Plenarprotokoll 16/143

Deutscher

Stenografischer Bericht

143. Sitzung

Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- (BÜNDNIS 90/ neten (Hamm) ...... 15079 A DIE GRÜNEN) ...... 15093 B (CDU/CSU) ...... 15095 A Tagesordnungspunkt 22: Frank Schäffler (FDP) ...... 15096 C Abgabe einer Regierungserklärung durch den (SPD) ...... 15098 A Bundesminister der Finanzen: Lage der Dr. (BÜNDNIS 90/ Finanzmärkte ...... 15079 B DIE GRÜNEN) ...... 15099 D (CDU/CSU) ...... 15101 A in Verbindung mit Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 15102 C

Tagesordnungspunkt 24: Tagesordnungspunkt 23: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Erste Beratung des von der Bundesregierung Schick, Christine Scheel, Britta eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Haßelmann, weiterer Abgeordneter und Reform des Erbschaftsteuer- und Bewer- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tungsrechts (Erbschaftsteuerreformgesetz – NEN: Finanzmärkte stabilisieren ErbStRG) (Drucksache 16/7531) ...... 15079 B (Drucksache 16/7918) ...... 15103 D b) Antrag der Abgeordneten Dr. , Peer Steinbrück, Bundesminister Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite- BMF ...... 15103 D rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Aktionsplan „Finanzmärkte Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 15106 D demokratisch kontrollieren, Konjunk- Dr. (CDU/CSU) ...... 15108 B tur und Beschäftigung stärken“ – Aus den internationalen Finanzturbulenzen Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 15109 B Konsequenzen ziehen Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 15111 B (Drucksache 16/7191) ...... 15079 C Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Peer Steinbrück, Bundesminister DIE GRÜNEN) ...... 15113 A BMF ...... 15079 D (SPD) ...... 15114 D Dr. (FDP) ...... 15085 A Dr. (FDP) ...... 15117 D Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 15086 B Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 15118 D Dr. (DIE LINKE) ...... 15088 D Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 15120 A Ludwig Stiegler (SPD) ...... 15091 A Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 15120 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Christian Freiherr von Stetten Tagesordnungspunkt 25: (CDU/CSU) ...... 15121 D a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 15122 D Tierschutzbericht 2007 (Drucksache 16/5044) ...... 15134 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Tagesordnungspunkt 8: rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Tier- b) Antrag der Abgeordneten Irmingard schutzgesetzes Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, (Drucksache 16/7413) ...... 15134 D (Köln), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär GRÜNEN: Zwangsverheiratung durch BMELV ...... 15134 D Verbesserung des Opferschutzes wirk- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 15136 C sam bekämpfen (Drucksache 16/7680) ...... 15123 B (SPD) ...... 15138 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 15139 D Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen (BÜNDNIS 90/ und Jugend DIE GRÜNEN) ...... 15141 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. (CDU/CSU) ...... 15142 A Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 15143 D Winkler, Ekin Deligöz, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Zwangsverheira- Tagesordnungspunkt 26: tung bekämpfen – Opfer schützen Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff – zu dem Antrag der Abgeordneten (Rems-Murr), , Dr. Karl , , Ina Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- Lenke, weiterer Abgeordneter und der tion der FDP: Bevölkerungsschutzsystem Fraktion der FDP: Zwangsheirat reformieren – Zuständigkeiten klar regeln wirksam bekämpfen – Opfer stär- (Drucksache 16/7520) ...... 15145 B ken und schützen – Gleichstellung durch Integration und Bildung för- dern Tagesordnungspunkt 27: – zu dem Antrag der Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Sevim Dağdelen, , Ulla schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- Jelpke, weiterer Abgeordneter und der trag der Abgeordneten , Katrin Fraktion DIE LINKE: Für einen Kunert, , weiterer Abgeordneter Schutz der Opfer von Zwangsver- und der Fraktion DIE LINKE: Rechtsan- heiratungen, für die Stärkung ihrer spruch auf Mieterberatung für Menschen Rechte und die längerfristige Be- mit geringem Einkommen kämpfung der Ursachen patriarcha- (Drucksachen 16/5247, 16/7171) ...... 15145 C ler Gewalt Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 15145 C (Drucksachen 16/61, 16/1156, 16/1564, Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 15146 D 16/4910) ...... 15123 C Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 15147 C Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15123 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15148 D (CDU/CSU) ...... 15125 B (CDU/CSU) ...... 15126 B Tagesordnungspunkt 28: Sibylle Laurischk (FDP) ...... 15127 D Antrag der Abgeordneten Rainder Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 15129 A Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 15130 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung von EU- (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 15131 A Agenturen Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 15132 A (Drucksache 16/7746) ...... 15149 B Rüdiger Veit (SPD) ...... 15132 D in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 III

Zusatztagesordnungspunkt 7: (CDU/CSU) ...... 15152 B Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Gerold Reichenbach (SPD) ...... 15153 D Michael Link (Heilbronn), , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 15155 A FDP: Gerichtliche und parlamentarische (DIE LINKE) ...... 15156 A Kontrolle von EU-Agenturen (Drucksache 16/8049) ...... 15149 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15156 D Nächste Sitzung ...... 15149 D Anlage 4 Anlage 1 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15151 A Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Men- schen mit geringem Einkommen (Tagesord- nungspunkt 27) Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 15147 C – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes Anlage 5 – Entwurf eines Gesetzes für eine men- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung schenfreundliche Medizin – Gesetz zur der Anträge: Änderung des Stammzellgesetzes – Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung – Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung von EU-Agenturen des Gesetzes zur Sicherstellung des Em- bryonenschutzes im Zusammenhang mit – Gerichtliche und parlamentarische Kon- menschlichen embryonalen Stammzellen trolle von EU-Agenturen (Stammzellgesetz – StZG) (Tagesordnungspunkt 28 und Zusatztagesord- – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des nungspunkt 7) Stammzellgesetzes (CDU/CSU) ...... 15148 B – Antrag: Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzell- (CDU/CSU) ...... 15149 B forschung fördern Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 15160 A (142. Sitzung, Tagesordnungspunkt 4 a bis e) Markus Löning (FDP) ...... 15160 D Dr. (CDU/CSU) ...... 15151 D Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 15161 C Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Anlage 3 DIE GRÜNEN) ...... 15162 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bevölkerungsschutzsystem re- Anlage 6 formieren – Zuständigkeiten klar regeln (Ta- gesordnungspunkt 26) Amtliche Mitteilungen ...... 15163 A

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15079

(A) (C) Redetext

143. Sitzung

Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Die Sitzung ist eröffnet. Troost, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Aktionsplan „Finanzmärkte demokratisch kontrollieren, Konjunktur und Beschäftigung Ganz besonders herzlich begrüße ich, falls er hier sein stärken“ – Aus den internationalen Finanztur- sollte, den Kollegen Laurenz Meyer, der heute seinen bulenzen Konsequenzen ziehen 60. Geburtstag feiert und dem ich dazu herzlich gratu- liere. – Drucksache 16/7191 – Überweisungsvorschlag: (Beifall – Abg. Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ Finanzausschuss (f) CSU] betritt den Plenarsaal – Steffen Rechtsausschuss Kampeter [CDU/CSU]: Da ist er ja! – Weiterer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (B) Zuruf von der CDU/CSU: Da kommt das Ge- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (D) burtstagskind!) Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für – Herr Kollege Meyer, es wird nicht allzu häufig vor- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- kommen, dass Sie unter solch einem allgemeinen Jubel rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen in den Plenarsaal einziehen. Widerspruch. Dann können wir das so vereinbaren. (Heiterkeit) Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Auch deshalb werden Sie den heutigen Tag sicherlich der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück. besonders gut in Erinnerung halten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir kommen nun zu unserer Tagesordnung. der CDU/CSU) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 sowie 24 a und Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: 24 b auf: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten 22 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Damen und Herren! „Panik auf dem Börsenparkett“, Bundesminister der Finanzen „neue Weltwirtschaftskrise“, „Börsencrash vernichtet deutsche Arbeitsplätze“, „Börsencrash signalisiert Ende Lage der Finanzmärkte des Finanzmarktkapitalismus“, mit diesen oder ähnli- 24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten chen Begriffen werden die Turbulenzen und die Verwer- Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Britta fungen aufbereitet, mit denen wir es in den letzten Mo- Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- naten auf den internationalen Finanzmärkten zu tun tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten. Finanzmärkte stabilisieren (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte lauter! Ein bisschen mehr Mut! – Zurufe – Drucksache 16/7531 – von der CDU/CSU: Warum sind Sie so leise, Überweisungsvorschlag: Herr Minister? – Etwas lauter!) Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss – Über die Mikrofonanlage oder über meine Stimme? Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (Heiterkeit – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In Verbraucherschutz Kombination wird das sicher zu einem Erfolg!) 15080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Qualität von Krediten deutlich verringert und kräftig ri- (C) Bisher haben Sie jedenfalls nichts Falsches gesagt, sikoreiche, weil schlecht gesicherte Hypothekenkredite Herr Minister. vergeben, meist an Eigenheimkäufer mit geringer Boni- tät. Die damit verbundenen hohen Kreditrisiken wurden (Heiterkeit) von den Banken auch deshalb in Kauf genommen, weil man die Möglichkeit hatte, diese Risiken über soge- Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: nannte Verbriefungstransaktionen und strukturierte Pro- Herr Präsident, können Sie die Uhr anhalten? dukte lieber jetzt als gleich aus den eigenen Büchern, aus den eigenen Bilanzen zu bekommen, indem man sie auf (Heiterkeit – Dr. [FDP]: dem Markt verkauft. Ich will sagen: Eine ursprünglich Nichts da! Die läuft auch bei uns weiter!) defensive Strategie, Risiken zu verteilen, wurde zu einer – Gut. Dann ist meine Rede beendet, meine Damen und spekulativen Blase, zu einer spekulativen Welle. Herren. Die Käufer dieser hochkomplexen Produkte – ein Teil Um ernsthaft auf dieses wirklich schwergewichtige von ihnen hat Namen, die ich gar nicht kannte – haben Thema zurückzukommen: Es ist richtig, dass wir es in diesen verpackten Sprengstoff vornehmlich außerhalb weiten Teilen der Welt und zulasten weiter Teile der ihrer Bilanzen geführt und damit auch außerhalb des Welt mit einer ernsthaften, ausgemachten Finanzmarkt- Einblickes von Wirtschaftsprüfern, von Aufsichtsbehör- krise zu tun haben. Nicht alle Teile der Welt sind von ihr den, von Verwaltungsräten und von Aufsichtsräten. betroffen, Ostasien zum Beispiel nicht bzw. kaum, insbe- sondere aber Nordamerika und weite Teile Europas. Sie Dass diese Papiere mit gebündelten Kreditrisiken bei wird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist kein renditehungrigen Investoren weltweit auf große Nach- deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch nicht be- frage stießen, auch und gerade in Deutschland, ist nicht hobene Risiken. Infektionsgefahren für die weltweite zuletzt den Ratingagenturen zu verdanken. Sie waren Konjunktur und die weltweite Wachstumsentwicklung es, die in einer fragwürdigen Doppelrolle an beiden En- sind nicht zu übersehen. den beteiligt gewesen sind. Auf der einen Seite haben sie diese Papiere häufig mit der höchsten Bonität bewertet, Aber, meine Damen und Herren, so wenig Grund es auf der anderen Seite haben sie die Banken bei der Ver- zur Verharmlosung gibt, so unangebracht wäre auch jede briefung und Vermarktung der Kreditrisiken beraten. Hysterie. Nötig ist ein professionelles Krisenmanage- Das ist so ähnlich, als ob die Stiftung Warentest ein Pro- ment aller infrage kommenden Partner, das sich auf die dukt testen würde, an dessen Umsatz sie anschließend Stabilisierung der Finanzmärkte konzentriert und sich beteiligt ist. (B) nicht durch Empörungen und Reflexe ablenken lässt. (D) Es ist ferner notwendig, die Ursachen dieser Krise (Beifall des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/ herauszuarbeiten, sie klar beim Namen zu nennen und CSU]) die sich daraus abzuleitenden Konsequenzen insbeson- Auch hier müsste man damit rechnen, dass der Informa- dere im internationalen Kontext zu ziehen. Denn nur so tionsgehalt des Testergebnisses, gelinde gesagt, einge- werden wir verlorengegangenes Vertrauen auf den Fi- schränkt ist. nanzmärkten und bei vielen Bürgerinnen und Bürgern zurückgewinnen. Das Ganze ging so lange gut, wie der Markt in den Ich warne ausdrücklich davor, in jedem Durchsacken USA expandierte. Aber irgendwann ist jeder Boom zu des DAX im Verlauf eines einzigen Handelstages das Ende. Steigende Zinsen und fallende Immobilienpreise untrügliche Vorzeichen des Beginns einer ausgeprägten in den USA haben seit dem letzten Jahr immer mehr die- Rezession in Deutschland zu sehen; ser Hypothekenkredite in Not gebracht. Bei den Banken, die weltweit, auch in Deutschland, die Risiken aus die- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sen Krediten gekauft hatten, wurden Abschreibungen in Milliardenhöhe notwendig. denn dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegen- teil, wir sollten versuchen, einen kühlen Kopf zu bewah- Da diese Risiken nicht oder erst sehr spät auf dem Ra- ren. Es gibt keinen Grund für politische Schnellschüsse, darschirm der verantwortlichen Bankmanager und mit denen man sich lediglich den Beifall einer zugegebe- Bankaufseher aufgetaucht sind, stellt sich als Erstes die nermaßen verunsicherten Öffentlichkeit sichern würde. Frage nach der Qualität des jeweiligen bankeninternen Um die Situation richtig zu erfassen, ist es wichtig, zu Risikomanagements. Damit müsste die Suche nach Ver- wissen, wo die Ursachen der Finanzmarktkrise liegen. antwortlichen eigentlich anfangen – wenn denn diese Knapp gefasst: im US-amerikanischen Markt für zweit- Suche nicht nur dem üblichen und durchsichtigen Ruf klassige Hypothekenkredite, den die Experten, von we- „Haltet den Dieb!“ folgen sollte. Darin, meine Damen nigen Ausnahmen abgesehen, lange Zeit offenbar nicht und Herren, liegt auch meine sehr kritische Einlassung auf ihrem Radar hatten, zumindest nicht, was sein Poten- über ein verbreitetes Bankmanagerversagen begründet, zial anbelangt, zu einer echten Belastungsprobe für das an der ich festhalte. globale Finanzsystem zu werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Salopp gesprochen haben US-Banken auf der Jagd CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Koppelin nach der schnellen Rendite ihre Anforderungen an die [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15081

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Fern einer Kollektivschelte darf ausgesprochen werden, wird die bisherige Finanzplanung nicht belastet. Die Ehr- (C) dass es einzelne Bankmanager gibt, die in dem Rennen lichkeit gebietet es aber, zu sagen, dass diese 1 Milliar- nach höherer Marge, höherem Profit auf der Grundlage de Euro eines Tages als nicht eingegangene Einnahmen unzureichender Geschäftsmodelle, ohne ausreichende zu Buche schlagen wird. Der Bundesverband deutscher Expertise, in einem Missverhältnis zum Eigenkapital ih- Banken hat unter der Bedingung einer letztmaligen Inan- rer Institute und unter Vernachlässigung des bankenin- spruchnahme zugesagt, mit 300 Millionen Euro einen ternen Risikomanagements ein Milliardenrad gedreht weiteren wesentlichen Teil der Stützung zu übernehmen. haben. Für die restlichen 200 Millionen Euro wird es eine Lö- sung geben. Im Zweifelsfall müssen sie im laufenden Diese Entwicklung liegt auch an der Unzulänglichkeit Haushalt eingesammelt werden. der aktuellen Bilanzierungsregelungen; das gilt nicht nur in Deutschland, das ist weit verbreitet. Sie ermögli- Sie können sich vorstellen, dass ich über diese Belas- chen es den Banken, eigene Risiken eigenkapitalscho- tung des Bundeshaushaltes alles andere als begeistert nend außerhalb ihrer Bilanzen zu führen, sie auf spezi- bin. Auch wenn Sie mich deshalb hier mit zusammenge- elle Zweckgesellschaften zu übertragen oder, besser bissenen Zähnen stehen sehen – jedenfalls dann, wenn ausgedrückt, sie zu verstecken vor denjenigen, die Kon- ich nicht rede –, trollfunktionen wahrzunehmen haben. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wie Sie wissen, haben die Probleme an den interna- ist die Entscheidung richtig, die IKB nochmals zu stüt- tionalen Finanzmärkten auch deutsche Kreditinstitute zen. in Mitleidenschaft gezogen. Hier in Deutschland gehö- ren die Landesbanken Sachsen LB und West-LB sowie Erstens ist uns wichtig, dass die IKB verkaufsfähig die Privatbank IKB mit den von ihnen finanzierten gemacht wird und dass der bereits angelaufene Verkaufs- Zweckgesellschaften zu den ersten und zu den spektaku- prozess der Bank – das betone ich – weitergehen kann lärsten Opfern der sogenannten Subprime-Krise. Weitere und so schnell wie möglich abgeschlossen wird. Damit Institute – über die gesamte Bandbreite des deutschen das gut funktioniert, werden das Management der IKB Bankensektors – sind auch betroffen, aber weniger exis- und auch der KfW personell verstärkt. tenziell. ( [CDU/CSU]: Stärken ist eine Vor allem die IKB hat uns in den letzten Tagen in gute Sache!) Atem gehalten – nicht das erste Mal –, weil neuer Ab- Zweitens ist uns wichtig, dass wir im Ergebnis ver- schreibungsbedarf bzw. Eigenmittelbedarf in Milliarden- meiden können, dass die Mittelstandsförderung und höhe erforderlich wurde. Wir haben sehr intensive De- der Substanzerhalt des ERP-Sondervermögens – mit (B) (D) batten geführt, wie es mit der IKB weitergehen soll. Blick auf diejenigen, die im Hohen Hause in dieser Frage Wichtig war meinem Kollegen Glos und mir, dass es sehr engagiert sind, ist mir an dieser Aussage sehr gele- über den konkreten Fall der IKB zu keiner Verschärfung gen – durch neue Sanierungsbeiträge beeinträchtigt wer- der Bankenkrise in Deutschland kommt. den. Ich wiederhole: weder die Mittelstandsförderung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der noch der Substanzerhalt des ERP-Sondervermögens. Um CDU/CSU) diesbezügliche Fragen an dieser Stelle abschließend zu beantworten: Das ist sichergestellt. Darüber waren und sind wir uns in der Bundesregierung einig. Wir haben die Verantwortung, Schaden vom Fi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nanzplatz Deutschland abzuwenden. der CDU/CSU) Wir haben uns diese Entscheidung gewiss nicht ein- Drittens ist unsere Entscheidung für die IKB ein klares fach gemacht. Sie war auch nicht einfach, weil wir nicht Signal an den Markt. Wir verhindern damit, dass andere einfach Vorteile gegen Nachteile, sondern nur jeweilige Banken durch die Krise bei der IKB in Mitleidenschaft Nachteile gegeneinander abwägen konnten. Der Nachteil gezogen werden, und zwar, indem wir verhindern, dass einer drohenden Insolvenz verbunden mit einer drohen- Einlagen der IKB in zweistelliger Milliardenhöhe – um den Erschütterungsdynamik für den gesamten Finanz- Ihnen eine Zahl zu nennen: knapp oberhalb von 24 Mil- platz Deutschland war gegen den Nachteil abzuwägen, liarden Euro – verlorengehen. Diese Einlagen stammen auch mit Steuergeldern ein Institut zu stützen, das sich nicht nur von anderen Bankinstituten aus dem öffentlich- am Markt verzockt hat und eigentlich vom Markt bestraft rechtlichen, dem genossenschaftlichen und dem privaten werden müsste. Bereich, sondern es handelt sich auch um Einlagen von Nichtbanken bis hin zu Versicherungen. Wir verhindern Im Rahmen dieser schwierigen Abwägung zwischen damit, dass diese Einlagen möglicherweise bzw. wahr- der Situation bei der IKB und den Risiken für den deut- scheinlich verlorengehen und dass damit auch der frei- schen Bankenmarkt haben wir uns im Verwaltungsrat willige Einlagensicherungsfonds der privaten Geschäfts- der KfW am Mittwoch entschieden, dass die KfW der banken in Anspruch genommen wird, den sie dringend IKB mit einer Zuweisung nach dem KfW-Gesetz ein brauchen, um Vorsorge für ihren eigenen Bereich zu weiteres Mal unterstützend behilflich ist, und zwar mit schaffen. 1,5 Milliarden Euro. Viertens gilt es zu verhindern, dass auf dem Markt für Der Bund wird davon mindestens 1 Milliarde Euro Hybridkapital die Preise für lang laufende Anleihen tragen, die aus Dividendenerträgen stammt. Dadurch deutlich steigen, was andere Banken, die sich mit 15082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) solchen Anleihen refinanzieren, ausgesprochen negativ wesen ist, die den Markt in einer sehr angespannten (C) treffen würde. Lage mit Liquidität versorgt haben, anders als zum Bei- spiel eine andere europäische Zentralbank. Fünftens wäre die IKB – an dieser Aussage ist mir sehr gelegen – die erste europäische Bank, die in der di- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der rekten Folge der US-Subprime-Krise pleiteginge. Das CDU/CSU) sollten wir uns nicht als Symbol des deutschen Banken- Ebenso bedanke ich mich insbesondere beim Präsiden- marktes leisten – auch nicht im Verhältnis zu anderen eu- ten der Deutschen Bundesbank und beim Präsidenten der ropäischen Ländern. BaFin, die in diesem Krisenmanagement eine wichtige, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine verlässliche und eine unterstützende Rolle gespielt der CDU/CSU) haben. Sechstens hat ein Finanzminister sehr genau über die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der steuerlichen Folgen eines solchen Risikoszenarios bzw. CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Frau unterschiedlicher Risikoszenarien nachzudenken. In wel- Matthäus-Maier auch?) chem Verhältnis stehen zu erwartende Einnahmeverluste Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, gegenüber dem Einsatz von Haushaltsmitteln zur Ret- welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Natürlich tung einer Bank? Dass es auch in diesem Hause einzelne spielt das Eigeninteresse der Finanzmarktteilnehmer, Personen gibt, die mit ihren technischen Mitteln schon Finanzkrisen zu vermeiden, hierbei eine zentrale Rolle. eine sehr genaue Summe hinsichtlich der steuerlichen Der Markt sorgt derzeit, wenn auch schmerzlich, für eine Folgen der Finanzmarktkrise errechnen und der Presse Anpassung: Risiken werden jetzt wieder anders einge- mitteilen konnten, findet meine Bewunderung. Der deut- preist als vor dieser Blase. Aber dieses Marktinteresse schen Steuerverwaltung ist dies mit ihrer Datenverarbei- allein wird nicht ausreichen, um Inkompetenzen, Fehl- tung bisher nicht gelungen. verhalten und Übertreibungen dieses Marktes, Exzesse Ich erwähne diese Gründe so ausführlich, meine Da- durch diesen Markt wirklich zu verhindern. Es hat ja men und Herren, damit Sie und die deutsche Öffentlich- auch nicht gereicht, um die bisherige Krise abzuwenden. keit einen Einblick in die Abwägung der Bundesregie- Ich bin deshalb überzeugt, dass die Krise eine politi- rung bekommen und Sie sich damit vielleicht auch etwas sche Reaktion erfordert und wir zu besseren, internatio- stärker gegen eilfertige, undifferenzierte Urteile und Be- nal abgestimmten Spielregeln kommen müssen. Beim wertungen immunisieren können. Uns allen sollte klar Treffen der G-7-Finanzminister in Tokio vom vergan- sein: Die Bankenkrise ist noch lange nicht zu Ende. Wir genen Wochenende wurden deshalb auch auf deutsche (B) haben es hier nicht nur mit einer Bank zu tun, die sich in Initiative hin Vorschläge diskutiert und in dem Kommu- (D) unverantwortlicher Weise verzockt hat. Alle Kreditinsti- nique festgehalten, mit dem wir in drei zentralen Berei- tute, die mit Subprime-Marktpapieren gehandelt haben, chen das Vertrauen an den Märkten nachhaltig stärken sind von dieser Krise betroffen. Schlecht ist, dass nach wollen: die Eigenkapitalunterlegung der Banken, ein wie vor niemand ganz genau weiß, welches Institut in besseres Liquiditätsmanagement und eine höhere Trans- welchem Ausmaß betroffen ist. parenz. Es versteht sich von selbst, dass für alle Maßnah- Fest steht: Die teils deutlichen Abschläge bei den Ak- men eine Umsetzung auf internationaler Ebene der Kö- tienkursen der Kreditinstitute zeigen, dass der Markt von nigsweg ist, allein schon deshalb, um darüber einseitige einem höheren Wertberichtigungsbedarf ausgeht, als Wettbewerbsnachteile für einen einzelnen Finanzplatz bisher transparent ist. Weltweit, so habe ich in Tokio wie beispielsweise Deutschland zu vermeiden. Das heißt während des Treffens der G-7-Finanzminister erfahren, aber umgekehrt nicht, dass wir nicht auch auf europäi- schätzt der IMF den Wertberichtigungsbedarf auf scher und ebenso auf deutscher Ebene aktiv werden 400 Milliarden US-Dollar, wobei die Experten sagen, müssen, zum Beispiel auch dann, wenn bei einer interna- das bisher ungefähr ein Drittel davon tatsächlich wertbe- tionalen Umsetzung Schwierigkeiten auftauchten. richtigt worden ist. Aus Zeitgründen möchte ich hier nur die wichtigsten Maßnahmen anreißen; ich bin sicher, dass sich nächste Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, Woche sowohl im Finanzausschuss wie im Haushalts- kann das Gebot der Stunde nur lauten, dass die Banken ausschuss die Gelegenheit für eine intensivere Erörte- in ihren Bilanzen klar Schiff machen müssen, und zwar rung ergeben wird. ohne langen Aufschub. Wer glaubt, mögliche Wertbe- richtigungen oder Verluste nur in Häppchen nach der Erstens geht es um eine verbesserte Eigenkapital- Salamitaktik offenbaren zu müssen, der provoziert nicht unterlegung. Die Finanzmarktturbulenzen haben ge- nur eine eigene Abstrafung durch den Markt, sondern zeigt, dass wir mehr Risikovorsorge für Stressphasen am der handelt zum Schaden des gesamten Finanzsektors in Markt brauchen, allerdings erst nach Überwindung die- der Bundesrepublik Deutschland. Um verlorenes Ver- ser Krise, um die Kreditinstitute aktuell nicht noch mehr trauen zurückzugewinnen, dürfen wir es uns nicht leicht zu überfordern, als sie es ohnehin schon sind. Eine Mög- machen und nur die akute Krisenbewältigung sehen, die lichkeit hierzu ist, im Zuge einer Nachjustierung von auch dank des entschlossenen Handelns großer Zentral- Basel II von den Banken einen zusätzlichen Eigenkapi- banken bisher insgesamt gut gelungen ist. Ich möchte talpuffer zu verlangen, und zwar zusätzlich zu dem, was der Europäischen Zentralbank ein ausdrückliches nach den jetzt seit wenigen Wochen geltenden Basel-II- Kompliment machen, die eine dieser Zentralbanken ge- Regeln für den gewöhnlichen Fall reibungslos funktio- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15083

Bundesminister Peer Steinbrück (A) nierender Märkte ermittelt wird. Aber die Märkte funk- Forum und schon während des G-7-Treffens im April (C) tionieren eben nicht immer reibungslos und so wie ge- stark beschäftigen. wöhnlich. Es wäre zu wünschen, will ich hinzufügen, dass wir Hinsichtlich der Verbriefungen, einem der Dreh- und dieses Mal insbesondere von der Ratingbranche Unter- Angelpunkte der derzeitigen Krise, empfiehlt sich da- stützung bekommen, von der wir die Schaffung eines rüber hinaus eine Erhöhung der Risikogewichte dieser „set of best practices“ für strukturierte Produkte erwar- Verbriefungen zur Bestimmung der nötigen Eigenkapi- ten. Mir ist wichtig, dass wir in Zukunft verhindern, dass talunterlegung nach Basel II. Dies könnte zum einen die Agenturen, wie gesagt, erst beratend an der Struktu- durch eine andere Ausübung bereits bestehender Wahl- rierung beteiligt sind und anschließend an der Bewer- rechte oder zum anderen durch eine Neuberechnung der tung. Risikogewichte erfolgen, die bisher immer nur in Schön- Unter dem Stichwort der Transparenz werden wir wetterzeiten erarbeitet worden sind. Je nach einer daraus auch eine eventuelle Ergänzung des Bilanzrechtes dis- resultierenden neuen Risikogewichtung müsste dann kutieren müssen, um bislang außerbilanziell durchge- mehr Eigenkapital von den Instituten bereitgehalten wer- führte Transaktionen zukünftig besser sichtbar zu ma- den, was wiederum bei Investmentmanagern den Anreiz chen. Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, verstärken würde, in den Bewertungen stärker auf die dass der von der Kollegin Zypries bereits vorgelegte Re- wirtschaftlichen als auf die spekulativen Rahmenbedin- ferentenentwurf des Bilanzrechtsmodernisierungsgeset- gungen ihres Engagements zu achten. zes vorsieht, die Kriterien enger zu fassen, nach denen Zweitens wollen wir das Liquiditätsmanagement Zweckgesellschaften bilanziert werden müssen. verbessern. Die Finanzmarktturbulenzen machen deut- Wenn es um nachhaltige und wirkungsvolle Konse- lich, dass die globalen bankaufsichtsrechtlichen Liquidi- quenzen aus den Finanzmarktturbulenzen geht, dann tätsvorschriften dringend ausgebaut werden müssen. sprechen wir automatisch auch über die Arbeit der Auf- Handlungsbedarf sehe ich hierbei vor allem in zweierlei sichtsbehörden bei uns. Das ist sowohl national als Hinsicht: Erstens sprechen gute Gründe für eine Ausdeh- auch in der grenzüberschreitenden Kooperation ein nung des Anwendungsbereiches der Vorschriften über wichtiges Thema in der Eurogruppe und im Ecofin-Rat. die einzelne Bank hinaus auf einen Bankkonzern. Zwei- tens sind Belastungstests – oder auf neudeutsch Stress- Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die tests – unter der Annahme einer nur eingeschränkten zwischen der BaFin und der Bundesbank gefundene Ver- Marktliquidität geboten. Die bislang übliche Annahme ständigung auf eine transparentere und reibungslosere liquider Märkte ist ungenügend und wird von den von Aufgabenverteilung bei der Bankenaufsicht. Sie ist ein wichtiger Beitrag zu einer handlungsfähigen stabilen (B) uns gemachten Erfahrungen falsifiziert. (D) deutschen Bankenaufsicht. Nähere Auskünfte darüber Drittens wollen wir mehr Transparenz auf den Märk- werden mit Gewissheit auch in den beiden Ausschüssen ten schaffen. Dies ist eine zentrale Aufgabe für die inter- gegeben. nationale Politik. Alle Marktteilnehmer – auch Anleger und Aufsichtsgremien – müssen die Chance haben, be- Ich bin überzeugt, dass die von mir beschriebenen stehende Risiken angemessen bewerten zu können. Dies Maßnahmen – vor allem, wenn sie auch im internationa- ist derzeit nicht gewährleistet. Die Marktteilnehmer kön- len Kontext umgesetzt werden – eine gute Basis für eine nen keine eigenen Risikoprofile erstellen. nachhaltige Beruhigung und Stabilisierung der Finanz- märkte darstellen. Genauso überzeugt bin ich allerdings Ich möchte heute nicht näher auf das Thema Hedge- davon, dass kurzfristige Konjunkturprogramme, wie sie fonds eingehen, zumal diese definitiv nicht die derzeiti- derzeit auch unter Verweis auf die Situation in den USA gen Finanzmarktturbulenzen verursacht haben. Aber ich gelegentlich reflexartig wie lautstark in Europa und in möchte daran erinnern, dass es von manchen im Inland Deutschland propagiert werden, definitiv nicht die rich- wie auch im Ausland – insbesondere im angloamerikani- tige und angemessene Antwort auf die jetzige Situation schen Bereich – belächelt worden ist, dass wir unter der sind. deutschen EU-Rats- und G-7-Präsidentschaft vor unge- fähr einem Jahr das Thema Transparenz auf die Tages- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ordnung gesetzt haben. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das gilt – um es gleichermaßen vorweg zu sagen – für der CDU/CSU) etwaige zusätzliche und nach Lage der Dinge wohl auch kreditfinanzierte Ausgabenprogramme wie auch für Ich hätte mir damals in ihrem eigenen Interesse etwas die von mancher Seite vorgetragene Forderung nach mehr Unterstützung aus der Branche selber gewünscht. Steuersenkungen auf Pump. Es gibt eine Reihe von Inzwischen ist, wie Sie wissen, einiges in Gang gekom- Gründen, die gegen beides sprechen. Erstens haben wir men, und zwar in Großbritannien durch die Kommis- es im Unterschied zu den Amerikanern in Europa und sion, die Andrew Large, der frühere Vizepräsident der speziell in Deutschland immer noch mit einer starken Bank of England, in Gang gesetzt hat, wie auch in der konjunkturellen Grunddynamik zu tun. Die Finanz- sogenannten President’s Working Group on Financial marktturbulenzen treffen auf eine wesentlich robustere Markets in den USA. Das alles sind wichtige Initiativen deutsche Wirtschaft als noch vor zwei oder drei Jahren. im Ergebnis dessen, was wir vor einem Jahr initiiert ha- Auch die stabilen Fundamentaldaten deuten nicht auf ben. Diese Initiativen werden uns im Financial Stability eine stärkere konjunkturelle Abkühlung und erst recht 15084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) nicht auf eine rezessive Entwicklung in Deutschland hin. sich leichtfüßig in eine höhere Staatsverschuldung zu (C) So haben wir es beispielsweise aktuell mit einer aufwärts flüchten. Diese Abkehr könnte gerade angesichts des gerichteten Tendenz bei den Auftragseingängen und mit derzeitigen Inflationsdrucks viel mehr auch die europäi- einem entsprechend positiven Ausblick für die Entwick- sche Geldpolitik betreffen. Sie könnte zu einer restrikti- lung der Industrieproduktion in den nächsten Monaten veren Geldpolitik, also zu Zinserhöhungen durch die zu tun. Einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesell- EZB führen. Je nach Ausmaß würde die Konjunktur da- schaft KPMG zufolge blickten die deutschen Industrie- durch stärker belastet, als ein Konjunkturprogramm be- unternehmen im vermeintlich schwierigen Monat Januar schleunigend wirken könnte. optimistischer in die Zukunft als vor einem halben Jahr. Das ist ein Ausschnitt aus der aktuellen Lage. Ich könnte Bisher sind die Auswirkungen der globalen Finanz- das fortsetzen. Aus Zeitgründen will ich das nicht tun. marktturbulenzen auf die deutsche Konjunktur und da- mit auf den aktuellen Bundeshaushalt verkraftbar. Bis- Auf der Basis der jetzt vorliegenden Erkenntnisse her! Es besteht Grund zu der Annahme, dass dies rechnet die Bundesregierung, unterstützt von fast allen, weiterhin so bleibt. Aber ich rate dringend, sich von der die man dazu befragen kann, mit einem gesamtwirt- lieb gewordenen Vorstellung zu verabschieden, dass wir schaftlichen Wachstum in Höhe von 1,7 Prozent in die- künftig – genauso wie 2006 und 2007 – mit unerwarteten sem Jahr. Damit können wir trotz unbestreitbarer Risi- Steuermehreinnahmen rechnen könnten, die wir bisher ken – diese negiere ich gar nicht – zufrieden sein, wenn zu zwei Dritteln in die Absenkung der Nettokreditauf- es denn so kommt. Wir sollten die Kirche allerdings im nahme und zu einem Drittel in zusätzliche Investitionen Dorf lassen. 1,7 Prozent Wachstum bedeuten nicht mehr für Wachstum und Beschäftigung gesteckt haben. Ich und nicht weniger, als dass wir damit ungefähr unser sage an dieser Stelle sehr prononciert: Auf unerwartete derzeit geschätztes Wachstumspotenzial in Deutschland zusätzliche Steuermehreinnahmen kann in diesem Jahr ausschöpfen können. Sie alle wissen, dass das 2003 und niemand hoffen. Das Gegenteil ist nicht auszuschließen. 2004 nicht so war. Damals hätten wir bei 1,7 Prozent Wachstum die Sektkorken knallen lassen. Vor diesem Hintergrund sehe ich die hauptsächliche Gefahr für den weiteren notwendigen Konsolidierungs- Zweitens haben wir keinerlei Veranlassung, unseren kurs nicht in der konjunkturellen Entwicklung, sondern bisher so erfolgreichen wirtschafts- und finanzpoliti- in den trotz schwieriger Rahmenbedingungen unge- schen Kurs, eben die Kombination aus dauerhafter Wirt- bremsten politischen Begehrlichkeiten gegenüber dem schaftsförderung und Wachstumsförderung sowie einer Haushalt. soliden Haushaltspolitik, zu verlassen. Die gegenwärtig wirksamen Strukturreformen helfen uns auch im aktuell (Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP]) schwieriger werdenden konjunkturellen Fahrwasser; (B) (D) denn sie wirken konjunkturunterstützend. So wird sich Die Gleichzeitigkeit unverträglicher politischer Forde- im laufenden Jahr allein der Gesamteffekt durch die För- rungen und Vorschläge verwirrt nicht nur die Bürgerin- derung von Wachstum, Beschäftigung und Familien nen und Bürger, sondern behindert auch die Stetigkeit – Sie können sich sicherlich erinnern, dass es sich um unseres Kurses. Runter von der Staatsverschuldung, aber ein 25-Milliarden-Euro-Programm handelt, 12,5 Milliar- rauf mit diversen Ausgaben und runter mit den Steuer- den Euro ergänzt durch die Bundesländer; hinzu kamen sätzen und das alles gleichzeitig, dies funktioniert nicht. im letzten Jahr 10 Milliarden Euro zusätzlich –, die Sen- Das sollte endlich Common Sense in diesem Haus wer- kung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherung den. und die Entlastung der Wirtschaft durch die seit dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 1. Januar dieses Jahres gültige Unternehmensteuer- der CDU/CSU) reform auf rund 18 Milliarden Euro belaufen. Um Ihnen eine Relation zu geben: Diese 18 Milliarden Euro ent- Ich betreibe keine Schwarzmalerei, aber die haus- sprechen spitz gerechnet 0,75 Prozent des deutschen haltsbelastenden politischen Wünsche übersteigen die Bruttosozialproduktes. Das, was der Präsident der USA gegenwärtig sichtbaren und beherrschbaren Einnah- in seiner State of the Union erklärt hat, entspricht unge- meausfälle durch die etwas schwächer werdende Kon- fähr 1 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts. junktur um ein Vielfaches. Deshalb sage ich: Vorsicht an Das heißt, mit diesen Impulsen bewegen wir uns in etwa der Bahnsteigkante! Die Große Koalition hat keinerlei in der Relation dessen, was der amerikanische Präsident Anlass, von ihrer erfolgreichen, soliden Haushaltspolitik in seiner State of the Union als konjunkturfördernde abzuweichen, weder durch ökonomisch fragwürdige Maßnahmen angekündigt hat. Programme noch durch zusätzliche steuerliche Entlas- Drittens würde jede Abkehr vom notwendigen Kon- tungen nach einer Serie bereits erfolgter Steuersenkun- solidierungskurs, die mit einem Konjunkturprogramm gen. verbunden wäre, zwangsläufig zu gegenläufigen Ent- (Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE wicklungen führen. Es wäre sehr wahrscheinlich, dass LINKE]) ein Verlassen des Konsolidierungspfades in der jetzigen Situation nicht nur ein sträflicher Wiederholungstatbe- Die jüngste ist gerade einmal sieben oder acht Wochen stand wäre, der uns im Hinblick auf das Ziel der Genera- her. Für die anstehenden Verhandlungen zum Bundes- tionengerechtigkeit Lügen strafen würde und der vor haushalt 2009 kann dies nur zweierlei bedeuten: Erstens. allen Dingen dem verbreiteten Verdacht Vorschub leis- Die Verhandlungen werden von uns allen sehr große tete, dass die Politik im Zweifelsfall immer bereit ist, Disziplin und Konzentration auf das wirklich Notwen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15085

