survivors“, kurz C.A.N.D.L.E.S Eva Mozes Kor machte die Überlebenden der sogenannten „Zwillings-Experimente“ ausfindig und versucht, den Horror für die Nachwelt nachvollziehbar zu dokumentieren. Aufsehen erregte die Holocaust-Überlebende jedoch mit ihrem Buch „Die Macht des Vergebens“376 und mit ihrem Auftritt beim Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning. Der NS-Kriegsverbrecher Gröning zeigte beim Prozess Reue. Als der damals 96- Jährige ehemalige sogenannte „Buchhalter von Auschwitz“ zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, ging Eva Mozes Kor zu ihm und dankte ihm dafür, dass er Zeugnis über Auschwitz abgelegt hätte. Er solle anderen Nationalsozialisten und an Schulen erklären, was die Nazis verbrochen hätten. Gröning, sichtlich gerührt von ihrer Geste, zog die Holocaust-Überlebende zu sich und küsste sie. Eva Mozes Kor fuhr darauf hin fort, ihn zu ermahnen gegen Rechtsextremismus aufzutreten. Die Geschichte der Versöhnung begann nach dem Tod ihrer Schwester Miriam, die wie Mozes Kor ein Leben lang an den Folgen der Mengele-Versuche litt. 1993 trifft Mozes Kor den Nazi-Arzt Hans Münch. Zu ihrer Überraschung gab er zu, Zeuge der Vergasungen in Auschwitz gewesen zu sein: „Er sah Berge von Menschen, die ihren letzten Atemzug taten. Die Stärksten lagen ganz oben, und als die Wächter sahen,

374 Müller-Hohagen, Jürgen. Seelische Auswirkungen der NS-Zeit bei Nachkommen von Tätern und Mitläufern. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 162 375 Mozes Kor, Eva (2016). Die Macht des Vergebens. Salzburg: Benvento, Klappentext 376 Vgl. Mozes Kor, Eva: I Survived The Holocaust Twin Experiments: https://www.youtube.com/watch?v=gdgPAetNY5U, 16.6.2018; Mozes Kor, Eva (2016). Die Macht des Vergebens. Salzburg: Benvento 124 dass sie sich nicht mehr bewegten, wussten sie ganz genau, dass alle tot waren."377 Münch, der durch einen Spion beobachtete, wie die Opfer vergast wurden, und schließlich die Nummern der Ermordeten dokumentierte378, wurde von Eva Mozes Kor aufgefordert mit ihr am 50. Jahrestag der Befreiung in Auschwitz ein Dokument zu unterzeichnen, das die Vergasungen bestätigen würde. Münch war einverstanden. „Ich sah darin die Möglichkeit, ein Dokument, unterzeichnet von einem NS- Auschwitz-Arzt zu bekommen, das ich den Holocaustleugnern vor die Nase halten konnte.“379 Dass Münch bereit war, die Vorgänge in den Gaskammern zu bestätigen, rief bei Mozes Kor Dankbarkeit hervor und nach zehnmonatiger Bedenkzeit kam bei ihr die Idee eines Vergebungsaktes hervor. Sie, die Holocaust-Überlebende, wollte dem Nazi-Arzt verzeihen. Die Emotionen, die sie im Zuge der Vergebungsgeste überkamen, veränderten ihr Leben. Sie erkannte die Macht, die Kraft der Vergebung. In ihrem 50-jährigen Opfer-Dasein hatte Mozes Kor nie das Gefühl, über ihr Leben bestimmen zu können. Die Möglichkeit der Vergebung eröffnete neue Möglichkeiten. Dann erkannte das Holocaust-Opfer, dass ihr Trauma nicht durch Münch, sondern durch Mengele verursacht wurde. Als das Holocaust-Opfer schließlich ihrem Peiniger Mengele vergab, fühlte sich Mozes Kor gestärkt: „Dass ich, das kleine Opfer über 50 Jahre, Macht über den Todesengel von Auschwitz hatte.“380 Anlässlich der 50- jährigen Befreiung von Auschwitz unterzeichnete Münch ein Schuldeinbekenntnis und Eva Mozes Kor eine Vergebungsurkunde. Eva Mozes Kor empfand dies als einen Befreiungsschlag: „Ich fühlte mich frei, frei von Auschwitz, frei von Mengele. Ich weiss, dass ich von den meisten Überlebenden verurteilt werde. Aber was ist meine Vergebung? Sie ist eine Tat der Selbstheilung, Befreiung und Ermächtigung. Alle Opfer auf der Welt sind hoffnungslos, hilflos und kraftlos. Ich möchte alle daran erinnern, dass wir nicht ändern können, was passiert ist. Das ist der tragische Teil, aber wir können verändern, wie wir dazu stehen.“381

7.7.5. „Wir wollen Recht, nicht Rache“: Nazi-Jäger, die durch Gerechtigkeit die Wunden der Opfer heilen wollen Dass Prozesse gegen ehemalige Nationalsozialisten überhaupt angestrengt wurden, ist Folge des Engagements von einzelnen Personen, wie etwa Simon Wiesenthal. Der Holocaust-Überlebende machte nach dem Krieg den NS-Kriegsverbrecher Adolf

377 „Die Auschwitz Überlebende, die den Enkel des KZ-kommandanten adoptiert hat“, Vice News, 20.1.2015 : https://www.vice.com/de_at/article/gq3543/die-auschwitz-ueberlebende-die-den- enkel-des-kz-kommandanten-adoptiert-hat-498, 16.6.2018 378 Mozes Kor, Eva (2016). Die Macht des Vergebens. Salzburg: Benvento, Seite 111ff. 379 Ebda. 380 Vgl. Mozes Kor, Eva (2016). Die Macht des Vergebens. Salzburg: Benvento, Seite 116; Mozes Kor, Eva: I Survived The Holocaust Twin Experiments: https://www.youtube.com/watch?v=gdgPAetNY5U/, 16.6.2018, Übersetzung durch die Autorin 381 Ebda. 125

Eichmann in Argentinien ausfindig und überstellte den sogenannten „Schlächter von Vilnus“, Franz Murer, der Justiz. Im Spielfilm „Murer – Anatomie eines Prozesses“, der auf dem österreichischen Filmfestival Diagonale 2018 preisgekrönt wurde, behandelt Regisseur Christian Frosch „einen der größten Justizskandale Österreichs“.382 Der steirische Großbauer Murer, der anhand der Beweislage in der damaligen sowjetischen Großstadt Vilnus für das Pogrom an der jüdischen Bevölkerung verantwortlich zeichnet, wurde von der Grazer Gerichtsbarkeit freigesprochen. Das filmische Kammerspiel in einem österreichischen Gerichtssaal kann gleichzeitig als Porträt der österreichischen Politik und des Zeitgeistes verstanden werden, das einzig und allein von intentionalem Verdrängen geprägt ist und auf Faktizität keinerlei Wert legt. Simon Wiesenthal gründete in Österreich den Vorläufer des heutigen Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI).383 1977 wurde jene Vereinigung mit Sitz in Los Angeles nach Simon Wiesenthal benannt, die es sich zum Auftrag gemacht hat, Nazi-Kriegsverbrecher der Justiz zu überstellen384. Weitere Zweigstellen in Paris, Toronto, Buenos Aires, Miami und New York wurden eröffnet. Der Leiter vom Simon Wiesenthal Zentrum in Jerusalem, der Historiker Efraim Zuroff, berichtet in einem Zeitungsinterview385, dass er in New York geboren wurde und als „Memory Candle“ für den im Holocaust ermordeten Onkel Efraim genannte wurde. Zuroff erinnert sich, dass die weltweite jüdische Community Schuldgefühle hegte, da sie die Europäische Judenschaft nicht hatte retten können. Dies verfestigte sich zur Intention, von Israel aus nach den flüchtigen NS-Verbrechern zu fahnden. „Eines Tages erhielten wir die Info, dass Josef Mengele, 1946 bei Wien von der US-Army festgenommen und wieder freigelassen wurde.“386 Der Historiker begann eine intensive Recherche und konnte offenlegen, wie es den Nazi-Verbrechern gelang, Deutschland und Österreich zu verlassen. Zuroff nennt sieben Gründe, warum auch heute noch die Nazi-Verbrecher zur Verantwortung gezogen und vor Gericht gestellt werden müssen: „1. Das Verfließen der Zeit macht die Schuld der Mörder nicht geringer. 2. Das Alter darf keinen Kriegsverbrecher schützen. 3. Wir schulden es den Opfern, ihre Mörder zu suchen. 4. Wer solche Verbrechen begeht, soll wissen, dass sogar Jahrzehnte

382 Diagonale: http://www.diagonale.at/eroeffnungsfilm18-murer-anatomie-eines-prozesses/, 16.6.2018 383 Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI): https://www.vwi.ac.at/, 16.6.2018 384 Wiesenthal.com: http://www.wiesenthal.com/site/pp.asp?c=lsKWLbPJLnF&b=6212365, 16.6.2018 385 „In Österreich Nazis zu jagen, ist sinnlos“, Kleine Zeitung, 28.4.2018: http://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5414399/Efraim-Zuroff-im-Interview_In- Oesterreich-Nazis-zu-jagen-ist-sinnlos 386 Ebda. 126 später nach ihnen gefahndet wird. 5. Weil es wichtig ist, um Leugnung und Verdrehung des Holocausts zu bekämpfen. 6. Man muss nicht Himmler sein, um als Nazi bestraft zu werden. Der Holocaust war nur möglich, weil es viele, kleine John Demjanjuks gab. 7. In den über 35 Jahren, die ich Nazis jage, bin ich keinem einzigen Verbrecher begegnet, der Reue zeigte.“387 Auch der im filmischen Teil des Dissertationsvorhabens unfreiwillig auftretende Polizeichef der Ustaša, Milivoj Ašner, der auf Einladung und mit dem Gutdünken des damaligen Kärntner Landeshauptmannes Jörg Haiders in Klagenfurt bis zu seinem Tod lebte, wurde von Zuroff ausfindig gemacht. Auf den Historiker wurde daraufhin in Kroatien ein Kopfgeld ausgesetzt. Zuroff ist der Überzeugung, dass Österreich noch immer nicht die Intention habe, die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten: „Dem Land fehlt der politische Wille, NS- Kriegsverbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Paradebeispiel ist die einstige KZ-Wärterin Erna Wallisch, die wir 2007 in Wien aufstöberten. Diese Frau hat in Majdanek Kinder in die Gaskammer geführt. Als ich mich mit Karin Gastinger, der damaligen Justizministerin, traf, eröffnete sie mir, Wallisch könne nicht verfolgt werden, weil passive Komplizenschaft bei Völkermord in Österreich nicht geahndet würde. Entschuldigen Sie, aber was für eine Scheiße ist das denn! Totaler Bullshit! Die Deutschen haben ihre Strafverfolgungspolitik längst geändert. Doch Österreich bleibt untätig. Dabei ist es voller Nazis. Doch in Österreich Kriegsverbrecher zu jagen, ist sinnlos, eine reine Zeitverschwendung! Sie landen sowieso nicht vor Gericht!“388 Als der Leiter des Wiesenthal Zentrums den Kriegsverbrecher Sándor Képiró, mitverantwortlich für das Pogrom an 1.200 Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma, Serbinnen und Serben in Novi Sad, in einer Budapester Wohnung ausfindig macht, überkommen ihn Rachegefühle: „Ich sagte zu mir: ‚Efraim, nichts wäre leichter, als ins Haus zu gehen, anzuklingeln und diesen Bastard zu töten‘. Da habe ich mich daran erinnert, was Simon Wiesenthal immer zu uns gesagt hat: ‚Wir wollen Recht nicht Rache‘. Und daran habe ich mich gehalten.“389 Licht in die Geschichte der in Österreich oder durch Österreicher begangene oder mitgetragene NS-Verbrechen zu bringen, ist in den letzten Jahren wissenschaftlichen Publikationen gelungen. 390 Gesellschaftliche Aufmerksamkeit generieren jedoch am häufigsten künstlerische Beiträge, die sich mit der NS-Vergangenheit und ihren Auswirkungen beschäftigen.

387 Ebda. 388 Ebda. 389 Ebda. 390 Steinacher, Gerald (2008). Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee kamen. Bozen: Studien Verlag; Elste, Alfred (1997). Kärntens braune Elite. Klagenfurt / Celovec: Mohorjeva / Hermagoras 127

7.8. Rolle der Kunst in der Erinnerungskultur Marianne Windsperger beruft sich auf Jan Assmann, wenn sie in ihrem Artikel „Generationen 3.0“ die Rolle der Kunst und des Films als neuer Vermittler von Erinnerungskultur bespricht. Da die Opfer in erster Generation zusehends verstummen, soll nun das digitale Gedächtnis, aufgenommene Oral-History-Projekte, Museen, Spielfilme und Dokumentationen die Menschheit an den Holocaust erinnern. Denn nach drei Generationen verblasst nach Assmann das kommunikative Gedächtnis und an Stelle dieser mündlichen Tradierung komme nun den Medien eine wichtige Rolle beim Erhalt dieser Erinnerungen zu. Die durch Kunst, Schule und spezielle Erziehung zum Thema der Shoah würden, gestützt von Film und Fotografie: „(…) Mediale Repräsentationen – Film und Literatur – sowie musealisierte und institutionalisierte Formen der Gedenkkultur nehmen dann eine wichtige Rolle in der Vermittlung und Wiedergabe von historischen Ereignissen ein (…).“391 Wie schon in Kapitel 6.1 ausgeführt war auch für Stuart Hall Kunst eine der besten Praktiken der Cultural Studies. Kunst erhebt und bearbeitet demzufolge, was vor sich geht und tut dies in einem prozesshaften, selbstreflexiven und interventionstischen Sinn. Im Rahmen der Erinnerung an die NS-Gewalt und ihre Folge ist die Kunst über weite Strecken im Benennen, dessen was war und dem Ausloten der Auswirkungen auf die Gegenwart, Vorreiterin.392

7.8.1. Sprachzertrümmerung: Das Benennen, dessen was war Der Kern dieses Dissertationsprojektes ist es, die Narration der Opfer in drei Generationen der Kärntner Sloweninnen und Slowenen, der Romnija und Roma sowie der Jüdinnen und Juden im sich im generationalen Wandel befindenden Erinnerungsdiskurs zu verdichten. Der Schriftsteller Peter Handke erklärt im filmischen Teil des Dissertationsprojektes: „Das ist Selbstbewusstsein, Rückgrat genug, dass man erzählt wie es war und dass man nicht verschweigt was war. Dass man um Gottes Willen keine Scham hat, keine Scham á la Franz Kafka. Die Scham ist schon was Gutes, aber wenn die Scham einen hindert, was zu erzählen, dann ist es nichts Gutes.“393 Auch die Wissenschaftler Kurt Grünberg und Friedrich Markert bestimmen Kunst als Sprachersatz: „Das Präsentative, das Nicht-Sprachliche kommt zum Beispiel in der

391 Windsperger, Marianne. Generationen 3.0: Narrative der dritten Generation. Eine Bestandsaufnahme. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 95; Vgl. Assmann, Jan (2007). Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 392 Vgl. Hipfl, Brigitte (2017). Cultural Studies. Legacies, Potentialities, and Challenges for Art Education. Journal of Research in Art Education. Vol 18-4, Seite 67 393 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 128

Musik, der Malerei oder der bildenden Kunst zum Ausdruck. Es ist, wie Susanne Langer ausführt, wie geschaffen (…) zu Erklärung des ‚Unsagbaren‘.“394 In den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten wurden den Menschen ihre Leben, ihre Würde und ihre Sprache geraubt. Der Entzug von Nahrung, Hygiene, die allgegenwärtige Gewalt und Verrohung führte bei den Häftlingen zur Aufgabe der Sprache, zur Aufgabe des subjektiven Fensters zur Welt. Primo Levi, Karl Stojka und andere beschrieben, dass diese Menschenhüllen in den Lagern als Muselmann- Häftlinge (Automatenkörper) bezeichnet wurden. Lily Brett schrieb ein Gedicht über diese Muselmänner in ihrem Gedichtband „Auschwitz Poems“:395

„Locker hielt sie der Tod umfangen, lies ihnen Luft zum Atmen. Sie gingen blindlings, sprachen nuschelnd. Wurden gemieden von jenen, die am Leben bleiben wollten.“

Der Primar des Psychosozialen Dienstes der jüdischen Gemeinde, Klaus Mihacek, über diese Menschen, die ihrer Sprachfähigkeit beraubt wurden: „In den Todeslagern gab es Menschen die eben im letzten Stadium ihrer psychischen und physischen Vernichtung standen, der einzige Instinkt war ein Selbsterhaltungstrieb, eben die Nahrungssuche, diese Menschen haben sich dann komplett von der Außenwelt abgeschottet, sich zurückgezogen, waren auch nicht erreichbar.“396 Mit der Aufgabe der Sprache schloss sich für die Häftlinge das Fenster zu Welt. Es kam zur Aufgabe des eigenen Subjekts, denn die Sprachwelt bringt in diesem Zusammenhang den Zugang zum sozialen Anderen und zur eigenen Geschichte. Auch bei jenen Opfern, die mehr Widerstandskraft an den Tag legen konnten, kam es vielfach zu einer inneren Narkotisierung, die eigenen Gefühle wurden unterdrückt, das ganze Denken und Sein auf das Überleben programmiert. Nach der Befreiung konnten die Opfer diesen Modus nicht einfach umstellen. Für das Leid konnten keine Worte gefunden werden, es entzog sich der Sprache und fand oft nur in Form von Albträumen seinen nonverbalen Ausdruck. Literatinnen und Literaten haben in der Geschichte gezeigt, dass Literatur aus Erinnerung Geschichte machen kann. Kunst kann Vergangenes, Traumata Einzelner

394 Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich. Todesmarsch und Grabeswanderung - Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 259 395 Vgl „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes; vgl. Brett, Lily (2001). Auschwitz-Poems. Wien: Zsolnay Verlag 396 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 129 als ein gesellschaftliches Phänomen verstehbar machen. Literatur, Musik und bildende Kunst können das einzelne Schicksal in einem Krieg sichtbar und nachempfindbar machen. Kunst kann Waffe im Kampf mit hegemonialen Strukturen sein und wird jedoch oft von gerade diesen als Propaganda missbraucht. Die Wahrnehmung, dass das Leid der NS-Opfer in drei Generationen bis heute noch immer keine ausreichende Berücksichtigung durch Politik und Gesellschaft fand, hat Künstler und Künstlerinnen aus den Reihen der Kärntner Sloweninnen und Slowenen, der Romnija und Roma sowie der Jüdinnen und Juden veranlasst, den Überlebenden künstlerische Denkmäler zu setzen. Viele haben sich mit den Ursachen und Folgen des NS-Leides befasst. Besonders beindruckend sind die künstlerischen Zeugnisse der Überlebenden der NS-Gewalt, die auch als Strategien der Bewältigung gesehen werden können.

7.8.2. Künstlerischer Umgang mit dem von den Nazis verursachten Leid der Kärntner Sloweninnen und Slowenen Den Kärntner Narrationen, die aus den Opfern des Nationalsozialismus, potenzielle, gefährliche (Partisanen-) Täter machen und machten, setzten Zeitzeugen, von Helena Kuhar bis Lipej Kolenik, mit ihren Autobiografien eine andere Perspektive entgegen. So haben etwa der Autor Florjan Lipuš, sein Sohn Marko Lipuš mit seiner fotografischen Kunst, Gustav Januš mit seiner Lyrik oder die Malerin Tanja Prušnik, mit künstlerischen, bildnerischen Installationen, den Mythos von der gefahrbringenden slowenischen Minderheit durch ihre Kunst in ein anderes Licht gerückt. Das Leid der Opfer wurde in Worten und Bildern von den Kindern und Enkel der Überlebenden der NS-Gewalt benannt und so ist es ihnen gelungen, Erinnerungsdiskurs in Kärnten / Koroška zu verändern. Hinsichtlich dessen stellt sich das Jahr 2011 als eine Art Wendepunkt dar, denn mit zwei Werken von Peter Handke (Bühnenstücke) und dem Buch von Maja Haderlap beginnt eine neu wahrgenommene Geschichtsnarration in Kärnten, die auch die Position der Opfer mitdenkt. Die Geschichte der slowenischen Volksgruppe sorgt national für einen neuen Diskurs und findet international oft erstmals Beachtung. Mit ihrem Roman „Engel des Vergessens“ legt Maja Haderlap, selbst Opfer dritter Generation, ein eindrucksvolles Zeugnis über das Leid der slowenischen Volksgruppen während und nach der Herrschaft der Nationalsozialisten ab. Mit treffenden Sprachbildern, die in der Zweisprachigkeit der Autorin wurzeln, nimmt Maja Haderlap die Leserin und den Leser mit auf eine Reise mitten in das Trauma und seiner Überlieferung von Kärntner slowenischen Opfern in drei Generationen. Hier ein von der Autorin in „Schatten der Scham“ gelesener Auszug aus dem Roman: „Vaters jahrelange Nervenkrisen wirken als stilles Gift, das uns Kindern Tröpfchen für Tröpfchen eingeflößt wird; wie er will, dass wir durch unsere Verstörung, seine

130

Verstörung ungeschehen machen; das Schaudern als Essenz des Lebens begreifen.“397 Haderlap ist mit „Engel des Vergessens“ Weltliteratur gelungen, die fest verankert im Dorf, alle Fesseln sprengt, um das Leid aller Unterdrückten auf dieser Welt erklärbar und nachvollziehbar macht. Maja Haderlap wurde für einen Auszug aus „Engel des Vergessens“ mit dem Bachmann-Preis 2011 ausgezeichnet. Der Roman hat den Erinnerungsdiskurs in Kärnten / Koroška nachhaltig verändert, hat Einfluss auf das Selbstverständnis der Opfer in drei Generationen genommen und hat die NS- Verfolgung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen in den internationalen Erinnerungsdiskurs eingereiht. Das Stück wurde auch im Wiener Akademietheater in einer dramatisierten Fassung aufgeführt. In einem nicht endend wollenden Blätterregen, oft heftig, oft wie in Zeitlupe, inszenierte der mittlerweile verstorbene und bedeutende Theaterregisseur Dimitri Gotscheff bei den Salzburger Festspielen auf der Perner-Insel in Hallein398 und am Wiener Burgtheater Peter Handkes Stück „Immer noch Sturm“. Das Stück behandelt die Kärntner slowenischen Wurzeln des Autors und ist eine Verneigung vor dem Leid seiner Familie und der Volksgruppe, der sie angehörten. Das Stück spricht den Opfern der Kärntner Sloweninnen und Slowenen aus der Seele und benennt, was von der Minderheit schon immer als durch Repression unterdrückte Wahrheit empfunden wurde. „Immer noch Sturm“ wird somit zur endgültigen Offenbarung des seelischen Leides und der Diskriminierungs- und Entrechtungsgeschichte der slowenischen Volksgruppe in Kärnten.

7.8.2.1. Die Hafner-Brüder Der eine Literaturbesessener auf allen Gebieten, der andere Drehbuchautor und Filmemacher: Fabjan Hafner und Stefan Hafner haben mit ihrer von Geist und Witz getragenen künstlerischen Arbeit den Ausdruck der Volksgruppe modernisiert. Die Opfer der zweiten Generation, haben grenzüberschreitend künstlerisch bestens vernetzt, einen neuen Typus des Kärntner slowenischen Künstlers verkörpert. Stefan Hafner ist mit seinem Dokumentarfilm „FAQ“399 gelungen, einen neuen fantasievollen Umgang, getragen von Kreativität und Witz, zu schaffen. In der Comicschiene des Filmes erhält er irrtümlicherweise ein Paket von Claudia Haider aus der gemeinsamen Heimatregion, das inhaltlich mehr Kärntner Rätsel löst als aufgibt. Der Film kann als Beispiel für die Möglichkeit einer Entkrampfung für die

397 Haderlap, Maja (2011). Engel des Vergessens. Göttingen: Wallenstein Verlag; Seite 166f.; vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes, vorgetragen von der Autorin 398 Premiere von „Immer noch Sturm“, 12.8.2011 399 Hafner, Stefan. Dokumentarfilm FAQ: http://dok.at/film/faq-frequently-asked-questions/, 16.6.2018 131

Volksgruppenangehörigen gesehen werden kann. In „F.A.Q. – Frequently Asked Questions“ begibt sich Hafner auf die Spur seiner Muttersprache und legt typische Kärntner Absurditäten frei. Der verfrühte Tod von Fabjan Hafner hat eine nicht zu schließende Lücke im intellektuellen Leben der slowenischen Volksgruppe in Kärnten / Koroška hinterlassen. Fabjan Hafner, als Universalgelehrter erinnerte in jedem Gespräch, mit seinen Wortspenden in drei Sprachen, an die übervolle Geistesgeschichte der Region zwischen Alpen und Adria. Hafner hat Literatur, am Schnittpunkt des Slawischen, Romanischen und Germanischen mit Hirn und Herz aufgesogen und konnte es bei Bedarf, versehen mit viel Witz, abrufen. Hafner war Literat, der sich mit der Vertreibung und Deportation der Volksgruppe lyrisch auseinandersetzte. Im Sammelband „DENK MAL: DEPORTATION“ erschien unter dem Titel „Prazni peroni/leere Bahnsteige“400 Hafners Lyrik zu diesem Thema. Ein Vers aus dem Gedicht:

Das Verschwinden der Verschleppung „Als Heimgekehrte kehren sie tags wie nachts von Trug und Trut bedrückt. Der erzielte Einklang gemahnt an das Kreisen der Sonne um die Erde. Übler als Tinitus: Vermeintliche Weltenharmonien ätherischer Sphärenklänge.“401

Fabjan Hafner war Übersetzer, dem es spielerisch gelang die Literatur einer Kultur in all ihren Facetten und Nuancen in eine andere zu übertragen. Die Opfer des Nationalsozialismus aus der Alpen-Adria-Region suchten das Gespräch mit ihm, da sie in ihm, dem Opfer in zweiter Generation, einen würdigen Träger ihrer Erinnerungen sahen. Seine Gabe als Übersetzer wird auch im Vergleich von dem slowenischen Gedicht „Zapustiti domovino, pustiti domovino, pustiti dom“ in die dialektale deutsche Form „Verlassen: die Heimat, lei lassn die Hamat, Valassn bin i, valass di auf mi.“ deutlich. Während Hafner im Slowenischen den Verlust der Heimat atmosphärisch düster, die Gefühlswelt der Deportierten transportierend anlegt, ist die deutsche Übersetzung eine in sich reimenden Versen verfasste Parodie auf den deutschnationalen Heimatbegriff. So wird aus „Naša mila mati domovina, vrnil se bom v tvoje naročje“ im Deutschen zu „Mein liebs Heimatland, magst du nicht ruhig sein? In deinen feuchten Schoß kehre ich stocksteif heim.“402

400 Zveza Slovenskih Izseljencev (2012). Valentin Oman/Karl Vouk. DENK MAL: DEPORTATION. 1942 – 2012. Klagenfurt/Celovec: Mohorjeva, Seite 35ff. 401 Ebda. 402 Ebda. 132

7.8.2.2. Das Theater „teatr trotamora“ Der Theaterregisseur Marjan Sticker ist seit Jahrzehnten mit Produktionen seiner Theatergruppe „teatr trotamora“ (auf Deutsch: der Albtraum) und dem Jugendensemble „Zora“ auf den Bühnen Südkärntens vertreten. Aus den Laienschauspielern sind im Laufe dieser Zeit Schauspieler gereift, die ihre Kollegen in den etablierten österreichischen Häusern oft mit ihrer unverfälschten Hingabe und ihrem Engagement in den Schatten stellen können. Sticker agiert im Rahmen der Kulturinitiative Rož403, die im Rosental angesiedelt ist und mit Kunst im öffentlichen Raum interveniert. Erinnerungs-Wanderschaften von Hof zu Hof, von denen die Volksgruppenangehörigen während der NS-Zeit deportiert wurden, verquickt der Theaterbesessene mit dem Schicksal aktuell Geflüchteter. Sticker hat in diesem Jahr, zum Gedenken an den Anschluss Österreichs, vor dem Pfarrhof in St. Jakob i. R. / Šentjakob v Rožu eine Herde von Schafen aus Stahl positioniert, die das Mitläufertum im Dorf, der Region und Land thematisieren und für Aufregung sorgen. Was die Arbeit Stickers auszeichnet und sie in eine Reihe mit den Werken von Maja Haderlap und Peter Handke setzt, ist die Fähigkeit, Leid, das im Regionalem zu versumpfen droht, in eine globale Perspektive zu setzen. Sticker hat sich für eine kategorische Zweisprachigkeit in seiner Arbeit entschieden und damit den Einsatz von Obertiteln zur Kunstform und wichtigem Bestandteil der Stücke erhoben. Ein besonderes Beispiel des in der Kunst- und Kulturszene Österreichs Verschwiegenen ist ein Kunstprojekt aus dem Jahr 2013, das aus der Zusammenarbeit mit dem Klagenfurter UNIKUM sowie der ÖBB entstanden ist. Bei diesem hat der Regisseur auf einer stillgelegten Route der Kärntner Bahn von Klagenfurt ins Rosental die globale Diskriminierungsgeschichte unter dem Titel „Raubzug / Vlak Strahu / Train of justice“404 mit seinen rund 200 Schauspielerinnen und Schauspieler und dem im Zug fahrenden Publikum inszeniert. Von Scheiben putzenden Flüchtlingen, einer Vergewaltigung im Zug, die infrage stellt, ob das Publikum eingreift oder nicht, Kunst von behinderten Menschen, befleißigt sich Sticker der Kraft von archaischen Bildern, wie etwa der auf einen Pferd heranstürmenden Künstlerin Ali Gaggl, auch dem Sog der Musik. Sticker setzt sich, begleitet von südstaatlichen Jazzklängen bis zu polyfonen Gesängen des widerständigen, feministischen Gesangstrios „Praprotnice“, auf seinem Roadtrip gegen Kapitalismus und für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit ein. Die Fahrt endet zu den live gespielten Klavierklängen von Konstantin Wecker. Am Weg dorthin flüsterten die Kinder der Jugendthatergruppe Zora dem wandernden Publikum ins Ohr: „Nosim upor v srcu! Ich trage den Widerstand im Herzen“. Sticker inszenierte im vergangenen Jahr 2017 eine Freiluft-Volksoper nach den Motiven der griechischen mythologischen Figur des Sisyfos im abgelegenen Dörfchen

403 Kulturinitiative Rož: http://www.roz.si/nc/novice/, 16.6.2018 404 Sticker Marjan/UNIKUM: Raubzug/vlak strahu/train of justice: http://www.unikum.ac.at/001_PROJEKTE_2013_FI/RAUBZUG_FI/0001_raubzug_index.html, 16.6.2018 133

Dordola im friulanischem Kanaltal / Kanalska dolina, jedoch ist das Theaterstück „Zala“, in der die Verfolgungsgeschichte der Kärntner Sloweninnen und Slowenen anhand der bedeutenden Volkslegende der Volksgruppe „Miklova Zala“ thematisiert wird, als sein Opus Magnus zu werten. Nach dem Drehbuch des Literaten und Behindertenaktivisten, Erwin Riess, brachte Sticker 2015 die „Loibl-Saga“405 auf die Bühne des Klagenfurter Ensembles. Das Stück bearbeitet die Recherche-Ergebnisse des Wissenschaftlers Peter Gesttner, der das ehemalige Konzentrationslager in den Karawanken zwischen Österreich und Slowenien ausfindig gemacht hatte. Marjan Sticker hat für den filmischen Teil des Dissertationsprojektes die Gestaltung der theatralen Umsetzung des Traumas von NS-Opfern in drei Generationen mit seinem Theater „trotamora“ übernommen.

7.8.2.3. Andrina Mračnikar Filmisch bearbeitet hat die Geschichte der NS-Zeit auch die Filmemacherin und Kärntner Slowenin, Andrina Mračnikar in einem auf dem Filmfest Diagonale prämierten experimentellen Kurz-Dokumentarfilm. Sprachgewaltig und mit brüchiger Stimme erzählt Mračnikar die Geschichte ihres Großonkels Andri, der vor den Nazis desertierte und von der Gestapo hingerichtet wurde. Marčnikar geht mit ihrer Handkamera der Frage nach, was zwischen dem Desertieren und der Hinrichtung passiert ist. Sie bezieht ihre emotionalen Reaktionen und ihre Biografie und damit die Sicht der dritten Opfergeneration in den Film „Andri“ mit ein: „Mit zwei Jahren habe ich schon von Hitler gehört und von den KZs erfahren. Ich weiß das mit Sicherheit, denn es gibt Kassettenaufnahmen auf denen ich Hitler, neben Schneewittchen und Jesus auch erwähne.“406

7.8.2.4. Die Krištof-Brüder Emil und Gregej Krištof, der zweite Philosoph und aktuell Vorsitzender des „Verbandes der slowenischen Vertriebenen / Zveza slovenskih izseljencev“, deren Vorsitz mit ihm, nach der langjährigen Präsidentschaft von Jože Partl, in die nächste Generation gegangen ist, analysieren im filmischen Teil des Dissertationsprojektes, warum die Kärntner Sloweninnen und Slowenen aufgehört haben, sich ihrer Muttersprache zu bedienen. Die Krištof-Brüder setzen in dieser Auseinandersetzung aufgrund von Ermangelung der Hoffnung in die Kärntner Politik auf einen humorvollen Umgang mit der Thematik. Emil Krištof feiert im Rahmen der

405 Sticker Marjan – Loibl-Saga: https://klagenfurterensemble.at/loibl-saga/, 16.6.2018 406 Andri – Dokumentarfilm von Andrina Mračnikar: https://www.youtube.com/watch?v=- uGQxLMK9tg, 16.6.2018; http://www.andrinamracnikar.com/html/film-andri.html, 16.6.2018 134 universitären Kultur- und Kunstinitiative UNIKUM mit seinem Kollegen Gerhard Pilgram seit 30 Jahren große Erfolge. Die Thematik der andauernden Diskriminierung der slowenischen Volksgruppe in Kärnten / Koroška begegnete das UNIKUM unter anderem mit dem „Kovček / der Koffer“, der angelehnt an die Idee des in Österreichs Schulen in den 1970ern als Lehrmittel verwendeten Sexkoffers, spielerisch, geistreich und demaskierend mit der Minderheitenthematik umgeht. Der Untertitel „Was sie schon immer über die Kärntner Slowenen wissen wollten / Kar ste že vedno hoteli vedeti o Koroških Slovencih“ verrät die Intention und ist Beispiel für eine positive Alternative im Umgang mit verhärteten Fronten.407

7.8.2.5. Valentin Oman und Karl Vouk Der bildende Künstler und Kärntner Slowene Valentin Oman ist ein politischer Mensch. Als ihn der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider aufforderte, Kärnten zu verlassen, erklärte Oman, dass er in Kärnten nicht mehr ausstellen würde. „Erniedrigend für die Volksgruppe und blamabel für die Kulturpolitik des Landes wertet Oman die kleinlichen Prozentrechnungen um die zweisprachigen Ortstafeln. Das Land solle sich doch endlich seiner Verantwortung stellen und nicht die wegassimilierte Volksgruppe in ‚faule Kompromisse‘ zwingen, bricht die widerständige Energie aus dem 75-jährigen Künstler. Oman schlägt vor, alle zweisprachigen Ortsnamen in Eisen zu gießen und sie so als immerwährendes Kulturgut der Region zu verewigen. Dieser kulturelle Akt sei im Interesse Kärntens.“408 Für den Verband der slowenischen Vertriebenen / Zveza slovenskih izseljencev hat Oman an dem Platz am Bahnhof Klagenfurt-Ebenthal / Celovec-Žrelec ein Mahnmal erschaffen. Von diesem Ort aus wurden die Kärntner slowenischen Familien nach Deutschland deportiert. Mit dem Kärntner Slowenen und Künstler Valentin Karl Vouk beschäftigte sich Oman mit dem Themenkomplex in Form des Projektes „DENK MAL:DEPORTATION! 1942- 2012“409, das im Klagenfurter Bergbaumuseum durchgeführt wurde. Die Künstler erklären den Raum, den sie gewählt hatten, im Standard-Interview folgend: „Wir haben uns im Vorfeld ernsthaft damit auseinandergesetzt, ob wir ihn überhaupt bespielen können. Die Stollen wurden auf Geheiß Hitlers von englischen Kriegsgefangenen gegraben, die Kapitulation Hitlerdeutschlands wurde von hier aus verkündet, und zuletzt wurde hier Jörg Haider verklärt. Meine Bilder sind ein visuelles Echo auf diesen historischen Topos. Ich zitiere bildnerisch aus den Schriften von

407 Krištof, Emil / Pilgram, Gerhard (2005). Kovček/der Koffer.Klagenfurt/Celovec: Drava 408„Der universelle Regionalist“, Der Standard, von Sabina Zwitter 18.8.2011: https://derstandard.at/1313024565353/Ausstellung-Der-universelle-Regionalist, 16.6.2018 409 Zveza Slovenskih Izseljencev (2012). Valentin Oman/Karl Vouk. DENK MAL: DEPORTATION. 1942- 2012. Klagenfurt/Celovec: Mohorjeva 135

Heimrad Becker, voll mit schauderhaften Aufzeichnungen der Gestapo. Der andere Blickwinkel zeigt Zitate aus Briefen meiner deportierten Verwandtschaft, die ihrer Heimat, ihrer Sprache und ihres Lebens beraubt wurden.“410 Valentin Oman erklärt sein Werk: „Ich habe zwischen meine Bildgestalten leere Leinwandflächen gehängt, die die Aura der Vergessenen vermitteln sollen. Das Mahnmal am Bahnhof in Ebenthal, dem gemeinsamen Ausgang der Vertreibung der Kärntner Slowenen, soll ein Symbol der Zertrümmerung der slowenischen Sprache sein.“411

7.8.3. Künstlerischer Umgang mit dem von den Nazis verursachten Leid der Romnija und Roma Die Familie Stojka, Lovara aus Wien, hat auf vielen Ebenen auf das Leid der Roma künstlerisch aufmerksam gemacht. Neben den Bilderzyklen von Karl Stojka stellen die Erinnerungen seines Bruders Mongo Stojka und seiner Schwester Ceija Stojka wichtige Elemente der Erinnerungsarbeit für das Volk der Roma dar. Ceija Stojka hat mit ihrer Literatur, Musik und ihren Bildern versöhnlich und lebensfroh im Umgang und widerständig auf die Unterdrückung der Roma bis heute aufmerksam gemacht.412 Für den Lovara-Clan tritt im filmischen Teil des Dissertationsprojektes der weltweit anerkannte Jazzgitarrist Harri Stojka auf. Stojka hat sich nach seiner Karriere als Jazzmusiker seiner Roma-Wurzeln besonnen und Produktionen diesem Thema gewidmet.

7.8.3.1. Sinti-Jazz Die Palette der Musiker, die die Welt mit dem sogenannten Sinti-Jazz bereicherten und bereichern, reicht von dem niederländischen Roma Django Reinhardt über die österreichischen Musiker Karl Ratzer und Zipflo Weinrich bis zur neuesten Entdeckung Diknu Schneeberger, Sohn von Joschi Schneeberger.

410 „Spezielle Kunst für einen speziellen Ort“, Der Standard, von Sabina Zwitter, 19.11.2012: https://derstandard.at/1353206650459/Spezielle-Kunst-fuer-einen-speziellen-Ort, 16.6.2018 411 Ebda. 412 „Ceija Stojka Ausstellung in Paris“, Salzburger Nachrichten, 28.2.2018: https://www.sn.at/kultur/allgemein/paris-wuerdigt-roma-kuenstlerin-ceija-stojka-mit-retrospektive- 24813769, 16.6.2018 136

7.8.3.2. Die jenische Autorin Simone Schönett: Ein Staat für die europäischen Roma Für die Jenischen hat die Autorin Simone Schönett in ihrem neuesten Roman „Andere Akkorde“413 die Idee eines eigenen Staates, allerdings ohne Land, für die europäischen Roma in den Raum gestellt. Schönett im ORF-Interview: „Mein Ansatz ist der, dass es zu einem friedlichen, passiven Widerstand kommt, oder auch zu einem sehr fröhlichen Aufstand, also wenn sich da 12 Millionen europäische Roma versammeln und einen eigenen Staat fordern, einen Staat ohne Land, dann erfolgt das vollkommen friedfertig. Und Roma sind in ganz Europa, die einzige Bevölkerungsgruppe, die noch nie Krieg geführt hat. Wozu auch, denn Krieg um die Grenzen braucht es nicht.“414 Während es in der Vergangenheit eher im Interesse der autochthonen Volksgruppen lag, sich um ihren rechtlichen Status, die staatliche Anerkennung als österreichische Volksgruppe zu bemühen und diesen Schutz nicht auszuhöhlen, läuft die Entwicklung nun in die gegenteilige Richtung. Die österreichischen Ungarn, deren Sprache und Kultur noch vor Kurzem vom Aussterben bedroht war, zählen heute 150.000 Mitglieder in Österreich. Dazu der Leiter des Dokumentationsarchives, Gerhard Baumgartner, der selbst Burgenländischer Ungar ist: „Dieser klassische Gegensatz hat sich aufgelöst, wo jetzt dieses fast schon vom Aussterben bedrohte Kulturleben der klassischen Vereine aus den 50er Jahren plötzlich durch diese Zuwanderung völlig neu belebt wurde und das kocht jetzt nicht mehr in diesem alten Saft der 50 Jahre. Sondern, wenn da getanzt wird, da wird neben dem ungarischen Volkstanz, moderner Jazztanz getanzt, oder eine Fusion davon. Da wird neben Volksmusik auch andere Musik gemacht. Und das machen dieselben Leute.“415 Auch bei den Romnija und Roma entwickelt sich eine rege Zusammenarbeit zwischen den autochthonen und zugewanderten Minderheitsangehörigen. Bei den Roma und Romnija ist das Gefühl, einem gemeinsamen Volk anzugehören, stark, wobei naturgemäß Konflikte zwischen den Gruppen zur Tagesordnung gehören. Die Journalistin und Roma-Expertin Gilda Nancy Horvath, die in Berlin im Rahmen einer europäischen Kunstdatenbank für Romnija und Roma mitgearbeitet hat, berichtet, dass es dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma unter Romani Rose gelungen ist, die Verbände unter ein Dach zu führen. Der Autor, Student und Journalist Samuel Mago wurde in Budapest geboren und ist einer der sprachgewaltigsten Vertreter der österreichischen Roma. Mago gelingt es, sowohl für die autochthonen als auch für die zugewanderten Romnija und Roma Stellung zu beziehen. Laut EU-Grundrechteagentur sind 80 Prozent der Roma von

413 Schönett, Simone (2018). Andere Akkorde. Klagenfurt / Celovec: Edition Meerauge 414 ORF-Heimat Fremde Heimat: Roma und Europa, 29.4.2018 415 ORF- Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Ungarn, 3.12.2017 137

Armut bedroht416, da ihnen verwehrt wird, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern, so Mago im Interview mit der ORF-Minderheitenredaktion417. In dem neuesten Buch „glücksmacher – e baxt romani“418 erzählen Samuel Mago und sein Bruder Károly Mágó über ihr Leben als Roma hier und jenseits der ungarischen Grenze, wo Magos Bruder lebt. Samuel Mago betont die Wichtigkeit von Bildung: „Mein Großvater hat drei Volksschulklassen absolviert, mein Vater war der erste in der Familie, der abgeschlossen hat - für mich und meine Generation war es klar, wir gehen auf die Uni, das war keine Frage und ich habe dann nach der Matura gleich angefangen zu studieren. Ich studiere jetzt gerade transkulturelle Kommunikation an der Uni Wien und es ist für mich klar, dass Roma die gleichen Chancen haben müssen, wie Nicht- Roma. Das ist realpolitisch nicht der Fall, aber ich glaube, dass es in meiner Generation sehr viele Roma gibt, in meiner Generation, die ihre Chancen nutzen, sofern sie sie haben und auf die Uni gehen und studieren.“419 Der Roma-Aktivist Samuel Mago richtet konkrete Forderungen an die österreichische Politik. Er ist überzeugt, dass gesellschaftliche Gleichberechtigung sowohl vom Staat als auch von der Gesellschaft forciert werden sollte. Den Roma solle endlich jene Stellung zuerkannt werden, die ihnen zusteht. Positive europäische Regelungen sollten auch von den Nationalstaaten implementiert werden. „Ich wünsche mir in jedem Fall die Anerkennung vom 2. August zum internationalen Roma-Gedenktag. Ich wünsche mir, dass Antiziganismus als Form von Rassismus anerkannt wird, wie es das EU-Parlament und da Council of Europe vor zwei Jahren getan hat. Ich wünsche mir, dass die Roma in die Politik mehr einbezogen werden und dass wir dieselben Chancen und Möglichkeiten haben am Arbeitsmarkt und in der Ausbildung.“420 Der Holocaust ist für alle Romnija und Roma eine Zäsur. Das Gedenken an den Völkermord und das Gefühl in allen europäischen Gesellschaften immer vorsichtig sein zu müssen, halte das europäische Volk der Roma zusammen: „Was alle Roma zusammenhält, ist die Diskriminierung gegen Roma in ganz Europa, die Verfolgungsgeschichte und die Geschichte prinzipiell. Es gibt so eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl, das man in der Gruppe ‚Romani Pen‘ betitelt. Man weiß, man gehört zu dieser Gruppe und man fühlt sich zugehörig, egal aus welcher Ecke Europas man stammt. Natürlich fühlt man sich auch dem eigenen Land zugehörig.“421 Mago erklärt den Identitätsstrang, der die Gruppe vereint, obwohl natürlich jede Romni und jeder Roma auch Spanier, Ungarin oder eben Österreicher sei.

