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SWR2 • Musikstunde DAS JAHR 1812 5. Folge Freitag, 3. August 2012, 9.05-10 Uhr K.D. Gräwe

„Frankreich schuf sich frei. Des Jahrhunderts edelste That hub/Da sich zu dem Olympus empor“. Als „edelste That des Jahrhunderts“ feierte Friedrich August Klopstock in seinem Gedicht „Kennet euch selbst“ die Französische Revolution. Er glaubte an das Ende der Fürstenherrschaft und an die Utopie einer Gelehrtenrepublik, die von Gebildeten regiert würde. Als Anhänger des Nationalstaatsgedankens rief er die Deutschen auf, dem Beispiel des Nachbarlandes zu folgen, und prompt nahm ihn die französische Nationalversammlung als Ehrenbürger auf. Und Christian Friedrich Daniel Schubart scharrte aufrührerisch mit den Hufen: „Mein Gott, was für eine armselige Figur machen wir krumme und sehr gebückte Deutsche jetzt gegen die Franzosen!“ Die Franzosen hatten auch gleich die passenden Komponisten, die so taten, als hätte es nie ein Ancien Régime gegeben, und die die richtigen Töne parat hatten für den Aufbruch in die neue Zeit.

Musik 1 2’20“

„Le Chant du Départ“, das „ des Aufbruchs“ von Étienne-Nicolas Méhul“, hatte denselben animierenden Impuls wie die „Marseillaise“ von Rouget de Lisle und wurde 1804, im Jahr der Kaiserkrönung Napoleons, französische Nationalhymne.

Aber Klopstock, dem Propheten einer deutschen Revolution, kamen bald wieder Bedenken. Angesichts der Auswüchse, die der Aufruhr nebenan hervortrieb, bezeichnete er das blutige Regime der Jacobiner „als Schlange, die sich durch ganz Frankreich windet“. Nicht nur dass die Revolution ihre eigenen Kinder gefressen hätte. Hypertrophie haben schon die Götter der antiken griechischen Tragödie mit dem Untergang bestraft. Gleichgültig, ob Napoleons tragischer Versuch, ganz Europa zu erstürmen, an den Truppen des russischen Fürsten und Generalfeldmarschalls Kutusow scheiterte, am russischen Winter oder an den Göttern Russlands – schon als sich die Niederlage Napoleons Ende des Jahres 1812 abzeichnete, atmete Europa auf wie von einem Bann befreit. Joseph Sonnleithner in Wien, der schon 1805 das Textbuch zu Beethovens „“ verfasst hatte, berief am 29. November 1812 600

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Mitwirkende und 5000 Zuhörer ein, um Händels Oratorium „Timotheus oder Die Gewalt der Musik“ zur Aufführung zu bringen und ein Utopia der musikalischen Praxis nach seinem Maß zu begründen: die Gesellschaft der Musikfreunde. „Timotheus“ oder auch: „Alexanders Fest“: Da reichen am Schluss der heidnische Sänger Timotheus und die christliche Musikheilige Caecilia einander die Hand und beschwören erfolgreich den makedonischen Feldherrn Alexander, von weiteren Zerstörungstaten im Perserreich abzusehen. Händels Oratorium aus dem Jahr 1736 war wie geschaffen für den Augenblick einer Wiener Musikvereinsgründung zu einem viel späteren kritischen Zeit- und Wendepunkt in der Geschichte Europas.

Musik 2 7’12“

Der heidnische Sänger Timotheus und die Heilige Caecilia sprechen ihr Machtwort zum Wohl des Friedens und der Musik, in den Tönen Händels, am Gründungstag der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, am 29. November 1812. In der gerade gehörten Aufnahme sang Hans- Jürgen Wachsmuth, und Thomas Sanderling dirigierte den Rundfunkchor Leipzig und das Händel-Festspielorchester Halle.

Was in den Jahren 1805 bis 1812 im zaristischen Russland Alexanders I. geschah, hat rund 60 Jahre danach der Dichter Leon Tolstoj in seinem an Personen und Schicksalen überreichen Romanepos „Krieg und Frieden“ geschildert. Die dramaturgisch kaum zu bändigende Handlungsfülle hat in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts der Filmregisseur King Vidor für eine amerikanisch-italienische Koproduktion genutzt, mit Audrey Hepburn in der Rolle der Natascha Rostowa, mit Mel Ferrer und Henry Fonda und mit Oskar Homolka als Fürst Kutusow – ein Who is Who des damaligen cineastischen Adelskalenders. Und der Komponist Nino Rota, in dessen Elternhaus noch Giacomo Puccini und Arturo Toscanini verkehrt hatten, war wie kein anderer geeignet, Monumentalopern für die Filme des 20. Jahrhunderts zu komponieren.