Bundesminister Peer Steinbrück (A) dige verlangen. Zweitens. Sie werden noch weniger ver- Zweiter Fehler. Herr Eichel hat die Bankenaufsicht (C) gnügungssteuerpflichtig sein, als sie es je waren. unzureichend geregelt. Er hat einen Kompetenzwirrwarr zwischen Bundesbank und BaFin mit Streitigkeiten bis Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. jetzt ausgelöst. Jetzt soll es angeblich einen vorläufigen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kompromiss zwischen beiden Instituten geben. Wir ha- ben damals gefordert, die Kompetenz auf eine Institution Präsident Dr. Norbert Lammert: zu konzentrieren, und zwar am besten auf die Deutsche Bundesbank, weil diese unabhängig ist und nicht unter Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Ihrer Aufsicht steht. Sie würde Ihnen dafür aber auch die nächst dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die Verantwortung ersparen. FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Auch das ist nicht gemacht worden. Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Was ist dabei herausgekommen? Nicht nur Kompe- Herren! Es kann gar kein Zweifel sein, dass diese tenzwirrwarr bei der Bankenaufsicht, sondern auch aktuelle Krise am Finanzmarkt ihren Ausgang in den Kompetenzwirrwarr bei der Aufsicht durch den Bundes- Vereinigten Staaten genommen hat, dass dort Fehler ge- finanzminister; denn Sie sind an der Aufsicht der IKB macht worden sind und dass dies zu kritisieren ist. Es ist direkt und indirekt geradezu dreifach beteiligt, nämlich aber nicht Sache eines Oppositionspolitikers, sich mit durch den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden den Fehlern in den Vereinigten Staaten zu befassen, son- Herrn Leinberger, der im Vorstand der KfW sitzt, und dern meine Aufgabe ist es, zu prüfen, was die Bundes- durch Herrn Asmussen, Abteilungsleiter im Finanz- regierung getan hat, ob sie Fehler gemacht hat und wer ministerium, der gleichzeitig im Verwaltungsrat der für diese Fehler verantwortlich ist. Darüber müssen wir BaFin und im Aufsichtsrat der IKB sitzt, sich also sozu- heute reden. sagen selbst kontrolliert. Auch das liegt in Ihrer Verant- wortung. Schließlich hat die BaFin beansprucht, die (Beifall bei der FDP) Überwachung der IKB selbst durchzuführen und die Ich halte es auch für richtig, Herr Bundesfinanzminister, Bundesbank herauszuhalten, sodass die Überwachungs- und ich unterstütze – das sage ich jetzt persönlich, weil fehler eindeutig der BaFin zuzuschreiben sind. Diese wir das in der Fraktion nicht abgestimmt haben –, dass dreifache Überwachung hat zu dem Versagen geführt. Sie jetzt in einer erneuten Runde öffentliche Finanzmit- Jetzt soll mir aber niemand erklären, das alles wäre ge- tel beiziehen, um den endgültigen Untergang der IKB zu heimnisvoll und vertuscht worden. Ich habe mir – wie es (B) vermeiden, insbesondere um Schaden vom deutschen jeder tun kann – den Geschäftsbericht der IKB aus dem (D) Finanzmarkt abzuwenden. Internet heruntergeladen und ausgedruckt. Dort sind ja alle Zahlen aufgeführt; jeder kann sie sich anschauen. Aber: Wer ist verantwortlich für den riesigen Verlust Zumindest Fachleute hätten doch aufmerksam werden an öffentlichen Mitteln, der nun eingetreten ist? Ich will müssen. auf die Fehler hinweisen. (Zuruf von der FDP: Genau so ist es!) Erstens. Ihr Vorgänger hat die ersten Fehler gemacht. 2001 hat er entschieden – der Bundes- Ich möchte eine Passage zitieren; das ist etwas, was tag war mit dieser Angelegenheit nicht befasst –, dass man sich nur auf der Zunge zergehen lassen kann. In die KfW als Eigentümerin bei der IKB eintritt. Es war dem Geschäftsbericht steht: Unsere Investments konzen- immer unsere Auffassung, dass sich eine staatliche För- trieren sich zu zwei Dritteln auf US-Portfolios, insbeson- derbank nicht an privaten, riskanten Spekulationsge- dere auf Hypothekenkreditforderungen. – Dann kommt schäften beteiligen darf. das Schönste: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir nutzen unsere große Expertise … in diesem Be- der LINKEN) reich aber auch, um auf Provisionsbasis externe Ge- Ich habe dies, Herr Bundesfinanzminister, auch im sellschaften bei deren Investments in internationale Wahlkampf 2005 öffentlich gesagt. In der WiWo ist das Kreditportfolien zu beraten. Dies bezieht sich ins- zitiert. Ich habe Herrn Eichel und Frau Matthäus-Maier besondere auf das Conduit „Rhineland Funding Ca- auch persönlich gesagt: Wenn wir 2005 Verantwortung pital Corporation“ in den USA. übernommen hätten, wäre diese Beteiligung unverzüg- lich veräußert worden. – Dann hätten wir uns den Scha- Das ist ja eine Tochtergesellschaft der IKB. Die haben den erspart. sie beraten, damit der gleiche Mist, der bei der IKB durchgeführt wird, auch bei dem Conduit durchgeführt (Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ wird. DIE GRÜNEN]: Wer es glaubt, wird selig!) „Unsere große Expertise“ – und das hat bei Ihnen nie- Sie haben nun 2005 den Fehler begangen, das zu über- mand gemerkt? Das steht doch alles im Geschäftsbe- nehmen und das Engagement fortzusetzen. Sie haben die richt! Der Aufsichtsrat bestätigt das ja. Verantwortung dafür, dass der Staat, also der Steuerzah- ler, an diesen riskanten Spekulationsgeschäften beteiligt (Beifall bei der FDP sowie des Abg. geblieben ist. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) 15086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Hermann Otto Solms (A) Der nächste Fehler: das Krisenmanagement, das Sie nen unbeteiligter Zuschauer produziert, ist auf lange (C) durchgeführt haben – jetzt wird ja schon die dritte Hilfs- Sicht politisch inakzeptabel. aktion durchgeführt. Die erste Hilfsaktion fand im August statt: 3,5 Milliarden Euro sind zur Verfügung gestellt wor- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den. Die zweite Hilfsaktion fand am 30. November statt. Gerade diejenigen, die eine marktwirtschaftlich geprägte Dabei sind die Mittel der KfW zur Abschirmung der Ri- Globalisierung wollen, müssen das als die Achillesferse siken auf 4,8 Milliarden Euro erhöht worden. Vorgestern der Globalisierung erkennen. Effektives Handeln ist jetzt gab es die dritte Runde: 1,2 Milliarden Euro öffentliche gefordert, bevor eine noch größere globale Krise kommt. Mittel sind zur Verfügung gestellt worden. Das sind ins- gesamt 6 Milliarden Euro. Ist das jetzt die letzte Runde? Ich glaube, dass der sicherlich völlig unverdächtige Sind diese Aktionen jetzt abgeschlossen? Oder wie viele Kolumnist der Financial Times die politische Dimension Runden haben wir noch vor uns? Kann das jemand sa- der Krise, in der wir uns befinden, deutlich gemacht hat. gen? Es gibt sicherlich eine ganze Menge bankenregulatori- scher Fragen, aber es geht im Kern um diese politische Sie beschimpfen die privaten und die anderen Ban- Dimension. ken. Sie haben in der FAS in einem Interview gesagt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das begründet meine Aufforderung an die anderen neten der SPD) Banken, jetzt schnell alles offenzulegen, was sie an erkennbaren Risiken mitschleppen, damit der Markt Wenn ich seine Aussage noch einmal reduzieren nicht im Vierzehn-Tage-Rhythmus von Hiobsbot- wollte, würde ich sagen: Es geht inzwischen nicht mehr schaften weiter nervös gemacht wird. nur um die Rettung von Geld, es geht schon gar nicht um Rechthaberei, sondern es geht um die Wiederherstellung Was passiert denn in Ihrem Bereich? Was haben Sie von Vertrauen. Das ist die Aufgabe und Herausforde- denn jetzt aufgedeckt? – Sie verfahren nach der Salami- rung, der wir gerecht werden müssen. taktik: Wenn es notwendig ist, dann wird etwas aufge- deckt. Dann wartet man bis zur nächsten Krise. Was hier (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorgeführt wird, ist wirklich dilettantisch. neten der SPD) (Beifall bei der FDP) Das geht nicht mit Schnellschüssen. Es braucht Ent- schlossenheit, vielleicht auch ein bisschen Mut, sich die- Meine Damen und Herren, insgesamt sind mindestens ser Situation zu stellen. 6 Milliarden Euro öffentliche Mittel verbrannt. Die sind verbraucht. Wer ist dafür verantwortlich? Darum geht es Was könnten Elemente für eine konzeptionelle Ant- (B) hier. Wir wollen kein Bauernopfer, etwa das von Frau wort auf die Krise sein, die ihr gerecht werden? Es geht (D) Matthäus-Maier, sehen. Wir wollen wissen, wer für den doch darum, aus der Krise zu lernen. Verlust von 6 Milliarden Euro Steuernmitteln hauptsäch- Das erste Element ist: Wir müssen erfassen, was das lich verantwortlich ist. In diesem Fall ist das eindeutig Charakteristische der Finanzglobalisierung ausmacht, der Bundesfinanzminister. was sich eigentlich so fundamental verändert hat – es Vielen Dank. gibt fundamentale Veränderungen –, warum wir nicht einfach mit den Instrumenten und der Art weitermachen (Beifall bei der FDP) können, die wir in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg, eingeführt unter Ludwig Erhard, mit Erfolg prak- Präsident Dr. Norbert Lammert: tiziert haben. Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Norbert Röttgen Ein Charakteristikum ist, dass Risiken und Krisen für die CDU/CSU-Fraktion. zwar national oder regional entstehen, aber in ihren Aus- (Beifall bei der CDU/CSU) wirkungen nicht mehr national oder regional begrenzbar sind, sondern globale Auswirkungen haben, und zwar für Politik, Wirtschaft und private Haushalte in der gan- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): zen Welt. Niemand kann sich diesen Risiken und Krisen, Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- die an irgendeiner Stelle entstehen – diesmal in den gen! Ich möchte in dieser Debatte mit einer ausländi- USA; es könnte auch Asien sein –, entziehen, auch nicht schen Stimme beginnen, hier in Deutschland. Wir sind miteinander verbunden. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. [FDP]: Das aber nicht erst Sehr gut!) seit gestern!) und zwar mit dem englischen Kolumnisten Martin Wolf, Aus diesem Charakteristikum folgt eine Antwort. Es der sich in der englischen Financial Times – in meiner folgt nicht die Antwort, dass der Staat überflüssig wird. freien Übersetzung – kurz so geäußert hat: Ich bin fest überzeugt, dass die Globalisierung den Staat (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Lesen Sie alles andere als überflüssig macht. Er hat eine neue Auf- lieber den Originalton vor!) gabe. Tatsache ist aber, dass eine adäquate Antwort auf die Globalisierung und auch auf die Finanzglobalisie- Ein Finanzsektor, der enorme Gewinne für die Insider rung nicht rein national sein kann. Das Gebot der Stunde und gleichzeitig wiederholte Krisen für Hunderte Millio- ist internationale Kooperation. Darum sollte man nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15087

Dr. Norbert Röttgen (A) so oft damit drohen: Wenn wir uns nicht einigen, ma- Deutschlands – die entscheidende institutionelle Voraus- (C) chen wir es allein. – Wir sind nicht der entscheidende setzung für Währungsstabilität, also für einen stabilen Akteur in dieser Frage, sondern internationale Koopera- Euro, erhalten wollen. Diese sehen wir in der unabhängi- tion ist das Gebot der Stunde. gen Europäischen Zentralbank. (Beifall des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte auf den Anlass dieser Regierungserklä- Europa stellt, wie ich glaube, auch die unterste Ebene rung zurückkommen, das G-7-Finanzministertreffen. Es für eine Regulierung des Bankensektors dar. Wenn wir ist zu würdigen, dass es diese Kooperation gibt und dass es neben der Aufgabe der Regulierung auch noch schaf- unser Land und diese Bundesregierung in ihrer Präsi- fen wollen, die Europäische Union zu einem Schutzraum dentschaft die Bedeutung erkannt und eine führende für ihre Bürger gegen Ansteckung von solchen Gefahren Rolle übernommen haben. Ich will keine Rechthaberei zu entwickeln, dann dürfen wir nicht weiter zuschauen betreiben, aber doch an die Auseinandersetzungen erin- – das tun wir zurzeit noch zu sehr –, wie sich die natio- nern, die es um Heiligendamm und das G-8-Treffen in nalen Wirtschaftspolitiken, abgesehen vom Feld der Re- Deutschland gab, auch an den politischen Widerstand gulierung, eher weiter auseinanderentwickeln, als dass – das ging bis hin zu militantem Widerstand – gegen das sie zusammenkommen. Die Europäische Union braucht Treffen und die Kooperation überhaupt. Ich glaube, dass neben dem Regulierungsansatz auch einen gemeinsa- die Finanzmarktkrise all diejenigen, die sagen: „Wir men, abgestimmten, kohärenten, insbesondere Deutsch- brauchen diese Kooperation nicht; sie ist böse; sie ist land und Frankreich vereinenden wachstums- und wirt- eine Versammlung von denjenigen, die Ausbeutung be- schaftspolitischen Ansatz. Wir brauchen mehr Kohärenz treiben wollen“, eines Besseren belehrt. Manche sollten der Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union. ihren Horizont weiten. Nichts ist nötiger als internatio- (Beifall des Abg. Ortwin Runde [SPD]) nale Zusammenarbeit. Wir können uns nicht auf den Standpunkt zurückziehen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland und Frankreich seien traditionell verschie- neten der SPD) den. Nein, das können wir uns nicht mehr leisten. Wir Das gilt auch im Hinblick auf die Schwellenländer brauchen eine besser abgestimmte Wirtschaftspolitik in – das hat Herr Steinbrück gesagt –, die ein stabilisieren- der Europäischen Union. der Faktor sind. Darum müssen wir die vorhandenen In- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Fritz stitutionen entwickeln. Der Internationale Währungs- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fonds hat eine Geschichte und hat in seiner Geschichte gilt auch für die Sozialpolitik!) (B) schon unterschiedliche Funktionen wahrgenommen. Ich (D) halte es für sinnvoll, den Internationalen Währungsfonds – Das gilt auch für die Sozialpolitik, völlig richtig. Man zu einem globalen Frühwarnsystem für die Finanz- kann übrigens Wirtschafts- und Sozialpolitik an dieser märkte weiterzuentwickeln. Ein solches Instrument Stelle nicht unabhängig voneinander denken. Völlig brauchen wir. Wir sollten an dieser Fortentwicklung ak- richtig. tiv mitwirken. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das gilt auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für die Steuerpolitik!) neten der SPD) Was bedeutet das für Deutschland? Es bedeutet, dass Ich glaube, dass in der aktuellen Finanzmarktkrise die Protektionismus keine vernünftige Option für unser Stunde Europas schlägt. Nach den großen Erfolgen der Land ist. europäischen Integration fragen wir jetzt immer wieder: (Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) Was ist eigentlich die Legitimation Europas heute? Ist Europa Opfer seines eigenen Erfolges geworden? Nein, – Es ist gut, dass Sie sich melden. – Es bedeutet, dass Europa erweist sich im Zeitalter der Globalisierung als Stimmungsmache und Angstmache das Gegenteil von die erste und beste Antwort auf ebendiese Globalisie- Wahrnehmung politischer Verantwortung sind. Es ist ge- rung. Jetzt, da der Euro fast zehn Jahre alt ist, können radezu verwerflich, die Ängste von Menschen zu partei- wir auch sagen: Der Euro erlebt in diesen Tagen – ich politischen Zwecken zu missbrauchen, wie es Ihre Me- glaube nicht, dass das zu hoch gesprochen ist – vielleicht thode ist. Darum ist es gut, dass Sie sich als Betroffene seine erste historische Rechtfertigung. Der Euro liefert von sich aus gemeldet haben. in dieser Krise den Bürgern in den Ländern der Euro- zone einen Schutz, den die gute alte Mark nicht hätte lie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie fern können. Der Euro hat sich in dieser Krise als Garant bei Abgeordneten der FDP – Fritz Kuhn für Währungsstabilität und als Gestaltungsinstrument [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sprechen bewährt. von Roland Koch? Roland Koch wurde hier gerade zitiert!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Das bedeutet auch, dass wir schauen müssen, wie sich Deutschland besser auf die Globalisierung einstellen Deshalb ist es gut, dass die Entscheidung zugunsten des kann. Meine Überzeugung ist, dass die entscheidende Euro getroffen worden ist. Darum erkläre ich, dass wir Ursache für unser Wachstum ist, dass sich unsere Unter- als Unionsfraktion – ich glaube, das ist auch die Position nehmen bis in den Mittelstand hinein konsequent auf die 15088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Norbert Röttgen (A) Globalisierung eingestellt haben. Dieser Prozess wurde Stärke unser Land stark gegenüber den Ansteckungsge- (C) in den letzten Jahren vollzogen und stellt die wirtschaft- fahren der Weltwirtschaft. liche Basis für unseren derzeitigen Aufschwung dar. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) halte die Feststellung für zutreffend, dass sich der Bankensektor in Deutschland in den letzten Jahren Eine Krise wünscht man sich nie. Wenn sie aber nicht konsequent auf die Globalisierung eingestellt hat. schon da ist, sollte man das Beste daraus machen, näm- Der Bankensektor in Deutschland hat sich nicht optimal lich aus ihr lernen. Ich glaube, dass die Veränderungen auf die Globalisierung eingestellt. so fundamental sind, dass dazu auch politischer Mut ge- hört. Aber angesichts der Stärken und des Potenzials un- Zu dem Fragenkomplex, wie der Bankensektor zu- seres Landes – wir haben es in den letzten zwei Jahren künftig aussehen soll, gehört auch eine durch die Finanz- gesehen – bin ich ganz sicher, dass wir genügend Opti- krise auf die Tagesordnung gekommene Frage: Was ist mismus für diesen Mut haben können und dass wir der die Legitimation, und was ist die Rolle öffentlicher Ban- Verpflichtung, unserem Land zu dienen, es in diesen Zei- ken? Meine Damen und Herren, es entspricht nicht der ten wetterfest zu machen und die Chancen zu nutzen, Wahrnehmung politischer Verantwortung, sich nur mit nachkommen können. Aber es bedarf auch einer aktiven den Fragen zu beschäftigen, die bequem sind. Es ist auch Annahme der Herausforderungen der Globalisierung. nicht böse, diese Frage zu stellen; vielmehr steht die Frage, was im Zeitalter der Finanzglobalisierung Rolle (Zustimmung bei der FDP) und Legitimation öffentlicher Banken in Bezug auf das Das ist eine Aufgabe, der wir uns auch in diesem Parla- internationale Finanzgeschäft ist, auf der Tagesordnung. ment stellen müssen. (Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) Herzlichen Dank. Diese Frage hat bestimmte bankenspezifische Implika- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tionen, zum Beispiel in Bezug auf die Risiko- und Boni- neten der SPD) tätsbewertung des Kapitalmarktes bei öffentlichen Ban- ken. Sie hat aber eben auch eine politische Dimension. Präsident Dr. Norbert Lammert: Es ist etwas anderes, ob der Staat im Krisenfall einer Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi, privaten Bank gegenübertritt und entscheidet, zu inter- Fraktion Die Linke. venieren und zu helfen oder nicht, oder ob der Staat in (Beifall bei der LINKEN) Form des Vehikels einer öffentlich-rechtlichen, also – das sage ich bewusst so – einer privatrechtlichen Bank (B) mit erheblicher öffentlicher Beteiligung, selber Akteur Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (D) ist und für sein Fehlverhalten die Bürgerinnen und Bür- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr ger und die Steuerzahler direkt oder mittelbar mit in Haf- Röttgen, in einem Punkt muss ich Ihnen recht geben: tung nimmt. Aus Krisen kann man eine Menge lernen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber nicht (Zurufe von der LINKEN) alle tun es!) Diese Inhaftungnahme der Bürger und Steuerzahler Das entspricht auch meinen Erfahrungen; das will ich braucht eine Rechtfertigung. gar nicht leugnen. Ich habe mich auch gefreut, dass Sie, Diejenigen, die Staatsbanken eine führende Rolle Herr Steinbrück, gesagt haben, die letzte Steuerkürzung zuweisen – der Bundesfinanzminister hat das ja in einem sei erst sieben Wochen her. Sie hätten aber dazusagen Interview angeregt –, haben eine Bringschuld, zu be- sollen, dass es sich dabei um eine Kürzung der Körper- gründen, warum sich öffentliche Banken im internatio- schaftsteuer für die Kapitalgesellschaften, also die Deut- nalen Finanzgeschäft beteiligen sollen. Ich glaube, dass sche Bank, handelte, während Sie vor über einem Jahr sie das nicht tun sollten; denn diese Bringschuld kann an für die Gesamtheit die Mehrwertsteuer um 3 Prozent er- dieser Stelle nicht erbracht werden. höht haben. Das ist das, was wir an Ihrer Steuerpolitik immer kritisieren. Ich möchte einen letzten Punkt anmerken. Was bedeu- (Beifall bei der LINKEN) tet die Finanzkrise für Deutschland? Ich glaube, dass sie den Sinn von Konsolidierungs- und Wachstumspolitik Ich finde, wir müssen kurz darstellen, worum es bei deutlich macht. Manche Menschen fragen sich: Was ha- dieser Krise geht und was in den USA geschehen ist. Die ben wir eigentlich von Haushaltskonsolidierung? Was ha- Öffentlichkeit muss das ja verstehen. Die Banken in ben wir vom Sparen? Was haben wir vom Wachstum? – den USA haben Kredite an Hausbesitzer oder Leute, die Diese Finanzmarktkrise macht deutlich, dass der Sinn Häuser kaufen wollten, auch wenn sie kaum Geld hatten, von Konsolidierungs- und Wachstumspolitik darin liegt, gegeben. Das klingt erst einmal edel, und man sagt: dass der Staat wieder Handlungsfähigkeit gewinnt. Ein Mein Gott, die geben ja sogar Ärmeren Geld. überschuldeter Staat ist nicht krisenfähig; er kann nicht (Zuruf von der FDP) handeln. Darum müssen wir diesen Kurs – konsolidieren, Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, Wachstumsgrund- – Ich sagte, es klingt edel. – Das Problem ist nur, dass die lagen stärken – fortsetzen. Er macht durch die Herstel- Banken davon ausgingen, dass die Häuser im Wert stei- lung von Wettbewerbsfähigkeit und durch wirtschaftliche gen und dass man im Wege der Zwangsversteigerung al- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15089

Dr. Gregor Gysi (A) les wunderbar realisieren kann. Da haben sie sich ver- Dann gibt es noch die Industriekreditbank, eine pri- (C) spekuliert; denn der Wert der Grundstücke ist gesunken. vate Mittelstandsbank, die mindestens 15 Milliarden Weil sie aber schlau sind, haben sie gesagt: „Das Risiko Euro in diese Risikogeschäfte gesteckt hat. Nur hat sich wollen wir nicht alleine tragen“, Wertpapierfonds gebil- – da hat Herr Solms völlig recht – eine öffentlich-rechtli- det und diese den Europäern angeboten. US-hörig, wie che Einrichtung, nämlich die Kreditanstalt für Wieder- die Europäer sind, allen voran die öffentlich-rechtlichen aufbau, an dieser Privatbank zu 38 Prozent beteiligt und Banken, haben sie sich gesagt: Das müssen wir unbe- haftet jetzt für alles mit. Das ist das Problem, vor dem dingt kaufen; da machen wir ein todsicheres Geschäft. – wir unter anderem stehen. Damit sind sie furchtbar auf die Schnauze gefallen. So einfach ist das Ganze. (Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN) Herr Röttgen, Sie haben gefragt, was das Typische an Herr Steinbrück, Sie haben nichts dazu gesagt, dass der Finanzglobalisierung ist. Das kann ich Ihnen sagen; ein Angehöriger Ihres Ministeriums im Aufsichtsrat der denn dafür gibt es eine unwiderlegbare Zahl: Täglich Industriekreditbank sitzt. Was hat er da eigentlich getrie- werden weltweit 1 900 Milliarden Dollar umgesetzt. Für ben? Sie und auch Herr Glos haben Kontrollfunktionen den gesamten Waren- und Dienstleistungsbereich sind bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Wie haben Sie das täglich 38 Milliarden Dollar, also 2 Prozent davon. diese eigentlich wahrgenommen? Sie hätten sagen müs- Das heißt, dass 1 862 Milliarden Dollar täglich zu reinen sen: Alle diese Kontrollfunktionen haben nichts, aber Spekulationszwecken umgesetzt werden. Das hat die auch gar nichts diesbezüglich verhindert. – Das wäre die Politik ermöglicht, erste ehrliche Feststellung gewesen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das hat (Beifall bei der LINKEN und der FDP) nicht die Politik ermöglicht!) Dann gibt es noch – auch da hat Herr Solms recht – und das bezahlen wir heute in dieser Krise teuer. Das ist die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. die Wahrheit. Man fragt sich, wozu wir die eigentlich haben, wenn sie (Beifall bei der LINKEN) nichts davon mitkriegt, was an Spekulationsgeschäften weltweit läuft. Man kann nämlich entgegen der Annahme mancher Banker aus Geld nicht Geld machen. Das funktioniert (Beifall bei der LINKEN und der FDP) nie oder nur kurzfristig, und irgendwann hat man den Damit komme ich zur zweiten Seite, zur Deregulie- Schaden. Herr Steinbrück, Sie haben die Bankvorstände rung. Herr Steinbrück, Sie haben – im Übrigen völlig zu (B) kritisiert. Ich muss hier Herrn Solms zustimmen – ich (D) Recht – vor einem Jahr in einem Interview gesagt, dass weiß nicht, ob ihm das angenehm ist oder mir; das spielt es da „komische Produkte“ und eine „irrationale Ent- auch keine Rolle; auf jeden Fall muss ich ihm zustim- wicklung“ auf dem Finanzmarkt gibt. Das stimmt. Aber men –: Sie, Herr Steinbrück, haben nichts zur Verant- Sie vergaßen zu erwähnen, dass diese komischen Pro- wortung der staatlichen Kontrolle gesagt und damit auch dukte und diese irrationale Entwicklung überhaupt erst nichts zu Ihrer eigenen Verantwortung. Das ist nicht hin- durch die SPD/Grünen-Regierung erlaubt worden ist. nehmbar. Wenigstens das müssen Sie doch einmal feststellen. (Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN und der FDP) GRÜNEN) Es war Ihr Vorgänger, Hans Eichel, der die Hedge- Ich führe einmal die entsprechenden Beispiele an. Die fonds zugelassen hat, über die dann später Müntefering Westdeutsche Landesbank aus NRW hat sich an den un- gemeckert hat. Es war die Änderung des Finanzmarkt- sicheren Geschäften mit 23 Milliarden Euro beteiligt, förderungsgesetzes und des Kreditwesengesetzes, mit und zwar in der Zeit, Herr Steinbrück, als Sie als Finanz- denen die komischen Produkte und die Spekulation in minister bzw. Ministerpräsident die Aufsicht hatten. Deutschland zugelassen wurden. Sie selber, Herr Aber Sie haben nichts dazu gesagt. Steinbrück, haben gesagt, dass die Kreditverbriefungen das Ziel der Finanzmarktförderung sind. Wissen Sie, (Beifall bei der LINKEN und der FDP) was die USA gemacht haben? Sie haben das alles als Die Bayerische Landesbank hat unter Aufsicht des Kreditverbriefungen angeboten. Ihr Ziel ist also erreicht Finanzministers und heutigen CSU-Vorsitzenden Huber worden, und damit sind wir jetzt auf die Schnauze gefal- Risikogeschäfte im Umfang von 16 Milliarden Euro ge- len. Das ist die Wahrheit; das muss man doch einmal sa- macht. Dazu ist nichts gesagt worden. gen können. (Beifall bei der LINKEN und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Die Sachsen-Landesbank hat unter Verantwortung Ich will den Nobelpreisträger für Wirtschaft Joseph des früheren Finanzministers und heutigen Ministerprä- Stiglitz erwähnen, damit Sie nicht denken, die Einwände sidenten Milbradt sowie des heutigen Finanzministers kämen nur von der Linken oder gelegentlich von der Tillich Risikogeschäfte im Umfang von 18 Milliar- FDP; sie kommen auch von anderer Seite. den Euro gemacht. Dazu ist nichts gesagt worden. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN und der FDP) Von der DKP!) 15090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Gregor Gysi (A) – Dazu würde ich an Ihrer Stelle jetzt gar nichts sagen. denn ausgleichen? Wollen Sie das wieder mit einer (C) Mehrwertsteuererhöhung machen, oder wie müssen die (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bürgerinnen und Bürger das bezahlen? Entweder Sie NEN]: Warum denn?) kürzen Leistungen oder Sie erhöhen Steuern; das ist Joseph Stiglitz hat der taz gesagt: nicht hinnehmbar. Die wichtigste Ursache der gegenwärtigen Turbu- (Beifall bei der LINKEN) lenzen ist ein Übermaß an Deregulierung. Es geht aber nicht nur darum. Die Länder überneh- Das ist das Problem. Wir wollen eine Re-Regulierung. men Bürgschaften. Viele Bürgschaften in Milliarden- Wenn die Politik die direkte Verantwortung für die Fi- höhe werden übernommen. Keiner von uns kann ein- nanzmärkte weltweit aufgibt, dann schwächen wir die schätzen, wie viel Geld davon fällig wird und wie viel Demokratie. Denn die Wahlmöglichkeit zwischen der Geld nicht fällig wird. Union und der Linken würde diesbezüglich nichts mehr bringen, wenn beide in diesen Fragen nichts mehr zu Dann haben wir noch die Westdeutsche Landesbank. entscheiden haben. Genau das wollen wir aber nicht. Wir Die entscheidet sich, 1 500 Menschen zu entlassen. Da wollen ein Primat der Politik, auch über die Finanz- trifft es direkt die Beschäftigten, die jetzt für die Verluste märkte, und nicht umgekehrt. herhalten müssen. Das ist das, was mich so stört; Ban- kenkrise für Bankenkrise passiert dasselbe: Die Gewinne (Beifall bei der LINKEN) streichen die privaten Banken ein. Da schreien sie alle: Wir wollen keinen Staat. Kommt bloß nicht zu uns! Das Das heißt: Wir fordern ein Verbot von Nebengeschäf- sind unsere Gewinne. Es ist furchtbar, wenn wir dafür ten und Zweckgesellschaften. Wir meinen, dass ange- ein paar Steuern zahlen müssen etc. – Die Gewinne strei- sichts dieser Unsummen, mit denen dort jongliert wird, chen sie ein. Aber sobald Verluste vorhanden sind, rufen entsprechende Sicherheiten hinterlegt werden müssen sie nach den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, die und es eine wirksame Kontrolle geben muss. das ausgleichen sollen. Die Zeche bezahlen letztlich im- Es ist schon absurd. Sie müssen den Bürgerinnen und mer dieselben. Es sind die Rentnerinnen und Rentner, Bürgern einmal Folgendes erklären: Wenn ein Bäcker- die Arbeitslosen, die Kranken, die abhängig Beschäftig- meister eine zweite Filiale eröffnet und er die Umsätze ten und – nicht zu vergessen – die kleinen und mittleren nicht angibt, dann hat er mehrere Staatsanwälte und das Unternehmen; denn diese werden steuerlich ganz anders Finanzamt auf dem Hals; da ist dann was los. Wenn ein kontrolliert als die Großkonzerne. Das ist ein Problem, ALG-II-Bezieher falsche Angaben macht und dadurch das wir haben. 50 Euro monatlich mehr bekommt, als ihm zusteht, dann (B) werden wir aber aktiv. Aber wenn Milliarden weltweit (Beifall bei der LINKEN) (D) verschleudert und verspielt werden, dann gibt es kein Fi- Jetzt will ich gar nicht auf Herrn Zumwinkel zu spre- nanzamt und keinen Staat, die sich darum kümmern. Das chen kommen. Aber all das ist Symbolik. Wir haben ist nicht vermittelbar. – das habe ich schon mehrfach gesagt – einen Reichtum, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- der maßlos wird. Wir haben zunehmende Armut. Jede neten der FDP) Gesellschaft verträgt hier nur eine bestimmte Spanne. Wenn diese Spanne immer größer wird, ist dies gesell- Jetzt kommt der eigentliche Nachteil. Wer haftet denn schaftlich zerstörerisch. für eintretende Verluste? Das sind doch nicht Ihre Privat- kassen. Dann haften die Steuerzahlerinnen und Steuer- (Beifall bei der LINKEN) zahler. Das ist nicht vermittelbar. Herr Röttgen hat recht, Deshalb sage ich Ihnen: Machen Sie etwas dagegen! Das wenn er das sagt. Das ist wirklich nicht vermittelbar. sollte sich nicht so weiterentwickeln. Das Problem ist, dass Sie, Herr Steinbrück, erst ge- Herr Röttgen hat zu Recht gesagt, dass wir über die sagt haben, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wür- Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Banken neu disku- den diesmal nicht haften; dafür würden Sie sorgen. Jetzt tieren müssen. Das stimmt. Ich möchte daran erinnern: sagen Sie: Na ja, 1,5 Milliarden Euro! – Als ob das Landesbanken sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie nichts wäre! 1,5 Milliarden Euro ist der Betrag, den die sollen auch kleine Kredite an Bürgerinnen und Bürger Union brauchte, um die Umsetzung ihrer Kindergeldfor- sowie an kleine und mittlere Unternehmen gewähren. Es derung zu finanzieren. Dann kommt nachher wieder das muss ihnen untersagt werden, weltweit zu spekulieren – Argument: Jetzt haben wir leider kein Geld mehr. – Ver- und dann noch frei von Kenntnis, also ohne jede Sach- stehen Sie, das sind die Zusammenhänge, die die Leute kenntnis, ohne wirksame Kontrolle und das Ganze zum immer besser durchschauen. Nachteil der Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen die (Beifall bei der LINKEN) Aufgaben der Landesbanken deutlich formulieren. Wir wissen das aus Berlin. Wir wissen das aus Sachsen und Die Steuermindereinnahmen sind doch ein gesell- jetzt auch aus Bayern. schaftliches Problem. Ich kenne die Zahlen nicht genau; ich tue auch nicht so, als ob ich sie genau kenne. Sie Nun lassen Sie uns doch einmal etwas unternehmen, nennen als Größenordnung eine Summe von 5 bis 6 Mil- indem wir festlegen, was deren Aufgabe eigentlich ist. liarden Euro. Ich kann das nicht einschätzen. Es geht Sie sollen fördern und helfen und nicht weltweit speku- hier aber um Verluste in Milliardenhöhe. Wer muss die lieren, wovon sie nichts verstehen, und dann müssen die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15091

Dr. Gregor Gysi (A) Steuerzahlerinnen und Steuerzahler das alles bezahlen. schlägt. Das ist das Entscheidende. Wir haben eine gute (C) Genau das ist nicht hinnehmbar. Konjunktur. Wir müssen sie retten und bewahren. Das werden wir auch tun. (Beifall bei der LINKEN) Die Bedenken sind es durchaus wert, darüber zu dis- Präsident Dr. Norbert Lammert: kutieren. Wer gestern die Rede von Bernanke gehört Ludwig Stiegler ist der nächste Redner für die SPD- bzw. gelesen hat und wer die Äußerungen von Strauss- Fraktion. Kahn vom IMF vernommen hat, weiß das. Zum ersten Mal seit 25 Jahren fordert der IMF einen Fiskalimpuls. (Beifall bei der SPD) Früher hat er immer genau das Gegenteil gesagt. Des- halb sage ich auch an die Adresse der Bundesregierung: Ludwig Stiegler (SPD): Halten wir es wie die klugen Jungfrauen, und bereiten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege wir uns auf den Tag und die Stunde vor, wo wir handeln Röttgen hat gerade vergessen, müssen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er hat vor al- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) len Dingen eine gute Rede gehalten!) Ich will keine Hektik verbreiten; das ist auch keine Steinbrück und Glos dafür zu danken, dass sie in dieser Übertreibung. Aber es muss Vorsorge getroffen werden. Krise gemeinsam wie weiland Plüsch und Plum so be- sonnen und beherzt gehandelt haben. Deshalb sage ich dies in seinem Namen an die Adresse der beiden Minis- Präsident Dr. Norbert Lammert: ter. Herr Kollege Stiegler, ich mache vorsichtshalber da- rauf aufmerksam, dass ich den Einzug mit Öllampen in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das Parlament aus Sicherheitsgründen nicht gestatten Ich denke, wir sollten froh sein, dass sie manches Tren- könnte. nende hintangestellt, die Sache gemeinsam vorange- bracht und Schaden von diesem Lande abgewendet ha- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben. Es ist leicht, demagogisch zu reden, wie es Kollege NEN]: Bravo, Herr Präsident!) Gysi getan hat. (Widerspruch bei der LINKEN) Ludwig Stiegler (SPD): Dann werden wir sie modernisieren und Elektro- Es ist aber schwer, dann im harten Alltag Schaden von lampen daraus machen. (B) den Menschen und von unserer Ökonomie abzuwenden. (D) Das ist die Hauptaufgabe, die die Politik in diesen Tagen Das Positive ist, dass es in Deutschland keine Kredit- hat. klemme gibt. Die Sparkassen und Genossenschafts- banken haben genügend Geld, um die Kreditbedürfnisse (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu befriedigen. Wir haben keine amerikanischen oder der CDU/CSU) englischen Verhältnisse. Wir haben derzeit mehr Geld, Wir haben hier wieder ein schönes Déjà-vu-Erlebnis. als gebraucht wird. Unser Bankensystem hat sich in Kri- Wir Sozialdemokraten haben in unserem Grundsatzpro- senzeiten bewährt. Was mussten wir in den letzten Jah- gramm stehen: So viel Staat wie nötig und so viel Markt ren über die Überlegenheit des angelsächsischen Sys- wie möglich. Wir haben gesehen: Wenn ein alleingelas- tems lesen! Ganze Bibliotheken sind mit Büchern sener Markt versagt, ist die internationale Staatenge- darüber gefüllt worden. Jetzt wissen wir: Das At-Arm’s- meinschaft genötigt, wieder für Recht und Ordnung zu Length-Banking hat dazu geführt, dass alle in die Grube sorgen. Die Krise ist da. Sie ist tiefgreifend und hässlich. gefallen sind. Ein gutes Banking in Zusammenarbeit mit Einlegern, Kunden und Unternehmen, das ist es, was wir Ich möchte an dieser Stelle auch den Zentralbanken auch in Zukunft in Deutschland brauchen. danken. Sie haben die Liquiditätskrise großartig gemeis- tert. Die Banken haben einander nicht mehr vertraut. Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wären an ihrem gegenseitigen Misstrauen erstickt. Sie der CDU/CSU) haben gedacht: Wenn die anderen bei ihren Papieren so einen Mist haben wie wir, können wir ihnen kein Geld Herr Röttgen, wir haben keinen Grund, die öffentli- geben. – Die Banken waren nicht in der Lage, sich selbst chen Banken schlechtzureden. Wir haben Gott sei Dank zu disziplinieren. Die Zentralbanken haben ihre die Sparkassen; die Sparkassen sind in Zeiten des Sturms „wealthy and successful asses“ gerettet. Sage mir also ein Stabilitätsfaktor in den Regionen. Man darf die keiner, der Staat habe in der Finanzindustrie nichts zu Transformationsprobleme einiger Landesbanken nicht suchen. Wir haben jetzt den Beweis dafür. hernehmen, um die öffentlichen Banken insgesamt ins Gerede zu bringen. Der öffentliche Sektor ist unsere (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rückversicherung, gerade im Zeitalter der Globalisie- In der Not flüchten alle in Staatsanleihen. In der Not sind rung. die Zentralbanken Lender of last resort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Krise in der CDU/CSU – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ der Finanzindustrie nicht auf die Realwirtschaft durch- CSU]: Die Sparkassen müssen zahlen!) 15092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Ludwig Stiegler (A) Ich stimme Ihnen zu: Diese Banken sollten nicht mit den Daran war auch die Deutsche Bank beteiligt. Es ist er- (C) großen Hunden pinkeln gehen, weil sie am Ende das staunlich, dass die Deutsche Bank in ihrer Pressekonfe- Bein nicht hochbringen. Das haben wir jetzt mehrfach renz gesagt hat: Wir waren so schlau und sind frühzeitig feststellen können. Entweder sind die Landesbanken ausgestiegen. – Gleichzeitig haben sie den Mist noch ge- Partner der Sparkassen handelt. Kann man als ordentlicher Kaufmann einem Partner Mist verkaufen? Sie sollten einmal das Protokoll (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Davon der Pressekonferenz der Deutschen Bank nachlesen und habe ich gesprochen!) überlegen, ob das so in Ordnung ist. und helfen ihnen daheim bzw. auf internationaler Ebene (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] – bei der Syndizierung von Krediten, oder sie nehmen Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber wer diese Aufgabe nicht wahr. Dann sollten sie die Gelder kauft das?) zurückgeben, und die Sparkassen erledigen das selber. – Einverstanden, es gibt den Grundsatz „caveat emptor“, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das war der Käufer soll aufpassen. Aber Betrug ist selbst unter mein Thema!) diesen Bedingungen nicht erlaubt. Wenn ich weiß, dass Der öffentliche Finanzsektor darf aber nicht nebenbei ins ich mit Mist handele, dann muss ich es auch als Mist de- Gerede gebracht werden. Das Dreisäulensystem ist für klarieren und nicht als Gold. uns eine wichtige Rückversicherung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir müssen das Hauptproblem angehen. Was ist denn der CDU/CSU und des Abg. Jürgen Koppelin die Hauptursache? Was steckt hinter all dem, was pas- [FDP]) siert ist? Das ist die Gier nach übermäßiger Rendite. Wer Bei den Banken gibt es ein schwaches Risikomanage- mehr Rendite haben will, als man realistischerweise er- ment. Da sollten sie in sich gehen. Wir haben gutgläu- warten kann, kauft diese schlimmen Produkte. Wir brau- bige Investoren, die nicht selber geprüft haben, was sie chen wieder mehr Moral und Selbstbeherrschung in der gekauft haben, sondern sich auf Triple A verlassen ha- Finanzindustrie. ben. Wir müssen mit den Ratingagenturen hadern, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten falsche Illusionen geweckt haben. Sie sollen in Zukunft der CDU/CSU und des Abg. Jürgen Koppelin für das, was sie empfehlen, haften. Hier ist Moral Ha- [FDP]) zard im Spiel. Die Ratingagenturen dürfen nicht etwas als Triple A deklarieren, was sie selber gestrickt haben Anders als diejenigen, die die Gier zu solchem Verhalten und wofür sie bezahlt worden sind; das muss in Zukunft gebracht hat, sollten wir auf dem Boden bleiben und getrennt werden. (B) nicht das ganze System infrage stellen. (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben – in den USA wie bei uns – Lehren zu zie- hen. Ich orientiere mich dabei an dem, was das Finan- Hinzu kommen die Verlockungen im Bezahlungssys- cial Stability Forum aufgezeigt hat. Verheerende Kre- tem der Beteiligten. Diese Boni-Sklaverei vieler Banker ditprüfungsstandards gibt es bei uns nicht. Wir vergeben ist eine der Ursachen dafür, dass sie moralisch schwach keine Kredite an Kreditnehmer, bei denen nur die geworden sind. Wir haben gerade im Zusammenhang Adresse stimmen muss; wir haben ordentliche Kreditbe- mit Managergehältern darüber gesprochen. Wir müssen ziehungen. Ich war froh, dass die Sparkassen gestern auch darüber reden, dass die Bezahlung in der Finanzin- auch gesagt haben, dass sie ordentliche Kredite nicht dustrie nicht dazu verleiten darf, andere zu betrügen und weiterverkaufen und dafür auch nicht mehr Geld verlan- nur auf kurzfristigen Vorteil zu achten. gen. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schauen Sie sich das bei der IKB an!) der CDU/CSU) Wir müssen Modelle entwickeln, die man durch- In den USA gab es betrügerische Praktiken. Wenn ein schauen kann. Wer heute die verschiedenen CDOs an- Institut wie das Financial Stability Forum Begriffe wie schaut, der braucht große Rechnerwerke, um die Finanz- „betrügerische Praktiken“ benutzt, dann muss das schon flusskaskaden überhaupt zu überblicken. Wir müssen gewaltig gewesen sein. Ich denke, man wird mit den dafür sorgen – national, international und europäisch –, Amerikanern reden müssen, wieso es unter Aufsicht der dass in der Branche wieder nach Regeln gespielt wird. Fed und Tausender von Agenturen zu diesen betrü- Erst dann wird das Vertrauen zurückkehren. Kredit gerischen Praktiken – Drückerkolonnen wurden in ir- kommt von Vertrauen. Wenn das Vertrauen fort ist, dann gendwelche Gegenden geschickt und haben Kredite bricht alles zusammen. Zum Vertrauen gehören klare verkauft – kommen konnte und wie das in Zukunft ver- Regeln, eine strenge Aufsicht, aber auch die Beherr- hindert werden kann, aber auch darüber, wer für den schung der Gier. Schaden geradesteht. Ich denke, man sollte nicht einfach An Warnungen hat es in den letzten Jahren nicht ge- sagen, dass wir das hinnehmen. Diejenigen, die Mist in fehlt. Aber sie sind international nicht befolgt worden. Goldpapier verpackt und ihn als werthaltig verkauft ha- Es ist lächerlich, allein auf ein paar deutsche Institute, ben, müssen zur Verantwortung gezogen werden. auf ein privates Institut, die IKB, einzuprügeln. Wenn (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ich in die Schweiz, nach Frankreich oder nach England CDU/CSU) schaue, dann stelle ich fest: Unter vielen anderen Sün- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15093