416 EU-Grundrechteagentur, 6.4.2018: https://www.euractiv.de/section/soziales-europa/news/eu- grundrechteagentur-beklagt-situation-der-roma/, 16.6.2018 417 ORF-Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Roma, 8.4.2018 418 Mago, Samuel / Mágó, Károly (2017). „glücksmacher – e baxt Romani“. Wien: edition exil 419 ORF- Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Roma, 8.4.2018 420 Ebda. 421 Ebda. 138

7.8.3.3. Sandra und Simonida Selimović: Gorki Theater mit der Idee für eine Roma- Armee Sandra Selimović, die im filmischen Teil des Dissertationsprojektes für die dritte Opfergeneration bei den Roma steht und deren Vorfahren aus Serbien stammen, hatte mit ihrer Schwester eine für Aufsehen sorgende Idee. Sie konzipierten ein Stück über eine europäische Roma-Armee. Das Stück wurde vom Maxim Gorki Theater in Berlin unter der Regie der Wiener jüdischen Regisseurin Yael Ronen aufgeführt.422 Im Interview mit dem ORF zur Entstehungsgeschichte erklärt Sandra Selimović: „Die Idee ist aus dem für die Wien-Wochen konzipierten Rebellodrom entstanden. Da ging es um Aufstand und Rebellion. Unsere Gedanken kreisten um die Idee, dass wir aus dieser stigmatisierten Opferrolle herauswollen, selber einmal gefährlich sein wollen und ernst genommen werden wollen. Wir wollen jetzt aber nicht unbedingt mit Gewalt, sondern mit Kunst, Hip-Hop und Rap-Texten öffentlich einschreiten.“423 Die Schauspielerin Simonida Selimović erklärt, dass die Roma an und für sich friedvoller sind als andere Völker in der europäischen Geschichte: „Die Roma haben ja nie einen Krieg jemals angestiftet oder waren jemals daran beteiligt. Nur in den jeweiligen Ländern, wo sie gelebt haben, mussten sie für die anderen kämpfen. Das war so die Idee, wie kann das aussehen, wenn sich Frauen, Männer, alle Roma sich zusammensetzen, die Lovara, die Sinti, die Jenischen, die Romani Traveller zusammensetzen und ein gemeinsames Ding starten unter dem Motto: Wir haben genug von dieser Repression, dieser Diskriminierung, dieser Gewalt, die uns die ganze Zeit passiert. Wir sind eine starke, große Gemeinschaft und das ist uns gelungen, mit diesem Projekt zu zeigen.“424 Romnija und Roma geben ihre Sprache und Kultur mündlich weiter. Die daraus resultierende Schutzsprache und Traditionen sollten über Jahrhunderte die Roma von der immer gegenwärtigen Aggression von außerhalb der Gruppe schützen. So haben einzelne Sinti- und Roma-Gruppen ihre eigene Gesetzgebung, mit Richtern aus den eigenen Reihen entwickelt. Handelte in der Vergangenheit ein Mitglied der Gruppe gegen diese Gruppenregeln, drohte ihm oder ihr in letzter Konsequenz der Ausschluss aus der Gruppe, wie der Sinti-Vertreter Hugo Taubmann und seine Familie der Autorin für einen Beitrag im ORF anvertraute. Es war nicht staatlicher oder gesellschaftlicher Schutz, sondern der Zusammenhalt in der Gruppe, der die Roma auch in schwersten Zeiten der Verfolgung überleben ließ. In diesem Zusammenhang kam es auch zu einer gewissen Stereotypisierung dessen was ein Roma sein soll und was er nicht sein darf. Sandra Selimović erklärt in diesem Zusammenhang, dass das Stück im Gorki Theater auch kritisch die starren, homophoben Haltungen in den Reihen der Roma anprangert: „Da geht es auch darum, Dinge aufzudecken, die auch

422 Ebda; Roma-Armee Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=_UDJDLZJ8Uc, 16.6.2018 423 ORF- Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Roma, 8.4.2018 424 Ebda. 139 in unserer Community unter den Teppich gekehrt werden, denn ‚Roma are not gay‘ und wir provozieren, denn wir spielen uns mit ausgesprochenen Queer-Bildern.“425 Simonida Selimović geht es um das Erzählen. Das Verschwiegene soll durch Theater an das Tageslicht treten und zu einem öffentlichen Diskurs führen: „Es geht um Aufdeckung auch, um Geschichte, die passiert ist. Es wird gezeigt, warum die Roma noch immer nicht dort sind, wo die Mehrheitsgesellschaft ist. Dass es z.B. 500 Jahre in Rumänien eine Sklaverei gab, weiß heute keiner. Warum Roma, Roma genannt werden wollen und dass wir nicht dem Stereotyp vom klassischen Roma entsprechen, denn die Schauspieler, allesamt Roma aus Schweden, aus Albanien, aus Rumänien, aus Serbien, aus England sind blond, klein, groß, dick und lang.“426 Aus Indien stammend und seit jeher in Europa unterwegs seien die Roma das europäischste aller Länder. Eben dieses Europa sei jedoch zu einer Festung verkommen, in der die Roma ihre Lebensweise, die ihnen von den Mehrheitsgesellschaften aufgezwungen würde, nicht leben dürften. Sie werden verfolgt, verbrannt und diskriminiert. Europa sei heute, sind sich die Schwestern überzeugt, ein Konstrukt, dass nur die Reichen bevorzuge. Simonida Selimović: „Wenn wir nur eine Stunde fahren und in die Slowakei schauen, wo die Leute kein Haus haben, auf der Straße leben, betteln. Und auch bei uns, wenn wir auf den Straßen schauen, wer bettelt, dann sind das die Leute, die keine Möglichkeit bekommen haben und die meisten sind Roma.“427

7.8.4. Künstlerischer Umgang mit dem von den Nazis verursachten Leid der Jüdinnen und Juden Der künstlerische Umgang mit dem Leiden der jüdischen Opfer in drei Generationen kann nur am Rande mit einigen Beispielen gestreift werden, da es eine Vielzahl an künstlerischem Ausdruck gibt und dieser auch gut dokumentiert ist. In diesem Dokumentationsprojekt sollen zwei Arbeiten von Nachkommen von NS-Opfern kurz vorgestellt werden: das Theaterprojekt „Die letzten Zeugen“ des Schriftstellers Doron Rabinovici und die Installation im öffentlichen Raum „Missing image“ der Künstlerin und Filmemacherin Ruth Beckermann. Weiters wird auf die Arbeit der Autorin Lily Brett aus New York, die sich als eine der ersten mit der sogenannten zweiten Generation beschäftigt hat, eingegangen und das Werk des Künstlers André Heller angesprochen. Lily Brett und André Heller sind auch wichtige Interviewpartner im filmischen Teil dieses Dissertationsprojektes. Doron Rabinovici lud 2013 neben seiner Mutter weitere NS-Überlebende, nämlich Vilma Neuwirth, Marko Feingold, Lucia Heilman, Rudi Gelbard und Ari Rath, auf die

425 Ebda. 426 Ebda. 427 Ebda. 140

Bühne des Burgtheaters. Dabei lasen Burgschauspieler aus den Erinnerungen der auf der Bühne vor riesigen Projektionen sitzenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Am Ende des Theaterabends sprachen die Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller des historischen Dramas zum Publikum. In diesem Zusammenhang ist es der Rahmen, das Burgtheater, das der Veranstaltung besonderes Gewicht verleiht. Sie wolle immer im Heute und im Jetzt intervenieren, auch wenn sie sich in ihren Arbeiten mit dem Holocaust und der NS-Zeit auseinandersetzte. Mit ihrer Installation „Missing image“ setzt sich Ruth Beckermann mit der Reichspogromnacht auseinander. Sie stört seit jeher das Hrdlicka-Denkmal, das einen auf den Knien liegenden Juden hinter dem Wiener Opernhaus zeigt: „Also in Wien mussten die Juden, das war ja eine Wiener Spezialität nach dieser Volksabstimmung, die Straßen reiben, zum Teil mit Zahnbürsten. Und dieser Jude, den der Hrdlicka da in Bronze abbildet, ist dabei den Boden zu reiben. Ich habe damals schon gesagt: Es fehlen die Zuschauer, es fehlen die Täter, es fehlen die Mitläufer, es fehlen die Lachenden! Dann sah ich diesen Clip im Filmarchiv und da wusste ich sofort, was ich damit machen will. Nämlich genau diese Situation ergänzen. Wir haben diesen Clip bearbeitet und die Gesichter herausgeholt, die grinsen und sich freuen und die Hakenkreuzbinde, die damals jemand schon am Arm trägt. Wir haben diese ganze Situation geloopt und am Albertinaplatz auf zwei großen Screens abgespielt.“428 Die Bücher der australisch-amerikanischen Schriftstellerin Lily Brett füllen Regale. In jedem ihrer Bücher spielt jedoch ihre Herkunft als Kind von zwei Auschwitz- Überlebenden eine Rolle. Lily Brett, die wie sie erzählt, in Auschwitz gezeugt wurde, war eine der ersten, die die Auswirkungen des Traumas der auf das konkrete Leben der zweiten Generation beschrieben hat. In ihren Romanen „Von Mexiko nach Polen“, „Ein unmögliches Angebot“, „Zu sehen“, „Lola Bensky“, „Chuzpe“, um nur einige aufzuzählen, ermöglicht die Schriftstellerin den Leserinnen und Leser die Innenschau durch eine den Holocaust geschwächten Persönlichkeit. Mit ihrem Ehemann David Rankin ist die Autorin immer wieder in Österreich zu Gast. Für den filmischen Teil des Dissertationsprojektes haben wir die Autorin jedoch in ihrem New Yorker Loft getroffen, wo die ehemalige Rolling-Stone-Journalistin erzählt, welchen Einfluss das transgenerationale NS-Trauma auf ihre Jugend und ihre Arbeit hatte: „Da war ich nun, durchs Universum schwebend, mit falschen Wimpern oben und unten und ins Gesicht gemalten Bilder, denn es war die Zeit von Flower Power, Love und Peace. Und ich interviewte all diese Leute. Da waren: Jimi Hendrix, den ich einige Male traf. Janis Joplin, die mich wirklich bewegte. Ich wusste, dass sie in Schwierigkeiten war. Cher, Mick Jagger. Selbstzerstörung lag in der Luft, was damals niemand wirklich verstand. Ich war umgeben von Tod, denn da waren so viele Menschen, die in den Tod rasten. Und ich kam aus einem Milieu umgeben vom

428 ORF- Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoa, 5.11.2017 141

Gedenken an so viele Tote, ich fühlte mich immer von Toten umgeben. Ich spürte ihre Präsenz. Das ist bis heute so. Ich fühle, da gibt es nicht nur mich.“429 Der Künstler André Heller wurde vom österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen gebeten, anlässlich der Erinnerung zum 80. Jahrestag des Anschlusses am 12. März 1938 eine Gedenkrede zu halten.430 André Heller hat, wie er immer wieder betont, seine Haltung geändert. Aus dem Selbstgerechten wurde ein Künstler, der, zwar mit allen Regeln des Spieles bestens vertraut, ein Versöhner ist. An diesem Tag in der Hofburg erzählt Heller, was war und erinnert sich an seine Familiengeschichte: „Es war das Fräulein Kralicek, das einen Akt des Widerstands versuchte. Als am Morgen des 12. März 1938 brüllende Nazi-Schergen an der Tür Sturm läuteten, um ‚den Jud Stephan Heller‘ zum Straßenputzen mit der Zahnbürste zu verschleppen und Ehefrau Elisabeth ihres Schmucks zu berauben, hielt die Haushälterin entgegen ‚Die Herrschaften empfangen nur nach Voranmeldung‘."431 Heller schafft es wie kein zweiter spielerisch in seinen Statements privates mit Politischem zu verknüpfen und seinen Zuhörerinnen und Zuhörern zu vermitteln, in welchem gesellschaftlichen, geschichtlichen und kulturellen Rahmen die NS- Verbrechen passiert sind. Was bleibt, ist der Grundgedanke, dass die Bewältigung der gemeinsamen Erbschuld vielmehr eine gemeinsame Verantwortung ist. Nicht Rache fordernd, sondern in gigantischen Projekten neues, getragen von Fantasie, Solidarität und Traumhaften schaffend, will Heller auf das Leben und Denken der Menschen Einfluss nehmen, damit ein solches Verbrechen nicht wieder geschehen möge.

7.8.5 Die „Global Souls“: Solidarität der Künstler Ilija Trojanow und Konstantin Wecker mit heute Verfolgten Die künstlerische Anwaltschaft für die Opfer der Nationalsozialisten in drei Generationen und das Benennen der NS-Verbrechen und ihre Folgen beschränkt sich nicht auf die Nachkommen der von Nazis verfolgten Gruppen. Die „Global Soul“432 Ilija Trojanow vereint in sich ethnische Diversität und führt diese in sich, seine Arbeit und seinem Engagement zusammen. Die Verwurzelung in der bulgarischen, ostafrikanischen, indischen, deutschsprachigen Kultur, um nur einige zu nennen, ermöglicht ihm eine globale Perspektive, die für die Selbstbestimmung jedes Menschenbürgers und jeder Menschenbürgerin sowie die freiheitlichen

429 Vgl. „Schatten der Scham“ - filmischer Teil des Dissertationsprojektes 430 André Heller Gedenkrede, 12.3.2018: http://www.bundespraesident.at/fileadmin/user_upload/Gedenkrede_Andre_Heller.pdf, 16.6.2018; https://www.youtube.com/watch?v=rL7k2XzJxcA, 16.6.2018 431 Ebda. 432 Vgl. Hipfl, Brigitte. Medien-Identitäten: Identifikationen, Imaginationen, Phantasien. In: Busch, Brigitta / Hipfl, Brigitte / Robins, Kevin (2001). Bewegte Identitäten. Klagenfurt / Celovec: Drava, Seite 48f. 142

Zugänge bei der Wahl von ethnischen Zugehörigkeiten und Wohnorten vehement eintritt. „Es gibt eine Art Geburtslotterie, das heißt die Leute, die sich einbilden, sie sind so unheimlich fleißig und toll, weil sie Österreicher sind, liegen falsch. Wenn die gleichen Menschen im Kongo aufgewachsen wären, hätten sie gesehen, wie unheimlich schwierig das ist. Von Karriere und Wohlstand überhaupt zu schweigen, überhaupt über die Runden zu kommen, darum geht es dort“433, meint der Schriftsteller Ilija Trojanow im Interview mit der ORF-Minderheitenredaktion. Trojanow tritt für ein anarchistisches Weltbild ein, das von jedem und jeder eine kritische Haltung und Widerstand als Selbstverständlichkeit einfordert: „Die Leute denken immer, Widerstand ist etwas Extremes. Man wartet darauf, dass es ein großes Maß an Repression gibt und dann soll man widerständisch sein. Nein, wir müssen alle miteinander widerständisch leben, das muss unsere Grundhaltung sein und wir müssen all diese Missstände zur Verantwortung ziehen, diese Menschen zur Verantwortung oder Rechenschaft bitten oder zwingen.“434 Für Trojanow ist die Freiheit eine Grundvoraussetzung für Konvivialität435, also ein gutes Leben für alle: „Es gibt diesen wunderbaren Satz von Erich Mühsam: Solange noch ein Mensch in Unfreiheit lebt, gibt es keine Freiheit auf Erden. Das wäre mein Einwand gegen die Vorstellung, die viele Menschen von Minderheitenrechten haben, die Betroffenen sollen dafür kämpfen. Nein wir müssen alle dafür sorgen, dass es so etwas wie Minderheiten gar nicht gibt. Dass das nicht institutionalisierte Differenz, sondern Vielfalt von menschlicher Wandlung und Sehnsüchte ist.“436 Für jene Gesellschaften, die die Geburtslotterie auf die Butterseite gespült habe, gäbe es nun die große Herausforderung, zu teilen, meint Trojanow: „Privilegien zu verlieren ist unheimlich schwierig psychologisch, das heißt, auch ein Großteil dieses Rechtsrucks in Nordamerika und Europa hat natürlich damit zu tun, dass die Leute ihre Felle davonschwimmen sehen. Das ist immer sehr unangenehm, weil das Problem mit dem Privileg ist es, man weiß tief drinnen, dass man es nicht verdient hat, dass man es sich nicht erarbeitet hat, dass es nicht fair ist, aber man hat sich daran gewöhnt.“437 Konstantin Wecker ist, wie der weiter oben besprochene Künstler Gottfried Helnwein, ein Künstler, der sich gegen seine ethnische Herkunftsgruppe richtet und diese infrage stellt. Wecker ist Sprachrohr einer neuen deutschsprachigen Künstlergeneration geworden, die sich gegen die kapitalistische Marktwirtschaft, gegen Neoliberalismus und die daraus resultierende, verarmte und unter Repression leidende Bevölkerung in allen globalen gesellschaftlichen Systemen einsetzt. Wecker galt dabei als überaus glaubwürdig, da er in seiner Kunst, gesellschaftliche

433 ORF- Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Ilija Trojanow, 25.3.2018 434 Ebda. 435 Konvivalistisches Manifest: http://www.diekonvivialisten.de/manifest.htm, 16.6.2018 436 ORF- Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Ilija Trojanow, 25.3.2018 437 Ebda. 143

Mechanismen, die zum Holocaust führten, offenlegte, und gegen das Mitläufertum ansang. Für den Künstler ist das Zusammenspiel von Wissenschaft, Kunst und Politik ein entscheidendes Instrument, von dem er immer in Form von Zusammenarbeit, oder Auseinandersetzung mit Wissenschaftlern und Politikern wieder Gebrauch macht. Am Wiener Heldenplatz erhob der deutsche Liedermacher und die antifaschistische Ikone Konstantin Wecker für jene, vor denen sich die westlichen Gesellschaften fürchten, nämlich die Flüchtlinge, seine Stimme und formuliert in einem Lied seinen Traum: „Ich habe einen Traum. Wir öffnen die Grenzen und lassen herein. Alle, die fliehen vor Hunger und Mord und wir lassen keinen allein. Wir nehmen sie auf in unserem Haus, sie essen von unserem Brot und wir singen und sie erzählen von sich und wir teilen gemeinsam die Not.“438 Konstantin Wecker beschrieb mit seinem Lied „Willy“ aus 1977, seine emotionalen Reaktionen und Gedanken, gerichtet an seinen von Rechtsradikalen erschlagen Freund. Hier Auszüge aus dem im bayrischen Dialekt gesungenen Lied, ein Abbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft und ihrer Gespaltenheit: „Und an den anderen Tisch da summen sie mit, einer nach dem anderen. Genauso selig und glücklich lächelnd, so etwas vom Horst Wesel und ich schau zu dir rüber und plötzlich springst auf und plärrst: Halt´s Maul Faschist! (…) ‚Willi‘, sage ich – ‚du riechst es doch selber‘. Das kann doch nicht gut gehen, da muss doch was passieren. Du plärrst mich an: ‚Freiheit, Wecker, Freiheit das heißt, keine Angst haben vor nix und niemandem‘. Dann steht einer auf am hinteren Tisch. (...) Und dann schlägt er zu! ‚Willi, Willi, du dummer Hund, du dummer, wir hätten dich doch so braucht, wir brauchen jemanden, wie du es bist!‘ Gestern haben´s den Willi erschlagen. Und heute, heute wird er begraben.“439 Konstantin Wecker war Aushängeschild der 68er-Bewegung und hat für sich einen Weg gefunden, der die Konflikte der Welt lösen soll. Wecker im Heimat Fremde Heimat-Interview: „Fundamentalismus ist immer Scheiße! Also wie gehen wir um damit? Durch Zärtlichkeit. Ich habe mich zu Pazifismus entschieden und ich habe mich für den gewaltlosen Widerstand entschieden, weil ich der Meinung bin, nur die Gewaltlosigkeit kann uns aus diesem Dilemma retten.“440 1996 tourt der Liedermacher mit einem Chor aus Kamerun durch Deutschland und in einem ostdeutschen Jugendzentrum trafen sie auf Neonazis. Wecker erinnert sich: „Und da stand ich da mit zwei Kamerunern in der Tracht und die Neonazis uns gegenüber. Ich sagte zum Neonazi: ‚Würdest du einen dieser Sänger in den Arm nehmen?‘ Der hat sich geekelt. Einen Schwarzen in den Arm nehmen, das kam nicht infrage. Dann bin ich auf den 16-jährigen Buben los und habe ihn einfach umarmt und eine Minute nicht losgelassen. Dann war Schweigen. Dann sagt der Bub diesen legendären Satz zu mir: ‚Das hat noch nie jemand im Leben mit mir gemacht.‘ Drei Tage später ist er

438 ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Konstantin Wecker, 28.2.2016 439 Ebda. 440 Ebda. 144 ausgestiegen. Der war dann Praktikant bei uns und schaffte es aus der Naziszene auszusteigen. Das geht natürlich nur mit einem 16-Jährigen, mit Herrn Bachmann oder so wird das nicht funktionieren, obwohl ich das auch gerne machen würde. Wenn eine Umarmung das bewirken kann, dann würde ich die ganze Welt umarmen.“441 Das Beispiel eines konvertierten Neonazis scheint einer der einzigen Lösungsansätze zur Befriedung von ethischen Konflikten zu sein. Dass Wandlung einer Haltung die andere ausschließt und sie auslöschen möchte, ändert sich nicht durch Wegsehen und meistens auch nicht im Kerker. Man müsse noch früher ansetzen und die Kinder aufrufen, in die Welt zu vertrauen und trotzdem jeden und alles lustvoll zu hinterfragen: „Den Gehorsam verweigern ist das, was man Kindern als Erstes beibringen muss. Warum das so wenige Eltern tun, ist, weil man da auch die eigene Autorität infrage stellt. Also ich muss damit riskieren, dass sie auch mir den Gehorsam verweigern.“442 Wecker findet sich in diesem Zusammenhang in den Lehren des 1936 in die USA emigrierten Psychoanalytikers Arno Gruen. Dessen Arbeiten von „Wider die kalte Vernunft“, „Wider den Gehorsam“, „Der Fremde in uns“443 setzen auf die Ideen der Empathie und Kooperation und ruft die Kultur der Menschlichkeit aus, die von frühen Kindesbeinen an, einen neuen, liebevollen Umgang mit sich und anderen fördern soll. Wecker beschwört in diesem Zusammenhang in einem Lied die Kraft des stillen, aufrichtigen Menschen, der täglich das Menschliche lebt und sich bewusst ist, dass alle Menschen zusammengehören: „Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind, es gibt so viele, denen das Leben ganz leise viel echter gelingt. Die stehen nicht auf Bühnen, füllen keine Feuilletons, die kämpfen auf schwereren Plätzen, ja die müssen z.B. in Großraumbüros sich der Unmenschlichkeit widersetzen.“444

7.9. Der dritte Raum: Das Projekt „Zila Revival“ Wie ist es möglich aus Situationen der Stigmatisierung, Diskriminierung, Sprachzertrümmerung Kraft zu schöpfen. Bukow und in Folge Wakounig445 haben mit den Ethnisierungs- und Reethnisierungsprozessen gezeigt, dass Minderheiten das Stigma, das zu ihrer Erniedrigung führen sollte, in ihre eigene Identitätsmarkierung transformieren können. Doch bleiben diese Versuche in hegemonialen Strukturen nur im Moment für die Minderheit erfolgreich. In einer Situation, in der Menschen

441 Ebda. 442 Ebda. 443 Vgl. Gruen, Arno (2014). Wider den Gehorsam. Stuttgart: Klett-Cotta; Gruen, Arno (2016). Wider die kalte Vernunft. Stuttgart: Klett-Cotta; Gruen, Arno (2000). Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett- Cotta 444 ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Konstantin Wecker, 28.2.2016 445 Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich (1996). Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Budrich; Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen-Adria- Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift 145 den Gebrauch ihrer Muttersprache und damit diese Schicht ihrer ethnischen Identitätsummantelung ablegen, ist es notwendig, neue Räume zu schaffen, in denen Neues möglich wird: „Transtopien sind Orte des Übergangs, an denen marginalisierte Akteure und Wissensarten ins Zentrum der Betrachtung rücken, privilegiert zum Teil auch kultiviert werden. Orte, an denen herrschende Normen infrage gestellt und eine andere urbane Selbstverständlichkeit erzeugt wird.“446 Der Migrationsforscher, Erol Yildiz, hat in Referenz auf den indischen Postkolonialismustheoretiker Homi Bhaba die Idee der Transtopien für das Ermöglichen von migrantischen Freiräumen im urbanen Umfeld geschaffen. Wie sich schon bei Wakounig zeigt, der den Labeling Approach und die Ethnisierungstheorie Bukows auf die slowenische Volksgruppe in Kärnten / Koroška umgelegt und weiterentwickelt hat, gelten die Theorien des postmigrantischen Diskurses in großem Ausmaß auch für Österreichs autochthone Volksgruppen und sollten in deren wissenschaftlicher Behandlung mitgedacht werden. Das urbane Umfeld muss im Fall der Minderheit in dörflicher Umgebungen transponiert werden. So eine Transtopie, ein dritter Raum, ist auch die Vision einer Gruppe von Aktivistinnen447 aus dem Gailtal / Zila. Durch die seit zumindest einem Jahrhundert anhaltende, hegemonial gesteuerte Hierarchisierung der Kärntner Landessprachen, indem das Slowenische zur Haus- und Hofsprache degradiert wurde, die Deportation slowenischer Familien im Gailtal / Zila während des NS-Regimes und der auch danach anhaltende Assimilationsdruck auf die slowenische Minderheit in Kärnten / Koroška führten dazu, dass nur mehr eine Handvoll Kinder im gesamten Tal noch der slowenischen Sprache mächtig sind.448 Diese Erkenntnis hat Aktivistinnen und Aktivisten dazu bewegt, die Initiative „Zila-Revival: Wir retten eine Sprache!“ ins Leben zu rufen. Das Projekt ist nun schon in einer mehrjährigen Entstehungsphase. Dem Ansatz von Erol Yildiz folgend soll die Transtopie, der Projektraum „Gailtal / Zila“ für alle geöffnet werden, die ihres dazu beitragen wollen, um die Minderheitensprache, die in erster Generation noch von 90 Prozent der Menschen gesprochen wird, zu „retten“. Nach Yildiz sollen die Dualismen - slowenische Vorfahren vs. deutsch gesinnte Vorfahren - aufgebrochen werden: „Im Gegensatz zu den gängige nationalen Narrativen wird im postmigrantischen Diskurs nicht nach integrativer Leistung von (Post-)Migranten gefragt, es rücken vielmehr Prozesse von Entortung und Neuverortung, Mehrdeutigkeit und Grenzbiographien ins Blickfeld. Gerade das von Homi Bhabha im metaphorischen Sinn gebrauchte Begriff ‚Dazwischen‘ scheint auch für (post-)migrantische Situationen, in denen mit eindeutiger Verortung gebrochen und Diskontinuitäten ins Blickfeld gerückt werden, prägend zu sein. Dieser ‚innovative Bruch‘ stellt Dualismen von

446 Yildiz, Erol. Postmigrantische Perspektiven. In: Yildiz, Erol / Hill, Marc (Hg.) (2015). Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 32 447 Meine Großfamilie gehört zu den Initiatoren des Projektes „Zila-Revival: Wir retten eine Sprache!“ 448 Bis zum Alter von zehn Jahren sind es derzeit nur vier Kinder. 146 westlich/nichtwestlich, Inländer/Ausländer, die bisher als Wegweiser der gesellschaftlichen Wahrnehmung fungierten, radikal infrage und rückt stattdessen produktive Spaltungen, Mehrfachzugehörigkeiten und bewegte Biographien ins Blickfeld.“449 Ein hybrider Zugang soll Gemeinsames in den Mittelpunkt rücken, die die „bewegten Biographien“ in den Vordergrund stellen, denn ethnische Zuweisung von außen haben in der Vergangenheit verhindert, dass die Sprache als gemeinsames Kulturgut erhalten bleibt. „Es geht hier also nicht um eine absolute Differenz, sondern um die Durchlässigkeit der Grenzen, um teilweise Präsenz des einem im anderen, um Austausch, Zusammenführung, Verbindung um den ‚dritten Raum‘(…)“450 und es geht vor allem um die dritte Generation, die schon von ihrer aus der Traumaforschung erhobenen Disposition ein solches Projekt umsetzen kann. Erste Erfolge zeigten sich in diesem Zusammenhang, als ein gesellschaftspolitisch aktiver Akteur, dem die Muttersprache nicht mehr vermittelt wurde, meinte, dass er sich sicher sei, dass es in der „Landjugend“, wo er eine wichtige Funktion ausübe, viel Interesse am Erlernen des slowenischen Idioms bestehe. Die Jugendlichen hätten die Sprache noch von ihren Großeltern gehört. Eine von Aktionismus geprägte Besetzung der Distopie durch die Jugendlichen, die diese gemäß ihren Vorstellungen, wie Sprache erhalten werden kann, gestalten wollen. Dieser Spirit erfüllt das Projekt mit einer Zukunftsperspektive. Die Jugendlichen wollen sich mit den Großvätern und Großmüttern am „Stammtisch“ treffen und von ihnen das alte slowenische Idiom erlernen, so ein Vorschlag einer Aktivistin, die slowenisch studiert hat und in allen Strukturen im Dorf aktiv ist. Für die Verbreitung und Verbreiterung der Idee und der Bewegung sollen die sozialen Medien genutzt werden. Jede Familie, jeder Einzelne, jede Einzelne, soll animiert werden, ihren ganz persönlichen Zugang zur Rettung der gefährdeten Minderheitensprache einzubringen. Dem Sprachpurismus, der häufig von den letzten aktiven Sprecherinnen und Sprechern einer Minderheitensprache als ein letztes Aufbäumen betrieben wird, wird von den Jugendlichen eine klare Absage erteilt. Sprache ist immer einem Wandlungsprozess unterworfen und soll in dieser Prozesshaftigkeit auch weitergetragen werden. Wenn jemand in und durch die slowenische Schriftsprache oder mit nicht „perfekter“ Aussprache und Betonung sich in die Distopie einbringen will, sei dies wünschenswert.

449 Yildiz, Erol. Postmigrantische Perspektiven. In: Yildiz, Erol / Hill, Marc (Hg.) (2015). Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 21 450 Tschernokoschewa, Elka. Die Hybridität von Minderheiten. In: Yildiz, Erol / Hill, Marc (Hg.) (2015). Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 81f. 147

In der Filmdokumentation „Bueg nan dajte n´dobr čas / Der Herr gäbe uns eine gute Zeit“451, in Anlehnung an den Text des bekanntesten Gailtaler Kirchtagsliedes, wurde belegt, dass das slowenische Idiom alle Bereiche des Lebens sprachlich abdecken kann und in der hegemonial geschaffenen Sprachenhierarchie gleichwertig verwendet werden kann. Die Dorfbewohner erinnerten sich, wie sie aus der Perspektive eines kleinen Dorfes im Gailtal / Zila die letzten 100 Jahre erlebt hatten. Besprochen wurden die Emigration nach Amerika in den 1920ern, das erste Kino, die Deportation der slowenischen Familien in der Nazizeit, die Mondladung, die Ermordung von Präsident John F. Kennedy, der Schisprung-Olympiasieg von Karl Schnabl, die Überschwemmung der Kanaltaler Nachbargemeinde bis zur Assimilation der Volksgruppe im Tal. Allesamt vorgetragen in sprachlicher Eleganz und Vielfalt. Wenn bei dieser Filmdokumentation das Dorf in der Welt betrachtet wird, ist der Ansatz im aktuellen Projekt gegenläufig. Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt452 kommen in die Gailtaler Dörfer und wollen auch ihrerseits diesen dritten Raum, die Distopie, zum Zweck der Rettung einer kleinen Minderheitensprache nutzen. Konzerte sollen nach dem letzten Akkord nicht verhallen, sondern die Liedzeilen in verschiedenen Sprachen, sollen mithilfe von bildenden Künstlern bleibende Zeichen hinterlassen. Kern des Projektes „Zila revival: Wir retten eine Sprache / Rešimo jezik!“ ist ein digitalisiertes Sprachprogramm, dass jeder und jedem ermöglichen soll, die Sprache spielerisch zu erlernen. Um den Menschen diesen Schritt zu ermöglichen, braucht es diese Distopie, diesen Denkfreiraum, in dem die Minderheitenperspektive gleichberechtigt agieren kann und kreative Impulse neue Denkrichtungen ermöglichen. Bereits eingebunden in die Projektierungsphase von „Zila revival: Wir retten eine Sprache / Rešimo jezik!“ sind das Land Südtirol, Vertreter der Akademie Bozen, Professoren an der Alpen Adria Universität, das Österreichische Volksgruppenzentrum, Vertreter der ladinischen Volksgruppe, die schon oben erwähnten Künstlerinnen und Künstler und als Hauptträger des Projektes die Jugendlichen, die im Gailtal / Zila leben. Aber auch jene jungen Menschen, die in ihren Prozessen von „Entortungen und Neuverortungen“ in aller Welt studieren und leben, liegt das Projekt umso mehr am Herzen. Sie wollen ihre Expertise, je nach Bedarf einbringen. Das sind schillernde junge Persönlichkeiten, um nur einige zu nennen, wie Simon Schnabl, der an der Harvard University Molekularbiologie studiert, die Kunststudentin Verena Gotthard, die von der Wiener Angewandten aus gerade in Paris Fotografie lernt, die Astrophysikerin Vesna Schnabl, Enkelin von Katja Sturm-

451 Filmdokumentation mit der Puppentheatergruppe „Pikce pr‘ Zile“ von Sabina Zwitter Grilc und Martin Zwitter 452 Über 50 Künstlerinnen und Künstler haben ihre Mitarbeit zugesagt. 148

Schnabl, die sich von Wien aus für die Rettung der Sprache ihrer Vorfahren einsetzen will. Wenn das Projekt gelingt und das slowenische Idiom wieder Einzug hält in den Dörfern im Gailtal / Zila, kann das als nachhaltiger Beitrag zur Heilung der NS-Opfer in drei Generationen gewertet werden.

149

8. Die filmtheoretische Einbettung des Dissertationsprojektes sowie die Rolle der Authentizität bei der Bearbeitung von Erinnerungskultur

Die Wissenschaftlerin, Filmemacherin und Komponistin mit biografischen Wurzeln in Vietnam, Minh-ha, kam mit 17 Jahren in die USA und lehrt am Department of Gender and Women's Studies der University of California in Berkeley. Der Zugang der Wissenschaftlerin kann wie eine Umsetzung der Cultural Studies für Filmschaffende gelesen werden: „(…) Egal ob man einen Film macht oder ein Buch schreibt, Machtverhältnisse sind etwas, mit dem man sich sehr eng auseinandersetzen muss. Es ist nicht genug, mit einem Finger auf eine Situation zu zeigen und diese zu verurteilen. Diese Verurteilung muss einen selbst beinhalten und auf einen selbst zurückzeigen (…).“453 Für die Erinnerungsarbeit und deren filmische Bearbeitung, wie es in diesem Dissertationsprojekt der Fall ist, erscheint dieser Ansatz essenziell, da damit sowohl die hegemoniale Struktur des gängigen Erinnerns als auch das sich im Wandel befindliche Opfer-Täter-Verhältnis in diesem Diskurs thematisiert werden kann. Neben dem Opfer-Täter-Diskurs wird auch die Rolle der duplizierenden Instanz, der Film, infrage gestellt. Die Filmemacherin, der Regisseur zeigt mit dem Finger auf eine Thematik und ignoriert dabei die drei Finger, die auf ihn und sie, seine oder ihre Herkunft, Haltung und vor allem sein und ihr „Wissen“ zurückweisen. „(…) Wissen wird dann extrem fragwürdig, wenn es zur Grenze wird, innerhalb derer man sicher operieren und Kontrolle und Macht über andere Menschen ausüben kann. Das ist die Art von Machtverhältnis, die ich ständig hinterfrage (…)“,454 so die Filmemacherin Minh-ha. Jede Frage blendet laut den Cultural Studies alle anderen möglichen Fragen, die nicht gestellt wurden, aus. Die Offenlegung der Perspektive und Intention, aus der ein Film produziert wird, ist im Zeitalter der Virtualisierung der Medienwelt, aktueller denn je. Für Minh-ha, die den Erfahrungsschatz und die Perspektive der Migrantin aufweisen kann, geht es beim Filmemachen um Grenzen: „Meine Filme sind in gewissen Sinne immer Grenzerfahrungen. Jeder einzelne wurde an der Grenze verschiedener Kulturen, Genres, Disziplinen und Bereiche (zum Beispiel visuelle, musikalische, verbale) realisiert (…).“455 Für Minh-ha ist es wichtig auch in der filmischen Bearbeitung des interkulturellen Diskurses immer die eigene Position sichtbar zu machen. Damit könne die Stellvertreterrolle verhindert werden, in der die Filmemacherin für den Protagonisten spricht und die Menschen ihren Raum

453 „Trinh T. Minh-ha: „Gedanken aus dem Zwischenraum“, Der Standard, 16.7.2017: https://derstandard.at/2000061310309/Gedanken-aus-dem-Zwischenraum, 16.6.2018 454 Ebda. 455 Vgl: Minh-ha, Trinh T. (2011). Elsewhere, Within Here: Immigration, Flucht und das Grenzereignis. New York und London: Routledge, Seite 17 150 einnehmen können. 456 Die Aufgabe des Filmemachers und der Filmemacherin sei es somit, eine Herangehensweise zu finden, in der für die Rezipientinnen und Zuseher sichtbar gemacht wird, wie es zu dieser Situation gekommen ist: „In meinen Filmen verfolge ich die Herangehensweise des Sprechens nahe am („nearby“), anstatt für, im Namen von oder gegen den Anderen zu sprechen. Das ändert die Sprechweise, denn man bedenkt mit, dass der Andere jederzeit zurücksprechen kann, auch wenn sie oder er gar nicht da ist.“457 Bis heute sind die Filmindustrie und die Filmpreisindustrie darauf fokussiert, Film als ein streng reglementiertes Prozedere zu etablieren. Von der Idee, zum Drehbuch, das Einreichen für Förderungen und die Realisierung des Filmes mit den Produktionsfirmen – von der Beleuchtung bis zur Vermarktung folgt einem männlich dominierten Regelwerk, das Filmemacherinnen ausschließt.458 Bedroht wird dieses System durch eine neue Generation von Filmemacherinnen und Filmmachern, die als digital Natives einen vollkommen neuen Zugang zum Filmemachen mitbringen und mit diesen neuen Zugängen auf den Markt drängen. Derzeit landen in den österreichischen Kinos nur jene Filme, die das österreichische Förderungssystem überstehen. Diese Filme werden dann von den Marktführern in für Österreich großem Stil produziert, mit bis zu 100 Menschen am Set. Das Filmgeschäft ist darauf ausgerichtet jeder, auch nur wettermäßigen Eventualität begegnen zu können, was vielleicht im Zeitalter der kostbaren Filmrollen noch nachvollziehbar war, durch die Digitalisierung jedoch als ein rein strukturerhaltendes Relikt eingestuft werden kann. Der Independent Film hat eben diese Strukturen durchbrochen und kann auch in den USA, gestützt von idealistischen Schauspielstars459, reüssieren. Neben hegemonialen Strukturen arbeitet das Filmgeschäft mit weiteren Anachronismen, wie etwa der Produktion mit Verfallsdaten, das Anlegen eines Projektes mit Anfang und Ende, was jeder Prozesshaftigkeit entgegenläuft. Diese Abläufe unterwerfen die Produktion den Kalkulationszwang und bieten den Filmemachern eine Form von Arbeitsstruktur, die jedoch nicht den aktuellen Anforderungen an den Dokumentarfilm entspricht, wie die Filmmacherin Minh-ha460 postuliert: „Ich versuche meinen Lesern immer etwas anzubieten, was ich ‚work in progress‘ nenne. Viele Menschen, vor allem Akademiker tendieren dazu Denkprozesse minderwertiger einzustufen als ein vermeintlich fertiges, abgeschlossenes Produkt. Der Prozess ist dann etwas Unfertiges, etwas

456 Minh-ha, Trinh T. (1989). Woman, Native, Other: Writing Postcoloniality and Feminism. Bloomington: Indiana University Press, Seite 119 ff. 457 „Trinh T. Minh-ha: „Gedanken aus dem Zwischenraum“, Der Standard, 16.7.2017: https://derstandard.at/2000061310309/Gedanken-aus-dem-Zwischenraum, 16.6.2018 458 Mulvey, Laura (1989). Visual and other pleasures. Basingstoke: Palgrave Macmillan, Seite 19 ff. 459 Schauspielstars „leisten“ sich diese Auftritte, da sie auch inhaltliche Zeichen setzen wollen. 460 „Die Stimme der Differenz“ – Interview mit Trinh T. Minh-ha, science.ORF.at, 14.10.2011: http://sciencev2.orf.at/stories/1689202/index.html, 16.6.2018 151

Unvollständiges. Das sehe ich nicht so. Für mich steht ‚work in progress‘ für unsere Realität. Unser Leben ist ein Prozess, wir verändern uns ständig, alles verändert sich laufend. Um am Leben zu sein, müssen wir Teil eines Prozesses sein.“461

8.1. Die Differenz im Dokumentarfilm Was unterscheidet den Rom vom Österreicher? Wie wird Hierarchisierung von verschiedenen Ethnien argumentiert? Es ist das Postulieren dieser Differenzen, die humanistisches Gedankengut jeden Tag an seine Grenzen stoßen lässt, meint Minh- ha zu dieser Auseinandersetzung mit dem „Anderen“. Sie betont, dass die Gesellschaft „diese Differenz nicht ertragen kann, außer sie kann selber definieren, wie diese Differenz beschaffen ist.“462 Diese Perspektive findet ihre begriffliche Entsprechung im „Anderen“. Eine Stigmatisierung, die dann in hegemonialen gesellschaftlichen Diskursen beliebig eingesetzt wird. In der Auseinandersetzung mit der Frage, warum Menschen, stigmatisiert als „die Anderen“, auf ihre Sprache und Kultur verzichten, analysiert die Forscherin Minh-ha, die mit der indigenen Bevölkerung Afrikas gearbeitete hat, dass nur eine Sicht, bestimmt durch die Machtverhältnisse, transportiert wird. Die kritische Haltung von Minderheiten wird ignoriert. Wobei gerade die Form, wie die Marginalisierten ihre Situation erklären, für die Forscherin Aufschluss über die Eigensicht der Gruppe gäbe: „Denn man erkennt sofort, ob die Person sich der dominanten Wertvorstellungen bewusst ist oder nicht, sich an diese anpasst oder nicht.“463 Wieder ist hier anzumerken, dass die Forschungsergebnisse über ethnische Gruppen in aller Welt auf die Situation der autochthonen Minderheiten in Österreich umgelegt werden kann. Eine weitere Form des Ausdruckes von ethnischer Differenz hat Minh-ha mit dem Begriff "Hyphenated Identities"464 benannt. Dieser Begriff benennt die aktuelle sprachliche Reflexion von kulturellen Identitäten, die jene Gruppenbezeichnungen, die von der Gruppe als Beschimpfung interpretiert werden, abgelöst hat und durch einen Bindestrich ausgedrückt werden. Ein Beispiel wäre „afro-amerikanisch“. Während dieses Benennen einer interkulturellen Identität von außen als gesellschaftlicher Fortschritt gewertet wird, wirft er bei den Betroffenen die Frage nach Zugehörigkeiten auf. Minh-ha dazu: „(…) Wenn ich sage: ‚Ich bin wie du, ich bin auch Amerikanerin, ich habe die gleichen Rechte und ich lebe auf die gleiche Art wie du‘, dann bestätige ich damit die Differenz erst recht. Dadurch, dass ich die Gleichheit

461 Ebda. 462 Minh-ha, Trinh T. (1991). When the moon waxes red. Representation, Gender and Cultural Politics. New York: Routledge, Seite 65 ff. 463 „Die Stimme der Differenz“ – Interview mit Trinh T. Minh-ha, science.ORF.at, 14.10.2011: http://sciencev2.orf.at/stories/1689202/index.html, 16.6.2018 464 Ebda. 152 betonen muss, betone ich auch, dass ich wie du bin, aber eben auch anders.“465 Minh- ha diskutiert hier wie Bukow und in Folge Wakounig Ethnisierungs- und Reethnisierungsprozesse. Was diese Wissenschaftlerinnen vereint ist ihr Interesse an den Zwischenräumen, diesem dritten Raum nach Homi Bhaba, in dem neue identitäre Verortungen und Wandlungsprozesse sichtbar werden: „(..) Ich will nicht diese alten, zusammengesetzten Bezeichnungen wiederbringen, sondern diesen Bindestrich als etwas Trennendes, als Rammbock zwischen den Identitäten verdeutlichen. Der Bindestrich steht für einen noch unbekannten Raum, nicht für das Eine oder das Andere. Dieser Bindestrich interessiert mich.“466 Ein Grundpfeiler dieses Dissertationsprojektes, die Oral History, wird von der Wissenschaftlerin und Filmemacherin Minh-ha neu bewertet. Sie arbeitete und forschte in Afrika und wollte Land und Leute in allen Aspekten kennenlernen, dabei stieß sie nicht nur auf sprachliche Barrieren. Auch Künstlerinnen und Gelehrte erklärten Minh-ha ihre koloniale Sicht der Dinge, die nach 15 Jahren im Land, die Perspektive der Einheimischen ignorierten: „(…) Wenn man Intellektuelle, hauptsächlich Franzosen und Afrikaner danach fragt, dann sagen sie: ‚Hier gibt es keine Kultur, weil es auch keine Geschichte gibt.‘“467 Dieses Ausblenden der marginalisierten Perspektive wird aus politischer und sprachlicher Sicht im Dissertationsprojekt vor allem bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen sowie bei den Romnija und Roma sichtbar. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die existenzsichernde Rolle, die die mündliche Überlieferung der Schutzsprache für die Romnija und Roma. Generell ist Oral History der entscheidende Faktor für eine Geschichtsschreibung, die auch die Sicht der Opfer mitberücksichtigt. In der Tradition der Oral History wurde lebensentscheidendes Wissen von Frau an Tochter weitergegeben: „Die Geschichten der Mütter und Großmütter spielen eine wichtige Rolle. Doch die Geschichtsschreibung verdrängt diese mündlichen Überlieferungen, die klar weiblich konnotiert sind, in den Bereich des Fiktionalen, des Mythos. Und diese Geschichten werden so aus der Geschichte ausgeklammert.“468 Überliefert werden in diesem Fall nicht nur Erinnerungen, sondern das gesamte Wissen und die Weisheit einer ethnischen Gruppe. Die Kultur wird in Form von Erzählungen transgenerational weitergegeben. Wird diese Weitergabekette von äußerlichen Umständen durchbrochen, kommt es als sichtbarstes Zeichen zum Untergang der Kultur, zum Verlust der Sprache. Die Kulturwissenschaften lehren zu erkennen, dass Geschichtsschreibung konstruiert und hegemonial determiniert ist. Es besteht eine

465 Ebda. 466 Ebda. 467 Ebda; Vgl. Minh-ha, Trinh T. (1989). Woman, Native, Other: Writing Postcoloniality and Feminism. Bloomington: Indiana University Press, Seite 55 ff. 468 Vgl. Minh-ha, Trinh T. (1989). Woman, Native, Other: Writing Postcoloniality and Feminism. Bloomington: Indiana University Press, Seite 143 153 weitere Hierarchie, der zufolge die schriftliche Aufzeichnung, egal in welcher Form, vor dem Auditivem kommt. Diese Tradition wurde durch den Einsatz von Radio und Film durchbrochen. In diesen Überlieferungsmedien spielt die Schrift eine untergeordnete Rolle. Nach Minh-ha ist Film ein Medium in dem Grenzen verhandelt werden müssen469. Wenn die Filmemacherin in ihrer Arbeit „Elsewhere, Within Here“ von Momenten, in denen man „Grenzen rammen kann“ spricht, steht dies auch für Gestaltungsmöglichkeiten im Film: „Zum Beispiel das Zwielicht, das ist ein Moment zwischen Tag und Nacht, wo die Stimmung sehr düster, sehr verworren wird. In diesem Moment kann man Grenzen rammen, sie verformen. Dort transformieren sich Identitäten. Die Menschen können dann zum Beispiel einen Hund für einen Wolf halten.“470

8.2. Wurzeln des Authentizitätsdiskurses: Von den Brüdern Lumière bis zum aktuellen Dokumentarfilm Wann ist ein Dokumentarfilm authentisch, wann ist er wirklich? Die aktuelle Entwicklung in der in den klassischen Fernsehdokumentationen, Spielfilmsequenzen eingezogen sind, hat den Diskurs über Wahrheit, das „Stellen“ von Szenen und Frage der Authentizität befeuert. Dieser Diskurs reicht jedoch bis in die Anfänge des Dokumentarfilmes zurück. Das Publikum flüchtete schreiend, als ein Zug von den Brüdern Auguste und Louis Lumière auf Leinwand gebannt in ihre Richtung raste. Die noch ungeschulten Rezipienten konnte Realität von Fiktion nicht unterscheiden.471 Einen Meilenstein in der Entwicklung des Dokumentarfilmes bedeutete das Kino des Dokumentarfilmers Dziga Vertov, der das Kino Pravda begründet hat. Vertov war ein radikaler Verfechter des Realismus, da er überzeugt war, dass die Fiktion, wie er sie verstand, die Leute vom Erkennen der harten Realitäten des Alltages ablenken sollte. Der russische Dokumentarfilmer Vertov unterstreicht die besondere Sicht des Kameraauges, das die/eine Realität sichtbar mache, die sich dem Einzelnen verschließe. Vertov integrierte die Wissenschaft in seine Arbeit und wollte mit seinen Dokumentarfilmen in erster Linie aufklären.472

469 Minh-ha, Trinh T. (2011). Elsewhere, Within Here: Immigration, Refugeeism and the Boundary Event. New York und London: Routledge, Seite 124 ff. 470 „Die Stimme der Differenz“ – Interview mit Trinh T. Minh-ha, science.ORF.at, 14.10.2011: http://sciencev2.orf.at/stories/1689202/index.html, 16.6.2018 471 Vgl. Meyer, F. T. (2005). Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 54-57 472 Vgl. Scheugl, Hans/ Schmidt, Ernst jr. (1974). Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, Seiten 218-225; Vgl. Meyer, F. T. (2005). Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Bielefeld: transcript Verlag, Seiten 75-99 154

In den 1960er Jahren übersetzten Edgar Morin und Jean Rouch die Idee von Dziga Vertov in eine neue Spielart des französischen Filmes und gründeten das „das cinéma vérité“473, also „Kino der Wahrheit“. Rouch erkannte, dass es für den Gefilmten, also die Interviewten durch die Kamera, das Team sowie den Dokumentaristen zu einer Verschiebung der Wahrheit kommt. Rouch war überzeugt, dass der Rezipient und die Zuschauerin sehr wohl wüssten, dass eine Kamera bei der Vermittlung von Inhalten eingesetzt werden würde. Als Vorreiter ihrer Filmschule sahen Morin und Rouch den Filmemacher Robert Flaherty, welcher Inuit, deren Traditionen vom Aussterben bedroht waren, dokumentarisch begleitete. Flaherty bediente sich schon damals einer gleichberechtigten, postkolonialen Perspektive, die das gemeinsame Menschsein in den Vordergrund stellte. Der Film „Nanook oft the North“ konnte große Aufmerksamkeit auf die Situation der indigenen Bevölkerung lukrieren. Nachdem seine ersten Dreharbeiten mit der Inuit-Familie nicht erfolgreich waren, bat Flaherty die Inuit-Familie, zu der er großes Vertrauen aufgebaut hatte, sich auf bestimmte Weise zu kleiden und ihre Kultur für die Kameraaufnahmen sichtbar zu machen. Woraufhin sich die französischen Dokumentarfilmer wiederum die Frage stellten, ob der Mensch überhaupt vor der Kamera unbeeinflusst agieren könne.474

8.3. Der aktuelle Authentizitätsdiskurs im Dokumentarfilm: Abbildung der Wirklichkeit oder performative Umsetzung „Wie findet der Künstler die Wirklichkeit, an der er sich angeblich orientiert?“ Er hat seine Instrumente, seine Augen, seine Ideen, seine Überzeugungen, sein Talent, seine Vorbilder, die Wissenschaft, die Theologie und die Politik und all das „soll er nun an einer vom Menschenwerk unabhängigen Instanz messen“ die sich Wirklichkeit nennt. (…)“475, spitzt der österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend die Frage von Wirklichkeit und Subjektivem zu. Er formuliert dazu pointiert, dass jeder künstlerische Ausdruck, gewollt oder nicht gewollt, auf dem Schaffen schon gedachter Ideen und deren Umsetzung fußt. Wirklichkeit sei, so Feyerabend, eine Form von Urteilen, eine Form des Weglassens und Miteinbeziehens. Die Forderung nach Wirklichkeit in der Kunst sei somit eine Scharlatanerie. Weiters zeigt der Autor auf, dass beispielsweise Filme aus verschiedenen Blickwinkeln besonders aufgrund der Gedankenwelt der Herstellerinnen und Produzenten gemacht würden. Obwohl jedes Werk nicht

473 Meyer, F. T. (2005). Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Bielefeld: transcript Verlag, Seiten 127-136 474 Meyer, F. T. (2005). Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Bielefeld: transcript Verlag, Seiten 141-143; Nichols, Bill (2001). Introduction to Documentary. Bloomington: Indiana University Press, 168-177 475 Feyerabend, Paul (1984): Wissenschaft als Kunst. Berlin: Suhrkamp Verlag, Seite 40 155 unmittelbar auf ein schon ähnliches vorhandenes aufbaut, ist es jedoch immer als Entwicklung oder Nachempfinden von etwas schon Dagewesenen zu sehen.476 Auch Thomas Schadt, Lehrender an der Filmakademie Baden-Württemberg, konstatiert im Rahmen des Authentizitätsdiskurses belanglose Worthülsen. So würden die Protagonisten in der Auseinandersetzung mit den damit verbundenen wichtigen Ankerbegriffen wie „Wahrheit, Realität, Authentizität, Glaubwürdigkeit, Mut, Haltung, Korruption, Manipulation, Grenzen, Freiheit“477 ausweichen, um sie dann zeitgleich zu postulieren. Schadt meint dazu konkret: „Viele berufen sich auf Realität und Freiheit, aber nur wenige können oder wollen sagen, was sie darunter verstehen.“478 Um eine generelle Kategorisierung bemühte sich 1973 der jüdische Universalgelehrte Siegfried Kracauer, der Filme in solche mit oder ohne Spielhandlung einteilte. Der Filmhistoriker, Soziologe und Geschichtsphilosoph begründete somit die Kategorisierung in den fiktionalen Spielfilm und den non-fiktionalen Dokumentarfilm.479 Auch wenn für Dokumentarfilme Non-Fiktionalität attestiert wurde und sie lange ohne Schauspieler und Drehbuch auskamen, wird sichtbar, dass jeder Dokumentarfilm aus dem Blickwinkel der Produzentin, des Filmemachers gestaltet wird. Menschen, die immer auch ihre Geschichten und Ansichten in sich tragen. Gegen diese Subjektivität argumentiert der deutsche Medienwissenschaftler Knut Hickethier. „Das Dokumentarische soll die Welt zeigen, ‚wie sie ist‘.“480 Der Dokumentarfilm sollte wirklich und wahr sein, getragen vom Bestreben der Filmemacherin oder des Produzenten ins Geschehen vor der Kamera nicht einzugreifen. Vorbereitung einer Szene oder Interviews wertet Hickethier als Inszenierung und somit als einen Eingriff in die Wirklichkeit.481 Nach Manfred Hattendorf, erfolgreicher Fernsehmacher und Wissenschaftler beim SWR in Baden-Baden, kann sich Authentizität im Dokumentarfilm auf zwei Ebenen widerspiegeln. Erstens, steht der Begriff für die Vermittlung von Umständen, wie sie passiert sind. Die zweite Form von Authentizität benennt die Rezipientinnen- und Zusehersicht. Gemessen wird dabei, als wie glaubwürdig ein Film vom Rezipienten, der Rezipientin eingestuft wird. Somit beschreibt diese Form der Authentizität keine filmische Umsetzungsart, sondern tangiert die emotionale Reaktion der