Musik 3 5’21“

Der italienische Komponist Nino Rota schrieb 1956 die Musik zu dem Film „Krieg und Frieden“ nach dem Roman von Leon Tolstoj unter der Regie von King Vidor. Maestro Rota stand in dieser Aufnahme, in der die „Marseillaise“ und die Balalaika die Zeichen setzen, selbst am Pult.

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1941 komponierte Sergej Prokofiew, vor dem Hintergrund des 2.Weltkrieges, eine Partitur, die zu seinen Lieblingswerken gehören würde: die Oper über den historischen „Vaterländischen Krieg“ von 1812, über „Krieg und Frieden“ frei nach Tolstoj. Hitlers Invasion nach Russland erhöhte die Aktualität des Vorhabens, 1944 kam eine konzertante Aufführung zustande. Zu einer szenischen Realisierung, wie der Komponist sie sich wünschte, ist es zu seinen Lebzeiten aber nie gekommen. Zwölf Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod, hat Prokofiew dann noch an seiner Musik gearbeitet, er durfte nicht nur die eigenen Ansprüche, er musste auch die Auflagen der sowjetischen Behörden erfüllen. Heute ist es wahrscheinlich eher die Furcht vor dem unerhörten künstlerischen und materiellen Aufwand, die der Repertoirefähigkeit der Oper im Wege steht. Prokofiew zwischen den Erinnerungen an das alte zaristische Russland, über die er ja noch verfügte – und den unmittelbaren Bedrängnissen des gegenwärtigen Krieges, das erbringt auch ein breites Panorama der musikalischen Stile und Stimmungen, und dazu gehört, zwischen Adelsbällen und Schlachtenszenen, die lyrische Idylle. In einer Mainacht erinnert sich Fürst Andrej an den Morgen: „Im Grün des Grases leuchteten die ersten Frühlingsblumen“. Hier die Szene als reines Orchesterstück, im Arrangement von Christopher Palmer.

Musik 4 5’53“

„Mainacht“, ein lyrisches Intermezzo aus Sergej Prokofiews Oper „Krieg und Frieden“, als Orchesterstück von Christopher Palmer arrangiert und vom unter Neeme Järvi gespielt.

Ob Beethoven die Widmung seiner „Eroica“ an Napoleon Bonaparte wirklich aus Enttäuschung über dessen Kaiserkrönung widerrufen hat, ist nicht ganz gesichert. Unbestritten aber ist, dass er mit der Französischen Revolution sympathisierte und sich die Komponisten, die im Sinne des Aufbruchs arbeiteten, zum Vorbild nahm: Grétry, Cherubini, Gossec – und der von Napoleon wie von Beethoven gleichermaßen geschätzte Étienne- Nicolas Méhul. Nicht von ungefähr rief ein französischer Kriegsveteran beim Finale der 5. Sinfonie hingerissen aus: „C’est l’Empereur!“ Noch einmal Méhul, mit einer Ouvertüre für Blasorchester in F-Dur.

Musik 5 7’17“

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Der Revolutionskomponist von Napoleons und Beethovens Gnaden: Étienne-Nicolas Méhul, mit einer Ouvertüre für Blasorchester in F-Dur, und die wurde gespielt vom Zentralen Militärorchester unter der Leitung von Oberst Gerhard Baumann.

Der Dramatiker und Politiker Jean Nicolas Bouilly lieferte Cherubini das Libretto zu einem Prototyp der französischen Revolutionsoper, zum „Wasserträger“. Und sein Operntext mit dem Titel „Léonore“, der einen realen Vorfall aus der Stadt Tours aufgriff, war Vorlage für Pierre Gaveaux, Simon Mayr, Ferdinando Paer – und für . Joseph Sonnleithner in Wien, der Sekretär der Hoftheater und nachmalige Initiator des Musikvereins, besorgte die deutsche Textfassung. Dreimal nahm Beethoven Anlauf auf ein Bühnenwerk, das er auch gern „Leonore“ genannt hätte, aber gegen den Titel „Fidelio“ konnte er sich nicht durchsetzen. 1805, bei der ersten Aufführung im , war das Stammpublikum, der Wiener Adel, aufs Land geflohen vor der Invasion napoleonischer Truppen. Im Parkett und auf den Rängen räkelte sich eine Schar verständnis- und interesseloser französischer Offiziere und bereitete der Novität einen Eklat. Auch der zweite Versuch, ein Jahr später, verlief nicht viel glücklicher. Erst die dritte Fassung von 1814 machte den „Fidelio“ zum eisernen Repertoirestück, aber Beethoven meinte dann, damit hätte er sich „die Märtyrkrone“ verdient. Das Schlussbild ist hier ein freier Patz unter freiem Himmel, auf dem die „treue Gattenliebe“ ihre Triumphe feiert. In der Urfassung von 1805 bleibt das unterirdische Kellergewölbe bis zum letzten Takt der erlösenden Schlussapotheose der verbindliche Ort des Geschehens. Bevor der Minister kommt und wie ein Himmelsbote die vom König erlassene Generalamnestie verkündet, müssen Florestan und Leonore ihr Spiel erst einmal verloren geben, und den Rachesturm, den die befreiten Gefangenen entfachen, können sie sich überhaupt nicht erklären.

