Nationaltrainer Kuhn „Hopp Schwiiz“

auf gehobenem Niveau agiert und üppig mit Talent versorgt ist. Die Zuversicht ist berechtigt. Einige der jungen Akteure wie oder Tranquillo Barnet- ta spielten bereits in der Nachwuchs-Aus- wahl zusammen, die vor vier Jahren in Dä- nemark U-17-Europameister wurde. Zudem verfügen die Schweizer über genügend internationale Erfahrung: 17 der 23 Profis im WM-Kader sind im Ausland unter Vertrag, einige bei renommierten Adressen wie Arsenal London, Olympique Lyon oder dem AC Mailand. Und so ver- kündet Trainer Jakob Kuhn, 62, den alle nur „Köbi“ nennen, vor den Spielen gegen Frankreich, Togo und Südkorea trocken: „Alles andere als die Qualifikation fürs Achtelfinale wäre eine Enttäuschung.“ Der Coach sitzt in der Lobby eines Zür- cher Hotels und spricht, bedächtig formu- lierend, von „zielgerichteter Verfeinerung unseres Spielsystems“. Seit der ehemalige Profi des FC Zürich, der in den sechziger und frühen siebziger Jahren als bester Fuß-

EDDY RISCH / PICTURE-ALLIANCE / DPA RISCH / PICTURE-ALLIANCE EDDY baller der Schweiz galt, 2001 den Posten des Nationaltrainers übernahm, hat er die Aufmunterung zu verstehen. Es hörte sich Substanz der Mannschaft kontinuierlich SCHWEIZ eher an wie ein Auftrag. verbessert. Von den letzten 19 Spielen hat Die Schweizer, gemeinhin ein unaufge- die Schweiz nur eines verloren. regtes Volk, zeigen sich in diesen Tagen Sein uneitles Auftreten in der Öffent- Hungrige heftig entflammt. Denn erstmals hat das lichkeit und sein verbindlicher Umgang mit Land, fragmentiert in 26 Kantone und 4 den Spielern haben den Zürcher, der seit Sprachzonen, den Fußball als Vehikel zur seiner Kindheit im Arbeiterviertel Wiedi- Generation Erweckung patriotischer Gefühle entdeckt. kon hinter dem Hauptbahnhof lebt, zum Die Werbekampagne einer großen Bank wohl populärsten Schweizer der Gegen- Die WM-Equipe der Eidgenossen spiegelt die aufgeladene Atmosphäre am wart gemacht. Kuhn ist omnipräsent: Er besten wider. Auf einem der Motive ist ein wirbt in Fernsehspots für ein Energie- sorgt für nationalen Taumel. Spieler im Nationaltrikot zu sehen, der in unternehmen, ein Kreditinstitut und einen Sie steht für ein Land im Umbruch. einem vollen Stadion steht, die Arme in die Lebensmittelkonzern. Selbst für die ein- Fast die Hälfte der Spieler Hüfte gestemmt und heroisch ins Weite heimische Landwirtschaft macht er sich kommt aus Einwandererfamilien. blickend, als wäre er zu allem entschlossen, mit hochgekrempelten Ärmeln stark: „Un- sogar zum WM-Sieg. Vor ihm kniet ein sere Bauern sind Naturtalente.“ Kuhn, ls Ort von Massenaufläufen ist Frei- Fan, der ihm eilfertig den Schuh bindet. urteilt der Zürcher Marketingexperte Do- enbach am Südufer des Zürichsees Die Botschaft darüber ist ein Bekenntnis: minique von Matt, sei „die Inkarnation der Abislang nicht aufgefallen. Höhe- „Die ganze Schweiz unterstützt die Nati“. traditionellen Schweizer Werte“. punkte des Gemeindelebens sind etwa das 1994 in den USA, der letzten Weltmeis- Während der Trainer klassische eid- Schwyzer Kantonalturnfest oder ein Got- terschaft, für die sich die Schweiz quali- genössische Ideale wie Solidität und tesdienst mit Autosegnung. fiziert hat, waren die Kicker schon froh, Bescheidenheit verkörpert, repräsentiert Bis Mitte vergangener Woche indes hat- seine Mannschaft die moderne te sich das Dorf vorübergehend in eine na- ist dort ange- Schweiz – ein Land, das nicht mehr tionale Wallfahrtsstätte verwandelt. Fast krampfhaft auf seine politische und täglich strömten Tausende Menschen zum kommen, wo er immer hinwollte: wirtschaftliche Sonderstellung in örtlichen Sportplatz. Dort schauten sie – in der Welt der Neureichen. Europa fixiert ist. lärmend, gebannt, erregt – 23 schwitzen- Fast die Hälfte der Spieler den jungen Männern bei der Arbeit zu. Es kommt aus Immigrantenfamilien, waren die Spieler der „Nati“, der Schwei- dabei zu sein. Genügsamkeit war ein Er- sie sind sogenannte Secondos, Angehörige zer Nationalmannschaft, die sich auf die kennungsmerkmal der Eidgenossen, selbst der zweiten Generation. Wie die französi- Fußball-WM vorbereiteten. vor zwei Jahren bei der EM in Portugal sche Mannschaft sich mit Profis verstärkt, Die vorläufige Klimax erreichte der formulierten die Spieler kaum höhere die in Nordafrika oder der Karibik geboren Rausch um die Kicker nach deren letztem Ansprüche. „Wir waren zu zögerlich“, sagt wurden, präsentiert sich heute auch die WM-Testspiel gegen China, das sie in Raphaël Wicky, Profi beim Hamburger SV Schweizer Equipe als multikulturelle Insti- Zürich leicht mit 4:1 gewonnen hatten. Die und mit 29 Jahren einer der Ältesten im tution – und als Spiegel einer Gesellschaft, Spieler verabschiedeten sich auf einer Eh- Team, „aber das hat sich radikal geändert.“ in der etwa jeder Fünfte eingewandert ist. renrunde von ihrem Publikum, das immer Nun tritt das Land zum ersten Mal bei So ist die Mutter von Abwehrspieler wieder „Hopp Schwiiz“ („Auf geht’s, einem großen internationalen Turnier mit Philippe Senderos, 21, Spanierin, der Vater Schweiz“) brüllte. Das war nicht nur als einem Team an, das technisch und taktisch ist Serbe; die Familie des Mittelfeldspielers