476 Vgl. ebda. 477 Schadt, Thomas (2012). Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms. München und Konstanz: UVK Verlag, Seite 19f. 478 Ebda. 479 Vgl. Meyer, F. T. (2005). Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 41-43 480 Hickethiert, Knut (2007). Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, Seite 183 481 Vgl. ebda. 156

Zuseherinnen und Zuseher auf den Film.482 Hattendorf spricht von einem „Wahrnehmungsvertrag“483zwischen Filmmacher und den Rezipienten. Wird diese Übereinkunft, der Vertrag, gebrochen, nehmen die Zuschauer die Message des Filmes nicht an oder lehnen sie ab, da der Film nicht als authentisch einstuft wird. Um diesen Mechanismus zu umgehen, greifen die Filmemacherinnen und Filmemacher zu sogenannten Authentisierungsstrategien, die auf visueller oder auditiver Ebene den Eindruck des Tatsächlichen verstärken sollen. Solche Mittel sind zum Beispiel der Einsatz der Handkamera, die das Nicht-Perfekte, dem Eindruck der Inszenierung entgegenwirkende, vermitteln sollen. Dabei ist auch die Position der Kamera, die maßgeblich für die Perspektive des Gesehenen ist. Auf auditiver Ebene vermittelt der Einsatz von Originalton Authentizität, während der Off-Kommentar die Informationsschiene stützt.484 In einer aktuellen Strömung sehr erfolgreicher Dokumentarfilme wird das Subjektive über die auditive Schiene eingeführt. Die Regisseurin oder der Filmemacher treten dabei als Erzähler auf, lesen und kommentieren das Geschehen und führen meist auch im Bild durch den Film.485 Ein Beispiel dafür wäre der Dokumentarfilm „Tomorrow“, in dem eine französische Filmemacherin mit ihrer Crew um die Welt zieht, um alternative Lebensweisen, die dem „dritten Massenaussterben der Menschheit“ entgegenwirken sollen, aufzuzeigen. Im Bild auch immer wieder ihre kleine Tochter, für die, wie man vom Publikum aus ihren Off-Kommentaren erfährt, sie diese Reise unternimmt. Die Filmmacherin begründet, kommentiert, verleiht ihren Gefühlen und Gedanken Ausdruck, wobei die Informationsschiene im Vordergrund steht und durch Experten und Statistiken die Lage der Welt dekonstruiert wird. Der Dokumentarfilm befleißigt sich unterhaltsamer Elemente, um die schwerverdaulichen Fakten nachvollziehbar zu machen. In diesem Zusammenhang entfacht sich auch der wissenschaftliche Diskurs, was Information und Unterhaltung trennt, eine Auseinandersetzung, die auf dem Gebiet der Erforschung von Massenmedien und Rezipientenforschung weit gediehen ist. 486 Weitere Strategien, um bei Zuseherinnen und Zusehern das Gefühl von Authentizität zu evozieren, sind nach Hattendorf zum Beispiel: Endlos lange Einstellungen, die Handkamera, die Protagonisten und Heldinnen sprechen in ihrem Idiom. Abgefilmte Dokumente oder speziell gekennzeichnetes Archivmaterial vermitteln als „Strategien

482 Vgl. Meyer, F. T. (2005). Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 67 483 Hattendorf, Manfred (1994). Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK, Seite 75 484 Vgl. Hattendorf, Manfred (1994). Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK, Seite 72 485Vgl. Mikos, Lothar (2008). Film- und Fernsehanalyse. Konstanz: UVK, Seiten 191-244 486 Vgl. Dehm, Ursula (1984). Fernseh-Unterhaltung. Zeitvertreib, Flucht oder Zwang? Eine sozialpsychologische Studie zum Fernseherleben. Mainz: Verlag Hase & Koehler 157 der Authentisierung“487 den Eindruck der Echtheit der Filmidee.488 Wird dieser Authentizitätscode vom Empfänger, der Empfängerin anders als dies vom Sender, der Senderin beabsichtigt war gelesen, wird der Vertrag zwischen Codierer und Decodierer gebrochen. Diesem Missverständnis könnten diverse, oft ideologische, Zugänge zugrunde liegen, die nach Stuart Hall zu einer Decodierung führen, die nicht im Sinne des Autors, der Autorin ist. Nach Umberto Eco und in Folge nach John Fiske ergibt sich ein „semiotischer Freiraum“, der den Rezipienten die „Mitarbeit der Interpretation“489 ermöglicht.490 Hattendorf dekonstruiert, dass nicht nur der Spielfilm, sondern auch der Dokumentarfilm, da von einem Gestalter oder einer Gestalterin gemacht, ihrer oder seine Perspektive auf die Welt wiederspiegelt. Der postulierte Anspruch, dass der Dokumentarfilm per se authentischer ist als der Spielfilm, ist somit ein Mythos. In beiden Fällen geht es, so Hattendorf, um Gestaltetes, das eine ganz bestimmte Wirkung beim Publikum erreichen soll. Im Fall des Dokumentarfilmes sei es eine gezielte Strategie, den Eindruck von Glaubwürdigkeit zu vermitteln.491 Authentizität ist nicht nur im Dokumentarfilm, sondern auch im Spielfilm ein entscheidendes Mittel. Wie die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Brigitte Hipfl in ihrem Aufsatz „Migratorische Kultur und Prekarität am Beispiel des Films ‚Import Export‘“492 von Filmemacher Ulrich Seidel herausarbeitet, bedient sich Seidl dokumentarischer Techniken um „Uneinsehbares“493 zu enthüllen. Dafür bedient sich der Spielfilmregisseur einer Ästhetik, die stark an den klassischen Dokumentarfilm angelehnt ist und im Endeffekt beim Zuschauer eine innere Reaktion und Veränderung auslösen soll. Seidl sieht seine Filme als eine Intervention, die Verwirrung stiften soll. Die filmische Spiegelung des Lebens und der Verhaltensweisen von Unterprivilegierten soll alte Wertesysteme ins Wanken bringen und Räume für neue Überlegungen schaffen. Diese programmatische Verstörung bedient sich einer schonungslosen Bildsprache, die aus der unmittelbaren

487 Vgl. Hattendorf, Manfred (1994). Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK, Seite 85 488 Vgl. Hattendorf, Manfred (1994). Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK, Seite 86 f. 489 Vgl. Mikos, Lothar. Fernsehen, Populärkultur und aktive Konsumenten. Die Bedeutung John Fiskes für die Rezeptionstheorie in Deutschland. In: Winter, Rainer/ Mikos, Lothar (Hg.) (2001). Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader. Bielefeld: transcript Verlag. Seite 361-371 490 Vgl. Fiske, John. Fernsehen: Polysemie und Popularität. In: Winter, Rainer/ Mikos, Lothar (Hg.) (2001). Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 85- 109; Goldbeck, Kerstin (2004). Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung. Die Fernsehkritik und das Populäre. Bielefeld: transcript Verlag, Seiten 43f.; Vgl. Eco, Umberto (1976). A Theory of Semiotics. Bloomington: Indiana University Press 491 Vgl. Hattendorf, Manfred (1994). Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK, Seite 51 492 Hipfl, Brigitte. Migratorische Kultur und Prekarität am Beispiel des Films „Import Expoert“. In: Yildiz, Erol / Hill, Marc (2015). Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 227 493 Ebda. 158

Kraft des Moments gespeist wird. Hipfl nimmt Bezug auf die Arbeit von Brady und Hughes, die wiederum Seidl mit den Vertretern des „Kinos der Wahrheit / Cinéma Vérité“ Jean Rouch‘s in Verbindung bringen. Seidl übt sich in dekolonialisierten Sichtweisen und dekonstruiert hegemoniale Strukturen, die zu einer Marginalisierung von gesellschaftlich schwachen Gruppen führt. Diese „shared antropology“494 nach Rouche ermöglicht es dem österreichischen Filmemacher, Geschehnisse in der Gegenwart wahrzunehmen und in seine Filme einzubauen. Durch den Einsatz von Laienschauspielern, die in erster Linie im schauspielerischen Rahmen ihrem Charakter freien Lauf lassen, „verwischen die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm“. Seidl: „Ich nehme die Dinge, die passieren, also die Wirklichkeit auf und bringe sie in einen Rahmen. Gleichzeitig versuche ich als Regisseur auch, die Dinge in Bewegung zu halten. (…) Es interessiert mich nicht nur die Realität abzubilden, obwohl ich großen Wert auf Wirklichkeitsnähe und Authentizität lege.“495 Im Fall der Filme von Ulrich Seidl zeigt sich, dass Spielfilm authentischer sein kann als der Dokumentarfilm. Die Verschreibung an das Prozesshafte bei Seidl eröffnet Möglichkeiten, die eben in keinem Drehbuch erdacht werden können. Neben des am Beispiel von Ulrich Seidl erörterten Einbezuges des Prozesshaften in Filmen, stellt sich die Frage, ob die sogenannte Wirklichkeit als solche an die Rezipienten und Zuseherinnen durch reine Abbildung des Tatsächlichen weitergegeben werden kann, oder ob eine performative Umsetzung von Rechercheerkenntnissen dem in der Vergangenheit Erlebten und Gesagten um vieles näher kommt. In diesem Spannungsfeld gilt es nun mit Filmbeispielen, in denen der Erinnerungsdiskurs thematisiert wird, den filmischen Teil des Dissertationsprojektes „Schatten der Scham“ zu verorten. Ausschnitte aus ausgewählten Filmen, die sich mit dem Erinnerungsdiskurs befassen, sollen unter folgenden Gesichtspunkten diskutiert werden.

- Um welches Genre handelt es sich? - Was wird erzählt? - Aus welcher Perspektive wird erzählt, wie werden die Protagonisten gezeigt? - Welche Bildsprache, Dramaturgie, Ausstattung, Kameraführung, Lichtsprache werden eingesetzt? - In welcher Form wird mit biografischen und historischen Fakten umgegangen? Wie werden sie vermittelt?

494 Ebda. 495 Brady, Martin/ Hughes, Helen, zit. in: Hipfl, Brigitte. Migratorische Kultur und Prekarität am Beispiel des Films „Import Export“. In: Yildiz, Erol / Hill, Marc (2015). Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 227 159

- Wird Inszenierung eingesetzt? Ist diese für den Rezipienten und die Zuschauerin noch sichtbar?

8.4. Die Auswahl der diskutierten Beispiele Um den Holocaust und die Folgen der NS-Gewalt auf die Leinwand zu bringen, bedienen sich Filmemacherinnen und Filmemacher verschiedener Genre. In den letzten Jahren hat mit dem Film „La vita è bella“ von Roberto Benigni aus dem Jahr 1997 sehr erfolgreich eine Komödie des Themas angenommen. Dadurch wurde die Diskussion angestoßen, mit welchem Filmgenre man sich der Thematik des Holocausts annähern können und dürfe. Der schärfste Kritiker war in diesem Zusammenhang der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, der das Ende aller alten filmischen Erzählformen ausrief und einen hybriden filmischen Zugang einforderte, die den Muselmann, den KZ Häftling, der jeden Lebenswillen aufgegeben hat, in den Mittelpunkt stellt, der Muselmann „(...) ist der Nullpunkt, an dem der Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie, zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen, zwischen Würde und Hohn aufgehoben ist. Ein Punkt, an dem ein Pol unmittelbar in sein Gegenteil übergeht.“496 Die in dieser Arbeit diskutierenden Filmbeispiele sollen ein kleiner Querschnitt, des aktuellen Filmschaffens sein, das sich in unterschiedlichen Formen mit dem Holocaust und der NS-Gewalt beschäftigt. Bei der Auswahl der Beispiele wurde darauf geachtet, diverse Zugänge zu der im Dissertationsprojekt bearbeiteten Thematik zu zeigen. „Numbered“ von Uriel Sinai und Dana Doron, „Defamation“ von Yoav Shamir, „Das Weiterleben der Ruth Klüger“ von Renata Schmidtkunz, „Hannah Arendt - Ihr Denken veränderte die Welt“ von Margarethe von Trotta und die „Die Geträumten“ von Ruth Beckermann geben aus thematischer und gestalterischer Hinsicht, sowie im Hinblick auf den Authentizitätsdiskurs einen Einblick in die Fülle der Zugänge in der filmischen Bearbeitung von Erinnerungskultur. Die Beispiele machen die aktuelle Verflechtung von Dokumentar- und Spielfilm sichtbar.

8.4.1. „Numbered“ von Uriel Sinai und Dana Doron Der Film „Numbered“ (2012), ein Dokumentarfilm von Uriel Sinai und Dana Doron, begleitet mit der Kamera Auschwitzüberlebende, denen im Konzentrationslager eine Nummer eintätowiert wurde. Die Dokumentation erzählt mittels Kurzporträts dieser Menschen die traumatischen Folgen dieses Identitätsraubes. Die Überlebenden werden in den Interviewpassagen vor schwarz gefilmt und sie stehen in spontaner

496 Frölich, Margit / Loewy, Hanno / Steinert, Heinz (Hg.) (2003). Lachen über Hitler-Auschwitz- Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München: edition text+kritik im Richard Boorberg Verlag, Seite 32 160

Interaktion. Als zweiter Gestaltungsstrang wird das Gesagte in Form von Szenen aus dem Alltag bildlich umgesetzt. Thematisch behandelt der Film die Frage von Schuldumkehr, transgenerationaler Solidarität (Kinder und Enkel lassen sich die Nummer ihrer Vorfahren eintätowieren), der Verdrängung, und der Enttabuisierung der Stigmatisierung: die Holocaustopfer zeigen gemeinsam vor schwarzem Hintergrund ihre Holocaustnummern in die Kamera. Die Dokumentation wird ohne Text, rein aus der Perspektive der Opfer und ihrer Nachfahren erzählt und folgt somit dem Oral History-Prinzip. Die Erinnerungen der ersten Generation werden in Auseinandersetzung mit der zweiten und dritten Opfergeneration gesetzt. Die Kamera zeigt die Protagonistinnen und Protagonisten vor schwarzem Hintergrund und setzt mit Licht und Maske ästhetisierend Elemente ein, was sich den Zuseherinnen und Zusehern nur emotional erschließt. Durch den Einsatz von Musik und die spontanen oft lustigen Interaktionen zwischen den Protagonistinnen und Helden lassen die Interviewpartner zusätzlich in einem positiven Licht erscheinen. Naturfilmaufnahmen, die auch die Protagonistinnen und Protagonisten zeigen, tragen zu einer zusätzlichen Emotionalisierung bei und helfen, die Gefühlslage der Protagonistinnen und Interviewpartner bildlich umzusetzen. Ein inhaltlicher Höhepunkt, weil für die Zuschauer unerwartet, sind jene Szenen in denen sich die Nachfahren die KZ-Nummer eintätowieren lassen, sowie der Reaktion der ersten Generation darauf. Numbered, ist eine jener aktuellen Dokumentationen, die sich der Inszenierung befleißigen, um Rechercheergebnisse auf hochemotionale Art und Weise zu transportieren. Die Inszenierung, indem alle Interviewpartnerinnen und Gesprächspartnerinnen vor einen schwarzen Paravent oder in die Black box gebeten werden, ist für die Rezipienten offensichtlich. Dieses dramaturgische Element wird dann für prozesshafte Interaktionen zwischen den Interviewpartnerinnen und - partnern geöffnet, was zur Authentizität des Filmes in großem Maße beiträgt und diese Szenen um vieles echter und wahrer erscheinen lässt als jene, die im Alltag gedreht wurden.

8.4.2. „Defamation“ von Yoav Shamir In der Filmdokumentation "Defamation" (2010) von Yoav Shamir begleitet der Filmemacher israelische Jugendliche auf eine Reise ins Konzentrationslager Auschwitz. Der israelische Regisseur thematisiert die Rolle von Antisemitismus, dessen Opfer er selbst nie gewesen war, der jedoch wie eine gesellschaftliche Hintergrundmusik die Jüdinnen und Juden begleite. Yoav Shamir geht den identitätsstiftenden Auswirkungen des Antisemitismus und der Shoah für die zweite

161 und dritte Generation nach und wirft einen kritischen Blick auf die Strategien der jüdischen Erinnerungs- und Bildungspolitik. Die Filmdokumentation wird in starker Anlehnung an den Stil von Michael Moore vom Autor selbst kommentiert und vermittelt den Eindruck, dass Shamir auch mit der Handkamera selbst gedreht hat. Trotz der wackelnden Einstellungen, des nicht verstärkten Tones des Fragenden, erscheint Shamir schon bald selbst im Bild und kreist mit einem virtuellen Stift, in Comicmanier, sein Gesicht um sich dem Publikum „als Reiseleiter“ vorzustellen. Die Informationen, die als diverse Meinungen verschiedener Experten dekonstruiert werden, werden von den Interviewpartnern in Form von Zeichnungen und der Erzählung von aus dem Leben gegriffenen Beispielen anschaulich gemacht. Maxime des konfrontativen Filmes ist, dass nur Einstellungen in den Film geschnitten werden, wenn sie ein Maximum an Emotion vermitteln. Alles dient dem Credo, dass keine Langeweile aufkommen darf. Die unruhige Kameraführung, der rasante Schnitt und der zynische Kommentar bieten der Zuseherin und dem Rezipienten keine Verschnaufpausen. Mitschnitte von öffentlichen Veranstaltungen unterbrechen nach Bedarf die Reise der israelischen Jugendlichen nach Auschwitz. Thematisch lässt die Dokumentation kein Reizthema aus und so wird die Hierarchisierung im Rassismus zum Thema gemacht. Die transgenerationale Traumaweitergabe wird im Film von ihrer Effekt-Seite auf den Alltag „the food is worse than in Auschwitz“ beleuchtet und auch lautstark kritisiert. Eben dieses Kritisch-Sein in der eigenen Gruppe hat der Dokumentation viele Preise beschert.497 Obwohl im Film durchgehend Hintergrundmusik eingesetzt wird, wird diese vom Zuseher und der Rezipientin nicht wahrgenommen und eher als die Handlung beschleunigendes Element empfunden.

8.4.3. „Das Weiterleben der Ruth Klüger“ von Renata Schmidtkunz Bei der Filmdokumentation „Das Weiterleben der Ruth Klüger“ (2011) der ORF- Journalistin und Filmemacherin Renata Schmidtkunz handelt es sich um eine klassische Variante eines Dokumentarfilmes, der auf offensichtliche Inszenierung verzichtet. Die Erzählungen der Holocaust-Überlebenden Ruth Klüger, die als Professorin der Literaturwissenschaften in den USA lehrt, werden durch lange Einstellungen, der zum Beispiel schwimmenden, autofahrenden und sehr oft still sitzenden Protagonistin bebildert. Die Musik passt sich den Stimmungen des Gesagten und Gezeigten an und wird von der Atmosphäre abgelöst, wenn es der zu

497 Es gibt in den Kreisen von Filmemacherinnen und Filmemacher Vorbehalte, die jüdische Community oder Israel zu kritisieren, da bei oberflächlicher Betrachtung, trotz fundierter Arbeit, der Vorwurf des Rassismus möglich ist. Daher sind Menschen – wie es z. B. Alexander Langer und Claus Gatterer in Südtirol vorgelebt haben – wichtig, die als Minderheitsangehörige die eigene Gruppe kritisch betrachten. 162 vermittelnden Stille zuträglich ist. Inhaltlich gewährt der widerständige Geist tiefe Einblicke in ihr Denken, ihr Leben und das Verhältnis zu ihren Nachfahren. Der Film wird rein aus der Perspektive der Protagonistin erzählt und obwohl der Eindruck des zufälligen Dabeiseins der Kameras im Leben der Ruth Klüger vermittelt wird, sind diese Szenen, ob nun in Amerika, Israel, Göttingen oder Wien komplett inszeniert um die Oral History der Holocaust-Überlebenden zu untermauern. Die Machart der Filmdokumentation entspricht in hohem Maße den Sehgewohnheiten des österreichischen Publikums von Filmdokumentationen, wobei die Gestaltung sich dem Inhalt unterordnet.

8.4.4. „Hannah Arendt - Ihr Denken veränderte die Welt“ von Margarethe von Trotta Der Spielfilm „Hannah Arendt - Ihr Denken veränderte die Welt“ (2012) der deutschen Filmemacherin Margarethe von Trotta hat es sich zum Ziel gesetzt, sich dem Leben und Denken der jüdischen Philosophin filmisch so nah wie möglich anzunähern. Margarethe von Trotta hat mit ihrem Team in audiovisuellen und schriftlichen Quellen geforscht und mit einer Reihe von Zeitzeugen gesprochen, um dem Film Authentizität zu verleihen. Inhaltlich fokussiert sich die filmische Biografie auf die Zeit nach dem Prozess 1961 gegen den NS-Massenmörder Adolf Eichmann, dem Arendt „geistlose Mittelmäßigkeit“ attestiert. Der Einsatz von Archivmaterial vom Eichmann-Prozess in Israel treibt dieses Bestreben erfolgreich zur Spitze. Der Film zeichnet in kammerspielhaften Szenen die Reaktionen der Umwelt auf ihre Thesen über die „Banalität des Bösen“ nach. Dramaturgisch wird der Film aus einer distanzierten, perfekt durchregierten Perspektive erzählt. Ein Faktum, das den Zuseher und die Zuseherin ins Geschehen eintauchen lässt. Ausstattung, Kameraführung, Lichtsetzung und Bildsprache folgen den klassischen Genre- Vorgaben und ordnen sich dem Handlungsstrang unter. Der Film erzeugt bei der Seherin und beim Seher und der Rezipientin das Gefühl, dass es sich bei dem Spielfilm um eine wahre Erzählung handelt.

8.4.5. „Die Geträumten“ von Ruth Beckermann Das Rohgerüst des Filmes „Die Geträumten“ (2016) der Wiener Filmemacherin Ruth Beckermann ist der Schriftverkehr zwischen den Literaten Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Die jungen Künstler lernen sich in ihren 20ern kennen und ihr Briefwechsel endet 20 Jahre später mit dem Suizid Celans. Die Liebesbriefe werden in einem Tonstudio im Wiener Funkhaus von den zwei jungen Schauspielern Anja Plaschg und Laurence Rupp, wie bei einem echten Briefverkehr, vor der Kamera gelesen. In diesen Einstellungen werden in Großaufnahmen die Lesenden gezeigt, die schon bald vom Publikum als die Originale identifiziert werden. Die Emotionen

163 zwischen der aus Klagenfurt stammenden Literatin und dem Juden aus Czernowitz, dessen Eltern von den Nazis ermordet wurden, sind ein leidenschaftlicher, lyrischer Schlagabtausch zweier Menschen, die sich fremd und gleichzeitig nah sind. Der literarische Dokumentarfilm führt in zweiter Linie die emotionale Interaktion der beiden Schauspieler in den Lesepausen ein. Die Regisseurin erklärt: „Ob die Liebe damals oder die Liebe heute, ob Inszenierung oder Dokumentation: Wo die Ebenen verschwimmen, schlägt das Herz des Films.“498 Das Genre des Filmes „Die Geträumten“ bewegt sich zwischen Kunstfilm und Dokumentation, der auf das Publikum die Sogwirkung eines Spielfilmes entwickelt. Da es sich bei den Lesenden um professionelle Schauspieler handelt, sind die Grenzen der Inszenierung im dokumentaristischen Teil, wenn die Protagonisten in der Pause von der Kamera begleitet werden, nicht auszumachen.

8.5. Verortung des filmischen Teiles des Dissertationsprojektes „Schatten der Scham“ als Praxis der Cultural Studies Der filmische Teil des Dissertationsprojektes „Schatten der Scham“ wird im zweiten Teil des schriftlichen Dissertationsprojektes in einer kontextualisierten Reflexion im Detail beleuchtet und die Genesis des Dokumentarfilmes wird vom Drehbuch, über die Auswahl der Protagonisten, der Finanzierung, den Dreharbeiten, der Premiere bis zur bislang letzten Präsentation nachvollziehbar gemacht. Generell hat sich die Filmdokumentation „Schatten der Scham“ als Cultural Studies Projekt, zum Ziel gesetzt, mit deren Instrumentarien zu operieren. Radikale Kontextualität, Artikulation, der interventionistische Charakter, die interpretative Tradition, die Inter- und Transdisziplinarität sowie die Selbstreflexion499 wurden auf den filmischen Teil des Dissertationsprojektes umgelegt. Die radikale Kontextualität drückt sich in „Schatten der Scham“ neben der generellen Ausrichtung des Filmes, durch die Wahl von nicht einer, sondern mehreren Opfergruppen aus, die im gängigen Opferdiskurs nicht zusammengeführt werden. Dies ist vor allem für die Romnija und Roma sowie die Kärntner Sloweninnen und Slowenen von Bedeutung. Große Hollywood Produktionen haben sich dem Leid der Jüdinnen und Juden gewidmet, wobei der Porajmos, dem Völkermord an den Romnija und Roma, nur wenig Raum im Film geboten wurde. „(...) Der Porrajamos steht niemals im Zentrum der Handlung, sondern ist lediglich untergeordnete

498 „Die Geträumten“ von Ruth Beckermann: http://www.diegetraeumten.at/content/3-de/, 16.6.2018 499 Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Seite 8-11 164

Nebenhandlung; ein Roma spielt nie die Rolle des Protagonisten (...).“500 Das Zusammenführen von mehreren Opfergruppen ermöglicht somit eine differenzierte Sicht auf das, was vor sich geht. Die Artikulation wurde auch auf generationaler Ebene weitergeführt. Das Tool der Oral History will neue Narrationen der Geschichte ermöglichen.501 „Tell it the way they tell it“ 502, fordert Minh-ha Filmemacherinnen und Filmemacher auf, ihren Beziehungen zu den Interviewpartnerinnen und -partnern auf den Grund zu gehen. Nach Hall versucht „Schatten der Scham“ die Erinnerung im Sinne der Protagonistinnen und Protagonisten zu transportieren und die konkreten Umstände, ihre Verflechtungen und ihre Beziehung zueinander und das, was vor sich geht, ans Tageslicht zu befördern: „I wanted some tools to break into it. Marx ones said, concepts are like a microscope. You cant´t see the structure, but break into it, than you can see the structure.”503 In diesem Sinne versucht das Medium Dokumentarfilm die Linse zu schärfen und durch Artikulation hegemoniale Strukturen sichtbar zu machen. Ein weiteres Tool der Cultural Studies anwendend war die gesamte Produktion von Selbstreflexion und großer Neugier und Offenheit auf das, was vor sich geht und was auf die Produktion zukam, getragen. Im Falle der Attacke auf den Kameramann am Ulrichsberg durch Neonazis waren diese Ereignisse oft auch sehr belastend. Die von Hall praktizierte „Demut“504 zu wissen: „(…)that there are no guarantees; that we can never be certain that our ideas and practices are correct. (…)505 war eine gemeinsame Haltung des Teams, die zu noch genauerem Hinsehen motivierte. Der analytischen und interpretativen Tradition der Cultural Studies folgend setzt auch die formale Gestaltung auf filmische Inter- und Transdisziplinarität. Die Form ordnet sich im Fall von „Schatten der Scham“ dem Inhalt unter und es wurde jenes gestalterische Mittel gewählt, das am besten geeignet war, die Inhalte zu vermitteln. So wurden klassisch dokumentaristische Methoden mit Spielfilmsequenzen und Elementen aus dem Kunstfilm in filmische Beziehung gebracht. Dabei wurde großer Wert daraufgelegt, dass sich das Publikum durch verstörende Momente bewusst wird darüber, dass auch der Dokumentarfilm mit Mitteln der Konstruktion arbeitet. Bei der Produktion wurde im Sinne der Cultural Studies Feminismus in jeder Phase

500 Frölich, Margit / Loewy, Hanno / Steinert, Heinz (Hg.) (2003). Lachen über Hitler-Auschwitz- Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München: edition text+kritik im Richard Boorberg Verlag, Seite 25 501 Vgl. Minh-ha, Trinh T. (1989). Native, Other. Bloomington: Indiana University Press, Seiten 119- 135 502 Vgl. Minh-ha, Trinh T. (1989). Woman, Native, Other: Writing Postcoloniality and Feminism. Bloomington: Indiana University Press, Seite 141 503 Ebda. 504 “Stuart Hall as a public intellectual”, IWA, 27.10.2013:http://www.iwa.wales/click/2013/10/stuart-hall-as-a-public-intellectual/, 16.6.2018 505 Ebda. 165 der Produktion der Filmdokumentation mitgedacht.506 Die mitwirkenden Protagonistinnen beziehen in der Öffentlichkeit feministische Positionen. Im reflexiven Vergleich mit den folgenden in Kapitel 9.20 besprochenen Filmbeispielen wird sichtbar, dass es sich bei „Schatten der Scham“ in erster Linie um den filmischen Teil eines Cultural Studies Projekt handelt, dass es sich zum Ziel gesetzt hat, filmisch in den aktuellen Erinnerungskulturdiskurs einzugreifen.

506 Vgl. Rich, Ruby B. (1998). Chick Flicks. Durham and London: Duke University Press 166

9. Genesis: Erkenntnisinteresse und Hintergründe des filmischen Teiles des zweiteiligen Dissertationsprojekt

9.1. Recherche Die Recherche für die Dokumentation basiert auf der über 30-jährigen Beschäftigung der Autorin mit dem Thema Nationalsozialismus, Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen und dem Holocaust. Es sind in den letzten 30 Jahren viele filmische Produktionen zu diesem Themenkreis im Rahmen der Minderheitenredaktion des ORF für das interkulturelle Magazin „Heimat Fremde Heimat“507 entstanden, bei der die Autorin seit 1989 beschäftigt ist. Das persönliche Interesse und Motivation des Forschungsdranges auf diesem Gebiet hat ihren Ursprung in der Vertreibung ihres Vaters Stanko Zwitter, der als zweieinhalbjähriges Kind mit seinem Bruder Franzi und seinen Eltern Janko und Marija Zwitter in NS-Lager deportiert wurde.508 Der berufsbedingte Kontakt mit den Gründern des psychosozialen Dienstes ESRA509, dem Psychiater Alexander Friedmann, der im Jahr 2008 verstorben ist, und David Vyssoki, die beide die Hilfseinrichtung auch medizinisch geleitet haben, trug zu einer neuen Perspektive auf die Opfer und des Holocaust bei.510 Den jüdischen Therapeuten gelang es einen Diskurs über den Umgang mit Opfern in Gang zu setzen. Sie erklärten der Öffentlichkeit, dass es sich im de facto nicht existenten Widergutmachungsdiskurs nicht rein um finanzielle Zuwendungen an die Opfer, sondern auch um ein Therapieangebot an sie handeln sollte. In diesem Zusammenhang wurde evident, dass die vielschichtigen Reaktionen der Opfer auf ihre seelischen Wunden an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Alexander Friedmann und David Vyssoki gründeten im Jahr 1994 im Rahmen der jüdischen Kultusgemeinde das Zentrum für psychosoziale, sozialtherapeutische und soziokulturelle Integration. In der Ambulanz für Spätfolgen und Erkrankungen des Holocaust- und Migrations-Syndroms in der Wiener Leopoldstadt wurden sowohl jüdische Opfer als auch NS-Überlebende der Romnija und Roma, der Kärntner Sloweninnen und Slowenen beraten. Dieses erste, österreichische Publikmachen der Erkenntnisse aus der transgenerationalen Traumaforschung führten zum eingehenden Studium der Thematik sowie zur Überprüfung dieser Erkenntnisse in der journalistischen Praxis.

507 Vgl. Heimat Fremde Heimat: http://volksgruppen.orf.at/diversitaet/hfh/, 16.6.2018 508 Vgl. Kapitel 2.2.1. 509 Esra ist das hebräische Wort für Hilfe. 510 ESRA: 10 Jahre. Zentrum für psychosoziale, sozialtherapeutische und soziokulturelle Integration. Ambulanz für Spätfolgen und Erkrankungen des Holocaust- und Migrations-Syndroms. Wien: ESRA 2004 167

Der Zugang von ESRA, nicht nach ethnischen Kriterien zu unterscheiden, sondern für alle NS-Opfer zur Verfügung stehen zu wollen, schien der Autorin von Anbeginn konsequent. Diese Haltung stellt auch eines der Hauptmotive des Filmes dar. Eine solidarische Haltung, die für die Autorin durch ihre Auseinandersetzung mit den österreichischen Volksgruppen im Rahmen des Österreichischen Volksgruppenzentrums in den 1980er und 1990er Jahren und in der ORF- Minderheitenredaktion als selbstverständlich gilt. Der Wunsch der Autorin und ihrer Brüder Marco und Martin Zwitter, beide Kameramänner von „Schatten der Scham“, den Opfern anlässlich der 70-jährigen Wiederkehr der Vertreibung in die NS-Lager eine Referenz zu erweisen und der Entschluss einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, mündeten in der Idee des vorliegenden zweiteiligen Dissertationsprojektes. Die Verschränkung von Wissenschaft und journalistischer Praxis wird von der Autorin und Regisseurin als Möglichkeit gesehen, das nach Stuart Hall ein Beispiel für theoretisch fundieretes Eingreifen darstellt. Das ursprüngliche Vorhaben, die wissenschaftliche Arbeit zuerst abzuschließen und die Erkenntnisse anschließend im Film zu verarbeiten, konnte wegen des anstehenden Jubiläums nicht realisiert werden. Aus diesem Grund folgt die wissenschaftliche Arbeit temporär dem Film. Beide Vorhaben basieren jedoch auf den im Rahmen des Dissertationsprojektes filmisch erhobenen Interviews mit den Opfern des Nationalsozialismus aus den Reihen der Jüdinnen und Juden, Romnija und Roma sowie Kärntner Sloweninnen und Slowenen in drei Generationen. Durch die persönliche Bekanntschaft mit den Opfern in drei Generationen, die Kenntnis über die Beschaffenheiten möglicher Drehorte, beschränkte sich die Recherche hauptsächlich auf die Koordinierung der Drehtermine.

9.2. Konzeptierung des Filmprojektes Am Anfang stand die Erarbeitung eines Konzeptes. Diese fünfseitige Beschreibung des geplanten Filmkonzeptes diente als Grundinformation über das Filmprojekt. Am Cover des kurzen Konzeptes ist ein Foto zu sehen, das die Grundidee der Dokumentation vermitteln soll. Dieses Foto wurde später auch zum Werbeplakat für die Filmdokumentation herangezogen. Neben dem Plot werden die Protagonistinnen und Protagonisten sowie ein Zeitplan eingearbeitet. Der Arbeitstitel der Dokumentation war zu diesem Zeitpunkt: „Stay human! Don‘t believe in the system!“ In einer späteren Phase brachte der in der Projektentwicklung und Ausführung maßgeblich beteiligte Künstler Marjan Sticker ein Zitat des

168

Schriftstellers Andrej Kokot511 ins Spiel: „Sence sramote“ – „Schatten der Scham“ wurde als Titel bestimmt. Schon ab der ersten schriftlichen Vorstellung des Projektes wurde die geplante Filmdokumentation als Teil eines Dissertationsprojektes an der Alpen-Adria- Universität in Klagenfurt / Celovec deklariert. Es gab im Sinne des kommunikationswissenschaftlichen Schwerpunktes in der Dissertation viele Diskussionen mit befreundeten Kolleginnen und Kollegen, wie etwa mit dem Künstler Rupert Henning, und Überlegungen, wie in einer Dokumentation am meisten Authentizität erreicht werden kann. Während der Recherchephase war die Frage, ob ein Dokumentarfilm auch Spielfilmelemente enthalten soll, sehr umstritten. Die Dokumentationsleisten der öffentlich-rechtlichten Sender begannen eben diese massiv in den Dokumentarfilm mit Bildungsauftrag einzuführen, während der Einsatz von wackelnden Handkameras in Spielfilmen den dokumenatristischen Eindruck beim Seher hinterlassen sollte. Schlussendlich war die Entscheidung, keinem Trend, sondern den eigenen Erfahrungen zu folgen, für die Wahl oder besser gesagt für die Konstruktion des Genres verantwortlich. Es erforderte Mut in der Wahl des Genres einen eigenen Weg zu gehen, der sich von den Sehgewohnheiten des Publikums und der Konventionen der Sender abhob und daher Gefahr lief nicht gezeigt zu werden. Eine gewichtige Rolle spielten dabei auch die Stärken der beiden Kameramänner – der eine ein Fachmann im Werbefilm und der andere ein versierter, klassischer Dokumentarist –, denen in der Dokumentation Rechnung getragen wurde. Entscheidend für die Wahl der Form war jedoch der Inhalt, der die Form bestimmt. Das Setting des Interviews, bei dem sowohl die Erzählerin bzw. der Erzähler als auch die Zuhörerinnen sichtbar sind, ergab sich aus einem Leitmotiv der Dissertation, das besagt, dass Trauma durch die öffentliche Benennung des Leides bearbeitet werden kann und dass dabei das Zuhören durch die dritte Opfergeneration entscheidend ist. Diese Form des Interviewsettings wurde von der Autorin in Zusammenarbeit mit ihrem Kameramann, Martin Zwitter, in den letzten Jahrzehnten erarbeitet. Die Filmspielszenen sind Resultat der Hypothese der Dissertation, dass Kunst, Künstlerinnen und Künstler eine entscheidende Rolle bei der Benennung des Leides der Opfer in drei Generationen spielen. Durch die Zusammenarbeit mit dem Kärntner slowenischen Regisseur Marjan Sticker und seiner Theatergruppe „Trotamora“512

511 Die Kärntner slowenische Familie des Schriftstellers wurde deportiert. Sein Bruder Jožek Kokot wurde im KZ Mauthausen erhängt. Vgl. Verein Erinnern: http://www.erinnern-villach.at/opfer/304- jozef-kokot-1923-1944.html, 16.6.2018; Vgl. Kokot, Andrej (1999). Das Kind, das ich war. Klagenfurt / Celovec: Drava Verlag; Missachtete Jugend: http://www.roz.si/de/teatr-zora/bisherige- produktionen/missachtete-jugend/, 16.6.2018 512 Trotamora ist die slowenische Bezeichnung für die Trut, den Albtraum. 169 konnten Motive und Bilder für das Psychotrauma der Opfer gefunden werden. Diese Szenen wurden im Theatersaal des Pfarrhofs in St. Jakob im Rosental / Šentjakob v Rožu aufgenommen. Die Interviews mit den Künstlerinnen und Künstlern erfolgten aus zwei Kameraperspektiven. Wir trafen unsere Interviewpartnerinnen und -partner, wo immer und wann immer, von Wien bis New York, sie Zeit für uns fanden. Die Künstlerinnen und Künstler wählten auch den Ort des Interviews selbst aus. Auf den ersten Blick außergewöhnlich wurden die dokumentaristisch anmutenden Teile des Dokumentarfilmes regiert. Die Autorin suchte den Drehort aus und lud die Protagonistinnen zum Gespräch oder beobachete sie bei ihrer Arbeit und Gesprächen mit Opfern aus der zweiten und dritten Generation. Auch ein Workshop von Harri Stojka mit dem Chor des slowenischen Gymnaiums enstand auf Betreiben der Autorin. Die Autorin wählte Deutsch, Slowenisch, Romanes und Englisch als Filmsprachen aus und überließ den Protagonistinnen die Wahl, in welcher Sprache sie sprechen wollten. Die Wahl fiel meist sehr pragmatisch aus. Die Interviewpartnerinnen wählten jene Sprache, in der sie meinten, am meisten Publikum mit ihren Erzählungen erreichen zu können.

9.3. Die inhaltliche Gestaltung Der Dokumentarfilm ist durch unterschiedliche Handlungsstränge gegliedert, die sich dem Publikum auf den ersten Blick nicht offenbaren. Die Idee, die inhaltlichen oder historischen Kapitel mit Inserts klar auszuweisen, wurde verworfen, was zwar der Strukturierung gutgetan, den Fluss des Filmes jedoch gestört hätte.

9.4. Die Zeitschiene Durch den Film zieht sich eine zeitliche Gliederung. Den Erlebnisberichten vom Tag der Vertreibung und der Flucht folgt die Zeit in den Lagern und die Emigration nach Amerika. Das nächste Kapitel bezieht sich auf die die Rückkehr der Überlebenden und ihre Aufnahme zu Hause. Es folgen die 1970er Jahre mit ihrer ethnisch-politischen Zuspitzung in Südkärnten und der fehlende Wiedergutmachungsdiskurs in Wien und Amerika. Der Film schließt mit der Gegenwart, in der sich Elemente der faschistoiden Geschichte wiederholen.

9.5. Die dokumentaristische Schiene Die drei jungen Protagonistinnen begeben sich getrennt auf Suche nach ihren Wurzeln, um am Ende zusammenzufinden. Auf ihrer Reise treffen sie Opfer aus der

170 ersten, zweiten und dritten Generation. Sie werden vorgestellt, befragen selbst und reflektieren das Gehörte.

9.6. Das Auftreten der drei Opfergenerationen und ihre Traumata Im ersten Teil der Filmdokumentation treten nur die erzählenden Opfer in erster Generation und die zuhörenden, fragenden Opfer der dritten Generation auf. Es folgt das Filmkapitel in dem vor allem die Opfer der zweiten Generation erzählen, wie sie die Traumatisierung der Eltern beeinflusst. Die dritte Generation reflektiert das Gehörte und bringt Eigenes ein.

9.7. Die Opfergruppen Die Opfergruppen kommen ausgewogen zu Wort, wobei die Filmdokumentation oft aus thematischen Gründen längere Zeit bei einer Opfergruppe verweilt, um dann wieder zu einem gewissen Thema die Aussagen von allen Opfergruppen zu präsentieren. Ein Beispiel: Jedes Opfer aus der ersten Generation gibt seine schrecklichste und berührendste Geschichte wieder. Der Rom Adolf Papai erzählt, wie er mit seinem kleinen Hund von einem SS-Mann so lange geschlagen wurde, bis dem Hund die Beinchen abgerissen wurden. Die Kärntner Slowenin Katja Sturm-Schnabl berichtet vom Tod ihrer Schwester Verica, die vom Lagerarzt am Arm ihrer Mutter zu Tode gespritzt wurde. Thea Scholl findet nach der Flucht heraus, dass ihre Eltern deportiert und erschossen wurden. Und Liese Scheiderbauer überlebt das Lager nur, weil sie die barmherzigen Betreuerinnen im Kinderheim zurücklassen, während sie mit den behinderten Kindern ins Gas gehen.

9.8. Die Expertenschiene Die drei Experten haben im Film die Funktion, die erzählte Traumatisierung einzuordnen und sie für die gesamte Opfergruppe zu analysieren. Sie treten immer dann auf, wenn eine neue Beschreibung eines Psychotraumas oder die Weitergabe dieses Traumas im Film vorkommt.

9.9. Das Auftreten der Künstlerinnen und Künstler Den Künstlerinnen und Künstlern kommt im Film die Rolle zu, das Leid zu benennen und es aus unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren.

171

9.10. Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner In diesem Kapitel soll erläutert werden, wie die Opfer in drei Generationen aus drei ethnischen Gruppe, sowie die Traumaexperten, Künstlerinnen und Künstler für dieses Projekt gewonnen werden konnten und welche Rolle ihnen im Cultural Studies Projekt zukommt. Bei der Auswahl der Protagonistinnen und Protagonisten in erster Generation war entscheidend, dass sie als Vertreterinnen und Sprecherinnen für die Opfergruppen von den Communities akzeptiert oder noch besser vorgeschlagen werden. Da das Konzept des Filmes auf das Modell, dass eine Protagonistin stellvertrend für die traumatischen Erfahrungen einer Opfergruppe ihre Geschichte erzählt, beruhte, galt die Suche nicht der unbekanntesten, sondern nach bekannten Betroffenen aus der jüdischen, Kärntner slowenischen und Roma-Community. Die Opfer in erster Generation haben ihre traumatischen Erlebnisse auch schon an anderer Stelle erzählt. Im Mittelpunkt stand bei der Suche nach den Protagonistinnen und Protagonisten auch nicht die Geschichte der einzelnen Opfer, sondern die Geschichte ihrer Familien. Die für das zweiteilige Dissertationsprojekt interviewten Opfer in erster Generation wurden als Kinder mit ihren Eltern deportiert. Daher spielen schon bei der Schilderung des Erlebten der Opfer ihre Elterngeneration eine entscheidende Rolle. Weiters war für die Auswahl entscheidend, dass das Opfer aus einer der drei Opfergruppen stammt. Auch soziale Diversität war bei der Auswahl ein entscheidendes Kriterium. So sollten vom Universitätsprofessor bis zum Arbeiter, vom Tierpfleger bis zur Werbefachfrau, also Betroffene aus allen Bildungsschichten vorkommen, die ihr NS-Trauma vereint. Die Profession der Opfer in erster Generation, die ja zum Zeitpunkt der Erzählung allesamt noch Kinder und Jugendliche waren, werden nur im Namensinsert und der Sprachfärbung erkenntlich.

9.10.1. First Generation 9.10.1.1. Thea Scholl Den Kontakt zur Thea Scholl, die am 6. Mai 1916 geboren wurde und am 25. September 2015 starb, stellte ihre Großnichte Olivia Pixner-Dirnberger her, die wiederum die jüdische Protagonistin der dritten Generation in „Schatten der Scham“ ist. Thea Scholl wuchs in Wien-Leopoldstadt auf und musste 1938 nach England emigrieren, wo sie und ihre zwei Schwestern als Hausmädchen arbeiteten. In England heiratete Thea Scholl den Arzt Friedrich Scholl. Die Frage der Flucht und des Exils wird im Dokumentarfilm von Thea Scholl und Lily Brett behandelt.