Ludwig Stiegler (A) dern befindet sich auch ein deutscher. Dieses Problem Sie haben mit irgendwelchen feuilletonistischen Aussa- (C) müssen wir bewältigen. Ein Stück weit haben wir das gen herumgeeiert, ohne wirklich konkret zu werden. bereits getan, indem wir gesagt haben: Wir wollen nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tausende von anderen schädigen. Der Finanzminister sowie bei Abgeordneten der LINKEN) hat diese Angelegenheit ordentlich gemanagt. Wir dür- fen die Finanzmärkte in Zukunft nicht der Gier überlas- Herr Finanzminister, als Sie Ihre Regierungserklärung sen, sondern wir müssen hier eine ordentliche Arbeit abgegeben haben, hatte ich das Gefühl: Da redet jemand, machen. der für irgendeine große Tageszeitung die internationa- len Finanzmärkte analysiert; er stellt hier und da eine Gerade was die IKB betrifft, stelle ich mir so manche kleine These auf, und der Text, den er vorträgt, wirkt Frage. Die Ackermänner und die Müller von den priva- rund. Ich habe nicht den Eindruck gehabt: Hier redet ten Banken rühmen sich in Pressekonferenzen ihrer gro- jemand, der als Finanzminister der Bundesrepublik ßen Gewinne. Wenn es aber um die Rettung einer priva- Deutschland, auch als Chef der Finanzaufsicht die Ver- ten Bank geht, dann sagen sie, wie die Schwaben es antwortung für das hat, was am Finanzmarkt in Deutsch- ausdrücken: Wir habbet nix, wir gebbet nix, wir hän land geschehen ist. schon gegebbe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Koppelin [FDP]) der FDP) Auch das ist kein Verhalten, das sich hier zur Nach- Herr Steinbrück, außerdem hatte ich den Eindruck: Je ahmung empfiehlt. länger Sie reden, je schneller Sie reden, je witziger Sie in Wir haben eine schwere Krise. Mit Jammerei und Be- Ihrer Ironie reden, desto mehr entziehen Sie sich dieser schuldigungen kommen wir da nicht heraus. Wenn die Verantwortung. Sie glauben wohl, Sie könnten dieses Feuerwehrleute darüber diskutieren, wer am Brand Parlament mit Ihrer Analyse in den entscheidenden Fra- schuld ist, dann ist ein warmer Abbruch die Folge. Wir gen täuschen: Was haben Sie eigentlich falsch gemacht? haben jetzt miteinander diese Krise zu bewältigen und Hätten Sie etwas anders machen müssen? An welchen Schaden von der Realwirtschaft abzuwenden. Punkten hat dieser Finanzminister versagt? (Dr. [DIE LINKE]: Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist ihre eigene Verantwortung!) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir haben uns darauf vorzubereiten, dass die Krise nicht Die erste Warnung vor den Subprime-Krediten und (B) anhält. Das ist unsere Aufgabe, die wir gemeinsam erfül- (D) len werden. vor der amerikanischen Immobilienkrise hat der IWF im Dezember 2005 schriftlich – also für alle lesbar – ausge- (Zurufe von der LINKEN) sprochen; ich erspare Ihnen jetzt das entsprechende Zi- – Sie können weiterhin am Wegesrand quengeln. Das ist tat. Im Dezember 2005 wurde klargemacht: Es sind in Ihre Rolle; das ist okay. Dafür braucht man nicht viel den Vereinigten Staaten viele ungesicherte Kredite un- Hirnschmalz. Wir werden uns anstrengen, das Notwen- terwegs; die internationale Finanzgemeinschaft möge dige zu tun. damit vorsichtig umgehen. Jetzt stelle ich mir die Frage: Was macht eigentlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Finanzminister, der dies liest? Im Aufsichtsrat der der CDU/CSU) IKB sitzt ein Abteilungsleiter seines Ministeriums. Der Finanzminister weiß zudem, dass Landesbanken – sein Präsident Dr. Norbert Lammert: Ministerium ist für sie nicht zuständig; dennoch ist er Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun von den Steuereinnahmen der Länder abhängig – in die- der Kollege Fritz Kuhn das Wort. sen Bereichen spekulieren. Das war kein Geheimnis; das steht ja auch in den Geschäftsberichten. Herr Solms hat Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): es richtig gelesen. Ich frage noch einmal: Was macht ei- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gentlich dieser Finanzminister? Herr Steinbrück, haben Kollegen! Herr Stiegler, ich fand übrigens nicht, dass Sie Ihre Mitarbeiter, die dem Kontrollorgan der IKB an- Herr Gysi unverantwortlich dahergeredet hat. gehören, aufgefordert, festzustellen, inwiefern Sub- prime-Kredite Spekulationsgegenstand der IKB sind? (Ludwig Stiegler [SPD]: Lesen Sie das noch Haben Sie dies als Mitverantwortlicher für dieses Geld- mal nach!) institut getan, ja oder nein? Sehr verehrter Herr Steinbrück, darüber hätten Sie hier einmal reden müssen. Er hat eine analytisch präzise Aussage gemacht: Wenn die kleinen Leute Mist bauen, dann werden sie zur Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chenschaft gezogen; wenn eine große private Bank plei- sowie bei Abgeordneten der FDP und der tegeht, dann hilft der Staat aus. – Das war kein Populis- LINKEN) mus, sondern eine Analyse. Der Chef von Eon, Herr Dr. Hartmann, ist der Vorsit- (Ludwig Stiegler [SPD]: Wir haben ein Pro- zende des Aufsichtsrats der IKB. Hat er genug Zeit, um blem zu lösen!) diese private Bank effektiv kontrollieren zu können, 15094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Fritz Kuhn (A) oder nicht? Da frage ich mich: Wann reden wir hier ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) mal über die Aufsichtsratsstrukturen? sowie des Abg. Dr. Hermann Otto Solms [FDP]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Jetzt möchte ich noch etwas zur Verantwortung der Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Länder und zu den Landesbanken sagen. Bei mir hat es geraschelt, als der Ramsauer Peter am Dienstag dieser Wir fordern seit langem: Es sollten nicht mehr als fünf Woche gesagt hat: Wenn es nach ihm ginge, dann gäbe Aufsichtsratsmandate pro Person erlaubt sein. Außer- es schon lange einen Untersuchungsausschuss. dem sollten Aufsichtsratsmitglieder die notwendige Zeit und Kompetenz haben, um sich mit den Details zu be- (Dr. [CDU/CSU]: Stimmt schäftigen. Herr Steinbrück, hierfür sind Sie verantwort- überhaupt nicht! Das nehmen Sie zurück! Zi- lich. tieren Sie doch richtig! Sie verfälschen! Wenn Sie das sagen, dann sind Sie ein Fälscher!) (Peer Steinbrück, Bundesminister: Nein! Da- für bin ich nicht verantwortlich!) Ich habe mir gleich gedacht: Wenn der Ramsauer Peter so daherredet, dann will er nur von der Bayerischen Lan- – Selbstverständlich haben Sie hier eine Verantwortung. desbank ablenken. Ich wünsche mir einen Finanzminister, der darauf achtet, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass in Deutschland keine unerträglichen Risiken vor- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – handen sind, für deren Beseitigung im Zweifel der Staat Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie Fälscher einspringen muss. und Verleumder!) Reden wir doch einmal konkret über die IKB. Bisher – Jetzt schreien Sie. Es ist immer ein gutes Zeichen, sind dort 7,6 Milliarden Euro verbraten worden. Obwohl wenn Herr Ramsauer schreit; denn dann ist er getroffen. der Anteil des Bundes an der IKB nur 38 Prozent be- trägt, hat er davon indirekt über die KfW schon (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie fälschen 6 Milliarden Euro übernommen. Dabei ist die IKB eine und verleumden!) private Bank; viele wissen das nicht. Ich frage mich: Was ist da geschehen? Die „schlaue“ CSU wollte die Was ist mit den privaten Banken? Wo ist ihr Beitrag? Veröffentlichung des Ergebnisses der Bayerischen Lan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desbank am liebsten auf die Zeit nach der Kommunal- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten wahl hinauszögern. der FDP) (B) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) Das Erste, was ich von Ihnen verlange, Herr Minister, NEN]: Ja, genau! So war es!) ist, dass Sie durchsetzen, dass die privaten Banken einen Das hat aber – Gott sei Dank! – nicht funktioniert, weil höheren Anteil erbringen, wenn die IKB gerettet werden die Finanzmärkte in solchen Situationen etwas kritischer soll. An dieser Stelle möchte ich festhalten: Es ist rich- sind. tig, dass die IKB gerettet wird. Würde man das nicht tun, würden viele, die gar nichts dafür können, darunter lei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den. des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Zweitens. Da sich der Bund über die KfW mit jetzt Zu Ihrem Parteivorsitzenden kann man nur sagen: noch einmal 1 Milliarde Euro – vielleicht wird dieser Entweder ist er verlogen, oder er ist einfach dumm. Betrag sogar noch höher – an der Beseitigung des ent- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ standenen Schadens beteiligt, würde mich interessieren: CSU) Können Sie diesem Hohen Hause eigentlich garantieren, dass es das dann war? Oder ist in der nächsten Woche Denn als Finanzminister von Bayern ist er unter anderem oder in drei Wochen die nächste Milliarde fällig? Sie für die Aufsicht der Bayerischen Landesbank zuständig. müssen ausschließen, dass sich das wiederholt. Sonst Er muss wirklich von Tuten und Blasen keine Ahnung stellt sich die Frage: Wie viel Geld stecken wir in dieses gehabt haben; er wusste nicht, was bei diesem Geldinsti- Kartenhaus noch hinein? Das wäre nicht zu verantwor- tut los war. ten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE] – sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie erzählen ja den gleichen Blödsinn wie Ihre Kollegen Herr Finanzminister, Ihre Darstellung, was auf inter- von den Grünen im Bayerischen Landtag!) nationaler Ebene, zum Beispiel im Rahmen der G 7, zu – Herr Ramsauer, Sie können es sich aussuchen: dumm tun ist, war schön. Sie haben viele Vorschläge aufge- oder verlogen. Es liegt an Ihnen, die bessere Alternative führt, die wir schon einmal gemacht haben. Indem Sie zu wählen. diese Debatte führen, lenken Sie aber davon ab, dass die Bundesregierung und ganz speziell Sie als Finanzminis- Ich komme zum Schluss. Wir haben viele kluge Vor- ter Verantwortung für das tragen, was in diesem Sektor schläge dazu gehört, wie man auf internationaler Ebene geschieht. vorgehen sollte. Die Bundesregierung hat sich ihrer Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15095

Fritz Kuhn (A) antwortung aber nicht gestellt. Das werden wir, die Op- Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine Alter- (C) position – ich glaube, hier sind sich alle drei Opposi- native. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern neue An- tionsfraktionen einig –, Ihnen nicht durchgehen lassen. lage- und Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet, und sie Sie sind für das, was geschehen ist, mitverantwortlich. hat zur Risikostreuung beigetragen. Zugleich hat sie das Dieser Verantwortung müssen Sie sich stellen. Bereiten Sortiment an Finanzprodukten so komplex gemacht, Sie sich auf intensive Debatten in den nächsten Wochen dass Bankmanager und Aufsichtsbehörden gleicherma- vor! ßen den Überblick verloren haben. Genau hier gilt es an- zusetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen Wir haben erfahren: Es gibt Finanzprodukte, bei de- Koppelin [FDP]) nen niemand weiß, was sich eigentlich darin befindet. Wir haben erfahren: Es gibt anscheinend Bankvorstände, Präsident Dr. Norbert Lammert: die mit solchen Produkten in großem Umfang arbeiten Ich erteile das Wort dem Kollegen Eduard Oswald für und sich nur auf die Bewertung der Ratingagenturen die CDU/CSU-Fraktion. verlassen. Das kann doch nicht wahr sein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Eduard Oswald (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir So entstehen die Probleme, die wir haben. debattieren heute im deutschen Parlament die Finanz- Aus all dem, was wir bisher erfahren haben – mögli- marktentwicklung und die Finanzmarktkrise. Wir wür- cherweise werden wir in den kommenden Wochen und den allerdings einen großen Fehler machen, wenn wir Monaten noch mehr erfahren –, ziehe ich folgende diese Diskussion so führen würden, als handele es sich Schlüsse: dabei vor allem um ein deutsches Problem. Schließlich hat diese Krise ihren Ausgang an den US-Immobilien- Erstens. Das, was wir gerade erleben – die Aus- märkten genommen. Es wäre wünschenswert gewesen, wüchse, die ich eben skizziert habe –, darf sich so nicht wenn die amerikanische Finanzaufsicht der wundersa- wiederholen. men Geldvermehrung, die uns auf dem Wege der Ver- Zweitens. Alle Finanzmarktteilnehmer, Banken und briefung und des weltweiten Verkaufs strukturierter Fi- Aufsicht haben den Ratings eine viel zu entscheidende nanzprodukte erreicht hat, nicht so lange zugeschaut Rolle zugeteilt. Anstatt Risiken selber vernünftig einzu- hätte. schätzen, haben sich die Marktteilnehmer fast blind auf (B) (D) Ich sage ein Zweites: Risikofreude bei Unternehmen die Ratings verlassen, oft sogar ohne die gerateten Pro- und Investoren darf, ja soll sich lohnen. Wenn aber risi- dukte selbst zu verstehen. kofreudige Investoren stets damit rechnen können, dass Ein Sachverständiger hat in unserer Anhörung zur sie bei Turbulenzen von der Politik aus der Risikohaf- Rolle der Ratingagenturen in dieser Woche festgestellt: tung ausgelöst werden, dann ist dies eine Quelle von In- Ratingagenturen haben in großem Stil bei der Vorher- stabilität. sage der Finanzkrise versagt. Es ist ihnen nur beschränkt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gelungen, Investoren frühzeitig vor Fehlentwicklungen neten der SPD) zu warnen. Sie sind damit in der aktuellen Krise den ih- nen zugedachten Aufgaben nicht ausreichend gerecht Die bisherige Diskussion zeigt: Für die Zukunft müs- geworden. – Damit ist alles gesagt. sen die nationalen und internationalen Regeln neu jus- tiert werden. Wir sollten uns bei dieser Debatte darüber Gleichwohl sind die Ratingagenturen in der aktuellen im Klaren sein, dass man Turbulenzen nie gänzlich wird Finanzkrise nicht die Schuldigen. Sie haben sie nicht verhindern können. Dies wäre nur um den Preis einer ausgelöst; sie haben sie aber befördert. Nach dem, was Strangulierung der Finanzmärkte möglich. Diese könn- wir wissen, bleibt für mich festzustellen: Ratingagentu- ten dann aber nicht mehr ihrer zentralen Aufgabe nach- ren und Ratings wurden von Banken und Investoren kommen, nämlich der Bereitstellung von Investitionska- überschätzt. Zu Beginn der 90er-Jahre gab es die Forde- pital für die Weltwirtschaft. Es gilt daher, die nationalen rung, die Europäer sollten ein eigenes, europäisch ge- und internationalen Aufsichtsregeln mit den von den prägtes Ratingsystem entwickeln. Leider scheiterte der Marktteilnehmern eingegangenen Risiken in eine bes- Versuch damals an zu unterschiedlichen Interessen. Wir sere Balance zu bringen. sollten die derzeitige Umbruchphase nutzen, um einen neuen Anlauf zu unternehmen. Möglicherweise könnten Es ist richtig, wenn wir angesichts der gegenwärtigen Banken, Versicherer und/oder die EZB unterstützend Situation einen kühlen Kopf behalten und genau überle- wirken. gen, anstatt uns zu Maßnahmen hinreißen zu lassen. Wir brauchen eine Diskussion über die Fragen: Wie viel Drittens. Wir müssen uns überlegen, ob wir genug ge- Freiheit der Märkte wollen und brauchen wir, und wel- tan haben, um zu verhindern, dass Kreditinstitute in gro- che systemischen Risiken sind mit dieser Freiheit ver- ßem Stil Geschäfte außerhalb ihrer Bilanzen, ohne die bunden? Ab wann produziert die Jagd der Finanzmarkt- erforderliche Transparenz und Aufsicht, durchführen teilnehmer nach Spitzenrenditen Auswüchse, die der können. Ich halte nichts davon, in diesem Zusammen- Realwirtschaft mehr schaden als nützen? Ich stelle fest: hang von der Notwendigkeit eines Basel III zu sprechen. 15096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Eduard Oswald (A) Man muss erst einmal Basel II ordentlich anwenden. Ein Unternehmer in meiner bayerischen Heimat, der (C) Aber wir müssen darüber nachdenken, ob die Siche- im Bankgeschäft tätig ist, hat in diesen Tagen gesagt: rungsmechanismen, die wir mit Basel II in nationales Aber das Bankgeschäft bleibt immer auch eine Recht umgesetzt haben und die seit Beginn dieses Jahres Dienstleistung. Es geht nie allein um den eigenen gelten, ausreichen. In anderen Bereichen, zum Beispiel Vorteil, sondern um einen Dienst und eine Leistung im Bilanzrecht, sind weitere gesetzliche Konsequenzen für einen anderen, und daraus entsteht der kostbare bereits in Vorbereitung; der Finanzminister hat darauf Wert des Vertrauens. hingewiesen. Wir müssen uns hier gemeinsam wünschen, dass die Viertens. Das Wort „Transparenz“ wird in den Dis- Banken das verlorene Vertrauen wiederherstellen; denn kussionen natürlich stark strapaziert. Wir müssen aber Vertrauen ist nicht nur die Grundlage für die Finanzge- genauer definieren, was wir darunter eigentlich verste- schäfte, sondern auch für unser Wirtschaftssystem insge- hen. Es reicht nicht, allein das Wort zu sagen. Für mich samt. Wenn das Vertrauen in die Finanzmärkte in unse- gilt es, Transparenz stärker zu adressieren. rem Land nicht vorhanden ist, dann gibt es auch kein (Beifall bei der CDU/CSU) Vertrauen in unser Wirtschaftssystem der sozialen Marktwirtschaft, das wir aber benötigen, weil es dazu Fünftens. Die internationale Zusammenarbeit der keine brauchbare und vernünftige Alternative gibt. Aufsichtsbehörden muss weiter verbessert werden; das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist für mich ganz klar. Ich stelle eindeutig fest: Die Ban- kenaufsicht in Deutschland hat nicht versagt. Sie ist nicht dazu da, die Geschäftspolitiken der Marktteilneh- Präsident Dr. Norbert Lammert: mer zu bewerten. Ich sage auch: Wir haben in der Bun- Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler für desrepublik Deutschland keine Systemkrise, sondern wir die FDP-Fraktion. haben ein stabiles Drei-Säulen-Modell. Auch Ludwig (Beifall bei der FDP) Stiegler hat gerade darauf hingewiesen. Ich sehe in die- sem Bereich also kein Versagen. Dass die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Aufsicht verbessert Frank Schäffler (FDP): werden muss, ist in den ganzen Diskussionen aber un- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und missverständlich klar geworden. Herren! Spätestens seit dieser Woche müsste eigentlich allen klar sein: Die IKB ist eine Staatsbank, für deren Für mich heißt das keinesfalls, dass ich eine einheitli- Wirken die Bundesregierung unmittelbar Verantwor- che europäische Aufsichtsbehörde befürworte. Ganz im tung trägt. (B) Gegenteil: Entsprechende Ideen auf europäischer Ebene, (D) (Ludwig Stiegler [SPD]: Das kann nur einem etwa die Lamfalussy-Gremien zu stärken, weisen uns liberalen Hirn einfallen!) nicht den richtigen Weg. Dabei hat diese Bundesregierung unendlich versagt, (Beifall bei der CDU/CSU) nicht nur im Risikomanagement, sondern auch im Kri- Meine Damen und Herren, wir reden in diesen Wo- senmanagement; wir erleben es tagtäglich. chen viel über Subprime, über Bankenkrise und über Fi- Ingrid Matthäus-Maier hat am 14. Juli 2007 erklärt, nanzmärkte. Weitaus direkter betrifft die Krise jedoch die IKB sei für die KfW im Mittelstandsgeschäft ein die Menschen in den eigenen vier Wänden, die ihre Ra- wichtiges Ohr am Markt. ten nicht bezahlen können und denen eine Zwangsver- steigerung ihrer Häuser droht. Dies erleben wir in den (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genauso!) USA zurzeit in großem Ausmaß. Gott sei Dank können Wenige Tage später hat der Markt sie eingeholt. Die wir sagen: nicht in Deutschland. Dies ist kein Zufall. Bundesregierung hat die notwendige Sorgfalt bei der Hier gibt es keine Immobilienpreisblase. Hier gibt es Kontrolle der IKB vermissen lassen. Banken, Sparkassen und Bausparkassen, die in Überein- stimmung mit ihren Kunden seit jeher auf die Karte (Beifall bei der FDP) Sicherheit setzten. Festzinskultur, ausreichender Eigen- Herr Solms hat auf die Rolle des Abteilungsleiters im kapitaleinsatz, solider Blick auf die Einkommensverhält- Finanzministerium hingewiesen. Es hat schon ein Ge- nisse und Bausparverträge, so lauten die Stichworte für schmäckle, wenn der zuständige Abteilungsleiter für die diese Sicherheit. Das ist beruhigend. Finanzmarktaufsicht gleichzeitig im Aufsichtsrat einer (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. privaten Bank sitzt und stellvertretender Verwaltungsrat- Ludwig Stiegler [SPD]) vorsitzender der BaFin ist. Wenn das kein Geschmäckle hat, dann frage ich mich, was heutzutage noch ein Ge- Aber nicht nur das. Es sollte uns auch Selbstbewusst- schmäckle hat. Das stinkt zum Himmel. sein für die Debatten geben, die wir in Europa führen, (Beifall bei der FDP) nicht zuletzt für die Debatte über die Bewältigung der aktuellen Finanzkrise. Diese Sicherheit wollen wir uns Ein KfW-Vorstand ist Vorsitzender des Finanz- und Prü- bewahren. Das sage ich auch mit Blick auf das Weiß- fungsausschusses des IKB-Aufsichtsrates und soll jetzt buch der Europäischen Kommission zum Hypothekar- für seine gute Leistung auch noch Aufsichtsratsvorsit- kredit. zender werden. Sie als Regierung halten den Corporate Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15097

Frank Schäffler (A) Governance Kodex ständig hoch, halten sich in Ihren für, dass Sie bei jeder neuen Runde dabei sind und die (C) eigenen Unternehmen aber nicht daran. Bemerkenswert anderen sich zurückziehen. ist die Begründung, wieso im Falle der IKB zum Bei- spiel keine Selbstbeteiligung an der Haftpflichtversiche- Außerdem haben Sie die Dimension völlig unter- rung für den Vorstand und den Aufsichtsrat für notwen- schätzt. Die geschassten Vorstände haben bis Ende des dig erachtet wurde, wie es im Kodex ausdrücklich Jahres noch ihr Gehalt erhalten, eine fristlose Kündigung vorgesehen ist. Ich zitiere aus dem Geschäftsbericht ist nicht erfolgt, und die Gratifikationen in sechs- und 2005: siebenstelliger Höhe aus dem Vorjahr sind in diesem Jahr noch ausgezahlt worden. Erst jetzt ist der Aussichts- Wir sind unverändert der Auffassung, dass die Ver- rat eingeschritten. Da frage ich mich: Ist das ein Indiz einbarung eines Selbstbehalts nicht geeignet ist, die dafür, dass der Aufsichtsrat, also auch das Finanzminis- Motivation und das Verantwortungsbewusstsein zu terium, über das Engagement und über die Risiken, die verbessern. die IKB eingegangen ist, tatsächlich unterrichtet war? Dann heißt es von der Regierung, Sie seien vom Vor- Außerdem haben Sie nichts aus der Finanzkrise ge- stand getäuscht und über die Risiken nicht informiert lernt. Wir haben seit Anfang dieses Jahres die IPEX- worden. Auch dazu ist ein nochmaliger Blick in den Ge- Bank ausgegliedert, unter dem Dach der KfW, und man schäftsbericht 2006/2007 sinnvoll: könnte meinen, bei der Besetzung der Aufsichtsräte ach- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) tete man jetzt ein bisschen mehr auf Qualität. Nichts ist geschehen: Sie haben Ihren Staatssekretär in den Auf- In dem Posten „Andere Verpflichtungen“ sind Kre- sichtsrat geschickt, ditzusagen über insgesamt 11,9 Milliarden Euro Gegenwert an Spezialgesellschaften enthalten, die (Bundesminister Peer Steinbrück: Na und?) nur im Falle kurzfristiger Liquiditätsengpässe bzw. der Wirtschaftsminister hat seinen Staatssekretär in den vertraglich definierter Kreditausfallereignisse von Aufsichtsrat geschickt. Man muss da nur hoffen, dass diesen in Anspruch genommen werden können. künftig nichts passiert, sondern tatsächlich nur Risiken Genau das ist passiert. eingegangen werden, die im Zweifel den Steuerzahler nicht weiter belasten. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau!) Aus meiner Sicht hätten Sie die IPEX-Bank an dieser Es war eine bewusste Entscheidung der IKB, in den US- Stelle verkaufen sollen. Es wäre sicherlich falsch gewe- Immobilienmarkt zu investieren, und über die Verant- sen, Steuergelder aus dem Verkauf der IPEX-Bank für wortung hierfür, darüber, wer diese Entscheidung getrof- die Rettung der IKB einzusetzen, aber ich glaube, Sie (B) fen hat, haben Sie, Herr Finanzminister, hier in diesem hätten ordnungspolitisch damit eine richtige Entschei- (D) Haus heute nichts gesagt. dung getroffen, denn Sie hätten die Flanke auf dieser (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie Seite beseitigt. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Der Skandal setzt sich letzte Woche fort. Der Wirt- DIE GRÜNEN) schaftsminister und der Finanzminister stellten sich am Zu Hause haben Sie die Mittelstandsbank IKB als Mit- Mittwoch vor die Kamera und verkündeten eine weitere telstandsfinanzierer verkauft; tatsächlich war es ein Stützung des Bundes in Höhe von 1 Milliarde Euro. Ges- schlecht geführter Hedgefonds, der internationale Spe- tern wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass Sie die kulationsgeschäfte gemacht hat. Das ist der eigentliche Öffentlichkeit nicht richtig informiert haben. Tatsächlich Skandal. werden weitere 700 Millionen Euro fließen, die Sie von einem künftigen Verkaufserlös abziehen wollen. Sie ha- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ben damit einen ungedeckten Scheck auf die Zukunft der LINKEN) ausgestellt und das Parlament – das haben Sie heute Wenn wir heute zum Krisenmanagement kommen, Morgen auch gemacht – wissentlich falsch informiert. dann müssen Sie sich auch für das verantworten, was Sie Unser Fazit: Sie haben schon heute dem Bund ein im letzten Dreivierteljahr hier in Deutschland gemacht Verlustrisiko von weit mehr als 6 Milliarden Euro hin- haben. Es war der Kardinalfehler am Anfang, dass Sie terlassen. Das entspricht der Lohn- und Einkommen- über die außerbilanzielle Zweckgesellschaft Rhineland steuer von 4 Millionen Familien mit einem Durch- Funding von Beginn an eine Liquiditätszusage ge- schnittseinkommen von 30 000 Euro brutto oder – wir macht haben, ohne andere Beteiligte mit ins Boot zu diskutieren viel über Kindergelderhöhung – 30 Euro nehmen. Es war ein Kardinalfehler, dass Sie bis heute mehr Kindergeld in diesem Land. 80 Prozent der Lasten bei der IKB übernehmen, obwohl wir nur 38 Prozent der Anteile halten. Darin liegt Ihre ei- gentliche Verantwortung. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit. (Beifall bei der FDP) Die privaten Banken und die anderen Marktteilnehmer Frank Schäffler (FDP): sagen inzwischen, der Staat werde das schon richten. Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Dass Frau Diese Ihre Verantwortung müssen Sie tatsächlich tragen, Matthäus-Maier – wie ich gestern in der Presse lesen und diese Konstellation ist auch die Voraussetzung da- musste – dann im Krisengespräch eine Verlängerung 15098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Frank Schäffler (A) ihres Vertrages als KfW-Chefin angesprochen hat, hätten sich wegen ihrer Amerikahörigkeit in dem Ge- (C) schlägt das dem Fass den Boden aus. Herr Minister, räu- schäft besonders engagiert. men Sie endlich in Ihrem Laden auf! (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]): Die europäi- Vielen Dank. schen, nicht nur die deutschen!) (Beifall bei der FDP) Diese Analyse erscheint mir zu stark verkürzt. Sie er- klärt auch nicht, warum nicht etwa die öffentlich-rechtli- Präsident Dr. Norbert Lammert: chen Banken in Deutschland und die IKB am stärksten von der Subprime-Krise betroffen sind, sondern die Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPD- amerikanischen Großbanken und damit diejenigen, die Fraktion. am besten Bescheid wissen, wie Kapitalmärkte funktio- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nieren. Insofern trifft das so nicht zu. Erstaunlich ist auch, dass zum Beispiel die UBS, Ortwin Runde (SPD): Merrill Lynch und Morgan Stanley mit Summen im Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und zweistelligen Milliardenbereich betroffen sind. Insofern Herren! Herr Solms, Sie haben vorhin Ihre Rolle defi- muss man vorsichtig sein, Herr Solms, die IKB-Krise als niert und gesagt, dass Sie sich als Opposition nicht mit singulären Akt völlig unabhängig von kritischen Bewe- der Finanzmarktkrise in den Vereinigten Staaten befas- gungen an den Finanzmärkten zu betrachten. sen müssten; Ihnen geht es vielmehr darum, der Regie- Ich meine, die Krise bei der IKB ist nicht von irgend- rung eins zu verpulen. Angesichts der Dimension und welchen Laienspielgruppen bei mittelgroßen deutschen der Auswirkungen dieser Krise müssen Sie sich aber fra- Banken im öffentlichen oder privaten Bereich verursacht gen lassen: Verstehen Sie Ihre Rolle da richtig? Wäre es worden. Dies ist vielmehr eine Krise, die in dieser Tiefe angesichts dieser Finanzmarktkrise nicht angebracht, nur Profis haben anrichten können. einmal selbstkritisch die Position der FDP in der Vergan- genheit zum Thema Finanzmärkte zu reflektieren? (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich finde es bezeichnend, dass ein Vorstand einer großen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – deutschen Privatbank sagt: Ich habe auf das Triple A der Ludwig Stiegler [SPD]: Totale Deregulie- Ratingagenturen vertraut. Warum soll ich mir weitere rung!) Gedanken machen? Dazu kann ich nur sagen: Hier ist natürlich etwas verloren gegangen. Nur die Banken sind Welche Stellung haben Sie zum Thema Hedgefonds nicht betroffen, deren Bankvorstände – diese sind für das (D) (B) bezogen? Welche Stellung haben Sie zum Thema REITs operative Geschäft und die Ausrichtung der Geschäfts- bezogen, bei dem es darum geht, Wohnungen an die felder von entscheidender Bedeutung – gesagt haben: Börse zu bringen und dort zum Handelsobjekt zu ma- Ich handele nur mit Sachen, deren Risiken ich selbst chen? Stellen wir uns vor, welche Auswirkungen es in überschauen kann. Ich habe Bankvorstände erlebt, die solchen Finanzmarktkrisen für die Bevölkerung gehabt gesagt haben: Obwohl uns alle unsere Investmentbanker hätte, wenn das Realität geworden wäre. geraten haben, uns auf Derivate und Subprime-Pakete (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf einzulassen, haben wir das nicht getan. Diese Vorstände von der FDP: Kommen Sie mal zum Thema fühlen sich heute bestätigt. zurück! Haben Sie dazu nichts zu sagen?) Warum es zu einer Vertrauenskrise im gesamten Weitere Beispiele sind die Private-Equity-Beteiligungs- Bankensektor gekommen ist, haben wir in der Anhörung gesellschaften und das Risikobegrenzungsgesetz. Wel- erfahren: Die Geschäfte sind inzwischen so komplex, che Positionen haben Sie dazu vertreten? Wo haben Sie dass sie keiner mehr überblickt. Die Ratingagenturen ha- gewirkt? Haben Sie zur Verminderung der Risiken an ben bei Eintritt der Krise gesagt: Auch Bankvorstände den Finanzmärkten beigetragen, oder ist das inhärent in müssen genauso wie ein Patient, der ein Rezept einlöst, dem, was Sie vertreten? auf die Nebenwirkungen und das Kleingedruckte achten. Ein gutes Rating wie Triple A bedeutet noch lange nicht, (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Zum dass es wirtschaftlich gut geht. Diese Zusammenhänge Thema!) müssen wir sehen. – Damit sind wir exakt beim Thema. Herr Schäffler, Sie haben gefragt, welches die Auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gabe eines Finanzministers in dieser Zeit ist. Herr der LINKEN) Röttgen hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir es mit den Auswirkungen globaler Finanzmärkte zu tun Herr Gysi, Sie haben völlig zu Recht darauf hinge- haben. Wenn sich der deutsche Finanzminister als Ver- wiesen, dass die Subprime-Krise der Ausgangspunkt treter einer der größten Volkswirtschaften nicht um Re- war. Die Amerikaner haben fröhlich ihren Mist – wie gelwerke der internationalen Finanzmärkte kümmerte, Ludwig Stiegler es ebenfalls zu Recht nannte – in die hätte er seine Aufgabe verfehlt. Er hat aber auf dem Gip- Märkte geschickt. Aber Ihre weitere Analyse verrät nicht fel in Heiligendamm – das haben Sie bereits erwähnt – sonderlich viel wirtschaftlichen Sachverstand. Sie haben Anstöße gegeben und gesagt: Wenn ihr mit ganz gerin- gesagt, die öffentlich-rechtlichen Banken in Deutschland gem Eigenkapital so große Räder dreht, gefährdet dies Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15099

Ortwin Runde (A) das System der internationalen Finanzmärkte. Das ist der Ortwin Runde (SPD): (C) richtige Ansatz. Ein letzter Satz, Herr Präsident. – Die entscheidende Frage haben Sie alle nicht beantwortet. (Beifall bei der SPD) (Frank Schäffler [FDP]: Sie auch nicht!) Wenn man sich anschaut, welche Räder sowohl bei den Hedgefonds als auch bei den Private-Equity-Fonds Wie würden Sie bei der IKB vorgehen? und in den Zweckgesellschaften gedreht werden, dann (Frank Schäffler [FDP]: Habe ich gesagt!) muss man feststellen: Darum müssen wir uns kümmern. Es verwundert mich allerdings, dass parallel zu Basel II Würden Sie sie in Insolvenz gehen lassen, oder würden – hier haben wir uns infolge der letzten Finanzmarkt- auch Sie sie wegen der Auswirkungen auf die Finanz- krise um eine bessere Eigenkapitalunterlegung von märkte stabilisieren? Das ist die entscheidende Frage. Bankgeschäften gekümmert – der regulierte Bankensek- (Frank Schäffler [FDP]: Nicht 80 Prozent, tor fröhlich Auswege in Form von Zweckgesellschaften sondern 38 Prozent!) sucht. Dass ich mir einen größeren Anteil und ein anderes (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) Engagement der Privatbanken wünschen würde, ist rich- tig, aber diese Frage müssen Sie beantworten. Das bedeutet, dass fast alle Banken neben dem eigent- lichen Bankgeschäft Glücksräder aufgebaut und darauf Schönen Dank. vertraut haben, dass ihnen das Glück ewig hold ist. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten funktioniert im Bankenbereich aber ganz offenkundig der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE nicht. GRÜNEN) In einer Situation, in der die Märkte im Finanzsektor zum großen Teil zusammengebrochen sind und Ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: trauen nur durch eine Liquiditätsversorgung der Zentral- Ich erlaube mir den gut gemeinten Hinweis, dass es banken, von der EZB bis hin zur Fed, geschaffen werden für die Bewirtschaftung der knappen Redezeiten außer- konnte, ist es unsere Aufgabe, die Stabilität der ordentlich hilfreich ist, die entscheidenden Fragen nicht Finanzmärkte auf Dauer sicherzustellen. Dabei sind nach Ablauf der gewährten Zeit zu stellen, sondern mög- Aspekte der globalen, der europäischen und der nationa- lichst gleich zu Beginn. Dann kann man sie noch in vol- len Ebene zu berücksichtigen. Auch auf der nationalen ler Schönheit entfalten. Ebene gibt es viel zu tun. Kredite müssen ein Gesicht ha- Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Gerhard (B) ben. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, wer (D) Kreditgeber ist. Das gilt nicht nur für gut bediente Kre- Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. dite, sondern auch dann, wenn jemand aufgrund von Brüchen in seiner Biografie wie Arbeitslosigkeit vo- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rübergehend in Schwierigkeiten gerät. Dann dürfen diese NEN): Kredite nicht an irgendwelche Kreditverwerter ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kauft werden, sondern dann muss er mit seiner Spar- Dann will ich genau das tun, was Sie, Herr Präsident, an- kasse darüber reden können. Deswegen ist das System, mahnen, nämlich die zentralen Fragen in den Mittel- das wir haben, das Dreisäulensystem, etwas Verteidi- punkt stellen, und zwar gleich am Anfang der Rede. Ich genswertes und Stabilisierendes. glaube, das tut auch not, nachdem einige Beiträge aus den Koalitionsfraktionen relativ wolkig blieben. Herr (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Oswald hat darüber gesprochen, dass die Banken wieder Dass wir eine neue Aufgabenbestimmung der Landes- Vertrauen herstellen sollen, banken nach den Veränderungen, die die Privatbanken (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Stimmt auch!) in Brüssel erzwungen haben, vornehmen müssen, ist richtig. Aber ich glaube, auch die haben jetzt gelernt. In Herr Stiegler hat Moralappelle an die Banken gerichtet. Sachsen haben sie gelernt, in Bayern und in anderen (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Auch nicht Ländern. Auch ich habe meine Erfahrung als Aufsichts- falsch!) ratsvorsitzender einer Landesbank, die ein bestimmtes Geschäftsfeld hatte. Wir sind nicht so darin verwickelt. Sagen Sie einmal, was ist denn eigentlich die Aufgabe Das ist aber nach meiner Zeit, und ich übernehme keine der Politik, und was ist die Aufgabe eines Parlaments? Verantwortung für die Geschäfte, die jetzt dort gemacht Es ist doch nicht die Aufgabe, leere Appelle zu richten, werden. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die Appelle sind nicht leer! Das waren inhaltsreiche Ap- Ich glaube, die Aufgabe des Finanzministers der Bun- pelle!) desrepublik Deutschland ist in der Tat auch, auf Regel- werke Einfluss zu nehmen. Allein mit Schuldzuweisun- sondern es ist die Aufgabe, die notwendigen Hausaufga- gen bei der IKB kommen wir nicht weiter. ben, die in Deutschland zu machen sind, jetzt endlich an- zugehen. Dazu möchte ich von Ihnen Antworten hören. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege Runde. sowie bei Abgeordneten der FDP) 15100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Gerhard Schick (A) Sie können sich doch nicht um die Beantwortung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) entscheidenden Fragen drücken. Erste Frage: Wie geht sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von es mit der Finanzaufsicht in Deutschland weiter? Sie der FDP: Der Staat ist ein schlechter Banker!) überlassen es der BaFin und der Bundesbank, die sich seit Monaten und Jahren beharken, sich zu einigen. Es Wollen Sie denn wirklich die Zukunft des öffentli- läge in der Verantwortung der Regierung, aus Anlass chen Bankensektors den Sargnägeln dieses Banken- dieser Krise, in der einige Sachen falsch gelaufen sind, sektors, den CDU- bzw. CSU-Ministerpräsidenten, über- diesen Prozess selber zu gestalten, eine Neugestaltung lassen? Lassen Sie sich doch einmal auf der Zunge der Aufsicht durchzuführen und die Fragen, die sich aus zergehen, was von der Union in diesem Bereich in den der Krise ergeben – sie sind schon angeklungen –, wirk- letzten Jahren geleistet worden ist: Landowsky in Berlin, lich zu beantworten. Milbradt in Sachsen, Rüttgers bei der West-LB und jetzt das Chaos unter Herrn Huber in Bayern. Das ist doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Katastrophe. und bei der FDP) Der Finanzminister lehnt sich locker zurück und gibt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keine Antwort auf die heutige Frage, was die Zukunft Wir erwarten vom deutschen Finanzminister, dass er der deutschen Finanzaufsicht ist. die Initiative ergreift, um den öffentlichen Bankensektor (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Deutschland zu stützen und ihm eine Zukunfts- und bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Un- perspektive zu eröffnen, dass er die Konsolidierung vo- sinn!) rantreibt und ein solides Geschäftsmodell errichtet. Aber dazu haben Sie nichts gesagt. Sie verweigern die Mode- Ich komme zur zweiten Frage. Die Bundesanstalt für ratorenrolle, die Sie dringend einnehmen müssten. Finanzdienstleistungsaufsicht hat ungefähr 1 600 Mit- arbeiter, die KfW ungefähr 3 800 Mitarbeiter. Das sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwei große Institutionen unter dem Dach des Bundes- und bei der FDP – Bundesminister Peer finanzministeriums, von dem wir jetzt wissen, dass es Steinbrück: Das sind Landesparlamente! Das viele Probleme in diesem Bereich überhaupt nicht gese- ist Landesgesetzgebung) hen hat. Herr Steinbrück hat gesagt, die Experten hätten die Lage nicht richtig eingeschätzt. Ja, aber auch die Ex- – Ja, aber wenn diese Landesparlamente und Landes- perten des Finanzministeriums haben die Lage nicht regierungen miteinander verhandeln sollen, dann wird richtig eingeschätzt. nur etwas Gutes dabei herauskommen, wenn man die (B) Egoismen – die Sicherung der einzelnen Minifinanz- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN plätze, die überhaupt nicht gelingen kann – überwindet und bei der FDP) und eine gemeinsame Antwort für Deutschland findet. Herr Steinbrück hat davon gesprochen, dass es Inkompe- Anders wird es nicht gehen, Herr Steinbrück. tenzen bei Bankmanagern gegeben habe. Da fragen wir uns natürlich: Ist es für die Zukunft machbar, mit einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hand voll Leuten zu überprüfen, was die Finanzaufsicht Herr Runde, Sie haben die ganze Zeit über die großen und die KfW in Deutschland tun? Ich meine: Nein. internationalen Dinge gesprochen. Sie haben ja recht: Sie müssen hier einmal erläutern, wie Ihr Ministerium Wir müssen auch über das Internationale sprechen. das in Zukunft überwachen will. Zu diesen Fragen haben Dann muss man sich einmal die Frage stellen, ob es ei- wir heute Antworten von Ihnen erwartet. Die kamen gentlich sinnvoll ist, dass Produkte fünfmal hin- und her- aber nicht. geschoben werden – Stichwort „Repackaging“ –, sodass am Schluss niemand mehr den Inhalt kennt. Ich erinnere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an die gestrige Debatte über eine Mehrwertsteuerermäßi- sowie bei Abgeordneten der FDP) gung für Produkte für Kinder. Wir haben gesagt: Es darf Dritte Frage: Wie sieht die Zukunft des öffentlichen keine Ausnahmen geben. – Wenn Sie auch die Verant- Bankensektors in Deutschland aus? In Sachsen stellen wortung für den internationalen Bereich – einen Finanz- wir ein dramatisches Versagen der Politik beim Control- markt, der immer mehr Produkte hin- und herschiebt – ling der Landesbank fest. Es gibt kein Geschäftsmodell, wahrnehmen wollen und das Internationale in den Vor- und es entstehen hohe Lasten für die Steuerzahler in dergrund rücken, dann stellt sich schon die Frage, wa- Sachsen. Wir erleben, dass Herr Rüttgers und Herr rum aus der deutschen Bundesregierung keine Initiative Oettinger im CDU-Präsidium aus irgendwelchen politi- in Richtung Devisenumsatzsteuer, Finanztransaktions- schen Gründen nicht miteinander können und deswegen steuer – das hat die österreichische Bundesregierung sinnvolle Verhandlungen um die Zukunft der Landes- vorgeschlagen – kommt. Ich erwarte auch auf diese bank nicht möglich sind. Wir erleben weiter, dass ein Frage eine Antwort von der deutschen Bundesregierung. CSU-Vorsitzender und Finanzminister in Bayern nicht Diese werden wir als Grüne in Zukunft einfordern. Wir weiß, welche Rolle man im Verwaltungsrat einer öffent- haben in unserem Antrag einige Vorschläge gemacht. lichen Bank hat. Wie antwortet also die Bundesregierung Folgen Sie ihnen! auf die Frage: Wie geht es im öffentlichen Bankensektor weiter? Danke schön. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15101