Musik 6 5’07“

„Leonore“ oder „Fidelio“ von Beethoven. Dreimal innerhalb von 9 Jahren hat er dieselbe Vorlage vertont, aber in der ersten Version von 1805 ist doch vieles anders und vor allem länger - aber nicht weniger spannend - als in der gewohnten Endfassung. Edda Moser war Leonore, der Florestan, Karl Ridderbusch der Rocco und Hermann Christian Polster der Minister, der Rundfunkchor Leipzig und die Staatskapelle Dresden sangen und spielten unter Herbert Blomstedt.

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Ende gut, alles gut, in Beethovens Rettungs- und Befreiungsoper ebenso wie in Händels Oratorium „Timotheus“ - oder auch „Alexanders Fest“ -, wo Alexander der Große seinen Sieg über das Perserreich feiert, aber der Gewalt der Musik unterliegt und davon ablässt, im Siegesrausch die Stadt Persepolis niederzubrennen. Mit diesen Klängen und mit dem Auftrag: „Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen“ rief am 29. November 1812 Joseph Sonnleithner zur Inaugurationsfeier der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.

Musik 7 6’22“

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SWR2 • Musikstunde DAS JAHR 1812 5. Folge Freitag, 3. August 2012, 9.05-10 Uhr K.D. Gräwe

01. Étienne-Nicolas Méhul „Le Chant du Départ“ 2’20“ Zentrales Militärorchester Berlin, Ltg. Oberst Gerhard Baumann BMG-Ariola 74321417722, LC 4022 Track 10

02. Georg Friedrich Händel „Alexanders Fest“ („Timotheus oder Die Gewalt der Musik“) Accompagnato und Chor „Vor langer Zeit/Da kam Cäcilia engelgleich“ 7’12“ Hans-Jürgen Wachsmuth (Tenor), Rundfunkchor Leipzig, Händel-Festspielorchester Halle, Ltg. Thomas Sanderling Berlin Classics 0092492BC, LC 6203 CD II, Track 8

03. Nino Rota “Krieg und Frieden” (King Vidor 1956) Filmmusik (Ausschnitt) 5’21“ Chor und Orchester des Cinema Italiano, Ltg. Nino Rota Kind of blue records KOB 10049, LC - CD I, Track 16 (bei 5’51” ausblenden)

04. Sergej Prokofiew “Krieg und Frieden” Sinfonische Suite Intermezzo – Mainacht 5’53“ Philharmonia Orchestra, Ltg. Neeme Järvi Chandos CHAN 10538 X, LC 7038 Track 4

05. Étienne-Nicolas Méhul Ouvertüre F-Dur 7’17” Zentrales Militärorchester Berlin, Ltg. Oberst Gerhard Baumann BMG-Ariola 74321417722, LC 4022 Track 4

06. Ludwig van Beethoven “Leonore” (Joseph Sonnleithner) “Zur Rache!” 8’14“ Edda Moser (Leonore), Richard Cassilly (Florestan), Karl Ridderbusch (Rocco), Hermann Christian Polster (Fernando), Rundfunkchor Leipzig, Staatskapelle Dresden, Ltg. Herbert Blomstedt Berlin Classics 0011402BC, LC 6203 CD II, Track 14 + 15 (bei 3’07“ ausblenden) 7

07. Georg Friedrich Händel “Alexanders Fest“ („Timotheus oder Die Gewalt der Musik“) Rezitativ und Chor „Leg ab, Timotheus“ 6’22“ Barbara Hoene, Rosemarie Lang, Hans-Jürgen Wachsmuth, Hermann Christian Polster, Rundfunkchor Leipzig Händel-Festspielorchester Halle, Ltg. Thomas Sanderling Berlin Classics 0092492BC, LC 6203 CD II, Track 9+10

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