172

Thea Scholl war der Inbegriff von Kultiviertheit. Ihr Interview steht in „Schatten der Scham“ für jene Gruppe von Opfern, die fliehen konnten und bis an ihr Lebensende die Schuld, überlebt zu haben, und ihre Ohnmacht, den Angehörigen nicht geholfen zu haben, in sich tragen. Besonders berührend ist jene Passage, in der Thea Scholl schuldbewusst darüber erzählt, dass sie ihre Flucht als junge Frau mit den Zug nach England auch als ein großes Abenteuer empfunden hatte, dem sie mit Spannung entgegensah. Nach ihrer Rückkehr begab sich Thea Scholl auf die Suche nach ihren Eltern. Sie ging jeder Spur nach und Nachbarn der Eltern erzählten ihr, dass die Mutter ihnen stolz erzählt habe, dass Thea einen Arzt geheiratet habe und einen Sohn zur Welt gebracht hat. Dass alle Spuren zur Ermordung der Eltern durch die Nationalsozialisten führen, stürzt die Tochter, die in der Fremde überlebt hat, in Verzweiflung. Das dritte Kind, die Journalistin Susanne Scholl (1949), wurde nach der Rückkehr von Thea Scholl 1946 geboren. Die vielsprachige Susanne Scholl hat für die französische Zeitung „Le Monde“ gearbeitet und war über Jahrzehnte lang Mitarbeiterin des ORF. Als Korrespondentin in Moskau wurde sie wegen ihrer kritischen Berichterstattung über Tschetschenien verhaftet. Scholl war Leiterin der Europaredaktion beim ORF- Radio und arbeitet seit ihrer Pensionierung als Schriftstellerin. Susanne Scholl ist ein Kind einer Geflüchteten, die die Traumaweitergabe in ihrer literarischen Arbeit verarbeitet. In ihrem Buch „Wachtraum“513 bearbeitet die Nachgeborene das Drama, das ihrer Mutter wiederfahren ist. In Wachtraum wird behandelt, wie jene Emigrantinnen und Emigranten, die nach Wien zurückgekehrt sind, sich, als politische Reaktion auf den Nationalsozialismus, für eine kommunistische Gesellschaftsordnug stark machten und in Folge herbe Enttäuschungen erlebten.514 Scholl zeichnet den Weg einer Frau während des Aufstandes im Warschauer Ghetto nach und verbindet das Geschehen mit der Situation von Flüchtlingen und Terrorgeschehnissen heute. Susanne Scholl dazu in einem Interview mit dem jüdischen Stadtmagazin „Wina“: „Es schreibt ja schon die zweite Generation und nicht die, die es erlebt hat. Diese Generation hat ein Trauma mitgekriegt und geerbt, und davon handelt auch mein Buch. Wir als Kinder jüdisch Verfolgter wissen ja genau, dass Flucht immer ein Trauma generiert, das vererbt wird, und das wollte ich aufzeigen. Als Tochter von Flüchtlingen, die überlebt haben, kann ich nicht zuschauen, wie man anderen das antut, was man meinen Eltern angetan hat. Ich habe auch große Ängste vor einem Rechtsruck und das Gefühl der Hilflosigkeit. Das, was ich tun kann, ist halt schreiben.“515

513 Vgl. Scholl, Susanne (2017). Wachtraum. Salzburg / Wien: Residenzverlag 514 Steindling, Ruth / Erdheim, Claudia (2017). Vilma Steindling. Eine jüdische Kommunistin im Widerstand. Wien: Amalthea Verlag 515 „Ein Trauma, das vererbt wird“, Wina Magazin, Oktober 2017: http://www.wina-magazin.at/ein- trauma-das-vererbt-wird/, 16.6.2018 173

Neben ihrer journalistischen Arbeit und ihren Büchern ist Susanne Scholl Mitbegründerin der Initiative „Omas gegen Rechts“. In der Protestbewegung gegen die im Dezember 2017 gegründete ÖVP-FPÖ-Bundesregierung und das Auftauchen von nationalsozialistisches Gedankengut befördernde Liederbücher während des Niederösterreichischen Landtagswahlkampfes treten Großmütter in Anlehnung an die Protestbewegung in Amerika gegen die Politik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump in sogenannten Pussyhats (pinke, orange gestrickte Kappen mit Ohren) auf. Das Programm der Intitiative wurde im Lied, gesungen von Caroline Koczan, „Omas gegen Rechts - Omas, Omas, uns braucht das ganze Land“ zusammengefasst.516

9.10.1.2. Elisabeth (Liese) Scheiderbauer Der Regisseur Steven Spielberg ist jüdischer Abstammung. Die Vorfahren seiner Eltern Leah Posner und Arnold Spielberg flüchteten aus Frucht vor den Pogromen an den Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Nicht nur mit seinem mit sieben Oscars prämierten Film „Schindlers Liste“, sondern vor allem mit der im Jahr 1994 gegründeten Shoah Foundation (Survivors of the Shoah Visual History Foundation) betreibt Spielberg Erinnerungskultur im großen Ausmaß. Spielberg legte den Grundstein für ein Oral-history Archiv, das jetzt als Visual History Archive im Rahmen der University of Southern California (USC) in Los Angeles Schülerinnen, Schülern, Studentinnen, Studenten und Forscherinnen, Forschern zur ständigen Verfügung steht. In den bis jetzt rund 120.000 Stunden dauernden Videos legen ethnische und politische Opfer der NS-Vernichtungsmaschinerie, Widerstandskämpfer und auch Mitglieder der Befreiungsarmeen Zeugnis über das durch die Nazis verursachte Leid ab. Über 52.000 Personen erzählen in 32 Sprachen über ihre Leiderfahrungen. Zu den in Österreich 188 interviewten Personen gehört auch die Protagonistin von „Schatten der Scham“ Elisabeth (Liese) Scheiderbauer, die in diesem Interview über den Hunger im Konzentrationslager berichtet.517 Liese Scheiderbauer wurde 1943 mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Helga ins Konzentrationslager Theresienstadt, das auf dem Staatsgebiet des heutigen Tschechiens liegt, verschleppt. 1944 kam ihr Vater Paul Pollak, ein Mediziner, ins Konzentrationslager Auschwitz. Die Familie Pollak überlebte. Liese Scheiderbauer steht für jene Opfergruppe, die selbst im Konzentrationslager traumatisiert wurden und auch nach dem Krieg unter den Traumata ihrer Eltern, die sich in ihrer Beziehung massiv manifestierten, litten. So betäubte sich der Vater, der seinen besten Freund

516 Vgl. Omas gegen Rechts: https://www.youtube.com/watch?v=DzVYvc0bRTQ, 16.6.2018 517 Vgl. Verein Erinnern: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/zeitzeuginnen/das- vermaechtnis/videos-zeitzeuginnen/ES_02.wmv/view, 16.62018

174 mit einer Luftspritze ermordete, damit er diesen vor der Gaskammer bewahrte, mit Drogen. Liese Scheiderbauer, die das Konzentrationslager überleben konnte, musst nun mit der Drogensucht und den Folgen des Psychotraumas ihrer Eltern tagtäglich leben. Da die Nationalsozialisten auf ihren Posten blieben und auch durch die Masse der Täter nach dem Krieg die Verbrechen verdrängt und nicht gesühnt wurden, wurde Liese Scheiderbauer nahegelegt, die Zeit im Konzentrationslager und die häusliche Situation, die sich daraus ergaben, als gegeben anzusehen und zu vergessen.

9.10.1.3. Adolf Papai Da die Bemühung der Regisseurin von „Schatten der Scham“ fehlschlug, eine burgenländische Romni, die die Lager der Nationalsozialisten überlebt hatte, zu finden, stellte der Roma-Vertreter Emmerich Gärntner-Horvath dankenswerterweise den Kontakt zu Adolf Papai her.518 Adolf Papai war Musiker, sein Spezialgebiet war der Kontrabass, und er spielte in der „Großen Horvath-Geza-Kapelle“. Adolf Papai wurde 1931 in Langental geboren. Obwohl der burgenländische Rom, da die Nazis 1938 ein Schulverbot für Romnija und Roma verhängten, nur rund zwei Jahre die Schule besuchen konnte, erzählt Adolf Papai im Interview mit dem Roma-Vertreter Emmerich Gärtner-Horvath im Rahmen des Oral-history Projektes „Mri Historija“: "Na ja, ich spreche Kroatisch und Deutsch und Roman, Ungarisch und die slawischen Sprachen, das Tschechische ein bisschen, Böhmisch ein bisschen, Jugoslawisch am besten und dann noch Russisch, und mit den Polen habe ich mich auch verständigen können. So an die zehn Sprachen. Mich können sie nirgends verkaufen."519 Der Vater von Adolf Papai wurde im Konzentrationslager Buchenwald ermordet, die Mutter kam frei und versteckte sich mit ihren vier Kindern im Wald von Langental. 1941 wurde die Familie in das NS-Lager in Lackenbach verschleppt. Dort geschah auch das traumatischste Erlebnis, das Adolf Papai auch in „Schatten der Scham“ erzählt, als ein NS-Scherge ihn mit seinem kleinen Hund solange schlug, bis dem Hund die Beine abgerissen wurden. Adolf Papai leistete als Kind in Lackenbach Zwangsarbeit. Bis zu seinem Tod belasteten den Rom, dass er zusehen musste, dass Babys und Kleinkinder, die von ihren Eltern in den Baracken zurückgelassen werden mussten, einsam den Kältetod starben. Die Erinnerungen an das NS-Wachpersonal, das die Roma vor den Augen des jungen Adolf Papai drangsalierte und brutal ermordete, verfolgten ihn in seinen Träumen. Adolf Papai überlebte das Lager und kehrte nach Hause zurück, er heiratete und bekam drei Kinder.

518 Vgl. „Mri historija“: http://www.roma-service.at/mrihist/06.html, 16.62018; Interview mit Adolf Papai: https://www.youtube.com/watch?v=GWTRa6s9z4M, 16.62018 519 Ebda. 175

In dieser Generation haben die überlebenden Roma ihre Muttersprache, die der Volksgruppe über Generationen als Schutzsprache diente und nur mündlich weitergegeben wurde und vom Feind nicht verstanden werden sollte, aufgegeben. Auch Adolf Papai gab das Roman nicht an seine Kinder weiter. Er sprach es mit seiner Frau und mit Freunden. Das Interview mit Emmerich Gärtner-Horvath wurde auf Roman geführt. Auch in „Schatten der Scham“ rezitiert Adolf Papai sein Lieblingslied in seiner Muttersprache.

9.10.1.4. Katja Sturm-Schnabl Für die Kärntner Sloweninnen und Slowenen konnte die Autorin und Universitätsprofessorin Katja Sturm-Schnabl für die Mitarbeit im Projekt gewonnen werden. Sturm-Schnabl stammt aus Zinsdorf / Svinča vas. Sie ging nach Wien, um Slawistik zu studieren und so ihre Identität aufzuarbeiten. Die Trägerin des Goldenen Ehrenzeichens der Republik Österreich, das sie für ihre unermüdliche Tätigkeit als Zeitzeugin an Schulen erhielt, ist auch eine Vorkämpferin für die Gleichberechtigung von Frauen. Katja Sturm-Schnabl ist eine jener Opfer, der es gelingt, aktiv gegen die Gewalt, die sie erfahren hat, aufzutreten, wenn sie sich in neuem Gewand gegen marginalisierte Gruppen wie Frauen oder Migrantinnen und Flüchtlinge richtet. So ist die Zusammenarbeit mit Migrantinnen und Migranten sowie die Beförderung des interkulturellen Dialoges für die Akademikerin ein wichtiger Forschungsgegenstand. Sturm-Schnabl besuchte internationale Forschungssymposien im ehemaligen Jugoslawien, in Slowenien, der Slowakei, in Griechenland, Ungarn, Belgien, Frankreich, Russland oder auch in Tschechien, um Vorlesung zu halten. Sturm-Schnabl setzt sich seit Jahren dafür ein, dass ihre Muttersprache, das Slowenische, im Rahmen eines eigenen Lehrstuhles (Slowenistik) universitäre Berücksichtigung findet. Eine schlüssige Forderung, angesichts dessen, dass Slowenisch, die Sprache einer der im Österreichischen Staatsvertrag staatlich anerkannten Volksgruppen ist. Der Kampf der Professorin für die diskriminierte Muttersprache ist auch darin begründet, dass diese Mitgrund dafür war, dass die bis in die dritte Generation für die Volksgruppe aktive Familie von den Nationalsozialisten deportiert wurde. Die letzten zehn Jahre arbeitete die Literaturwissenschafterin an der dreibändigen „Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten / Koroška“.520 Dieses wissenschaftliche Opus magnum, ermöglicht durch die Sicht von 160 Autorinnen und Autoren aus diversen wissenschaftlichen Disziplinen, der Rezipientin, dem Rezipienten, sich ein neues Geschichtsbild zu erarbeiten. Eine Perspektive, die

520 Sturm-Schnabl, Katja / Schnabl, Bojan-Ilija (2016). Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška. Von den Anfängen bis 1942. Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag 176 marginalisierte Gruppen nicht ausspart, ergibt eine auf 1.600 Seiten neue Geschichtsschreibung Kärntens. Die methodisch interdisziplinär angelegte Arbeit endet im Jahr 1942. Katja Sturm-Schnabl gilt unter den Kärntner Sloweninnen und Slowenen als ein weibliches Vorbild. Sie war eine der wenigen Frauen, die politische Ämter in der Minderheit bekleiden konnte und ist bis heute, trotz familiärer Tragödien, stetig als Zeitzeugin an Österreichs Schulen unterwegs, um über die Deportation der slowenischen Minderheit Zeugnis abzulegen.

9.10.2. Second Generation 9.10.2.1. Emil Krištof und Gregej Krištof Die Brüder Krištof stammen aus eine kleinen Dorf im kärntnerischen Jauntal / Podjuna. Drei der vier Söhne der Bauernfamilie, einer hat den Hof übernommen, haben sich der Kunst und Kultur verschrieben. Sie gelten in der slowenischen Minderheit als Propenenten eines kritischen Korrektivs. Mit kreativen Ideen suchen die Krištof-Brüder mit Kunst und Literatur gegen Entwicklungen, die Menschenrechte und die Gleichberechtigung der slowenischen Minderheit in Kärnten / Koroška beschneiden, aufzutreten. Ihre unbestechliche Waffe ist dabei der Humor. Gregej Krištof arbeitet als Tanzlehrer und Philosoph. Seine Analyse der Unterdrückungsmechanismen und der Assimilation durch die deutschnationale Politik in Kärnten sind wichtiger Bestandteil der Filmdokumentation. In seinen Kommentaren in der slowenischen wöchentlichen Kirchenzeitung „Nedelja“ eröffnet Krištof Diskussionen in der Minderheit über die Gleichberechtigung. Emil Krištof ist Musiker und spielt in zahlreichen Jazzformationen Kärntens. Eines seiner aktuellen Projekte ist die Zusamnenarbeit mit dem armenischen Musiker Karen Asatrian. Das Projekt „Prayer Wheel“, eine interreligöse Messe, gespielt von einem Jazzensemble und dem Philharmonia Chor Wien, ist ein Werk von Karen Asatrian und wurde anlässlich des Gedenkens an die 100. Wiederkehr des Genozids an den Armeniern im Jahr 2015 im Klagenfurter Konzerthaus aufgeführt. Den österreichischen Armenier Karen Asatrian und den Kärntner Slowenen Emil Krištof verbindet bei diesem Projekt nicht nur die Musik, sondern die ernste Bemühung, durch die künstlerische Benennung der Gewalt, den Opfern Respekt zu zollen. Der interreligiöse Gedanke, der dem musikalischen Projekt zugrundeliegt, begründet sich einerseits in der Lebensgeschichte des in Jerewan geborenen und in Mitteleuropa musikalisch sozialisierten Ausnahmekönners, ist aber auch als ein Versuch eines „never again“, der Bemühung um eine gewaltfreie Zukunft, zu werten. Emil Krištof hat gemeinsam mit Gerhard Pilgram 1986 mit dem Universitätskulturzentrum UNIKUM / Kulturni Center Univerze v Celovcu / Klagenfurt

177 einen Raum geschaffen, in dem durch Kunst gesellschaftliche Veränderung angestrebt wird. Das Konzept von UNIKUM beruht auf der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst. Dem UNIKUM ist es gelungen, sich als Netzwerker zu etablieren und die politische Realitäten in Kärnten / Koroška zu hinterfragen. Nicht nur durch innovative Reiseführer, die zu Fuß durch vergessene Regionen im Alpen- Adria-Raum lotsen, sondern auch mit theatralen Großprojekten, in die die lokale Bevölkerung eingebunden wird, erfolgen gesellschaftspolitische und künstlerische Interventionen. Diese Interventionen werden auch filmisch begleitet, wie z.B. über das Theaterprojekt im entlegenen Dorf Dordola im Kanaltal. Im UNIKUM-Projekt „Landschaft in Bewegung / Pokrajina v gibanju / Paessagio in movimento“ unter der Regie von Niki Meixner widmete sich eine choreografierte Wanderung dem kärntnerischen Unteren Gailtal. Der Weg führte die Besucherinnen und Besucher unter anderem auf den Bauernhof der Familie Zwitter, vulgo Abuja, und durch das Dorf Achomitz / Zahomec, dabei wurde mit Lautsprecherverstärkung, der auf Band aufgenommene Brief des deportierten Janko Zwitter aus dem Lager verlesen. Emil Krištof und Gerhard Pilgram klärten mit dem „Koffer / kovček“ dem Konzept des Sexkoffers folgend Interessierte über die slowenische Minderheit in Südkärten auf. Das mit über 20 Künstlerinnen und Künstler erarbeitete Projekt fordert auch in der Buchversion die Rezipientinnen und Rezipienten auf, sich „angstfrei und ohne Tabus mit der slowenischen Minderheit“ zu beschäftigen.521 Dem „Koffer / kovček“ gelingt es, sowohl einen humorvollen kritischen Umgang mit der Minderheitenfrage von Seite der Mehrheit als auch seitens der Minderheit einzufordern. Damit ist eine spielerische Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart der Kärntner Sloweninnen und Slowenen möglich.522

9.10.2.2. Fortunat und Stanko Olip Die Brüder der Familie Olip stehen, wie die Krištof Brüder, für jene Opfer in zweiter Generation, die mit großem Einsatz und Selbstbewusstsein zur Minderheitensprache und Kultur stehen und sich schützend vor die erste Generation stellen und gesellschaftlich dafür sorgen möchten, dass so etwas nicht wieder passiert. Die Famlie Olip stammt aus dem kleinen Bergdorf Zell Pfarre / Sele Fara an der Grenze zu Slowenien, das durch seine Geschichte des Widerstandes für die slowenische Volksgruppe in Kärnten / Koroška von großer Bedeutung ist. Aus der katholische

521 Krištof, Emil / Pilgram, Gerhard (Hg.) (2005). Kovček. Der Koffer. Was sie schon immer über die Kärntner Slowenen wissen wollten. Kar ste že vedno želeli vedeti o koroških Slovencih. Ein Bilder- Bastel-Lesebuch. Klagenfurt / Celovec. Drava Verlag založba, Seite 12 522 Vgl. Kapitel 7.8.2.4 178

Familie stammen drei Geistliche und Fortunat Olip war Religionspädagoge und ist jetzt Inspektor, und Volksgruppenvertreter beim Rat der Kärntner Slowenen / Narodni svet Koroških Slovencev. Die Wahl fiel auf die Olip-Brüder, da sie in den 1970er Jahren im Rahmen der vom österreichischen Staat angeordenten Volkszählung besonderer Art auf sich aufmerksam machten. Fortunat, auch Nanti genannt, Olip hat mit seinen Freunden „als Akt des Protestes“ die Wahlurne aus dem Gasthaus Malle in Zell Pfarre / Sele Fara entwendet und den Inhalt verbrannt. Dies geschah in einer politischen Atmosphäre, die Erinnerungen an Kriegzustände zuließ. Die Auseinandersetzungen zwischen einerseits den Deutschnationalen in Kärnten, angeführt vom Kärntner Heimatdienst und der Kärntner Landespolitik, und andererseits der slowenischen Volksgruppe machten auch vor Gewaltanwendung in Form von Bombenanschlägen nicht Halt. Die Kärntner slowenischen Widerstandkämpfer aus Zell / Sele wurden in einem Akt der Täter-Opfer-Umkehr als Tito-Partisanen diffamiert und an den Pranger gestellt. Die Famlie Olip mit ihren drei katholischen Priestern zeigt, dass dieser Widerstand in Kärnten von der Kärntner slowenischen katholischen Bauernschaft getragen wurde. Es waren bei den Kärntner Slowenen die Pfarrer, die auf den Gebrauch der slowenischen Muttersprache beharrten und dafür in Konzentrationslager deportiert worden waren. Obwohl einzig dieser bewaffnete Widerstand verantwortlich dafür war, dass Österreich im Rahmen der Moskauer Deklaration nicht als Täter, sondern als Opfer klassifiziert wurde, wird bis heute die Moskauer Deklaration als Argument für das Verdrängen und Vergessen der österreichischen Verbrechen während des Nationalsozialismus missbraucht. Die Bevölkerung aus Zell Pfarre musste die Enthauptung von acht aus dem Ort stammenden Opfern523 verkraften und wurden nach dem Krieg wieder stigmatisiert. Die Opfer nahmen nach Wakounig524 die ihnen zugewiesene Außenseiterolle an und formierten sich zum Widerstand, als die deutschnational gesinnten Kärntner begannen, die gesetzlich verbrieften zweisprachigen Ortstafeln abzureißen. Von den zwei Interviews mit den Olip-Brüdern blieb nur das von Fortunant, Nanti Olip, in der Dokumentation.

9.10.2.3. Margaretha Kopeinig Die renommierte Journalistin Margaretha Kopeinig gehört zu jener Gruppe von Opfern in zweiter Generation, denen von ihren Eltern die Muttersprache aus Angst vor drohenden negativen Konsequenzen nicht weitergegeben wurde. Margaretha Kopeinig ist Kind einer deportierten Kärntner Slowenin, die wollte, dass sich ihre Tochter assimiliert. Kopeinig studierte in Wien und an der Universität Genf. Sie ließ

523 Vgl. Kapitel 7.4.1.3.3.1. 524 Vgl. Kapitel 6.1.14.4. 179 sich auch zur diplomierten Sozialarbeiterin ausbilden und arbeitete in der österreichischen Entwicklungshilfe. Nach einem Studium in Kolumbien in den 1980er Jahren wurde sie Anfang der 1990er Jahre EU-Korrespondentin bei der Tageszeitung „Kurier“. Kopeinig leitete das Europa-Ressort in der Kurier-Redaktion und seit 2015 berichtet sie wieder als Korrespondentin in Brüssel. Margaretha Kopeinig steht für jene Gruppe von Kärntner Sloweninnen und Slowenen, die sich, obwohl ihnen durch ihre Eltern die Sprache vorenthalten wurde, ab dem Zeitpunkt, wo sie selbstständig agieren konnten, für die Belange der Volksgruppe sehr interessierten. Dieses Interesse wird in Folge oft durch ein Engagement für andere Kulturen, das Ergründen von politischen Zusammenhängen und gesellschaftspolitischen Unterdrückungsmechanismen gekennzeichnet. Diese Gruppe zeichnet oft auch ein größeres Engagement für gesellschaftliche Minderheiten aus.525

9.10.2.4. Martin Sadounik Die größte Schwierigkeit war es, einen Vertreter jener Opfer in zweiter oder dritter Generation zu finden, der die Position jener Opfer-Gruppe artikulierte, die eine radikal andere Sichtweise auf die Erlebnisse ihrer Vorfahren hat. Die Freundschaft der Protagonistin des Filmes Ajda Sticker mit Martin Sadounik war Grund für die Zusage Sadouniks. Ajda Sticker führte dann auch vor der Kamera das Interview mit Martin Sadounik. Martin Sadounik ist ein Nachkomme der Familien Sadounik und Kogoj, die am Peršmanhof in den Bergen über Eisenkappel / Železna Kapla von Nationalsozialisten ermordet wurden. Die Nazis vermuteten Kollaboration mit den Partisanen und erschossen die Zivilisten, das jüngste Opfer war ein Baby.526 Martin Sadounik hat direkten Kontakt mit seinen Verwandten und hat aus erster Hand ihre Erlebnisse erfahren. Er stellt sich auf die Position eines Onkels, der meinte, dass von „beiden“ Seiten Fehler begangen worden seien. Er meint damit wohl, dass die ermordeten Zivilisten mit den Partisanen sympathisiert hatten und auch im Widerstand tätig gewesen sein könnten. Die von Sadounik befürwortete Opfer-Täter- Umkehr wird von Ajda Sticker im Gespräch aufgezeigt und in Frage gestellt. Obwohl Martin Sadounik damit argumentiert, dass das Argument, es seien beide Seiten schuldig und dass sich das „nicht zu genau damit Beschäftigen“, Seelenfriede brächte, sieht er sich als Kärntner Slowene. Er fühlt sich der Minderheit durch seine Abstammung zugehörig, obwohl er der Volksgruppensprache nicht mächtig ist.

525 Vgl. Kapitel 6.1.14.4. 526 Vgl. Kapitel 6.1.14.4. 180

Sadounik arbeitete zum Zeitpunkt der Dreharbeiten als Tierpfleger und leitete einen Kärntner Chor, den „MGV Heimattreue“. Bei den Dreharbeiten wurde evident, dass es sich um einen Männerchor handelt, bei dem schon eher betagte Sänger Kärntner Heimatlieder einstudieren und im traditionellen Kärntner Anzug diese bei Auftritten präsentieren. Der Kärntner Anzug gilt in der Volksgruppe aus historischen Gründen als ein Symobl für die durch Deutschnationale immer wieder in diesem Kleidungsstück heraufbeschworenen Blut- und Bodenmentaltiät, die sowohl die Existenz als auch die Rechte der Kärntner Sloweninnen und Slowenen in Frage stellt. Der Kärntner Anzug wird von Kärntner Slowenen in der Regel nicht getragen. Sadounik will seinen Chor nicht auf dieses Kleidungsstück reduzieren lassen und betont die Verbundenheit mit den Sängern. Ansonsten tritt der Absolvent des Musikgymansiums Viktring, der Akkordeon und Keyboard spielt, mit Jazzformationen wie etwa den „Talltones“ auf. Seine Hauptband nennt sich die „Unvollendeten“. Sie spielen Weltmusik, die auf unterschiedliche Musiktraditionen trifft, wie etwa afrikanische Rhytmen, das Wienerlied oder Romamusik. Diese ideologische breite Aufstellung, erscheint als eine Haltung des sowohl als auch, sei es nun in der Musik als auch in der Auseinandersetzung mit Geschichte.

9.10.2.5. Harri Stojka Der Ausnahmekönner auf der Gitarre, der Jazzmusiker Harri Stojka ist ein Nachfahre der bekannten Lovara-Großfamilie Stojka. Der Musiker hat sich in den letzten Jahren zum Aushängeschild der österreichischen Romnija und Roma entwickelt. Er ist jedoch bestrebt, dass sein politisches Engagement, sein künstlerisches Werk nicht in den Schatten stellt. Harri Stojka ist in erster Linie einer der begnadetesten Gitarristen der Welt.

9.10.3. Third Generation 9.10.3.1. Ajda Sticker Für die Kärntner Sloweninnen und Slowenen geht die Musikerin und Journalistin Ajda Sticker der Frage nach, warum sie das Trauma ihrer Großelterngeneration belastet. Ajda Sticker stammt aus einer Familie, die während der NS- Zeit deportiert wurde und deren Nachkommen sich mit großem Engagement für ein „never again“ sowie für den Erhalt der Minderheitensprache und -kultur einsetzen. Ajda Sticker hat sich in einer berührenden Dokumentation mit der Flüchtlingsfrage auseinandergesetzt, ist Polyglottin und arbeitete in der ORF-Minderheitenredaktion. Sie ist Frontfrau und Leadsängerin jener Band, die am Ende des Filmes zu sehen ist. Das Lied, das die Band spielt, handelt vom Aufstand der Tiere und wird in einem Kärntner slowenischen

181

Idiom gesungen. Ajda Sticker hat den Song selbst geschrieben. Sie überzeugt durch Authentizität und ihre pointierte Haltung im Umgang mit der verhandelten Thematik.

9.10.3.2. Olivia Pixner-Dirnberger Die Wiener Jüdin Olivia Pixner-Dirnberger hat als Medienfachfrau gearbeitet und ist Mitbegründerin der Erinnerungsorganisation „Morah“, die junge Menschen auf einen Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz vorbereitet und begleitete. Pixner-Dirnberger hat sich ihre jüdische Identität selbst erarbeitet, da in ihrer Familie über den Holocaust nicht gesprochen wurde. Die Recherche in der Israelitischen Kultusgemeinde hat sie zu einem aktiven Mitglied der Community gemacht. Die im Film auftretende Holocaust-Überlebende Thea Scholl ist die Großtante von Oliva Pixner-Dirnberger, was die Intensität des Interviews erhöht.

9.10.3.3. Sandra Selimović Dass die junge Vertreterin der Romnija und Roma keine Angehörige der autochthonen Volksgruppe der Roma ist, war eine bewusste Entscheidung. Durch die junge Schauspielerin mit serbischen Wurzeln soll das Faktum unterstrichen werden, dass es sich bei den Romnija und Roma um eine europäische Volksgruppe handelt, die vom Holocaust in ihrer Gänze und unmittelbar betroffen ist. Auch von der Dissertationsthese augehend, der zufolge die Roma jene Gruppe sind, die vor, während und nach dem Holocaust verfolgt und ermordet wurden, fiel die Wahl auf die widerständige Romni, die diese Faktum in ihrer Theaterarbeit seit Jahren thematisiert. Sandra Selimović zeichnet neben ihrer Präsenz vor der Kamera ihre mutige Haltung aus, sich auch über die eigene Gruppe kritisch zu äußern.

9.10.4. Die Experten Klaus Mihacek vertritt im Film die diesbezüglich wohl bedeutendste Institution, den psychosozialen Dienst der Israelitischen Kultusgemeinde, ESRA, die sich der durch den Holocaust traumatisierten Opfer annimmt. Durch ESRA wurde auch die Verbindung unter den Opfern geschaffen, denn auch die Kärntner Sloweninnen und Slowenen sowie Romnija und Roma konnten Thearpien bei ESRA in Anspruch nehmen. In einem weiteren wichtigen Schritt beschäftigt sich ESRA heute mit aktuellen Fluchtopfern und steht ihnen sozial und mit Therapien zur Seite. Der Traumaforscher Klaus Ottomeyer vertritt die Kärntner Variante des psychosozialen Dienstes Aspis. Der ehemalige Professor an der Alpen-Adria- Universität Klagenfurt und der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien hat im besonderen Maße für die Kärntner Sloweninnen und Slowenen eine Anlaufstelle

182 geschaffen, in denen ihre durch die Nationalsozialisten verursachten Traumata erstmals benannt und in Folge behandelt werden konnten. Maximilian Gottschlich ist Professor an der Universität Wien am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Der Wissenschaftler beschäftigt sich seit Jahren in Studien mit den Wurzeln und aktuellen Auswirkungen des Antisemitismus.

9.10.5. Die Künstlerinnen und Künstler Der Bürgerrechtskämpfer Harry Belafonte hat es über seine Musik geschafft, sich für mehr Gleichberechtigung der afro-amerikanischen Bevölkerung in den USA einzusetzen. Der Sänger globaler Hits galt in der Szene als einer der wichtigsten Drehscheiben der Bürgerrechtsbewegung. Als Freund und Vertrauter von Martin Luther King, Malcom X, Miriam Makeba und Nelson Mandela, um nur die bekanntesten zu nennen, einerseits und den Kennedys andererseits, vermittelte der Bürgerechtsbewegte zwischen den Fronten. Wobei Belafonte entgegen dem Happysound in seinen Hits sich als ein streitbarer, oft ob der Diskriminierung wutentbrannter Menschenrechtskämpfer zeigte. Belafonte beherrscht die Klaviatur von Meinungsmache: Schreibt der Intellektuelle seine Biographie in einer sehr einfachen Sprache, zeigt er sich in den Interviews als Universalgelehrter, der auch nach minutenlangen Exkursen punktgenau auf die Fragen der Interviewerin oder des Interviewers antwortet und ihn oder sie in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit hebt. Belafonte ging auch im Interview für „Schatten der Scham“ exakt auf jede Frage ein und erkannte augenblicklich, dass ihm die Rolle zugedacht wurde, das Leid der NS-Opfer in Beziehung mit dem der Afro-Amerikanern und globalen Gewaltopfern zu setzen. Besonders erfreulich war, dass Harry Belafonte nach dem Gespräch seinen Mitarbeiter Karol Martesko-Fenster wissen ließ, dass dies das beste Interview auf seiner Europareise gewesen sei. Das Interview mit dem literarischen Sprachrohr der Second Generation, Lily Brett, fand in ihrem New Yorker Loft statt, wo sie mit ihrem Mann, dem Künstler David Rankin lebt. Brett, ursprünglich Australierin und Tochter von zwei Auschwitz- Überlebenden, hat mit ihren Romanen, die sowohl unterhalten als auch aufklären, die Thematik der transgenerationalen Traumaweitergabe einem breiten Publikum weltweit nähergebracht. Brett arbeitete als Journalistin und hat für die Zeitschrift „Rolling Stone“ Interviews mit Janis Joplin und anderen Größen der Rock- und Popmusikwelt geführt. Bei jedem besprochenen Thema im Interview war das Thema Holocaust als Hintergrund oder ganz klar präsent. Das Auftreten der beiden Schriftsteller Peter Handke und Maja Haderlap begründet sich in deren literarischen Auseinandersetzung mit der transgenerationalen Traumaweitergabe. Für Peter Handke verläuft die Leidensgeschichte der Kärntner Sloweninnen und Slowenen parallel zur Geschichte seiner Familie, der er sich durch

183 die Jahrzehnte immer weiter angenähert hat. Der Autor tritt sehr offensiv für die Opfer in drei Generationen ein und hat mit seinem Stück „Immer noch Sturm“ (2010) das Opus magnum der Geschichte aus der Sicht der Minderheit geschaffen. Ein Werk das von Dimitrij Gotscheff eindringlich bei den Salzburger Festspielen in Szene gesetzt wurde. Das Interview mit Peter Handke fand am Friedhof, auf dem seine Mutter begraben ist, statt. Im Gasthaus des Stifts Griffen nebenan wartete zum Zeitpunkt des Interviews bereits Handkes Freund, Fabjan Hafner, auf ein Treffen, mit dem auch im Interview einzigartigen Schriftsteller. Der österreichische Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg ist ein Versöhner. Mit Humor und Geist ist es dem Geistlichen gelungen, ethnische und religiöse Schranken niederzureißen. Eisenberg ist als Rabbiner zu sehen, der mit großem Mitgefühl für den Menschen an einer weltoffenen jüdischen Community in Wien gearbeitet hat. André Heller ist ein idealer Interviewpartner. Es gelingt dem Universalkünstler, der in vielen österreichischen Episoden der akutellen Zeitgeschichte eine tragende und provozierende Rolle gespielt hat, dem Publikum Sachverhalte zu erklären. Heller wechselt im Minutentakt vom Universellen zu Privatem und vermittelt dem Publikum neben den Informationen durch den gekonnten Einsatz von Sprache in all ihren Facetten auch Stimmungen. Nach dem Interview meinte André Heller, es sei gut gewesen, dass wir gekommen seien, denn nur zu leicht schiebe man die Thematik weg, da man oft glaubt, sie überwachsen zu haben, bis man wieder darüber spräche. Die Präsenz von Dirk Stermann und Christoph Grissemann als Off-Sprecher ist darin begründet, dass die zwei Kabarettisten ein sehr junges Publikum ansprechen. Sowohl Stermann als auch Grissemann, beide prononcierte Antifaschisten, haben nach dem Unfalltod von Jörg Haider und den Inszenierungen rund um sein Begräbnis eine Kabarettszene zu dieser Thematik im ORF präsentiert. Daraufhin wurden die beiden Künstler bedroht und einem Veranstalter ihrer Auftritte in Kärnten wurden die Radkappen an dem Auto gelockert. Grissemann und Stermann haben sofort eingewilligt, bei der Dokumentation mitzumachen.

9.11. Sprache Der Einsatz von Sprache spielte im filmischen Teil des Dissertationsvorhabens eine große Rolle. Um die Authentizität der Interviews zu steigern, wurde es jeder Interviewpartnerin und jeder Protagonistin überlassen, wie – ob in Hochsprache oder im Dialekt - sie ihre Erinnerungen erzählen wollte. Auch der Einsatz der Muttersprachen der Opfer in drei Generationen war ein Thema, wobei sich die Interviewpartnerinnen und Protagonistinnen dafür entschieden die Interviews auf Deutsch zu geben, da für sie im Vordergrund stand, vom österreichischen Publikum unmittelbar verstanden zu werden. Es ist jedoch ein

184 wichtiges Element, sowohl die slowenische Sprache als auch das burgenländische Roman in einer künstlerischen Sequenz vorkommen zu lassen. Bei der Frage, ob man sich der Sprache der Täter bedienen wollte, wurde immer wieder auf Stefan Zweig Bezug genommen, der schrieb: „Der Nationalsozialismus hat sich vorsichtig, in kleinen Dosen, durchgesetzt – man hat immer ein bisschen gewartet, bis das Gewissen der Welt die nächste Dosis vertrug.“ Der Schriftsteller flüchtete vor den Nationalsozialisten. Sein Leben im Exil wird aktuell im Spielfilm „Vor der Morgenröte“ in der Hauptrolle mit Josef Hader behandelt. Die österreichisch- deutsch-französische Koproduktion unter der Regie von Maria Schrader erzählt den psychischen Verfall Zweigs, der seinen Freunden nicht helfen kann und im Exil keine Wurzeln fassen kann. 1942 nimmt sich Zweig gemeinsam mit seiner Ehefrau Lotte das Leben. In der National Library of Israel ist Zweigs Abschiedsbrief aufbewahrt, in dem er sich bei Brasilien als Fluchtland bedankt, wo er in Ruhe arbeiten konnte, „nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich selber untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet.“ Zweig spricht hier das Spannungsfeld zwischen Sprache und Heimat an.

9.12. Finanzierung und Kooperationspartner Der Dokumentarfilm ist eine Produktion des slowenischen Kulturvereines SPD Zila (Slovensko prosvetno društvo Zila). SPD Zila ist der Kulturverein der Kärntner Sloweninnen und Slowenen im Gailtal. Die Autorin sowie das gesamte Team, allesamt Volksgruppenangehörige, sehen die Produktion des Filmes „Schatten der Scham“ als Bestreben, den Opfer des Nationalsozialismus Respekt zu zollen und ihr Leid anzuerkennen. Da die Autorin aus dem Gailtal / Zila stammt und ihre Ursprungsfamilie väterlicherseits von den Nationalsozialisten vertrieben wurden, fiel die Entscheidung, den Film unter das Produktionsdach von SPD Zila zu stellen. Eine Entscheidung, die sich als richtig erwiesen hat und die inhaltliche Autonomie der Produktion ermöglicht hat. Die Vorarbeiten zum Film begannen bereits parallel zur Förderungseinreichung. Das Projekt wäre ohne die finanzielle Unterstützung des ORF, des Landes Südtirol, der Republik Slowenien, des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung und des Österreichischen Nationalfonds nicht möglich gewesen. Maßgeblich war das nicht bezahlbare freiwillige Engagement des Großteils der Mitwirkenden, die, wie es zum Alltag der Volksgruppenangehörigen gehört, Kulturarbeit leisten ohne dafür bezahlt zu werden. Diese freudvolle Mitarbeit machte es auch in diesem Fall möglich, dass das Projekt auf höchstem professionellem Niveau gestaltet werden konnte.

185

Filmdokumentationen in dieser Größenordnung entstehen, wenn die Autoren, Regisseure und Produzentinnen mit dem nötigen Durchhaltevermögen ausgestattet sind, mit Hilfe der österreichischen Filmförderung. Der Versuch, diesen Weg zu beschreiten, schien der Autorin vor allem aus terminlichen Gründen nicht möglich.

9.13. Produktionszeitrahmen und Drehorte Der Dokumentationsfilm wurde im Zeitrahmen von rund zwei Monaten in Südkärnten, dem Burgenland, Wien und New York gedreht. Das Kerndrehteam bestand aus der Autorin, den zwei Kameramännern und zeitweise einem Assistenten bzw. einer Assistentin. Aus finanziellen und zeitlichen Gründen sowie aufgrund der Flexibilität wurde auf ein größeres Drehteam verzichtet. Die Kameramänner machten durch ihren persönlichen Einsatz das Fehlen des Produktionsteams wett. Sie zeichnen für die Fahrten, den Studioaufbau, die Ausstattung, das Licht, den Ton und das Bild verantwortlich. Das Resultat dieser Arbeit sind über 90 Stunden Drehmaterial. Das Material wurde mehrmals, für unterschiedliche Präsentationen von Valentin Čertov527 umgeschnitten. Die erste Probefassung war die Version „Sence sramote“ in slowenischer Sprache, die anlässlich der 70-jährigen Wiederkehr der Vertreibung der Kärntner Slowenen und Sloweninnen in den drei Kärntner Tälern Zila / Gailtal, Rož / Rosental, und Podjuna / Jauntal, in denen die Minderheit siedelt, am 13. und 14. April 2012 aufgeführt wurde. Zur Präsentation wurden mit Hilfe der slowenischen Kulturverbände die Adressen der vertriebenen Kärntner Sloweninnen und Slowenen gesammelt. Das Team hat jede deportierte Familie mit einem persönlichen Schreiben zur Präsentation des Filmes „Sence sramote“ eingeladen. Die Präsentationen wurden vom Verband ausgesiedelter Slowenen (Društvo slovenskih izseljencev) veranstaltet und die drei Abende erfreuten sich großen Publikumandranges. Die anerkennenden und dankbaren Worte des damaligen Vositzenden Jože Partl, der die Filmdokumentation als Geschenk an die Opfer anlässlich des Gedenkens an die Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen klassifizierte, wurde vom Team mit großer Freude angenommen. Die Gailtaler Präsentation wurde vom Kameramann Martin Zwitter auf dem Heustadel des Pfarrhofes in Feistritz an der Gail / Bistrica na Zili inszeniert. Ein Setting, das zeigte, dass der Rahmen, in dem ein Film gezeigt wird, eine große Rolle spielen kann. Das Setting wiederholte Motive aus dem Film, die mit der Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen in Verbindung gebracht werden.

527 Filmfirma Artis 186

9.14. Die Reaktionen auf „Sence sramote“ Gegenüber der Autorin wurde von den Opfern in erster Reaktion die erfreute Verwunderung kund getan, dass sich Künstler wie Peter Handke, Lily Brett und vor allem Harri Belafonte für die Vertreibung der slowenischen Volksgruppe in Kärnten interessieren. Die Erzählungen von Katja Sturm-Schnabl sprachen den Opfern aus dem Herzen. Während mit Genugtuung festgestellt wurde, dass man mit dem Leid nicht alleine ist, gab es Stimmen, die eine sentimentalere Schilderung ausschließlich der Vertreibung der slowenischen Familien vorgezogen hätten. „Wir sind mit der Erwartung gekommen, dass wir über die Vertreibung weinen werden und jetzt war das ganz anders, viel komplizierter." Die radikale Kontexutalität der Cultural Studies, die durch den Film transportiert werden soll, wird hier als Überforderung empfunden. Die zweijährige Beschäftigung mit dem von den Nationalsozialisten ausgelösten Leides hinterließ vor allem in dieser Phase Spuren. Die Autorin war im Rahmen dieser ersten Präsentation vollkommen überarbeitet und mit der im Film behandelten Thematik belastet, dass sie bei der Gailtaler Präsentation – sozusagen beim Heimspiel – den Vorsitzenden des Kulturvereines bitten musste, als Redner für sie einzuspringen. Besonders erfreut war das Produktionsteam darüber, dass der Onkel der Autorin, Franzi Zwitter, der als Kind mit dem Vater der Autorin und deren Eltern deportiert wurde, an der Präsentation teilgenommen hat. Franzi Zwitter litt im Alter massiv unter einem posttraumatischen Belastungsyndrom, das ihn Nächte lang nicht schlafen ließ. Ihn zeichnete eine durch intellektuelle Reflexion begründete vergebende Haltung den Tätern gegenüber aus.

9.15. Präsentationen: Vom österreichischen Parlament bis in den Libanon Den Präsentationen von „Sence sramote“ folgte der Dreh und die Produktion von „Schatten der Scham“. Eine erste Version des Dokumentarfilmes war die Entscheidung des ORF, der das Projekt unterstützte, eine 28-minütige Sondersendung des interkulturellen Magazins „Heimat Fremde Heimat“ zu produzieren, die sich rein der Kärntner slowenischen Schiene des Projektes annahm. Obwohl die Autorin anfänglich gegen die Fragmentierung der der Dokumentation zugrunde liegenden Idee war, siegte der Pragmatismus. Und so ging anlässlich des 70. Jahrestages der Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen am 13. April 2012 „Schatten des Leids“ auf Sendung. Als besondere Anerkennung der Arbeit wurde diese Spezialsendung von „Heimat Fremde Heimat“ um 13.05 Uhr ausgestrahlt und konnte somit im gesamten Bundesgebiet gesehen werden. Unter normalen Umständen läuft „Heimat Fremde Heimat“ immer sonntags um 13.30 Uhr mit Lokalausstiegen der Schwestersendungen der Kärntner und Steirischen Sloweninnen und Slowenen „Dober dan Koroška“ und der Burgenländischen Koratinnen und

187

Kroaten „Dobar dan Hrvati“.528 In Folge zeigte die Minderheitenredaktion noch einen Teil über die Romnija und Roma sowie einen jüdischen Teil aus dem Projekt „Schatten der Scham“ Am nächsten Tag, dem 14. April 2012, zeigte ORF III im Hauptabend die Dokumentation von Andrej Mohar „Vertrieben als Slowene“. Der Kärntner slowenische Journalist und Mitarbeiter der slowenischen Volksgruppenredaktion des ORF Kärnten mit der Sendung „Dober dan Koroška“ deckte in seiner historischen Dokumentation eindrucksvoll auf, wie die Vertreibung der rund 1.100 Minderheitsangehörigen noch illegal von Ortsbauernführern, NSDAP-Obmann und Bürgermeistern vor Ort ganz konkret geplant wurde und zeichnet, belegt durch Interviews mit den Opfern, das Leid der rund 200 ausgesiedelten Kärntner slowenischen Familien nach.

9.15.1. Die Premiere von „Schatten der Scham“ und die Ausstrahlungen im ORF Nachdem die Endversion des Filmes erstellt wurde, versuchte die Autorin, einen geeigneten Ort für die Filmpremiere zu finden. Nachdem klar war, dass Filmfestivalleiter Hans Hurch kein Interesse für einen Einsatz bei der „Viennale“ zeigte, versuchte die Autorin die Premiere im Österreichischen Parlament zu platzieren. Der Verband ausgesiedelter Slowenen / Zveza slovenskih izseljencev und die zwei zentralen Vetretungsorganistationen der Kärntner Sloweninnen und Slowenen unterstützten das Projekt und sahen es als einen zentralen Eckpfeiler der Erinnerungsarbeit. Unterstützt wurde das Projekt inhaltlich auch vom psychosozialen Dienst der jüdischen Gemeinde ESRA, den österreichischen Roma-Vereinen und dem Österreichischen Volksgruppenzentrum. Schon während der Produktion machten sich Volksgruppenvertreter, wie etwa Rudolf Sarközi vom Kulturverein Österreichischer Roma oder der Hohe Repräsentant von Bosnien-Herzegowina, Valentin Inzko, vom Rat der Kärntner Slowenen beim ORF für die Ausstrahlung der Dokumentation „Schatten der Scham“ stark. Die Ersuchen blieben vorerst sowohl im ORF als auch im österreichischen Parlament unerhört. Erst das besondere Engagement der Leiterin der Minderheitenredaktion, Silvana Meixner, bewog die damalige Präsidentin des Österreichischen Nationalrates Barbara Prammer einzulenken. Motiviert durch „die ihr (Anm: Meixner‘s) eigene Überzeugungskraft“, wie Prammer bei ihrer Rede schmunzelnd betonte, anlässlich des 25-jährigen Bestehens der ORF Sendung „Heimat Fremde Heimat“ wurde zur Premiere des Dokumentarfilmes „Schatten der Scham“, gemeinsam mit ORF-

528 Vgl. ORF „Schatten des Leids“, 13.4.2012: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20120413_OTS0078/heimat-fremde-heimat-am-15- april-schatten-des-leids, 16.6.2018 188

Generaldirektor, in den Plenarsaal des Hohen Hauses am 8. April 2013, um 17.30 Uhr eingeladen.529 Es folgte die Phase der Konzepterstellung und Vorbereitung der Premiere in Zusammenarbeit mit der ORF-Abteilung für Öffentlichkeitarbeit und dem Österreichischen Parlament. Das Hohe Haus war am Veranstaltungstag zum Bersten voll. Gekommen waren neben dem Publikum, die Protagonistinnen und Protagonisten des Filmes, Volksgruppenvertreter sowie Vertreter der jüdischen Gemeinde. Durch das gleichzeitig begangene Sendungsjubiläum von „Heimat Fremde Heimat“ waren die gesamte Spitze des ORF sowie Sendungsgründer Thaddäus Podgorski und der langjährige Chef der Minderheitenredaktion Helmut Kletzander anwesend. Auch die Kärntner slowenische Jugend sagte ihr Kommen zu: Einige Sängerinnen und Sänger des 80-köpfigen Chores des Slowenischen Gymnasiums verteilten an die im Raum anwesenden Opfer aus der ersten Generation rote Rosen und sangen mit Harri Stojka und Jelena Krstić die Roma-Hymne „Djelem, djelem“. Harri Stojka musste während des Filmes das Plenum verlassen, da die Erzählungen der Opfer für ihn zu belastend seien, erklärte der an die Plenumstür gelehnte und immer wieder in den Raum lugende Künstler der Autorin. Besonders erfreulich war, dass bei dieser Präsentation neben Katja Sturm-Schnabl und Liese Scheiderbauer noch die im September 2015 verstorbene Thea Scholl anwesend waren.530 Durch die Filmpremiere von „Schatten der Scham“ durch die mittlerweile verstorbene Präsidentin des Nationalrates, Barbara Prammer, und den Generaldirektor des ORF, Alexander Wrabetz, ging auch die vom Generaldirektor betriebene Ausstrahlung von „Schatten der Scham“ im ORF einher. Die Dokumentation wurde am 4. Mai 2013 auf ORF III, um 20.15 Uhr, ausgestrahlt und konnte 23.000 Zuseherinnen und Zuseher erreichen. Um vieles weniger als die kurzen Varianten im Rahmen von „Heimat Fremde Heimat“. Die Bemühungen, den Film in ORF 2 im Hauptabendprogramm zu platzieren, trugen keine Früchte. Desto erfreulicher ist es, dass letztes Jahr im Rahmen der ORF-Produktion „Universum History“ die Dokumentation "Unser Österreich: Ein Jahrhundert unterm Mittagskogel / Stoletje pod Jepo“ von Robert Schabus und Andrina Mračnikar am 7.

529 „25 Jahre ORF-Minderheitenredaktion“ / Premiere von „Schatten der Scham“, volksgruppen.ORF.at, 9.4.2013: http://volksgruppenv1.orf.at/diversitaet/aktuell/stories/180886.html, 16.6.2018; Parlamentskorrespondenz, 8.4.2013: https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2013/PK0283/index.shtml, 16.6.2018 530 Vgl. Parlamentskorrespondenz-Fotos: https://www.parlament.gv.at/SERV/FOTO/VER/581162/4069383.shtml, 16.6.2018 189

Juni 2016 im Hauptabendprogramm, um 21.05 Uhr, von ORF 2 ausgestrahlt wurde. Die Dokumentation verwendet neben dem dokumenatristischen Storytelling, Archivmaterial, eine Expertenanalyse sowie die gespielte Umsetzung der Erlebnisse aus der Perspektive der Kärntner slowenischen Opfer der NS-Vertreibung.

9.15.2. Die Kinopremieren Im Normalfall folgt der Premiere eines Filmes die Einsendung zu Festivals und Wettbewerben. Danach wird der Film im Kino und am Ende im Fernsehen gezeigt. In unserem Fall wurde diese Reihenfolge nicht eingehalten. Der Premiere folgte die Klagenfurter Präsentation im Programmkino „Volkskino“ am 14. April 2013. Es mussten über 200 Menschen nach Hause geschickt werden. Das Produktionsteam und der Veranstalter unterschätzten das überwältigende Interesse am Film. Im Publikum in Klagenfurt / Celovec war auch der damalige Kulturlandesrat Wolfgang Waldner anwesend, der derzeit als Botschafter in Washington tätig ist. Waldner meinte nach der Vorführung, dass der Film durch seine Internationalität um die Welt gehen sollte, und dabei bot er seine Unterstützung an. Bei der Präsentation im Stadtkino Villach am 15. April 2013 mussten noch mehr Menschen nach Hause geschickt werden, was für das Produktionsteam sehr schmerzlich war. Veranstaltet wurde diese Präsentation vom Verein Erinnern unter der Leitung von Hans Haider, dem damaligen Villacher Bürgermeister Helmut Matzenreiter und dem Leiter der Kulturabteilung der Stadt Villach, Gert Christian Sturm sowie der Kärntner Landesrätin Beate Prettner. Im Sommer zeigte das Neue Volkskino in Klagenfurt / Celovec „Schatten der Scham“ im Rahmen vom Open Air Kino im Burghof als einzige Dokumentation im Programm. Im Oktober luden die Burgenländischen Kroatinnen und Kroaten ins Kulturzentrum KUGA nach Veliki Borištof / Großwarasdorf. Der Film diente als Auftakt der zeitgeschichtlichen Ausstellung “Deportation der Kärntner Slowenen / Deportacija Koroških Slovencev“ der Historikerin Brigitte Entner.