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: All die Prüfungsgesellschaften mit klingenden Namen, (C) Nun erhält der Kollege Otto Bernhardt das Wort für die nicht nur intensiv geprüft haben, die CDU/CSU-Fraktion. (Ludwig Stiegler [SPD]: Sondern auch bestä- (Beifall bei der CDU/CSU) tigt haben!) sondern auch hohe Rechnungen gestellt haben, haben es Otto Bernhardt (CDU/CSU): nicht gemerkt. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mit den Ursachen, dem Ausmaß und der Ich muss an dieser Stelle ebenfalls, auch wenn ich die Verantwortung für diese Krise beginnen. Zu den Ursa- beiden Institutionen schätze, die Bundesbank und die chen: Wir haben gehört – das ist richtig –, es handelt sich Bankenaufsicht nennen. Heute wissen sie genau, um um bonitätsmäßig schlechte Immobilienkredite, die ver- welche Papiere es sich handelt und wie schlecht und brieft, gemischt – man nennt das „strukturiert“ – und schwach die sind. Deshalb warne ich davor, mit der dann von anderen Banken gekauft wurden. Die Größen- Schuldzuweisung so ganz schnell zu sein. ordnung liegt irgendwo bei 1,5 Billionen Euro. Das ent- Was die Organisation der Bankenaufsicht anbe- spricht den Gesamtschulden der öffentlichen Hand in trifft, Herr Kollege Dr. Schick: Es gibt eine klare Rege- Deutschland. lung im Gesetz. Darin steht: Die beiden sollen sich eini- Der Abschreibungsbedarf, das hat sich am Wochen- gen. Wenn sie sich nicht einigen, muss der Minister tätig ende in Tokio gezeigt, liegt zurzeit bei etwa 275 Milliar- werden. Das war übrigens 2003 bei der Gründung der den Euro. Ich sage bewusst „zurzeit“, denn der Wert die- BaFin der Fall. Damals wurden sie sich nicht einig. Da ser Papiere wird jeden Tag neu festgelegt. Insofern kann gab es einen Erlass. Ich bin froh, dass sie sich jetzt geei- heute auch noch niemand sagen: Wir wissen schon ganz nigt haben. Damit ist der Minister nicht mehr am Zug. genau, wie groß der Schaden ist. – Zum überwiegenden Die gesetzliche Anforderung ist erfüllt. Sie haben sich Teil handelt es sich Gott sei Dank noch um Buchver- geeinigt. Ich bin die Richtlinie ziemlich genau durchge- luste, die nur abgeschrieben werden. Was das wirklich gangen und darf sagen: Sie haben sich auf einer vernünf- bringt, wissen wir nicht. tigen Basis geeinigt. Nach den Informationen, die heute vorliegen, liegen (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE auf jeden Fall Papiere im Wert von über 100 Milliarden GRÜNEN]: Das glaube ich nicht!) Euro bei deutschen Banken. Dementsprechend haben Die Arbeitsteilung ist jetzt deutlich klarer. wir zurzeit einen Abschreibungsbedarf, der irgendwo bei 20 Milliarden Euro liegt. Herr Minister, dann kann man In diesem Zusammenhang gibt es natürlich weitere (B) auch ausrechnen, wie hoch die Steuerausfälle sind: Fragen, so zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Be- (D) 39 Prozent, es geht noch um das Jahr 2007. Das heißt, reichs. Ich sage in großer Bescheidenheit, die gar nicht sie liegen irgendwo bei 8 Milliarden Euro. eine meiner Stärken ist: Wir dürfen uns hier nur mit un- serem Bereich auseinandersetzen. Für das Thema Lan- Jetzt kommt das Problem mit den Verantwortlichen. desbanken sind wir nicht zuständig. Ich persönlich habe Wenn man von einer Sache viel versteht, ist es schwie- die klare Vorstellung: Landesbanken, Sparkassen, das ist rig; dann kann man sich dem Thema wirklich nur sehr ausschließlich Ländersache. Wir haben genug Probleme differenziert zuwenden. Es gibt mindestens sechs Gre- bei uns. Lassen wir das die Länder machen! Dort ist Lö- mien oder Institutionen, die die Probleme nicht erkannt sungsbedarf. haben, deren Vertreter heute aber tolle Reden halten. (Frank Schäffler [FDP]: Reden wir mal über Natürlich liegt die Hauptverantwortung bei den Vor- die KfW!) ständen der Banken; das ist völlig klar. Aber auch die Aufsichtsgremien der Banken haben Wir haben nur ein Problem, und das ist die KfW. Das es nicht gemerkt. Ich finde es nicht fair, wenn hier im- ist eine Bank, die wir brauchen; darüber sind wir alle uns mer darauf hingewiesen wird, dass der Wirtschaftsminis- im Klaren. Sie hat etwas gemacht, wozu mit Recht ge- ter und der Finanzminister zum Beispiel im Aufsichts- sagt worden ist: Es war sogar die Empfehlung eines gremium der KfW sitzen. Alle Fraktionen sind dort Ministers, dass sie sich da beteiligen soll. Ich sage hier vertreten. Auch Herr Lafontaine sitzt in diesem Gre- sehr deutlich: Natürlich ist die IKB rechtlich gesehen mium. Man muss das ganz nüchtern wissen. eine Privatbank, aber faktisch – das zeigt nun mal die Diskussion – ist sie schon eine ziemlich öffentlich-recht- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Er hat liche Bank. solche Entscheidungen aber nicht mit getrof- fen!) Ich sage genauso deutlich: Ich bin froh, dass man am Mittwoch eine Lösung gefunden hat, einen Weg, um die Auch die Aufsichtsgremien haben es also nicht gemerkt. Bank zu retten. Bedenken Sie die Auswirkungen, wenn sie in die Insolvenz gegangen wäre! Wir hätten heute Viel schlimmer ist das jedoch bei den Ratingagen- eine ganz andere Diskussion. Beide, Finanz- und Wirt- turen, die hier schon angesprochen worden sind. Was da schaftsminister, wären gescholten worden. Man kann passiert ist, ist eine Katastrophe. nicht in Euro ausrechnen, was die Insolvenz kosten (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Ja, schiebt es würde. Ich verweise nur auf die hier genannten nur auf andere!) 24 Milliarden Euro Einlagen bei der Bank. Die würden 15102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Otto Bernhardt (A) mit einer Konkursquote bedient. Wie hoch die wäre, Jörg-Otto Spiller (SPD): (C) wenn man erst einmal die Papiere abgewickelt hätte – – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ich warne Neugierige! Herren! Wir führen heute keine Debatte über eine ein- zelne private Geschäftsbank, sondern wir führen eine Vor dem Hintergrund bin ich enttäuscht – ich ver- Debatte über die internationale Finanzmarktlage und mute, Sie, Herr Minister, sind es auch –, dass von den über ihre Auswirkungen auf Deutschland. rund 7 Milliarden Euro, die bisher eingesetzt wurden, über 80 Prozent von der KfW, vom öffentlichen Bereich, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig! aufgebracht worden sind, während der andere Bereich Das ist das Thema!) nur knapp 20 Prozent beigesteuert hat. Ich sage sehr deutlich: Das ist zu wenig. Das finde ich nicht so toll. Ich sage sehr freimütig: Wenn es nicht den Hinter- grund dieser Finanzmarktkrise gäbe, wäre natürlich die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Frage, ob man eine einzelne Bank stützen muss, ganz an- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ders zu beurteilen. NEN) (Zuruf von der LINKEN: Sie stützen ja nicht Die Insolvenz wäre nämlich eine katastrophale Entwick- nur eine Bank! Sachsen LB!) lung für den Einlagensicherungsfonds; die Bank gehört Da wäre sicher auch die schon ordnungspolitisch nahe- zum privaten Einlagensicherungsfonds. liegende Frage zu prüfen gewesen, ob man nicht besser Ich glaube, ich spreche im Namen zumindest der bei- eine geregelte Abwicklung der IKB vornimmt. Das hätte den großen Fraktionen, wenn ich sage: Eine solche Ak- natürlich bedeutet, dass der Einlagensicherungsfonds tion wie bei der IKB darf nicht Schule machen. Es wird des Bundesverbandes deutscher Banken, das heißt der befürchtet, dass jetzt die Ministerpräsidenten hier anrei- privaten Geschäftsbanken, heftig hätte bluten müssen. sen usw. Um es klar zu sagen: Wir sind nur für das hier Das wäre aber durchaus eine ernst zu nehmende Alterna- zuständig. Das ist ein einmaliger Fall. tive gewesen. Ich gehöre aber nicht zu denen, die behaupten: Das Angesichts der Situation, in der wir uns heute befin- Problem ist endgültig gelöst; da kommt nichts mehr. – den, kann ich für meine Fraktion nur sagen: Wir haben Das kann man bei der Bewertungsproblematik wirklich Respekt vor dem, nicht sagen. Wer dies von der Regierung fordert, der for- (Frank Schäffler [FDP]: Das kann man so und dert etwas, was sie heute nicht bringen kann. Deswegen so interpretieren!) ist die Aussage des Ministers richtig: Wir haben noch ein (B) schwieriges Jahr vor uns, aber wir hoffen, das war sozu- was der Bundesfinanzminister und der Bundeswirt- (D) sagen der letzte Akt. schaftsminister in dieser Woche zur Stabilisierung der Bank in die Wege geleitet haben. Ich teile die Auffas- Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, abschlie- sung des Kollegen Bernhardt, dass die private Seite noch ßend Folgendes sagen: Schnellschüsse sind populär; das ein bisschen mehr bringen könnte. Aber die Grundent- weiß ich. Ich glaube aber, es ist richtig, wie die Regie- scheidung war in der jetzigen Situation erforderlich. rung vorgeht: zunächst ausführlich zu analysieren und das Ganze insbesondere – der Kollege Röttgen hat schon (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten darauf hingewiesen – im internationalen Bereich abzu- der CDU/CSU) klären. Wir können das Thema nicht isoliert betrachten. Ich teile ausdrücklich den Respekt, den mehrere hier Wer das glaubt, der hat noch nicht begriffen, was Globa- schon gegenüber den Maßnahmen geäußert haben, die lisierung bedeutet. Deshalb müssen wir eines tun: klar- der Bundesfinanzminister ja nicht erst in den letzten Wo- machen, dass Deutschland diese Krise ab kann. Unser chen, sondern schon das ganze Jahr 2007 über unternom- Banken- und Wirtschaftssystem ist stabil genug; wir men hat, um auf internationaler Ebene – auf europäischer können sie ab. Natürlich würde es uns noch besser ge- Ebene wie auf der Ebene der G 7 bzw. der G 8 – für eine hen, wenn es die Krise nicht gäbe; denn sie kostet viel Stabilisierung der Finanzmärkte und für eine Verbes- Geld. serung ihrer Transparenz zu sorgen. Es gibt also keinen Anlass zur Panik – wir lösen die Wir haben im Finanzausschuss des Bundestages am Krise –, aber natürlich auch keinen Anlass zur Verharm- Mittwoch ein Fachgespräch über und mit Ratingagen- losung. Wir brauchen jetzt ein Stück Gelassenheit und turen geführt. Das war aufseiten der Ratingagenturen ein Stück Internationalität. Im Rahmen der G-7-Staaten – alle großen waren vertreten – nicht gerade von über- werden wir dieses Problem gemeinsam lösen. mäßigen Selbstzweifeln geprägt. Sie legten eher ein Herzlichen Dank. dreistes Selbstbewusstsein an den Tag. Das kam in ihrer Kernaussage zum Ausdruck, sie hätten alles richtig ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie macht. Bedauerlicherweise hätten die Banker sie aber des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) missverstanden; denn die hätten eine Triple-A-Note für ein Gütesiegel gehalten. So sei das aber nicht gemeint Vizepräsident Dr. h. c. : gewesen. Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol- (Dr. h. c. [CDU/CSU]: legen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort. Triple A ist aber Triple A!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15103

Jörg-Otto Spiller (A) Das ist eine neue Erkenntnis. Das haben die Ratingagen- tungsaufsicht. Beide haben ein hohes Maß an Kenntnis; (C) turen bisher nicht so deutlich gesagt, dass man ihnen im das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Da ist viel Grunde genommen nicht glauben sollte bzw. ihre Aussa- Expertise. Aber die Instrumente müssen offenbar verbes- gen zumindest nicht überbewerten sollte. sert werden, damit diese hochkarätigen Fachleute auch handeln können. Wir dürfen jetzt nicht, sozusagen aus (Beifall des Abg. Dieter Grasedieck [SPD]) der Defensive heraus, so tun, als hätten sie alles richtig Auch Folgendes ist in dem Gespräch von mehreren gemacht. Nein, es gibt einen Bedarf, die Bankenaufsicht Seiten herausgearbeitet worden: Erstens ist es notwen- zu stärken, und es gibt einen Bedarf, die Verantwortung dig, dass Bankvorstände selbst versuchen, zu verste- von Wirtschaftsprüfern zu stärken und möglicherweise hen, welche Finanzprodukte sie kaufen oder vielleicht auch Haftungsansprüche zu präzisieren. Das werden wir sogar verkaufen wollen. Das Zweite ist: Wenn sie sich uns vornehmen müssen. bei der Bewertung eines schwer durchschaubaren Pro- duktes durch Ratingagenturen unterstützen lassen wol- Die letzten Wochen und Monate waren oft mit Feuer- len, dann dürfen sie sich nicht mit einer simplen Note wehraktionen belastet. Wenn das Haus lichterloh brennt, begnügen, sondern müssen nachfragen. Dann müssen muss man löschen. Aber die Hauptaufgabe von Feuer- die Ratingagenturen genau sagen, was sie untersucht und wehren ist nicht der gelegentliche Löscheinsatz, sondern eingeschätzt haben und worauf sich ihre Bewertung be- der Brandschutz, zieht. (Ortwin Runde [SPD]: Vorbeugung!) Das alles ist keine wirklich neue Erkenntnis. Die der vorbeugende Brandschutz. Es muss darauf hingewie- Bundesbank hat in den letzten Jahren jedes Jahr einen sen werden: Wenn eine Bank meint, sie müsste im Hei- – wie ich finde, gut lesbaren – sogenannten Finanzsta- zungskeller Nitroglycerin und auf dem Dachboden Ben- bilitätsbericht vorgelegt. Sie hat sich seit 2005 beson- zin lagern, dann muss man ihr sagen, dass das nicht geht. ders mit der Frage der Wirkung von Kreditveräußerun- gen, Derivaten und Verbriefungen befasst. Ein Derivat (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ist – das ist wie in der Mathematik – eine Ableitung, aber nicht unbedingt die erste, sondern manchmal schon die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zweite, dritte, vierte oder fünfte. Wenn es fünf Ableitun- Ich schließe die Aussprache. gen geben kann, muss das Produkt sehr kompliziert sein. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Die Bundesbank hat darauf hingewiesen, dass die ur- den Drucksachen 16/7531 und 16/7191 an die in der Ta- sprüngliche Vorstellung war, die Risiken zu mindern; gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (B) (Ortwin Runde [SPD]: Richtig!) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann (D) sind die Überweisungen so beschlossen. auch durch Kreditveräußerungen, durch die Bildung von Paketen könne man eine Risikostreuung erreichen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: und nebenbei mehr Spielraum für neue, angemessene Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Kreditfinanzierungen der Unternehmen schaffen. Das gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform klang alles sehr plausibel. Aber schon vor drei, vier Jah- des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts ren hat die Bundesbank zu Recht darauf hingewiesen, (Erbschaftsteuerreformgesetz – ErbStRG) dass das nur funktioniert, wenn die Produkte nicht zu komplex sind und wenn die Bankvorstände, die Ent- – Drucksache 16/7918 – scheidungsträger, wissen, worüber sie entscheiden. Überweisungsvorschlag: (Frank Schäffler [FDP]: Das hätte das Finanz- Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss ministerium mal lesen müssen!) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Das Finanzministerium, lieber Herr Kollege Schäffler, Verbraucherschutz ist nicht zuständig für Entscheidungen von Bankvorstän- den. Sie haben hier eine für mich sehr verblüffende Ar- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für gumentation gebracht, die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (Frank Schäffler [FDP]: Immer für eine Über- raschung gut!) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- minister der Finanzen, Peer Steinbrück, das Wort. als wäre der Staat für alles oder manchmal eben auch für gar nichts zuständig. Das ist nicht wirklich überzeugend. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist ein Großkampftag für den Finanzminister! Er ist Was müssen wir jetzt tun? Da folge ich dem, was der heute schwer im Einsatz!) Kollege Bernhardt, aber auch der Kollege Schick gesagt hat: Wir müssen uns fragen, welche Aufgaben und wel- che Möglichkeiten der Staat hat. Natürlich betrifft das in Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: erster Linie die beiden Behörden in Deutschland, die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sich um die Bankenaufsicht kümmern: die Bundesbank, ren! Es gäbe noch viel zu sagen zu einigen Bemerkungen die für die laufende Kontrolle der Institute zuständig ist, aus der vorhergehenden Debatte, die dadurch gekenn- und die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleis- zeichnet waren, dass sie sehr selektiv und sehr undiffe- 15104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) renziert waren und nicht die ganze Bandbreite wider- Eindruck, dass die Kritiker dieses Gesetzentwurfs insbe- (C) spiegelten, wie es erforderlich gewesen wäre. sondere mit Blick auf die zukünftige Bewertung von Vermögensbeständen nicht richtig zur Kenntnis genom- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es gibt auch mal men haben, dass diese Bewertungsmaßnahmen nicht auf andere Auffassungen als die des Bundes- irgendeine politische Initiative von einigen, die sich da- finanzministers!) bei vergaloppieren, zurückgehen, sondern auf ein Urteil Das gilt insbesondere mit Blick auf die Situation der des Bundesverfassungsgerichts. IKB. Es bekümmert mich sehr, dass ich nicht die Mög- lichkeit habe, auf die entsprechenden Bemerkungen zu Das heißt: Wenn einige Erben nicht in den Genuss der replizieren. Aber dies ist nicht der Ort dafür. Es wird im Vergünstigungen kommen, wie es das Gesetz generell be- Haushalts- und im Finanzausschuss möglich sein. absichtigt – das wird sicher Gegenstand der Kritik sein –, dann liegt dies daran, dass hohe Immobilienstände ge- Erlauben Sie mir an dieser Stelle trotzdem, dass ich halten werden, die einer neuen Bewertung zugeführt für einen Mitarbeiter meines Hauses Partei ergreife. Ich werden. Diese neue Bewertung geht aber, wie gesagt, werde es nicht dulden, dass in diesem Haus ein Abtei- nicht etwa zurück auf eine Initiative der Koch/ lungsleiter meines Hauses aufgrund seiner Funktion im Steinbrück-Arbeitsgruppe oder derjenigen, die in der Aufsichtsrat der IKB auf diese Weise angegriffen wird. Koalitionsarbeitsgruppe zugearbeitet haben, sondern auf Das halte ich schlicht und einfach für unanständig. Wenn das Bundesverfassungsgericht. Ich wäre dankbar, wenn Sie sich jemanden vorknöpfen wollen, dann bin ich es, in den anschließenden Debatten dies deutlich gemacht aber nicht der Abteilungsleiter meines Hauses. werden könnte. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Da hat er recht! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Der Entwurf macht darüber hinaus auch von einer vom Wir haben Sie ja auch angegriffen!) Bundesverfassungsgericht, aufbauend auf eine gleichmä- ßige Vermögensbewertung, eröffneten Möglichkeit Ge- – Greifen Sie dann bitte alle an! Greifen Sie auch Ihnen brauch, „bei Vorliegen ausreichender Gemeinwohlgründe“ nahestehende Leute an! Greifen Sie einen Aufsichtsrats- normenklare steuerliche Verschonungsregelungen für vorsitzenden und einen ehemaligen Vorstandsvorsitzen- den Erwerb bestimmter Vermögensgegenstände steuer- den an, der mit diesen Geschäften begonnen hat! Knöp- rechtlich folgerichtig auszugestalten. Dies ist die Öff- fen Sie sich aber nicht meinen Abteilungsleiter vor, nur nung dafür, dass wir ein Steuerprivileg verteilen. Das weil er im Aufsichtsrat sitzt. steht am Anfang jeder Debatte. Diese Erbschaftsteuerno- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sie sind ge- velle gibt ein Steuerprivileg. Das hat es bisher so nicht meint und nicht Ihr Abteilungsleiter!) gegeben. Denn 85 Prozent des vererbten betrieblichen (B) Vermögens werden nach einer Stundung von zehn Jah- (D) – Das ist mir bei Ihnen schon klar. Aber es war unanstän- ren steuerfrei gestellt. Das ist der erste Satz, bevor wir dig, wie Herr Schäffler in seinen Ausführungen auf die uns dann vielleicht über Details zu unterhalten haben Rolle des Abteilungsleiters meines Hauses eingegangen und einige sagen: Damit und hiermit bin ich nicht zufrie- ist. den. Der erste Satz ist: Es findet zum ersten Mal in (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist der letzte Deutschland im Rahmen der Vererbung von Betriebsver- Tagesordnungspunkt wieder eröffnet, Herr mögen eine Steuerbefreiung von pauschal 85 Prozent Präsident? Dann würden wir uns noch mal statt. melden!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – – Sie erlauben mir, dass ich meinen Spielraum wahr- Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und darauf nehme. sind Sie auch noch stolz!) Das Thema dieser Debatte ist aber ein anderes. Bei mancher Kritik, die die Protagonisten der Arbeits- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gruppe erfahren haben, war der Reflex nicht so ganz NEN]: Ja, das Thema ist ein anderes!) fernliegend, noch ein bisschen mehr zu fordern. Ich stelle den Kritikern die Frage, ob sie es bei dem jetzigen Ein altes schlesisches Sprichwort lautet: Eine halbe Erbschaftsteuerrecht belassen wollen. Nun weiß ich, Stunde gut erben ist besser als fünf Jahre arbeiten. Mit dass dies ein gefährlicher Satz ist; denn das Bundesver- dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Reform des Erb- fassungsgericht hat deutlich gemacht: Wenn man sich schaftsteuer- und Bewertungsrechts wird Erben in bis Ende dieses Jahres nicht einigt, dann passiert mit der Deutschland nicht nur günstiger, sondern auch wieder Erbschaftsteuer dasselbe wie mit der Vermögensteuer. verfassungskonform. Darüber hinaus sichert die Reform Aber angesichts der fundamentalen, aus meiner Sicht den Ländern – nicht dem Bund – stabile Erbschaftsteu- manchmal völlig überzeichneten und sehr stark von par- ereinnahmen auf dem heutigen Niveau, sich dann dyna- tikularen Interessen gekennzeichneten Kritik, die eine misch entwickelnd, von 4 Milliarden Euro. Art pauschalen Verriss des vorliegenden Entwurfes bein- Dieser Entwurf setzt nicht nur die Vorgabe des Bun- haltete, hat es mir in den Fingern gejuckt, zu sagen: desverfassungsgerichtes um, wonach sich die Bewer- Wenn das so ist, Herr Förster, dann legen wir das Reh tung des anfallenden Vermögens künftig in allen wieder auf die Lichtung; dann bleibt es so, wie es ist. Fällen am sogenannten allgemeinen Wert, also am Ver- Dann werden wir es nicht mit einer pauschalen Steuerbe- kehrswert, orientieren muss. Ich habe gelegentlich den freiung von Betriebsvermögen zu tun haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15105

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Deshalb bitte ich, in richtiger Reihenfolge zunächst noch so weit, dass wir versucht haben, diese Abgrenzung (C) einmal festzustellen, dass der Entwurf der Bundesregie- herzustellen, um die Möglichkeit der Verschiebebahn- rung, zurückgehend auf eine Bund-Länder-Arbeits- höfe zu beseitigen, von denen Sie, auch soweit Sie Kriti- gruppe der Koalitionsparteien, eine Begünstigung in ker sind, doch wissen. Denn Sie werden nicht erwarten Gang setzt, die es so vorher nicht gegeben hat. Das sage können, dass der Gesetzgeber, Sie, auf der Basis eines ich in aller Ernsthaftigkeit. Vorschlages der Bundesregierung Tür und Tor dazu öffnet, dass Sie, ich und andere gewisse Teile ihres Pri- Ich sage zweitens, dass ein solches Steuerprivileg vatvermögens fröhlich in das Betriebsvermögen ver- kein Selbstzweck ist. Ein solches Steuerprivileg kann schieben, in der klaren Erwartung, dass dann eine Steu- nicht einfach so gewährt werden. erfreistellung erfolgt. (Ortwin Runde [SPD]: Nach Verfassungs- Das übereinstimmende Ergebnis aller Teilnehmer die- recht!) ser Koalitionsarbeitsgruppe – mit viel Sachverstand auch – Genau; das Stichwort ist richtig. – Dann verhält man aus den Ländern – war: Das Unbürokratischste, was wir sich nämlich gleichheitswidrig gegenüber denjenigen, machen können, ist: Wir nehmen umgekehrt einfach ei- die nicht in den Genuss eines solchen Steuerprivilegs nen Pauschalsatz, den wir abziehen, bzw. wir nehmen kommen. Das sind all diejenigen, die privat vererben 85 Prozent und sagen: Hier kümmern wir uns gar nicht oder erben. Das heißt, diesem Steuerprivileg muss eine mehr um die Abgrenzung von produktivem Vermögen Gegenleistung zugrunde liegen. Die Gegenleistung zu gegenüber privatem Vermögen und beseitigen damit die- dieser Steuerprivilegierung rechtfertigt sich daraus, dass sen leidigen bürokratischen Aufwand. All denjenigen, die zu vererbenden Betriebe erhalten werden – in weiten die sagen: „Wir wollen wieder eine Freistellung zu Teilen auch mit Blick auf die Beschäftigung. Das heißt, 100 Prozent“, antworte ich: Sie handeln sich damit auto- diejenigen, die dieses Steuerprivileg in Anspruch neh- matisch Abgrenzungsprobleme bezüglich der Verschie- men wollen, müssen wissen, dass sie eine Gegenleistung bemöglichkeiten im Hinblick auf das private Vermögen zu erbringen haben, und zwar eine nachvollziehbare und und das Betriebsvermögen ein. belegbare, damit wir nicht wieder in einen Verfassungs- Der zentrale Grundgedanke des Entwurfes, den wir konflikt hineingeraten. vorgelegt haben, lautet: generationsübergreifende (Beifall bei der SPD) Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass einerseits die Weiter- gabe der weitaus meisten Erbschaften – ich wiederhole Das sage ich besonders an die Adresse derjenigen in es: bei 75 Prozent der Vererbung von betrieblichem Ver- Industrie, Wirtschaft und auch in Lobbyverbänden – sie mögen wird man mit der Erbschaftsteuer nichts mehr zu machen ja viel Lärm –, die unwissend oder bewusst mei- tun haben – nicht über Gebühr belastet wird. Anderer- (B) (D) nen, über die Bedingungen und die Ausgestaltung dieses seits wollen wir, dass höchste Vermögen und Vermö- Steuerprivilegs könne man quasi verhandeln oder feil- gensübertragungen insbesondere außerhalb des engen schen wie auf dem Markt – das kann man nicht –, nach Familienumfeldes einen höheren Beitrag zum Steuerauf- dem Motto: Darf es vielleicht ein etwas höherer Freibe- kommen leisten und damit zur Gegenfinanzierung bei- trag oder eine etwas geringere Behaltefrist im Hinblick tragen. Diese Logik spiegelt sich in diesem Gesetzent- auf das steuerbegünstigte Vermögen sein? wurf, wie ich finde, wider. Vielleicht wird freundlicherweise auch zur Kenntnis Ich weiß, dass einige sagen: Schafft doch die Erb- genommen, dass der Reformentwurf neben dieser Ver- schaftsteuer ab. Sie verweisen auf andere europäische schonung von pauschal 85 Prozent insbesondere für Länder, fügen aber nicht hinzu, wie die Steuersysteme kleine und mittlere Unternehmen einen gleitenden dieser Länder insgesamt aussehen. Das heißt, sie betrei- Abzugsbetrag von 150 000 Euro vorsieht. Das bedeutet, ben Kirschenpflücken. dass im Ergebnis ein Betriebsvermögen bis zu einem Gesamtwert von 1 Million Euro unbesteuert bleibt. Dies (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das machen Sie wiederum bedeutet, dass deutlich mehr als drei Viertel doch nicht anders!) aller Unternehmen in Deutschland mit der Erbschaft- Sie suchen sich aus anderen europäischen Steuersyste- steuer zukünftig nichts mehr zu tun haben werden. Ich men nur das heraus, was mit Blick auf ihre Partialinte- wiederhole: drei Viertel aller Unternehmen in Deutsch- ressenlage das Günstigste ist. Das kann ich auch. Neh- land! Wenn wir dies an den Anfang stellen könnten, men wir das Beispiel Schweden: Schweden hat keine dann würde sich die Diskussion vielleicht etwas mehr Erbschaftsteuer. Ich kann Sie ja mal fragen, ob Sie im versachlichen. Dies sage ich mit Blick auf eine Kritik, Gegenzug die schwedischen Einkommensteuersätze bei der man den Eindruck hat, man müsste sich fast über zahlen möchten. Das können wir uns ja mal überlegen. das Ergebnis der Koalitionsarbeitsgruppe unter der Lei- Ich kann Ihnen sagen: Verglichen mit den Ländern, in tung von Herrn Koch und mir schämen. denen es eine Erbschaftsteuer gibt, ist das deutsche Erb- Wenn im Übrigen einige fragen: „Warum nicht eine schaftsteuersystem mit das günstigste in Europa. Ver- 100-prozentige Freistellung, also nicht nur eine 85-pro- gleichen Sie es mit dem englischen oder dem französi- zentige pauschale Freistellung?“, dann liegen dem, dass schen Erbschaftsteuersystem. Das heißt: Die Vergleiche, wir so nicht vorgehen können, die sehr großen Schwie- die mir, der Bundesregierung und der Arbeitsgruppe der rigkeiten einer Abgrenzung zwischen Privatvermögen Koalition entgegengehalten werden, zeugen von einem und produktivem Vermögen zugrunde, wie viele von ziemlichen Tunnelblick. Es wird nur das gesehen, was Ihnen wissen. Im ersten Regierungsentwurf waren wir gerade passt, und was nicht passt, wird nicht in die Ana- 15106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Bundesminister Peer Steinbrück (A) lyse der Gesamtsituation, mit der wir es gerade zu tun verwaltung hinausgeht, gegeben. Wir haben die 50-Pro- (C) haben, einbezogen. zent-Grenze und die Lohnsummenregelung – 70 Prozent – sehr genau definiert. Im Ergebnis werden nicht mehr Steuerpflichtige als bisher mit der Erbschaftsteuer belastet. Anders ausge- Das heißt – ich möchte an dieser Stelle auch für die drückt – ich beziehe mich jetzt nicht nur auf das betrieb- SPD und nicht nur als Bundesfinanzminister sprechen –: liche, sondern auf jedwedes Vermögen –: Oma ihr klein Wer an einem Faden des Pullovers zieht, muss wissen, Häusken bleibt steuerfrei, auch wenn es frisch renoviert dass der Pullover dann leicht weg sein kann. Deswegen ist; aber die Erben von Oma ihrer Villa mit Park und sage ich abschließend sehr deutlich: Diese Bund-Länder- Seezugang werden einen höheren Beitrag leisten. Das ist Arbeitsgruppe hat einen Kompromiss gefunden. Wenn Vorsatz, das ist Absicht, und das halte ich auch für ge- der Bundestag als Souverän Änderungen vornehmen rechtfertigt. will, dann muss im parlamentarischen Verfahren ein neuer Kompromiss gefunden werden. Man sollte nicht (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ein grandioses glauben, dass man nur auf einen Bestandteil des Kom- Bild! Das hätte auch Herrn Lafontaine einfal- promisses Druck ausüben muss, um einen völlig anders len können! Ein tolles Bild, Herr Minister!) ausbalancierten Gesetzentwurf zum Erbschaftsteuerrecht – Herr Westerwelle, wenn ich mir Ihre Bilder vor Augen zu erhalten. führe, muss ich feststellen, dass man Sie dafür auch nicht (Beifall bei der SPD) loben kann. Ich komme zu dem Ergebnis, dass wir es geschafft Die politische Arbeitsgruppe, die wir einberufen ha- haben, den Generationswechsel in kleinen und mittleren ben, bestand aus sehr vielen Vertretern, insbesondere der Unternehmen zu erleichtern. Es ist zum ersten Mal so, Länder. Ich habe die Arbeit dieser politischen Arbeits- dass wir die Vererbung von betrieblichem Vermögen gruppe immer als sehr hilfreich empfunden, insbeson- weitgehend freistellen. Wir erreichen eine verbesserte dere was die Zuarbeit der technischen Arbeitsgruppe be- Arbeitsplatzsicherheit. Wir kommen, wie ich finde, für trifft. Da wurde sehr viel gerechnet. die nächsten Verwandten auch bei der Vererbung von Ich wundere mich darüber, dass über dieses Thema privaten Vermögen zu deutlich besseren Regeln als jetzt. eine fast irreführende öffentliche Diskussion geführt Ich halte es für völlig angemessen, dass große Vermögen wird. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Bei- von Erblassern, insbesondere von denjenigen in einem spiel wurden ganzseitige Anzeigen geschaltet. Eine entfernten Verwandtschaftsgrad, stärker als bisher zur Anzeige der KPMG, die wohl mit Unterstützung eines Finanzierung des Erbschaftsteueraufkommens herange- Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ent- zogen werden. Ich bin überzeugt, dass der vorliegende (D) (B) standen ist, enthält drei fundamentale Fehler, die ich aus Regierungsentwurf eine solide und sehr ausbalancierte Zeitgründen jetzt nicht darlegen will. In einem Brief- Grundlage für das jetzt in Ihrer Hand liegende Gesetzge- wechsel hat mein Staatssekretär Nawrath dies insbeson- bungsverfahren ist. dere gegenüber Herrn Nonnenmacher und der KPMG deutlich gemacht. Was im Zusammenhang mit der Erb- Herzlichen Dank. schaftsteuerreform inzwischen an Lobbyarbeit, an inte- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ressengeleiteter Verunglimpfung und Irreführung statt- der CDU/CSU) findet, ist teilweise sehr schwer erträglich. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich komme zum Ergebnis: Mir ist sehr wohl bewusst, Für die FDP-Fraktion spricht nun Carl-Ludwig dass es Ihnen im parlamentarischen Beratungsprozess Thiele. offensteht, an der einen oder anderen Stelle zu anderen Ergebnissen zu kommen. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Kolleginnen und Kollegen! Herr Finanzminister, erstens wie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] – muss ich sagen, dass Ihre pampige Einlassung zu den Fi- Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das nanzmärkten zeigt, dass Sie getroffen sind. Ich kann nur ist sehr großzügig! – Dr. Guido Westerwelle sagen: Es ist richtig, dass sie getroffen sind; denn Sie tra- [FDP]: Der König gibt Gnade!) gen die Verantwortung. Deshalb haben wir Sie bezüglich – Nicht so schnell. – Wir haben in der Koalitionsarbeits- der Finanzmärkte angesprochen. Darüber muss hier dis- gruppe, an der viele von denen, die hier sitzen, beteiligt kutiert werden. waren, einen Kompromiss gefunden, der nicht beliebig aufzulösen ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der SPD) Bei der Frage der pauschalen Berücksichtigung hat es na- Zweitens möchte ich mich herzlich für den Gnaden- türlich andere Auffassungen gegeben. Es hat auch eine akt bedanken, dass der Gesetzgeber nach Ihrer Auffas- sehr lange Debatte über die Berücksichtigung des Be- sung tatsächlich an einem Gesetzgebungsverfahren mit- triebsvermögens, das über Aktivitäten der Vermögens- wirken darf. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15107

Carl-Ludwig Thiele (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Erbschaftsteuer ist eine reine Mittelstandsteuer. (C) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ Denn kein DAX-Konzern hat je 1 Cent Kapital durch die DIE GRÜNEN) Erbschaftsteuer verloren. Wenn ein Aktionär verstirbt, werden seine Aktien beim Erben bewertet. Die Steuer Das ist in der Großen Koalition relativ neu, aber warum wird festgesetzt, und Aktien können dann über den Ka- nicht; vielleicht findet das bei diesem Gesetz einmal pitalmarkt veräußert werden. Aber VW, Bayer und sons- statt. Herzlichen Dank für die Gnade! tige Firmen haben nie 1 Cent Kapital verloren. Das ist Drittens. Es gibt verfassungsrechtliche Vorgaben; das im deutschen Mittelstand anders. Da ist das Vermögen in ist richtig. Aber das Verfassungsgericht hat nicht erklärt, die Firma investiert, teilweise über Generationen hin- dass diese in diesem Gesetzentwurf so Gesetz werden weg. In diesen Familien gilt der Grundsatz: Die Firma müssen. Sie hätten ganz andere Gesetze machen können. steht vor der Familie. 90 Prozent der Ausschüttungen Sie hätten auch bessere Gesetze machen sollen. Dieser müssen häufig in das Unternehmen reinvestiert werden, Gesetzentwurf ist nicht die Lösung der Probleme im in- um die Zukunft des Unternehmens langfristig sicherzu- ternationalen Wettbewerb und auch nicht für die Bevöl- stellen. kerung unseres Landes. Wenn hier mit der Erbschaftsteuer eingegriffen wird, (Beifall bei der FDP) dann liegt das Geld, das eingenommen werden soll, nicht Insofern möchte ich sagen: Diese Erbschaftsteuerre- in irgendwelchen Banktresoren, sondern es ist in der form kennt nicht nur Gewinner – das ist der Eindruck, Firma gebunden. Um Erbschaftsteuer zu zahlen, muss den Sie immer erwecken wollen –, sondern auch Verlie- Geld aus der Firma genommen werden, Teile der Firma rer. Die Große Koalition setzt bei dieser Erbschaftsteuer- müssen veräußert werden oder die Firma muss belastet reform den roten Faden der Politik der Steuererhöhungen werden. fort. Das Durchschnittsaufkommen der Erbschaftsteuer Zum angeblichen Vorteil der Stundungsregelung. der letzten zehn Jahre betrug 3,2 Milliarden Euro pro Allein durch die Stundungsregelung wird das Rating der Jahr. Hier ist das Ziel 4 Milliarden Euro pro Jahr. Ich per- Unternehmen drastisch verschlechtert. Das heißt, die sönlich habe den Eindruck, dass klammheimlich noch er- Kreditzinsen steigen, weil es sich um eine latente Steuer- heblich mehr Geld von den steuerpflichtigen Erben in last des Unternehmens handelt. Sie betrifft massiv die unserem Lande eingesammelt werden soll, als das Fi- Refinanzierung des Unternehmens. nanztableau bisher ausweist. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Ich möchte auf ein paar Punkte kurz eingehen. Verlie- Wer hier ein solches Gesetz auf den Weg bringt, der (B) (D) rer sind vor allem die Mittelständler in unserem Land. muss sich wirklich fragen lassen, ob er es mit dem Erhalt Einige Diskussionen passen überhaupt nicht zusammen. und der Schaffung von Arbeitsplätzen ernst meint und Auf der einen Seite diskutieren wir darüber, wie Investi- wie er es eigentlich mit den Unternehmen in unserem tionen mit Millionensubventionen gefördert werden. Lande hält. Betroffen sind nämlich zahlreiche familien- Diese Firmen müssen fünf Jahre lang die Arbeitsplätze geführte Unternehmen, die zum Wohle der Beschäftig- erhalten. Auf der anderen Seite soll der Mittelstand, der ten, aber auch unseres Landes mit Engagement und Ka- in Deutschland die Arbeitsplätze schafft und in die Ver- pital arbeiten. günstigungsregelung kommt, 15 Jahre lang die Arbeits- Ich möchte weitere Punkte ansprechen. plätze erhalten. Das kann mir niemand erklären und hat mir auch noch niemand erklären können. Herr Finanzmi- Zur Steuerklasse II. Der Freibetrag wird zwar ge- nister, ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auch Ihre Erklä- ringfügig erhöht; aber der Eingangssteuersatz steigt um rung heute hat mich nicht überzeugen können. 150 Prozent, von 12 Prozent auf 30 Prozent. Das gilt für enge Familienangehörige; das gilt auch für Personen, die (Beifall bei der FDP) in Steuerklasse III sind. Der Mittelstand wird durch dieses Gesetz in einer Form benachteiligt, wie es leider das Kennzeichen der Überall wird gesagt: Schafft Vermögen! Betreibt Al- Großen Koalition ist. tersvorsorge! Wenn von zwei Personen, die zusammen- leben – auch als nichteheliche Lebensgemeinschaft – (Florian Pronold [SPD]: Das ist doch Unsinn!) und die es im Laufe ihres Lebens geschafft haben, ein Haus im Wert von 240 000 Euro zu entschulden, um den Denn wer Arbeitsplätze in unserem Lande schaffen und Lebensabend ohne Miete bestreiten zu können, eine ver- erhalten will, muss sich insbesondere darum kümmern, stirbt, dann erbt die andere Person die Hälfte des Wertes dass die Familienunternehmen gefördert und nicht belas- dieses Hauses. Das sind in diesem Fall 120 000 Euro. tet werden. 95 Prozent der Betriebe in unserem Land Bei einem Freibetrag von 20 000 Euro müssen dann sind mittelständische Betriebe. 57 Prozent der Beschäf- 100 000 Euro mit 30 Prozent versteuert werden, sprich: tigten sind im Mittelstand tätig. Auch in den letzten Jah- Steuern in Höhe von 30 000 Euro sind einen Monat nach ren, als in der Industrie Arbeitsplätze abgebaut wurden, Erhalt des Steuerbescheids fällig. Mir liegen schon jetzt hat der deutsche Mittelstand zusätzliche Arbeitsplätze viele Briefe von Bürgern vor, in denen steht: Das können geschaffen. In inhabergeführten Familienunternehmen wir nicht leisten. Wir sind jetzt alt. Wir haben für uns, ist dies erfolgt und nicht in den großen DAX-Konzernen. für unser Land und für unsere Altersversorgung gearbei- (Beifall bei der FDP) tet. Jetzt, da wir alt sind, sollen uns von diesem Erarbei- 15108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Carl-Ludwig Thiele (A) teten 30 Prozent weggenommen werden. Das kann nicht tums deutlich hervorgehoben wird. Wir haben in (C) richtig sein. Deutschland die Kultur, dass es viele mittelständische Familienunternehmen gibt. Diese Familienunternehmen (Beifall bei der FDP sowie der Abg. haben zur Erfolgsstory der vergangenen zwei Jahre maß- Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) geblich beigetragen. Denn in diesen Unternehmen war Insofern appelliere ich hier an Sie: Dieser Gesetzent- ein überproportional großer Aufwuchs an Arbeitsplätzen wurf kann so nicht bleiben, auch wenn Herr Koch an sei- zu verzeichnen. Im Interesse des Standortes Deutschland nem Zustandekommen mitgewirkt hat. Wir erleben, dass müssen wir dafür sorgen, dass der mittelständische Sek- Teile der Union sich von diesem Gesetzentwurf distan- tor auch in Zukunft gestärkt wird. Damit tun wir etwas zieren. Das Kabinett hat ihn gleichwohl beschlossen. für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- land. Das ist unser zentrales Ziel. In Österreich – dort ist ebenfalls eine Große Koali- tion tätig – ist die Situation anders. Herr Finanzminister, (Beifall bei der CDU/CSU) ich zitiere den österreichischen Bundeskanzler, der der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Firmeneigentü- SPÖ und damit vermutlich auch der Sozialistischen In- mer und Firmenlenker haben eine soziale Verantwortung ternationale angehört – es handelt sich also um einen für ihre Mitarbeiter, die sie auch wahrnehmen. Wir spre- Parteifreund eines Nachbarlandes –: chen jetzt nicht über anonyme Kapitalgesellschaften, Tatsache ist, dass es von Mitte 2008 an in Öster- sondern über Gesellschaften, deren Eigentümer eine so- reich keine Erbschaftssteuer mehr gibt. Ich bitte ziale Verantwortung für ihre Mitarbeiter haben. Wir wol- Sie, das möglichst breit zu publizieren! len sicherstellen, dass diese Kultur nicht zerstört wird. Die Kultur der sozialen Verantwortung im unternehmeri- Was bezweckt er denn damit? Einen Wettbewerbsvor- schen Bereich muss gewahrt werden. teil für Österreich! In der Vergangenheit haben wir er- lebt, dass in ganzseitigen Anzeigen dafür geworben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wurde, seinen Sitz nur wegen der Erbschaftsteuer in die Deshalb müssen wir bei der Erbschaftsteuer eine Rege- Schweiz zu verlegen. Wer einmal im Ausland ist, der lung treffen, die die Weitergabe eines Unternehmens an kommt nicht wieder, der trifft Investitionsentscheidun- die nächste Generation ermöglicht, und zwar unter Er- gen nicht mehr aus deutscher Sicht und der zahlt Jahr für halt dieser Kultur, unter Wahrung der Arbeitsplätze und Jahr weder Einkommensteuer noch Körperschaftsteuer unter Fortführung der Unternehmen. noch Lohnsteuer noch Verbrauchsteuer. Wir müssen al- les daransetzen, unseren Standort Deutschland attraktiv (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zu machen, und wir müssen uns diesem Wettbewerb stel- der SPD sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle (B) len. Dieses Gesetz unter einer Großen Koalition mit ei- [FDP]) (D) ner christdemokratischen Kanzlerin auf den Weg zu bringen, halte ich für abenteuerlich. Es wird Zeit, dass Der zweite Punkt, der Anlass für die heutige Debatte die Bevölkerung endlich merkt, welche Steuererhöhun- ist, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach gen damit vorgenommen werden. dem wir alle Vermögensarten – unternehmerisches Ver- mögen, Immobilienvermögen, Barvermögen und land- Herzlichen Dank. und forstwirtschaftliches Vermögen – zum gemeinen (Beifall bei der FDP – Florian Pronold [SPD]: Wert, sprich: zum Verkehrswert, einheitlich zu bewerten Sie kann nichts merken, weil es keine gibt!) haben. Durch dieses Urteil werden die Handlungsmög- lichkeiten des Gesetzgebers maßgeblich eingeschränkt. Wir haben keinerlei Spielraum. Da wir aufgrund der Vor- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gaben des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind, ist Das Wort hat nun Kollege Michael Meister, CDU/ es auch ein Stück weit fahrlässig, den Status quo mit der CSU-Fraktion. künftigen Gesetzgebung zu vergleichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Für viele steht die Frage im Mittelpunkt: Wie wird der Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Verkehrswert überhaupt ermittelt? Wir haben gefordert, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir füh- die Wertermittlungsverordnung, die eigentlich nicht Ge- ren heute die erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes genstand der Beratungen im Deutschen Bundestag ist, zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts rechtzeitig vorzulegen und im Rahmen einer Anhörung durch. Für uns gibt es in dieser Debatte zwei Ausgangs- zu thematisieren, damit wir auch die Frage, wie die punkte: Der eine Ausgangspunkt ist die Erleichterung Werte ermittelt werden, im parlamentarischen Verfahren der Unternehmensnachfolge beim Übergang in die gemeinsam erörtern können. Ich glaube, dieser Aspekt nächste Generation. Der zweite Ausgangspunkt ist das ist für alle Betroffenen sehr wichtig. Wir werden die Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das uns vorgibt, Wertermittlung ernsthaft beraten und versuchen, hier zu dass wir auf der Bewertungsebene den in Art. 3 des vernünftigen Lösungen zu kommen. Grundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz beach- ten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte zunächst einmal sagen: Es ist uns ein In Anbetracht des Urteils des Bundesverfassungsge- wichtiges Anliegen, dass die Sozialbindung des Eigen- richts kann es uns nur darum gehen, Begünstigungsrege- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15109