162 der spiegel 24/2006 Fußball-WM

Blerim Dzemaili, 20, kommt aus dem Profi vorzugsweise mit Mo- ; die Eltern des Mittelfeldmanns biltelefon am Ohr, und , 27, sind Spanier; und die auch seine Hobbys sind Familie des Abwehrspielers Johan Djou- systemkonform – einer- rou, 19, stammt von der Elfenbeinküste – seits Shoppen, andererseits der Mann von Arsenal London ist der Ausfahrten mit den eige- erste schwarze Spieler im Nationalteam nen Nobelkarossen, einem der Eidgenossen. BMW und einem Porsche. „Wir sind hungriger“, sagt Mittelfeld- In Freienbach gehörte spieler Valon Behrami, 21, Prototyp der Behrami nach den Trai- Secondos-Generation, der der Fußball den ningseinheiten zu den Spie- sozialen Aufstieg ermöglicht. lern, die am ausdauernds- Als er fünf Jahre alt war, flohen seine ten Autogramme schrie- Eltern 1990 mit ihm und seiner Schwester ben, die für die meisten Er- aus dem serbischen Teil des Kosovo ins innerungsfotos posierten Tessin. Der Vater, in seiner Heimat Ver- und denen die schrillsten kaufsleiter einer Plastikfabrik, nahm einen Zurufe der jungen Mäd- Job als Arbeiter an, die Mutter verdiente chen galten. ihr Geld als Putzfrau. Ein Asylantrag, den Bei der WM-Vorberei- die Familie vier Jahre später stellte, wurde tung am Zürichsee war al-

abgelehnt. Es drohte die Abschiebung. ANDREW MEDICHINI / AP lerdings auch zu beobach- Dass die Behramis bleiben konnten, hatten Abwehrspieler Djourou (r., im Mai gegen Italien) ten, wie verbissen Behrami sie vor allem dem Einfluss des früheren Erweckung patriotischer Gefühle sich nach oben gekämpft Tessiner Staatsrats Alex Pedrazzini zu hat. Bei einem lockeren verdanken. Der Sohn des Politikers spiel- Behrami ist dort angekommen, wo er Spiel auf dem Kleinfeld grätschte er einmal te mit dem jungen Valon im selben Dorf- immer hinwollte: in der Welt der Neurei- mit rüdem Einsatz in die Beine des Ersatz- club Fußball. chen. In den Boulevardmagazinen präsen- torhüters , der gerade den Mittlerweile ist Behrami ein Star der tiert er sich als Beckham der Schweiz. Ball führte. italienischen . Mit 18 wechselte er Auch sonst tut Behrami alles dafür, das Nach minutenlanger Behandlung wur- vom FC zum italienischen Zweit- Klischee vom kickenden Beau zu bedie- de der humpelnde Torwart schließlich ligisten FC Genua, mit 19 kam er zu Hellas nen. Das blondierte Haar ist mit Gel durch- von zwei Mannschaftsärzten in die Ka- Verona, und mit 20 landete er für 6,4 Mil- tränkt, beide Unterarme zieren mächtige bine begleitet. Behrami hat sich nicht ent- lionen Euro Ablöse bei Lazio Rom. Tätowierungen, die Kabine verlässt der schuldigt. Michael Wulzinger