190

Weitere Präsentationen: - 26.9.2013 in Fresach, Kärnten – veranstaltet vom Evangelischen Forum Fresach531 - 15.10.2014 in Wien, Schikaneder-Kino – veranstaltet von der Grünen Bildungswerkstatt Minderheiten mit anschließender Diskussion unter dem Titel “Marginalisierung autochthoner und allochthoner Minderheiten” mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Sabina Zwitter Grilc, Thomas Weiss vom „Romano Centro“, Wolfgang Zinggl als Minderheitensprecher der Grünen unter der Moderation von Gerd Valchars, von der Universität Wien Wien532 - 26.10.2014 in Feldkirchen, Kärnten – veranstaltet vom Kulturforum Amthof Feldkirchen533 - 15.5.2017 in Maribor, Slowenien – im Rahmen von „Koroški kulturni dnevi 2017”, der Kärntner Kulturtage in Maribor534

9.16. Der Prof. Claus Gatterer-Preis „Schatten der Scham“ wurde, da der übliche Vorführungsablauf – beginnend vom Kino bis ins Fernsehen – nicht eingehalten werden konnte, nicht auf Filmfestivals eingereicht. Die Autorin reichte den Film jedoch als Fernsehproduktion beim Prix Europa / Iris, dem europäischen Medienpreis für interkulturelle TV Programme 2014 ein. Der Film ging leer aus und wurde als eine von drei österreichischen Produktionen im Wettbewerbskatalog abgedruckt. Die zweite Einreichung zum „Prof. Claus Gatterer-Preis“ brachte eine wichtige Anerkennung für den Film und seine weitere Verbreitung. Sowohl der Journalist als auch der Historiker Claus Gatterer spielt mit seinem journalistischen Eintreten für Minderheiten und seinem transnationalen Ansatz in der Geschichtsschreibung eine entscheidende Rolle für den Entwurf des zweiteiligen Dissertationsprojektes. Seit 1985 vergibt der Österreichische Journalistenclub im Gedenken an den 1984 verstorbenen Südtiroler den Prof. Claus Gatterer-Preis für sozial engagierten Journalismus an eine oder einen aus der Zunft. Der Preis wurde im

531 Vgl. http://www.evangelischeskulturzentrum.at/news_de/more/schatten_der_scham/

532 Vgl. http://www.schikaneder.at/jart/prj3/schikaneder/main.jart?rel=de&reserve- mode=active&content-id=1217328196716&show_produktion=1410876527928 und https://wien.gbw.at/veranstaltungen/ereignisansicht/event/kino-am-mittwoch-schatten-der-scham/ 533 Vgl. http://www.kultur-forum- amthof.at/index.php?Y=2014&m=2&d=9&do=show_event&key=3e94bf01abba8b7f63913278a7f24a 37&cal_id=0&language=german&gmt_ofs=- 1&view=d1&evt_date=26.10.2014+19%3A00%26nbsp%3BAmthof+Vereinsraum&evt_title=Schatten +der+Scham&evt_image=datei_1410246094.jpg&suchbegriff 534 Vgl. https://tlk.jskd.si/event/koroski-kulturni-dnevi-2017-projekcija-filma-sence-sramote/ 191

Jahr des Todes Gatterres auf Initiative von Fred Turnheim und Hans Preiner vom Österreichischen Journalistenclub ins Leben gerufen. Im Jahr der Auszeichnung fand die Preisverleihung am 20. Juni 2014 im Stadttheater in Bruneck in Südtirol statt. Eingebettet in ein Symposium mit Filmretrospektiven wurden neben „Schatten der Scham“ Filme von Claus Gatterer gezeigt.535 Die Rezeption des Filmes war überwältigend. Das tiefe Verständnis des Publikums für Volksgruppenfragen mündete in wichtigen Diskussionen auch zur Rolle Südtirols während des Nationalsozialismus. In einer Podiumsdiskussion zur Zusammenarbeit mit der slowenischen Volksgruppe in Kärnten „Die Kleinen gegen die Großen. Claus Gatterers Engagement für Minderheiten und Randgruppen“ berichtete der Historiker Leopold Steurer, dass ihm der Slowenenvertreter Franzi Zwitter (Großonkel der Autorin) von seinem Treffen mit Claus Gatterer berichtet habe. In der ethnisch angespannten Situation, in der alle Medien gegen die Minderheit auftraten, kam der damals beim ORF tätige Journalist Claus Gatterer nach Klagenfurt / Celovec. Seine ersten Worte als er das Zimmer von Franzi Zwitter betrat, berichtet Steurer, waren: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Der Südtiroler Gatterer stellte sich aktiv gegen die deutschnationalen Kräfte in Kärnten und nahm in seinem Journalismus Partei für die Entrechteten. Ein Lehrstück von Volksgruppensolidarität und den interventionalistischen Zugang der Cultural Studies.

9.16.1. Die neue Rezeption von Gatterer in Südtirol Claus Gatterer hat sein ganzes Leben darunter gelitten, dass seine Arbeit in seiner Heimat Südtirol keine gebührende Anerkennung fand. Gatterers Blick über den Tellerrand, der Situationen von ethnischen Minderheiten mit der Situation von Flüchtlingen in Beziehung brachte, fand bei nationalen Kreisen keinen Anklang. Dies hielt Gatterer allerdings nicht davon ab, sein Leben lang Visionär zu bleiben und durch Forschung und Recherche seine Thesen zu untermauern oder eben zu verwerfen. In den letzten Jahren ist es in Südtirol zu einem neuen Verständnis des Werkes und Wirkens von Claus Gatterer gekommen. Die Historiker Leopold Steurer, Joachim Gatterer und der Journalist Martin Hanni haben das Werk für die Jugend Südtirols im Rahmen eines interaktiven Ausstellungsprojektes neu aufbereitet und damit damit wurde auch dem filmischen Teil dieses Dissertationsprojektes im Rahmen eines Gatterer-Symposiums die Möglichkeit geboten in den Volkshochschulen in Bozen und Meran und im Filmclub in Bozen dem Publikum vorgestellt zu werden.

535 Vgl. http://www.stadttheater.eu/programm/Archiv/Archiv_2013_14/Kabarett___Literatur/Claus_Gatter er_Filmretrospektive 192

9.16.2. Aufführungen in Südtirol Zwischen 2014 und 2017 konnte der Film „Schatten der Scham“ gleich einige Male in Südtirol gezeigt werden. Präsentationen: - 10.11.2014: Gatterer 9030 – Filmempfehlung von Franz536 - 11.11.2014: Brixen, Freie Universität. Veranstalter: Gatterer 9030. Ein interaktives Ausstellungsprojekt537 - 12.11.2014: Meran, urania. Haus. Veranstalter: Gatterer 9030. Ein interaktives Ausstellungsprojekt - 13.11.2014: Bozen, Filmclub. Veranstalter: Gatterer 9030. Ein interaktives Ausstellungsprojekt - 11.12.2014: Leo Kino, Innsbruck, Claus Gatterer (1924-1984) - Autor, Historiker, Journalist, Filmspecial zum 90. Geburtstag und 30. Todestag; Filmvorführungen; Veranstalter: Forschungsinstitut Brenner-Archiv; Gespräch mit Lorenz Gallmetzer (langjähriger ORF-Korrespondent in Paris und Washington) und Sabina Zwitter-Grilc (ORF-Journalistin) Moderation: Susanne Gurschler (Kulturjournalistin)538 - 25.1.2017: Filmclub Bozen mit anschließender Podiumsdiskussion mit Sabina Zwitter-Grilc (Regisseurin), Günther Rautz (EURAC - Institut für Minderheitenrecht), Ina Tartler (Dramaturgie der VBB) Veranstalter: Filmclub Bozen in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen - 25.1.2017: Vereinigte Bühnen Bozen539

9.17. „Schatten der Scham“ in Libanon Die englische Untertitelung von „Schatten der Scham“ / „Shadows of Shame“ ermöglichte der Politikwissenschafter Eugene Sensenig, der an der Notre Dame University in Beirut tätig. Der gebürtige US-Amerikaner mit armenischen Wurzeln Eugene Sensenig hat in Südtirol und Salzburg gearbeitet. Sensenig gelingt es als Zivilgesellschaftsaktivist im NGO-Bereich, globales Zusammenarbeiten zu ermöglichen, und er erkannte, dass die im Film besprochene Thematik auch einen aktuellen Bezug zu der Situation der Flüchtlinge im Libanon hat. Es ist eben dieses Erkennen, dass die Gründe schlimmster Traumatisierung ein Ende haben, die dazu führte, dass nun an der Finanzierung und Umsetzung einer arabischen Version von „Schatten der Scham“ gearbeitet wird, die als filmisches Angebot an Opfer des Syrien- Krieges zeigen soll, dass sie nicht die ersten sind, die schreckliches Leid erfahren.

536 http://franzmagazine.com/2014/11/10/tuesday-11-11-14/ 537 http://www.gatterer9030.info/de/component/k2/item/442-schatten-der-scham und https://designdisaster.unibz.it/2-filme-zu-bewegenden-theme-brixen/ 538 https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/ausstellung/gatterer/links/gatterer-claus_101214.pdf und https://www.salto.bz/de/article/08122014/claus-gatterer-film-special 539 http://www.theater-bozen.it/it/news/66 193

9.18. Rezeption des Filmes durch die Presse Die österreichischen Medien hatten mehrere Anlässe, um über den Dokumentarfilm sowohl in den digitalen als auch in den Druckversionen der Zeitungen berichten zu können. Eine erste Welle gab es vor der Präsentation des Filmes im Parlament und der Ausstrahlung im ORF. Die zweite Welle der Berichterstattung wurde ausgelöst durch die Verleihung des Gatterer-Preises an die Autorin für die Dokumentation „Schatten der Scham“. Auch jede weitere Vorführung durfte sich über mediale Ankündigung und Rezeption freuen.

9.19. Plot des Dokumentarfilmes „Schatten der Scham“ „Schatten der Scham“ hat die Suche nach dem Ursprung des Leides dreier Protagonistinnen als Rahmenhandlung. Den Erzählerinnen bzw. Opfern in zwei Generationen und dem visualisierten Zuhören der Schilderung des Erlebten und Erspürten folgt jeweils die Analyse der Opfer durch Traumaexperten. Drei junge Frauen – eine Kärntner Slowenin, eine Romni mit Vorfahren in Serbien und eine Frau mit jüdischem „background“ – begeben sich auf ethnische Wurzelsuche. Sie wollen herausfinden, wie es möglich war, dass sich ihre Großeltern über Nacht in den Lagern der Nationalsozialisten wiederfanden und dort dem Grauen ins Auge blicken mussten. Im Gespräch mit einer 70-jährigen Kärntner Slowenin, deren Schwester vor eigenen Augen im Lager ermordet wurde, einem Rom aus dem Burgenland und zwei Wiener Jüdinnen konfrontieren sich die jungen Frauen mit einem der größten Verbrechen der Weltgeschichte. In einem zweiten Schritt gehen die Protagonistinnen der Frage nach, wie die Überlebenden ihr Trauma an die nächste Generation weitergegeben haben, ob nun durch sich immer gleichende Erzählungen oder einfach durch Schweigen. Beleuchtet wird auch das Nachkriegsklima, das ermöglichte, dass die Täter keine Reue zeigen mussten und die Opfer sich für ihr Leid begannen zu schämen. Ab dem zweiten Teil des Dokumentarfilmes kommen auch Expertinnen und Experten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (z.B. von ESRA und Aspis) und Künstlerinnen und Künstler zu Wort. Die Künstler von Peter Handke über Harry Belafonte bis Lily Brett geben Einblick in die Universalität des Leidens und zeigen durch ihre Kunst Heilungsmöglichkeiten auf. Konkret treffen die drei jungen Frauen auf Kinder der Opfer unter den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, die ganz bewusst den Erhalt der Minderheitensprache und -kultur zu ihrem Lebensmittelpunkt erkoren haben. Vertreterinnen einer zweiten Gruppe, der zweiten Opfergeneration, wurde durch Eltern und Gesellschaft der Zugang zu ihrer Ursprungskultur verwehrt. Eine dritte Gruppe tritt gegen diesen Identitätsstrang und somit auch gegen die slowenische Minderheit in Kärnten auf.

194

Flankiert werden diese drei Gruppen einerseits von Juden in New York, die nicht bereit sind, zu vergessen und zu vergeben und den Roma, die vor, während und nach der NS-Zeit verfolgt wurden. Der Musiker Harri Stojka erzählt von Diskriminierung und davon, dass in Österreichs Nachbarländer wieder Roma-Kinder umgebracht werden. Die Protagonistinnen geben als dritte Opfergeneration Einblick in ihr Leben und zeigen, wie die dritte Generation mit dem Erlebten und Erfahrenen umgeht.

9.20. Im Rückblick kontextualisierte Reflexion des Dokumentarfilmes „Schatten der Scham“ Die Filmdokumentation „Schatten der Scham“ beginnt in Szene 1 mit der spielfilmartigen Umsetzung eines wichtigen Traumauslösers, dem Klopfen. Der Großteil der vertriebenen Kärntner Sloweninnen und Slowenen erzählen in Oral History-Erzählungen540 vom Klopfen der Nationalsozialisten, das sie aus dem Schlaf gerissen hat und das somit am Beginn fast jeder Vertreibungsgeschichte stand. Das Klopfgeräusch, wie auch die für den Film von Tonč Feinig komponierte, bedrohliche Filmmusik bestimmen die Tonspur aller Spielfilmsequenzen im Film. Für die bildliche Umsetzung des Hauptmotives des Filmes, die transgenerationale Traumaweitergabe, fiel die Wahl auf das Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch. Der Bilderzyklus entstand zwischen 1893 und 1910. Im Gemälde, das einen Mensch vor rotem Himmel mit angsterfüllten Augen, der seine Hände gegen den Kopf presst zeigt, verarbeitet Munch eine Angstattacke.541 Die Kärntner slowenische Theatergruppe „Trotamora“ unter der künstlerischen Leitung von Marjan Sticker setzte diese Passagen des Filmes laut Drehbuch in Szene. Für diese Spielfilmsequenzen wurden die Schauspieler gecastet, ausgestattet und geschminkt. Ein Studio wurde eingerichtet, Nebel und andere Effekte wurden erzeugt und jede Spielfilmszene wurde speziell ausgeleuchtet. Schienen wurden verlegt, um die Arbeit der Kameracrew, die filmisch vielfach im Makrobereich, angelehnt an die Ästhetik im Werbefilm, arbeitete, zu ermöglichen. In Szene 2 bei TC 0.15542 tritt die erste Protagonistin als Vertreterin der Kärntner Sloweninnen in erster Opfergeneration auf. Sie schildert ihre emotionale Reaktion auf den Tag der Deportation. „Ich habe nur eines verstanden so instinktiv, dass sie uns wegschleppen wollen und dass meine Eltern nicht da waren und das hat mir dann einen riesigen Schreck eingejagt und ich habe mir gedacht: Nein, ohne meine Eltern gehe ich nirgends hin!“ – Katja Sturm-Schnabl.

540 Vgl. Kapitel 6.1.14. 541 Vgl. http://munchmuseet.no/en 542 Timecode, Zeitangabe im Film 195

Sturm-Schnabl lässt ihre schon in Kindheit eigene widerständige Haltung anklingen. Die Protagonistin sitzt, wie in Folge alle weiteren Opfer in erster Generation, vor einem schwarzen Hintergrund. Die frontale Kameraperspektive bleibt während dieses Interviews unverändert. Die Insertierung des Filmes „Schatten der Scham“ über ein Landschaftsbild folgt in Szene 3. Eine idyllische Landschaft, welche die Dämmerung543 mehrere Interpretationen zulässt. Es herrscht Stille. Nach rund 40 Sekunden beginnt in Szene 4 die dokumentarische Schiene der Filmdokumentation, deren Drehorte und zu behandelnde, inhaltlichen Themen vorab festgelegt wurden. Die Protagonistin, die Vertreterin der dritten Opfergeneration, lenkt ein Auto während sie spricht. Das Interview wird nur auf der Tonspur eingespielt. Damit soll der Eindruck der Innenschau, des Überlegens über Unausgesprochenes verbildlicht werden. Nicht festgelegt wurde, was die Interviewpartnerinnen, in diesem Fall Ajda Sticker, Protagonistin der dritten Generation bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, zu sagen hatten. Die Interviews mit den Vertreterinnen der dritten Generation können wissenschaftlich als biografisch-problemzentrierte Interviews klassifiziert werden. Die Vertreterin der dritten Generation legt in ihrem ersten Interview die Motivation für die psychologische Wurzelsuche, ihre filmische Heldinnenreise, dar. „Im Frühling, wenn das Datum näherrückt, an dem meine Familie, also meine Oma mit den vier Kindern ausgesiedelt worden ist, dann erinnere ich mich an die Geschichten, die sie da erzählt hat, was ihr da passiert ist, wie sie das empfunden hat. Und irgendwie habe ich das Gefühl als wäre ich da dabei gewesen. Und das macht mich so traurig und liegt irgendwie so auf mir wie ein Schatten auf meiner Seele. Und wenn es mir gut geht, in den Phasen, wo es einem im Leben gut geht, habe ich auch das Bedürfnis, der Sache irgendwie auf den Grund zu gehen, wieso mich das belastet, ich war ja nicht dabei.“ – Ajda Sticker Bei TC 1.13 in Szene 5 wird in der Filmdokumentation zum ersten Mal der kommentierende Sprechertext, gelesen von Christoph Grissemann, eingesetzt. Der Sprechertext liefert generell Informationen, der Ergebnis der Recherche der Autorin zum Thema ist. Zu sehen sind Wände eines Heustadels, als Symbol der bäuerlichen Herkunft der Opfer unter den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, auf die Originalfotografien aus der Zeit der Vertreibung in schwarz-weiss projeziert wurden. Bei TC 1.42 wird ein Foto des Vaters der Autorin, Stanko Zwitter, dessen Bruder Franzi sowie deren Eltern Marija und Janko Zwitter eingeblendet. „Während der Herrschaft der

543 Vgl. Kapitel 8.1. 196

Nationalsozialisten wurden 200 slowenische Familien aus Südkärnten deportiert. Die Familien hatten meist nur eine halbe Stunde Zeit um das Nötigste zusammenzupacken. Sie mussten Haus und Hof verlassen, ohne zu wissen, wo dieser Albtraum enden würde. Um am Leben zu bleiben, ergab man sich dem Schicksal. Manche knieten nieder und wollten lieber erschossen werden, als ihr Zuhause zu verlassen. Den Opfern des nationalsozialistischen Terrorregimes, ob Juden, Roma oder Kärntner Slowenen wurden seelische Wunden zugefügt, die bis heute nicht verheilen. Verletzungen, die von den Überlebenden an ihre Kinder und Enkel weitergeben wurden.“ – aus dem Off gelesener Sprechertext Im Text werden harte Fakten und Erlebnisberichte zur Deportation der Kärntner Sloweninnen und Slowenen verwoben. Es wurden 200 slowenische Familien von den Nationalsozialisten vertrieben. In diesen Familien gab es unterschiedliche Reaktionen auf die Gewalt. Am Ende der Passage werden die drei im Film näher behandelten Opfergruppen (Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Romnija und Roma sowie Jüdinnen und Juden) und ihr transgenerationales Trauma benannt. In der nächsten Szene (6) wird ein wesentliches dramaturgisches Mittel sichtbar. Während die Protagonistin aus der ersten Opfergeneration spricht, hört ihr die Vertreterin der dritten Generation zu. Das Benennen der Leiderfahrungen und das gleichzeitige Zuhören ermöglicht, dass sowohl die Emotion der erzählenden Protagonistin in erster Generation als auch die emotionale Reaktion der zuhörenden Vertreterin der dritten Generation für die Zuseherin und den Rezipienten sichtbar gemacht werden. Die Reaktion der zuhörenden Enkelinnengeneration gibt tiefen Einblick in das Wesen der transgenerationalen Traumaweitergabe. Auch für den Schnitt des Videomaterials eröffnen sich durch die zwei Kameraperspektiven neue Möglichkeiten. Der Schnitt wird verschleiert, da für das Publikum sich nur die Perspektive auf das Geschehen ändert. Diese dramaturgische Methode ist auch Gegenstand der wissenschaftlichen Frage nach Authentizität im Dokumentarfilm.544 Inhaltlich schildert die als Kind vertriebene Kärntner Slowenin, wie sie die erste emotionale Reaktion der Erwachsenen auf Vertreibung empfunden hat. Sturm- Schnabl berichtet über die emotionalen Tanten, die angesichts des Schreckens weinen, im Gegensatz zur stoischen, widerständigen Mutter von Katja Sturm- Schnabl, die niemandem erlaubt Schwäche vor dem Aggressor zu zeigen. „Meine Mutter hatte so ein sehr verbissenes, ernstes Gesicht und ich kann mich erinnern, meine Tanten haben beide geweint und ich kann mich erinnern, dass meine Mutter ihnen so zugezischt hat: ‚Sie sollen nicht weinen, sie sollen ihren Feinden nicht zeigen, wie es in ihrem inneren aussieht. Sie sollen mehr Stolz haben‘.“ – Katja Sturm-Schnabl

544 Vgl. Kapitel 8. 197

In Szene 6 wird die bildliche Umsetzung des Traumas ohne Schauspieler eingeführt. Diese Passagen bedienen sich einer hohen Bildästhetik. Zu sehen ist ein Stück Zaun von dem Blut tropft. Die Elemente Eisen, Blut, die Spritze, Schienen, die Rose, Dornen und der Zug ziehen sich durch die gesamte spielfilmische Umsetzung des Dokumentarfilmes. Flackernde Lichteffekte symbolisieren die Suchscheinwerfer im Lager und die Filmmusik reduziert sich auf einzelne Klaviertöne. In Szene 7 (TC 2.35) führt der Vertreter der ersten Opfergeneration, Adolf Papai, die Volksgruppe der Romnija und Roma in die Filmdokumentation ein. Papai spricht zum ersten Mal „das Aushalten“, egal was den Roma passiert, an und berichtet, dass seine gesamte Verwandtschaft von den Nationalsozialisten umgebracht wurde. „Aushalten können haben wir müssen. Alles haben wir müssen aushalten. Ich hab von meiner Familie, von den Verwandten, waren uns ja 47, von denen ist keiner raus, heimgekommen.“ – Adolf Papai Bei den burgenländischen Romnija und Roma musste die Autorin vom Vorsatz abgehen, in erster Linie die weibliche Sicht auf die transgenerationale Traumaweitergabe zu Wort kommen zu lassen, da Adolf Papai einer der letzten Überlebenden des Holocaust war. Adolf Papai verstarb im Jänner 2012. Emmerich Gärtner-Horvath, der mit dem Oral-History Projekt „Mri Historija“ Bahnbrechendes für die österreichische Erinnerungskultur geleistet hat, stellte den Kontakt zu Adolf Papai her. 99 Prozent der burgenländischen Romnija und Roma wurden während des Holocausts umgebracht.545 In Szene 8 treten die ersten jüdischen Protagonistinnen, Thea Scholl für die erste Generation und ihre Verwandte Olivia Pixner-Dirnberger für die dritte Generation, auf. Thea Scholl, berichtet, dass sie als junge Frau von den Eltern weggeschickt wurde, um vor den Nationalsozialisten zu fliehen, und dass sie zu Beginn diese Flucht als ein Abenteuer empfand. „Mein Vater hat gesagt: ‚Ihr müsst alle weg. Ihr habt hier keine Möglichkeit zu leben.‘ Also meine Eltern haben mich zur Bahn gebracht und es war noch der Bruder meines Vaters auch da und sie waren sehr traurig. Mein Onkel Isi hat schrecklich geweint, meine Eltern waren stark. Und ich, ich war irgendwie, ich war irgendwie einerseits wahnsinnig neugierig, was jetzt geschehen wird und der Zug hat sich in Bewegung gesetzt.“ – Thea Scholl Szene 9 zeigt die erste Zugpassage. Das Motiv des Zuges ist als Symbol entscheidend, da alle Opfergruppen mit dem Zug in die Lager der Nationalsozialisten verschleppt wurden und sich daher darin ein wichtiges, traumatisierendes Element verbirgt. In dieser Passage wird auf Filmmusik verzichtet und die Atmosphäre, das Geräusch von fahrenden Zügen, wird eingeführt.

545 Vgl. Baumgartner, Gerhard / Freund, Florian (2008). Namentliche Erfassung der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti. Wien: Datenbank 198

In der folgenden Interviewpassage, in Szene 10 wird das Traumaphänomen „der Flashback“ bildlich umgesetzt. Der Flashback ist die sogenannte Nachhallerinnerung die Traumatisierte aus dem Nichts überfällt. Liese Scheiderbauer berichtet bei TC 3.35 vom Tag der Deportation. Sie wird als Kind gemeinsam mit ihrer Schwester und Mutter ins NS-Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und erzählt über ihre Fahrt im Deportationswaggon: „Ich bin im Jahr 1936 geboren als zweite Tochter einer jüdischen Familie. Ein schlechter Zeitpunkt für ein jüdisches Kind auf die Welt zu kommen, in Wien. Mein Vater kam im Jahr 1938 nach Buchenwald und meine Mutter stand dann im Jahr '38, '39 mit zwei Töchtern, wovon die eine zwei war und die andere neun, alleine da. Ich bin dann direkt gleich in den Transport nach Theresienstadt gekommen. Da erinnere ich mich daran, das waren Holzwaggons und ich war oben im Gepäcknetz, haben sie mich oben ins Gepäcknetz hineingelegt.“ – Liese Scheiderbauer Um den inhaltlichen Zusammenhang zu verstärken, ist das darauffolgende Interview mit Katja Sturm-Schnabl zu ihren Erinnerungen im Deportationszug nur durch eine kurze Flashback-Sequenz vom Interview von Liese Scheiderbauer getrennt. „Es gingen die Türen zu und es war stockfinster und es ist so etwas wie eine Panik ausgebrochen. Manche Leute haben ein Feuerzeug angezündet, andere haben wieder gekreischt, dass es gefährlich sei, es war so, wie soll ich sagen, eine ganz schreckliche Situation und unsere Mutter hat uns dauernd versucht an sich zu halten, weil sie Angst hatte, dass sie uns vielleicht zertrampeln.“ – Katja Sturm- Schnabl Eine Spielfilmszene, ein weinendes Mädchen in Lagerkleidung hinter Gitterstäben, versucht das soeben Gehörte in Bilder zu fassen. „Das ist die Hölle, wenn der Viehwaggon vollgestopft ist mit Menschen jeden Alters, Frauen, Männer, Kinder, Alte, Gebrechliche, Jüngere, also so sind wir eben, zwei Tage, zwei Nächte waren wir in diesem Waggon.“ – Katja Sturm-Schnabl Auf das durch die Perspektive auf die zuhörende Enkelin immer unterbrochene Interview folgt der Blick aus dem Zug auf eine Landschaft. Auf inhaltlicher Ebene kommen die Zuseher mittels der Erzählungen der Opfer in den Lagern der Nationalsozialisten an. „Das erste war, dass alle Leute in den Keller getrieben wurden und dort mussten sie sich nackt ausziehen und so unter Gemeinschaftsduschen gehen.“ – Katja Sturm-Schnabl Der Universitätsprofessorin Sturm-Schnabl gelingt es durch das gesamte Interview über, ihre Erlebnisse auf psychologischer Ebene zu berichten, um das Erzählte dann in gesellschaftliche, soziale Kontexte zu stellen. „Und das war natürlich für die Menschen, es war ja eine bäuerliche Bevölkerung, etwas Schreckliches. Für diese Frauen, die sich da öffentlich nackt ausziehen mussten. Ich kann mich an meine Tante erinnern, das war so eine große hagere Frau, für sie war das wahrscheinlich

199 der Schreck ihres Lebens, das sie da so coram publico nackt sein muss und so.“ – Katja Sturm-Schnabl Die Nacktheit in der Öffentlichkeit wird in der Dokumentation als erstes sprachliches Bild für die Scham der Opfer eingeführt. Das Interview ist bildlich weiterhin ein Wechselspiel zwischen der Perspektive auf der Erzählenden und der Zuhörenden (Ajda Sticker), die sichtlich das Erzählte schwer ertragen kann. „Meine Mutter, die hat wieder so ihre Skepsis herbeigeholt und hat gesagt, wer weiß, ob das normale Duschen sind. Da war ein neuer Lagerführer, auch ein SS Mann, dass er, ich kann mich erinnern an diese Apelle, einen Satz habe ich mir gemerkt, obwohl ich nicht Deutsch konnte damals, den hat er immer wieder wiederholt und der hieß: „Und ich werde auch alle vergasen lassen!“ Das war so eine prägnante Geschichte im Lager.“ – Katja Sturm-Schnabl In der folgenden Szene wird in einer künstlerischen Performance zur Erinnerungskultur in der Gemeinde Rosegg / Rožek einer Rose der Kopf abgeschlagen. Es folgt das Reflexions-Interview des soeben Gehörten durch die Vertreterin der dritten Opfergeneration, der Journalistin und Musikerin Ajda Sticker. Das Interview findet anlässlich der Veranstaltung statt, über die Ajda Sticker auch journalistisch berichtet. Sticker versetzt sich in die Rolle von Katja Sturm-Schnabl und berichtet von der Angst davor, dass alles außer Kontrolle gerät: „Sich vorzustellen dass ein sechsjähriges Mädchen unter erwachsenen Menschen, die komplett die Kontrolle verlieren, über das was passieren wird, das erleben muss, das Gefühl miterlebt, wie das ist, kein behütetes Leben mehr zu haben, sondern ausgesetzt zu sein einem System, von dem man nicht weiß, wie es ausgehen wird. Das hat mich sehr berührt oder schockiert, oder verängstigt, eigentlich auch, weil das hätte ich glaube ich, nicht überlebt, zumindest das Gefühl in mir sagt mir, das ist so ein arges Trauma für mich persönlich, ich weiß nicht, ob ich diese Zugfahrt überlebt hätte.“ – Ajda Sticker Es folgt bildlich ein langer Schwenk über die Menge, der mit Ajda Sticker als dritte Opfergeneration, die als Journalistin auf der Performance arbeitet, beginnt und bei der zuhörenden Katja Sturm-Schnabl, erste Opfergeneration, endet. Der darübergelegte Sprechertext liefert Informationen über das Denkmal und führt den Begriff der Sprachzertrümmerung durch die Nationalsozialisten ein und betont, dass das Terrorregime die Opfer, die Mitläufer, wie auch die Kunst zum Schweigen verdammte und die Performance und das Denkmal dieses Schweigen brechen und an die Opfer in der Gemeinde erinnern wollen. Daher haben sich die Künstler Marjan Sticker und Rudolf Melcher auch für eine Skulptur entschieden, die mit Buchstaben operiert. Musikalisch wird die Veranstaltung vom Lied „History“ der Gruppe Talltones umrahmt. „Millionen von Menschen haben das Terrorregime der Nazis nicht überlebt. In Rosegg / Rožek wird den unschuldigen Opfern aus der Gemeinde ihre Würde

200 zurückgegeben. Rosegg erinnert sich in Form einer Performance.“ – Sprechertext Der Text macht auch die Frage des Verhältnisses zwischen Opfern und Tätern auf. Das nach dem Krieg verordnete Schweigen über das, was in den Lagern der Sozialsozialisten passiert ist, wie der Schlussstrichdiskurs, haben die Lagermentalitäten bis auf die Ebene des Dorfes bis heute befeuert. „Die Forderung nach einem Schlussstrich unter die NS-Geschichte hat in den letzten Jahrzehnten die Kluft zwischen Tätern und Opfern vertieft. Mitten im Ort steht ein Stolperstein. Ein Kubus gegen die Sprachzertrümmerung der Nazis, die Generationen zum Schweigen verdammte.“ – Sprechertext Bei TC 8.53 beginnt die Filmpassage in der der Musiker Richard Klammer im Rahmen der Perfomance in deutscher Übersetzung singt: „Die Dinge, an die du dich nicht erinnern kannst, sind die Dinge die du nicht vergessen kannst. Die Geschichte streut ihren Samen in jeden Traum. Es ist die Zeit.“ In Szene 13 sitzt Ajda Sticker beim Interview in strahlender Sonne vor einem Goldregenstrauch, ein weiteres Symbol, das die Opfer mit der Vertreibung durch die Nationalsozialisten in Verbindung bringt. Am Tag der Deportation, am 14. April 1942, stand Südkärnten in Blüte, was als krasser Gegensatz zum durchlebten Leid empfunden wird. Ajda Sticker greift im Interview dann die Frage auf, was die Opfer des Nationalsozialismus trennt und was sie zusammenhält. „Vergleichen finde ich immer schwierig. Ich glaube, was wir alle gemeinsam haben, wenn ich jetzt von all den Opfern ausgehe, die die Nazis vernichten wollten, Roma, Sinti, Juden ect. Wir haben den gleichen Täter gehabt, wir haben den gleichen Peiniger gehabt und sie wollten alle vernichten.“ – Ajda Sticker Nur durch eine Schwarzblende vom Sticker-Interview getrennt, beginnt die erste Expertenanalyse zum Thema Opfergemeinschaft. „Jeder Mensch ist sehr individuell mit seinem Erleben, Trauma und es hat keinen Sinn dieses Trauma zu nivellieren oder nicht ernst zu nehmen, indem man Unterschiede macht.“ – Klaus Mihacek Bei TC 10.06 werden Natureinstellung mit nachbesserten Originalgeräuschen gezeigt. Diese ästhetischen Naturaufnahmen sollen das Gesagte verstärken. Im Sprechertext wird das Trauma als seelische Wunde, die nicht verheilt, direkt angesprochen. „Beteuerungen, dass die Zeit alle Wunden heile, können die Opfer nur als Verhöhnung empfinden. Die seelischen Kerben, die den Überlebenden geschlagen wurden, verheilen nicht. Vor allem die Tatsache, dass der Nachbar zum Täter wurde, ist kaum zu verwinden.“ – Sprechertext Dass die Gewalt nicht von Fremden kam, sondern es oft der Nachbar war, der die Opfer verraten und schikaniert hatte, wird zuerst vom Roma-Vertreter in erster Generation thematisiert. „Es war der Bürgermeister, und der war ein großer Nazi, und der hat uns Roma nit leiden können. Und der hat unterschrieben für alle ins

201

Lager. Wenn der Bürgermeister nicht unterschrieben hätte, dann wären wir nicht ins Lager gekommen.“ – Adolf Papai Bei TC 10.51 werden die Listen in einer Spielfilmszene gezeigt, um eine der erschütterndsten Erzählungen einzuläuten. In einer Spielfilmszene wird der kleine Adolf Papai mit seinem Hund Lumpi gezeigt. „Und einen kleinen Hund habe ich gehabt, der war sechs sieben Monate als, Lumpi hat er geheißen, und ich war damals zehn Jahr, nicht, im 41er, und ich hab ihn so gern hab ich ihn nicht ausgelassen.“ – Adolf Papai Die Spielfilmszene zeigt, wie ein Soldat im Mantel zum kleinen Adolf Papai und seinem Hund kommt. „Und dann hat er mich mit dem Hund, bei den hinteren Haxen/Beinen hat er ihn gehabt und hat er mich so viel geschlagen, dass der arme Hund, sind abgerissen die Haxerln/Beinchen, und dann hat er ihn weggeschmissen, na ja, ich hab geweint, und gehauen haben sie mich, und alles, was haben wir machen können? Nix. Das war so I Armut.“ – Adolf Papai Der Schmerz über diese unerwartete, bis dahin unvorstellbare Gewalt gegen das Opfer und die Ermordung des geliebten Lebewesens, seines Haustieres, sind psychisch nicht zu bewältigen. Die Spielfilmsequenz zeigt das kleine Opfer wie es in sich zusammensinkt. In der nächsten Einstellung wiederholt sich die Interpretation des sich drehenden, stummen Munch-Schreis, und sie wird mit dem Ziel der Verdichtung mit Bildern von Blut, Zäunen und Licht überblendet. „Öfters kann ich nicht schlafen, vier, fünf Stunden in der Nacht, da kommt mir das alles in den Kopf, und dann kann ich nicht schlafen. Die Armut, wie sie da gestorben sind.“ – Adolf Papai Als Adolf Papai erzählt, dass er nicht schlafen kann, kommt ihm das Lachen. Unwahrscheinlich und absurd scheint es dem Opfer, dass er nach so vielen Jahren, Nacht für Nacht, nicht schlafen kann, weil die Bilder des Leids in ihm aufsteigen. In ihrer ersten Reaktion auf die Erzählungen der ersten Opfergeneration analysiert die junge Romni, Sandra Selimović, den schleichenden Einfluss nationalsozialistischen, radikal rassistischen Gedankengutes. „Es ist mir am meisten aufgefallen, das hat sich so eingeschlichen, zuerst hat es niemanden betroffen, und dann hat es den Nachbarn von da drüben betroffen und dann den und dann ist es immer näher. Und solang es nicht einen selbst betroffen hat oder einen unmittelbaren Familienangehörigen, war das so irreal und plötzlich war es da.“ – Sandra Selimović In Szene 15 stellt der Sprechertext die Schauspielerin Sandra Selimović vor. Im Bild sieht man die Probe für ein Stück über den Sinti-Boxer Johann Rukeli Trollmann. Selimović steht im Boxring und wärmt sich auf. „Sandra ist Schauspielerin. Die Eltern der jungen österreichischen Romni stammen aus Serbien. Sie weiß, dass die Gesellschaft den Jugendlichen alle Hoffnung raubt. Mit widerständischen Stücken

202 will Sandra jungen Roma Zivilcourage vorleben. Die Geschichte des Sinti-Boxers Johann Rukeli Trollmann erzählt vom Holocaust, dem 95 Prozent der österreichischen Roma zum Opfer fielen. Der Naziterror prägt bis heute das Denken und Fühlen aller Roma.“ – Sprechertext Es offenbart sich, dass Sandra Selimović wie auch die Journalistin Ajda Sticker beruflich das Leid, das der ersten Opfergeneration widerfahren ist, an die Öffentlichkeit bringen wollen. Selimović thematisiert im ersten Teil des Interviews Johann Trollmanns Rolle als Sexsymbol. Sie ordnet es als Gleichberechtigung bringende Errungenschaft ein, dass es das Sexsymbol Trollman geschafft hat, den Boxsport auch für Frauen attraktiv zu machen. Im Stück selbst spielt Sandra Selimovič Rukeli Trollmann. „Also ich bewundere Johann Rukeli … deswegen, weil erstens war er ein sehr charismatischer, sehr fescher Kerl, und er war auch wirklich ein totales Sexsymbol. Er war einer der ersten Vorreiter, als Grund, warum die Damenwelt auch angefangen hat, auch Boxsport sich anzuschauen.“ – Sandra Selimović Zwischen den Interviews boxt und trainiert die Schauspielerin in einer Probensituation. Die Sequenz kann die Konnotation auslösen, dass sich die Romni nicht nur fit füs Stück macht, sondern auch für den Widerstand. Selimović eröffnet im Film den Diskurs um Zivilcourage und Widerstand in Situationen, in denen der Mensch entrechtet und diskriminiert wird. „Ja, es ist für mich auf alle Fälle ein widerständisches Symbol, weil er bis zum Schluss geboxt hat, und eben als diese arische Karikatur einfach nur bis es nicht mehr ging den Nazis zu zeigen, dass sie ihn mal kreuzweise könne und das fand ich super.“ – Sandra Selimović Der Sprechertext erklärt ab TC 13.59 das Schicksal des Sintiboxer Johann Rukeli Trollmann. „Johann Trollmann färbte seine Haare blond und bedeckte seine Haut mit weißem Puder. Als Karikatur eines ‚arischen‘ Boxers kämpfte er, bis die Nazi ihm die Lizenz entzogen. Im Konzentrationslager trat er gegen SS-Leute an. Als er einen Kapo besiegte, nahm dieser einen Knüppel und erschlug den Sinto.“ – Sprechertext In Szene 16 kehrt der Film zur jüdischen Community zurück. In mehreren Interviewpassagen erzählt Liese Scheiderbauer über die Zeit ihrer Familie in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. „Liese Scheiderbauer überlebte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zwei Jahre lang das KZ Theresienstadt.“ – Sprechertext „Dann haben sie mich in das Kinderheim gegeben. Da war nur noch ein Platz bei schwerstbehinderten Kindern, bis die eines Tages alle abtransportiert wurden, samt den Erziehern und mich haben sie übriggelassen. Das ganze Heim war leer und ich war das einzige Kind, was noch in seinem Stockbett gelegen ist, mit einem Brief von den damals, heute würde ich sagen, sie waren 25, 26, den Erziehern an meine

203

Mutter, wo sie geschrieben haben: ‚Wir wissen was mit uns passiert, wir bleiben bei den Kindern. Aber wir lassen die Liese da‘.“ – Liese Scheiderbauer Liese Scheiderbauer versagt am Ende der Passage ein wenig die Stimme. In der nächsten Passage wird die Szene des Mädchens im Flüchtlingsgewand hinter Gitterstäben, die davor schon die Gefangenschaft im Zug symbolisierte, fortgesetzt. Diesmal steht das direkt in die Kamera blickende Kind für die totale Vereinsamung der Kinder im den NS-Lagern. Liese Scheiderbauer erzählt in der folgenden Interviewpassage über die Opfergeschichte und das Psychotrauma ihres Vaters. „Und der Papa war ein Jahr in Auschwitz. Er hat eigentlich fast nicht darüber geredet. Er hat in der Nacht seine eingravierte, eintätowierte Nummer geschrien. Er hat Appell geschrien. Es war für ihn dieser Krieg nicht zu überwinden. Seine gesamte Familie ist vergast worden, seine Mutter ist vergast worden. Das ist etwas, was ein Mensch eigentlich nicht überwinden kann.“ – Liese Scheiderbauer Mit der Erzählung über den Vater berührt der Film das Leben in einem der Zentren des durch die Nationalsozialisten verursachten Grauens, in Auschwitz. Bei TC 16.09 wird im Film die literarische Komponente als Möglichkeit des Benennens des erlebten Grauens eingeführt, konkret mit einem Gedicht der Autorin Lilly Brett, deren Eltern Auschwitz überlebt hatten. Brett war eine der ersten Literatinnen, die das Grauen in den „Auschwitz Poems“ beschrieb. Durch die Entscheidung, die Kärntner slowenische Protagonistin Ajda Sticker das Gedicht lesen zu lassen, wird eine Verbindung zwischen den Opfergruppen geschaffen. Sticker liest das ins Deutsche übersetzte Gedicht über eine Filmmontage, in der die Schauspieler ihre Zungen an Stacheldrähte halten.

„Man würde meinen, die Kinder zu töten war schwerer. Es war leicht. Man warf sie in die Luft bei Schießübungen, warf sie an die nächstbeste Mauer. Brach das Rückgrat! Knacks! Wie Zweige Die Glückspilze gingen mit ihren Müttern ins Gas.“ – Lily Brett „Auschwitz Poems“

Der Traumaforscher, Primar Klaus Mihacek, analysiert die Reaktion jener KZ-Häftlinge auf die alles beherrschende Todesgefahr, die Entmenschlichung und die Gewalt, die jeden Kontakt mit der Außenwelt abbrachen und im Zuge dessen auch ihr

204

Sprechvermögen verloren. „In den Todeslagern gab es Menschen, die eben im letzten Stadium ihrer psychischen und physischen Vernichtung standen. Der einzige Instinkt war ein Selbsterhaltungstrieb, eben die Nahrungssuche, diese Menschen haben sich dann komplett von der Außenwelt abgeschottet, sich zurückgezogen, waren auch nicht erreichbar.“ – Klaus Mihacek Den Bildern, die das Zertreten von Brillengläsern zeigen, folgen in der Spielfilmpassage unzählige erhobene Hände. Während das Zertreten der Brille für den Versuch der Nationalsozialisten steht, neben den Körpern auch den Geist und die Seele der Häftlinge zu brechen, sollen die erhobenen Hände den Hilferuf zu Gott symbolisieren. Ajda Sticker, die Kärntner slowenische Protagonistin für die dritte Opfergeneration, liest über diese Bildpassage ein weiteres Gedicht der Autorin Lily Brett. Das Gedicht widmet sich den von Mihacek angesprochenen lebendigen Toten, den sogenannten Muselmännern, die jeden Kontakt zur Außenwelt abgebrochen haben.

„Locker hielt sie der Tod umfangen, lies ihnen Luft zum Atmen. Sie gingen blindlings, sprachen nuschelnd. Wurden gemieden von jenen, die am Leben bleiben wollten“ – Lily Brett „Auschwitz Poems“

Bei TC 17.32 fährt Liese Scheiderbauer mit ihrer Erzählung über die Opfergeschichte ihres Vaters fort. „Sein bester Freund, den er in dem Lager in Italien kennengelernt hat, der kam zu ihm in die Krankenabteilung und er wusste, dass er am nächsten Tag ins Gas gehen muss und das hat er ihm erspart, indem er ihm eine Luftinjektion gegeben hat. Er hat faktisch seinen besten Freund getötet. Was gegen den Hippokratischen Eid natürlich schon sehr dagegen spricht, dass das ein Arzt macht. Aber er hat es aus Mitleid getan. Das hat ihn schwer getroffen.“ – Liese Scheiderbauer Die heitere Mimik der Liese Scheiderbauer in dieser Passage, die in krassem Gegensatz zum Gesagten steht, lässt auf eine durch die Jahre entstandene natürliche Maske rückschließen. Die Haltung eines Opfers, das erzählen, aber nicht dramatisieren will. Die Aussage steht für jene Taten von Häftlingen, die sie aus dem klassischen Opferschema herauskatapultieren. Ein Arzt der mit einer mit Luft gefüllten Spritze seinen besten Freund tötet, steht in krassem Widersatz zur Opferrolle und eröffnet den Diskurs über die unterschiedlichen Lebens- und Überlebensstrategien von KZ-Häftlingen.