Dr. Michael Meister (A) lungen auf der Ebene der Besteuerung zu treffen. Ich land funktionieren. Es ist also nicht so, dass die FDP (C) möchte aber, bevor ich zu den Details komme, zunächst keine Vorstellungen zur Erbschaftsteuer hat. Ich bitte einmal die zwei Grundfragen offenlegen, die wir uns zu Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP sehr wohl Beginn gestellt haben. eine Meinung zu diesem Thema hat. Den genauen Wort- laut unseres Parteitagsbeschlusses stelle ich Ihnen im Erstens. Brauchen wir in Deutschland in Zukunft Anschluss an diese Debatte jederzeit gerne zur Verfü- überhaupt eine Erbschaftsteuer? Nachdem wir alle Argu- gung. mente, die dafür und dagegen sprechen, abgewogen ha- ben, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir an der Erbschaftsteuer festhalten wollen. Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Thiele, Sie haben in Ihrer Rede (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bedauerlicherweise nichts zu dieser Frage gesagt. Ich be- der SPD) danke mich deshalb ausdrücklich, dass Sie jetzt in Ihrer Herr Kollege Thiele, auf diese Frage habe ich eigentlich Frage darauf Bezug genommen haben. auch von Ihnen eine Antwort erwartet. Sie haben viele Ich habe die Frage gestellt, ob die FDP an der Erb- Fragen gestellt. Ich habe aber keine Aussage dazu ge- schaftsteuer festhalten möchte und, wenn ja, ob sie bun- hört, ob die FDP für die Abschaffung oder für die Beibe- desweit gelten soll oder ob jedes Land für sich darüber haltung der Erbschaftsteuer ist. Dazu haben Sie kein entscheiden soll. Dazu haben Sie weder in Ihrer Rede et- Wort gesagt. Offensichtlich hat die FDP hierzu keine was gesagt, noch geht das aus dem Beschluss Ihres Bun- Meinung. Sie haben sich zu dieser Frage nicht geäußert. desparteitages hervor. (Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] meldet sich (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das sollen die zu einer Zwischenfrage – Dr. Guido Westerwelle Länder entscheiden!) [FDP]: Oh doch! Dazu gibt es sogar einen Par- teitagsbeschluss der FDP!) Sie sagen lediglich, dass diese Entscheidung auf die Länderebene delegiert werden soll. Sie sind ja in einigen Zweitens. Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, ob wir eine Steuer, deren Aufkommen den Ländern zu- Landtagen vertreten und an einigen Landesregierungen beteiligt. Deshalb müssen Sie in dieser grundsätzlichen fließt und die von den Ländern gestaltet werden könnte, Frage einmal Position beziehen! Dieser Frage dürfen Sie tatsächlich auf Bundesebene regeln müssen. In unserer Arbeitsgruppe haben wir den Vertretern der Länder an- nicht ständig auszuweichen versuchen. geboten, das Steuerrecht selbst zu bestimmen. Die Län- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der waren aber der Meinung, dass es besser sei, dies auf bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (B) Bundesebene einheitlich zu regeln. Deshalb unterzieht GRÜNEN) (D) sich der Deutsche Bundestag nun der Übung, ein bun- desweit einheitliches Erbschaftsteuerrecht zu entwi- Wir haben es den Ländern anheimgestellt, diese Frage ckeln, und wir stehen gerade erst am Beginn unserer Be- selbst zu regeln. Die Länder haben uns gesagt, dass sie ratungen. an einer bundesweit einheitlichen Lösung interessiert sind. Deshalb beraten wir hier gemeinsam. Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass ich glaube, dass die Ar- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: beitsgruppe, die getagt und die Eckpunkte für den Ent- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wurf für diese erste Lesung vorgelegt hat, eine gute Kollegen Thiele? Grundlage für die Beratungen geschaffen hat, wenn- gleich wir Änderungsbedarf sehen. Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Gerne, Herr Präsident. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will auf beide Punkte eingehen, zum Ersten auf Carl-Ludwig Thiele (FDP): die Beratungsgrundlage und zum Zweiten auf den Ände- Herr Kollege Meister, da Sie gesagt haben, Sie wüss- rungsbedarf. Ich will an dieser Stelle in Erinnerung ru- ten nicht, welche Vorstellungen die FDP zur Erbschaft- fen, was der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion steuer hat, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, gesagt hat: Kein Gesetz, das dieses Haus betritt, wird es dass der Bundesparteitag der FDP einen Beschluss ge- auch so verlassen. Wir als Unionsfraktion werden zei- fasst hat, der besagt, dass die Erbschaftsteuer als reine gen, dass dieses Struck’sche Gesetz auch für dieses Ge- Ländersteuer von den Ländern gestaltet und erhoben setzgebungsverfahren gilt. werden sollte. Das verstehen wir unter Wettbewerbsfö- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Zeigen genügt deralismus. nicht!) (Ortwin Runde [SPD]: Von wegen! Das ist De- Zunächst einmal zu den positiven Aspekten. Wir ha- mokratieabbau!) ben durch eine deutliche Erhöhung der Freibeträge in Der Bund muss nicht alle Steuern selbst regeln. Das allen Steuerklassen dafür gesorgt, dass normales Ge- gilt erst recht für die Steuern, aus denen er überhaupt brauchsvermögen – auch ein Einfamilienhaus, das inner- keine Einnahmen erzielt. Dieses Vorgehen funktioniert halb der Familie vererbt wird – steuerfrei vererbt werden auch in anderen Ländern, zum Beispiel in der Schweiz. kann. Das ist natürlich in extremen Lagen schwer darzu- Nach unserer Auffassung würde das auch in Deutsch- stellen, wenn man bundeseinheitliche Gesetze macht. 15110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Michael Meister (A) Aber im Regelfall können wir davon ausgehen, dass die adäquat ist oder ob nicht, wenn es zwischen Geschwis- (C) Freibeträge im vorliegenden Gesetzentwurf so gestaltet tern, Neffen und Nichten zur Vererbung kommt, eine an- sind, dass die Menschen bessergestellt werden, obwohl dere als die gegenwärtig vorgeschlagene Tarifierung an- der Wert von Immobilien jetzt höher angesetzt werden gebracht wäre. muss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir wollen, dass unternehmerisches Vermögen leich- Wir sehen eine 15-jährige Bindungsfrist vor, wäh- ter an die nächste Generation weitergegeben werden rend der man aus dem Unternehmen nichts ins Privatver- kann. Wir haben diesen Ansatz mit der Abschmelzrege- mögen übernehmen darf. Die Berechnung dieser Frist lung realisiert. Man kann – Herr Steinbrück hat das an- könnte Ihnen ein Mathematiker sauber darstellen. Man gesprochen – darüber streiten, ob man Privatvermögen kann sich ausrechnen, dass es genau dieser Zeitraum und Unternehmensvermögen voneinander abgrenzen sein muss, um Steuerneutralität zu erreichen. sollte oder ob eine pauschalierte Regelung angebracht wäre. Ich habe mich persönlich mehr als fünf Jahre mit Wir reden hier aber nicht nur über Steuern, sondern dieser Thematik auseinandergesetzt und muss sagen: Es auch über betriebswirtschaftliche Entscheidungen und gibt keine saubere Lösung dafür, wie man eine solche Planungshorizonte von Unternehmen. Deshalb glaube Abgrenzung vornehmen sollte. Deshalb glaube ich, dass ich, dass wir trotz der Steuerneutralität noch einmal prü- der Pauschalierungsansatz vertretbar ist und in die rich- fen müssen, ob die 15 Jahre angemessen sind oder ob tige Richtung weist. Über die Höhe haben wir gerungen; wir an dieser Stelle nicht zu einer Vereinheitlichung der die 15 Prozent sind ein Kompromiss. Bei unserem jetzi- Fristen auf 10 Jahre kommen können, die ja auch bei der gen Ansatz wird das Weltvermögen des Unternehmens Abschmelzung vorgesehen sind. einbezogen. Das will ich klar und deutlich sagen; denn der eine oder andere hat daran Zweifel geäußert. Auch (Beifall bei der CDU/CSU) das ist ein gewaltiger Schritt nach vorne. Ein riesiges Problem ist die Beantwortung der Frage, In der Debatte ist zu Recht die Lösung für Kleinbe- was die Pönale ist, wenn es zur Verletzung der Kriterien triebe angesprochen worden, die dafür sorgt, dass viele zur Begünstigung kommt. Ich glaube, an dieser Stelle Unternehmen von der Erbschaftsteuer überhaupt nicht gilt es zu bedenken: Wenn sich jemand 14 bzw. 9 Jahre tangiert werden. Damit stellt sich die Frage der Bürokra- lang ordentlich verhalten hat, dann sollte er nicht so be- tie an dieser Stelle nicht. Wir sollten da nicht für Verun- handelt werden wie derjenige, der schon im ersten Jahr sicherung sorgen. die Regeln verletzt. Deshalb müssen wir über eine Diffe- renzierung der Pönale nachdenken und müssen uns über- Im Immobilienbereich wird ein 10-Prozent-Abschlag legen, ob wir hier nicht zu einer entsprechenden Redu- (B) gewährt. Auch das ist ein Schritt in die richtige Rich- zierung kommen sollten, wie das dem Gedanken des (D) tung, wenn auch möglicherweise nicht ausreichend. Es Abschmelzmodells entspricht. muss überlegt werden, wie wir mit großen Immobilien- beständen umgehen, wenn Arbeitsplätze daran hängen. (Beifall bei der CDU/CSU) Möglicherweise müssen wir ähnlich wie bei privaten Der Normenkontrollrat weist uns darauf hin, dass ein Banken, ähnlich wie bei Unternehmen, die mit Edel- großer Bürokratie- und Administrationsaufwand er- metallen handeln, überlegen, wie wir die Strukturen be- forderlich ist, um die Begünstigung einzuführen und die wahren. Denn auch am Immobiliensektor hängen viele Wertermittlung vernünftig zu vollziehen. Deshalb wer- Arbeitsplätze. Deshalb glaube ich, dass wir uns diesen den wir den Gesetzentwurf in den Beratungen mit Si- Punkt noch einmal anschauen müssen. cherheit noch einmal darauf überprüfen, ob wir den Ad- ministrations- und Bürokratieaufwand im Interesse der Herr Thiele hat das Rating von Unternehmen ange- Finanzverwaltung und der Steuerzahler vermeiden kön- sprochen. Der Steuerschuldner ist nicht das Unterneh- nen. Ein Punkt dabei ist die vorhandene Dynamisierung men, der Steuerschuldner ist der Eigentümer. Deshalb der Lohnsumme. Ich glaube, an dieser Stelle müssen wir hat die ganze Geschichte auf die Frage des Ratings eines prüfen, welcher Administrationsaufwand verursacht Unternehmens keinerlei Auswirkungen. Die Frage einer wird. Verschuldung des Unternehmens ist nämlich nicht tan- giert. Ich komme zu den letzten zwei Punkten, die ich be- nennen will. Die Begünstigung der Landwirtschaft, die wir mit dem Bewertungsverfahren zur adäquaten Abbildung der Bei dem ersten Punkt geht es um ein Phänomen, das Verhältnisse in der Landwirtschaft einzuführen versu- es bisher nicht gab, nämlich die theoretisch mögliche chen, ist dargestellt worden. Doppelbelastung durch Erbschaft- und Einkommen- steuer. Dazu gibt es zwar keine Vorlage im Gesetzent- Meine Fraktion hat das Ansinnen, die Anhörung und wurf, aber es liegt eine Protokollnotiz der Arbeitsgruppe die Hinweise aus dem Bundesrat, der ja zeitgleich mit von Herrn Koch und Herrn Steinbrück vor, aus der her- uns tagt, ernst zu nehmen und zu schauen, wie wir die vorgeht, dass wir uns diesem Problem zuwenden wollen. Anregungen, die gegeben werden, miteinander umsetzen können. Wenn ich das richtig sehe, gibt es ein Problem Dieses Problem tritt auf, weil sowohl bei der Erb- bei Geschwistern; Kollege Thiele hat das angesprochen. schaft- als auch bei der Einkommensteuer die Verkehrs- Wir müssen überlegen, ob der Tarifverlauf in der Steuer- werte für die Besteuerungsgrundlage herangezogen wer- klasse II im Verhältnis zu dem in der Steuerklasse III den. Das haben wir bisher nicht getan. Bisher sind wir in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15111

Dr. Michael Meister (A) der Erbschaftsteuer von Bilanzwerten ausgegangen. Um Herr Bernhardt meinte, dass das etwa 1,5 Milliarden (C) diesen Effekt auszugleichen, müssen wir uns das Pro- Euro kosten würde. Dafür ist kein Geld da; das geht blem der Doppelbelastung noch einmal anschauen und nicht. hier zu einer Lösung kommen. Ich glaube nicht, dass wir Schauen Sie sich die Regelsätze bei Hartz IV an. Ich das Problem durch dieses Gesetz lösen; aber wir müssen habe sie mir für diese Debatte noch einmal herausge- uns ernsthaft vornehmen, durch Regelungen hinsichtlich sucht. Für ein Kind im Alter von unter 14 Jahren werden der Einkommensteuer eine Lösung für die Betroffenen 208,20 Euro im Monat gezahlt. Das sind am Tag zu finden. 6,94 Euro. 38 Prozent davon – also 2,64 Euro – sind für (Beifall bei der CDU/CSU) Lebensmittel, Getränke und Tabak vorgesehen. Es ist übrigens schön, dass Sie den Tabak auch schon für Ba- Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf die deutsche bys vorsehen. Wissen Sie, was ein Schulessen kostet? Landwirtschaft. Wir haben hier einen Gesetzentwurf Kein Schulessen in Deutschland, wenn es überhaupt an- vorgelegt, der dazu führen wird, dass die deutsche Land- geboten wird, kostet im Durchschnitt unter 2 Euro, son- wirtschaft durch die Erbschaftsteuer nicht stärker belas- dern 2,20 bis 2,70 Euro; dort, wo Ökologisches angebo- tet wird, als das heute der Fall ist. Wir haben nach langen ten wird, wird es meistens noch teurer. Aber Sie sagen Diskussionen Verfahren gefunden, die dazu führen, dass hier: Erben wird günstiger. Na schön, prima! Das kann es an dieser Stelle zu einer adäquaten Bewertung sich unsere Gesellschaft leisten? Nein, das kann sich un- kommt. Ich glaube, wir müssen uns auch noch einmal sere Gesellschaft eben nicht leisten! das Problem der Pachtflächen anschauen und prüfen, welche adäquaten Lösungen wir für große Pachtbetriebe (Beifall bei der LINKEN) finden können. Die Unternehmensberatung BBE geht für die nächs- In diesem Sinne lade ich dazu ein, dass wir dieses ten Jahre davon aus, dass zwischen 2006 und 2015 Verfahren gemeinsam konstruktiv begleiten, die Emotio- 2,5 Billionen Euro von Familien an junge Menschen nen ein Stück weit außen vor lassen und versuchen, mit übergehen. Sie streben eine Belastung von 2 Prozent an, Ratio gemeinsame Lösungen für die angesprochenen jährlich 4 Milliarden Euro. 98 Prozent des Vermögens- Probleme zu finden. Ich würde mich freuen, wenn das in übergangs sollen nach Ihrer Auffassung steuerfrei blei- den nächsten Wochen in diesem Hause hier und auch bei ben. Das können wir uns leisten? Wie hoch ist denn die den Kollegen im Bundesrat möglich wäre. Lohnsteuer? Wie hoch sind andere Steuern? Da greift der Staat zu; er greift zwar nicht gerecht, aber berechtigt Vielen Dank. zu, denn wir alle leben im Gemeinwesen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Folgende Zahlen, wonach 1 Prozent der Bevölkerung (B) neten der SPD) über 20 Prozent des Vermögens der Bundesrepublik (D) Deutschland besitzen oder, wenn wir es etwas erweitern, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 10 Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Vermögens Ich erteile Kollegin Barbara Höll, Fraktion Die Linke, besitzen, aber mehr als zwei Drittel der Bevölkerung das Wort. über 17 Jahre nichts oder fast nichts besitzen, belegen klar, dass die Vermögensverteilung in Deutschland (Beifall bei der LINKEN) noch ungerechter als die Einkommensverteilung ist. Wir sind doch einfach in der Pflicht, dies etwas gerechter zu Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): gestalten, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (Beifall bei der LINKEN) Meister, mir fällt es in dieser Debatte schwer, meine Emotionen zu beherrschen. um Aufgaben wie Bildung und Chancengleichheit für Kinder finanzieren zu können. (Daniela Raab [CDU/CSU]: Uns auch!) Da hier der internationale Vergleich immer so hoch- Herr Steinbrück hat sich hier hingestellt und hoch- gehalten wird, wäre es wichtig, Folgendes zu betrachten: zufrieden verkündet: Erben wird günstiger in Deutsch- Von 30 OECD-Ländern erheben lediglich sieben Staaten land. – Richtig! keine Erbschaftsteuer. In drei Staaten davon wurde bei (Florian Pronold [SPD]: Die FDP sagt das der Abschaffung dieser Steuer allerdings eine Teilkom- Gegenteil! Was stimmt jetzt?) pensierung eingeführt. Wenn man die Debatten am gestrigen und am heutigen Für wichtig halte ich, wie hoch der Anteil der Erb- Tag betrachtet, dann bemerkt man, dass Sie das mit ei- schaftsteuer am Bruttoinlandsprodukt ist. In Deutsch- nem hohen Grad an Befriedigung erreicht haben. land beträgt er 0,16 Prozent, in Großbritannien hingegen 0,28 Prozent. Das sind 3 Milliarden Euro pro Jahr mehr, 1,2 Milliarden Euro müssen wir der IKB zuschießen. eine Summe, die ja wohl nicht zu verachten ist, mit der Gestern haben wir hier in diesem Hause einen ermäßig- man das kostenfreie Mittagessen für alle Kinder sicher- ten Mehrwertsteuersatz für Waren und Dienstleistungen lich finanzieren könnte. In den Niederlanden liegt dieser für Kinder beantragt, nämlich eine Senkung von 19 Pro- Anteil bei 0,34 Prozent und im Durchschnitt der EU der zent, die Sie beschlossen haben, auf 7 Prozent. 15 bei 0,31 Prozent. (Florian Pronold [SPD]: Unsinn muss man (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht beschließen!) Und in Kuba?) 15112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Barbara Höll (A) Wenn wir nur den Durchschnitt erreichten, hätten wir an Nichtfamilienmitglieder eine massive Höherbelas- (C) wesentlich mehr Geld für anstehende wichtige Aufga- tung für Unternehmen mit einem Verkehrswert bis zu ben. 1 Million Euro festzustellen. Das ist der einzige Bereich, in dem Sie wirklich eine massive Anhebung planen. Das (Beifall bei der LINKEN) heißt, bei den kleinen Betrieben mit einem Verkehrswert Aber Sie sagen: Erben wird günstiger. – Schön! Wir bis zu 1 Million Euro planen Sie eine Anhebung; bei den brauchen das Geld nicht. – Denn vor dem Hintergrund anderen Unternehmen bleiben die Steuersätze im We- der ansteigenden Erbmasse bedeutet Ihr Vorschlag kon- sentlichen unverändert. Das kann doch nicht wahr sein. kret eine massive Senkung der Erbschaftsteuer. (Widerspruch des Abg. Florian Pronold (Florian Pronold [SPD]: Die FDP sagt das [SPD]) Gegenteil!) Es ist doch ein Hohn, wenn Sie sagen, dass kleine und – Ja, weil das zu vererbende Vermögen steigt. mittelständische Unternehmen entlastet werden. Gerade (Florian Pronold [SPD]: Wer hat jetzt recht: ihnen gegenüber ist Ihr Vorhaben nicht gerecht. die FDP oder Sie?) Herr Steinbrück hat das Beispiel des Einfamilienhau- Außerdem beachten Sie nicht die Vorgabe des Bun- ses genannt, für das auch künftig keine Erbschaftsteuer desverfassungsgerichts, dass eine tatsächlich realisti- gezahlt werden müsse. Mit Ihrer Diskussion zur Unter- sche Bewertung von Immobilien und Betriebsvermögen nehmensnachfolge lenken Sie davon ab, dass Sie die erfolgen soll. Mit welcher Berechtigung sollen Ausgestaltung der Erbschaftsteuer, die bereits heute nur 85 Prozent des Betriebsvermögens verschont werden? zu 8 Prozent von den Unternehmen gezahlt wird – 92 Pro- Darauf antworte nicht ich; vielmehr sollten wir uns an zent entfallen auf den Übergang von Privatvermögen dem orientieren, was die Industrie selber sagt. Heute durch Erbschaft –, zur massiven Entlastung der Unter- steht ein wunderbarer Artikel in der Frankfurter Rund- nehmen wieder durch die Privatvermögen finanzieren schau, in dem Herr Stratthaus, Finanzminister von Ba- lassen wollen. Sie sehen eine massive Besserstellung der den-Württemberg, zitiert wird: Niemand von den Mittel- traditionellen Familie – Vater, Muter, Kind – bei einer ständlern, die immer über die Erbschaftsteuer jammern, Schlechterstellung der Steuersätze in Steuerklasse II muss sie bezahlen. – Es ist ein Phantomschmerz. und III für andere Verwandte und sonstige Erben vor. Das erwähnte Beispiel der Geschwister spricht wirklich (Florian Pronold [SPD]: Aber der tut auch Hohn. weh!) Lassen Sie mich mit einem Blick auf die Zahlen (B) Ich möchte Ihnen noch ein Zitat vom DIW vortragen: schließen. Die Zahlen des vergangenen Jahres – Herrn (D) So gibt es keine empirische Evidenz zu besonderen Steinbrücks Beispiel des Einfamilienhauses und der erbschaftsteuerbedingten Problemen bei der Nach- Villa und die daraus scheinbar resultierenden Freibeträge folge von Familienunternehmen, … sind an den Haaren herbeigezogen – zeigen, dass es in Deutschland ganze vier Städte gibt – nämlich Hamburg, – ich habe in einer Kleinen Anfrage danach gefragt, ob München, Stuttgart und Düsseldorf –, in denen der Ver- überhaupt ein Fall bekannt ist, in dem die Erbschaft- kehrswert eines normalen Einfamilienhauses mit einem steuer dazu geführt hat, dass es beim Übergang des kleinen Grundstück über 300 000 Euro beträgt. Sie se- Unternehmens zu Schwierigkeiten gekommen ist; Sie hen also auch in dem Bereich eine massive Anhebung konnten nicht einen Fall benennen, es ist heute kein Pro- der Freibeträge vor. Offenbar wollen Sie weniger Geld blem – einnehmen. … auch die bisherige Stundung wird offenbar kaum Wenn Sie behaupten, die 4 Milliarden Euro seien eine in Anspruch genommen. solide Grundlage, sage ich Ihnen: Ich zweifele die Zah- Diese Möglichkeit gibt es ja schon. len massiv an. Auf unsere Nachfragen hat das Finanz- ministerium angegeben, über keine entsprechenden Zah- Unternehmen können auch von Nichtfamilienmit- len zu verfügen. Den Berechnungen wurden zum gliedern erfolgreich fortgeführt werden. Das Ab- Beispiel bei einer Übergabe im Unternehmensbereich schmelzmodell würde die Übertragung von millio- erst Zahlen ab 50 Millionen Euro zugrunde gelegt. nenschweren Unternehmensvermögen steuerfrei stellen, bei denen keine nennenswerten steuerlich Sie haben also gar keine Zahlen. Konkret wird damit bedingten Liquiditätsprobleme auftauchen. zu rechnen sein, dass noch weniger Geld für Bildung, Kinder und damit für unsere Zukunft zur Verfügung Das Ganze hat nichts mit Existenzgefährdung zu tun, steht. es hat nichts mit Gefährdung der Unternehmensfortfüh- rung zu tun. Ihre Entlastung ist überflüssig und unnötig, Ich danke Ihnen. und sie belastet die Allgemeinheit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Interessant ist auch, wie Sie Ihr Vorhaben ausgestal- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ten. Wenn man die bestehende und die geplante Rege- Das Wort hat nun Christine Scheel, Fraktion lung vergleicht, ist bei einer Unternehmensübergabe Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15113

(A) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): genden zur Folge hätte, dass sich diese Schere noch wei- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ter öffnet. Genau das wollen wir nicht. sollten auch darüber reden, dass maßgebliche Kräfte in dieser Gesellschaft das Ziel haben, die Erbschaftsteuer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abzuschaffen. Diese Kräfte finden sich in der FDP, und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) da hilft es nichts, wenn Herr Thiele feststellt, die FDP Laut einer in der FA Z veröffentlichten Allensbach- wolle zwar, dass die Erbschaftsteuer erhoben wird, aber Untersuchung sehen nur 15 Prozent der Deutschen die in Verantwortung der einzelnen Bundesländer, das heißt, wirtschaftlichen Verhältnisse als gerecht an. Man muss nicht durch ein Rahmengesetz des Bundes, sondern in insbesondere von den Leistungsträgern und Leistungs- ausschließlicher Zuständigkeit der Länder. Ich behaupte, trägerinnen in dieser Gesellschaft mehr Geld verlangen, dass es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver handelt. um das zu tun, was wir für die Zukunft brauchen. Nicht Denn Sie weisen bei jeder Gelegenheit darauf hin, in nur meine Fraktion stellt die Bildung immer wieder in welchen Ländern die Erbschaftsteuer nicht mehr erho- den Vordergrund. Bildung wird von allen als Himmels- ben wird, dass sie hochbürokratisch leiter für den sozialen Aufstieg beschworen. Doch der (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist ja auch Zugang zu dieser Leiter hängt zunehmend davon ab, ob so!) Familien Vermögen haben, ob Kinder von den Bildungs- investitionen der Familie profitieren können. Begüterte und im Übrigen unnötig ist. Deswegen plädiere ich für Familien vererben praktisch die Bildungschancen, die mehr Ehrlichkeit und Offenheit, statt so zu tun, als ob für einen höheren sozialen Status entscheidend sind, an man für ein anderes Modell wäre, obwohl man in Wirk- die nächste Generation. Wir brauchen aber Einnahmen, lichkeit die Erbschaftsteuer abschaffen will. um etwas für Kinder und Jugendliche aus bildungsarmen Schichten zu tun. Das Ganze hat schließlich einen mate- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – riellen Hintergrund. Dr. Volker Wissing [FDP]: Das stimmt ja gar nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das gilt übrigens auch für einzelne in der Union und Wir alle wollen mehr Ganztagsbetreuung und mehr für diejenigen, die wir als Wirtschaftselite bezeichnen. Bildungsinvestitionen. Deshalb brauchen die Bundeslän- Auch dort findet die Debatte statt. In der Diskussion der – die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer – Einnah- muss bei allem, was sich in der heutigen Zeit ereignet men, um Bildungsinvestitionen tätigen zu können. Wir – Herr Zumwinkel hat wohl zwischenzeitlich seinen können auf der Bundesebene nur an die Bundesländer Rücktritt angeboten –, appellieren: Kommt auch ihr eurer Verantwortung nach (B) und sorgt dafür, dass die Einnahmen aus der Erbschaft- (D) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die Regie- steuer für Bildungsinvestitionen in die Zukunft unserer rung hat ihn angenommen!) Kinder verwendet werden und nicht zum Beispiel für auch berücksichtigt werden, wie sich ein solches Vorha- den Straßenbau! ben auf das Gerechtigkeitsgefühl in dieser Gesellschaft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auswirkt. Wie wirkt sich eine solche Diskussion auf den sozialen Zusammenhalt aus, den wir in unserer Bundes- Dann verstehen die Menschen auch, warum es diese republik dringend brauchen? Steuer gibt und dass die Einnahmen daraus einen Beitrag zur Umverteilung des Vermögens zwischen den Genera- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Fragen Sie mal tionen leisten kann. Das ist der Kern der Überlegungen. Frau Höll!) Wir alle haben Verantwortung, wenn es um den Zusam- In einem weiteren Schritt müssen wir darüber nach- menhalt in dieser Gesellschaft geht. Hierzu gehört eine denken, wie wir die Erbschaftsteuer nach den Vorgaben vernünftig ausgestaltete Erbschaftsteuer. des Bundesverfassungsgerichts so ausgestalten können, dass es gesellschaftspolitisch stimmig ist. Herr Finanz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) minister, die Entscheidung des Bundesverfassungsge- richts erzwingt eine gleichmäßige Besteuerung aller Die soziale Kluft in der Gesellschaft vergrößert sich. Vermögensarten. Gleichzeitig müssen aber die Bewer- Die reichsten 10 Prozent der Deutschen besitzen zwei tungsregeln geändert werden. In der letzten Woche gab Drittel des gesamten Volksvermögens, die ärmste Hälfte es erste Vorschläge, wie die Bewertungsregeln in ver- dagegen fast gar nichts. Wir wissen, dass Deutschland so schiedene Rechtsverordnungen überführt werden kön- wohlhabend wie noch nie ist. Das Gesamtvermögen der nen und wie sie ausgestaltet werden sollen. Ich kann für Bundesrepublik Deutschland beträgt 5,4 Billionen Euro. unsere Fraktion nur sagen: Weil das Parlament zu ent- Das zeigt, dass Deutschland ein reiches Land ist, und das scheiden hat, ist es zwingend, dass wenigstens die we- ist auch gut so. Bei gleichmäßiger Verteilung wären das sentlichen Eckwerte dieses Verfahrens für die Ermittlung 81 000 Euro pro Kopf. Realität ist aber, dass immer der Verkehrswerte von Betrieben und Immobilien im mehr Menschen immer weniger und einige immer mehr Gesetz geregelt werden und nicht lediglich in einer haben. Die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung Rechtsverordnung. verharrt nicht beim Status quo, sondern nimmt zu. In diesem Kontext bedeutet die geplante Ausgestaltung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Erbschaftsteuer, die eine stärkere Entlastung der Vermö- des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) 15114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Christine Scheel (A) Wir als Parlament wollen darüber entscheiden. Wir wol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) len die Regelung der Eckwerte für die Ermittlung nicht der Exekutive überlassen. Auch das muss ich an dieser Ein weiterer Punkt, den wir kritisieren, ist, dass Verer- Stelle ganz klar sagen. Ich habe da ein anderes Parla- ben und Schenken hochkompliziert werden. Das wird mentsverständnis als anscheinend viele in der Großen eine Spielwiese – das garantiere ich Ihnen – für Berater Koalition. und Beraterinnen. Das betrifft vor allen Dingen Be- triebsinhaber und Betriebsinhaberinnen, die ihren Be- Unsere Kritik richtet sich auch dagegen, dass Sie von trieb einem Nachfolger übergeben. Es stehen Zehntau- einem sehr antiquierten Gesellschaftsbild ausgehen. sende von Betriebsübergaben an. Das hehre Bild intakter Familienverhältnisse wird in dem Gesetzentwurf festgeschrieben. Die Freibeträge und Ich glaube, dass es keinen Sinn ergibt, jahrelang zu die drei Steuerklassen sind nach dem Verwandtschafts- warten, bis die Verschonungsregelung greift. Das zu- grad geordnet. Begünstigt werden nahe Verwandte ständige Finanzamt muss nämlich die Betriebsfortfüh- – Kollegen haben bereits darauf hingewiesen –, alle an- rung über 15 Jahre überwachen – das muss man sich ein- deren werden sehr hoch belastet. Das passt nicht in die mal überlegen –, bei land- und forstwirtschaftlichen heutige Zeit. Wir haben Wahlverwandtschaften, die stän- Betrieben sind es sogar 20 Jahre. Wir hingegen sagen dig zunehmen, wir haben Patchworkfamilien, in denen – übrigens genauso wie der Bundesrat –, dass diese Ver- die Menschen zusammenhalten, wir haben einen demo- schonungsregelung einen zu langen Zeitraum umfasst und grafischen Wandel in dieser Gesellschaft, und wir haben zu bürokratisch ist. Wir brauchen kein Arbeitsbeschaf- ein stetig steigendes durchschnittliches Lebensalter, was fungsprogramm für Finanzbehörden und explodierende dazu führt, dass das solidarische Helfen im Alter einen Bürokratiekosten für Finanzämter und Unternehmen. Wir immer größeren Stellenwert bekommt. Wenn man diese haben von einem Bürokratiemonster gesprochen. Es Fakten zugrunde legt, dann stellt man fest, dass dieser werden auch viele Streitigkeiten entstehen. Gesetzentwurf auf eine solche Lebensrealität überhaupt (Florian Pronold [SPD]: Was bleibt jetzt von nicht reagiert. deiner Erbschaftsteuer übrig?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe kein Interesse daran, dass hier Gesetze verab- Es reicht nicht, wenn man die geplante Erbrechts- schiedet werden, die die Finanzgerichte lahmlegen. Wir reform ein bisschen daran anpasst, aber die Erbschaft- sollten vielmehr alles dafür tun, damit im Gesetz Klar- steuerreform diese Realität außen vor lässt. Deswegen heit, Transparenz und eine einfache Anwendung geregelt brauchen wir eine Zusammenführung der Überlegungen werden. Wir dürfen das nicht erneut der Rechtsprechung zur Erbrechtsreform und zur Erbschaftsteuerreform, da- zur Nachjustierung überlassen. (B) mit die beiden zusammenpassen. Alles andere ergibt kei- In dem Sinne hoffe ich, dass wir im laufenden Verfah- (D) nen Sinn. ren in den Ausschüssen einen Schritt weiterkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin gespannt darauf, wie die Diskussionen vonsei- Es ist nicht einzusehen, dass Menschen, die im hohen ten der Koalition geführt werden. Anscheinend ist man Alter nicht verheiratet zusammenleben, derartig stark sich in vielen Punkten überhaupt noch nicht einig. Wir durch diesen Regierungsvorschlag belastet werden. Es werden jedenfalls unseren Beitrag leisten und Vor- ist doch oft so, dass hochbetagte Geschwister, von denen schläge zu dem Gesetzentwurf einbringen, um zu einem einer bzw. eine noch fit ist und die in einem gemeinsa- fairen Ausgleich zwischen den Generationen zu kom- men Haushalt leben, den Bruder bzw. die Schwester men, damit unser Land für die Zukunft vernünftig aufge- pflegen können. Die werden durch diese Erbschaftsteu- stellt ist. erreform gegenüber der heutigen Gesetzgebung enorm Danke schön. benachteiligt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Das kann es nicht sein. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Florian Pronold für die SPD-Frak- Vielmehr müssen wir uns überlegen, ob Ihr Vorschlag tion. mit den Steuerklassen, die Sie vorgelegt haben, richtig ist. Wir sagen: Nein. Wir müssen uns überlegen, ob so (Beifall bei der SPD) viele Steuerklassen überhaupt Sinn machen oder ob es besser ist, diese Steuerklassen auf eine oder zwei zu re- Florian Pronold (SPD): duzieren und zum Ausgleich der Verwandtschaftsver- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und hältnisse Freibeträge einzuführen. Letzteres wäre eine Kollegen! Die Debatte über die Erbschaftsteuer erinnert moderne Herangehensweise, mit der man auch die wirt- mich ein bisschen an die Debatte über die Abgeltung- schaftliche Leistungsfähigkeit bzw. die Größe des Ver- steuer. Die Banken haben jahrelang die Einführung der mögens berücksichtigen könnte. Es sollte also nicht nur Abgeltungsteuer gefordert, um zu verhindern, dass das der Verwandtschaftsgrad entscheidend sein, sondern Kapital ins Ausland flüchtet. Dann hat man die Abgel- auch die Art und Weise des Zusammenlebens in dieser tungsteuer nach langen politischen Debatten eingeführt Gesellschaft und die Verantwortung, die im Einzelnen für die jeweiligen Personen übernommen wird. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber wie!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15115

Florian Pronold (A) mit dem Ergebnis, dass den Bürgerinnen und Bürgern 4 Milliarden Euro. Die FDP sagt, es wird viel höher sein. (C) pro Jahr 1,7 Milliarden Euro Steuern geschenkt werden. Das ist ein spannendes Thema, das müssen wir uns ge- nauer anschauen. Aus meiner Sicht könnten dann auch (Ortwin Runde [SPD]: Ein Skandal!) bestimmte Ängste beseitigt werden. Bisher liegt das Erb- Das trifft überwiegend diejenigen, die bisher stark belas- schaftsteueraufkommen bei 4 Milliarden Euro. Herr tet sind. Bei denjenigen, die nicht so stark belastet sind, Thiele, für dieses Jahr sind übrigens 4,2 Milliarden Euro ändert sich im Prinzip nichts; Stichworte „Steuerfrei- prognostiziert. Man kann nicht so rechnen und sagen: betrag“ und „Nachveranlagung mit dem persönlichen Der Durchschnitt der letzten zehn Jahre liegt bei Steuersatz“. 3,2 Milliarden Euro, jetzt werden es 4 Milliarden Euro sein, das ist dann eine Steuererhöhung um 800 000 Euro. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Für wen spricht er gerade?) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es waren zwei- mal über vier!) Anstatt die Banken nun die Einführung der Abgel- tungsteuer gelobt hätten, machen sie nun in jedem Was Sie hier verbreiten, ist wahnwitziger Unsinn. Schaufenster und in vielen Werbebriefen darauf auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Carl- merksam, dass man von der Abgeltungsteuer bedroht Ludwig Thiele [FDP]: Nein!) wird und dringend zur Bank gehen sollte, um sich bera- ten zu lassen. Damit wird das, was wir mit der Einfüh- Wir haben für das nächste Jahr 4,2 Milliarden Euro ein- rung der Abgeltungsteuer erreichen wollten, sozusagen geplant. Wenn man sich jetzt 4 Milliarden Euro als Ziel auf den Kopf gestellt. Die Banken führen die Beratungs- setzt, ist das mit Sicherheit keine Mehreinnahme. gespräche nur aus Eigeninteresse; denn sie müssen nicht vor der Abgeltungsteuer warnen. Sie wollen in diesen (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Haben Sie Gesprächen mit den Leuten Geschäfte machen. schon mal gehört, dass eine Schätzung ge- stimmt hat?) Ähnlich läuft es jetzt bei der Erbschaftsteuerreform. Aus der Wirtschaft kamen Forderungen nach einem Ab- – Eine Schätzung von der FDP hat noch nie gestimmt; schmelzmodell. Über zehn Jahre soll abgeschmolzen da bin ich mir relativ sicher. werden. Das bedeutet aber – egal wie die Regelungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sind –, dass die Fortführung des Betriebes zehn Jahre lang überprüft und an bestimmte Kriterien gebunden Wir haben bisher Einnahmen von 300 Millionen Euro werden muss. Die öffentliche Verwaltung muss das zehn aus Betriebsvermögen. Das wird nicht mehr. Wir haben Jahre lang überprüfen; das bezieht sich auf das alte Mo- bisher 20 Millionen Euro aus dem Bereich Landwirt- (B) dell. Zur Frage, wie sich das auf die Banken auswirkt, ist schaft. Auch das wird nicht mehr. (D) anzumerken: Wenn man die Kriterien des Abschmelz- modells nicht einhält, dann muss man später Steuern Jetzt bin ich überrascht, wie anhand dieser Zahlen sol- nachzahlen, und die Banken werden selbstverständlich che Horrorszenarien und Untergangsszenarien an die in ihrem Rating die Kreditwürdigkeit bewerten. Wie ge- Wand gemalt werden können. Die sind schlichtweg sagt, die Forderung nach diesem Modell kam aus der falsch. Wirtschaft, das hat sich nicht die Politik ausgedacht. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wer sagt das Jetzt beginnt die Rosinenpickerei. Man will nur die denn? Wieso das denn?) Rosinen, aber nichts vom Rest des Kuchens. Aber einen – Wir können gern in die Bereiche gehen. Kuchen, der nur aus Rosinen besteht, gibt es nicht. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Gern!) (Ute Kumpf [SPD]: Der schmeckt auch gar nicht!) – Gern. Die öffentliche Debatte wird genauso geführt. Man will (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir als Parlament nur die Rosinen herauspicken. So macht man den Men- haben die nie gesehen! Wir haben nie eine Be- schen Angst, obwohl es dafür überhaupt keine Grund- rechnung vorgelegt bekommen! Das können lage gibt. Sie mal machen! Wir sollen es glauben!) Wir als Sozialdemokraten hätten sehr gerne mehr Gehen wir zu der Frage über, über die jetzt öffentlich Erbschaftsteuer eingenommen. Wir finden, nur 2 Pro- mit Spannung diskutiert wird: Wie lang sollen die Halte- zent des gesamten zu vererbenden Vermögens in mehr fristen sein? Über diese Frage kann man durchaus re- Forschung, mehr Bildung, mehr Kinderbetreuung zu in- den. Wir haben auch in der Koch/Steinbrück-Arbeits- vestieren, ist zu wenig. Aber wir haben einen Koalitions- gruppe ausführlich über diese Frage gesprochen. Peer partner, der zwar auch die Kinderarmut bekämpfen will, Steinbrück hat dargelegt, warum wir von einem reinen aber offensichtlich nicht über die Erbschaftsteuereinnah- Abschmelzmodell zu einem pauschalierten Ansatz ge- men. Wir mussten uns einigen und haben einen Betrag kommen sind. Wenn ich das in Erinnerung rufen darf: von 4 Milliarden Euro errechnet. Der erste Vorschlag war übrigens, 30 Prozent pauschal zu besteuern. Es gibt in diesem Zusammenhang allerdings eine spannende Differenz. Die Linkspartei meint, das Erb- (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das wäre schaftsteueraufkommen wird viel geringer sein als fatal gewesen, Herr Pronold!) 15116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Florian Pronold (A) – Deshalb hat die Union auch darauf gedrängt, dass das nämlich die Familienunternehmen zu stärken. Das muss (C) niedriger wird. man einfach einmal zur Kenntnis nehmen. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Mit Recht!) Michelbach [CDU/CSU]: Keine Ahnung hat der Mann!) – Ja. – Weil die Union die verfassungsrechtlichen Pro- bleme hinsichtlich der Gleichbehandlung sehr wohl – Herr Michelbach, entschuldigen Sie! Lesen Sie halt sieht, hat sie aber zugestanden, dass man im Gegenzug den Gesetzentwurf, und reden Sie mit den Kollegen, die die Haltefristen verlängern und auch die Frage der ver- in der Koch/Steinbrück-Arbeitsgruppe dabei waren! mögensverwaltenden Gesellschaften beantworten muss. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Vielleicht können Diese beiden Parameter, die im Entwurf zunächst anders wir mal im Parlament reden!) waren, sind verschärft worden, um dem Gleichbehand- lungsgrundsatz der Verfassung und dem Aufkommens- Wir haben uns das alles wirklich im Detail angeschaut. aspekt Rechnung zu tragen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist ja eine Käse- Natürlich kann man über die Frist von 15 Jahren dis- glocke! Das ist doch keine Transparenz!) kutieren. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Aber Wir haben eine gemeinsame Zielsetzung, nämlich die man muss wissen, dass dann an anderer Stelle Änderun- Betriebsfortführung, und zwar wegen des Erhalts der Ar- gen erforderlich werden, erstens um das Aufkommen si- beitsplätze und wegen der Gemeinwohlverpflichtung. cherzustellen und zweitens um die Verfassungsgemäß- Deswegen soll das begünstigt werden, deshalb die heit hinsichtlich der Behandlung der unterschiedlichen 85 Prozent. Das ist ein ordentliches Steuergeschenk; Vermögensarten sicherzustellen. aber es gibt dieses Steuergeschenk nur, wenn im Gegen- Jetzt darf ich denjenigen in der Union und anderswo, zug dazu auch eine Gemeinwohlorientierung vorhanden die immer Zweifel an der Regelung haben, einmal etwas ist. vorlesen. Günter Weber, Herausgeber des Steuertip (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das war doch – kein Freund der Erbschaftsteuer –, schreibt: eine reine Verwaltungskäseglocke!) Kaum zu glauben aber, dass ausgerechnet aus Krei- Darüber werden wir nicht mit uns reden lassen: Darüber sen der CDU und vor allem der CSU verlangt wird, können wir auch gar nicht mehr mit uns reden lassen, dass die 15-Jahre-Haltefrist auf 10 Jahre gesenkt weil wir ansonsten Gefahr laufen, dass diese Regelung werden soll. Spielt doch jede Verkürzung den Play- als verfassungswidrig eingestuft wird. boys der jungen Generation in die Karten, die mög- (D) (B) lichst schnell das in jahrzehntelanger Arbeit von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den Eltern Aufgebaute auf Ibiza, den Seychellen Ansonsten stellt ja derjenige, der privat erbt, mit Recht oder in Spielerparadiesen verjuxen wollen. die Frage, warum er mehr Erbschaftsteuer zahlen soll als (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der andere. CDU/CSU) Lassen Sie mich auch noch etwas zu einem Punkt sa- – Das habe nicht ich gesagt. gen, über den wir in diesem Hause schon diskutiert ha- ben, der aber heute noch gar nicht zur Sprache gekom- Ich darf daran erinnern, wie die Debatte war. Es ging men ist, obwohl sich damals fast alle einig waren. Kurz darum, dass wir etwas für Familienunternehmen tun vor dem Christopher Street Day haben wir darüber ge- wollen, die das Vermögen an die nächste Generation sprochen, dass wir Menschen, die Verantwortung für- übergeben wollen, bei denen das Vermögen nicht aus einander übernehmen, zum Beispiel in Lebenspartner- dem Betrieb genommen werden soll, um es zu verjuxen. schaften, besserstellen wollen. Wir waren uns einig, dass (Beifall bei der SPD) die bisherigen Regelungen zur Erbschaftsteuer nicht ge- recht sind. In diesem Gesetzentwurf haben wir dieses Was diese Frist von 15 Jahren angeht, so sehen wir Vorhaben nun umgesetzt. Wir geben Menschen in Le- – das ist vielleicht noch nicht bekannt – eine Reinvesti- benspartnerschaften dieselben Freibeträge wie Eheleu- tionsklausel vor. Es geht dabei nicht um die Fälle, in de- ten. Dabei handelt es sich um 500 000 Euro, wobei der nen der Betrieb aufgelöst werden soll, sondern um die, in durchschnittliche Wert von Einfamilienhäusern, die in denen er umstrukturiert werden soll, wobei vielleicht ein Deutschland vererbt werden, bei 160 000 Euro liegt. Teil zu verkaufen ist. Wenn das Geld im Betrieb bleibt, Meistens geht es dann auch nur um den halben Wert ei- ist das nach der jetzt vorgesehenen Regelung alles kein nes Hauses, weil es gemeinsam angeschafft wurde. Hier Problem. Aber wenn das Geld entnommen wird, das zu- reichen 500 000 Euro also locker aus. vor zu 85 Prozent verschont worden ist, dann müssen Steuern gezahlt werden, und nur darum geht es. Das ist Nun haben wir in diesem Gesetz also für eine Gleich- keine Behinderung wirtschaftlicher Aktivitäten, sondern stellung von Menschen in Lebenspartnerschaften und das trägt genau dem Grundsatz Rechnung, mit dem wir Eheleuten gesorgt. Aber was passiert? In dieser Debatte angetreten sind, werden wieder neue Haare in der Suppe gesucht. Mir kommt es manchmal so vor, als ob sich Leute, die beim ( [SPD]: Das ist Mittel- Friseur waren, einige der abgeschnittenen Haare einste- standsförderung!) cken und sie dann in die Suppe werfen, um noch etwas Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15117

Florian Pronold (A) zu finden. Dabei haben wir für die Lebenspartnerschaf- mal andere Probleme, die eigentlich gar nicht vorhanden (C) ten wirklich etwas Gutes und Richtiges umgesetzt. sind, aufbläst. Ich halte die gefundene Regelung für rich- tig. Unser Interesse muss es doch sein, dass die Land- Nun zur Frage der nahen Angehörigen: Die durch- wirtschaft fortgeführt wird. Es gibt ja einen deutlichen schnittliche Steigerung des Wertes von Grundstücken Unterschied zwischen einer Villa am Starnberger See aufgrund des neuen Wertermittlungsverfahrens wird bei und einem Betrieb bzw. einer Landwirtschaft. Denn bei etwa 40 Prozent liegen. Zugleich haben wir die Freibe- Letzterem geht es um Arbeitsplätze und um gemein- träge für die nahen Angehörigen praktisch verdoppelt. wohlverpflichtende Elemente. Das ist die einzige Be- Aber wenn wir insgesamt 4 Milliarden Euro an Erb- gründung, warum wir diese Ausnahme machen können. schaftsteuer einnehmen wollen – das sieht die Vereinba- rung ja vor –, dann muss es auch irgendjemanden geben, Der Grundsatz ist: Erbschaftsteuer müssen alle zah- der für dieses Aufkommen sorgt. Da beißt doch die len. Wenn man nachlassen will, dann muss man das be- Maus keinen Faden ab. Deswegen haben wir die Ent- gründen. – Das haben wir für die Landwirtschaft und scheidung getroffen, entferntere Verwandte und Nicht- auch für das Betriebsvermögen gut geregelt. Trotzdem verwandte mit höheren Steuern zu belegen. haben wir jetzt im Wege der Verordnungen ein Bewer- tungsgesetz auf den Weg gebracht. Damit werden die Das ist eine politische Entscheidung. Natürlich kann Verfassungsvorgaben erfüllt, und wir werden zukünftig man diese wieder revidieren. Aber wenn man sie revi- – vielleicht mit anderen politischen Mehrheiten – die diert, dann heißt das, dass die Begünstigung für Fami- Möglichkeit haben, die Erbschaftsteuer so zu erheben, lienmitglieder geringer ausfallen müsste. Das kann man dass man sie besser zur Bekämpfung von Bildungs- und alles machen. Darüber kann man diskutieren. Ich bitte Kinderarmut einsetzen kann. aber, immer ehrlich die beiden Seiten ein und derselben Medaille zu benennen und nicht immer so zu tun, als Herzlichen Dank. wäre die Welt erst dann in Ordnung, wenn man jede Menge Änderungen vorgenommen hat. Das mag sein. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto Aber dann, wenn wir all diese Änderungen berücksichti- Bernhardt [CDU/CSU]) gen, rutschen wahrscheinlich die Einnahmen aus der Erbschaftsteuer ins Minus und wir müssten am Ende Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: noch etwas auszahlen. Das Wort hat nun Volker Wissing, FDP-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU)