205

Nach einer kurzen Flashbacksequenz, die einen Tropfen Blut an einer steril blauen Nadel zeigt, fährt Liese Scheiderbauer ihre Erzählung fort. „Mein Vater hat über Auschwitz nicht geredet. Er hat nur einmal gesagt, er war so verzweifelt, dass er die Absicht hatte in den elektrischen Zaun hineinzulaufen und sich selbst zu töten. Und dann war wieder der Gedanke, vielleicht leben wir doch. Und das hat ihn dann vor Selbstmord abgehalten. Die Güte, die er in sich hatte, konnte Auschwitz auch nicht ruinieren, er war ein guter Mensch. Alles was er gesehen hat, hat ihn nicht schlechter gemacht. In seinem Charakter ist er das geblieben. Die Schwäche, die er hatte mit den Drogen, war wahrscheinlich das, dass seine Seele es nicht überwinden konnte, aber seinen Charakter hat er durch Auschwitz nicht verändert.“ – Liese Scheiderbauer In dieser Interviewpassage (Szene 17) reflektiert Liese Scheiderbauer, wie sich die Erlebnisse im Konzentrationslager auf die Psyche ihres sich mit Drogen betäubenden Vaters auswirkten. Im Bildblock blickt die Protagonistin der Roma, Sandra Selimović, ins Wasser, als Symbol für das über der Oberfläche Liegende. Es folgt das Interview mit Thea Scholl, die aus der Emigration nach Wien zurückkehrte. Ihre Nachforschungen bei den Nachbarn ergaben, dass die Eltern noch von ihrer Ehe und von der Geburt ihres Sohnes informiert waren. Die Eltern von Thea Scholl wurden deportiert und in Minsk erschossen. „Erst wie ich zurückgekommen bin habe ich das erfahren, was mit meinen Eltern geschehen ist. Und die eine Kollegin hat meine Mutter irgendwo noch, bevor sie weg transportiert wurde, hat sie getroffen und meine Mutter hat ihr stolz erzählt, dass ich einen Arzt geheiratet habe und dass ich einen Buben zur Welt gebracht habe, voll Freude. Da war sie noch am Leben. Und das war kurz bevor sie deportiert wurden. Und 1942 wurden sie nach Minsk deportiert und dort ist ja niemand zurückgekommen.“ – Thea Scholl Thea Scholl steht für die Entwurzelten, die durch ihre Abwesenheit in keiner Form ins Geschehen eingreifen konnten und sich das ein Leben lang zum Vorwurf machen. Die bittere Erkenntnis, dass die emigrierten Opfer nicht nur während der NS-Zeit, sondern auch danach nichts tun konnten, wiegt schwer auf dem Gewissen dieser Menschen. Diese Opfer glauben, dass sie gegen das Terrorregime hätten ankämpfen und so ihre Eltern retten hätten können. „Nun, was konnte man da noch nachforschen? Es sind alle umgebracht worden. Was sollte man da noch nachfragen? Da gab es nichts mehr nachzuforschen.“ – Thea Scholl Die Interviewpassagen werden durch Bilder von einem schneebedeckten Feld und einem auf Ästen sitzenden, schwarzen Raben unterbrochen. Thea Scholl berichtet, was ihre Recherchen ergeben haben. Der zuhörenden Verwandten, Olivia Pixner- Dirnberger, kommen im Bildhintergrund während der Erzählung die Tränen. „Da sind die Leute hingekommen und wurden sofort erschossen. Ich glaube sogar mit Genickschuss. Es ist grauenhaft und es verfolgt einen im Traum und in vielen Nächten habe ich immer geträumt, dass meine Eltern da sind. Dass ich mit meiner

206

Mutter, mit meinem Vater spreche. Das sind eben die Nachwehen oder die Folgen dieser, dieses Traumas, wenn Sie das so nennen wollen. Aber ich hab manchmal das Gefühl, ich habe nicht genug getan, um meinen Eltern zu helfen. Das liegt mir schon sehr schwer auf der Seele.“ – Thea Scholl Thea Scholl berichtet über ihre Schuld, die ihre Abwesenheit mit sich brachte. Den Verlust der Eltern holte sie in den Träumen ein. Bei der Passage sieht sie entschuldigend zur zuhörenden Protagonistin hin, voll Mitgefühl, ob das Gesagte für die junge Frau nicht zu schwer zu ertragen sei. In der nächsten Szene (18) folgt die Vorstellung der jüdischen Protagonistin, der Werbefachfrau Olivia Pixner-Dirnberger, die Organisation „Morah“ gegründet hat. Die erste Interviewpassage der jungen Jüdin steht für die Haltung jener Opfergruppen, die nach dem Krieg über die Shoah auch in ihren Familien nicht sprechen wollten oder konnten.546 „Ich glaube es war Scham und Angst, die meine Großeltern dazu gebracht hat, darüber nie wieder zu reden und das auch ignorieren und ausblenden zu wollen und so war das in meiner Kindheit auch kein Thema, also weder religiös noch traditionell und mit der Pubertät sind Fragen gekommen, sind, dann war das in der Schule immer mehr, Geschichtsunterrichtthema und das ist es, und da ist es mir immer mehr bewusst geworden, dass das mein Thema ist. Das ich da auch einen anderen Zugang habe als die Mitschüler und Kollegen in der Klasse, weil das nicht die Geschichte und Katastrophe der Juden war, sondern das war das Schicksal und die Katastrophe meiner Familie und ich habe angefangen in Dokumenten zu stöbern und immer mehr Fragen zu stellen.“ – Olivia Pixner- Dirnberger Olivia Pixner-Dirnberger spaziert im Bild durch den ersten Wiener Bezirk Richtung Judenplatz. Das Interview wurde vor dem Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah geführt. Das Denkmal, entworfen von der britischen Künstlerin Rachel Whiteread, wurde auf Initiative von Simon Wiesenthal errichtet. Das Denkmal erinnert an nach außen gekehrte Bibliothekswände. Die einzelnen Bücher – quasi die Bausteine des Denkmals – stehen für die einzelnen Lebensgeschichten der in den NS-Konzentrationslagern ermordeten Jüdinnen und Juden. In einer über den Holocaust schweigenden jüdischen Familie aufgewachsen ist der Schulunterricht der Auslöser für die Wurzelsuche der jungen Jüdin. Es sind dann auch Schülerinnen und Schüler, die Olivia Pixner-Dirnberger mit ihrer Organisation ansprechen will. „Olivia Pixner-Dirnberger versucht mit der Österreich Sektion von MORAH Schülerinnen und Schüler mit dem Holocaust zu konfrontieren. Die Jugendlichen treffen Überlebende der Shoah. Die Grundmechanismen, die zum Holocaust führten sind bis heute in Form von Diskriminierung, Rassismus und

546 Vgl. Kapitel 7.4.1.1. 207

Ausgrenzung wirksam. Die jungen Menschen sollen lernen sich zu wehren.“ – Sprechertext Über Bilder eines weiteren Wiener Denkmales, des Mahnmales gegen Krieg und Faschismus mit der Skulptur des „knienden und straßenwaschenden Juden“ des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka erklärt der Sprechertext die Aufgabe der Organisation „Morah“, Jugendliche zu kritischen und zivilcouragierten Bürgern zu erziehen. Das Denkmal wurde von der Künstlerin und Filmemacherin Ruth Beckermann mit einer künstlerischen Intervention „the missing image“ hinterfragt. Eine Wiener Antisemitin hatte die Idee der sogenannten Reibepartien. Juden mussten mit Zahnbürsten und Bürsten die Parolen des Ständestaates am Boden kniend entfernen. Ruth Beckermann fand im österreichischen Filmmuseum ein paar Sekunden Material von dem, was bislang nicht gezeigt wurde, den lachenden Wienerinnen und Wiener, die die Entrechtung der Juden mit lachenden Gesichtern genossen. Beckermann projizierte das Material geloopt rechts und links vom knienden Juden, den Sound bearbeitete die Komponistin Olga Neuwirth. Ruth Beckermann argumentiert auf der Homepage zum Projekt: „Ich bin nicht dafür, dieses oder ein anderes kompromittiertes Denkmal abzubauen. Karl Lueger & Co. gehören zur Geschichte dieser Stadt. Es liegt an den heutigen Bewohnern, den damals geliebten Antisemiten eine neue Perspektive hinzuzufügen, sei es in erklärender, sei es in provokanter Weise. In diesem Sinne versteht sich meine Installation THE MISSING IMAGE als Intervention. Sie zeigt den immer gleichen Mechanismus der Ausgrenzung: Wer auf die Knie gezwungen wird, ist schmutzig. Wer auf dem Boden liegt, auf den kann man hinunter schauen.“547 Die Autorin hatte sich während der Produktion des Filmes noch nicht mit diesem Aspekt des „knienden, straßenwaschenden Juden“ auseinandergesetzt. Aus heutiger Sicht wäre es notwendig gewesen, die Argumentation und künstlerische Intervention von Ruth Beckermann in den Film einfließen zu lassen. In der Analyse bleibt zu bemerken, dass der Kameramann sich auf die Ebene des Juden begeben hat und die Kamera in dieser Passage am Boden liegt. Olivia Pixner-Dirnberger zeigt im Cafehaus die Homepage von „Morah“, die Jugendliche auf ihrer Fahrt nach Auschwitz begleitet. „Es hat sicher mit meinen ganz feinen Antennen bezüglich Minderheitenthemen zu tun und wie man vielleicht etwas ein bisschen besser machen kann.“ – Olivia Pixner-Dirnberger Die Autorin hat sich in der endgültigen Version von „Schatten der Scham“ gegen den Einsatz von Archivmaterial, das die Opfer im Lager zeigt, entschieden. Das Morah- Video-Archiv Material führt die Seher über die Amateuraufnahmen nach Auschwitz. Pixner-Dirnberger berichtet, was sie im ehemaligen Konzentrationslager fühlt. „Ich bin ja gut vorbereitet, aber manchmal kann ich dort nicht, was dort schwingt, was

547 Missing Image: http://www.themissingimage.at/home.php?il=2&l=de, 16.6.2018 208 dort ist, was dort ist und war, dass einen das nicht erschlägt.“ – Olivia Pixner- Dirnberger In Szene 19 tritt nach den Interviews der Opfer in zwei Generationen (erste und dritte) und einem Experten erstmals ein Künstler im Interview auf. Peter Handke wählt als den Ort für das Interview Stift Griffen. „Stift Griffen ist kein Ort. Da stehen nur zwei Kirchen, ein Friedhof und ein Wirtshaus. Peter Handke hat nie aufgehört, diesen Ort als Zentrum seines Schreibens zu bezeichnen und umzusetzen. Mit den slowenischen Worten aus diesem Zentrum wird dem Krieg, dem Verbrechen, dem Unrecht Einhalt geboten“, so Fabjan Hafner in einer Preislaudation auf Handke.548 Auf dem Friedhof ist Handkes Mutter begraben. Handke nimmt auf einer Friedhofsbank Platz. „Das Nazitum zu relativieren, da bin ich total dagegen, dass man sagt die Nazis waren Menschen, das waren keine Menschen, das ist das, die Entmenschtheitzeit, wie es sie noch nie gegeben hat. Nein, nein, ich bin absolut auf der Seite der Entrechteten, auch der Sprache beraubten, jetzt inzwischen, das ist mir alles ganz klar, was die Tragödie war: Die Slowenen in Kärnten, zumindest was das Elternhaus, bzw. das Großelternhaus betrifft, waren alle absolut gegen Tragödie. Dass Menschen, die nie Tragödie erleben wollten, Tragödie erleben mussten, das ist die Tragödie.“ – Peter Handke Peter Handke stellt sich auf die Seite der Entrechteten. In der Passage, in der er über seine Kärntner slowenischen Familie spricht, huscht in Erinnerung an seine lebenslustige Ursprungsfamilie ein Lächeln über sein Gesicht. In der folgenden Bildpassage bei TC 24.10 wandelt die Vertreterin der dritten Opfergeneration, Sandra Selimović, durch die ständige Ausstellung des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien. Sie betrachtet ein vergrößertes Foto der Hitler auf dem Heldenplatz zujubelnden Menge. In der nächsten Passage ohne Musik, nur mit Originalton, in der Originalfassung setzt sich ein Mann in Anzug auf einen orangenen Stuhl in einem kleinen Zimmer. Er begrüßt das anwesende Team und erst als er Platz nimmt, erkennt man, dass es sich um den weltweit bekannten Künstler Harry Belafonte handelt. Dieser gezielte Überraschungseffekt wurde in der englischen Version von „Schatten der Scham“ mit einem Reportertext belegt, da der Autorin bewusst wurde, dass ein Text klar macht, warum Harry Belafonte im Film auftaucht. Es zeigte sich, dass vielen die Rolle des Künstlers als Bürgerrechtskämpfer vor dem Ansehen des Dokumentarfilmes nicht bekannt war. Dieser Schritt ist symptomatisch für prozesshafte Herangehensweise der Autorin, die solange wie möglich versucht, die Produktion zu optimieren. Harry Belafonte steht im Dokumentarfilm für den inhaltlichen Sprung auf die internationale Ebene. Seine Aufgabe im Film ist es, die Universalität der Mechanismen des

548 Hafner, Fabjan (2014). Oha, sivec! Peter Handke und die Slowenen / Peter Handke in Slovenci. Celovec-Ljubljana-Wien: Mohorjeva, Seite 9 209

Ursprunges von Gewalt gegen – ethnische – Minderheiten und die gleichbleibende Reaktion der Opfer weltweit zu postulieren. Das Interview wurde im Rahmen der Pressetour von Belafonte im Rahmen der Viennale im Oktober 2011 aufgenommen. Vorgestellt wurde die Filmdokumentation „Sing your song“ von Susanne Rostok als verfilmte Biographie des Künstlers mit Schwerpunkt auf seine Rolle im Bürgerrechtskampf. Das Viennale-Team um und mit Festivalleiter Hans Hurch, den eine persönliche Bekanntschaft mit Belafonte verband, setzte sich dafür ein, dass das Interview stattfinden konnte. Harry Belafonte meinte nach unserem Interview, dass es sich dabei um das Beste seiner gesamten Europatour gehandelt habe, was dem Team Karol Martesko-Fenster, der Filmproduzent mit österreichischen Wurzeln, berichtete. Harry Belafonte ist für seinen herausragenden Intellekt, seine Eloquenz und sein empathisches Eingehen auf den Fragenden nicht nur in Journalistenkreisen bekannt. In dieser ersten Interviewpassage folgt einer generellen Analyse, die ganz konkrete, auf die Interviewerin Bezug nehmende, Antwort auf die Frage nach den Gründen für die Assimilation der Jungen in den Opfergruppen. Belafonte bedient sich Sprache der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und setzt sie gezielt ein. Transkript aus der oft verkürzenden Übersetzung für die deutschen Untertitel: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht genießen. Dafür, muss man wissen, wer man ist, wie man überlebte und was einen überleben ließ. Das will ich diesen jungen Menschen sagen, die ihre Vergangenheit als Roma, oder ihre Vergangenheit als eine österreichische Minderheit, aus der sie stammen, nicht wahrhaben wollen. Diese Dinge sollten in ihrem Kontext gesehen werden. Es kann keine Zukunft gedeihen, die einen nicht den Ruhm und den Schmerz, der eigenen Vergangenheit verstehen lässt.“ – Harry Belafonte In der darauffolgenden Bildpassage sieht man Sandra Selimović nun am realen, leeren Heldenplatz, jenen Ort, den sie zuvor auf dem Archivfoto im DÖW mit der Hitler zujubelnden Menge gesehen hat und konfrontiert auf diese Weise die Erinnerung mit der Gegenwart. Es ist starker Wind zu hören. Es folgt eine Schwarzblende, dann ein Gleis, ein weiteres Symbol für die NS-Deportation, das in die Ferne führt und man hört den herannahenden Zug, der dann in einer Naheinstellung vorbeifährt. In Szene 20 bei TC 25.33 tritt der erste Vertreter der zweiten Opfergeneration, der Musiker Harri Stojka, auf. Stojka sitzt in der Natur, im Hintergrund sieht man die für die Zuseherinnen und Rezipientinnen ins Unbekannte führende Schienen. „Ja, das ist unsere Überlebensstrategie, Lebensfreude, Fun, Joy …, Natur, mein Vater war irrsinnig gern in der Natur. Der hat immer geschwärmt. Wenn er da, er hätt sofort gesagt, da hätten die Roma ihren Platz, ihren Pferdeplatz gemacht, und da hätten wir gekocht, und das war für meinen Vater so das Schönste.“ – Harri Stojka

210

In der nächsten Bildpassage sieht man in einer Nahaufnahme virtuoses Gitarrenspiel. Jazzliebhaber erkennen die schnellen Tonabfolgen als Gitarrenspiel von Harri Stojka. Nachdem die Gitarre aufhört zu spielen, hört man im Hintergrund Geräusche von vielen Menschen. Stojka spricht in einem erdigen Wiener Idiom, das durch das Einstreuen von englischen Ausdrücken Internationalität signalisiert. „Unsere Überlebensstrategie war die Lebensfreude, würde ich sagen, ist meine Meinung, wie ich es aus meiner Familie kenne. Man sagt in Wien, das unschöne Wort: die Sau rauslassen, also wirklich feiern, abfeiern, bis ins Morgengrauen trinken, essen, Musik machen, und das ist eine gute Überlebensstrategie, also ich mach das gern, ich mach das selbst gern, Party einfach. Aber es ist auch dann, bei den Festen, wenn sich die Feste bei meiner Großmutter so dem Ende geneigt haben, und es war schon ein bisschen eine Weinlaune, sind sie irrsinnig traurig geworden unsere Leute, und haben alle zu weinen begonnen, weil dann wieder, ist immer das Wort Auschwitz gefallen, Auschwitz, Auschwitz, Vernichtungslager, und dann war es für mich schon Zeit nach Hause zu gehen, wie dann war die Stimmung vorbei.“ – Harri Stojka Stojka führt durch seine ungeschminkte, direkte Ausdrucksweise und Eloquenz eine neue Stimmung in den bis dahin sehr düsteren Film ein. Seine Aussagen bergen die angesprochene Lebensfreude und Spontanität in sich. Eine unerwartete Wende, auf die das Publikum regelmäßig mit Lachen reagiert, das, wie Zuseherinnen und Rezipientinnen in Reflexionsgesprächen berichten, Erleichterung in sich trägt und als kleine Pause in der schwer verdaulichen Thematik empfunden wird. In der nächsten Bildpassage (Szene 21) wird ein musikalischer Workshop von Harri Stojka mit den Schülerinnen und Schülern des Slowenischen Gymnasiums eingeführt. Der Workshop wurde von der Autorin im Rahmen eines Projektes der Kärntner Slowenen zum Thema „Solidarität mit den österreichischen Roma“ organisiert und fand zweiteilig im Slowenischen Gymnasium in Klagenfurt / Celovec und im Kulturhaus / Kulturni dom in Bleiburg / Pliberk statt.549 Harri Stojka und Band trafen sich mit dem Chor des slowenischen Gymnasiums und studierten gemeinsam die internationale Hymne der Roma „Gelem, Ggelem, lungo dromensa“ (Ich ging, ich ging die langen Wege) ein. „In diesem Lied vereint sich die ganze Geschichte unseres Volkes, die Traurigkeit, aber auch die Lustigkeit, die Lebensfreude, das Überlebthaben, das uns gibt es noch immer, trotz aller Verfolgung und Ressentiments. Wenn wir dieses Lied jetzt spielen, bitte habt das im Hinterkopf, dann kriegen wir mehr die Blues, den Romablues und den Sintiblues in dieses Lied hinein, aber ihr singt das hervorragend, das möchte ich sagen. Wenn meine Leute euch singen hören, dann rinnen ihnen die Tränen herunter.“ – Harri Stojka Harri Stojka und die Leadsängerin Jelena Krstić waren begeistert, wie schnell die jungen Chorsängerinnen und -sänger den von Stojka verlangten „Roma- und

549 Vgl. Znak solidarnosti z romsko skupnostjo / Tag der Roma: http://volksgruppenv1.orf.at/slovenci/novice/stories/156044.html, 16.6.2018g 211

Sintiblues“ erfassten. In der Formulierung „wenn meine Leute euch singen hören“ manifestiert sich die familiäre Verbundenheit in der Community, geschaffen durch Geburt und Verfolgungsgeschichte. Die Schülerinnen und Schüler trafen im Slowenischen Gymnasiums auf Roma- Vertreter aus Österreich und Slowenien. Im Rahmen der Veranstaltung besuchte auch Rudolf Sarközi, der die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe bis zu einem positiven Abschluss mit vielen anderen Mitstreitern betrieben hat, zum letzten Mal vor seinem Tod die Kärntner Sloweninnen und Slowenen. Die Volkgruppenfunktionäre stießen an der Schule der slowenischen Minderheit in Kärnten natürlich auf ein Grundverständnis über ethnische Diskriminierung und den Nationalsozialismus, da diese in der Schule und in den Elternhäusern der Jungendlichen aus der Volksgruppe ein Thema ist. Dem Publikum erschließt sich erst ganz am Ende der Bildpassage, dass es sich bei den jungen Sängerinnen und Sängern um den Chor des Slowenischen Gymnasiums handelt. Wieder wird im Dokumentarfilm hervorgehoben, dass die Artikulation, das Zusammenspiel, und konkret die Solidarität unter den Opfern und das gemeinsame Erzählen vom Trauma heilend wirken kann. Mit Szene 22 (TC 29.16) kehrt der Film zu den Filmspielszenen zurück. Zu sehen ist die Hinteransicht eines Körpers, auf den verzerrt Tätowierungsnummern aus den NS- Konzentrationslagern projiziert werden. Die Einstellung folgt der Idee, dass der Körper die traumatischen Erlebnisse – oft unbewusst – in jeder Zelle speichert. Ab Szene 22 kommt der Film zu jenem Teil, in dem ein Vertreter der zweiten Generation, in diesem Fall Harri Stojka, erzählt, wie sich das Trauma des Vaters in seinem Alltag bemerkbar gemacht hat: „Also, wenn ich in der Schule, da wird man ja gemessen, das hat er nicht ausgehalten, weil im Lager sind sie ja alle abgemessen worden, das war für ihn ein Symbol der Vernichtung, also ich wollte immer wissen wie groß ich bin, und wir haben so ein Messband gehabt, zu Hause, ‚gibt das sofort weg‘!“ – Harri Stojka Harri Stojka spricht als Kind seinen Vater auf seine Tätowierung an. „Weil er hat ja die Nummer von Auschwitz-Birkenau eintätowiert am linken Unterarm, und ich hab ihn einmal gefragt, was das für eine Nummer ist, da war ich acht, neun Jahre alt, da hat er mich total zusammen geschrien, zusammen geschimpft, und ich hab nicht verstanden warum. Natürlicherweise ich hab ihn dann auch nie mehr gefragt. Und dann, wie ich dreißig Jahr worden bin, da hat er angefangen zu erzählen.“ – Harri Stojka Es folgen bei TC 30.21 die Analysen des Traumaforschers Klaus Mihacek und von Traumforscher Klaus Ottomeyer, die sich aus therapeutischer Sicht des Phänomens des Schweigens der Opfer in erster Generation und der Sprachlosigkeit annehmen. „Generell muss man sagen, dass es einen gegenseitigen Pakt des Schweigens

212 zwischen der Elterngeneration und der nachfolgenden Generation gibt. Einerseits versuchen die Eltern die Kinder zu schonen, indem sie ihre Erlebnisse und ihr Leiden verschweigen, anderseits trauen sich die zweite Generation nicht zu fragen, was die Eltern erlitten haben, weil sie natürlich Angst haben, sie damit verletzen zu können und Dinge hervorbringen können, die für die Eltern schwer verkraftbar sind.“ – Klaus Mihacek „Es ist sehr schwer in angemessener Form über das Trauma zu erzählen, weil die Traumaerfahrung zum großen Teil sprachlos ist, in den Körper eingeschrieben, als Schreckreaktion, als Erstarrung und das findet nicht ohne weiteres Zugang zur gesprochenen Erzählung.“ – Klaus Ottomeyer In der nächsten Interviewpassage erzählt Harri Stojka, dass durch therapeutische Hilfe das Leid des Vaters erkannt, benannt und behandelt wurde. Diese Aussage stieß bei den Vorführungen die Diskussion um die Pathologisierung der Opfer an. Die Frage, ob die Opfer psychisch krank sind oder ob ihr Trauma eine logische psychische und körperliche Reaktion auf das erfahrene NS-Leid ist, wurde heftig diskutiert. „Also, jetzt so im Rückblick würde ich sagen, mein Vater hat es verdrängt. Er hat es nicht verarbeiten können, weil das hat sich dadurch gezeigt, dass er, als er älter geworden ist, ein so genanntes Holocaust-Syndrom bekommen hat. Das heißt, er hat Panikattacken bekommen, er hat müssen in Behandlung gehen, er hat müssen in Therapie gehen. Er hat das nicht verarbeiten können.“ – Harri Stojka Diese Pathologisierung fällt in den Opfer-Täter-Diskurs und die fatale Umkehr des Opfer-Täter- Begriffes in politischen und gesellschaftlichen Situationen. Peter Handke meint dazu. „Wie sagt Rilke, wer spricht von Siegen, Überstehen ist alles. Siegen ist eine große Schande und stolz zu sein, dass man überstanden hat, und dass man mehr war, dass man mehr geworden ist als man früher war, durch das Leiden und dass man nicht nur geschwächt war. Natürlich ist ein Albtraum unendlich schwächend.“ – Peter Handke In der Bildpassage folgt den Filmspieleinstellungen, in denen der Munch-Schrei bearbeitet wurde, auf der Tonspur ein Bellen. Das Bellen eines Hundes spielt auf die Retraumatisierungsauslöser auf der Ebene des Hörens an. In Szene 23 bei TC 32.33 wird in der Filmdokumentation ein Reigen der Berichte über das Grausamste, was den Opfern wiederfuhr in erster Generation abgeschlossen. Nach den Erzählungen von Liese Scheidebauer, dass sie als Einzige von ihren barmherzigen Bertreuerinnen zurückgelassen wurde, dem Bericht von Adolf Papai, dass er mit seinem kleinen Hund von den Nazis derartig geschlagen wurde bis diesem die Beinchen abgerissen waren und der Erkenntnis von Thea Scholl, dass es über den Verbleib der Eltern nichts zu berichten gab, erzählt Katja Sturm-Schnabl im Film in vier aufeinanderfolgenden Interviewpassagen ihre schlimmste Geschichte. Im ersten nimmt sie Bezug auf das Hundegebell. „Ich habe nicht gegessen, mein Teller ist einfach voll geblieben und

213 irgendwann hat das dieser Lagerführer bemerkt und beim nächsten Mal vorbeigehen hat er irgendetwas Kreischendes gesagt und ich habe trotzdem nicht gegessen. Ich habe mir das dann schon vorgestellt, die Endphase dieses Spiels: Weil ich gedacht habe, gut, zuletzt wird er mich von seinem Schäferhund zerreißen lassen. Und dann habe ich gedacht: Aber ich esse es trotzdem nicht, weil ich will von den Deutschen nichts essen! Und wie er dann das letzte Mal am Ende des Tisches war, hat meine Schwester die Teller getauscht und hat meinen Brei so in einem Dings hinuntergeschlungen. Dann war ich ihr eigentlich sehr dankbar, weil ich überzeugt war, sie hat mir das Leben gerettet.“ – Katja Sturm-Schnabl Bei der Interviewpassage in der Katja Sturm-Schnabl über den klugen Schachzug der Schwester der Protagonistin berichtet, entkommt der zuhörenden Ajda Sticker ein Lächeln. „Da waren wir schon hilflose Würmer, ausgeliefert diesem einfach grausamen Menschen. Wie meine Schwester so richtig krank war, ist sie mit ihr zum Lagerarzt gegangen und hat ihn angefleht, er soll sie auch ins Krankenhaus schicken. Der Lagerarzt, den hat das wenig gekümmert und der hat gesagt, na dann wollen wir mal versuchen, und hat dem Kind eine Injektion gegeben und auf diese Injektion hin war das Kind auf der Stelle tot, noch im Arm meiner Mutter. Im Arm meiner Mutter ist der Kopf umgefallen und sie war tot.“ – Katja Sturm-Schnabl Katja Sturm-Schnabl berichtet weiter, wie sie vom Tod ihrer Schwester, die ihr das Leben gerettet hatte und ihr Anker im Lager war, erfuhr. „Einige Zeit später ist dann aber meine Mutter gekommen. Und ich habe sie so von der Ferne gesehen und habe gesehen, ja das ist meine Mutter, aber sie war für mich total verändert und irgendwann einmal habe ich so den Eindruck gehabt, dass sie sich so wie durch Eis oder durch Glas bewegt, dass sich das Eis an ihrer Silhouette herunter zersplittert, sowie sie das Eis durchbricht, splittern diese Eiszapfen an ihrer Silhouette herunter, bis sie dann zu uns gekommen ist und sie war irgendwie so anders und wahrscheinlich so von Schmerz erfüllt. Also ich konnte auch nicht weinen, das war so etwas Schreckliches, es war so schrecklich, weil sich diese Frau so verändert hat, weil sie etwas erlebt hat, was für jede Mutter das Schrecklichste ist, wenn ihr das Kind im Arm stirbt, aber wenn es noch ermordet wird, dann ist es noch schrecklicher.“ – Katja Sturm-Schnabl Katja Sturm-Schnabl sachliche Erzählweise und reservierte Gefasstheit trägt gepaart mit ihrer inhaltlichen Offenheit zur Authentizität der vermittelten inhaltlichen Botschaft bei und passt ins Bild des widerständigen Kindes einer widerständigen Mutter, die sich in diesen lebensbedrohenden Situationen keine Emotionen erlaubt. Es folgt eine Bildpassage in dem ein bäuerliches Ehepaar, zu erkennen am typischen am Hinterkopf zusammengebundenen Kopftuch, sich in ihrer katholischen Religiosität den Himmel anruft und sich ganz Richtung Jenseits ausrichtet. Was zu

214 einem emotionalen Bruch mit ihren Kindern führt. „Sie ist zwar immer eine gut, also eine funktionierende Mutter geblieben, sie hat uns auch immer versorgt auch später als wir zu Hause waren, aber sie war irgendwie, wie abgerückt und fern. Wir hatten keinen wirklichen seelischen Kontakt zu ihr, wie früher. Also sie war da und nicht da. Es war so ein Familientrauma, ist es auch immer geblieben, aber auch später zu Hause, also wir haben nicht so viel vom Lager gesprochen, aber der Tod von der Verica war jeden Tag am Tapet.“ – Katja Sturm-Schnabl In der folgenden Bildpassage blickt Ajda Sticker ins Wasser, als Symbol der Reaktionen, die unter der Oberfläche liegt. Peter Handke bei TC 36.51 spricht eine weitere psychische Ebene an, auf der Trauma sichtbar wird, den Traum. „Ich weiß, das ist meine Familie, es ist mein Traum. Ich weiß, ich habe als Kind schon geträumt von den Toten meiner Familie, von den Opfern meiner Familie und der Traum gibt immer das größte Recht.“ – Peter Handke Es folgt die Bildpassage (Kapitel 24) in der starker, reinigender Regen auf Blätter prasselt. Die Bildpassage dient als Einleitung auf den Interviewausschnitt von Peter Handke, das benennt, was im Rahmen von echter Erinnerungskultur der erste Schritt zur Heilung des Psychotraumas der Opfer sein kann und politisch unumgänglich ist. Der Ausschnitt auf der Tonspur wird bebildert mit idyllischen Winterimpressionen von einem Graben in der Nähe von Eisenkappel / Železna Kapla, in einer Filmmontage mit dem träumenden Kopf des Mädchens aus den Spielfilmsequenzen. Die Schriftstellerin Maja Haderlap erklärt in lyrisch beindruckenden und in jeder Phase treffenden Worten das psychologische Phänomen der transgenerationalen Traumaweitergabe. Sie erzählt so, dass die Leserinnen und Leser das Gesagte mit ihrer eigenen Erlebniswelt in Beziehung setzen. Kein Wort zu wenig, keines zu viel: „Vaters jahrelange Nervenkrisen wirken als stilles Gift, das uns Kindern Tröpfchen für Tröpfchen eingeflöst wird; wie er will, dass wir durch unsere Verstörung, seine Verstörung ungeschehen machen; das Schaudern als Essenz des Lebens begreifen.“ – Maja Haderlap In der nächsten Interviewpassage spricht Maja Haderlap einen wichtigen Diskurs in den Opfer-Communities an, dem Spannungsfeld zwischen Rache und Vergebung, und verbindet die Möglichkeit, den Tätern zu verzeihen an die Zeit. Maja Haderlap sieht sich als Opfer in zweiter Generation, da sowohl die Großmutter, wie auch der Vater vertrieben wurden. „Für die Überlebenden ist es wahrscheinlich kaum möglich zu verzeihen, das glaube ich, ist so. Für die zweite oder dritte Generation ist es dann schon anders. Also ich zähle mich zur zweiten Generation. Meine Großmutter hat das Konzentrationslager überlebt und für mich sieht die Geschichte dann schon ein bisschen anders aus. Ich bin nicht direkt betroffen, sondern ich bin über die persönliche Bindung betroffen und ich betroffen über die Erinnerung dieser Menschen und ich bin betroffen, weil ich auch gesehen habe, wie sie daran leiden

215 und dieses Leiden dann in irgendeiner Weise auch weitergeben, ob direkt oder indirekt.“ – Maja Haderlap Die nächste Bildpassage wagt den Sprung über den großen Teich nach Amerika. Inhaltlich bleibt die Filmdokumentation weiter bei der literarischen Aufarbeitung des Holocaust, der Shoah, der gewaltvoll erzwungen Emigration und ihrer Auswirkung auf weitere Generationen. Auf der Tonspur hört man über Bilder von New York, gefilmt vom Meer aus, ein Gedicht der Autorin Lily Brett, wieder gelesen wieder von der Protagonistin der Kärntner Slowenen in dritter Opfergeneration, Ajda Sticker.

„Bei eurer Ankunft habt ihr gedacht, ihr werdet behandelt wie Könige Mit offenen Armen Willkommen geheißen, liebevoll angesehen Geradezu verehrt. Es empfingen euch aber bange Gesichter Sie sagten: Wir wissen, ihr habt viel durchgemacht Doch am besten sich nicht belasten mit Gedanken daran. (Pause) Vierzig Jahre habt ihr gebraucht bis ihr versuchen konntet, darüber zu sprechen.“ – Lily Brett, „Auschwitz Poems“

Die Bildpassage besteht nur aus einer Einstellung, die mit dem filmischen Mittels des Zeitraffers abgespielt wird. Intention ist dabei, Zeit sichtbar zu machen. Die Aufforderung an die Opfer, das Geschehen zu vergessen, wird bildlich umgesetzt. Blicke ins Wasser, gefilmt vom Schiff aus, erinnern das Publikum, dass die Emigranten mit dem Schiff nach Amerika flohen. Es folgt das Interview in englischer Sprache, mit deutschen Untertiteln, mit der australischen Autorin Lily Brett in ihrer New Yorker Wohnung. Brett schafft in ihrem Interview fast spielerisch den Spagat zwischen privaten Erlebnisberichten und der Analyse dessen, was das Phänomen der Vertreibung, der Zeit in den Konzentrationslagern und ihre Folgen für die gesamte Opfergemeinschaft bedeuteten. Weiters ordnet das Kind von zwei Auschwitz-Überlebenden die privaten Folgen der NS-Massenvernichtung wiederum historisch und gesellschaftliche in ihre internationalen Kontexte ein. „Wenn man das wie meine Eltern überlebt hat. Meine Eltern waren, getrennt voneinander, fünf Jahre im Lager gefangen und kamen dann im letzten Transport nach Auschwitz. Sie haben so viel Horror und Tod erlebt und sie haben so viel verloren. Sie verloren jede Person, die sie geliebt haben und sie verloren ihr Land, ihre Kultur und ihre Sprache, ihre Jugend, ihre Erziehung. Obwohl sie darüber nicht

216 redeten, wusste ich, dass ihnen Schreckliches wiederfahren war und das seit ich klein war.“ – Lily Brett Es folgt der Sprechertext über Bilder eines jüdischen Denkmales im New Yorker Hafen, der über die Familie von Lily Brett informiert. „Lily Brett wurde in Auschwitz gezeugt. Ihre Eltern hatten sich vor der Deportation im Ghetto verliebt und waren einander versprochen. Nach Jahren des Horrors fanden sie sich in Auschwitz wieder. Lily Brett sog die seelischen Verletzungen, die ihren Eltern in den Todeslagern zugefügt wurde quasi mit der Muttermilch auf.“ – Sprechertext In der nächsten Interviewpassage berichtet Lily Brett über Situationen, in denen die Eltern über Details sprachen, die sie im Konzentrationslager erlebt hatte. Die Erzählungen brachen aus den Eltern in kontextfernen Situationen hervor. Lily Brett muss im Interview, während sie erzählt, über die für sie evidente Absurdität der Situationen lachen. „Meine Mutter und auch mein Vater sagten die befremdlichsten Dinge in den ungeeignetsten Situationen. Zum Beispiel meine Mutter, wenn sie in der Küche Saucen anrührte, sagte sie: ‚Es gibt keinen Gott, es gibt keinen Gott!‘ Aber es ging nicht um Gott, wir haben nie über Gott gesprochen. Wieder ein anderes Mal erzählte sie mir, schrecklichste Einzelheiten über ein Kind, dessen Kopf an die Wand geschmettert wurde. Und sie sagte immer, dass ich nicht wüsste wozu die Menschen im Stande wären. Und ich wusste, dass sie es wusste. Und ich wusste, dass ich es niemals wissen würde.“ – Lily Brett In der nächsten Bildpassage, bei TC 41.44, sieht man Lily Brett in ihrem New Yorker Loft mit ihrem Mann, dem Künstler David Rankin. Rankin wird in den Dokumentarfilm eingeführt, da er eine ähnliche Aufgabe wie Harry Belafonte hat. Rankin hat auch Werke zu den Auschwitz Poems von Lily Brett gemalt. „Lily Brett lebt mit ihrem Mann, dem Künstler David Rankin, als Schriftstellerin in New York. Sie brachte das Unsagbare, das ihre Eltern durchlitten hatten, zu Papier und wurde zum vielgelesene Sprachrohr der ‚Second Generation‘.“ – Sprechertext In der folgenden Interviewpassage benennt Lily Brett wichtige Merkmale der konfliktbeladenen Beziehung zwischen erster und zweiter Opfergeneration. „Meine Mutter weinte sich die Tränen aus den Augen. Als ich klein war, saß ich bei ihr und sie weinte, weinte und weinte. Nach der Arbeit in der Fabrik saß sie am Tisch, und weinte und weinte. Ich dachte, dass das teilweise meine Schuld war, und war überzeugt, dass ich ihr helfen sollte. Ich wollte ihnen beiden helfen, aber ganz besonders wollte ich meine Mutter heilen, denn sie war in so vielen Beziehungen zerbrochen. In vielen Beziehungen lebte sie ein ganz normales Leben. Sie kochte wunderbare Mahlzeiten.“ – Lily Brett In der Bildpassage ist ein Schwenk des Künstlers David Rankin zu sehen, eine Original Schwarz- weiß-Fotografie auf der einer gewaltvollen Kriegssituation mit Gittern übermalt wurde.

217

„Wenn man Eltern hat, die solche Grausamkeiten und solch ein Elend überlebt haben, ist es sehr schwer, ist es sehr schwer eine Rebellin zu sein und sich nicht um sie zu sorgen und sich für sie verantwortlich zu fühlen. Meine zwei großen Rebellionen waren, dass ich keine Rechtsanwältin wurde und dass ich sehr viel zugenommen habe, was meine Mutter wahnsinnig machte. In Auschwitz, wenn wer da nur ein Dekagramm Fleisch an sich hatte, bestand die große Wahrscheinlichkeit, dass man etwas auf Kosten eines anderen Häftlings gemacht hatte. So sah man das unter den Häftlingen. Und dann gab es die stereotype deutsche Vorstellung vom kleinen, dicken Juden. Meine Mutter wollte daher nicht klein und dick sein und sie wollte ganz sicher keine dicke Tochter. Sie war wie besessen. Das größte Kompliment, das sie jemandem machen konnte war: Sie ist so schlank! Sie konnte die dümmste Person weltweit sein, aber Hauptsache sie war schlank.“ – Lily Brett Der Wunsch der Mutter, dass Brett Rechtswissenschaften studieren sollte, hat seine Wurzeln in dem Wunsch von Überlebenden des Naziregimes, dass sie sich wünschen, dass ihre Kinder sich auch professionell gegen Unrechtssysteme auflehnen können. Der Restitutionsdiskurs der vergangenen Jahre zeigt, dass es weniger der gute Wille der Regierungen war, der sie zur Rückgabe und Rückzahlungen von durch die Nationalsozialisten gestohlenes Gut veranlasste, sondern Klagen der Betroffenen. Der jüdisch-amerikanische Anwalt Ed Fagan vertrat 1998 den Jüdischen Weltkongress (WJC), als dieser von den Schweizer Banken ehemaliges jüdisches Vermögen zurückforderte. Fagan gewann. Auch in Österreich und Deutschland forderte der Anwalt für jüdische Klienten, was die große Restitutionswelle nach sich zog. Im Spielfilm „Die Frau in Gold“ in der Titelrolle mit Helen Mirren unter der Regie von Simon Curtis wird aktuell der Kampf der Maria Altmann für die Rückgabe von fünf von den Nazis der Familie geraubten Klimt-Gemälden gezeigt. Darunter befindet sich auch das Gemälde von Maria Altmans geliebter Tante, „Adele Bloch Bauer I“. Über die Figur des unerfahrenen Anwalts und Enkel des österreichischen Komponisten Arnold Schönberg thematisiert der Film den Gang durch alle juristischen Instanzen und zeigt den für den österreichischen Staat beschämenden Restitutionsdiskurs auf.550 Der Interviewpassage folgen aktuelle Bilder von den New Yorker Wolkenkratzern, im Central Park trainierende Menschen, der Yellow Cabs, die bei TC 44.00 das Kapitel der in den wilden 1960er Jahren jungen Lily Brett einleiten. Brett arbeitete als Reporterin für den „Rolling Stone“ und interviewte die Größen des weltweiten Rockbusiness. Die in einer frühen Version von „Schatten der Scham“ eingesetzten Archivbilder aus San Francisco 1968 wurden in der Endversion weggelassen. Die familiäre Prägung der Vertreterin der zweiten Opfergeneration zeigt auch bei ihrer Arbeit Folgen. „Da war ich nun, durchs Universum schwebend, mit falschen

550 Vgl. Kapitel 6.1.7. 218

Wimpern oben und unten und ins Gesicht gemalte Bilder, weil es war die Zeit von Flower Power, Love und Peace. Und ich interviewte all diese Leute. Das war: Jimi Hendrix, den ich einige Male traf. Janis Joplin, die mich wirklich bewegte. Ich wusste, dass sie in Schwierigkeiten war. Cher, Mick Jagger. Selbstzerstörung lag in der Luft, was damals niemand wirklich verstand. Ich war umgeben von Tod, denn da waren so viele Menschen, die in den Tod rasten. Und ich kam von so viel Tod und fühlte mich von Toten umgeben. Ich spürte ihre Präsenz. Das ist bis heute so. Ich fühle, da gibt es nicht nur mich.“ – Lily Brett Es folgt eine Passage mit Bildern aus New York, untermalt mit lyrischer Musik, die Eingeleitet wird damit der Interviewausschnitt von Lily Brett, die das Phänomen des Telescoping sichtbar macht: „Meine Freundin, die in China lebt, war mit mir unterwegs und sie sagte: ‚Das ist ein perfektes Wetter, um dieses Kloster zu besuchen, denn ich war noch nie bei einem solchen Wetter hier.‘ Ich antwortete: ‚Ja, das ist wie in Auschwitz, man will nicht nach Auschwitz an einem sehr sonnigen Tag.‘ Und sie sah mich an und sagte: ‚Geht es bei dir immer um Auschwitz?‘. Ich antwortete: ‚Ich bin mir dessen nicht bewusst, bis es aus meinem Mund kommt‘.“ – Lily Brett Heulende Sirenen eines New Yorker Rettungsautos leiten zum nächsten Interviewausschnitt mit Lily Brett über, der sich mit der von den Eltern vererbten Angst beschäftigt. Die zweite Generation lässt den eigenen Kindern wenige Freiräume, da sie immer befürchtet, dass das Schicksal der Eltern, das für sie allgegenwärtig ist, wieder eintreten könnte. Diesmal mit ihnen und ihren Kindern in der Hauptrolle. „Als Mutter war ich immer viel besorgt, als ich hätte sein müssen. Ich befürchtete meine Kinder könnten für immer verschwinden, wenn sie zu spät nach Hause kamen. Vor allem bei Nacht.“ – Lily Brett Im nächsten Interviewausschnitt fordert Lily Brett Zivilcourage ein. Erst der fehlende Mut, von einzelnen Personen bis zu Regierungen, hätten den Holocaust möglich gemacht, ist die Vertreterin der zweiten Generation überzeugt. „Man muss sich zu Wort melden, wenn ein Mensch glaube, dass andere Menschen nicht gleichwertig sind. Dass sie Schmerz nicht im gleichen Maße fühlen und nicht leiden. Es ist sehr wichtig, dass das Leid eines Menschen nicht wichtiger wird, als das Leid eines anderen Menschen.“ – Lily Brett Das lange Schweigen zur Machtübernahme Hitlers und seinen Rassenwahn wird in einer Bildpassage, gedreht auf Ellis Island und bei der Freiheitsstatue, gezeigt. Die Freiheitsstatue wendet dabei dem Zuseher den Rücken zu. „Niemand kümmerte sich darum. Regierungen rund um die Welt wussten was passierte, sie schauten weg und ließen sie einfach sterben. Meine Eltern waren zwei der wenigen Menschen, die nicht starben und dessen bin ich mir immer bewusst. Wenn ich jemanden sehe, der ein schweres Leben hatte, aus dem einen oder anderen Grund, dann denke ich immer, das könnte ich sein.“ – Lily Brett

219

Eine Weißblende führt zu einem zentralen Sujet der Filmdokumentation. Die Spielfilmsequenz zeigt fünf mit einem Stacheldraht aneinander gekettete Frauen in fünf Generationen, die direkt in die Kamera sehen. Hier wird die bisher stringente Dramaturgie gebrochen. Ajda Sticker, Vertreterin der dritten Opfergeneration bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, die für die dokumentarische Wurzelsuche im Film steht, taucht nun zentral in einem Spielfilmelement der Dokumentation auf. Durch diese dramaturgische Wendung, die dokumentaristische Protagonistin, wird zur Protagonistin in den Spielfilmsequenzen, soll das Publikum angehalten werden, aufzupassen, was nun Realität und Konstruktion im Dokumentarfilm ist. Es folgt die Erklärung von Klaus Mihacek, wie Trauma in den Opferfamilien weitergegeben wird. „In diesen Familien ist eine Atmosphäre, in der die Shoah da ist, die ist von Beginn an da und wird weitergegeben in Form von Sprache, Mimiken, Gesten oder auch durch psychische Zustände der Eltern.“ – Klaus Mihacek Harri Stojka führt bei TC 48.02 aus, dass er sich sehr wohl bewusst ist, dass seine Geburt ein Glücksfall war, da sein Vater wie nur wenige überlebt hatte. „Wie mein Papa an der Gaskammer angestellt war, mit meinem Onkel Karli. Das hat mich am meisten erschüttert, weil das ist wirklich an der Grenze, da waren sie an der Grenze zum Tod. Es ist dann aber der Befehl gekommen, dass alle die angestellt waren auf der Gaskammer, wieder zurück in die Baracken sollen. Und ich habe mir gedacht, naja, zehn Minuten später und mich und meine Schwestern gäbe es nicht.“ – Harri Stojka Ajda Sticker sieht sich in der nächsten Spielfilmpassage verwundert um. Sie steht in einer Gruppe stumm schreiender Opfer und leitet die Aussage Harri Stojkas über seine Reaktionen auf das Psychotrauma ein: „Also bei mir hat es sich so bemerkbar gemacht, dass ich Panikattacken auch bekommen habe, und eine Zeit lang wirklich in therapeutischer Behandlung war und Medikamente auch hab nehmen müssen. Das hat viel damit zu tun gehabt, dass ich manchmal so Flash gehabt hab, wenn mir das passiert wäre, was meiner Familie passiert ist, wenn ich plötzlich steh in einem Vernichtungslager, wie es mir gegangen wäre, wie ich das überlebt hätte, wie das gehandelt hätte.“ – Harri Stojka In Kapitel 25 beginnt der politische Strang der Dokumentation. Der Abschnitt beginnt mit der Rückkehr der Kärntner Sloweninnen und Slowenen aus den Lagern der Nationalsozialisten. Das Bild eines Tales im dichten Nebel steht für das Eintauchen in eine Umgebung, in der sich die Geisteshaltung nicht verändert hat. „Als die Kärntner Slowenen nach Hause zurückkehrten, war alles beim Alten. Die Nachbarn, die sie verrieten, konnten weiterhin ungestraft ihre Gesinnung leben.“ – Sprechertext Der Traumaforscher Klaus Ottomeyer analysiert die Situation, in der sich die Opfer in erster Generation nach der Heimkehr psychologisch wiederfanden. „Vielleicht ist es besonders anstrengend, sozusagen im Alltag, bei den kleinen Alltagsgeschäften,

220 beim Einkaufen, beim Schulbesuch, eigentlich ständig vor der Entscheidung zu stehen, soll ich jetzt mich dem Druck der Mehrheit beugen, z.B. auf meine Sprache, diskriminierte Sprache, zu verzichten, oder soll ich Widerstand leisten.“ – Klaus Ottomeyer Katja Sturm-Schnabl sieht in der Angst, die die Nationalsozialisten durch die Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen auch bei jenen Volksgruppenangehörigen, die der Deportation entgangen waren, verursacht hatten, einen der Hauptgründe dafür, dass Menschen mit slowenischer Herkunft auf den Gebrauch ihrer Muttersprache verzichteten. Ab diesem Zeitpunkt gaben sie die Minderheitensprache auch nicht mehr an ihre Kinder weiter. In den meisten Familien sprachen nur mehr die Großmütter und Großväter das slowenische Idiom. „Diese Angst war tiefgreifend, die die Nazis hinterlassen haben, vor allem bei dieser bäuerlichen Bevölkerung, die hat es nach dem Krieg nicht mehr gewagt, slowenisch zu reden, die waren total eingeschüchtert.“ – Katja Sturm-Schnabl Im Interviewausschnitt spricht Peter Handke die psychologischen Gründe an, die Menschen veranlassen, sich von ihrer Ursprungsfamilie und Muttersprache abzuwenden, und sich sicherheitshalber auch gleich auf die Seite der Aggressoren stellen: „Man rührt da an die offene Wunde, sowie sich die Opfer sehr oft sich schämen die Opfer zu sein, das ist das große Problem und das ist auch der Trick der Gewalthaber, dass sie die Opfer so erniedrigen, dass sie sich schämen und dadurch dann gegen ihr eigenes Volk sind.“ – Peter Handke Die folgenden Filmpassagen erzählen die Geschichte der Familie, die auf dem Peršmanhof gelebt hat und dort ermordet wurde. Gedreht wurde diese Passage am Ort des Geschehens bei strahlend schönem Wetter. Vor dem Haus steht ein monumentales, an den Sozialistischen Realismus erinnerndes, antifaschistisches Denkmal, das drei um sich blickende Partisaninnen darstellt. Ein Denkmal, das im Kärntner politischen Diskurs als Stein des Anstoßes gesehen wurde. Das Haus der Familie Sadounik und Kogoj wurde zu einem Erinnerungsort mit moderner Ausstattung umfunktioniert und ist bis heute ein beliebter Ort für Faschismusforschung. Martin Sadounik, der ab TC 50.44 die Geschichte seiner 1945 ermordeten Verwandten kommentiert, steht für jene Nachfahren von Opfern, die die Geschichte vergessen möchten, da sie sie belastet. Er verteidigt auch die Argumentation seines Großvaters, die als klassische Täter-Opfer Umkehr gesehen werden kann. „Am Peršmanhof, hoch über Eisenkappel / Železna Kapla, wurde am 25. April 1945 eine ganze Familie ausgelöscht. Dazu ein Nachfahre der Familie Sadounik.“ – Sprechertext

221

„Die Details, über die er erzählt hat, er hat sie auch nur aus anderen Erzählungen mitbekommen, was da wirklich auf diesem Hof vorgegangen ist, ist an Brutalität nicht zu übertreffen, wenn ein Offizier mit dem Militärstiefel den Kopf eines kleines Kindes zertrampelt. Ich weiß nicht, was es noch schlimmeres gibt und das sind eben die, die Nežika, die überlebt hat mit drei Durchschüssen, hat ja auch ihren Bericht dazu gehabt. Es sind sicher nicht alle Fakten, die man beibehalten möchte, ganz ehrlich. Weil mich das vielleicht auch nicht gut beeinflusst.“ – Martin Sadounik Bei TC 51.06, nach rund 20 Sekunden der Interviewpassage, erkennt man, dass Martin Sadounik sich im Gespräch mit der Kärntner slowenischen Protagonistin der dritten Opfergeneration, Ajda Sticker, befindet. Damit setzt Ajda Sticker ihre aktive, dokumentaristische Reise fort. Die beiden Protagonisten in dritter Opfergeneration sitzen auf einer Parkbank im Herzen von Klagenfurt, im Hintergrund sieht man den Napoleonstadl. Ajda Sticker hört Sadounik zu. Auf eine Ziegelwand projizierten Schwarz-weiß Fotografien des Massakers wiederholen ein gestalterisches Element, dass am Anfang des Filmes für den Einleitungstext als Information über die Deportation der slowenischen Familien in Südkärnten eingesetzt wurde. „Vier Erwachsene und sieben Kinder der Familie Sadounik und Kogoj verloren beim Massaker unschuldig ihr Leben.“ – Sprecheretext Auf die Aussage, dass die Gründe, warum „Menschen sich gegenseitig abschlachten, völlig irrelevant“ seien, stellt Ajda Sticker mit ihren Fragen den „objektiven“ Zugang des Großvaters von Martin Sadovnik in Frage und stellt den Vorwurf der Opfer-Täter Umkehr in den Raum. Es kommt zu einem argumentativen Schlagabtausch in dem Martin Sadounik offen seine Meinung kund tut, da er Ajda Sticker seit Jahren befreundet sind. Sadounik spricht in seinen Aussagen für das „Nichtpolarisieren“ aus, eine Strategie des Vergessens und Verschweigens, die von der Kärntner Landespolitik, ideologisch angefeuert, vom Kärntner Heimatdienst bis zum heutigen Tag betrieben wird. Das offizielle Kärnten hat sich bis heute nicht bei der Volksgruppe für ihren minderheitenfeindlichen Umgang vor, nach und während des Nationalsozialismus entschuldigt. Eine Haltung, die, weiter untern noch vertieft erläutert wird, zur fast totalen Assimilation der Kärntner Sloweninnen und Slowenen führte.551 - „Mein Opa hat mir das immer so klar gemacht, dass der Krieg an und für sich das Schreckliche ist. Warum Kriege entstehen, warum Ideologien Menschen dazu bringen, welche Werte Menschen haben, um sich gegenseitig abzuschlachten, ist völlig irrelevant.“ – Martin Sadounik -„Aber konkret auf seine Familie, die ausgelöscht worden ist, hat er quasi Verständnis dafür gezeigt?“ – Ajda Sticker