(B) Ein weiteres Beispiel, Frau Kollegin Scheel. Für die Dr. Volker Wissing (FDP): (D) Landwirtschaft haben wir folgendes Modell gefunden: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Wir übernehmen die langen Haltezeiten aus dem Zivil- gen! Zunächst, Herr Pronold: Ich gönne Ihnen jeden Ge- recht, und zwar aus dem Grund, weil wir ganz bewusst denkstein, und für den Fall, dass Sie Deutschland von Ih- festgeschrieben haben, dass die Bewertung einer Land- ren schrecklichen Steuergesetzen verschonen, sage ich wirtschaft auf Basis der Ertragswerte vorgenommen Ihnen zu, dass Sie von der FDP noch einen Gedenkstein wird. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinem dazubekommen. Beschluss ziemlich eindeutig gesagt, das sei eigentlich vom Grundsatz her nicht möglich. Wir machen das aber (Beifall bei der FDP) trotzdem, weil es bei landwirtschaftlichen Betrieben Die Bundeskanzlerin kündigt an, mehr Freiheit wagen häufig geringe Ertragswerte und hohe Substanzwerte zu wollen. Was Sie uns hier vorlegen, ist ein Vorschlag, gibt. Für weichende Hoferben gilt nun folgende Rege- nach dem Unternehmer nach Betriebsübergang für lung: Wenn die Landwirtschaft fortgeführt wird, ist alles 15 Jahre unter die Staatsaufsicht der Finanzbehörden in Ordnung. Sobald aber innerhalb der Haltefrist von gestellt werden. Wir haben heute Morgen über die IKB 20 Jahren Anteile verkauft werden, müssen die weichen- gesprochen und darüber, dass es nicht sinnvoll ist, wenn den Hoferben beteiligt werden, und dementsprechend er- sich der Staat an Geschäften beteiligt, die die Privaten zielt der Staat dann auch entsprechende Erbschaftsteuer. besser erledigen können. Wir haben gehört, dass da Das ist ein wirklich gutes Modell. 6 Milliarden Euro in den Sand gesetzt worden sind. Ich Ich will hier nicht verschweigen, dass mir ein hoher dachte eigentlich, dass man daraus etwas lernt. Aber das Funktionär des Deutschen Bauernverbandes einen Ge- hält bei Ihnen ja keine Stunde an. Sie schlagen jetzt vor, denkstein für mein Engagement bei dieser Regelung ver- dass staatliche Beamte die Personalpolitik von privaten sprochen hat. Unternehmern für 15 Jahre wesentlich mitgestalten. Das kann nicht funktionieren. Das ist eine Zumutung für den (Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans deutschen Mittelstand, und das wird dazu führen, dass Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch pein- Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen, weil die lich! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Direkt hier Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes in Deutschland einen Gedenkstein aufstellen!) durch Ihr Gesetz zurückgeht. – Ja, damit hätte ich nicht gerechnet. (Beifall bei der FDP) Ich möchte nun aber alle ermahnen, nicht das, was er- Wenn Arbeitsplätze gefährdet sind, dann ist das auch reicht worden ist, infrage zu stellen, indem man auf ein- eine Gefahr und ein Risiko für den Bundeshaushalt. 15118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Volker Wissing (A) Weil Sie über die Landwirtschaft gesprochen haben, Konzepte in der Steuer- und Finanzpolitik schauen. Da (C) Herr Pronold: Es ist in Deutschland in vielen landwirt- können Sie viel lernen. Wenn Sie die Erbschaftsteuer schaftlichen Bereichen sehr schwer, Betriebsnachfolger wirklich reformieren wollen, ist es an Ihnen, ein Konzept zu finden. Wir reden viel über Kulturlandschaftspflege vorzulegen, das die deutschen Unternehmer in ihrer und darüber, wie wichtig es ist, dass solche Betriebe Wettbewerbsfähigkeit stärkt und nicht schwächt. Des- übernommen werden. Deswegen sollten Sie Hürden ab- wegen ist das, was Sie uns bieten, wirklich nicht ausrei- bauen und nicht aufbauen. chend. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Beifall bei der FDP) 15 Jahre Staatsaufsicht für landwirtschaftliche Betriebe Zu der internationalen Wettbewerbsfähigkeit haben bedeuten eine neue Hürde. Sie überhaupt kein Wort gesagt. Aber das ist doch die (Beifall bei der FDP) entscheidende Frage. Wir beobachten – der Kollege Thiele hat es schon angesprochen –, dass sich andere Deswegen ist der Landwirtschaft mit Ihrem Gesetz nicht Länder überlegen, wie sie ihr Steueraufkommen sichern geholfen. Vielmehr schwächen Sie den landwirtschaftli- können. Dabei kommen sie vielfach zu dem Ergebnis, chen Sektor in Deutschland mit Ihren Vorschlägen. dass sie die Erbschaftsteuer nicht brauchen. Hier wurde gesagt, dass die Bundesländer diese Steuer brauchen, um Das ist nicht das einzige Problem dieses Erbschaft- in Bildung zu investieren. Dazu sage ich Ihnen: Die Län- steuergesetzentwurfes. Sie reden von Sozialbindung des der sind für ihre Haushalte selbst verantwortlich. Es ist Eigentums. Aber dann müssen Sie sich auch einmal die nicht Sache des Deutschen Bundestages, Länderhaus- Frage stellen, was Sie da eigentlich besteuern. Sie be- halte aufzustellen, Frau Kollegin Scheel. Das liegt in der steuern Vorsorge der Menschen, Vorsorge fürs Alter, für ureigenen Verantwortung der Bundesländer. Notsituationen, für Enkel. (Florian Pronold [SPD]: Ist Ihnen bekannt, (Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele dass die Erblasser nie die Erbschaftsteuer zah- [FDP]: Das sieht der Finanzminister in Nieder- len?) sachsen genauso!) Sie stellen die Gerechtigkeitsfrage; aber im Grunde ge- Wenn das Erbschaftsteueraufkommen den Bundeslän- nommen behandeln Sie die Menschen ungleich. Wer dern zufließen soll, dann sollen sie darüber entscheiden, konsumiert und nichts auf die hohe Kante legt, zahlt ob und wie sie die Erbschaftsteuer erheben. Wir haben keine Steuer, und derjenige, der anspart, wird von Ihnen dazu Vorschläge in der Föderalismuskommission ge- zur Kasse gebeten. macht. Die Verantwortung soll dort getragen werden, wo (B) sie getragen werden muss. Deswegen schlage ich Ihnen (D) (Florian Pronold [SPD]: Wenn er stirbt, muss vor, dass Sie Ihren Gesetzentwurf zurückziehen und die er keine Steuer zahlen!) Vorschläge, die wir in der Föderalismuskommission ge- Das ist schon ein merkwürdiges Verständnis von Politik. macht haben, übernehmen. In unseren Vorschlägen wird die Verantwortung dort angesiedelt, wo sie zu tragen ist. Sie haben es nicht geschafft, heute ein tragfähiges Wenn den Ländern das Aufkommen zufließt, dann sollen Konzept vorzulegen. Was Sie uns präsentieren, ist sehr sie auch über die Erhebung der Erbschaftsteuer entschei- unausgegoren und auch verfassungsrechtlich äußerst den. Wenn Sie nicht in der Lage sind, dazu einen tragba- problematisch. Sie kennen sicherlich das Gutachten von ren Vorschlag zu machen, dann sollten Sie sich unserem Herrn Professor Crezelius. Er sagt, die vorliegende Re- Vorschlag anschließen. form der Erbschaftsteuer führe zu einer grundgesetzwid- rigen Mehrfachbesteuerung; die Doppelbelastung werde (Beifall bei der FDP) durch die massive Erhöhung der Grund- und Unterneh- menswerte enorm gesteigert. Das ist ein Gutachten für Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die Familienunternehmer. Dazu haben Sie heute nichts Nun erteile ich Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/ gesagt. Aber Sie nehmen es mit der Verfassungsgemäß- CSU-Fraktion, das Wort. heit des Steuerrechts seit der Pendlerpauschale ja ohne- hin nicht mehr so genau. (Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir über Verfassungsfragen reden, dann müs- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): sen wir auch über die Frage des Wesentlichkeitsprin- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und zips reden. Es kann doch nicht sein, dass die Kernfrage Herren! Die Große Koalition hat sich zu Beginn zum dieser Erbschaftsteuerreform, nämlich die Bewertungs- Ziel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu frage, in einer Rechtsverordnung geregelt wird. Das verbessern. Dies ist im unternehmenspolitischen Bereich macht keinen Sinn. Deswegen ist das, was uns der durch die Unternehmensteuerreform geschehen. Ich Finanzminister heute vorgelegt hat, äußerst dürftig. denke, wir nehmen da zwischenzeitlich einen guten Mit- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) telplatz unter den Industrienationen ein. Wir können festhalten: Sie sind nicht in der Lage, hier Wir haben uns aber auch vorgenommen, die Unter- ein vernünftiges Konzept auf den Tisch zu legen. Herr nehmensnachfolge zu erleichtern und zu verbessern. Es Meister, es ist gut, dass Sie fragen, welche Vorschläge geht darum, dass der Unternehmensübergang so gestaltet die FDP macht. Ich finde es richtig, dass Sie auf unsere wird, dass die Betriebe fortbestehen können und dass zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15119

Bartholomäus Kalb (A) Investitionen ermutigt wird. Die Betriebe sollen im Rah- Frankfurt, Stuttgart, München und Hamburg anders sind (C) men eines Generationenwechsels neu ausgerichtet und als etwa in Rostock oder bei uns in Deggendorf, in Hof, für die Zukunft fit gemacht werden können. Wir müssen Chemnitz oder weiß Gott wo. dafür sorgen, dass ihnen keine Substanz entzogen wird. Es geht auch darum, die persönliche Verantwortung zu Wir werden und wir müssen die parlamentarische Be- stärken und nicht zu schmälern. ratung mit großer Intensität und Sorgfalt führen. Die Ar- beitsgruppe Koch/Steinbrück hat zweifellos eine wich- (Beifall bei der CDU/CSU) tige Vorarbeit geleistet und schon viele Probleme dem Grunde nach beseitigt. Aber ich weise darauf hin: Das Letztlich geht es gerade im mittelständischen Bereich parlamentarische Verfahren beginnt erst jetzt. Wir ha- darum, dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze erhalten und ben die Aufgabe, dieses Verfahren entsprechend zu ge- zukunftsfähig gemacht werden. stalten. Wir werden uns die Beschlüsse des Bundesrates, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Genau das ist der zeitgleich tagt, ganz genau ansehen und in die Bera- es!) tungen mit einbeziehen. Am 5. März, Herr Vorsitzender des Finanzausschusses, wird eine Anhörung dazu statt- Daher hätte ich mir sogar gewünscht, dass wir diese Re- finden. gelung zur Unternehmensteuerreform zeitnäher hätten umsetzen können. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! – Carl- Ludwig Thiele [FDP]: Wann? Das ist noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht beschlossen!) Herr Kollege Pronold, bei aller Freundschaft: Neid ist – Dies soll auf Vorschlag der Koalitionsarbeitsgruppe so hier ein schlechter Ratgeber. beschlossen werden, Herr Kollege Thiele. – Wir werden (Beifall bei der CDU/CSU) die Ergebnisse der Anhörung natürlich ganz intensiv be- raten und in die Arbeit mit einfließen lassen. Die steuerliche Belastung bei Privatentnahmen wird von der Erbschaftsteuer jedenfalls nicht berührt. Auch wir Gerade wir von der CSU-Landesgruppe, lieber wollen keine Playboys begünstigen; sie werden auch Dr. Peter Ramsauer, sehen noch erheblichen Beratungs- nicht begünstigt. Das ist meine Entgegnung auf Ihren bedarf in wesentlichen Punkten, die zum Teil schon Einwand. vom Kollegen Meister angesprochen worden sind, bei- spielsweise bei der Abschmelzregelung, der Behaltefrist Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist schwierig und der Verschonungsregelung, dem Verhältnis von Be- genug. Das Bundesverfassungsgericht hat uns, wie triebsvermögen und Verwaltungsvermögen insbesondere schon vorgetragen wurde, aufgegeben, das Erbschaft- (B) mit Blick auf die Landwirtschaft, aber auch auf den Be- (D) steuerrecht insgesamt neu zu regeln. Dies hat auch er- reich der Immobilien. Bei der Landwirtschaft ist in be- hebliche Auswirkungen auf den Umgang mit dem Erbe. sonderer Weise zu erwähnen, dass die Rückwirkung auf In Deutschland ist es eine gute Tradition, dass wir mit die Agrarstruktur von ganz entscheidender Bedeutung dem Erbe sorgsam und verantwortungsbewusst umge- ist. Das muss natürlich in besonderer Weise beachtet hen. Das gilt für das geistige, für das kulturelle und na- werden. türlich auch für das materielle Erbe. Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, den wir uns (Beifall bei der CDU/CSU) intensiver anschauen werden – dies ist schon im Laufe Mit dem Erbe sorgsam und verantwortungsbewusst der Debatte angesprochen worden –: Es geht um die umzugehen, ist ganz entscheidend für die Stabilität einer Frage, wie wir mit den weiteren Verwandten – dies be- Gesellschaft. Es geht uns darum, dafür zu sorgen, dass trifft die Steuerklasse II –, also mit Geschwistern, Nich- der generationenübergreifende Verantwortungsver- ten, Neffen usw., umzugehen haben. Das werden wir uns bund gestärkt und nicht geschwächt wird. genau ansehen müssen. Natürlich werden wir uns, bevor wir zu einem Abschluss kommen – so ist es besprochen (Beifall bei der CDU/CSU) worden –, die Bewertungsverordnung vornehmen müs- Kollege Meister hat es gesagt: Wir haben eine äußerst sen. schwierige Aufgabe zu erfüllen. Wir haben die Aufgabe, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es darf auch ein das Recht neu zu gestalten. Wir ernten mit Sicherheit Gesetz sein!) Kritik, wir beziehen die Prügel – und die Länder das Geld. Das macht es für uns nicht ganz einfach. Ich habe Wir werden beachten müssen, wie das alles wirkt. deswegen Verständnis für viele Kolleginnen und Kolle- gen, die fragen: Warum beschränkt sich der Bund nicht Nur dann, wenn wir dies alles tun, werden wir zu auf eine Rahmengesetzgebung und überlässt dann die einem guten Ergebnis kommen können. Das heißt, uns Ausführungen den Bundesländern? stehen die Bewältigung schwieriger Aufgaben und inten- sive Beratungen bevor. Wir sind für Hinweise jedweder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Art, die uns die Chance eröffnen, die Dinge zu verbes- Ich weiß wohl, dass die Länder diese Aufgabe nicht so sern, sehr dankbar. gerne erfüllen, weil natürlich auch sie die Schwierigkei- Herzlichen Dank. ten sehen. Aber natürlich weisen die Kolleginnen und Kollegen zu Recht darauf hin, dass die Verhältnisse in (Beifall bei der CDU/CSU) 15120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sion darüber diskutieren, wie man zu einer Konsolidie- (C) Nun hat Axel Troost für die Fraktion Die Linke das rung der Länderhaushalte kommen kann. Wort. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun hat Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion, das Heute scheint ein besonderer Tag zu sein. Während uns Wort. sonst immer nur Gesetzentwürfe vorgelegt werden, durch die Unternehmen und Reiche entlastet werden sol- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da müssen jetzt len, besteht diesmal scheinbare Aufkommensneutrali- einige Sachen klargestellt werden! Zwischen tät. Aber wenn man sich das genau anschaut, dann stellt Gedenkstein und Grabstein ist nämlich ein Un- man fest, dass diese Aufkommensneutralität nur vor dem terschied!) Hintergrund zustande gekommen ist, dass wir deutlich höhere Erbschaften und eine Andersbewertung von Im- Norbert Schindler (CDU/CSU): mobilien zu verzeichnen haben. Das heißt nichts ande- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte res, als dass es wieder zu einer Steuersenkung kommt, Gäste auf den Tribünen! Lieber Florian Pronold, ich rufe weil das eigentlich zu besteuernde Volumen viel größer dir einmal zu: Ich habe dir das nicht versprochen. Ich geworden ist. will das gleich klarzustellen, nicht dass da ein Verdacht Wenn wir uns aber die Prozesse in den letzten zehn aufkommt. Es ist ein Unterschied, ob man über einen Jahren anschauen, dann ist viel entscheidender: 1998, Gedenkstein, einen Grabstein oder vielleicht nur einen genau vor zehn Jahren, sind SPD und Grüne in den Bun- Grenzstein redet. destagswahlkampf gezogen und haben gesagt: Wir sind Ich möchte die grundsätzliche Feststellung treffen: für die Wiedererhebung der Vermögensteuer. Sie haben Wir haben uns das Thema nicht ans Revers geheftet. Ur- die Wahl gewonnen; sie haben eine Koalitionsvereinba- sächlich ist die Entscheidung von Karlsruhe. Die Länder rung getroffen, in der von der Wiedereinführung der Ver- machen sich jetzt keinen faulen Lenz. Sie waren bei den mögensteuer die Rede war. Debatten im Vorfeld voll im Einsatz. Es ist aber der 1999 hat der Basta-Kanzler Schröder auf dem Partei- Deutsche Bundestag, der das Erbschaftsteuerrecht für tag der SPD gesagt: Mit mir ist eine Vermögensteuer die gesamte Bundesrepublik Deutschland vorgibt. Ich nicht machbar; aber bei der Erbschaftsteuer werden wir finde, das ist gut so, auch wenn es die eine oder andere (B) (D) richtig zulangen; da werden wir Reformen machen; da populistische Äußerung dazu gibt. werden wir Chancengleichheit hinbekommen. Seitdem Zur Klarstellung sage ich insbesondere in Richtung aber ist nichts passiert, weder unter Rot-Grün noch wäh- der FDP: Wir kommen um eine Reform des Erbschaft- rend der Großen Koalition. Jetzt wird uns ein Entwurf steuerrechts nicht herum. Klar ist aber auch, dass man vorgelegt, der im Ergebnis aufkommensneutral ist: keine bei so einem Thema keine guten Karten hat, weil es Vermögensteuer und reduzierter Erbschaftsteuersatz. schnell in eine Neiddebatte führt. Schließlich fühlen nur Dazu sagen wir: Das ist mit uns Linken nicht machbar. 8 oder 10 Prozent der Bevölkerung entsprechend mit, (Beifall bei der LINKEN) während die anderen sagen: Da ist etwas zu holen. Die- ses Thema hat auch mit Wahltaktik zu tun. Ich warne vor Wir sagen nach wie vor: Wir brauchen dringend das entsprechenden Überlegungen. Steuermehraufkommen aus Vermögensteuer und Erb- Ich sage aber auch sehr deutlich: Ich hätte mit dem al- schaftsteuer, das den Länder zufließt. Wir brauchen die- ten Erbschaftsteuerrecht weiterhin gut leben können. ses Mehraufkommen für die Finanzierung von Bildung, Dieses Erbschaftsteuerrecht haben wir 1997 beschlos- aber auch, weil die Föderalismuskommission bestrebt sen. Ich habe schon Probleme damit, dass man liegendes ist, die Verschuldungsmöglichkeiten der Bundesländer Vermögen so behandelt wie Aktien oder reines Geldver- einzuschränken. Die FDP ist konsequent, wenn sie sagt: mögen, weil es nicht so mobil ist. Steuern runter, Schulden runter und anschließend bitte auch die Ausgaben runter. Wenn wir aber sagen, dass wir (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) die öffentliche Hand, Bildung und vieles andere mehr brauchen, dann brauchen wir auch ein entsprechendes Die Frage ist, wie man das bewertet, wie man damit um- Steueraufkommen. geht. Die Tatsache, dass Karlsruhe uns die Freiheit gege- ben hat, sogenannte Verschonungsfristen zu gestalten, Wir sind der Ansicht, dass die Vermögensteuer wie- entspricht der Interessenlage der deutschen Landwirt- der erhoben werden muss und wir eine echte Reform der schaft; denn bäuerliches Vermögen wird in der Regel Erbschaftsteuer brauchen, die ein wesentlich höheres drei- oder viermal vererbt, bevor es einmal verkauft Steueraufkommen nach sich zieht. Das ist nicht populis- wird. Für Wald gilt das erst recht. Wir sind der Überzeu- tisch formuliert. Dafür gibt es ganz konkrete Konzepte. gung, dass Erbschaftsteuerrecht so gestaltet sein muss, Diese Konzepte werden von den Gewerkschaften dass die Sache rentabel bleibt. Daher bin ich der Koch/ IG Metall, Verdi und vielen anderen unterstützt. Wenn Steinbrück-Kommission ausgesprochen dankbar dafür, wir das umsetzen, bekommen wir wieder solide Länder- dass sie diesen Weg beschritten hat. Es ist ja nicht alles finanzen. Dann kann man in der Föderalismuskommis- schlecht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15121

Norbert Schindler (A) Ich will das, was der Finanzminister gesagt hat, unter- dern sind 80 bis 90 Prozent der landwirtschaftlichen Flä- (C) streichen: Die allermeisten deutschen Grundbesitzer chen verpachtete Flächen. Die Frage, welche Unruhe die müssen auch in Zukunft keine Erbschaftsteuer zahlen, da unterschiedliche Bewertung hinsichtlich des Pachtlands wir eine kleinflächige Struktur haben. Man muss aber auslösen könnte, will ich heute als Anstoß für die Bera- auch darauf hinweisen, dass ein Bauer, der sein Erbe von tungen mitgeben. 10 oder 15 Hektar auf 30 Hektar erweitert hat, diese Er- weiterung nach Zahlung der Einkommensteuer finan- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ziert hat. Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Später müssen seine Kinder, je nachdem wie die Ein- Norbert Schindler (CDU/CSU): schätzung war – Stichwort: Kaufpreissammlung –, ent- Eine letzte Frage: Hat das bäuerliche Wohnhaus, das sprechend nachzahlen. Es ist nicht gerecht, dass man eng am Stall oder an Wirtschaftsgebäuden gebaut ist, Leistung doppelt abstraft. Deswegen sind die nächsten den gleichen Wert wie ein vergleichbar anderes Wohn- Schritte, dass wir im Bewertungsgesetz – ich plädiere haus, muss man nicht einen Abschlag vornehmen? Man dafür, dass es ins Gesetz kommt und nicht in die Verord- muss berücksichtigen, dass alte Bauernhäuser in der Re- nungen, gel viel Wohnfläche haben. Die Berechnung des Ver- kehrswertes muss agrarstrukturell vorgenommen wer- (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) den. Die Anhörung findet ja in den nächsten Wochen weil ich den Beamten auf mittlerem Weg absolut nicht statt und die Beratungen mit Sicherheit auch. traue –, Ein Satz muss mir noch erlaubt sein, weil mir das ein (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! Ori- Anliegen ist: Das Recht sollte bitte nicht schon 14 Tage ginäre Verantwortung des Gesetzgebers!) nach Unterschrift des Bundespräsidenten in Kraft treten. Die Betroffenen brauchen eine Schonzeit, um abzuwä- klare Vorgaben machen. gen. Sie sollten nicht aus Angst schnell zum Notar ren- Einen Punkt muss man nachhaltig zur Diskussion nen und etwas Verkehrtes tun. Ich wünsche mir eine stellen: Bleiben wir bei den Fristen von zehn und 15 Jah- Wirksamwerdung des Gesetzes am 1. Januar 2009. ren? Ich weiß, sie kommen aus dem Höferecht, also ge- Danke schön. rade aus der Landwirtschaft; Herr Pronold hat mit Recht darauf hingewiesen. Aber wo will der Staat das Geld (Beifall bei der CDU/CSU) herholen, wenn der Betrieb im letzten Jahr bankrott ist? Hier muss man auch danach fragen, wie abgerechnet Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (B) (D) wird, wenn ein Notverkauf dringend notwendig ist. Nun hat das Wort Kollege Christian Freiherr von Schließlich spielt das Einkommensteuerrecht bei einer Stetten. solchen Veräußerung eine gewisse Rolle. Ziel unserer Anstrengungen muss sein, einen Betrieb, ob im Mittel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stand oder in der Landwirtschaft, auf Dauer zu erhalten. Wenn die internen Zahlen über das Abschmelzen stim- Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): men, sollte man darüber konstruktiv nachdenken. Ange- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sichts des Strukturwandels, den wir überall erleben, ist Wer die heutige Debatte aufmerksam verfolgt hat das ein denkenswerter Ansatz. Damit nähmen wir eine gewisse Furcht und würden das Erbschaftsteuerrecht (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So wie wir alle mittelstandsfreundlich gestalten. hier!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- und die Änderungsanträge des Bundesrates kennt, dem wie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) ist klar geworden, wie wichtig es war, dass wir den Ge- setzentwurf des Bundesfinanzministeriums in alle seine Ich nenne noch einen Punkt: die Einbeziehung der Einzelteile zerlegt haben, um zu überprüfen, ob das ei- verpachteten Flächen. Wir haben – das räume ich ein – gentliche Ziel, das wir im Koalitionsvertrag vereinbart bei der Unternehmensnachfolge in der Landwirtschaft haben, nämlich die Entlastung der Familienbetriebe bei einen Kompromiss zwischen Schwarz und Rot gefun- Betriebsübergang, tatsächlich erreicht wird. den. Dass sich die SPD da deutlich bewegt hat, erkenne ich mit großem Respekt dankend an. Lieber Florian Pronold, in unserem Koalitionsvertrag ist von einem Abschmelzungsmodell und von 10 Jahren Aber es kann zu Unruhe führen, wenn verpachtetes die Rede, nicht von 15 Jahren und nicht von einem fall- Vermögen, das im Verwaltungsvermögen geparkt ist, in beilartigen Übergang. der Erbschaftsteuer extrem anders bewertet wird. Bei der engen Hofnachfolge können die Regelungen funktionie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren. Sie könnten jedoch auch zu der Überlegung führen: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir als Koalition Ich verpachte meine Fläche nicht mehr, bremse den und ich in der Fraktion dafür werben, dass wir diesen Strukturwandel, nehme dieses Land in einen passiven Koalitionsvertrag einhalten. Ich glaube, das sollte in un- Betrieb und schließe nur noch Bewirtschaftungsverträge serem eigenen Sinne sein. von Jahr zu Jahr. – Dies würde vor allem in den west- deutschen Bundesländern zu Unruhe führen. Aber – das (Florian Pronold [SPD]: Jeder ist der Debatte gebe ich zu bedenken – auch in den jungen Bundeslän- offensichtlich nicht gefolgt!) 15122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Christian Freiherr von Stetten (A) – So ist es. Dadurch würde sofort ein Viertel der betroffenen Be- (C) triebe nicht mehr begünstigt werden. Das können Sie Welche Änderungen wir uns als CDU/CSU-Fraktion wirklich nicht wollen. vorstellen, haben die Vorredner bereits deutlich gemacht. Wir sollten uns auch den Bericht des Normenkontrollrats Sie fordern weiterhin eine Überprüfung der zu ge- ganz genau anschauen. Hier wird klargemacht, wie stark währleistenden Lohnsumme, die heute bei 70 Prozent die Bürokratie den Staat belastet und was auf die betrof- liegt. Wir wollen auch noch darüber sprechen, ob eine fenen Bürger zukommt. weniger bürokratische Lösung möglich ist. Sie wollen – zumindest prüfen Sie das – den Grenzwert von 70 Pro- Ich möchte mein Augenmerk auf die Bundesratsit- zent – er bereitet schon jetzt vielen große Schwierigkei- zung legen, die parallel zu unserer heutigen Sitzung ten – auf 90 Prozent erhöhen. Das ist doch Wahnsinn stattfindet. und völlig realitätsfremd. Bei diesem Gedankengut ma- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die sind schon che ich mir um die mittelständische Wirtschaft in Rhein- fertig!) land-Pfalz wirklich Sorgen. Die Vertreter der Regierungen der Bundesländer – den (Beifall bei der CDU/CSU) Bundesländern stehen die Erbschaftsteuereinnahmen zu – Die Linksfraktion und die Grünen möchte ich daran haben Änderungsanträge verabschiedet, durch die betrof- erinnern: Noch vor wenigen Jahren haben Sie ein Gesetz fene Familienunternehmen entlastet werden sollen. Ich gefordert, das verhindert, dass sich Pensionsfonds und sage Ihnen: Hinter die Beschlüsse des Bundesrates soll- andere Heuschrecken in Deutschland breitmachen und ten wir bei den anstehenden Beratungen des Bundestages große Firmen und Wohnungsbestände aufkaufen. Frau nicht zurückfallen. Wir sollten das respektieren, was uns Höll, was glauben Sie denn, was passiert, wenn große die Länder – sie bekommen die Einnahmen aus der Erb- Familienbetriebe in Zukunft plötzlich mit 50 Prozent ih- schaftsteuer – vorschlagen, und wir sollten dahinter nicht res Verwaltungsvermögens bewertet werden, weswegen zurückfallen. sofort 30 Prozent Erbschaftsteuer fällig sind? Wenn ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bruder oder ein Cousin erbt, sind sofort 50 Prozent Erb- schaftsteuer fällig. Finanzierbar ist das doch nur durch Wenn man sich die Äußerungen der Bundesländer ge- den Verkauf des Unternehmens oder zumindest eines nauer anschaut, dann stellt man fest, dass zumindest hier Teils des Unternehmens. ein weiteres Umdenken eingesetzt hat. Es ist vorhin er- wähnt worden: Wir wollten am Anfang dafür werben, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dass die Bundesländer selber entscheiden können, ob sie Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Sie (B) eine Erbschaftsteuer erheben und, wenn ja, wie hoch die (D) können damit Ihre Redezeit verlängern. Sie ist gerade zu Sätze und die Freibeträge sind. In der Vergangenheit ha- Ende gegangen. ben die Bundesländer dies immer abgelehnt, übrigens auch die Bundesländer, in denen die FDP an der Regie- rung beteiligt war. Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Sehr gerne, Herr Präsident. Ich sehe 007. Der Vertreter von Baden-Württemberg hat heute Mor- gen im Bundesrat erklärt: Den vorliegenden Gesetzent- (Heiterkeit – Sibylle Laurischk [FDP]: Die wurf der Bundesregierung lehne ich ab; die Gesetzge- Heuschrecken stehen schon vor der Tür!) bungskompetenz für die Erbschaftsteuer sollte auf die Bundesländer übertragen werden; das darf man zu Be- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ginn unserer jetzigen Debatte zur Erbschaftsteuer ruhig Frau Höll, bitte. auch einmal erwähnen. (Florian Pronold [SPD]: Ich denke, Sie sind Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): der Berichterstatter für die Fraktion!) Herr Kollege, ich möchte einfach nur nachfragen, ob – Herr Kollege Pronold, wenn Sie hier nicht so aufge- Sie in Vorbereitung der heutigen Debatte eventuell den dreht hätten, dann würde ich auf Folgendes heute nicht Antrag der Linken zur Erbschaftsbesteuerung zur Kennt- eingehen: nis genommen haben. Darin machen wir einen Vor- schlag zur Behandlung des Betriebsvermögens. Wir sind Auch die rheinland-pfälzische Landesregierung unter gegen eine pauschale Freistellung von 85 Prozent, wie Führung des SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Beck hat Sie sie vertreten, vielmehr treten wir dafür ein, das Anla- heute im Bundesrat einen Antrag gestellt und damit eine gevermögen als Bezugsgröße zu nehmen. Unser Vor- Art Provokation betrieben. Im Antrag 42/08 wird eine schlag ist also wirklich zielgerichtet. Überprüfung der Verwaltungsvermögensgrenze von 50 Pro- zent gefordert. Angeregt wird, den Wert von 50 Prozent, Ich denke, das ist eine Möglichkeit, über die man dis- der schon jetzt fast zu niedrig ist, auf 25 Prozent zu sen- kutieren kann. Wir, die Linke, sehen hier durchaus ken. Handlungsbedarf. Eine Bewertung des Verkehrswertes ist nicht einfach. Wir brauchen allerdings eine Eins-zu- (Florian Pronold [SPD]: Aha! – Carl-Ludwig eins-Umsetzung, und es muss sachgerecht entschieden Thiele [FDP]: Einigkeit bei den Sozialdemo- werden. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Sie sollten kraten!) ihn zur Kenntnis nehmen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15123

(A) Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (C) Ich nehme ihn zur Kenntnis und freue mich auf die in- Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales tensive Beratung im Ausschuss. Ich kann Ihnen allen nur Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfehlen: Besuchen Sie einmal einen Familienbetrieb, Ausschuss für Bildung, Forschung und und sprechen Sie mit seinen Mitarbeitern. Fragen Sie die Technikfolgenabschätzung Belegschaft und die Mieter einmal, ob sie gerne Mit- Federführung strittig arbeiter bzw. Mieter eines Familienbetriebs sind oder ob a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sie lieber Mitarbeiter bzw. Mieter eines Großkonzerns richts des Ausschusses für Familie, Senioren, aus dem Ausland wären. Frauen und Jugend (13. Ausschuss) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – – zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Eduard Oswald [CDU/CSU]: Eine sehr gute Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, Ekin Antwort! – Abg. Dr. Barbara Höll [DIE Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Frak- LINKE] nimmt wieder Platz) tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sie dürfen ruhig stehenbleiben; denn sonst muss ich Zwangsverheiratung bekämpfen – Opfer aufhören, zu reden. schützen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – – zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ich dachte, Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer damit ist meine Frage beantwortet!) Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich sage Ihnen noch etwas: Sie von der Linken sind Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Opfer doch die ersten, die auf der Straße stehen werden, wenn stärken und schützen – Gleichstellung durch ein Betrieb aufgrund der Folgen dieses Gesetzes ver- Integration und Bildung fördern kauft werden muss, – zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim (Florian Pronold [SPD]: Kein einziger Betrieb Dağdelen, Karin Binder, , weiterer wird aufgrund dieses Gesetzes verkauft wer- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE den!) Für einen Schutz der Opfer von Zwangsver- und die uns dann auffordern, ein neues Gesetzgebungs- heiratungen, für die Stärkung ihrer Rechte verfahren einzuleiten. und die längerfristige Bekämpfung der (Beifall bei der CDU/CSU) Ursachen patriarchaler Gewalt (B) Ich sage Ihnen: Jetzt können wir etwas für die Mieter, – Drucksachen 16/61, 16/1156, 16/1564, 16/4910 – (D) die Belegschaften und die Familienbetriebe tun. Ich lade Berichterstattung: Sie alle ein, in den nächsten Wochen gemeinsam mit uns Abgeordnete Michaela Noll an einem ausführlichen Gesetzentwurf zu arbeiten, der Angelika Graf (Rosenheim) diesen Wünschen gerecht wird. Dann können wir uns in Sibylle Laurischk diesem Hohen Hause einigen. Sevim Dağdelen Herzlichen Dank. Irmingard Schewe-Gerigk (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat- [CDU/CSU]: Ein sehr guter Mann!) tieren, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeit erhalten soll. – Dazu höre ich keinen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Damit ist die Aussprache geschlossen. Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache für das Bündnis 90/Die Grünen. 16/7918 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- (Unruhe) schüsse zu überweisen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich denke, dass sie erst anfängt, wenn die Gespräche zum vorigen Tagesordnungspunkt nach draußen verlegt Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 b und 8 a worden sind. auf: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, GRÜNEN): Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Vielen Dank, Frau Präsidentin. der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zwangsverheiratung durch Verbesserung des Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Opferschutzes wirksam bekämpfen Es scheint zu klappen. Es sind ja auch fast nur noch Frauen hier. – Drucksache 16/7680 – Überweisungsvorschlag: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Innenausschuss (f) GRÜNEN]: Oh nein! So nicht!) 15124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) – Ich habe gesagt: fast. Laurischk [FDP] – Reinhard Grindel [CDU/ (C) CSU]: Das gibt es ja!) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Sie haben auch gehört, dass für die nach Deutschland GRÜNEN): zwangsverheirateten Migrantinnen – die ja boshaft „Im- Ja. Auch das ist ein wichtiges Thema. portbräute“ genannt werden – ein eigenständiges Auf- enthaltsrecht der beste Schutz ist. Denn erst dann können Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die anderen Maßnahmen greifen. In der vergangenen Woche hat sich der Todestag von Hatun Sürücü zum dritten Mal gejährt. Sie brach aus ei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ner erzwungenen Ehe aus und wollte ihr eigenes Leben SES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel leben, frei von Zwang und Gewalt. Ihre Familie erach- [CDU/CSU]: Das gibt es doch!) tete dies als Verbrechen und bestrafte es mit dem Tod. Hatun Sürücü ist zu einem Symbol geworden: zu einem Was machen Sie? Außer Verschlechterungen auf dem Symbol für Migrantinnen, die von ihrer Familie daran Rücken der Frauen machen Sie nichts. Da können Sie gehindert werden, selbst über sich und ihren Körper zu sich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der bestimmen, und zwar aufgrund autoritärer und patriar- SPD, nicht wegducken, auch wenn Ihnen das peinlich chaler Vorstellungen, die nicht nur den Frauen, sondern ist. Seit 2005 liegt unser Antrag auf dem Tisch. Sie ha- auch den jungen Männern massiv schaden. Darüber ben uns immer wieder damit vertröstet, es gebe bald ei- müssen wir eine Debatte führen, allerdings nicht, indem nen Koalitionsvorschlag. Nun haben sich Union und man die Opfer benutzt, um eine Angstkampagne gegen SPD zwei Jahre lang darüber gestritten. Eine hat sich da- Migranten zu entfachen und damit Fremdenhass zu bei herausgehalten – sie sitzt wieder nicht auf der Regie- schüren, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von rungsbank –, nämlich Frau Böhmer, die Integrationsbe- der CDU/CSU. auftragte. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – GRÜNEN]: Die fehlt immer!) Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was?) Frau Böhmer hat ihr Pokerface aufgesetzt und gesagt, Dass Sie uns Grünen ständig vorwerfen, wir hätten das müsse man politisch entscheiden. aufgrund unserer Multikulti-Ideologie die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen an Frauen verschlos- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist jetzt sen, ein bisschen blöd, Frau Kollegin!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Oh ja! Dabei wäre es ihre Pflicht gewesen, für die Rechte der (B) Allerdings!) Migrantinnen zu kämpfen. (D) ist eine Frechheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie der Abg. Sevim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dağdelen [DIE LINKE]) sowie bei Abgeordneten der SPD – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist nichts als die Geschwiegen hat sie auch, als Roland Koch in Hessen Wahrheit! Das kann man täglich bestaunen!) diesen unsäglichen Wahlkampf geführt hat. Da war von ihr nichts zu hören. Wenn Sie sich unsere Initiativen der letzten Jahre anse- hen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das habe ich KEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ getan!) DIE GRÜNEN]: Dieser Wahlkampf war wirk- stellen Sie fest: Wir haben dafür gesorgt, dass Zwangs- lich ein Skandal!) verheiratung seit 2005 explizit als Straftatbestand ausge- Verteidigt hat sie hingegen die Verschärfung beim Fami- wiesen ist und dass ausländische Ehefrauen im Falle von liennachzug, die die Große Koalition im Rahmen der Gewalt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten. Reform des Aufenthaltsrechts beschlossen hat. Sie hat Wir haben Ihnen in unseren Anträgen außerdem vor Au- schon eine seltsame Auffassung von der Rolle einer Inte- gen geführt, was noch zu tun ist. grationsbeauftragten. Sie wissen ganz genau, wie die Opfer von Zwangs- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das zeigt ge- verheiratung am besten zu schützen wären. Sie kennen rade, dass Sie es nicht begriffen haben! Damit die Vorschläge, die in der Sachverständigenanhörung im schützt sie die Frauen!) Ausschuss vorgetragen wurden. Alle Sachverständigen – Dazu werde ich Ihnen gleich etwas sagen, Herr waren sich darin einig, dass es zum Schutz der in das Herkunftsland der Eltern verschleppten und zwangsver- Grindel. heirateten Frauen am wichtigsten ist, ihnen das Recht Voraussetzung für die Einreise ausländischer Ehegat- zur Rückkehr nach Deutschland einzuräumen. Das wis- ten nach Deutschland ist seit dem Sommer das Bestehen sen Sie ganz genau. eines Sprachtests für Deutsch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Genau! Zu und bei der SPD sowie der Abg. Sibylle Recht!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15125