551 Vgl. Kapitel 6.1.6. 222

- „Er hat eine gewisse, ich sag einmal, ein, ein, einen sehr objektiven Zugang dafür gehabt, für einen Menschen, der das wirklich miterlebt hat. Also ich für meinen Teil hab das nur aus Erzählen mitgekriegt und das ist ja schon ein ganz anderer Zugang. Aber er hat eigentlich immer eine gewisse Distanz zu diesen Geschehnissen gehabt, dass er niemals einer Seite die Schuld zuschieben wollte. Er wollte nicht polarisieren und das ist eigentlich auch ein Punkt, wo ich sage, dieser Wert ist sehr schön, dass er ihn mir mitgegeben hat, weil ich brauch das Polarisieren auch nicht wirklich.“ – Martin Sadounik -„In Eisenkappel hat es sehr viel antifaschistischen Widerstand gegeben was ich als gut empfinde. – Ajda Sticker - „Absolut.“ – Martin Sadounik - „Und das dadurch eine unschuldige Familie ausgelöscht wird von Nazitrupps, kann ich irgendwie nicht gutheißen, eigentlich überhaupt nicht und so wie du das erzählst, klingt das so, als hätte dein Opa dir beigebracht auf beiden Seiten hat es Fehler gegeben, ja ist halt so?“ – Ajda Sticker Martin Sadounik kontert, da er sich offenbar argumentativ ins Eck gedrängt fühlt, mit einer Frage, was man genau über die Mörder am Peršmanhof wisse. „Da möchte ich dazu fragen: Wieviel von den SS-Truppen weiß man genau, was waren das für Leute.“ – Martin Sadounik Die auf die Frage erwartete Antwort könnte darauf abzielen, dass es sich doch nicht um deutsche, sondern um jugoslawische Soldaten gehandelt haben könnte. Im Reportertext wird diese Frage, ausgehend von den Untersuchungen des Historikers Karl Stuhlpfarrer, der eingehende Forschungen zum Fall „Peršmanhof“ betrieben hat, beantwortet. „Gegen Mitglieder der 4. Kompanie des I. Bataillons des SS- und Polizeiregimentes 13 wird 1946 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das trotz gegenseitiger Beschuldigung der Beteiligten, eingestellt wird. Die Täter wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen.“ – Sprechertext Es folgt eine Bildsequenz in der Martin Sadounik als Chorleiter eines Kärntner Männerchores auftritt. Da das deutschnationale Gedankengut in Kärnten oft über das Tragen des traditionellen Kärntner Anzuges und gleichzeitigen Singen deutscher Kärntner Lieder in Chören zur Schau getragen wurde, beinhaltet diese Passage eine weitere Ebene, die sich nur dem Kärntner Publikum erschließt. Der Kärntner Anzug und das deutsch Kärntner Lied gelten bis heute bei Angehörigen der Volksgruppe als Symbole der Diskriminierung und Verherrlichung deutschnationaler Symbole, was von Politikern, wie Jörg Haider, der sogar auf Video zu ebenso einem Sänger mutierte, als Signal an die Wählerschaft eingesetzt wurde.552

552 Ottomeyer, Klaus (2010). Jörg Haider. Mythos und Erbe. Innsrbruck: Haymon Verlag 223

Sadounik ist stolz auf seinen Chor. Auffallend ist, dass der junge Mann mit langen Haaren, sich in der Runde der alten Chorsänger sehr wohlfühlt und auch Auftritte im Kärntner Anzug, den er als „ein Stück Fetzen“ bezeichnet, für ihn kein Problem darstellen. „Wir sind ein Chor und wir sind eine Gemeinschaft, nicht. Und ich möchte überhaupt nicht im Geringsten zulassen, dass das auf ein Stück Fetzen degradiert wird.“ – Martin Sadounik Ajda Sticker fragt nach, ob er auch das die Volksgruppe ausschließende Gedankengut der Kärntner Traditionsträger übernommen hat und bekommt eine überraschende Antwort. -„Sind Kärntner Slowenen für dich ein Teil der Kärntner Tradition?“ – Ajda Sticker -„Natürlich. Ja. Keine Frage nicht. Bin ich ja auch. Halt nicht mehr so sprachig, aber doch.“ – Martin Sadounik Ajda Sticker und Martin Sadounik, beide Vertreter der dritten Generation, beide Ende 20, finden trotz ihrer vollkommen unterschiedlichen Zugänge zur Erinnerungskultur eine gemeinsame Gesprächsbasis. Ihre Freundschaft ist auch ein Zeichen für die diverse Konstruktion von Identität, da Menschen in gewissen Bereichen ähnliche Ansichten vertreten, um auf anderen Gebieten wieder vollkommen auseinanderzugehen. Das Gespräch steht für den längst fälligen Dialog im Land, der endlich die traumatischen Erlebnisse der Opfer benennt. Gelingt eine konstruktive Auseinandersetzung, wie im Fall des Gezeigten, werden in jedem Fall gedanklich neue Prozesse in Gang gesetzt und es wird auch jenen in einem vorurteilsfreien Raum bewusst, sich mit der Geschichte der Vorfahren auseinanderzusetzen, die diese bislang von sich gestoßen haben. Diese Analyse, der oft später im Leben erfolgenden universellen, identitären Suche von assimilierten Nachkommen marginalisierter, ethnischer Gruppen, stellt der Bürgerrechtskämpfer Harry Belafonte bei TC 54.04 im nächsten Interviewausschnitt auf. „Die Leute zu animieren, ihrer Kultur und Geschichte treu zu bleiben, scheint mir schwierig. Viel Glück, man kann es versuchen. Mit der Zeit kehren die Menschen zu ihrer Kultur und den Orten ihres Ursprungs zurück, um die Wahrheit und eine Form von Stolz in ihrer Herkunft zu finden. Sie wollen wissen, wo sie geboren wurden und unter welchen Umständen sie aufwuchsen. Aber man kann das Rad der Zeit nicht stoppen. Die Leute brauchen diese universelle Einstellung. Sie brauchen diese geopolitische Kultur des Zusammenkommens und sich Kennenlernens und des sich Erkennens.“ – Harry Belafonte Mit dem Fortführen der Heldinnenreise von Ajda Sticker folgt die Fortführung des Kapitels 25, das sich mit der Nachkriegszeit in Kärnten, der fehlenden Widergutmachung, der Politik der Täter-Opfer-Umkehr und der Zuspitzung des ethnischen Konflikts in den 1970er Jahren beschäftigt. Ihre Wurzelsuche führt Ajda Sticker ins Bergdorf Zell Pfarre / Sele Fara.

224

Zell Pfarre / Sele Fara kann als einer der letzten slowenischsprachigen Biotope in Südkärnten bezeichnet werden. Von den rund 700 Dorfbewohnerinnen und - bewohnern sprechen praktisch alle das ortsübliche slowenische Idiom, was durch die Abgeschiedenheit des idyllischen Dorfes erklärt werden kann. Hier griffen die streng katholischen Bauern zu den Waffen und wehrten sich gegen das NS-Regime. Die Gestapo fand in Zell Pfarre / Sele Fara ein Tagebuch und verhaftete Bezug nehmend auf diese Information Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer aus Zell Pfarre / Sele Fara, Ferlach / Borovlje und Eisenkappel / Železna Kapla. Am 29. April 1943 wurden aufgrund des Spruches des NS- Scharfrichters Roland Freisler, 12 Kärntner Slowenen und eine Kärntner Slowenin im Wiener Landesgericht enthauptet. In einer frühen Version von „Schatten der Scham“ meinte der Vertreter der Kärntner Sloweninnen und Slowenen, Nanti Olip, dazu: “Also der Akt der Enthauptung der Opfer von Zell und Umgebung das war ein prägendes Ereignis in der Geschichte meines Heimatortes Zell / Sele. Was damals hier passiert ist, ist kaum in Worte zu fassen. Die Angst, die Niedergeschlagenheit auf der einen Seite, die Gewalt, der Terror auf der anderen Seite. Es war ein Musterprozess, der darin geendet hat, dass man den Menschen das nimmt was ihnen am Wertvollsten ist, das Leben. Es sollte aber auch Schockwirkung für die slowenische Bevölkerung in Kärnten, im Allgemeinen, sein.“ – Fortunat-Nanti Olip Bis heute leistet der Klub slowenischer Studentinnen und Studenten in Wien / Klub slovenskih študentk in študentov na Dunaju mit einer jährlichen Kommemoration Erinnerungsarbeit für die enthaupteten Kärntner Sloweninnen und Slowenen. Der Vater der Familie Olip setzte sich wie der Großteil der Dorfbewohner gegen die Nationalsozialisten zur Wehr. Um der Einberufung zur Wehrmacht zu entgehen, versteckte sich der Zellaner in einem selbstgebauten Erdbunker im Wald, wo er über drei Jahre lebte. Stanko Olip meinte zu seiner Familiengeschichte: “Das war das Brutale der Geschichte, dass zugleich mein Vater und seine zwei Brüder die Einberufung in die deutsche Wehrmacht gekriegt bekommen und zugleich ist der Rest der Familie ausgesiedelt worden. Unsere Großeltern, väterlicherseits, unsere Tanten, die sind alle ausgesiedelt worden. Und sowohl hier auf diesem Bauernhof, wo wir jetzt sind, den der Vater im 1935 gekauft hat und auf seinem elterlichen Bauernhof sind dann Kanaltaler angesiedelt worden.“ – Stanko Olip Pfarrer Stanko Olip spricht hier die Umsiedlungspolitik der Nationalsozialisten an. Auf die Höfe der vertriebenen Kärntner Sloweninnen und Slowenen wurden Südtiroler und Kanaltaler Familien angesiedelt, die von jenen die, die Lager überlebten aufgefordert wurden, wieder heimzukehren. Die zwei Interviewpassagen mit Nanti und Stanko Olip fielen der Kürzung zum Opfer.

225

Die Dokumentation fährt mit einem Sprechertext fort. „Nach Kriegsende wurden der slowenischen Minderheit große Versprechungen, verbrieft im Artikel 7 des Staatsvertrages, gemacht. Schon bald war der Volksgruppe klar, dass sie nach wie vor unerwünscht war. In den 70er Jahren spitzte sich die antislowenische Hetze dramatisch zu.“ – Sprechertext Die Textpassage leitet die Passage im Dokumentarfilm, die für die Retraumatisierung der Opfer in erster Generation in Südkärnten steht, ein. Die Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Generation, die mit den Geschichten der von den Nationalsozialisten enthaupteten Verwandten und Mitbürgern groß geworden waren, reagierten mit Widerstandgeist auf die politische Stigmatisierung und Versuche der Entrechtung der Minderheit. Jedem Menschen in Zell Pfarre / Sele Fara wurden durch die Nationalsozialisten Wunden zugefügt und im kleinen abgeschiedenen Biotop in den Bergen an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien formierte sich in den 70er Jahren wiederum Widerstand, als man die Rechte der Kärntner Sloweninnen und Slowenen entgegen der Bestimmungen im Staatsvertrag an Prozente binden wollte und von staatlicher Seiter her begann, die Minderheitsangehörigen zu zählen. „Am 14. November 1976 entwendete Nanti Olip gemeinsam mit seinen Freunden aus Protest die Wahlurne aus dem heimischen Wahllokal und verbrannten den Inhalt. Anlass des Aufstandes war die Volkszählung besonderer Art, die zum Ziel hatte die Rechte der Minderheit zu beschränken.“ – Sprechertext Im Bild sieht man wie die Protagonistin in dritter Generation, Ajda Sticker, den Vertreter der zweiten Opfergeneration Fortunat (Nanti) Olip zum Entwenden der Wahlurne interviewt. Olip steht für jene Kinder von Opfern, die sich mit kompromissloser Auflehnung gegen Maßnahmen des Staates und gegen die der zweiten Generation als Bedrohung empfundene Maßnahmen reagieren. „Wir sind so erzogen worden und das haben wir von den Eltern, vom Vater direkt übernommen, wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht und so haben wir das auch im Jahr 76 gesehen. Wir haben diese Volkszählung besonderer Art als extremes Unrecht gegenüber der slowenischen Volksgruppe gesehen und haben ein Zeichen des Protests und des Widerstandes gesetzt.“ – Fortunat-Nanti Olip Im Prozess gegen die sogenannten „Urnenräuber“ aus Zell Pfarre / Sele Fara wurden Fortunat Olip und seine Freunde von den Vorsitzenden er beiden Slowenenorganisationen, den Rechtsanwälten, Franzi Zwitter vom Zentralverband slowenischer Organisationen / ZSO und Matevž Grilc vom Rat der Kärntner Slowenen / NSKS vor Gericht vertreten. Der persönliche Einsatz von Rudolf Kirchschläger zeigte überraschende Folgen. Fortunat Olip meinte dazu im ORF-Interview: „Der damalige Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger, der sich bis ins letzte Detail die Geschichte von Zell mit sämtlichen Hintergründen, auch geschichtlichen, mit den Enthaupteten von Zell auseinandergesetzt hat und gesagt hat, dass angesichts des Hintergrundes

226 der Ereignisse eine Verurteilung von Menschen, die Widerstand leisten gegen die Stimmung in diesem Land, die eigentlich jener im Jahr 1938 bis 1945 gleiche, nicht zu verantworten sei. Der Prozess wurde in späterer Folge niedergeschlagen und wurde von den Gerichten eingestellt.“553 Die Rolle des gegenwärtigen Bundespräsidenten im aktuellen politischen Diskurs um den Nationalsozialismus und seinen Folgen zeigt Parallelen zum Agieren von Bundespräsident Kirchschläger auf. Die Haltung des Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger wurde bei der nächsten Wahl belohnt: Er bekam in Sele Fara / Zell Pfarre 97 Prozent der Wählerstimmen. Anlässlich seines Besuches 1978 im kleinen Südkärntner Bergdorf reagierte Kirschläger auf den Freissler-Spruch, durch den Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen für „auf ewig ehrlos“ erklärt wurden. Der Bundespräsident bezog ganz klar zu den enthaupteten Opfern von Zell Pfarre / Sele Fara Stellung: „Sie sind nicht ehrlos, und waren nie ehrlos. Sie sind würdig des ehrenden Gedenkens unserer Republik.“554 In der nächsten Interviewpassage klassifiziert der Traumaforscher Klaus Ottomeyer die Reaktion dieser Opfergruppe in zweiter Generation. „Die meisten von ihnen übernehmen diese Aufgabe, die Eltern zu schützen, sie zu stützen, dafür zu sorgen, dass die Ungerechtigkeit, die den Eltern passiert ist, nie wieder auf der Welt Platz greifen darf usw. das ist ein großes Identitätsthema, manchmal ein lebenslanger Schatten, auch auf den Angehörigen der zweiten Generation.“ – Klaus Ottomeyer Im Interview mit Klaus Ottomeyer taucht wieder der Begriff des „Schatten“, der auf der Seele der zweiten Generation lastet, auf. Ein Bild, das schon die Protagonistin in dritter Opfergeneration, Ajda Sticker, in ihrem Eingangsinterview gewählt hat. Bei TC 56.20 tritt zum ersten Mal der Philosoph und Tanzlehrer Gregej Krištof auf, der zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht Vorsitzender des Verbandes slowenischer Vertriebener / Zveza slovenskih pregnancev (ZSP) war. Erstmals steht dem Verband ein Vertreter der zweiten Generation vor, was den in der Dissertation behandelten Übergang über eine historische Bruchstelle verdeutlicht. Krištof stellt in dem Interviewausschnitt fest, dass jene mit nationalsozialistischem Gedankengut in Kärnten nach dem Krieg nicht zur Verantwortung gezogen wurden, sondern weiter zu den Gewinnern zählten. Gründe dafür findet er im fehlenden Selbstbewusstsein der Opfer und Mitläufer unter den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, sich ihrer Minderheitensprache weiter zu bedienen. In der Übersetzung aus dem Slowenischen heißt es: „Die Verlierer haben nicht aufgehört Druck auszuüben. Und wir? Ich weiß nicht warum wir so schwach sind? Man hätte sich ja gar nicht auflehnen müssen. Man hätte nur sagen müssen, wenn du noch einmal sagst, dass Slowenisch hässlich

553 ORF-Heimat Fremde Heimat, 17.4.2004, ORF2 554 Slawisches Österreich: http://www.uni-graz.at/slaw4www_Ik_slawischesoesterreich.pdf, 16.6.2018

227 ist, dann aber. Aber sie haben immer weitergewonnen, weil sich die Leute wie von selbst assimilierten. Man musste nur auf die Sprache verzichten und schon haben die anderen wieder gewonnen.“ – Gregej Krištof Gregej Krištof spricht in dieser Interviewpassage die Rangordnung der Sprachen, die in jeder gesellschaftlichen Ordnung unterworfen sind, an. So wurde das Slowenische in Kärnten / Koroška durch die Jahrhunderte hindurch als Bauernsprache degradiert, als Sprache einer minorisierten, bäuerlichen Gesellschaft, die nur im Haus und Stall gesprochen werden sollte, bezeichnet. Krištof zeigt sich verwundert darüber, dass die Minderheit sozusagen freiwillig auf ihre Sprache verzichtet hat. In einer ungekürzten Version von „Schatten der Scham“ berichtet Gregej Krištof im Gespräch mit Ajda Sticker, wie ihm schon als Kind von Vertretern der staatlichen Autorität vermittelt wurde, dass er nicht in der Minderheitensprache sprechen sollte und welche Auswirkungen das auf ihn hatte: „So wie mir z.B. der Schaffner im Zug plötzlich nicht nur empfohlen, sondern diktiert hat ‚red deutsch, slowenisch ist schiech, wirst dich wehren auch noch, ho ruck über den Loibl‘ und dann habe ich immer später dann erst reagiert: ‚I bleib da, geh du, geh heim ins deutsche Reich‘. Diese Stresssituationen waren eigentlich, ja, sehr, sehr oft.“ – Gregej Krištof „Wie fühlt man sich als Kind, wenn man so etwas von einem Erwachsenen gesagt kriegt?“ – Ajda Sticker - „Ich habe z.B. gelitten und zwar sogar so, dass ich zu stottern begonnen habe, in jeder schwächeren Situation oder in der Defensive, wenn ich was sagen habe müssen oder wollen, hat man das dann gemerkt. Und das habe ich dann durch die Politisierung und durch die 70er Jahre, durch die Demonstrationen für unsere Rechte abgelegt.“ – Gregej Krištof Erst durch die direkte Konfrontation mit den Auslösern der Angst, konnte das Opfer in zweiter Generation das Stottern ablegen. Bei TC 56.47 wird durch den Umschnitt auf eine totalere Einstellung sichtbar, dass Gregej Krištof mit Ajda Sticker und seinem Bruder im Gespräch auf einer Bank vor einem Stadel sitzt. Emil Krištof ergreift in Folge auch das Wort und thematisiert, dass in Kärnten die Opfer zu Tätern gemacht wurden. Übersetzt aus dem Slowenischen heißt es: „Ich glaube, das ist unser größtes Trauma. Unsere Leute haben Widerstand geleistet, jene, die sich trauten und die Möglichkeit hatten. Nein, das ist falsch gesagt. Jene, die den Mut hatten, gingen in den Widerstand. Es ging um ihre Existenz und sie haben gewonnen. Schon mit der Kapitulation Deutschlands hatte es sich wieder zu drehen begonnen. Die Partisanen und die Widerstandskämpfer wurden zu Banditen abgestempelt. Ihre Leistung wurde nicht gewürdigt und man begann wieder Druck auszuüben.“ – Emil Krištof Der Interviewpartner fährt in deutscher Sprache fort. „Ich kann mich sehr gut an das Jahr 1972 erinnern. Es sind die zweisprachigen Ortstafeln erstmals aufgestellt

228 worden unter Bruno Kreisky und es waren damals bei weitem mehr als heute, nur nebenbei. Und dann hat es geheißen, die Tafeln werden abgerissen und das hat man gewusst und wir sind dann natürlich mit Angst besetzt, sind wir dann nach St. Michael gefahren, ich war eben ein Jugendlicher von ungefähr 14 Jahren und ich kann mich erinnern, wir sind in einem Haus oberhalb der Bundesstraße gesessen und haben zugeschaut, wie der ganze Konvoi, wie ein Faschingsumzug durch das Dorf gefahren ist, hinten und vorne unter Polizeischutz und das war ja bezeichnend. Es haben Österreichische Staatsbürger österreichisches Staatsgut vernichtet, beschädigt und das ganze unter dem Schutze der Polizei. Und irgendwie war das für uns eh klar, weil uns werden sie nicht schützen.“ – Emil Krištof Emil Krištof spricht in dieser Interviewpassage jenen Opfern aus zweiter Generation aus der Seele, die durch das Agieren der Kärntner Nachkriegspolitik jedes Vertrauen in Justiz und Staat verloren haben. Der slowenischen Minderheit in Kärnten stehen laut dem Österreichischen Staatsvertrag aus 1955 zweisprachige Ortstafeln in den Gemeinden, in denen sie siedeln, zu. Als die Bundesregierung unter Bruno Kreisky und dem Kärntner Landeshauptmann Hans Sima die Ortstafeln aufstellen wollten, zog der deutschnationale Mob ideologisch befeuert vom Kärntner Heimatdienst in Autokolonnen los, um die soeben aufgestellten Ortstafeln niederzureißen. Diese betriebene Selbstjustiz erinnerte an rassistische, geheimbündlerische Aktivitäten des Ku-Klux-Klans aus dem Süden der USA. Nur, dass die Kärntner deutschnationale Aktivisten unverhüllt in aller Öffentlichkeit die Tafeln abrissen. Diese ungeahndete Gewalt versetzte die Opfer in erster Generation in Angst und Schrecken.555 „Also es waren nicht wenige von unseren Patientinnen, die, als die Ortstafeldiskussion wieder hochkam, sie so aggressiv auch hochkam, wirklich gezittert haben, nicht haben schlafen können und dann uns gefragt haben, ja, werden wir wieder abtransportiert?“ – Klaus Ottomeyer Es ist genau diese Beklemmung, dass das deutschnationale Gedankengut sich in Kärnten nur versteckt und die Aktivisten sich hinter Masken verbergen und Grund für viele Kärntner Sloweninnen und Slowenen das Land Richtung Stadt zu verlassen. Der Wunsch, in eine diverse Gesellschaft einzutauchen ist groß. Den ethnischen Deklarierungszwang und die Beschränkung der Welt auf dieses Thema möchten viele hinter sich lassen. „Ajda Sticker fühlt sich in der Großstadt wohl. Sie hat in Wien studiert und obwohl sie als Journalistin auch in Kärnten arbeitet, versteht sie jene Nachfahren von deportierten Slowenen, die Kärnten den Rücken gekehrt haben. Wie die Journalistin Margareta Kopeinig, die ihre Familiengeschichte jedoch bis heute beschäftigt. Ihre Mutter wurde als Kind mit den Eltern in Arbeitslager in Deutschland deportiert.“ – Sprechertext

555 Vgl. Kapitel 6.1.4.1. 229

In der ungekürzten Version von „Schatten der Scham“ erklärt Ajda Sticker, warum Minderheitsangehörige einen unbewussten Sensor entwickelt haben, der ihnen sagt, wann und wo sie die Minderheitensprache verwenden können. Eine psychische Belastung, die in der Großstadt wegfällt: „Es hängt davon ab, wo ich slowenisch spreche in der Öffentlichkeit. In Wien wird es immer positiv aufgenommen, ich habe noch nie etwas Negatives erlebt. Dann komme ich zurück nach Kärnten, gehe einkaufen und rede slowenisch und merke, dass es Menschen offensichtlich stört, dass ich das mache. Und oft habe ich an mir bemerkt, dass ich dann leiser werde, dass ich aufhöre vielleicht sogar zu reden. Das mache ich jetzt nicht, weil jetzt traue ich mir schon zu sagen, das ist eine Sprache und keine Gefahr für dich.“ – Ajda Sticker Ajda Sticker besucht in der betexteten Bildpassage die renommierte Journalistin Margaretha Kopeinig zu Hause in ihrer Wiener Wohnung. Es bleibt ein kleines, unscheinbares Detail anzumerken. Diese Details verstärken in Summe, auch wenn sie von der Zuseherin und der Rezipientin nicht direkt wahrgenommen werden, die Stimmung des Filmes. So ein Detail ist in dieser Passage die kurz gezeigten gelben Tulpen, die als Symbol für den Tag der Vertreibung der Kärntner Sloweninnen und Slowenen atmosphärisch das Gesagte verstärken. Die Journalistin gehört laut Kategorien-Bildung in dieser Dissertation zu jener Opfergruppe in zweiter Generation, deren Vorfahren auf die Weitergabe der Muttersprache verzichtet haben. Die Kärntner Sloweninnen und Slowenen wurden aufgrund ihrer Sprache und Kultur vom nationalsozialistischen Regime als minderwertig eingestuft und deshalb vertrieben. Daher versuchten viele ihre Kinder zu schützen, indem sie sie zu rein deutschsprachigen Kärntnerinnen und Kärntnern erzogen. „Wenn ich sie irgendeinmal was gefragt habe, hat sie eigentlich keine Antwort gegeben oder vielleicht nur gesagt, das waren alles so schlimme Zeiten und darüber will sie nicht reden und eigentlich hat sie das immer ziemlich traurig auch gemacht.“ – Margaretha Kopeinig „Dass Überlebende sich assimilierten und die Muttersprache und Kultur an ihre Kinder nicht weitergeben haben, scheint auf den ersten Blick unverständlich.“ – Sprechertext „Es gibt da sehr folgenschwere Vorgänge, die nennen wir in unserem Jargon also Identifizierung mit dem Angreifer. Man identifiziert sich, mit dem, der die Macht hat, in einer verzweifelten Hoffnung, dann der schlimmsten Behandlung zu entgehen.“ – Klaus Ottomeyer Die folgende Erzählung von Margaretha Kopeinig macht die Mechanismen sichtbar, wie schon auf Ebene des Schulpersonals durch politische Intervention die Erfüllung der im Staatsvertrag verbrieften Rechte auf Unterricht in der Minderheitensprache unterlaufen wurden. „Da bin ich mit meiner Mutter hingegangen, in die Volksschule

230 in Loibach und der damalige Direktor hat eben zu meiner Mutter gesagt, Frau Kopeinig, sie wissen, die Sprache des Aufstieges ist Deutsch. Meine Mutter hat gleich einmal zu zittern begonnen usw. und hat nicht daran gedacht, mich zum Slowenischunterricht eben anzumelden.“ – Margaretha Kopeinig Menschen deutschnationaler Gesinnung übten ihre Macht, wo immer sie konnten gegen den Erhalt der Minderheitensprache und -kultur aus. Als inhaltliches Credo galt auch nach dem Krieg die Rede des Kärntner Landesverwesers Arthur Lemisch nach der Kärntner Volksabstimmung 1920: „Nur ein Menschenalter haben wir Zeit, diese Verführten (er meinte, die 15.278 Personen, die für das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gestimmt hatten) Kärntentum zurückzuführen: Eine Lebensdauer, einer Generation muss das Erziehungswerk vollendet sein. Das werden nicht die Behörden und Regierung machen können, das Kärntner Volk selbst muss es besorgen; Haus, Schule und Kirche müssen sich am Heilungswerk beteiligen (…) Mit deutscher Kultur und Kärntner Gemütlichkeit wollen wir, wenn Schule und Kirche das ihre tun in einem Menschenalter die von uns vorgestreckte Arbeit geleistet haben.“556 Es brauchte mehr als eine Lebensdauer, aber die Assimilation der slowenischen Volksgruppe kann man auch in konkrete Zahlen fasse. Während laut der Volkszählung 1910 noch 66.000 Menschen Slowenisch als Muttersprache angaben, waren es bei der letzten offiziellen Volkszählung 2001 noch 12.500.557 Vom verschwindenden Gebrauch der Minderheitensprache wird auch international Notiz genommen. Ein kleines Beispiel aus der näheren Vergangenheit. Der Manager der französischen Sängerin ZAZ, Bob Vincent, der genau über die Zahlen informiert war, fragte im Rahmen des Interviews mit der Künstlerin in Wien, was die Gründe für die Assimilation der Volksgruppe seien. Die nächste Szene der Filmdokumentation ist bei TC 1 Stunde 30 Sekunden, der Beginn des Filmkapitels, das die Zeit nach der Shoah behandelt. Gezeigt wird die Wiener Synagoge, und der Sprechertext arbeitet den Unterschied bei der Rückkehr der Überlebenden der NS-Lager heraus. „Nichts war wie früher. Für die jüdischen Überlebenden, die in Österreich blieben, war kein Stein auf dem anderen geblieben. Die meisten hatten als Einzige die Todeslager überlebt und die Hoffnung auf Wiedergutmachung wurde schnell begraben. Aufkeimende Zuversicht wurde abgelöst von Scham.“ – Sprechertext

556 Inzko, Valentin (1985). Zgodovina Koroških Slovencev od leta 1918 do danes z upoštevanjem vseslovenske zgodovine. Klagenfurt / Celovec: Hermagoras / Mohorjeva: Seite 65 557 Österreichisches Volksgruppenzentrum (1993). Österreichische Volksgruppenhandbücher: Kärntner Slowenen. Klagenfurt / Celovec. Hermagoras / Mohorjeva, Seite 21f; Statistik Austria: http://www.statistik.at/wcm/idc/idcplg?IdcService=GET_PDF_FILE&RevisionSelectionMethod=Latest Released&dDocName=007129, 16.6.2018

231

Der Oberrabbiner von Österreich Paul Chaim Eisenberg greift in seinem Interview die Scham der wenigen Überlebenden auf. „Dass Täter nicht über das reden wollen, was in der Shoa war, das ist verständlich. Dass Leute, die keine Täter waren, aber vielleicht ein bisschen weggeschaut haben nicht darüber reden wollen ist verständlich, aber wir haben auch das Phänomen auch das Opfer auch nicht sprechen wollen, weil sie sich schämen, weil sie zum Teil glauben, wieso wurden andere ermordet und wir haben überlebt.“ – Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg Die Überlebenden rieten ihren Kindern nicht über den Holocaust zu sprechen. „Mir hat man gesagt, sprich nicht darüber. Es muss überhaupt niemand wissen, dass du in einem KZ warst. Du lebst jetzt hier in Wien. Du gehst in die Schule mit Kindern, deren Eltern SS-Männer waren. Sei still!“ – Liese Scheiderbauer Die Überlebensstrategie der Opfer in erster Generation war vielfach Schweigen. Sie verordneten dieses Schweigen auch ihren Kindern. Die Nachkriegssituation ähnelte einem nicht enden wollenden Albtraum. „Anstatt den Überlebenden des Holocausts zu trösten, ihnen Wiedergutmachung zukommen zu lassen und den Glauben an die Menschheit wiederzugeben, übte sich das Land in Verdrängen und Vergessen.“ – Sprechertext Bei TC 1.02.02 tritt der Künstler André Heller in der Filmdokumentation auf. Das Interview findet in der Wiener Wohnung des Künstlers statt, das voll mit Schätzen aus der ganzen Welt, das Leben und Wirken des Polyglotten widerspiegelt. Heller bringt den Widergutmachungsdiskurs auf den Punkt. „Dieser Satz die Sache ist abgeschlossen, das hätten sie sich als Teil er Bundeshymne gewünscht. Das hätte am besten über jedem Gebäude stehen sollen in Österreich.“ – André Heller „Man hat, so habe ich das immer empfunden, die Opfer als jammernde oder durch ihre Stummheit anklagende Störenfriede empfunden. Man wollte nicht daran erinnert werden, an die Bringschuld, die man selber hätte, man wollte nicht, dass die Wahrheit auf der Tagesordnung ist. Und im Grunde war das auch eines der Motive, warum man die Leute nicht zurückgeholt hat, weil man nicht so viel Beweise haben wollte im Land, die für das unendliche Leid, für die unendliche Schuld, die man auf sich geladen hat, stehen. Und die Opfer und ich habe ja mit vielen alten Leuten, die ja damals noch so alt waren in den 60er Jahren geredet, die dann gesagt haben eines Tages nur nicht auffallen, Mund halten.“ – André Heller Liese Scheiderbauer, Opfer in erster Generation, bestätigt Hellers Analyse. „Ich habe das schon im Hinterkopf, dass ich beweisen muss, dass ich nicht ein Abschaum bin oder dass man ein Recht gehabt hätte, mich umzubringen. Und wir haben uns immer bemüht, dem dagegen zuarbeiten. Meine Schwester als hervorragende Ärztin, die nie einen Unterschied gemacht hat, ob es ein SS-Mann war oder ein Jude. Ich habe mich immer bemüht, besonders ‚polite‘ zu sein, dass man nur nicht auf die Idee käme zu sagen: ‚Ach, das ist a miese Jüdin‘.“ – Liese Scheiderbauer

232

Harry Belafonte erklärt die Mechanismen der Unterdrückung. „Wenn man Menschen lange genug unterdrückt und sie mit der Propaganda der Minderwertigkeit füttert und sie die Minderwertigkeit denken, riechen und kosten lässt, krallt sich das in die Psyche des menschlichen Wesens fest. Die Unterdrückten beginnen sich so zu verhalten als wären sie minderwertig. Das ist nichts Einzigartiges. Alle Unterdrückten verhalten sich so, das liegt in der menschlichen Natur.“ – Harry Belafonte Bei TC 1 Stunde 4 Minuten und 32 Sekunden erzählt André Heller für ihn prägende Erlebnisse den Nationalsozialismus betreffend. André Heller ist Sohn des Zuckerlfabrikanten Stephan Heller. Obwohl Stephan Heller katholisch getauft war, wurde die Firma arisiert und der Fabrikant verhaftet. Es war Benito Mussolini, der für den jüdischen Austrofaschisten Heller intervenierte, der dann nach Paris floh. Heller ließ sich scheiden, trotzdem galt die in Wien verblieben Frau und der Sohn als jüdisch „belastet“. Nach dem Krieg heirateten die Hellers wieder und führten ihre unglückliche Ehe fort. Ihr jüngerer Sohn Franz André Heller wurde ins Gymnasium nach Bad Aussee geschickt, das unter der Leitung von Wilhelm Höttl stand. Der Historiker Ulrich Schlie, der derzeit den Lehrstuhls Diplomatie II an der Andrássy Universität Budapest innehat, hat die Rolle von Wilhelm Höttl im Jahr 2014558 im Rahmen der Ausstellung „Spione, Schwindler, Schatzsucher – Kriegsende im Ausseerland 1945“ im NS-Regime – untersucht. Der Spion gehörte demnach zur engsten Umgebung Adolf Hitlers, Ernst Kaltenbrunners und Adolf Eichmanns. Kaltenbrunner, Kopf des Reichssicherheitshauptamtes, zu dem auch die Gestapo gehörte, wurde wegen seiner Verbrechen gegen die Menschheit bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen angeklagt und zum Tode verurteilt. Eichmann, der direkt mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Juden war, wurde 1962 in Israel hingerichtet. Das politische Chamäleon Wilhelm Höttl war in Nürnberg nicht angeklagt, sondern mutierte zum Hauptbelastungszeugen. Er berichtete, dass Eichmann ihm gesagt hätte, dass sechs Millionen Juden ermordet worden wären. 1956 eröffnete Höttl das Gymnasium in Bad Aussee.559 Die Tatsache, dass Höttl 1995 durch den Steiermärkischen Landeshauptmann Josef Krainer das „Große Ehrenzeichen des Landes Steiermark“ verliehen wurde, erinnert an den Umgang der Republik mit dem Massenmörder Heinrich Gross.560 Andre Héller berichtet in den nächsten Interviewpassagen, unterbrochen von Naturimpressionen und einen fahrenden Zug über seine Zeit im Gymnasium in Bad Aussee. „Privatschule Bad Aussee, von wem wird die geführt, von der rechten Hand von dem Ehemaligen vom Kaltenbrunner, Obersturmbandführer Höttl. Und dort bin ich von ihm in die Klasse geführt, schon am ersten Schultag, der Mitten im Jahr war, weil ich schon

558 Der Historiker Ulrich Schlie war damals noch an der Harvard University tätig. 559 Katalog zur Ausstellung „Spione, Schwindler, Schatzsucher - Kriegsende im Ausseerland 1945. In: Eine österreichische Karriere, Magazin News, 9.10.2014, Seite 18-23 560 Vgl. Kapitel 7.5. 233 nach Weihnachten in die Schule gekommen bin und da hat der gesagt, das ist ein neuer Mitschüler. Das ist der Heller, setzt euch aber nicht neben ihn, in seinen Adern fließt böses Blut und dieser Augenblick, wo der sagt böses Blut, war irgendwie ein Erweckungserlebnis, dann bin ich erst wirklich sensibilisiert worden für diese Thematik und habe das aufgearbeitet. Und Bad Aussee war dafür ein Schreckensbiotop idealster Natur.“ – André Heller Heller wird durch die Stigmatisierung angespornt, sich zu wehren. In diesem Fall wird das Schicksal der Vertreter der zweiten Generation angesprochen, deren Eltern sich versuchten, mit allen Mitteln zu assimilieren. Unabhängig jedoch davon, wie sich die Eltern verhalten haben, werden auch die Kinder der Opfer von Tätern diskriminiert. Eine Gruppe von Kindern von Tätern oder wie im Fall von Stephan Heller, von sich opportunistisch verhaltenden Menschen jüdischen Ursprungs, stellen das Verhalten der Eltern infrage und lehnen sich aktiv gegen die Täter auf. So auch der junge André Heller. „Da gab es eines Tages den deutschen Burschenschaftertag, die haben so getan als Österreich und Deutschland gar keine Grenze hätten, sind gemeinsam in dieser Montur oder Wichs, wie das heißt marschiert zum Kriegerdenkmal in Bad Aussee und haben gesungen: ‚Die Gaskammern waren zu klein, wir bauen größere da kommt ihr alle hinein.‘ Ich habe das gehört, war fassungslos und habe mich als Bub, 15-Jähriger in den Zug gesetzt und bin nach Graz gefahren.“ – André Heller „Und habe mich durchgefragt, wo der Landeshauptmann ist. Bin bis ins Büro vom Landeshauptmann vorgedrungen und habe dort einer Sekretärin gesagt, hören sie die singen die Gaskammern waren zu klein. Die hat gesagt: ‚Ja, ja Burschi, ich werde das dem Herrn Landeshauptmann ausrichten‘ und hat mich wieder weggeschickt und wie ich nach Aussee zurückgekommen bin, haben die gewusst, dass ich beim Landeshauptmann war.“ – André Heller Die Berichte Hellers über die deutschnationalen Burschenschaften sind heute aktueller denn je.561 Erschreckend auch, dass sich bis 2018 die Politik nicht vom nationalsozialistischen Gedankengut abgrenzt. Wie sich der Kärntner Landeshauptmann Leopold Wagner brüstete „ein hochgradiger Hitlerjunge gewesen“ zu sein und der Steirische Landeshauptmann die Ausseer Burschenschaftler deckte, fordert 2018 der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen den FPÖ- Spitzenkandidaten bei der Niederösterreichischen Landtagswahl, Udo Landbauer, zum Rücktritt auf, da in einem 1997 neu erschienen Liederbuch der Burschenschaft Germania, Lieder abgedruckt sind, in denen neben anderen rassistischen Texten auch die Opfer des Holocaust verspottet und bedroht werden. In einem Liedtext heißt es zum Beispiel: „Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million.“562

561 Vgl. Kapitel 6.1.11. 562 Vgl. „Wir schaffen die siebte Million“, Falter 04/18, 23.1.2018: https://www.falter.at/archiv/wp/wir-schaffen-die-siebte-million, 16.6.2018 234

Der Spitzenkandidat hat unter anderem auch für Aufsehen gesorgt, als er in der aktuellen Webekampagne die ÖVP-Kandidatin und derzeitige Landeshauptfrau von Niederösterreich, Johanna Mikl-Leitner, als „Moslem-Mama“ bezeichnete, da in den niederösterreichischen Kindergärten das Kennenlernen verschiedener Kultur – vom Essen bis zu den Festen – im Bildungsplan vorgesehen ist. Landbauer meinte, dass dadurch die Gefahr bestünde, dass der Islam als etwas Heimisches dargestellt werde. Der FPÖ-Spitzenkandidat hat selbst Migrationshintergrund. Seine Mutter stammt aus dem Iran.563 Das Verhalten und die Argumentation Landbauers erinnern an den jüdischen Rabbiner in Triest, der auf Jiddisch von seiner Umgebung verlangt, die Hand zum faschistischen Gruß zu heben.564 Landbauer trat aus der Burschenschaft aus und will vom Liederbuch nichts gewusst haben. Diese Ignoranz und das sich Wegducken nach dem Krieg wurde in der Affäre um den Bundespräsidenten Kurt Waldheim ein großes Thema, der meinte, dass nur sein Pferd bei der SS gewesen wäre.565 So wurden die Täter, dank des bewaffneten Widerstandes der Kärntner Slowenen, durch die Österreich die Neutralität zugesprochen wurde, nicht zur Verantwortung gezogen und konnten nach Kriegsende bald wieder an ihre Posten im Staat zurück. „Wo man plötzlich überall wie die Blutegel sich festgesaugt habenden alten Nazis gezwungen war die wahrzunehmen und was die noch weiter an Gift verstreuen und wo man hingeschaut hat, waren die alten Nazis und haben fröhliche Urständ gefeiert, bis zum Gerichtspsychiater Gross, der ein Massenmörder war.“ – André Heller Die Makroaufnahmen einer Spritze sollen auf den von der Republik hochdekorierten Euthanasie-Arzt Heinrich Gross, der sein Opfer Friedrich Zawrel, nachdem dieser vom Spiegelgrund geflüchtet war, wieder als Gerichtsgutachter in den Kerker brachte, hinweisen. Die Geschichte von Heinrich Gross und Friedrich Zawrel wird in einem Spielfilm und einem Dokumentarfilm von Elisabeth Scharang thematisiert. Nikolaus Habjan hat in Zusammenarbeit mit Friedrich Zawrel ein Puppentheaterstück auf die Bühne gebracht.566 Die künstlerischen Arbeiten zeigen, wie der Erinnerungsdiskurs in Österreich bis in die Gegenwart geführt wird. „Also man kann das gar nicht kritisch genug sehen und die Opfer sind immer wieder neue Opfer geworden, Opfer der Ignoranz der 2. Republik, Opfer des mangelnden Mitgefühls, mangelnde Barmherzigkeit, mangelnde Gerechtigkeit.“ – André Heller Thea Scholl, die ihre Eltern durch die Nationalsozialisten verloren hat, nimmt Stellung zum Umgang mit den Tätern und der Rolle des jüdischen Bundeskanzler Bruno Kreisky. „Ich bin empört gewesen. Ich war über alles, was da geschehen ist, empört.

563 Vgl. „Moslem Mama –FPÖ Mann hat selbst iranische Wurzeln“, Kurier, 21.11.2017: https://kurier.at/politik/inland/moslem-mama-fpoe-mann-hat-selbst-iranische- wurzeln/298.972.803, 16.6.2018 564 Vgl. Kapitel 6.1.3.4. 565 Vgl. Kapitel 6.1.13. 566 Vgl. Kapitel 7.5. 235

Über diesen Gross zum Beispiel, der die Kinder umgebracht hat. Aber schauen Sie, was jetzt auch wieder geschieht, es geschieht ja ununterbrochen: schreckliche politische Ungerechtigkeiten und Niederträchtigkeiten. Jetzt, die Nazis sind weg, aber Ungerechtigkeiten und schreckliche Verbrechen geschehen nach wie vor.“ – Thea Scholl Thea Scholl setzt die Verbrechen der Nationalsozialisten mit den Genoziden der Gegenwart gleich, was in der Opfergruppe als umstritten gilt. Es wird immer wieder auf die Einzigartigkeit der industriellen Vernichtung von Menschen hingewiesen. Im nächsten Interviewausschnitt kehrt Thea Scholl zum politischen Klima nach dem 2. Weltkrieg zurück, als Bruno Kreisky über Jahrzehnte die politische Bühne mitbestimmte. Bei der Nationalratswahl 1975 erreichte Bruno Kreisky, der vor der Wahl glaubte auf die Unterstützung der FPÖ angewiesen zu sein, mit der SPÖ die absolute Mehrheit. Der damalige Leiter des Dokumentationsarchives des österreichischen Widerstandes, Simon Wiesenthal, machte nach der Wahl die Nazi- Vergangenheit des FPÖ-Vorsitzenden Friedrich Peter öffentlich. Obersturmbandführer Peter hat demnach in einer SS-Einheit gedient, die für Massenmorde verantwortlich war. Laut dem Journalisten Peter Michael Lingens, der auch Mitarbeiter Wiesenthals war, verlor Bruno Kreisky die Nerven und beschimpfte Wiesenthal, er habe mit der Gestapo zusammengearbeitet. Eine lebenslange Auseinandersetzung, die zu einer Prozessflut führte.567 „Was Kreisky, ich hab das nie verstanden, er selber war enorm betroffen. Seine Familie hat ja auch. Er hat überlebt, weil er in Schweden war. Aber er hat auch enorme Verluste gehabt.“ – Thea Scholl Bruno Kreisky lebte 12 Jahre im Exil und verlor durch den Holocaust 25 enge Verwandte.568 „Dass sich Bruno Kreisky um die politische Integration der ehemaligen Nazis bemühte, war ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Niemand musste Buße tun.“- Sprechertext Im Bild sieht man einen in einer Steinhöhle projizierten Handschlag, der für einen Handschlag steht, der es möglich machte, dass die Täter wieder Fuß fassten und man versuchte die Nazizeit unter den Teppich zu kehren. Eine Politik, die sich kurzfristig und langfristig rächte. Der weiter oben im Film thematisch behandelte Kärntner Ortstafelsturm ist nur in diesem Klima denkbar. Kreisky bekam die Rechnung für diese Politik präsentiert, als er während eines Besuches in der Kärntner Arbeiterkammer vom deutschnationalen Pöbel mit Eiern beworfen wurde.569

567 Vgl. Kapitel 7.7.5. 568 Vgl. Petritsch, Wolfgang (2010). Bruno Kreisky. Die Biografie. St. Pölten-Salzburg: Residenz Verlag, Seiten 19f. & Seiten 230f. 569 Vgl. Kapitel 6.1.4.1. 236

Das Interview mit dem Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich wurde in einem Nachdreh aufgenommen, da Gottschlich gerade seine Arbeit zu Antisemitismus in Österreich publiziert hatte. „Wir haben heute ein dreiviertel Jahrhundert nach der Shoah ein Höchstmaß an Antisemitismus in allen europäischen Ländern und das stimmt doch bedenklich, nur hat er heute ein anderes Gesicht als noch vor 70 Jahren in den Zeiten des Nationalsozialismus.“ – Maximilian Gottschlich „Das andere Gesicht des Antisemitismus“ zeigt sich in diesen Tagen im alten Gewand. Das unverhohlene Betreiben von nationalsozialistischer und antisemitischer Praxis erschreckt nicht nur die Opfer des Holocausts. „Naja, ich erinnere mich da nur an einen Satz aus einem Brecht-Stück: „Der Bauch ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Natürlich kann es noch einmal passieren. Es passiert ja eigentlich auch in anderer Form, aber es passiert doch wieder. Faschismus ist noch immer nicht tot!“ – Thea Scholl Thea Scholl zitiert Bert Brecht und erklärt damit den Bankrott der österreichischen Erinnerungspolitik. Das „never again“ ist auch für die Vertreterin der dritten Opfergeneration keine Selbstverständlichkeit. Im Bild sieht man zwischen den Interviewpassagen in einer Spiefilmpassage das Gesicht einer jungen Frau, die sich versucht die Projektion von Hakenkreuzen aus dem Gesicht zu wischen. „Es macht mir Angst, aber es überrascht mich nicht, ich weiß ja, dass es diese Bedrohung und dass es die Möglichkeit, dass etwas wie damals wieder passiert unterschwellig wieder das ist. Wenn man nicht aufpasst, wenn man nicht sensibel ist, wenn man nicht dagegen steuert, wenn man nicht so und so viele Leute dafür sensibilisiert, dass sie ebenfalls Antennen dafür haben.“ – Olivia Pixner-Dirnberger Die dritte Generation lebt mit der Möglichkeit, dass das was ihren Großeltern passiert ist, wieder passieren kann. Und auf eine Art und Weise sind sie dafür auch gewappnet. Die Untersuchungen aus der europäischen Wertestudie sprechen hier eine klare Sprache. „Nahezu jeder zweite Österreicher macht das internationale Judentum, die Juden in der Finanzwelt, für dies Wirtschaftskrise, in der wir derzeit leben verantwortlich. Oder ein anderes Beispiel: Jeder fünfte Österreich, wir brauchen Politiker, die etwas gegen den jüdischen Einfluss in der österreichischen Gesellschaft tun. Und immerhin 12 Prozent, das ist in absoluten Zahlen für Österreich nicht wenig, 12 Prozent sagen, dass sie eigentlich keine Juden in Österreich haben wollten.“ – Maximilian Gottschlich Der Wissenschaftler ist in seiner Untersuchung den Wurzeln des Antisemitismus auf den Grund gegangen.570 „Wenn Sartre sagt, dass der Antisemitismus eine Bewegung der Seele ist, dass Antisemitismus eine Obsession ist, dass mit Antisemitismus Hass verbunden ist, dann kann die Antwort auf den Hass nicht das Vernunftargument

570 Vgl. Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österrich? Kritische Befunde zu einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag 237 sein, dann kann die Antwort nur eine neue Kultur des Mitgefühls sein. Und diese neue Kultur des Mitgefühls, die sich für die Bedürfnisse der Opfer öffnet, diese Kultur müssten wir erst entwickelt, dann besteht auch die Möglichkeit in den Juden quasi auch die Opfer zu sehen. Die Opfer über 2.000 Jahre hinweg.“ – Maximilian Gottschlich In der nächsten Bildpassage bei TC 1.11.18 besucht Ajda Sticker, die Vertreterin der dritten Opfergeneration bei den Kärntner Sloweninnen und Slowenen, den Wiener Naschmarkt. Sie passiert dabei in einer Passage die an einem Marktstand stehende Sandra Selimović. Sticker kauft sich etwas zu essen. Die Bilder sollen die diverse Großstadt zeigen, die durch den Sprechertext konterkariert wird. „Laut europäischer Wertestudie rangiert die Alpenrepublik in ihrer Ablehnung von Minderheiten, Juden, Roma und Migranten an europaweit zweiter Stelle und das alles als hätte es den Holocaust nie gegeben.“ – Sprechertext Ein radikaler Schauplatzwechsel zu marschierenden Fahnenträgern vor dem Klagenfurter Konzerthaus wird auf der Tonspur durch einen Text von Ajda Sticker erklärt. „Jedes Jahr im Herbst überkommt mich ein beklemmendes Gefühl. Gemeinsam mit den Fahnenträgern ziehen auch revisionistische Kräfte und Neonazis ins Land, um die tapferen Vaterlandkämpfer, vor allem aber sich selber zu preisen.“ – Ajda Sticker Man sieht eine in sich gekehrte Ajda Sticker, aufgenommen mit einer Handkamera, die das Geschehen beobachtet. Im Hintergrund unterhalten sich Polizisten. Es folgen Bilder einer Nazi-Zusammenkunft in Krumpendorf am Wörtersee. Ajda Sticker betrachtet das Treffen der Neonazis auf einem Bildschirm. Alle Bilder aus Krumpendorf wurden durch den Schnitt mit einem Rahmen versehen, um das Element des Beobachtens der Aktivitäten der alten und jungen Nazis zu verdeutlichen: „Am Abend vor der Ulrichsberg-Feier trifft man sich in Krumpendorf. Bei Volksmusik und Bier schwelgt die rechte Internationale in Erinnerungen. Ansonsten fühlt man sich von allen Seiten verfolgt. Seit vor Jahren die Anwesenheit Heinrich Himmlers Tochter, der NS-Ikone Gudrun Burwitz, belegt wurde, fürchten die Veranstalter, dass das Treffen durch das österreichische Verbotsgesetz untersagt werden könnten. Dieses auf die Hände tätowierte ‚Sieg-Heil‘ hat man scheinbar übersehen.“ - Sprechertext Auf die Passage des Treffens folgt ein Interview mit Dirk Stermann, der wie der Sprecher der Dokumentation Christoph Grissemann von der Jugend mit großer Aufmerksamkeit rezipiert wird. Christoph Grissemann und Dirk Stermann haben in Folge des Unfalltodes von Jörg Haider, der vor Jahren im Rahmen dieser Krumpendorf-Veranstaltung, Österreich als eine Missgeburt bezeichnet hat, für viel Aufsehen gesorgt. Die Kabarettisten erhielten wegen einer Satire auf den verstorbenen Politiker in der Fernsehshow „Willkommen Österreich“ Morddrohungen. Die Radkappen eines Veranstalters, der das Duo nach Kärnten

238 eingeladen hatte, wurden gelöst.571 „Wir haben gedacht, dass das merkwürdig ist, wenn ein, ein, wenn jemand, der ein Land als Missgeburt bezeichnet, ein Staatsbegräbnis bekommt und behandelt wird wie Lady Diana, obwohl wir alle wissen, dass er eben viele Leute, für viele Leute nicht gut war in dem Land und viele Leute gelitten haben unter dem und Angst hatten eben einfach auch, wie zum Beispiel die Kärntner Slowenen. Und das war dann die Reaktion auf diese bizarre, auf dieses Medienhochamt für Haider und es gab niemanden, der dagegen gesprochen hat. Und wir haben dann gedacht, dann machen wir das halt. Einer muss es tun.“ – Dirk Stermann Im Rahmen eines Drehs mit Katja Sturm-Schnabl entdeckte ein Jugendlicher vor der Erinnerungsveranstaltung im Nebenhaus den Nazi-Kriegsverbrecher Milivoj Ašner als er gerade nach Hause kam. Auch diese Aufnahmen wurden beim Schnitt mit einem Rahmen versehen, um die Position des Beobachtens hervorzuheben. „Dass Jörg Haider den 2011 verstorbenen Nazi Kriegsverbrecher Milivoj Ašner mit offenen Armen aufnahm und meinte, er – Aschner – solle seinen Lebensabend als Klagenfurter Bürger mit seiner netten Familie in Kärnten verbringen dürfen, empörte die NS-Opfer. Aschner wurde bis zu seinem Tod juristisch nicht belangt, während sich die Jugendlichen, die sich gegen das Ulrichsbergtreffen stark machen, mit der Exekutive herumschlagen müssen.“ - Sprechertext Die Reporterin Ajda Sticker begibt sich zum alljährlichen Treffen auf den Ulrichsberg. Begleitet wird sie von der Regisseurin und den zwei Kameraleuten. Zuerst trifft Sticker auf die Demonstrantinnen und Demonstranten gegen das Nazi-Treffen am Ulrichsberg. Das stille Akzeptieren der Kärntner Politik des Treffens der alten Kämpfer gehörte genauso zum parteiübergreifenden guten Ton wie auch die Kriminalisierung von Demonstrierenden. Jahrelang traten höchste Landespolitiker als Festredner auf. „Um sich selbst ein Bild zu machen, fährt die Journalistin Ajda Sticker mit ihrem Fotografen auf den Ulrichsberg.“ – Sprechertext Nach der Ankunft am Berg passiert etwas, was von allen tunlichst versucht wurde herunterzuspielen: Neonazis greifen einen unserer Kameramänner an. „Es kommt zum Tumult, Stickers Fotograf wird von Skins vor den Augen der Polizei angegriffen.“ – Sprechertext Es folgt die Untertitelung des Angriffes auf den Kameramann, der vom Angriff überrascht wird und die Kamera laufen lässt. Kameramann: - „Hee, was ist da los?“ Nazi: - „Was soll das überhaupt? Geht es noch oder was, du Stück Scheiße.“ Kameramann: - „Was?“ Nazi: - „Dass du, dass du von allen Fotos machst, du Stück Scheiße. Du politische

571 Vgl. Kapitel 9.10.5. 239

Zecke! Was soll denn das?“ Ajda Sticker beobachtet den Vorfall und flüchtet zu einem Bekannten. Die Regisseurin verpasst die Vorgänge, da sie nicht erwünscht war und unbemerkt zu Fuß auf den Berg ging. Als sie oben ankommt, wurden nicht die Neonazis, sondern der Kameramann von der Polizei vom Ulrichsberg geführt. Ajda Sticker resümiert: „Was mir Angst gemacht hat gestern, nachdem sie den Fotografen hinunterbegleitet haben, war, dass sich diese sieben Männer, Bulldoggen rund um mich aufgestellt haben und mich körperlich bedrängt haben.“ – Ajda Sticker „In dem Moment, wo mich die Skins umzingelt haben und ich nicht, nicht der erste Impuls war zum Polizisten zu gehen, sondern zu einem Geschichtsprofessor, der in der Nähe gestanden ist, den ich kenne und ich mich zum Schutz zu ihm gestellt habe und nicht zur Polizei. Ich habe kein Vertrauen in die Exekutive und ins Rechtsystem, ins österreichische, vor allem wenn es in dem Kontext Geschichtsrevisionismus, Rechtsradikalismus ist.“ – Ajda Sticker Ajda Sticker, Vertreterin der dritten Opfergeneration, erlebt durch den Angriff der Neonazis eine Art Retraumatisierung. Sie oder stellvertretend ihr Kameramann wird von Vertretern jener Geisteshaltung angegriffen, die ihre Großmutter ins NS-Lager gebracht haben. Sticker vertraut dem System nicht, das zusieht und sie wieder nicht schützt. Ihre Großmutter wurde mit ihren Kindern vom damaligen Nazi-Staat, nur weil sie der slowenischen Volksgruppe angehört, ins Lager verschleppt. Das kritische Hinterfragen und genaue Beobachten von Aktionen des Staates und der Polizei liegen im krassen Gegensatz zum norwegischen Modell, wo der Polizist als guter Onkel betrachtet wird. So verkleidete sich der norwegische Neonazist und Massenmörder Anders Behring Breivik in Uniform, um die 77 Jugendlichen als guter Onkel überraschen zu können, um sie dann auf der Insel Utoja zu ermorden. Harry Belafonte behandelt im folgenden Interviewausschnitt Möglichkeiten, wie man auf solche faschistoiden Angriffe, wie die geschehene auf dem Ulrichsberg, reagieren kann. „Die Menschheitsgeschichte lehrt die Menschen sensibel und wachsam zu sein. Denn es gibt immer eine Gruppe, die über eine andere Gruppe bestimmen will und Grenzen und Orte kreieren will, wo Unterwerfung und Machtgier herrschen. Also, ja wir sollten immer wachsam sein und uns dessen bewusst sein. Angst zu haben bedeutet, dass man sich nicht dagegen auflehnen will. Angst zu haben ist ein Mechanismus, der die Verantwortung unterdrückt die Gewalt zu bekämpfen, zu besiegen und sie loszuwerden. Also fürchtet euch nicht, sondern seid euch dessen bewusst.“ – Harry Belafonte Das Geräusch eines Bombeneinschlages über das Bild von projizierten Bildern in einer Höhle leitet das letzte Kapitel der Dokumentation ein. Es behandelt die Ermordung der vier jungen burgenländischen Roma in Oberwart / Borta. Das Attentat war die Spitze einer Serie von Briefbombenanschlägen des Neonazisten Franz Fuchs aus Gralla in der Steiermark. Ein Opfer der Briefbombenserie war auch die Kollegin der 240

Autorin, Silvana Meixner, die während eines gemeinsamen Dienstes in der ORF- Minderheitenredaktion Opfer einer Briefbombe wurde.572 Trotz schwerer Verletzungen und schwerwiegenden Folgen leitet Silvana Meixner bis heute die ORF Minderheitenredaktion. Die Autorin hatte auch über die Roma in der Oberwarter Siedlung berichtet. Der Attentäter Franz Fuchs bedankte sich bei der Gestalterin des Beitrages in einem Bekennerschreiben dafür, dass ihm durch den Beitrag gezeigt wurde, wo er die Roma finden konnte. „In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1995 wurden vier junge Roma durch einen rassistisch motivierten Bombenanschlag in Oberwart ermordet.“ - Sprechertext Josef Simon, Peter Sarközi, Karl und Erwin Horvath wollten eine Tafel mit der Aufschrift "Roma zurück nach Indien" entfernen. Als sie die Tafel berührten, explodierte sie. Die Ermordung der Roma führte zu einer Retraumatisierung der gesamten Volksgruppe. 99 Prozent der burgenländischen Roma wurden im Holocaust ermordet. „Unterdrückt werden wir überall, egal, auf der ganzen Welt, ein Rom ist unterdrückt. Ich sag das immer. Und die sollen aufpassen. Ich wird es nicht erleben, aber sie sollen aufpassen, wenn sie draufkommen, hab ich gesagt. Weil jetzt, wenn das kommt, wenn es die Kraft ist, nicht mehr im Lager, so wie uns, da werden sie sie im Haus niederbrennen gleich.“ – Adolf Papai Adolf Papai formuliert die Angst der Opfer in erster Generation, dass sich die Geschichte wiederholt. In der nächsten Passage hören wir die Muttersprache der burgenländischen Roma, Romanes oder Roman. Der Bassspieler zitiert ein Lied. „Mein Lieblingslied ist ein trauriges Lied. Ich wurde in einem kleinen schönen Dorf groß und bin meinen Vorfahren, meiner Mutter, meinem Vater, meinen Geschwistern ganz nah. Schon immer wollte ich zu meinen Geschwistern, meinem Vater, meiner Mutter zurück. Auf dem Friedhof, wo sie begraben sind, dort will ich auch begraben werden.“ – Adolf Papai Sandra Selimović teilt die Auffassung des Vertreters der ersten Opfergeneration und mahnt Vorsicht ein. „Es betrifft einen nicht so selber, aber es passiert immer da und dort was und irgendwann ist es dann plötzlich da und dann kann man gar nicht weg und dann nimmt man das hin und ist einfach Opfer von dem und kommt gar nicht aus und ist schon mitten drin und steckt schon im KZ, so von einem Tag auf den anderen, das es so „klack“ geht und man merkt es gar nicht. Und ich habe das Gefühl, dass es jetzt auch ein bisschen so ist. Man hört immer, da ein paar Hetzgeschichten, dort werden Häuser verbrannt und in Ungarn in einem Roma-Dorf wird geschossen und die Paramilitärs dringen dort eine und machen ein Schießzentrum und Frauen und Kinder müssen evakuiert werden. “ – Sandra Selimović

572 Vgl. Kapitel 2.2.4. 241

Die Liste an ethnisch motivierten Gewaltübergriffen auf Roma in Europa ist lang. Weder politische Vertretungen auf Europaebene noch die staatliche Anerkennung der Roma kann die Volksgruppe schützen. Noch viel weniger wird der ethnisch und sozial diskriminierten Gruppe aus dem Elend geholfen. Die Exekutive steht in den meisten Fällen auf der Seite der Aggressoren. „Und sie marschieren wieder und alle sehen zu. Wieder sind die Roma die Opfer. Zweijährige Kinder werden verbrannt, Roma werden deportiert, die Häuser der Roma werden ausgeräuchert. Und sogar die letzte Ruhe wurde einer Romni in Slowenien verwehrt.“ – Sprechertext In einem Ort in Süden Sloweniens stellte sich die lokale Bevölkerung mit Mistgabeln und Sägen vor den Friedhof, um zu verhindern, dass eine Romni dort begraben wird. Der örtliche Mob wurde dann von Polizeieinheiten aus Ljubljana in die Schranken gewiesen. Das letzte Wort in der Dokumentation gehört Harry Belafonte, der alle unterdrückten Gruppen aufruft, sich zu solidarisieren, um gemeinsam gegen die Unterdrückung aufzutreten. „Es ist offensichtlich, dass der Feind lebt. Wir alle haben die Aufgabe dafür zu sorgen, dass der Feind, zwar im Moment agiert, aber er soll uns nicht bestimmen. Wir alle haben die Verantwortung uns gegen rassistische Auswüchse aufzulehnen und uns mit jenen zusammenzutun, die auf unserer Seite sind.“ – Harry Belafonte In der vorletzten Bildpassage lernen wir die Journalistin Ajda Sticker als Sängerin kennen. Sie singt einen Song in ihrem Kärntner slowenischen Idiom, in dem alle Tiere zum Aufstand gerufen werden. Zum Schluss biegen alle drei Protagonistinnen der dritten Generation, Ajda Sticker, Sandra Selimović und Olivia Pixner-Dirnberger ums Eck. Sie stehen vor weißem Hintergrund und sehen direkt in die Kamera. Die drei gehen aus dem Bild und es folgt die Insertierung.

242

10. Resümee

Im Interview anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Cultural Studies skizzierte Stuart Hall seine Vorstellung als prominentester Vertreter: „Bob Marley said: Don´t give up the fight. How about: Don´t expect the fight, find the fight (…) You got to use your bloody heads, you have to use your critical mind, you have to make intellectual use of the ideas, concepts and knowledge of the concrete studies you are doing to make some sense of it. It is not coming already packaged. So don´t think the work has been done in the first generation, the Bermingham School did it all, not at all!”573 Wenn der Vordenker der britischen Cultural Studies Stuart Hall seine Schülerinnen und Schüler auf eine interventionistische, interdisziplinäre, selbstkritische Praxis einzuschwören versucht und sich dabei auf seinen jamaikanischen Landsmann, die Reggea-Ikone Bob Marley beruft, ist dies als Beispiel radikaler Kontextualität zu werten, und dieser Ansatz wurde diesem Dissertationsprojekt zugrunde gelegt. Dieses grenzüberschreitende Forschen und In-Beziehung-Setzen hat gezeigt, dass die Überlebenden der NS-Gewalt unter den Romnija und Roma, den Jüdinnen und Juden sowie den Kärntner Sloweninnen und Slowenen bis heute mit einem hegemonial determinierten Umgang konfrontiert sind. Darüber hinaus bestätigt die Forschungshypothese, dass es der Kunst als Praxis der Cultural Studies durch das Benennen des Leides und seiner Ursachen sowie die Artikulation im Rahmen des Erinnerungsdiskurses gelingt, einen Raum zu eröffnen, in dem Definitionen von Gerechtigkeit, Freiheit und Heilung neu verhandelt werden können. Es wäre Aufgabe der Politik, sich diesem Diskurs zu stellen. Mittels Oral History wurde den Opfern in drei Generationen ein relevanter, umfassender Raum geboten, um die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen zu können. Aufgrund theoretischer Schlussfolgerungen wurde diesbezüglich evident, dass sich das NS-Leid in transgenerationaler Form in unterschiedlichen Identitätssträngen – dem widerständigen, dem tabuisierten, dem bewusst verdrängten, dem unversöhnlichen und dem lebenszentrierten Umgang – manifestiert. Das Instrument der Traumforschung beleuchtet die Auswirkungen des NS-Leides und seine Weitergabe in drei Generationen. Das hier vorliegende Projekt der Cultural Studies hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Status quo dieser transgenerationalen Traumaweitergabe prozesshaft aufzuzeigen, und um dem Aufruf von Stuart Hall zu folgen, soll diese Forschungsarbeit mittels eigener Website einer noch breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. In der Konsequenz bleibt noch die zu bearbeitende Aufgabe, der Frage nach

573 Stuart Hall Cultural Studies 50 Years On, 7.4.2017: https://www.youtube.com/watch?v=- t_Hkz0IODE, 16.6.2018 243 zu gehen, wie die Überlebenden der NS-Gewalt und Opfer in drei Generationen ihr Trauma überwachsen können. Ansätze internationaler Persönlichkeiten, die sich im Sinne des konvivalistischen Manifestes574 für ein gutes Leben für alle einsetzen, wurden in diesem Dissertationsprojekt bereits ausgearbeitet. Die Vermittlung solcher und ähnlicher Perspektiven obliegt oftmals Bürgerrechtskämpferinnen, Gelehrten und Wissenschaftlerinnen, wie etwa Rigoberta Menchú, Martin Luther King, Sophie Scholl, Nelson Mandela, Thich Nhat Hanh oder Simone de Beauvoir. Der Friedensnobelpreisträger von 1989, Tenzin Gyatso, bekannt als 14. Dalai Lama, sucht seit Jahrzehnten die Zusammenarbeit mit der Politik – oft auf humorvolle Weise, wie etwa bei seinem Zusammentreffen mit dem damaligen Landeshauptmann Gerhard Dörfler im Jahr 2012 in Kärnten575 – und mit der Wissenschaft, und betont, es sei entscheidend „(…) sich von lange gehegten, allgemein anerkannten Ansichten zu trennen, wenn wir auf unserer Suche herausfinden, dass die Wahrheit eine andere ist.“576 Im Gegenzug berief sich einer der bekanntesten Vertreter der Cultural Studies, Lawrence Grossberg, auf ein buddhistisches Konzept, um auf den davor verstorbenen Stuart Hall zu erinnern. Er, Hall, „ (…) was the key, pointed us and kept us on the path with a heart, to use a budhist expression. Stewart showed me the way with a heart und helped me, stay on it (…).”577 Ob und welche Auswirkungen dieser von Grossberg ausgewiesene „Weg des Herzens“, eingebettet in einen neoliberalen Diskurs, für die Begegnung mit dem Leid der NS-Opfer in drei Generationen haben kann, bleibt eine zu klärende Frage für zukünftige Forschungen der Cultural Studies.

574 Adloff, Frank / Leggewie, Claus / Käte Hamburger Kolleg (Hg.) (2014). Das konvivalistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld: transcript Verlag 575 Vgl. „Ehrenzeichen-Verleihung mit kleiner Panne (…) Weil die Kette des goldenen Ehrenzeichens zu kurz war um sie über seinen Kopf zu streifen, befestigte er sie zuerst am Ohr, dann als eine Art Stirnband und ließ das Ehrenzeichen baumeln.“; kaernten.orf.at: Landesorden für den Dalai Lama, 20.5.2012: http://kaernten.orf.at/news/stories/2533767/, 18.6.2018 576 Dalai Lama (2005). Die Welt in einem einzigen Atom. Meine Reise durch Wissenschaft und Buddhismus. Freiburg: Herder Verlag. Seite 30f. 577 Stuart Hall Interview: Professor Lawrence Grossberg, 28.11.2014: https://vimeo.com/113108467, 18.6.2018 244

11. Literaturverzeichnis

Adloff, Frank / Leggewie, Claus / Käte Hamburger Kolleg (Hg.) (2014). Das konvivalistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld: transcript Verlag

Améry, Jean (1982). Weiterleben - aber wie? Essays 1968-1978. Stuttgart: Klett-Cotta

Anderson, Benedict (1983). Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso

Assmann, Aleida (2013). Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: C. H. Beck

Assmann, Jan (2007). Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck

Baumgartner, Gerhard / Freund, Florian (2008). Namentliche Erfassung der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti. Wien: Datenbank

Baumgartner, Gerhard (2015). „Wann endlich wird dies himmelschreiende Unrecht an uns gut gemacht werden?“. Frühe Zeugnisse österreichischer Roma und Romnija zu ihrer Verfolgung während des Nationalsozialismus. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.) Jahrbuch. Feindbilder. Wien, Seite 43-80

Brett, Lily (2001). Auschwitz-Poems. Wien: Zsolnay Verlag

Bukow, Wolf-Dietrich (1996). Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Budrich

Dalai Lama (2005). Die Welt in einem einzigen Atom. Meine Reise durch Wissenschaft und Buddhismus. Freiburg: Herder Verlag

Dehm, Ursula (1984). Fernseh-Unterhaltung. Zeitvertreib, Flucht oder Zwang? Eine sozialpsychologische Studie zum Fernseherleben. Mainz: Verlag Hase & Koehler

Eco, Umberto (1976). A Theory of Semiotics. Bloomington: Indiana University Press

Elste, Alfred (1997). Kärntens braune Elite. Klagenfurt / Celovec: Verlag Hermagoras / Mohorjeva založba

245

ESRA: 10 Jahre. Zentrum für psychosoziale, sozialtherapeutische und soziokulturelle Integration. Ambulanz für Spätfolgen und Erkrankungen des Holocaust- und Migrations-Syndroms. Wien: ESRA 2004

Feyerabend, Paul (1984). Wissenschaft als Kunst. Berlin: Suhrkamp Verlag

Fiske, John (2001). Fernsehen: Polysemie und Popularität. In: Winter, Rainer/ Mikos, Lothar (Hg.). Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 85-109

Frankl, Viktor (1981). Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: dtv

Freund, Florian / Baumgartner, Gerhard / Greifeneder, Harald (2004). Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit, sowie Rückstellung und Entschädigungen seit 1945 in Österreich Bd. 23/2. Wien: Oldenbourg

Frölich, Margit / Loewy, Hanno / Steinert, Heinz (Hg.) (2003). Lachen über Hitler- Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München: edition text+kritik im Richard Boorberg Verlag

Fröhlich-Gildhoff, Klaus / Rönnau-Böse, Maike (2015). Resilienz. München: Ernst Reinhardt

Frühmann, Jakob (Hg.) (2018). Verschleppt, verdrängt, vergessen. Zur Erinnerung an die Romnija und Roma aus Jabing. Oberwart: Lex Liszt Edition 12

Glasersfeld, Ernst von. Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In: Watzlawick, Paul (Hg.) (1981). Die erfundene Wirklichkeit. Wie wir wissen, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München-Zürich: Piper, Seite 17

Goldbeck, Kerstin (2004). Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung. Die Fernsehkritik und das Populäre. Bielefeld: transcript Verlag

Gottschlich, Maximilian (2012). Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag

Grossberg, Lawrence (1997). Bringing it all back home. Essays on Cultural Studies. Durham: Duke University press

246

Gruen, Arno (2014). Wider den Gehorsam. Stuttgart: Klett-Cotta

Gruen, Arno (2016). Wider die kalte Vernunft. Stuttgart: Klett-Cotta

Gruen, Arno (2000). Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett-Cotta

Grünberg, Kurt / Markert, Friedrich (2016). Todesmarsch und Grabeswanderung - Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 231-260

Haderlap, Maja (2011). Engel des Vergessens. Göttingen: Wallenstein Verlag

Hafner, Fabjan (2014). Oha, sivec! Peter Handke und die Slowenen / Peter Handke in Slovenci. Celovec-Ljubljana-Wien: Mohorjeva / Hermagoras

Hall, Stuart (1989). Ausgewählt Schriften: Ideologie, Kultur, Medien, neue Rechte, Rassismus. Hamburg: Argument Verlag

Hall, Stuart (1992). Cultural studies and its theoretical legacies. In: Grossberg, Lawrence / Nelson, Cary / Teichler, Paula (Hg.) Cultural Studies. New York: Routledge, Seite 277-294

Hall, Stuart (2016). Die Frage der kulturellen Identität. In: Hall, Stuart. Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument, Seite 180-222

Hattendorf, Manfred (1994). Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz: UVK

Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Thomas, Tanja (Hg.) (2009). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Hickethiert, Knut (2007). Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag

Hipfl, Brigitte (2017). Cultural Studies. Legacies, Potentialities, and Challenges for Art Education. Journal of Research in Art Education. Vol. 18-4

Hipfl, Brigitte (2001). Medien-Identitäten: Identifikationen, Imaginationen, Phantasien. In: Busch, Brigitta / Hipfl, Brigitte / Robins, Kevin. Bewegte Identitäten. Klagenfurt / Celovec: Drava, Seite 47-70

247

Hipfl, Brigitte (2015). Migratorische Kultur und Prekarität am Beispiel des Films „Import Export“. In: Yildiz, Erol / Hill, Marc. Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 225-238

Hobsbawm, Eric (2005). Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt: Campus Verlag

Hren, Karl (2004). Die SPÖ und der Kärntner Ortstafelsturm. In: Anderwald, Karl / Filzmaier, Peter / Hren, Karl (Hg.) (2004). Kärntner Jahrbuch für Politik 2004. Klagenfurt: Kärntner Druck- und Verlagsgmbh, Seite 100-110

Internationaler Militärgerichtshofs Nürnberg (Hg.) (1947). Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946, Bd. 3

Inzko, Valentin (1985). Zgodovina Koroških Slovencev od leta 1918 do danes z upoštevanjem vseslovenske zgodovine. Klagenfurt / Celovec: Hermagoras / Mohorjeva

Immler, Nicole L. (2016). Gefühltes (Un-)Recht im Familiengedächtnis. Zum Aspekt der „Generation“ in der Entschädigungspolitik. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 101-138

Jordan, Glenn / Weedon, Chris (1995). Cultural Politics. Class, Gender, Race and the Postmodern World. Oxford: Blackwell Publishers

Jordan, Glenn (2016). Beyond essentialism: On Stewart Hall and black British Arts. International Journal of Cultural Studies, 19 (1), 11 – 27 In: Hipfl, Brigitte (2017). Cultural Studies. Legacies, Potentialities, and Challenges for Art Education. Journal of Research in Art Education. Vol. 18-4

Katalog zur Ausstellung „Spione, Schwindler, Schatzsucher - Kriegsende im Ausseerland 1945. In: Eine österreichische Karriere, Seite 18-23

Kattnig, Franz (1977). Das Volksgruppengesetz. Eine Lösung? Der Standpunkt der Kärntner Slowenen. Klagenfurt / Celovec: Slowenisches Informationscenter / Slovenski informacijski center

Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2016). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag

248

Kokot, Andrej (1999). Das Kind, das ich war. Klagenfurt / Celovec: Drava Verlag založba

Kopeinig, Margaretha / Petritsch, Wolfgang (2009). Das Kreisky-Prinzip. Im Mittelpunkt der Mensch. Wien: Czernin Verlag

Krištof, Emil / Pilgram, Gerhard (Hg.) (2005). Kovček / Der Koffer. Was sie schon immer über die Kärntner Slowenen wissen wollten. Kar ste že vedno želeli vedeti o koroških Slovencih. Ein Bilder-Bastel-Lesebuch. Klagenfurt / Celovec. Drava Verlag založba

Laher, Ludwig (Hg.) (2004). Martl, Gitta / Martl, Nicole / Winter, Rosa. Uns hat es nicht geben sollen: Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen. Grünbach: Edition Geschichte der Heimat

Larcher, Dietmar (2005). Heimat – Eine Schiefheilung. Südtirols große Erzählungen – ein Versuch der Dekonstruktion. In: LARCHER, Dietmar / SCHAUTZER, Wolfgang / THUSWALD, Marion / TWRDY, Ute (Hg.). Fremdgehen. Fallgeschichten zum Heimatbegriff. Klagenfurt / Celovec: Drava, Meran / Merano: alpha beta, Seite 165- 190

Mago, Samuel / Mágó, Károly (2017). „glücksmacher – e baxt Romani“. Wien: edition exil

Magris, Claudio (2017). Verfahren eingestellt. München: Carl Hanser Verlag

Malle, Avguštin / Entner, Brigitte (Hg.) (2016). Die Vertreibung der Kärntner Slowenen 1942 / Pregon koroških Slovencev 1942. Klagenfurt / Celovec: Drava

Meyer, F. T. (2005). Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film. Bielefeld: transcript Verlag

Michael-Gaismair-Gesellschaft (Hg.) (1993). Claus Gatterer. Der Mensch, der Journalist, der Historiker. Ein Symposium über Claus Gatterer. Bozen: Edition Raetia

Mikos, Lothar (2001). Fernsehen, Populärkultur und aktive Konsumenten. Die Bedeutung John Fiskes für die Rezeptionstheorie in Deutschland. In: Winter, Rainer / Mikos, Lothar (Hg.). Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 361-371

Mikos, Lothar (2008). Film- und Fernsehanalyse. Konstanz: UVK

249

Minh-ha, Trinh T. (1989). Woman, Native, Other: Writing Postcoloniality and Feminism. Bloomington: Indiana University Press

Minh-Ha, Trinh T. (1991). When the moon waxes red. Representation, Gender and Cultural Politics. New York: Routledge

Minh-ha, Trinh T. (2011) Elsewhere, Within Here: Immigration, Flucht und das Grenzereignis. New York und London: Routledge

Mozes Kor, Eva (2016). Die Macht des Vergebens. Salzburg: Benvento

Mulvey, Laura (1989). Visual and other pleasures. Basingstoke: Palgrave Macmillan

Müller-Hohagen, Jürgen (2016). Seelische Auswirkungen der NS-Zeit bei Nachkommen von Tätern und Mitläufern. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag. Seite 149-168

Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (2010). Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Wien: Eigenverlag

Österreichisches Volksgruppenzentrum (1993). Österreichische Volksgruppenhandbücher: Kärntner Slowenen. Klagenfurt / Celovec: Hermagoras / Mohorjeva

Petritsch, Wolfgang (2010). Bruno Kreisky. Die Biografie. St. Pölten-Salzburg: Residenz Verlag

Polak, Regina (Hg.) (2011). Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990-2010. Österreich im Vergleich, Wien: Böhlau Verlag

Reiter, Margit (2016). Die Shoah im Familiengedächtnis. Transgenerationelle Tradierung von Antisemitismus und die „Kinder der Täter“ In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 176-190

Repräsentativbefragung der österreichischen Bevölkerung (2010/11), durchgeführt vom Institut: ipr-Sozialforschung, Institut für Publizistik- und Kommunikationsforschung mit 1070 Probanden In: Gottschlich, Maximilian (2012).

250

Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich. Kritische Befunde einer sozialen Krankheit. Wien: Czernin Verlag, Seite 35 und 254

Rich, Ruby B. (1998). Chick Flicks. Durham and London: Duke University Press

Rosenthal, Gabriele (Hg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial Verlag

Rothberg, Michael (2009). Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Redwood City: Stanford University Press

Schadt, Thomas (2012). Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms. München und Konstanz: UVK

Scheugl, Hans / Schmidt, Ernst jr. (1974). Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

Scholl, Susanne (2017). Wachtraum. Salzburg-Wien: Residenzverlag

Schönett, Simone (2018). Andere Akkorde. Klagenfurt / Celovec: Edition Meerauge

Schütte, Christiane (2014). Heimkehr ohne Heimat. Über Rückkehr und Neubeginn der 1942 vertriebenen Kärntner Slowenen. Wien: Verlagshaus Hernals

Steinacher, Gerald (2008). Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee kamen. Bozen: Studien Verlag

Steindling, Ruth / Erdheim, Claudia (2017). Vilma Steindling. Eine jüdische Kommunistin im Widerstand. Wien: Amalthea Verlag

Steinmetz, Selma (1966). Österreichs Zigeuner im NS-Staat. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien: Europa Verlag

Stojka, Karl (2000). Mein Name im Dritten Reich war Z:5742. Wien: Eigenverlag

Sturm-Schnabl, Katja / Schnabl, Bojan-Ilija (2016). Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten / Koroška. Von den Anfängen bis 1942. Wien-Köln- Weimar: Böhlau Verlag

251

Thurner, Erika (1982). Die Zigeuner als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Österreich. Dissertation, Universität Wien

Tischler, Joško (1992). Poročilo dr. Joška Tischlerja o povratku pregnancev. Bericht des Dr. Joško Tischler über die Heimkehr der Vertriebenen. In: Malle, Avguštin / Sima, Valentin - Zveza Slovenskih Izseljencev / Verband ausgesiedelter Slowenen et al. Narodu in državi sovražni. Pregon koroških Slovencev 1942 / Volks- und staatsfeindlich. Die Vertreibung von Kärntner Slowenen 1942. Celovec / Klagenfurt: Založba Drava Verlag – Mohorjeva založba / Hermagoras, Seite 476-479

Tschernokoschewa, Elka (2015). Die Hybridität von Minderheiten. In: Yildiz, Erol / Hill, Marc (Hg.). Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 65-88

Valentin, Hellwig (2005). Der Sonderfall. Kärntens Zeitgeschichte 1918-2004. Klagenfurt-Ljubljana-Wien: Hermagoras / Mohorjeva

Wachsmuth, Iris (2016). Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(inne)n und Mitläufer(inne)n. In: Keil, Martha; Mettauer, Philipp (Hg.). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 191- 208

Wakounig, Vladimir (2006). Das Dilemma der zweisprachigen Schule in einer ethnisierten Gesellschaft / Dilema dvojezične šole v etnično raznoliki družbi. Alpen- Adria-Universität Klagenfurt: Habilitationsschrift.

Windsperger, Marianne. Generationen 3.0: Narrative der dritten Generation. Eine Bestandsaufnahme. In: Keil, Martha / Mettauer, Philipp (Hg.) (2006). Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck: Studienverlag, Seite 89-100 Wutti, Daniel (2013). Drei Familien, drei Generationen. Das Trauma des Nationalsozialismus im Leben dreier Generationen von Kärntner SlowenInnen. Klagenfurt / Celovec: Založba Drava Verlag

Yildiz, Erol. Postmigrantische Perspektiven. In: Yildiz, Erol/ Hill, Marc (Hg.) (2015). Nach der Migration. Bielefeld: transcript Verlag, Seite 19-36

Yildiz, Erol. Gesichter der Migration, Innsbruck 2018, Projektleitung: Erol Yildiz: „(…) Wie sind Menschen in familiale und andere grenzüberschreitende Netzwerke eingebunden? Wie bewegen sie sich in transnationalen Räumen? Wie kombinieren sie unterschiedliches miteinander und entwickeln daraus eigene Lebensentwürfe?“

252

Zveza Slovenskih Izseljencev / Verband ausgesiedelter Slowenen et al. (1992). Narodu in državi sovražni. Pregon koroških Slovencev 1942 / Volks- und staatsfeindlich. Die Vertreibung von Kärntner Slowenen 1942. Celovec / Klagenfurt: Založba Drava Verlag – Mohorjeva založba / Hermagoras Verlag

Zveza Slovenskih Izseljencev (2012). Valentin Oman/Karl Vouk. DENK MAL: DEPORTATION. 1942 – 2012. Klagenfurt / Celovec: Mohorjeva / Hermagoras

Zwitter-Grilc, Sabina (2009). „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Was macht Journalismus aus politischen Strategien; eine Analyse am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen der Kärntner Politik und dem slowenischen Interessensvertreter Rudi Vouk zur Durchsetzung der zweisprachigen Ortstafelfrage. Wien: Diplomarbeit

Zeitungsartikel - Print:

„Claudio Magris. Schiffbruch nach der Morgenröte“, Kleine Zeitung, Sonntagsbeilage, 21.1.2018, Seite 5

„In Österreich Nazis zu jagen, ist sinnlos“, Kleine Zeitung, 29.4.2018, Seite 6f.

„Vergessene Lager“, dROMa 51/3/, 2017, Seite 3-9

„Versöhnliche Sprache“, Kleine Zeitung, Regionalteil, 18.4.2018, Seite 25

Zeitungsartikel - Online:

„Anzeige wegen Helnwein-Installationen“, Kleine Zeitung, 18.5.2017: http://www.kleinezeitung.at/kaernten/voelkermarkt/5220452/Kunst-oder- Pornografie_Anzeige-wegen-HelnweinInstallationen

„Ceija Stojka Ausstellung in Paris“, Salzburger Nachrichten, 28.2.2018: https://www.sn.at/kultur/allgemein/paris-wuerdigt-roma-kuenstlerin-ceija-stojka- mit-retrospektive-24813769

„Der universelle Regionalist“, Der Standard, 18.8.2011: https://derstandard.at/1313024565353/Ausstellung-Der-universelle-Regionalist

253

„Die Auschwitz Überlebende, die den Enkel des KZ-Kommandanten adoptiert hat“, Vice News, 20.1.2015: https://www.vice.com/de_at/article/gq3543/die-auschwitz- ueberlebende-die-den-enkel-des-kz-kommandanten-adoptiert-hat-498

„Ein Trauma, das vererbt wird“, Wina Magazin, Oktober 2017: http://www.wina- magazin.at/ein-trauma-das-vererbt-wird/

„‘Gemeinwohl-Ökonom‘ Felber aus Schulbuch entfernt“, Die Presse, 24.11.2016: https://diepresse.com/home/wirtschaft/eco1848/5123653/GemeinwohlOekonom- Felber-aus-Schulbuch-entfernt

„Lipuš legt aus Protest Ehrenbürgerschaft zurück“, Kleine Zeitung, 17.4.2018: http://www.kleinezeitung.at/kaernten/voelkermarkt/5407434/Streit-um- Ortstafeln_Lipus-legt-aus-Protest-Ehrenbuergerschaft-zurueck?xtor=CS1-15

„‘Moslem Mama‘: FPÖ-Mann hat selbst iranische Wurzeln“, Kurier, 21.11.2017: https://kurier.at/politik/inland/moslem-mama-fpoe-mann-hat-selbst-iranische- wurzeln/298.972.803

„Ortstafeln – Eine Chronologie“, kaernten.ORF.at, 30.9.2015: http://kaernten.orf.at/news/stories/2734344/

„Ortstafeln: Scharfe Attacken gegen Inzko“, Die Presse, 11.4.2011: https://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/649511/Ortstafeln_Scharfe- Attacken-gegen-Inzko

„Ruth Beckermann gewinnt mit Waldheim-Doku Berlinale-Preis“, Kleine Zeitung, 24.2.2018: https://www.kleinezeitung.at/kultur/kino/5378003/Bester- DokuFilm_Ruth-Beckermann-gewinnt-mit-WaldheimDoku

„Spezielle Kunst für einen speziellen Ort“, Der Standard, 19.11.2012: https://derstandard.at/1353206650459/Spezielle-Kunst-fuer-einen-speziellen-Ort

“Stuart Hall as an public intellectual”, IWA, 27.10.2013: http://www.iwa.wales/click/2013/10/stuart-hall-as-a-public-intellectual

„Trinh T. Minh-ha: Gedanken aus dem Zwischenraum“, Der Standard, 16. Juli 2017: https://derstandard.at/2000061310309/Gedanken-aus-dem-Zwischenraum

254

„Triumph der ‚Tiefland‘-Häftlinge“, Spiegel online, 16.8.2002: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/leni-riefenstahl-triumph-der-tiefland- haeftlinge-a-209809.html

„Weibliche Homosexualität und Nationalsozialismus“, unique, 01/2011: http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=216

„Wir schaffen die siebte Million“, Falter 04/18, 23.1.2018: https://www.falter.at/archiv/wp/wir-schaffen-die-siebte-million

Linksammlung:

André Heller: Gedenkrede, 12.3.2018: http://www.bundespraesident.at/fileadmin/user_upload/Gedenkrede_Andre_Helle r.pdf; https://www.youtube.com/watch?v=rL7k2XzJxcA;

Diagonale: http://www.diagonale.at/eroeffnungsfilm18-murer-anatomie-eines-prozesses/

„Die Geträumten“ – Film von Ruth Beckermann: http://www.diegetraeumten.at/content/3-de/

Edvard Munch: http://munchmuseet.no/en

Holocaustunterrichtsmaterialien, 9.5.2018: http://www.holocaust-unterrichtsmaterialien.de/index.html

I Survived The Holocaust Twin Experiments: https://www.youtube.com/watch?v=gdgPAetNY5U

Jean Ziegler - Solidaritätserklärung: https://www.facebook.com/LutkeMladje/videos/1383872925001318/

Kokot Andrej - Prezreta mladost/Missachtete Jugend: http://www.roz.si/de/teatr-zora/bisherige-produktionen/missachtete-jugend

Konvivalistisches Manifest: http://www.diekonvivialisten.de/manifest.htm

255

Kulturverein österreichischer Roma: http://www.kv-roma.at

Learning from Stewart Hall, following the path with heart: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09502386.2014.917228?scroll=top &needAccess=true

Mri historija: https://www.youtube.com/watch?v=GWTRa6s9z4M

Mri historija. Lebensgeschichten burgenländischer Roma – Eine Zeitzeugen- Dokumentation von Roma-Service: http://www.roma-service.at/mrihist/06.html

Numbered - Dokumentation auf Arte, 26.1.2015: http://programm.ard.de/TV/Themenschwerpunkte/Dokus-- Reportagen/Geschichte/Startseite/?sendung=2872413731608093

Omas gegen Rechts: https://www.youtube.com/watch?v=DzVYvc0bRTQ

Raubzug / vlak strahu / train of justice - Sticker Marjan & UNIKUM: http://www.unikum.ac.at/001_PROJEKTE_2013_FI/RAUBZUG_FI/0001_raubzug_ind ex.html

Roma-Armee - Theaterstück im Gorki Theater Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=_UDJDLZJ8Uc

Selektion - Neunter November Nacht von Gottfried Helnwein: http://www.gottfried-helnwein.at/news/news_update/article_657-Installation- Selektion-Neunter-November-Nacht-in-Berlin-Installation-Selektion-Neunter- November-Nacht-in- Berlin;jsessionid=62AC72E916BEC351569BF42EE9EDE4A3?facet=42&facetgroup=8

Slawisches Österreich: http://www.uni-graz.at/slaw4www_Ik_slawischesoesterreich.pdf

Statistik Austria - Volkszählung: http://www.statistik.at/wcm/idc/idcplg?IdcService=GET_PDF_FILE&RevisionSelectio nMethod=LatestReleased&dDocName=007129

256

Sticker Marjan – Loibl-Saga: https://klagenfurterensemble.at/loibl-saga/

Stuart Hall Interview: Professor Lawrence Grossberg: https://vimeo.com/113108467

The missing image von Ruth Beckermann: http://www.themissingimage.at/home.php?il=2&l=de

Verein Erinnern: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/zeitzeuginnen/das- vermaechtnis/videos-zeitzeuginnen/ES_02.wmv/view

Verein Erinnern: http://www.erinnern-villach.at/opfer/304-jozef-kokot-1923-1944.html

Verein Ketani - Sinti und Roma-Portal: http://www.sinti-roma.at/verein-ketani.html

Verein Roma in Oberwart: http://www.verein-roma.at/html/verein.htm

Vranitzky-Rede im Parlament: https://www.onb.ac.at/museen/prunksaal/sonderausstellungen/vergangene- ausstellungen/1945-zurueck-in-die-zukunft/

Wege nach Ravensbrück: http://www.wegenachravensbrueck.net/current/winter/1.html

Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI): https://www.vwi.ac.at/ wiesenthal.com: http://www.wiesenthal.com/site/pp.asp?c=lsKWLbPJLnF&b=6212365

Yad Vashem: http://www.yadvashem.org/archive/hall-of-names.html

Zeitschrift „Was geht mich das an? Kaj meine to briga?“: http://www.kpddrava.at/?p=14584

257

Film-Aufführungen:

Österreich http://www.evangelischeskulturzentrum.at/news_de/more/schatten_der_scham/ http://www.schikaneder.at/jart/prj3/schikaneder/main.jart?rel=de&reserve- mode=active&content-id=1217328196716&show_produktion=1410876527928 und https://wien.gbw.at/veranstaltungen/ereignisansicht/event/kino-am-mittwoch- schatten-der-scham/ http://www.kultur-forum- amthof.at/index.php?Y=2014&m=2&d=9&do=show_event&key=3e94bf01abba8b7f 63913278a7f24a37&cal_id=0&language=german&gmt_ofs= 1&view=d1&evt_date=26.10.2014+19%3A00%26nbsp%3BAmthof+Vereinsraum&ev t_title=Schatten+der+Scham&evt_image=datei_1410246094.jpg&suchbegriff

Slowenien https://tlk.jskd.si/event/koroski-kulturni-dnevi-2017-projekcija-filma-sence- sramote/

Südtirol http://www.stadttheater.eu/programm/Archiv/Archiv_2013_14/Kabarett___Literat ur/Claus_Gatterer_Filmretrospektive http://franzmagazine.com/2014/11/10/tuesday-11-11-14/ http://www.gatterer9030.info/de/component/k2/item/442-schatten-der-scham https://designdisaster.unibz.it/2-filme-zu-bewegenden-theme-brixen/ https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/ausstellung/gatterer/links/gatterer- claus_101214.pdf https://www.salto.bz/de/article/08122014/claus-gatterer-film-special http://www.theater-bozen.it/it/news/66

ORF: kaernten.ORF.at: Landesorden für den Dalai Lama, 20.5.2012: http://kaernten.orf.at/news/stories/2533767/

ORF-Archiv, Vorlesung von Taras Borodajkewycz, 29.3.1965

ORF-Dokumentarfilm von Rose Kern: Frankl – Trotzdem Ja zum Leben sagen, 13.3.1994: http://tvthek.orf.at/profile/Archiv/7648449/Frankl-Trotzdem-Ja-zum-Leben- sagen/6955229

258

ORF-Filmdokumentation von Sabina Zwitter-Grilc und Martin Zwitter: Buəg nan dajte, 26.12.2004

ORF-Heimat Fremde Heimat: 20 Jahre ESRA, 7.11.2014

ORF-Heimat Fremde Heimat: Das Leben nach der Shoah, 5.11.2017

ORF-Heimat Fremde Heimat: Interview mit Gerhard Wenzel, 4.12.2016

ORF-Heimat Fremde Heimat: Solidarität mit Kärntner Slowenen, 12.5.2002

ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Aslı Erdoğan, 16.3.2018

ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Gottfried Helnwein, 11.3.2108

ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Ilija Trojanow, 25.3.2018

ORF-Heimat Fremde Heimat: Weitblicke mit Konstantin Wecker, 28.2.2016

ORF-Heimat Fremde Heimat-Rohmaterial: Interview mit Robert Menasse, Februar 2017

ORF-Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Roma, 8.4.2018

ORF-Heimat Fremde Heimat-Spezial: Die österreichischen Ungarn, 3.12.2017

ORF-Magazin Heimat Fremde Heimat: http://volksgruppen.orf.at/diversitaet/hfh/

ORF-OTS: Schatten des Leids, 13.4.2018: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20120413_OTS0078/heimat-fremde- heimat-am-15-april-schatten-des-leids

ORF-Premiere – Parlamentskorrespondenz: „Schatten der Scham“ im Österreichischen Parlament, 25 Jahre ORF Minderheitenredaktion, 8.4.2013: https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2013/PK0283/index.shtml science.ORF.at: Trinh T. Minh-ha - Die Stimme der Differenz, 14.10.2011: http://sciencev2.orf.at/stories/1689202/index.html volksgruppen.ORF.at: Znak solidarnosti z romsko skupnostjo / Tag der Roma, 26.11.2013: http://volksgruppenv1.orf.at/slovenci/novice/stories/156044.html

259 volksgruppen.ORF.at: „Schatten der Scham“ im Österreichischen Parlament, 25 Jahre ORF Minderheitenredaktion: http://volksgruppenv1.orf.at/diversitaet/aktuell/stories/180886.html

Filme:

„Andri“ (2003) von Andrina Mračnikar

„Das Weiterleben der Ruth Klüger“ (2011) von Renata Schmidtkunz

"Defamation" (2010) von Yoav Shamir

„Die Geträumten“ (2016) von Ruth Beckermann

„Die Luken blieben geöffnet“ (2018) von Tatjana Koren

„FAQ“ (2005) von Stefan Hafner

„Hannah Arendt - Ihr Denken veränderte die Welt“ (2012) von Margarethe von Trotta

„Numbered“ (2012) von Uriel Sinai und Dana Doron

“The end of the Neubacher Project” von Marcus J. Carney

260

12. Anhang

Kopie des Schreibens von Janko Zwitter aus dem NS-Lager Rehnitz an seinen Bruder Franzi, vom 17.5.1942

Seite 1

261

Seite 2

262

13. Beilage

Der Dissertation ist der filmische Teil des Dissertationsprojektes, der Dokumentarfilm „Schatten der Scham“ in deutscher sowie in englischer Sprache beigelegt.

263