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Diese Regelung gilt aber nicht für alle, sondern nur für Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (C) Ehegatten aus bestimmten Ländern. GRÜNEN): Nein, Herr Grindel, ich erkenne das nicht an. Das (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht um reicht nicht aus, um zu begründen, dass verheiratete den Integrationsbedarf!) Frauen – möglicherweise mit Kindern –, die zu ihrem Und dann wundern Sie sich darüber, dass dieses Gesetz Ehemann nach Deutschland ziehen wollen, schon zum in der Türkei als Antitürkengesetz angesehen wird! Ha- Zeitpunkt der Einreise Deutschkenntnisse nachweisen ben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, wo eine Frau müssen. Ich bin dafür, dass die Migrantinnen nach in Ostanatolien die deutsche Sprache lernen soll? Deutschland kommen können; wenn sie hier sind, können sie sofort Deutschkurse und Integrationskurse belegen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Das werden wir (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Ihnen gleich erklären!) GRÜNEN]: Genau! In Deutschland! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was ist, wenn Sie stellen jede Türkin vom Lande mit geringer Bildung sie nicht hingehen? – Gegenruf des Abg. Josef unter den Generalverdacht der Zwangsverheiratung. Was Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist mit dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Fa- NEN]: Das kann man doch verpflichtend ma- milie, wenn Ehepartner und Kinder wegen fehlender chen!) Deutschkenntnisse jahrelang getrennt leben müssen? Das ist der richtige Weg. Aber dafür stehen in den Re- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE gionen, in denen Sie zuständig sind, keine Mittel zur GRÜNEN]: Nicht einmal Schwangere dürfen Verfügung. einreisen!) Natürlich müssen die Frauen die deutsche Sprache Das hätte ich einer christlich orientierten Partei nicht zu- lernen, und das ist die beste Möglichkeit der Integration, getraut. gar keine Frage. Natürlich ist das eine Voraussetzung da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für, die Beratungsangebote zu nutzen. Aber warum sol- len sie diesen Sprachtest vorher machen? Das ist keine Maßnahme zur Bekämpfung von Zwangs- verheiratungen, das ist eine Maßnahme zur Verhinde- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Damit sie sich rung von Zuwanderung. wehren können! – Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Das können sie ja nicht!) sowie der Abg. Sevim Dağdelen [DIE (B) LINKE]) Sie wissen, dass solche Kurse in der Türkei nicht ange- (D) boten werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Natürlich Frau Schewe-Gerigk, möchten Sie eine Zwischen- werden sie das!) frage des Kollegen Grindel zulassen? Sie befinden sich mit Ihrer Position ja noch weit hinter der Position des Innenministers, die ich Ihnen gleich Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE vortragen will. GRÜNEN): Bitte schön, gerne. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Regelungen verstoßen nach Ansicht vieler Rich- Reinhard Grindel (CDU/CSU): ter und Richterinnen klar gegen unsere Verfassung, und Frau Kollegin Schewe-Gerigk, da viele Bürger, die erste Klagen liegen bereits vor. Offensichtlich – damit uns zuschauen, die aktuelle Diskussion nicht kennen komme ich zum Bundesinnenminister, Herr Grindel – werden, möchte ich Sie bitten, ihnen zu erklären, wie musste der Bundesinnenminister erst in die Türkei rei- Frauen, die von Zwangsverheiratung betroffen sind, die sen, um festzustellen, welchen Murks er mit diesem Ge- zahlreichen Beratungsangebote – die es zu Recht gibt – setz gemacht hat. Herr Schäuble hat mittlerweile zuge- annehmen können sollen, wenn sie die deutsche Sprache sagt, zu überprüfen, ob der Sprachnachweis nicht auch in nicht beherrschen, wenn sie nicht einmal in der Lage Deutschland erbracht werden kann. sind, die Polizei anzurufen, sich Hilfe zu holen, sich zu- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rechtzufinden. NEN]: Hört! Hört!) Erklären Sie uns, warum es nicht sinnvoll sein soll, dass diese Frauen vor der Übersiedlung nach Deutsch- Damit befindet sich der Innenminister schon ein Stück- land Deutsch lernen! So können sie sich schließlich ge- chen näher an der Position der Grünenfraktion als Sie, Herr Grindel. gen Zwangsverheiratung wehren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Michaela Noll [CDU/CSU]: Genau!) SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Sibylle Erkennen Sie also an, dass das sehr wohl eine wichtige Laurischk [FDP]: Er bewegt sich bereits! – Maßnahme ist, um Zwangsverheiratungen zu bekämp- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE fen? GRÜNEN]: Die Union ist lernfähig!) 15126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Der Innenminister sagt aber: Wer innerhalb eines halben worden. Das haben Sie im Familienausschuss selber ge- (C) Jahres an dieser Prüfung scheitert, der muss wieder aus- hört; die Ministerin hat das erzählt. reisen. – Man müsste wahrscheinlich „die“ sagen. Das Zu Onlineberatungen. Es gibt endlich eine anonyme finde ich besonders perfide. Das ist alles andere als eine und niedrigschwellige Beratung, sodass sich die Frauen gute Integrationspolitik. direkt an die entsprechende Stelle wenden können. Ich komme zum Schluss. Mich wundert es darum auch gar nicht, dass die CDU die für die nächste Woche Im Zweiten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt vereinbarte Integrationsdebatte so kurz vor der Ham- gegen Frauen wird das Thema Zwangsverheiratung auf- burgwahl abgesagt hat. Sie haben in Hessen gemerkt, geführt. Wir haben einen Nothilfe-Flyer verteilt, damit dass die Menschen auf ausländerfeindliche Parolen nicht die Frauen ihre Rechte kennenlernen. hereinfallen, und wollen alles tun, um zu vermeiden, (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ dass so etwas auch im weltoffenen Hamburg ankommt. DIE GRÜNEN]: Die Flyer gab es schon zu an- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE deren Zeiten!) GRÜNEN]: Sie hatten Angst, dass Frau Wir haben den Integrationsgipfel veranstaltet, auf dem Böhmer redet!) mit den und nicht über die Migranten geredet wurde. Ich sage Ihnen: Geben Sie den Menschen, die auf (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Dauer bei uns bleiben wollen, endlich die Perspektive, GRÜNEN]: Drei Stunden waren das!) deutsche Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger zu werden. Wir haben einen Nationalen Integrationsplan auf den Weg gebracht. Wir haben das Zuwanderungsgesetz ver- Vielen Dank. abschiedet. Dazu komme ich gleich gerne noch, wenn es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um die Deutschkenntnisse geht. sowie der Abg. Sibylle Laurischk [FDP] und (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) DIE GRÜNEN]: Machen Sie sich doch nicht lächerlich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – Ich möchte jetzt gerne zu Ende sprechen. Michaela Noll hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Auch in den Bundesländern geschieht einiges. Ich nenne den Zehnpunkteplan in NRW, interkulturelle Be (Beifall bei der CDU/CSU) rater usw. usf. Was hier in einem Jahr passiert ist, das ha- (B) ben Sie in der Zeit, in der Sie in der Verantwortung wa- (D) Michaela Noll (CDU/CSU): ren, nicht auf die Beine gebracht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Kollegen! Frau Schewe-Gerigk, jedes Mal, wenn ich Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kol- hier stehe und nach Ihnen reden muss, muss ich mich re- lege Mayer hat gesagt, Deutschland sei kein lativ mäßigen, um nicht richtig wütend zu werden; Einwanderungsland!) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ An dieser Stelle müssen wir unserer Ministerin auch ein- DIE GRÜNEN]: Werden Sie das doch!) mal dafür danken, dass das in so kurzer Zeit möglich denn das, was Sie hier zum Teil vortragen, ist in der Sa- war. che und vor dem Hintergrund dessen, was wir in einem (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jahr hier auf den Weg gebracht haben, nicht gerecht. NEN]: Nein, das können Sie machen!) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Ich nenne Ihnen jetzt zwei Beispiele für praxisorien- DIE GRÜNEN]: Was denn?) tierte Maßnahmen: Ich werde Ihnen einfach einmal sagen, was in einem Erstes Beispiel: Onlineberatung. Ich glaube, die Jahr möglich war und passiert ist. Dafür reichen die fünf Onlineberatung ist für diese Frauen ausgesprochen wich- Minuten gar nicht aus. Ich nenne Ihnen ein paar Bei- tig. spiele: (Ina Lenke [FDP]: Haben sie alle Computer?) Zur Forschung. Das Familienministerium hat den ers- ten Sammelband zu Zwangsverheiratungen in Deutsch- Bei der häuslichen Gewalt hat man es häufig nur mit ei- land herausgegeben. nem Täter zu tun. Bei der Zwangsverheiratung hat man es aber meistens mit der Familie zu tun, die Druck aus- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ übt. Ich glaube: Wenn die Frauen unter Kontrolle bzw. DIE GRÜNEN]: Aus der Forschung muss man Beobachtung stehen, dann brauchen sie solche niedrig- auch Konsequenzen ziehen!) schwelligen Angebote, um einen unkomplizierten Zu- Als wir im letzten Jahr hier darüber diskutiert haben, war gang zur Hilfe zu erhalten. Deswegen haben wir diese das wie das Fischen im Trüben, weil wir weder Daten Angebote geschaffen. Ob per E-Mail oder Gruppen- noch Fakten hatten. Mittlerweile liegen sie vor. Es sind chats: Sie erhalten Informationen. Die Mitarbeiterinnen neue Forschungsuntersuchungen in Auftrag gegeben helfen auch bei der Suche nach Beratungsstellen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15127

Michaela Noll (A) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Wohnungen verschwinden und dadurch keine Chance (C) GRÜNEN]: Das hat aber niemand kritisiert, haben, an unserem Leben hier teilzuhaben. Deswegen Frau Noll!) können Sie mich nicht davon abbringen, dass dies der richtige Schritt für die jungen Frauen war, um sie prä- – Nein, aber ich möchte einfach einmal sagen, was wir ventiv zu schützen. Nicht nur wir denken so. Schauen auf die Beine gestellt haben. Sie erwecken hier ja den Sie einmal über die Grenzen hinweg, werfen Sie einen Eindruck, als ob sich nichts getan hätte. – Diese Projekte Blick nach Holland oder nach Frankreich. Die Franzosen gibt es in Berlin, in Frankfurt, in Stuttgart und – seit ei- gehen sogar noch viel weiter. nem Jahr – in NRW. Auf einer Seite waren 5 000 Klicks zu verzeichnen. Das heißt: Wir haben etwas auf den Weg Im letzten Jahr habe ich Ihnen – daran können Sie gebracht, was den Frauen vor Ort tatsächlich hilft. sich vielleicht noch erinnern – von dem jungen marokka- nischen Mädchen Latifa erzählt. Ihr Schicksal hat mich (Beifall bei der CDU/CSU) persönlich sehr betroffen gemacht, weil sie zu mir kam, Zweites Beispiel: Deutschkenntnisse. Alle, die in un- um Hilfe zu holen. Und warum kam sie zu mir? Sie serem Ausschuss sind, wissen, dass ich immer für konnte Deutsch. Ich konnte ihr helfen, weil wir uns mit- Deutschkenntnisse vor der Einreise gekämpft habe. Da- einander verständigen konnten. von werden Sie mich nicht abbringen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollen ja auch Deutsch lernen! GRÜNEN]: Das macht das Verfassungsgericht In Deutschland!) schon!) Die Pflicht, vor der Einreise Deutschkenntnisse zu ha- Es ist unser Ziel, zuziehenden Ehegatten ein selbstbe- ben, fördert die Integration, und wenn Sie Zwangsver- stimmtes Leben in Deutschland zu ermöglichen, weil sie heiratungen wirklich bekämpfen wollen, dann sehe ich nur dann eine Chance auf Integration haben. Das geht darin die echte Prävention. aber eben nur über die Sprache. Noch ein Wort zur Einführung eines eigenen Straftat- (Beifall bei der CDU/CSU) bestandes; Sie stellen sich hier hin und sagen, es sei nichts getan (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- worden, wir hätten keine Strukturen. Weit gefehlt! NEN]: Den haben wir schon eingeführt!) Schauen Sie sich doch einmal an, was die Goethe-Insti- denn davon geht meines Erachtens eine höhere Signal- tute in dem einen Jahr auf den Weg gebracht haben. Sie wirkung aus. Damit könnten wir deutlich machen, dass (B) haben Angebote geschaffen: Sie bieten Sprachkurse an, Zwangsehen integrationshemmende Menschenrechts- (D) zum Beispiel auch mittels CD-ROM. verletzungen sind, die wir in Deutschland nicht dulden, Die Deutsche Welle bietet kostenlose Sprachkurse an. nicht tolerieren und nicht akzeptieren werden. Es gibt Faltblätter und Angebote vom Bundesamt für (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Migration. Flächendeckend ist ein breites Netz von An- GRÜNEN]: Deshalb hat Rot-Grün das zum geboten entstanden. Das heißt, die vorhandene Nach- Straftatbestand erklärt!) frage wird auch befriedigt. Es gibt das Angebot, das wir brauchen. Die Frauen müssen diese Kurse nutzen, wo- Wir werden erst dann aufhören, uns weiter dafür ein- durch sie eine Chance haben, hier in Deutschland zu- zusetzen, wenn es in Deutschland keine Zwangsverhei- rechtzukommen. ratungen mehr gibt. Mit den Deutschkenntnissen vor Einreise sind wir auf einem guten Weg. (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Danke schön. haben Sie in allen Ländern der Welt gemacht?) (Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard Für mich sind die Deutschkenntnisse ein wichtiger Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Faktor im Hinblick auf den Opferschutz. Wie soll sich NEN]: Was sagt Herr Schäuble dazu?) sonst eine junge Frau, die zwangsverheiratet werden soll, hier wehren können? Nur dann, wenn sie Grund- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kenntnisse hat, kann sie auf ihre Not aufmerksam ma- chen und sagen, dass sie Hilfe braucht. Anders wird es Für die FDP hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk nicht funktionieren. Ich glaube, das ist langfristig eine das Wort. Maßnahme, um Mädchen vor dem Schicksal als Import- braut zu schützen. Das ist in keinem Ihrer Anträge ent- Sibylle Laurischk (FDP): halten. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Herren! Die Integrationspolitik stand durch den Besuch GRÜNEN]: Zu Recht! Wir sind nämlich dage- des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland in gen!) dieser Woche wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Lassen Sie es mich klar sagen: Der FDP geht es nicht um Ich wünsche den jungen Frauen, die nach Deutsch- Assimilation, was unserem Verständnis vom freien Men- land einreisen, dass sie eben nicht in irgendwelchen schen gar nicht entspräche, 15128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Sibylle Laurischk (A) (Beifall bei der FDP – Kristina Köhler [Wies- Sprachförderung hier in Deutschland, denn darum geht (C) baden] [CDU/CSU]: Das verlangt doch auch es doch, damit Frauen und Männer Arbeit finden und in keiner!) dieser Gesellschaft leben können. sondern um Integration dieser Gesellschaft und um das Diese Sprachregelung als Nachzugsvoraussetzung ist Miteinander aller Menschen auf der Basis unseres offenbar nur ein neuer Hebel, um dem Familiennachzug Grundgesetzes. Steine in den Weg zu legen. Dazu passt, dass jetzt schon standardisiert DNA-Tests verlangt werden, um eine Ab- Der Auftritt von Herrn Erdogan in Köln und die be- stammung nachzuweisen, obwohl zum Beispiel in der geisterte Reaktion seiner Zuhörer und Zuhörerinnen hat Türkei ein funktionstüchtiges Personenstandswesen schlagartig deutlich gemacht, dass Integrationspläne und existiert. Die Antragsteller akzeptieren diesen Test im ei- -gipfel allenfalls Instrumente, aber keine Ziele sind. Wir genen Interesse, aber ich frage Sie: Wo ist denn die Frei- sind allenfalls auf dem Weg; vielleicht sind die ersten willigkeit, wenn einem gesagt wird, mach den Test oder Schritte erfolgt. bleib zu Hause? Ich hätte es begrüßt, wenn der türkische Ministerprä- Ich erwähne dies in dem Zusammenhang, um eines zu sident Zwangsheirat als Straftat gegen die Menschlich- verdeutlichen: Wer das Signal setzt, jemand sei hier nur keit bezeichnet hätte. bedingt erwünscht, muss sich nicht wundern, wenn diese (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bevölkerungsgruppe das eigene Heimatland bejubelt. der CDU/CSU) Von der Großen Koalition kommen zum Thema Dies steht nämlich auch in der Türkei unter Strafe. Zwangsheirat keine Vorschläge für weitere Maßnahmen mehr, obwohl doch jedem klar ist, dass die aufenthalts- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE rechtlichen Gesetzesänderungen denen nicht helfen, die GRÜNEN]: Warum soll er das dann noch ein- hier Opfer einer Zwangsheirat werden oder geworden mal extra sagen?) sind. Zwangsverheiratungen sind Ausdruck eines archaischen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Gesellschaftsverständnisses, das insbesondere Frauen die Entwicklung einer eigenen Identität nicht zugesteht Die im Antrag der FDP-Fraktion vorgeschlagenen und deshalb auch keine freie Partnerwahl zulässt. In ge- Maßnahmen wie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für ringerem Maße trifft dies übrigens auch auf Männer zu. Opfer von Zwangsheirat Eine solche Menschenrechtsverletzung können wir nicht (B) (D) hinnehmen, weshalb diese Form der Nötigung auch in (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das gibt es doch!) § 240 Abs. 4 StGB seit 2005 unter Strafe steht. Im Jahr 2006 – ich gehe davon aus, ähnlich auch in ohne die Zweijahresfrist, ein Rückkehrrecht für im Hei- 2007 – gab es keine 20 Ermittlungsverfahren in Deutsch- matland Zwangsverheiratete und der weitere Ausbau land, geschweige denn Anklagen oder Verurteilungen. von Beratungsstellen, Hotlines und Ähnlichem sind not- Dies suggeriert, dass hier kaum Probleme existieren. Der wendig, um wirkliche Verbesserungen zu erreichen. Wir Blick in die Praxis ergibt ein anderes Bild. Mehrere hun- brauchen eine höhere Sensibilität im Umfeld der Opfer, dert junge Frauen und Männer werden jedes Jahr Opfer also in Schulen, Jugendeinrichtungen und Behörden. Ich von Zwangsverheiratungen, wie ich höre, auch und ge- möchte in diesem Zusammenhang den angekündigten rade hier in Berlin. Leitfaden erwähnen, der in Baden-Württemberg erstellt wird und Verhaltensweisen im Umgang mit konkreten Die obige Beurteilung von Zwangsverheiratungen ist Bedrohungssituationen sowie Kontaktadressen zur wei- allseits Konsens. Trotzdem hat es die Große Koalition terführenden Hilfe vermittelt. nicht geschafft, hierzu einen gemeinsamen Antrag zu- stande zu bringen. Zusätzlich hat man mit der Neurege- Der Ausbau und die Sicherstellung der Finanzierung lung des Aufenthaltsrechts im letzten Sommer Regelun- von Schutzeinrichtungen wie den Frauenhäusern liegen gen eingeführt, die das Etikett der Verhinderung von mir besonders am Herzen. Die Finanzierung der Frauen- Zwangsheiraten tragen, in Wahrheit aber Ehen zweiter häuser ist seit ihrem Bestehen unsicher und von Bundes- Klasse einführen und Ressentiments verstärken. land zu Bundesland unterschiedlich geregelt. Dies führt zu nicht hinnehmbaren Unterschieden in der Chance, Die Möglichkeit, Unterricht in der deutschen Sprache Hilfe bei drohender Zwangsverheiratung und der Bedro- zu nehmen, ist in den Hauptherkunftsländern außerhalb hung mit körperlicher Gewalt oder dem Tode zu bekom- der Großstädte kaum bis gar nicht vorhanden und mit er- men. heblichen Kosten verbunden. Die FDP-Fraktion vertritt hierzu klar die folgende (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist falsch! Auffassung: Nur flankierende Maßnahmen, die greifen, Fragen Sie doch mal die Goethe-Institute!) werden den Ausstieg aus dem Teufelskreis Zwangsver- heiratung und Gewalt bewirken. Strafgesetze haben wir Darüber hinaus ist doch fraglich, was mit der Kenntnis schon. von 300 Wörtern auf Deutsch hier erreicht werden kann. Wichtig sind eine konsequente und verpflichtende (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15129

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weitere konkrete Maßnahmen, allerdings nicht vonseiten (C) Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Frak- der Länder und Kommunen. An dieser Stelle ist eine stär- tion. kere Konkretisierung wünschenswert. Denn der Opfer- schutz vor Ort ist das Wichtigste von allem. (Beifall bei der SPD) Im Zuge der Beratungen zum EU-Richtlinienumset- zungsgesetz zu asyl- und aufenthaltsrechtlichen Aspek- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): ten war es trotz harten Ringens von unserer Seite leider Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht möglich, die zum Beispiel vom Deutschen Juristin- Die freie Wahl des Ehe- bzw. Lebenspartners ist für die nenbund, aber auch von vielen anderen geforderten meisten von uns eine Selbstverständlichkeit. Dies gilt wichtigen Verbesserungen zugunsten der von Zwangs- jedoch für manche Menschen, die in Deutschland leben, heirat Betroffenen durchzusetzen. Ich nenne hier insbe- nicht. Opfer von Zwangsverheiratungen sind meist junge sondere die Forderung, dass der Aufenthaltstitel bei einer Menschen mit – allerdings nicht nur türkischem – Mi- Zwangsverheiratung nicht bereits nach sechs Monaten grationshintergrund. Ihnen wird aus patriarchalischen erlöschen darf. Auch ich halte es für skandalös, dass eine Familien- und Geschlechtertraditionen heraus die freie junge Frau mit einem ausländischen Pass, die aus Partnerwahl verwehrt. Die Betroffenen werden zum Deutschland verschleppt wird, nicht mehr nach Deutsch- Zwecke der Verheiratung aus Deutschland verschleppt, land zurückkehren kann, wenn die Halbjahresfrist über- im Rahmen einer Zwangsehe nach Deutschland ver- schritten ist. bracht oder auch innerhalb Deutschlands zwangsverhei- ratet. Ein Unrechtsbewusstsein besteht bei den Tätern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meistens nicht. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir wissen relativ wenig über das Ausmaß von Zwangsverheiratung bei uns in Deutschland. Kurze Ein- Das Gleiche gilt für das eigenständige Aufenthalts- blicke in die Situation erhalten wir nur, wenn es zu öf- recht bei Auflösung der Ehe. Es ist hochproblematisch, fentlich sichtbarer Gewalt kommt – wie im Fall Hatun ein Opfer von Zwangsverheiratung zu zwingen, mindes- Sürücü – oder wenn sich Betroffene wehren, vor der tens zwei Jahre bis zum Erreichen des eigenen Aufent- Verheiratung fliehen oder nach der Hochzeit die Qual haltsrechts in der Zwangssituation zu verbleiben. Kann- nicht aushalten. Der Bericht des Bundesministeriums für bestimmungen bzw. Härtefallregelungen helfen Frauen Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der eine bundes- in dieser Situation nicht; denn die Frauen brauchen Si- weite Evaluierung von Praxisarbeit bei der Bekämpfung cherheit, um sich aus der Zwangssituation lösen zu kön- von Zwangsverheiratung vorgenommen hat, und der nen. (B) (D) Reader des Deutschen Instituts für Menschenrechte lie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des fern erste hilfreiche Einsichten hierzu. Auf ihrer Grund- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lage müssen wir weiter daran arbeiten, die Opfer zu stär- ken und in den Migranten-Communities aufklärend zu Ich bedauere es sehr, dass wir uns in diesen Punkten wirken. Denn letztlich ist jeder Fall von Zwangsverhei- nicht durchsetzen konnten; denn gerade beim Rückkehr- ratung in Deutschland ein Indiz für eine nicht gelungene recht sind es die integrierten jungen Frauen, die betrof- Integration. fen sind. Wer das verschweigt, ist definitiv nicht im rich- tigen Film. Der Deutsche Bundestag war in der Vergangenheit bei der Bekämpfung des Phänomens nicht untätig. Irmingard (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schewe-Gerigk hat von „wir“ gesprochen. Damit meinte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sie wohl die rot-grüne Bundesregierung; denn wir haben Ein Antrag auf Bekämpfung der Zwangsverheiratung als rot-grüne Bundesregierung mit dem Gewaltschutzge- ohne die essenziellen ausländerrechtlichen Regelungen setz, der Absenkung der Frist zur Erlangung eines eigen- kam für die SPD nicht infrage, wobei wir nicht verken- ständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehepartner nen, dass es in anderen Rechtsbereichen wie beim von vier auf zwei Jahre sowie der Aufnahme der KJHG, im Erbrecht oder beim Schutz der persönlichen Zwangsverheiratung ins Strafgesetzbuch als besonders Daten im Familienrecht für den Bund noch deutlichen schwerem Fall der Nötigung bereits einiges erreicht. Regelungsbedarf gibt. Ich verspreche, dass wir weiter (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE daran arbeiten werden. Ich warne allerdings ausdrück- GRÜNEN]: Sehr richtig!) lich davor, alle muslimischen Ehen unter Generalver- dacht zu stellen nach dem Motto: Jede zweite türkische Auch die derzeitige Koalition war aktiv. Frau Noll ist Familie ist von Zwangsverheiratung betroffen. Das ist bereits darauf eingegangen. Zu erwähnen ist besonders definitiv nicht so. der Nationale Integrationsplan, der zahlreiche Selbstver- pflichtungen der Bundesregierung enthält. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles unverbindlich!) Fest steht: Wir brauchen weiterhin Aufklärung, damit Zwangsverheiratungen als das gesehen werden, was sie So ist zum Beispiel die in allen Oppositionsanträgen ge- sind, nämlich keine private Familienangelegenheit, son- forderte Evaluation des Nötigungsparagrafen bereits vor- dern eine Form von häuslicher Gewalt. Gegen die müs- gesehen. Im Nationalen Integrationsplan finden sich noch sen wir gemeinsam kämpfen. 15130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Angelika Graf (Rosenheim) (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Selbst die Bundesregierung macht in ihrer Antwort (C) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der klar, dass das sehr wohl mit dem EU-Richtlinien-Umset- FDP) zungsgesetz vom Sommer letzten Jahres zu tun hat. Das zeigt: Ihnen geht es nicht um den Schutz von Frauen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Unverschämt, Die Kollegin Sevim Dağdelen hat jetzt das Wort für was Sie hier sagen!) die Fraktion Die Linke. Faktisch kann das Gesetz jetzt nämlich bei bestimmten (Beifall bei der LINKEN) Konstellationen sogar dazu führen, dass sich die Lage dieser Frauen noch verschärft. So könnten sie sich genö- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): tigt sehen, schnellstmöglich ein Kind zu gebären. Nach Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und der Geburt können sie als Mutter eines deutschen Kindes Herren! Wir alle sind uns in diesem Hohen Hause einig: auch ohne Sprachtest hier einreisen. Zwangsverheiratung stellt ein Höchstmaß an Gewalt dar. Zwangsweise verheiratete Frauen müssen vor den Das immer wieder deutlich zu machen, darf aber kein Konsequenzen einer Scheidung geschützt werden. Das Selbstzweck sein. Leider ist diese Debatte symptoma- haben wir immer wieder gesagt. Unter den Fraktionen tisch dafür, wie zumeist über Integrationspolitik debat- besteht auch weitgehend Einigkeit, abgesehen von der tiert wird, nämlich weitgehend losgelöst von gesell- CDU/CSU-Fraktion, dass aufenthaltsrechtliche Verbes- schaftlichen und sozialen Bedingungen. Dabei ist die serungen für Betroffene notwendig sind. Das haben alle sozioökonomische Lage der entscheidende Grund für Sachverständigen bei der Anhörung im Juni 2006 ge- Zwangsverheiratungen. Das sieht selbst die Bundes- sagt. Allerdings ist sich die SPD leider auch beim Thema regierung so. Die Ursachen von Zwangsverheiratung Zwangsverheiratungen treu geblieben. Erst stimmt sie einseitig als ethnisch, religiös oder kulturell zu erklären, den aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen im Richtli- hält sie ebenfalls für falsch, nachzulesen in der gestrigen nien-Umsetzungsgesetz zu, im Nachhinein fordert sie Antwort auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zu die- dann auf ihrem Hamburger Parteitag im Oktober 2007 sem Thema. aufenthaltsrechtliche Verbesserungen. Eine klare Linie Leider ist die Debatte aber gerade vonseiten der bei der SPD – wie immer. Union nicht so differenziert geführt, dafür aber umso (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert mehr instrumentalisiert worden. Es handelt sich um ein Winkelmeier [fraktionslos]) Manöver zur Ablenkung vom integrations- und sozial- (B) (D) politischen Versagen der bisherigen Bundesregierungen. Aber der Handlungsbedarf liegt klar auf der Hand. Die Sachverständigen sind sich einig. Wir brauchen starke, (Beifall bei der LINKEN) vor allen Dingen aber gestärkte Frauen. Deshalb fordert Zwangsheirat wurde als ein Grund mehr genutzt, um be- die Linke aufenthaltsrechtliche Verbesserungen und die sonders muslimische Migrantinnen und Migranten ver- Schaffung angemessener Hilfsangebote. Die Betroffenen allgemeinernd als rückschrittlich oder minderwertig zu und auch die Bedrohten müssen aus ihrer Zwangsehe stigmatisieren. Bei vielen haben die einseitigen Schuld- ausbrechen oder sich dem Willen ihrer Familie verwei- zuweisungen eher eine Abwehrhaltung ausgelöst. Der gern können. Opfer von Zwangsverheiratung müssen die Aufklärungs- und Präventionsarbeit ist somit ein Bären- Möglichkeit haben, als Nebenklägerin aufzutreten; denn dienst erwiesen worden, vor allem aber auch den betrof- dann könnten sie auch aktiv am Prozess teilnehmen. Sie fenen Frauen. würden über besondere Verfahrensrechte verfügen. Zu- dem müsste es doch allgemein einleuchten, wie notwen- Gerade jene, die seit Jahren in diesem Haus Gleich- dig zum Beispiel die Anonymisierung der Adresse der stellungsmaßnahmen konsequent verhindern, machen Betroffenen ist. Wir haben in unserem Antrag Vorschläge sich plötzlich Sorgen um Frauenrechte. Die Notlagen von zu den Verfahrensregelungen gemacht. Frauen werden instrumentalisiert und funktionalisiert. So begrenzt die Bundesregierung den Ehegattennachzug. Wer Frauen schützen will, darf Schutzregelungen Sie versteht das natürlich vor allem als präventive Maß- nicht vom Aufenthaltsstatus abhängig machen, wie das nahme zur Verhinderung von Zwangsverheiratungen. im Moment der Fall ist. Deshalb müssen diese auch für Dabei spricht sie noch von präventiver Integration. Das Frauen ohne gesicherten Aufenthaltstitel gelten. Für den vorgegebene Motiv ist aber mehr als scheinheilig; denn Schritt aus Unterdrückung und Abhängigkeit brauchen mit dieser Maßnahme wird kein einziger Fall von diese Frauen Ermutigung und Rechtssicherheit. Zwangsverheiratung verhindert. Was hier als Opfer- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert schutz getarnt wird, zielt ganz einfach auf die Verhinde- Winkelmeier [fraktionslos]) rung von Einwanderung. Ihr Wunsch scheint sich zu er- füllen. Wie der Antwort auf meine schriftliche Frage zu Dafür müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen entnehmen ist, ging der Ehegattennachzug infolge der geschaffen werden. Ich möchte an die Bundesregierung Neuregelungen insgesamt um 40 Prozent und aus der appellieren. Wir haben im Dezember 2005 diese Debatte Türkei um mehr als zwei Drittel – genau 67,5 Prozent – zum ersten Mal geführt. Seit dieser Zeit bin ich Mitglied zurück. dieses Hauses. Jetzt haben wir Februar 2008. Nichts ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15131

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) geschehen, außer einer Verschlechterung der Lage der Mit dem Erfordernis des Nachweises von einfachen (C) betroffenen und bedrohten Frauen. – wohlgemerkt: einfachen – Sprachkenntnissen, die vor der Einreise nach Deutschland im Herkunftsland erwor- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ben werden müssen, wird gewährleistet, dass die Frauen, insbesondere die aus muslimisch geprägten Ländern, Frau Kollegin, Sie müssen bitte dringend zum Ende zum Beispiel aus der Türkei, schon mit ordentlichen kommen. Deutschkenntnissen nach Deutschland kommen, sie sich somit in der deutschen Gesellschaft zurechtfinden kön- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): nen, eigenständig einkaufen gehen und sich einen Freun- Ich fordere Sie auf: Lassen Sie endlich den Sachver- deskreis aufbauen können. Auch dies stärkt die Frauen stand entscheiden! Hören Sie auf die Sachverständigen und verhindert, dass sie in größerem Maße Opfer von und die Vertreter der Beratungsprojekte, die seit Jahren Zwangsverheiratung werden. in diesem Bereich arbeiten! (Beifall bei der CDU/CSU) Danke sehr. Eine wesentliche Leistung der Großen Koalition ist (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert auch, dass die Bundesrepublik 150 Millionen Euro im Winkelmeier [fraktionslos]) Jahr für Sprachkurse, Orientierungskurse und Integra- tionskurse ausgibt. Auch dadurch stärken wir Migrantin- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen und Migranten, die nach Deutschland kommen. Jetzt spricht der Kollege Stephan Mayer für die CDU/ CSU-Fraktion. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es trifft ein- fach nicht zu, dass im Ausland nicht ausreichende Mög- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): lichkeiten geschaffen werden, um im Vorfeld Sprach- kurse zu besuchen. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! In einem Punkt (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sind wir uns einig: Zwangsverheiratung ist eine gravie- NEN]: Wie sieht es denn zum Beispiel in In- rende und schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dien aus?) und durch nichts zu entschuldigen, insbesondere des- halb, weil die Fälle der Zwangsverheiratung häufig mit Ich habe mich selbst davon überzeugt: Das Goethe- sowohl brutaler physischer als auch psychischer innerfa- Institut bietet zum Beispiel in der Türkei, auch in Süd- miliärer Gewalt, mit Demütigung, mit Unterdrückung ostanatolien, die Möglichkeit an, Sprachkurse zu besu- (B) und mit Vergewaltigung und teilweise, wie wir leider chen. Dafür beauftragt es in Diyarbakir andere Agentu- (D) Gottes auch schon in Deutschland feststellen mussten, ren. Es ist eine Mär, dass es im Ausland nicht möglich mit unsäglichen sogenannten Ehrenmorden, die uner- ist, Deutsch zu lernen. trägliche und verabscheuungswürdige Straftaten sind, verbunden sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Das Hauptaugenmerk muss darauf liegen, alles dafür kostet aber sehr viel Geld, wie Sie wissen!) zu tun und effiziente Regelungen zu schaffen, um Zwangsverheiratungen zu verhindern. Das ist das große Dieses Umsetzungsgesetz ist mitnichten diskriminie- Defizit aller Anträge der Opposition, mit denen wir uns rend und mitnichten türkenfeindlich. Ganz im Gegenteil: heute beschäftigen. Es ist ein integrations- und frauenfreundliches Gesetz und deshalb meines Achtens der richtige Schritt in die (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie haben sie richtige Richtung. nicht gelesen!) Sie setzen sich nicht damit auseinander, was getan wer- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den muss, um Zwangsverheiratungen präventiv zu ver- NEN]: Es richtet sich überwiegend gegen die hindern. Dies ist ihr großes Defizit. Türkei!) Die Große Koalition hat, wie schon erwähnt, durch das Gesetz zur Umsetzung asyl- und ausländerrechtli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: cher Richtlinien der Europäischen Union einiges getan, Herr Kollege, es fällt schwer, Ihren Schwung zu stop- um im präventiven Bereich Zwangsverheiratungen effi- pen, aber Frau Dağdelen würde Ihnen gerne eine Zwi- zient zu verhindern, zum Beispiel indem wir das Nach- schenfrage stellen, was Ihnen zu noch mehr Schwung zugsalter für Ehegatten auf 18 Jahre festgelegt haben. und noch mehr Redezeit verhelfen würde. Frauen, die über 18 sind, sind selbstständiger, eigenver- antwortlicher, haben einen ausgeprägteren Charakter Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): und laufen damit nicht so schnell Gefahr, Opfer von Zwangsverheiratungen zu werden. Sehr gerne. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie dürfen ja auch erst mit 18 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: heiraten!) Bitte schön! 15132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): [Rosenheim] [SPD]: Wie oft gab es solche Sa- (C) Vielen, Dank, Herr Kollege Mayer. Sie haben gesagt, chen?) es stimmt nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, Sprach- Darüber hinaus muss man natürlich zur Kenntnis neh- kurse zu belegen, und dass es keine Stellen gibt, wo man men, dass das eigenständige Aufenthaltsrecht, das dem Sprachtests ablegen kann. Haben Sie Kenntnis davon, von Zwangsverheiratung betroffenen Ehegatten erwächst, dass betroffene Menschen zum Beispiel in Nicaragua nicht über das Aufenthaltsrecht hinausgehen kann, von weder die Möglichkeit haben, Sprachkurse zu belegen, dem er sein Aufenthaltsrecht zunächst einmal ableitet, noch die Möglichkeit, bei irgendeiner Stelle – es gibt nämlich von dem des Stammberechtigten. Das ist nun dort keine Goethe-Institute – Sprachtests abzulegen? einmal so. Wir haben die Familienachzugsrichtlinie der Europäischen Union in vollem Umfang umgesetzt. Es Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): handelt sich um ein verfassungsgemäßes Gesetz. Das Verehrte Frau Kollegin Dağdelen, zunächst möchte werden Sie sehen, wenn die Verfassungsbeschwerde in ich festhalten: Deutschland ist nicht das Haupteinreise- Karlsruhe geprüft wird. land für Bürger aus Nicaragua. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Sönke Rix [SPD]: Aber gleiches Recht für NEN]: Das bezweifeln wir!) alle!) Die Professoren Hailbronner und Hillgruber haben in der Die meisten Immigranten, die nach Deutschland kom- öffentlichen Anhörung vor dem Innenausschuss in seiner men, kommen nun einmal aus der Türkei. In der Türkei Sitzung am 21. Mai ausführlich dazu Stellung genom- gibt es ausreichende Möglichkeiten – in Südostanatolien men. sogar flächendeckend –, zum einen Deutsch zu lernen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und zum anderen den Deutschtest zu absolvieren. NEN]: Das waren Einzelmeinungen!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Darüber hinausgehende Besserstellungen und eine Per- NEN]: Aber die sind nicht preiswert!) petuierung einer Opferrolle auf Dauer wäre falsch. Ent- Natürlich besteht immer wieder einmal die Notwendig- scheidend ist es, effiziente Regelungen zu schaffen, um keit, nachzujustieren. Ich bin der Meinung, man sollte Zwangsverheiratungen zu verhindern und dann, wenn es sich durchaus neuen Möglichkeiten öffnen. Zum Bei- wirklich zu Zwangsverheiratungen und innerfamiliärer spiel sind die Niederlande in diesem Bereich sehr weit. Gewalt kommt, die Möglichkeit zu schaffen, dass sich Sie bieten das Belegen von Kursen und das Ablegen von der betroffene Ehegatte möglichst schnell und unbüro- Tests mittels Computer an. Ich könnte mir durchaus vor- kratisch von seinem Partner trennen kann. (B) stellen, dass man diese Möglichkeit auch an deutschen (D) Botschaften etabliert, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Nehmen Sie kommen. zur Kenntnis: Nicaragua!)

auch in Nicaragua. Es ist sicherlich nichts so gut, als dass Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): es nicht noch verbessert werden kann, werte Kollegin. Es geht also nicht darum, eine Opferrolle auf Lebens- Aber in den Ländern, für die Deutschland Haupteinreise- zeit zu perpetuieren. land ist – zum Beispiel die Türkei und der Kosovo –, gibt es bereits ausreichende Möglichkeiten, Deutsch zu ler- (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist nen und einen Deutschtest abzulegen. ein zynischer Ansatz!) (Beifall des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ Die heute zu beratenden Anträge der Opposition sind CSU]) nicht zielführend und gehen völlig am Thema vorbei. Sie sind abzulehnen. Es ist ebenfalls eine Mär, dass es erst nach einer zwei- jährigen Ehebestandszeit möglich ist, dass ein geschie- Herzlichen Dank. dener Ehepartner, der Opfer von Zwangsverheiratung (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip oder Gewalt in der Familie geworden ist, ein eigenstän- Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein- diges Aufenthaltsrecht bekommt. mal Opfer, immer Opfer!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist in der Regel so!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion. Nach der Härtefallregelung in § 31 Abs. 2 des Aufent- haltsgesetzes ist es bereits vor dem Ablauf der zweijähri- Rüdiger Veit (SPD): gen Ehebestandszeit möglich – meine sehr verehrte Frau Kollegin, die Hürden sind dabei relativ niedrigschwel- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lig –, dass der betroffene Ehegatte ein eigenständiges Gewalt gegen Frauen und Kinder ist verabscheuungs- Aufenthaltsrecht erhält. würdig. Das gilt auch für die besondere Ausprägung der Zwangsverheiratung, die gegen das Recht auf Selbstbe- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stimmung gerichtet ist, wovon vorzugsweise Frauen und NEN]: Wie oft war das denn? – Angelika Graf Mädchen betroffen sind. Insoweit, Herr Kollege Stephan Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15133

Rüdiger Veit (A) Mayer, bin ich mit dem Anfang Ihres engagierten Rede- sonders schwerer Fall der Nötigung – reicht völlig aus. (C) beitrags ausdrücklich einverstanden; ich sage das auch Einige Sachverständige haben uns aber gesagt: Wegen namens der SPD-Fraktion. der generalpräventiven Wirkung, wegen der besseren Sichtbarmachung für alle, die sonst unter Umständen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE Täter werden könnten, wäre eine Änderung sinnvoll. Da GRÜNEN]: Aber nur mit dem Anfang!) bin ich bei Ihnen, Frau Kollegin Noll. Wenn wir darüber Dieses Einverständnis reicht dann noch so weit: Ehe- einig sind, dies unter eine eigene Überschrift, unter einen gattennachzug, Altersgrenze von 18 Jahren, das ist okay. eigenen Paragrafen zu fassen: Wer sollte uns dann daran Das entspricht unserem Rechtssystem. Der Regelfall für hindern? die Eheschließung ist nun einmal die Volljährigkeit, es Nächster Punkt: eigenständiges Aufenthaltsrecht für sei denn, das Vormundschaftsgericht bestimmt das an- von Zwangsverheiratung Betroffene. Ich darf darauf hin- ders. Wir sollten darauf achten – das möchte ich bei der weisen, dass nach der Gesetzesvorschrift – sie ist übri- Gelegenheit einmal sagen –, dass, etwa bei der Umset- gens nicht verschärft worden, liebe Kollegin Dağdelen; zung von EU-Recht, entsprechend deutschem Rechts- sie hat so schon existiert – in besonderen Härtefällen von verständnis ausgeschlossen wird, dass Minderjährige der Frist von zwei Jahren – Rot-Grün hat sie 1999 auf heiraten können. zwei Jahre festgesetzt – abgewichen werden kann. Aber Damit endet dann schon fast die Übereinstimmung. ich stimme meiner Kollegin Graf darin zu, dass es natür- lich besser wäre, wenn man das ausdrücklich ins Gesetz (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das schreiben würde. Ich sage wiederum an das ganze Haus, beruhigt mich! Ich bin schon unsicher gewor- insbesondere aber an die Kolleginnen und Kollegen von den, Herr Veit!) der Union: Wenn wir uns auch darüber einig sind, dann Ich persönlich – das gilt auch für einen großen Teil der sollten wir uns nicht daran hindern lassen, entsprechend SPD-Fraktion – halte überhaupt nichts davon, den vor- zu verfahren. herigen Erwerb von Deutschkenntnissen zur Bedingung (Beifall bei der SPD) für den Ehegattennachzug zu machen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich komme auf einen letzten Punkt zu sprechen; ich DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ halte ihn für den allersensibelsten. Es geht um das Wie- CSU]: Das haben wir in der Koalition aber be- derkehrrecht, sowohl für Minderjährige als auch für schlossen! Das ist Ihnen schon bewusst, Volljährige, die im Ausland – sei es, dass sie verschleppt nicht?) worden sind, sei es, dass sie aus einem anderen Grund dort waren – gegen ihren Willen verheiratet worden sind. (B) – Lieber Kollege Grindel, ich weiß, dass wir das be- Hier müssen wir alle aufpassen, dass wir uns durch die (D) schlossen haben. Ich werde aber doch noch sagen dür- Untätigkeit des Gesetzgebers nicht selbst zum Vollstre- fen, dass mich das schmerzt und dass das nicht meiner cker an den Opfern machen, Überzeugung entspricht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir sind hier DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler nicht in der Therapiegruppe, sondern im Deut- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das richtet schen Bundestag, Herr Kollege! – Gegenruf sich aber bitte nicht an alle! Es reicht, wenn es des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ an die Union gerichtet ist!) DIE GRÜNEN]: Aber die hätten Sie nötig!) sie dort, wo sie verheiratet worden sind, in ihrer Zwangs- Ich halte sehr viel mehr davon, zu sagen, die Betreffen- lage sozusagen noch festhalten, anstatt dafür zu sorgen, den möchten bitte in Deutschland Deutsch lernen. dass sie unter vernünftigen Bedingungen nach Deutsch- (Sönke Rix [SPD]: Aber Fraktionen dürfen land zurückkehren können. Ich weiß, dass das ein Punkt doch eigene Positionen haben! – Weitere Zu- ist, über den in der Unionsfraktion und unter Regie- rufe) rungsmitgliedern aus der Union nachgedacht wird. Ich hatte in der Sachverständigenanhörung auch den Ein- – Frau Präsidentin, geht dieser Dialog von meiner Rede- druck, dass wir uns darüber parteiübergreifend eigentlich zeit ab? – Gut. einig waren. Ich sage noch einmal: Es kann nicht sein, dass je- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mand, der gegen seinen Willen in einem anderen Land Sie haben den Vorteil, dass Sie das Mikrofon haben. festgehalten wird – vorzugsweise geht es um junge Frauen –, gehindert wird, nach Deutschland zurückzu- Rüdiger Veit (SPD): kehren, um sich so aus dieser Zwangslage zu befreien, Ich komme zurück zum Thema. Wenn Sie mir freund- indem wir sagen: Nach sechs Monaten erlischt das Auf- licherweise zuhören würden! enthaltsrecht. – Das dürfen wir nicht zulassen. Straftatbestand der Zwangsverheiratung. Die Sach- Neben allem, über das wir uns vielleicht einig sind verständigenanhörung im Familienausschuss hat jeden- – eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ehefrauen, eige- falls nach meiner Überzeugung ergeben: Der durch ner Straftatbestand, Wiederkehrrecht –, sage ich etwas Rot-Grün geschaffene Strafrahmen in § 240 StGB – be- noch einmal ganz pointiert. 15134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (C) Herr Kollege! gen? – Diese Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und bei Gegenstimmen Rüdiger Veit (SPD): von FDP und der Linken und bei Enthaltung von Ich komme zum Schluss. – Letzter Satz: Wir müssen Bündnis 90/Die Grünen angenommen. wirklich aufpassen, dass wir nicht zum Vollstrecker an Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- den Opfern der Täter werden, die sie gegen ihren Willen sache 16/4910 empfiehlt der Ausschuss schließlich die zwangsverheiratet haben. Das meine ich sehr ernst. Ich Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf bitte Sie alle, darüber noch einmal nachzudenken und Drucksache 16/1564 mit dem Titel: „Für einen Schutz vielleicht mitzuhelfen. der Opfer von Zwangsverheiratungen, für die Stärkung Danke. ihrer Rechte und die längerfristige Bekämpfung der Ur- sachen patriarchaler Gewalt“. Wer stimmt für diese (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustim- FDP) mung durch die Koalitionsfraktionen, bei Gegenstim- men von der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich schließe die Aussprache. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf auf: Drucksache 16/7680 an die in der Tagesordnung aufge- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Fe- gierung derführung strittig. Während die Fraktionen von CDU/ CSU und SPD die Federführung beim Innenausschuss Tierschutzbericht 2007 wünschen, möchte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, – Drucksache 16/5044 – Frauen und Jugend. Darüber müssen wir abstimmen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag Verbraucherschutz (f) der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Ausschuss für Gesundheit Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Frauen und Jugend. Wer für diesen Überweisungsvor- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (B) schlag ist, möge bitte die Hand heben. – Gegenstim- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur (D) men? – Enthaltungen? – Dieser Vorschlag ist damit bei Änderung des Tierschutzgesetzes Zustimmung durch die drei Oppositionsfraktionen und bei Gegenstimmen von den Koalitionsfraktionen abge- – Drucksache 16/7413 – lehnt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ich lasse jetzt abstimmen über den Überweisungs- Verbraucherschutz (f) vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Fe- Rechtsausschuss derführung beim Innenausschuss. Wer ist für diesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Es ist verabredet, hierüber eine Stunde zu debattie- gen? – Damit ist dieser Überweisungsvorschlag so ange- ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so nommen. beschlossen. Ich komme zum Tagesordnungspunkt 8 a, nämlich Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Gerd Müller für die Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/4910. Bundesregierung. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/61 mit minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- dem Titel: „Zwangsverheiratung bekämpfen – Opfer cherschutz: schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Herren! Sehr gern hätte ich auch gesagt: „Liebe Tiere!“; schlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koali- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: tionsfraktionen und bei Gegenstimmen von Bündnis 90/ Hat hier jemand seinen Hund mitgebracht? – Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthal- Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Wo sind tung der FDP-Fraktion angenommen. die Tiere? Hier dürfen sie nicht rein!) Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des denn bei diesem Tierschutzbericht geht es schließlich Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1156 um die Situation der Tiere im Land. mit dem Titel: „Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Op- fer stärken und schützen – Gleichstellung durch Inte- Ich erhebe die Stimme für die Tiere in unserem Land. gration und Bildung fördern“. Wer stimmt für diese Wenn der eine oder andere sich die Frage stellt, ob die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15135

Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller (A) heutige Debatte überhaupt notwendig ist, antworte ich: Das ist uns gelungen. Ich nenne den Punkt Cross- (C) Ja, selbstverständlich! In Deutschland gibt es 23 Millio- Compliance. Dieser Rahmen gilt für die Haltung von nen Haustiere und über 100 Millionen Nutztiere in den Nutztieren in den 27 Staaten der EU. Ich nenne die Ställen, zum Beispiel 26 Millionen Schweine. In jedem Richtlinie zur Haltung von Masthühnern und die Verord- dritten Haushalt gibt es ein Tier; 7,5 Millionen Katzen nung hinsichtlich eines Importverbots von Hunde- und und 5 Millionen Hunde. Hinzu kommen noch die vielen Katzenfellen, ein ganz entscheidendes Thema. freilebenden Tiere. Ein weiteres Anliegen auf europäischer Ebene war Ehrfurcht vor dem Leben gebietet auch den besonde- uns, allen Fraktionen – ausgegangen ist das von den Re- ren Schutz unserer Tiere und die Fürsorge. Auch Tiere gierungsfraktionen –, die Bekämpfung der illegalen Fi- haben eine Würde und ein Recht darauf, dass Probleme scherei im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft. Es nützt im Zusammenhang mit der Nutzung und der Tierschutz nichts, in mühseligen Verhandlungen Schutzquoten zu hier im Parlament behandelt werden. vereinbaren, wenn wir dieses Problem international, nicht nur in Europa, nicht in den Griff bekommen. Tier- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der schutz muss deshalb auch auf die Agenda der WTO. FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Denn ohne Tiere stirbt die Natur, und ohne Natur stirbt bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- der Mensch. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir hatten im vergangenen Jahr das Thema „Sterben Aber wer sich europa- und weltweit durchsetzen will, unsere Bienen?“. In Amerika ist das millionenfach ge- muss zunächst zu Hause vorbildliche Arbeit leisten. Dies schehen. An dieser Stelle zeigt sich der Kreislauf der haben wir getan. Diese Koalition geht in Deutschland Natur: Stirbt die Biene, gibt es keinen Frühling, keine mit der Schaffung von vorbildlichen Standards voran. So Bestäubung, keine Natur. An diesem kleinen, aber dra- ist es uns gelungen, den Tierschutz bei der Nutztierhal- matischen Beispiel wird deutlich, welche herausragende tung fortzuentwickeln, ohne die Wettbewerbsfähigkeit Bedeutung im Zusammenspiel zwischen Mensch, Tier unserer Landwirtschaft aus den Augen zu verlieren. Herr und Natur den Tieren, auch den freilebenden, zukommt. Goldmann, nicht nur den Bauern, sondern auch den Tie- ren in den Ställen geht es unter dieser Regierung besser. Tierschutz ist deshalb sowohl Naturschutz als auch Das ist ganz wichtig. Menschenschutz. Mit der Vorlage des Tierschutzberich- tes wollen wir darauf eingehen und über die Fortschritte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der Frage, wie wir mit unseren Tieren umgehen, be- neten der SPD – [FDP]: Fra- gen Sie mal die Tiere!) (B) richten. (D) Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kolle- Wir haben neue und bessere Standards für die Tierhal- gen, nicht nur denen, die jetzt hier anwesend sind. Wir tung nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt. In- hatten im letzten Jahr viele fraktionsübergreifende De- nerhalb von zwölf Monaten haben wir neue Standards batten. Wir haben den Tierschutz als Staatsziel im für die Haltung von Schweinen und Legehennen ge- Grundgesetz verankert. Das haben Sie ganz wesentlich schaffen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die bewirkt. Wir haben heute hohe Tierschutz- und Tierhal- Einführung der Kleingruppenhaltung bei Legehennen. tungsstandards, und zwar nicht nur in Deutschland. Viel- Deutschland ist hier vorangegangen, um eine sinnvolle mehr haben wir dieses Thema im Rahmen der EU-Rats- und tragfähige Alternative zur Käfighaltung zu entwi- präsidentschaft auch in Europa auf die Agenda gesetzt. ckeln. Wir haben auch neue Standards für die Haltung von Pelztieren – ebenfalls ein wichtiges Thema – und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von Zirkustieren geschaffen. Das sind vier sehr zentrale und wichtige Bereiche. Das verdient natürlich ein Lob. Ich möchte noch kurz zum Thema Tiertransporte Beim Thema Tierschutz geht es ganz besonders um kommen. Bei den Tiertransporten ist es uns auf europäi- die Frage, welche Standards wir in Deutschland und Eu- scher Ebene durch politischen Druck endlich gelungen ropa setzen. Bundesminister Seehofer hat im Rahmen auf, den Irrsinn zu beenden, dass nur der Subventionen der deutschen Ratspräsidentschaft ganz erheblich dazu wegen Tiere durch Europa transportiert werden. Lange beigetragen, dass auch auf europäischer Ebene das haben wir darüber diskutiert. Nun ist es endlich gelun- Schützen und Nützen von Tieren in einem ausgewoge- gen, ein klares Signal auszusenden. nen Verhältnis steht. Dazu nenne ich einige Punkte, die ich natürlich nur kurz markieren kann: Wir haben uns für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine europäische Tierschutzkennzeichnung stark ge- Man konnte die schrecklichen Bilder im Fernsehen se- macht. Minister Seehofer und die Bundesregierung ha- hen. Zwischenzeitlich haben wir in Deutschland hohe ben sich des Weiteren für international gültige Mindest- und höchste Standards beim Tiertransport gesetzt: vom standards eingesetzt; denn es nützt nichts, nur in Tränken bis zur Temperatur in den Lkws. Deutschland Standards zu setzen. Denn ansonsten gibt es eine Abwanderung insbesondere im Nutztierbereich. Die Bundesregierung geht Schritt für Schritt erfolg- reich voran. Wir machen Front gegen das brutale Ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie schlachten der Robben. In dieser Woche stand dieses bei Abgeordneten der FDP) Thema im Bundeskabinett auf der Tagesordnung. Wir 15136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller (A) setzen die Forderung aller Fraktionen des Bundestages Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) um, ein nationales Verbot für den Import, die Verarbei- Herr Kollege! tung und das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissen zu erlassen. Wir sind alle einer Meinung: Die Robben- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes- jagd muss ein Ende haben. minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) cherschutz: Tierschutz hat viele Dimensionen und einen hohen Deutschland muss noch ein Stück Überzeugungsarbeit Stellenwert. Er geht uns alle an. mit Blick auf die Mitgliedstaaten der EU und die WTO leisten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ebenso klar ist unsere Position gegen den Walfang und die illegale Fischerei, die ich schon genannt habe. Bei der Fischerei ist uns sehr wichtig, dass – über die eu- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ropäischen Meere hinaus – die Abfischung der Welt- Hans-Michael Goldmann hat jetzt das Wort für die meere Beachtung findet. Der weltweite Artenschutz, FDP-Fraktion. nicht nur bei Fischen, verlangt unseren vollen Einsatz. Von weltweit circa 1,5 Millionen Tierarten sterben täg- Hans-Michael Goldmann (FDP): lich zwischen 100 bis 150 aus. Auch hier dürfen wir die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Probleme nicht nur beklagen und auf die europäische Ta- Kollegen! Ich werde jetzt ein bisschen abprüfen, ge- gesordnung setzen, sondern wir müssen national han- schätzter Herr Staatssekretär, ob das, was Sie gesagt ha- deln. Deshalb hat die Bundesregierung mit der Strategie ben, nämlich dass es den Bauern und den Tieren besser zur biologischen Vielfalt, einem Programm zur Erhal- geht, etwas mit Ihrer Politik zu tun hat. tung von Arten und Lebensräumen, 330 konkrete Maß- nahmen auf den Weg gebracht. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich verkenne aber nicht, dass es in der Zukunft noch Problembereiche gibt. Ein Problembereich, der auch im Vorweg möchte ich feststellen: Ganz so toll kann Ihre Tierschutzbericht angesprochen worden ist, ist das Politik nicht sein; denn ansonsten wäre gar nicht zu ver- Thema Tierversuche. Leider haben wir in den vergange- stehen, warum der Tierschutzbericht zukünftig nur noch nen zwei Jahren eine Steigerung der Anzahl der Tierver- alle vier Jahre vorgelegt wird. suche. Wir brauchen die Erkenntnisse aus Tierexperi- (B) (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE (D) menten, aber der Trend einer steigenden Anzahl von LINKE]) Tierversuchen muss gestoppt und umgekehrt werden. Normalerweise versucht eine Regierung, mit ihren Er- (Beifall des Abg. Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]) folgen zu glänzen. Deswegen gehe ich einmal davon aus Wir wissen, dass diese Steigerung mit den rechtlichen – ich werde jetzt versuchen, das zu belegen –, dass die Erfolge vergleichsweise bescheiden sind. Oder sehen Sie Folgerungen aus der Umsetzung von REACH zusam- die Vorlage des Tierschutzberichtes nur noch alle vier menhängt. Aber es kann nicht sein, dass wir in den Jahre als eine Maßnahme im Sinne des Bürokratieab- nächsten Jahren eine Steigerung von 4,5 Prozent haben. baus, über den wir in dieser Woche schon im Ausschuss Deshalb brauchen wir Alternativmethoden. Auch hier diskutiert haben? geht die Bundesregierung voran. Wir werden die ZEBET stärken und dort ein nationales Referenzzentrum einrich- Ich beginne einmal mit ein paar formalen Dingen. ten. Doppelversuche müssen vermieden werden. Wir Man muss dem einen oder anderen Zuhörer einmal klar- werden in den nächsten Monaten über dieses Thema im machen, über was wir heute reden. Wir reden im We- Rahmen der Novelle zur EU-Tierschutztransportverord- sentlichen über die Zahlen und Ergebnisse des Jahres nung mit den europäischen Partnern diskutieren. 2005, wenn es zum Beispiel um die Tierversuche geht. Diese sind Bestandteil des Tierschutzberichtes 2007. Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: haben es angesprochen: Die Zahlen sind gestiegen. Die Zahl der Wirbeltierversuche hat sich von über 2 412 000 Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. auf 2 518 000 erhöht. Unser gemeinsames Ziel war es ei- gentlich immer, in diesem Bereich besser zu werden. Ich Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes- kann die Wissenschaft und uns selbst nur immer wieder minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- dazu auffordern, auf Alternativmethoden zu setzen, sich cherschutz: klarzumachen, dass Tierversuche wirklich nur dann durchgeführt werden, wenn sie zwingend notwendig Der Tierschutzbericht wird in Zukunft alle vier Jahre sind, um ganzheitliche Prozesse zu erfahren. Wir sind in vorgelegt. Wir wollen mit dem zukünftigen Tierschutz- diesem Bereich nicht gut; wir alle müssen in diesem Be- bericht ein Stück weit Grundsatzfragen angehen und reich besser werden. langfristige Entwicklungen aufzeigen, über aktuelle Da- ten aber permanent, also jedes Jahr, über das Internet, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber auch hier im Parlament mit Ihnen diskutieren. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15137

Hans-Michael Goldmann (A) Lassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen. Bei Ich will noch einmal betonen: Wir sagen seit gerau- (C) diesem Thema ist man ja meist sehr direkt betroffen. Ich mer Zeit, dass wir impfen müssen anstatt zu töten. Die selbst liebe Tiere. Wir haben eine Katze. Sie hört jetzt zu intensiven Haltungsformen, die wir heute haben, sind Hause auch zu, so nehme ich an. nur marktfähig und ethisch vertretbar, wenn wir auch impfen. Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass bei Seu- (Heiterkeit bei der FDP, der SPD und dem chenausbrüchen Millionen von Tieren gekeult, totge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der schlagen werden. Das versteht kein Verbraucher. Man Abg. Mechthild Rawert [SPD]) muss darauf drängen, dass geimpft wird, und wenn man die Tiere geimpft hat, muss man mit den Ländern, die – Die liegt jetzt wahrscheinlich bei meiner Frau auf dem diese abnehmen, in Verhandlung treten. Man muss ihnen Schoß und muss mit zuhören. ganz klar sagen: Ihr könnt Fleisch oder Zuchtmaterial Es gab bei Mastkaninchen unerträgliche Haltungsbe- von uns bekommen, aber möglicherweise ist es von Tie- dingungen. Was haben Sie gemacht? Sie haben nichts ren, die geimpft sind. – Darauf muss man hinarbeiten. gemacht. Wer etwas getan hat, war die Wirtschaft. Die Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, dass es den Tie- hat nämlich eine Qualitätsgemeinschaft für Kaninchen- ren in Deutschland besser ergangen ist. Ich bin sehr da- fleisch gegründet und hat im Grunde genommen eine in- mit einverstanden, dass wir heute nicht mehr darüber re- ternationale Vernetzung hinbekommen, also nicht nur den, welche Haltungsform für Legehennen notwendig auf dem nationalen Markt, sondern auch im Hinblick auf ist; das ist abgefrühstückt. Ich bin dafür, dass wir die südamerikanische Märkte. Hier zeigt sich: Da man die Verbesserungen, die wir im Zusammenhang mit der Hal- Dinge national nicht aufgreift und auch auf europäischer tung von Legehennen beschlossen haben, jetzt auch Ebene keine Initiativen in Gang bringt, kann man richtig durchsetzen. Wie Sie aber auf die – ich sage das in An- froh sein, dass die auch von Ihnen manchmal sehr ge- führungsstrichen – Schnapsidee gekommen sind, für scholtene Wirtschaft hier Vorreiter ist. Ich bedanke mich jede Haltungsform einen Tierschutz-TÜV einzuführen, bei der Wirtschaft dafür, dass sie entscheidend dazu bei- weiß ich nicht. getragen hat, dass sich die Bedingungen des Schutzes von Kaninchen verbessert haben. (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist für die Tiere gut!) (Beifall bei der FDP) Sie können doch selber feststellen, zum Beispiel bei den Nehmen wir ein drittes Beispiel. Wir haben in dieser Schweinen, dass die Landwirte die Dinge hervorragend Woche im Ausschuss über die Blauzungenkrankheit ge- regeln. Die Landwirte machen das, was für ihre Tiere gut sprochen. Ich weiß, dem einen oder anderen passt es ist, weil sie ihre Tiere lieben und weil sie nur mit gutge- (B) nicht; aber die Bundesregierung hat geschlafen. Die henden Tieren wirtschaftlichen Erfolg haben. Man muss (D) Bundesregierung hat falsche Aussagen getätigt. Sie hat auch bedenken, dass es schon ein Kuratorium für Tech- auf der Grünen Woche signalisiert – Kollege Priesmeier nik und Bauwesen in der Landwirtschaft gibt, das mit hat dies im Ausschuss deutlich gemacht –: Wir stehen finanzieller Unterstützung Ihres Hauses Standards erar- unmittelbar vor der Chance des Impfens. Die Chance des beitet. Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regie- Impfens hat nicht nur etwas mit dem Schutz der Tiere zu rungserklärung gesagt, man wolle zurück zur Fachlich- tun, wenn es darum geht, sie zu exportieren, sondern keit. Dabei ist die Fachlichkeit doch bei den Fachleuten ganz entscheidend damit, dass Schmerzen bei den Tieren vor Ort gegeben. Ich verstehe daher nicht, warum Sie vermieden werden. Nun mussten wir im Ausschuss fest- hier auf dem Tierschutz-TÜV herumreiten. stellen: Es ist kein Impfstoff da. Er kommt möglicher- Herr Staatssekretär, wie war das denn mit den Hunde- weise in ein paar Wochen oder auch erst in Monaten. und Katzenfellen und den Wildvögelimporten? Sie wer- Nur, dann ist es viel zu spät, um den Schutz der Tiere zu den sich daran erinnern: Die Regelung ist im Ausschuss gewährleisten. von den Oppositionsfraktionen erkämpft worden. Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, Sie hätten das (Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert Ohr an allen Dingen, die sich entwickeln. Ich frage [SPD]: Oh! Wie wollen Sie das denn stimmen- mich: Wie kann so etwas passieren? Vier große ernst zu mäßig umsetzen?) nehmende Firmen kündigen an, dass sie einen Impfstoff – Waren Sie damals schon dabei, Frau Kollegin? Vor- haben. Diese Information landet in Ihrem Haus und bei sicht! den Forschungseinrichtungen, zum Beispiel auf Riems. Dann stellen Sie auf einmal fest: April, April! Es wurde (Mechthild Rawert [SPD]: Rechnen kann ich noch gar kein Feldversuch mit diesen Impfstoffen ge- auch für die Vergangenheit!) macht; wir können sie überhaupt nicht einsetzen. – Dann fordern wir die Länder auf: Besorgt euch Impfstoffe! Wir haben immer gesagt: Lasst uns beim Verbot der Hessen koordiniert das. Jedem wird gesagt: Seht bloß zu, Einfuhr von Hunde- und Katzenfellen Vorreiter sein. dass ihr etwas davon bekommt; denn nachher ist nichts Uns wurde immer gesagt, das gehe nicht, mehr da. – Ich meine, dass es im Sinne des Tierschutzes (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!) ein eklatantes Versagen ist, was die Bundesregierung da an den Tag legt. bis die Dänen auf einmal den Vorreiter gespielt haben. Als wir gesagt haben: „Jetzt wollen wir hinterher, und (Beifall bei der FDP) zwar mit aller Gewalt“, sind dann die großen Fraktionen 15138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Hans-Michael Goldmann (A) hinzugetreten, und wir haben diese Regelung gemein- fiziell zum Töten freigegeben. 270 000 Sattelrobben (C) sam erreicht. wurden allein 2007 in Kanada getötet. Tierschutzorgani- sationen sprechen von mehr als 400 000 Robben welt- (Beifall bei der FDP) weit. Dabei gehen die Robbenjäger nicht zimperlich mit Die Spielregeln sind in diesem Fall relativ klar. Auch bei den Robben um. Ich erspare Ihnen Einzelheiten über das der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz waren Töten der Robben und das Abziehen der Felle bei leben- wir Vorreiter. Wir sind eindeutig diejenigen, die die den Robben. Ich bin mir sicher, dass viele von Ihnen Dinge in Schwung gebracht haben. schon Fotos und Reportagen darüber gesehen haben. Seit Jahren protestieren Öffentlichkeit und Tierschützer Wir können ja versuchen, gemeinsam etwas hinzube- gegen das alljährlich weltweite Abschlachten von Rob- kommen, was das Thema Wale anbelangt. Ich erinnere ben. an die furchtbaren Bilder, wie die Walmutter und ihr Jungtier an Bord gezogen wurden. Ich finde es gut, dass Der Bundestag hat der Bundesregierung am 19. Okto- solche Bilder veröffentlicht werden, so traurig sie auch ber 2006 einvernehmlich – ich betone: fraktionsüber- sind. Dadurch wird klar, welcher Schwachsinn da betrie- greifend einvernehmlich – einen klaren Auftrag erteilt. ben wird und welche Brutalität hier an den Tag gelegt Die Bundesregierung wurde aufgefordert, den Import, wird. Wir machen mit den Japanern ein Geschäft nach die Be- und Verarbeitung und das Inverkehrbringen von dem anderen, und die behaupten rotzfrech: Wir betreiben Robbenprodukten wirkungsvoll zu unterbinden. Wir den Walfang aus Forschungsgründen. Das ist glatt gelo- Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben der Bun- gen. So ähnlich ist die Sache mit den Robben und den desregierung den Auftrag gegeben, sich erstens aktiv da- Kanadiern. Es ist überflüssig wie ein Kropf, wenn Tiere für einzusetzen, dass es ein europaweites Einfuhr- und auf diese Art und Weise abgeschlachtet werden. Handelsverbot für Robbenprodukte gibt. Sollte dies nicht umsetzbar sein, soll es zweitens zu einem nationa- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem len Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- kommen. Der Auftrag ist klar. geordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Das ist in keinerlei Hinsicht mit dem Tierschutz in Ein- Dem Bundeskabinett, also allen Ministerinnen und klang zu bringen. Lassen Sie uns gemeinsam vorange- Ministern unserer Bundesregierung, wurde diese Woche hen. Dann können wir erfolgreich sein. ein entsprechender Entwurf seitens des Hauses Seehofer vorgelegt. Dieser Entwurf wurde vom Bundeskabinett Ich bitte Sie aber, noch einmal darüber nachzudenken, zur Kenntnis genommen. Das heißt, es passiert erst ein- ob es wirklich klug ist, dass wir nur alle vier Jahre über mal gar nichts. Ich kenne die Gründe für diese bloße (B) den Tierschutz debattieren. Schließlich werden Millio- Kenntnisnahme nicht, aber ich wiederhole: Es gibt einen (D) nen Tiere in Haushalten gehalten, wo die Tierhaltung klaren Auftrag des Parlamentes. Daher fordern wir von zum Teil sicherlich diskussionswürdig ist. Außerdem der SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, diesem in werden Millionen Tiere als Nutztiere gehalten, und es Bälde nachzukommen. Wir Parlamentarierinnen und gibt viele internationale Probleme. Wir werden versu- Parlamentarier wollen ein geltendes Verbot. Wir erklä- chen, das Thema Tierschutz im Bundestag auch zukünf- ren: Wir wollen es jetzt. Wir wollen in Deutschland tig intensiv zur Sprache zu bringen. keine gehandelten Robbenprodukte. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Eva (Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ Bulling-Schröter [DIE LINKE] und der Abg. CSU: Das können Sie alle drei Wochen ma- Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen!) NEN]) Wir setzen ein Verbot für Hundefelle und Katzenfelle Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: um. Es gibt keinen Grund, Vergleichbares nicht für Rob- Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin benprodukte zu machen. Mechthild Rawert. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: So ist es!) Mechthild Rawert (SPD): Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- Die Bundesregierung kann sich nicht zurücklehnen legen! Werte Gäste! Ich habe keine Katze, die vor dem und zuschauen, wie andere Staaten – beispielhaft die Fernseher sitzt, Herr Goldmann. Ich denke auch, dass Niederlande und Belgien – Robben schützen. Durch das aus Tierschutzgründen ernsthaft überdacht werden Nichtstun verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit in der sollte. eigenen Bevölkerung und auch international. Wer derzeit (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei in diesem Bereich arbeitet und seine E-Mails liest, weiß, Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – wie viel Post wir im Augenblick dazu bekommen. Der Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich rufe Zeitraum vom 19. Oktober 2006 bis heute war für eine meine Frau an! Die holt die Katze da weg!) Prüfung lang genug. Wir wollen einen Gesetzentwurf. Wir haben einen Antrag. Wenn es zu keinem Handeln 270 000 Sattelrobben wurden im vergangenen Jahr kommt, dann werden wir aus dem Parlament einen ent- vom kanadischen Fischerei- und Meeresministerium of- sprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15139

Mechthild Rawert (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen damit großen Wert auf die Haltungsbedingungen der (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE jeweiligen Tiere. Durch die serienmäßige Prüfung von GRÜNEN) Haltungssystemen und Stalleinrichtungen kann somit auch einer Irreführung von Verbraucherinnen und Ver- Ein weiteres Thema – es wurde schon angesprochen – brauchern vorgebeugt werden. Der Aspekt „tiergerechte sind die Wale. Für die SPD-Fraktion – Herr Jahr wird Haltung“ ist letztendlich ein unbestimmter, manchmal vielleicht gleich für die CDU/CSU-Fraktion noch etwas auch vager Begriff. Diesen wollen wir hiermit konkreti- dazu sagen – wiederhole ich das, was Herr Goldmann sieren. Es muss endlich selbstverständlich werden, dass sagte: Ja, es ist unsäglich, was weltweit, zurzeit insbe- unsere Nutztiere tiergerecht aufwachsen und gehalten sondere von Japan, unter dem Schlagwort „Walfang aus werden. wissenschaftlichen Gründen“ an Schindluder getrieben wird. Ich weiß, dass die Bundesregierung hier aktiv ist; Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal aber das reicht noch nicht. Es gibt demnächst in Japan den vielen Tierschützerinnen und Tierschützern in ein G-8-Treffen. Die Welt weiß, dass das, was derzeit Deutschland danken, die sich dem Staatsziel Tierschutz unter dem Stichwort „Wissenschaftlichkeit“ verkauft durch ihre tagtägliche – häufig ehrenamtliche – Arbeit wird – jetzt bin ich aus Freundschaft gegenüber Japan widmen. Sie leisten Großartiges für das Zusammenleben einmal sehr nett –, absolut antiquiert ist. Es wäre eine von Mensch und Tier. Schande, wenn das, was derzeit als wissenschaftlicher (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Standard in Bezug auf Wale propagiert wird, tatsächlich der CDU/CSU) der wissenschaftliche Standard in Japan wäre. Ich bitte darum, dem in bilateralen Verhandlungen sehr viel stär- Die SPD ist und bleibt eine Tierschutzpartei. ker nachzugehen. (Lachen des Abg. Dr. Peter Jahr [CDU/ Der Tierschutz-TÜV wurde schon angesprochen und CSU] – [CDU/CSU]: Wenn – nicht nur liebevoll – kritisiert. Wir von der SPD-Frak- das alles ist!) tion sagen eindeutig: Er ist uns wichtig. Wir fordern die Von der heutigen Debatte erwarten wir also das baldigste Einführung des Tierschutz-TÜV. Wir nehmen das Staats- Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte, die ziel Tierschutz damit ausgesprochen ernst. Ich freue schnelle Einführung eines Tierschutz-TÜV durch die mich, dass heute in erster Lesung der Entwurf eines Verabschiedung dieses Gesetzes und ein noch stärkeres Zweiten Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes Eintreten der Bundesregierung für den Schutz der Wale. beraten wird. Dieser Gesetzentwurf hat den Tierschutz- Wir wollen der Würde von Tier, Mensch und Umwelt TÜV zum Gegenstand. tatkräftig gerecht werden. (B) Ziel dieses Tierschutz-TÜV ist es, dass serienmäßig (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hergestellte Haltungssysteme und Stalleinrichtungen da- der CDU/CSU) raufhin geprüft werden, ob sie den Bedürfnissen und den Verhaltensweisen der Tiere entsprechen, ob sie somit tiergerecht sind. Dies muss natürlich geschehen, bevor Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Haltungssysteme und Stalleinrichtungen in den Han- Jetzt hat Eva Bulling-Schröter das Wort für die Frak- del kommen. Nur durch ein solches obligatorisches Prüf- tion Die Linke. verfahren können Schmerzen, Leiden und Krankheiten (Beifall bei der LINKEN) unzähliger Tiere, die durch nicht tiergerechte Haltungs- systeme entstehen, wirksam und endgültig verhindert Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): werden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Das geplante Prüf- und Zulassungsverfahren soll also Kollegen! Der Tierschutzbericht 2007 dokumentiert die dazu dienen, dass zukünftig nur noch auf Tiergerechtig- beharrliche Lethargie der Bundesregierung, auch wenn keit geprüfte und zugelassene serienmäßig hergestellte Staatssekretär Müller die Würde der Tiere angesprochen Stalleinrichtungen in den Verkehr kommen. Ich betone hat; Herr Müller, Ihre Rede war ja nett. Aber auch die ausdrücklich: Dieses Verfahren dient also auch den Hal- meisten Landesregierungen sind da nicht besser; denn tern von Nutztieren und den Stallbaufirmen. Es bringt einiges, wofür Tierschutzverbände und Öffentlichkeit Rechtssicherheit bezüglich des Einsatzes neuer Hal- jahrelang gekämpft haben, wurde im Bundesrat zurück- tungssysteme. Stallbaufirmen können auf fachkundige gedreht. Beratung bei der Weiterentwicklung von Haltungssyste- 2002 wurde nach langem Gezerre endlich das Käfig- men bauen. Es liegen schon entsprechende Standards, halteverbot für Legehennen beschlossen – mit unseren entwickelt von einem Kreis von Expertinnen und Exper- Stimmen. 2006 wurde es wieder aufgehoben – gegen un- ten, vor. sere Stimmen. Der Renner sollen jetzt die sogenannten Auch als Verbraucherschützerin fordere ich den Tier- ausgestalteten Käfige sein. In ihnen darf bald lustig ge- schutz-TÜV. Das Prüf- und Zulassungsverfahren ent- pickt und gescharrt werden. Die glücklichen Hühner spricht dem Wunsch vieler Verbraucherinnen und Ver- bekommen sogar eine Sitzstange, auf dass sie fleißig braucher nach einer tiergerechten Haltung von Eier legen – das Ganze allerdings auf 800 Quadratzenti- Nutztieren in der Landwirtschaft. Viele Verbraucherin- metern je Huhn. Das sind ganze 50 Quadratzentimeter nen und Verbraucher achten bei ihrem Einkauf darauf, mehr als bei der konventionellen Käfighaltung. Damit dass sie gute und hochwertige Produkte kaufen. Sie le- steht einem Huhn statt des Platzes eines DIN-A4-Blattes 15140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Eva Bulling-Schröter (A) nun der Platz eineinhalb DIN-A4-Blätter zur Verfügung. Verrat am Tierschutz. So wurde die Höhe der Immis- (C) Ich finde, diese Form der Käfighaltung ist nach wie vor sionswerte, ab der Umweltverträglichkeitsprüfungen ein Skandal. stattzufinden haben, teilweise mehr als verdoppelt. Jetzt können großindustrielle Mastanlagen, zum Beispiel für (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Schweine, viel einfacher gebaut werden als früher. Auch Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Ablauf des Genehmigungsverfahrens wurde verän- NEN]) dert. Erörterungstermine, eine wichtige Einrichtung zur Diese Käfige erlauben nicht einmal annähernd eine ver- Beteiligung der Öffentlichkeit an bestimmten Bauvorha- haltensgerechte Unterbringung. Nach wie vor gilt: Sie ben, können stattfinden oder nicht; sie müssen nicht gehören verboten. stattfinden. Das liegt ganz im Ermessen der Genehmi- gungsbehörde und der Investoren, die sich natürlich die (Beifall bei der LINKEN) Hände reiben; das ist klar. Nun liegt ein neuer Gesetzentwurf vor, durch den die Jetzt zum Tierschutzbericht 2007. Liebe Kolleginnen Lage der Tiere verbessert werden soll. Die Bundesregie- und Kollegen, die Zahl der Tierversuche in Deutschland rung will in das Tierschutzgesetz eine Verordnungser- nimmt nicht ab, sondern, wie wir gehört haben, weiter mächtigung aufnehmen, um mit einer Verordnung ir- zu. Insbesondere der Bereich der biotechnologischen gendwann ein Verfahren zur Prüfung und Zulassung Forschung ist für die Zunahme der Zahl der Tierversu- serienmäßig hergestellter Stalleinrichtungen zu regeln. che verantwortlich. Bis ein transgenes Tiermodell – ich Dabei handelt es sich, kurz gesagt, um eine Art TÜV für finde übrigens, das Wort „Tiermodell“ sollte zum Un- Haltungseinrichtungen. Dieser soll gewährleisten, dass wort des Jahres gewählt werden – forschungsreif eta- Nutztiere nur noch in Stallungen gehalten werden, die bliert ist, stellen 99 Prozent der bis dahin verwendeten tierschutzkonform sind bzw. – besser gesagt – dem ent- Tiere sogenannten Ausschuss dar. Ich wiederhole: sprechen, was der Gesetzgeber unter „tierschutzkon- 99 Prozent. Diese Tiere erscheinen übrigens nicht in der form“ versteht. Tierversuchsstatistik. Einer Studie zufolge lassen sich Die Linke begrüßt natürlich, dass Haltungseinrichtun- Tierversuchsergebnisse nicht einmal in 1 Prozent der gen, die gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen, gar nicht Fälle auf den Menschen übertragen. Ein armseliges Er- erst in den Verkehr kommen; das war längst überfällig. gebnis für den hochgepriesenen medizinischen Nutzen! Aber zu Ihrer Information: In der Schweiz wird ein sol- Ein Armutszeugnis für das Staatsziel Tierschutz! Ich ches Zulassungsverfahren bereits seit 1981 praktiziert. meine, hier muss sich schleunigst etwas ändern. Sie sind ein bisschen spät dran, meine Damen und Her- Ich fordere die Bundesregierung auf, sich für ein so- ren. (B) fortiges Ende von versteckten Tierversuchen für Kosme- (D) Wer eine artgerechte und tierfreundliche Nutztierhal- tikartikel, fragwürdigen Chemikalientests und Versu- tung will, der muss natürlich an den Kriterien ansetzen. chen an Affen einzusetzen. Im Falle der Legehennen wurde das Rad der Geschichte (Beifall bei der LINKEN) gerade zurückgedreht. Schließlich haben die ausgestalte- ten Minikäfige mit Tierschutz genauso wenig zu tun wie Wir alle wissen, dass mit Versuchen an Primaten auch – leider ist er heute nicht hier – mit der der Handel mit wild gefangenen Arten verbunden ist. Nürnberger Flocke, selbst wenn die Gatter künftig ein Das darf nicht länger geduldet werden. Schließlich wer- Siegel tragen werden. den in Europa jährlich 10 000 Affen für Giftigkeitstests Es geht aber nicht nur um Legehennen. Was wir brau- und Hirnversuche „verbraucht“; allein hierzulande sind chen, ist eine tiergerechte Geflügelhaltung, die auch es 2 000. Masthühner umfasst. Im Mai 2007 beschloss der EU- Stellen Sie sich also nicht länger quer, auch nicht, Agrarministerrat eine Richtlinie zum Schutz von Mast- wenn es darum geht, ein Verbandsklagerecht für Tier- hühnern in Beständen mit mehr als 500 Tieren. Dem- schutzverbände einzuführen! Werden Sie aktiv! Lassen nach dürfen pro Quadratmeter 33 Kilogramm gehalten Sie dem Staatsziel Tierschutz endlich Taten folgen! Der werden. Wenn die Bedingungen besonders exzellent Tierschutzbericht darf auch nicht nur alle vier Jahre er- sind, dürfen sich sogar bis zu 42 Kilogramm auf einem scheinen. Meine Kollegen von der Opposition haben es Quadratmeter tummeln. Doch bereits ab 25 Kilogramm bereits gesagt: Wir müssen zurück zu einem Abstand pro Quadratmeter lassen sich Verhaltensauffälligkeiten von höchstens zwei Jahren. Oder wollen Sie dem Philo- und körperliche Schäden an Fußballen und Gelenken sophen Max Horkheimer recht geben? Er hat schon 1934 von Masthühnern nachweisen. Herr Seehofer lobte diese über die Tiere geschrieben, sie seien die unterdrücktes- Katastrophe als großen Erfolg für die tiergerechte Mast- ten aller Klassen im Kapitalismus. huhnhaltung. (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst kürzlich hat die [SPD]: Der Schluss war wirklich philoso- Koalition dem Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung phisch; das muss ich anerkennen!) und Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren zugestimmt. Der Vorwand da- für war unter anderem der Bürokratieabbau. In Wirklich- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: keit ging es jedoch um den Abbau von Bürgerbeteili- Jetzt hat Cornelia Behm das Wort für die Fraktion gung und Umweltstandards. Zudem ist dieses Gesetz ein Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15141

(A) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beteiligung der Tierschutzverbände vorgesehen. Die (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Prüfung soll – ich zitiere – auf juristische Personen des Kollegen! Herr Staatssekretär Müller hat für die Tiere privaten Rechts übertragen werden. Derartig unspezi- gesprochen oder wollte es zumindest tun. Schöne Worte; fisch formuliert eröffnet dies auch die Möglichkeit, dass aber die Praxis sieht anders aus. Denn lässt man Revue Nutzerorganisationen damit betraut werden. Ich hoffe, passieren, wie es unter Schwarz-Rot um den Tierschutz dass das nicht ernsthaft Ihr Ansinnen ist. steht, muss man leider feststellen, dass es kaum Fort- Warum fehlt ein Verbot nicht zugelassener Haltungs- schritte gibt, dafür aber massive Rückschritte. einrichtungen? Warum wird der Verkauf ungeprüfter Insbesondere im Bereich der industriellen und land- Einrichtungen nicht untersagt? Es finden sich in Ihrem wirtschaftlichen Haltung von Tieren besteht deutlicher Vorschlag viele Halbherzigkeiten – zu viele. Verbesserungsbedarf. Die Zahl der tierschutzwidrigen Haltungsformen ist entgegen vieler schöner Worte und Liebe Kolleginnen und Kollegen, für Schlachttier- Beschwichtigungen erheblich. Beispielsweise werden transporte gilt zwar die am 5. Januar 2007 in Kraft getre- Kaninchen in Käfigen unter Bedingungen gehalten, die tene EU-Verordnung vom Dezember 2004, mit der die von der Bevölkerung zu Recht als abstoßend empfunden Ausfuhrerstattungen für Schlachtrinder aus der EU abge- werden. Meist stehen den Tieren nicht einmal Ruhebe- schafft worden sind, aber das reicht nicht. Diese Verord- reiche zur Verfügung, und das, obwohl das Bundesver- nung steht etwaigen strengeren einzelstaatlichen Maß- fassungsgericht bereits 1999 in seinem Legehennenurteil nahmen, mit denen ein besserer Tierschutz für die dem artgemäßen, ungestörten Ruhen aller Tiere – nicht transportierten Tiere bezweckt wird, überhaupt nicht ent- nur der Legehennen – besonderes Gewicht verliehen hat. gegen. Solange es um Tiere geht, die ausschließlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates oder vom Hoheits- Legehennen werden weiterhin in Käfigen gehalten. gebiet eines Mitgliedstaates aus auf dem Seeweg beför- Zwar hat die rot-grüne Bundesregierung in Folge des Le- dert werden – in diesem Falle von Deutschland aus –, ist gehennenurteils die Abschaffung dieser Haltungsform der Minister sehr wohl in der Lage – das können Sie ihm zum 31. Dezember 2006 beschlossen. Durch die Zweite von hier mitnehmen, Herr Staatssekretär –, zu handeln. Verordnung zur Änderung der Geflügel-Aufstallungs- Tun sie es endlich! verordnung zugunsten der Einführung neuer, geringfü- gig vergrößerter Käfige hat diese Regierung den tier- Es ist unerlässlich, durch eine Änderung des Tier- schutzrechtlichen Fortschritt jedoch wieder aufgehoben. schutzgesetzes Schlachttiertransporte zeitlich so zu be- Da nützt es auch nichts, dass diese Käfige in Kleinvolie- grenzen, dass die Tiere nur bis zur einer nahe gelegenen ren umbenannt wurden. Legehennen brauchen keine Schlachtstätte, in keinem Fall aber länger als insgesamt vier Stunden transportiert werden. Das ist zwar noch (B) Wortakrobatik, sie brauchen anständige, artgerechte Le- (D) bensbedingungen. keine Lösung des drängenden Problems der internationa- len Schlachttiertransporte, für die ebenfalls unbedingt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine nicht verlängerbare Beförderungshöchstdauer von maximal zweimal vier Stunden eingeführt werden sollte, Mastschweine und Ferkel werden weiterhin in ein- aber das wäre ein erster richtiger Schritt. streulosen Ställen auf Vollspaltenböden gehalten, sind gezwungen, ständig die durch die Spalten dringenden Die Bundesrepublik Deutschland kann ihr Ziel, eine Ausdünstungen des eigenen und des fremden Kots ein- solche Transportzeitbegrenzung EU-weit durchzusetzen, zuatmen, weshalb sie in großer Zahl unter Husten und aber nur dann glaubwürdig verfolgen, wenn sie auf na- Lungenschäden leiden. Muttersauen werden unter er- tionaler Ebene von den entsprechenden Berechtigungen bärmlichen Bedingungen eingepfercht. Auch Kälber und Gebrauch macht und damit ein positives Beispiel gibt. Mastrinder werden vielfach auf Vollspaltenböden ohne Ich erinnere an die Robben. Dort gibt es genau die glei- Liegebereiche mit Einstreu und ohne ausreichenden Be- che Situation. Aus den Nationalstaaten müssen positive wegungsraum gehalten. Anregungen in Richtung der EU gegeben werden. Wenn wir als Gesellschaft dem Anspruch des im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grundgesetz verankerten Staatsziels Tierschutz gerecht werden wollen und wenn sich die Politik von dem Vor- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bündnis 90/Die wurf befreien will, nur dann aktiv zu werden, wenn es Grünen steht – das ist wohl allgemein bekannt – für eine um Wählerstimmen geht, dann muss hier gehandelt wer- kontinuierliche Verbesserung des Verbraucherschutzes. den. Aber es gibt keinen umfassenden Verbraucherschutz ohne eine artgerechte Haltung und ohne Respekt vor den Deshalb müssen umfassend tiergerechte Haltungssys- Tieren. teme eingeführt werden, und wir brauchen anspruchs- volle Prüf- und Zulassungsverfahren für serienmäßige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Haltungssysteme und Zubehöre. Die Verbraucher wollen keine Schweine aus Mastfabri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ken, keine Eier aus Legebatterien und kein Fleisch von mit Genmais gefütterten Rindern. Wir müssen aber auch Der von der Bundesregierung vorgelegte Regelungs- das Bewusstsein dafür schärfen, dass gesunde und artge- vorschlag ist hier aber völlig unzureichend. So ist in ihm recht erzeugte Produkte ihren Preis haben und auch wert entgegen früheren Zusagen von Minister Seehofer keine sind. 15142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Cornelia Behm (A) Sarah Wiener hat kürzlich die Frage gestellt: Die gute Arbeit im Verbraucherschutzausschuss des (C) Deutschen Bundestages und die erfreuliche, konstruk- Wie kann denn ein Huhn 3,50 Euro kosten, so viel, tive Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegen wie eine halbe Stunde Parkplatz in Berlin-Mitte? untereinander haben erfreuliche Ergebnisse erzielt. Tier- Was sind das für Relationen? Wenn ein Tier nichts schutz ist in unserer Gesellschaft und für die verantwort- wert ist, wird es auch so behandelt. lichen Volksvertreter gegenwärtig eine echte Herausfor- Schmackhafte und gesunde Lebensmittel haben ihren derung zum Handeln, weit über die netten Bilder von Wert und ihren Preis. „Geiz ist geil“ war gestern, Knut und Flocke hinaus. „Klasse statt Masse“ ist Zukunft. Ich führe gern einige Beispiele unserer erfolgreichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeit an: Mit dem Antrag der Fraktionen der CDU/ sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter CSU und der SPD zur Sicherstellung des Schutzes der Bleser [CDU/CSU]: Der letzte Satz war gut!) Wale setzten wir uns nachträglich für einen umfassenden globalen Schutz der Walbestände ein. Das ist schon er- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wähnt worden, aber ich halte es für sehr wichtig. Jetzt hat der Kollege Dr. Peter Jahr das Wort für die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Fraktion CDU/CSU. Jeglicher kommerzielle Walfang wurde in diesem An- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) trag abgelehnt. Aber auch der wissenschaftliche Wal- fang, den sich einige Länder noch erlauben, ist nur eine Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): andere Bezeichnung für eine tödliche Jagd, die dazu bei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen trägt, den Bestand weiter zu dezimieren. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Kollege Goldmann ist gerade verzweifelt dabei, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) seine Katze vom Fernseher wegzubekommen. Ich erinnere auch an die Robben; wir haben im Aus- (Heiterkeit) schuss und auch mit der Bundesregierung sehr lange um eine entsprechende Formulierung gerungen. Die Not- Ich habe auch eine Katze und will ihr auch einen Hin- wendigkeit, hier etwas zu unternehmen, ist begründet weis geben: Wenn du jetzt vor dem Fernseher sitzt, dann worden, und wir haben uns dafür eingesetzt, dass den scher dich weg und mach das, wozu wir dich gekauft ha- tierquälerischen Grausamkeiten durch ein striktes Ein- ben, nämlich in der Natur Mäuse zu fangen. fuhr- und Handelsverbot zu begegnen ist. Eine europäi- sche Lösung und damit die Bündelung vorhandener na- (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionaler Gesetze wäre sicherlich die bessere Alternative NEN]: Und jetzt vom Tierschutz reden!) gewesen, aber solange dieses EU-weite Einfuhrverbot nicht zustande kommt, ist die Unterbindung des Inver- Bevor ich dann zum Thema komme, habe ich noch kehrbringens von Robbenprodukten in Deutschland die eine Richtigstellung an den Kollegen Goldmann: Ich beste Chance, der jährlichen massenhaften Robbentö- weiß, dass die Opposition manchmal davon lebt, von im tung ein Ende zu setzen. Ausschuss erstatteten Berichten nur den ersten Teil wie- derzugeben und den zweiten Teil gern zu vergessen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Hinsichtlich des Impfstoffes zur Blauzungenkrankheit Erfreulich ist in diesem Zusammenhang, dass das Bun- hat Minister Seehofer eindeutig gesagt, sobald es einen deskabinett in dieser Woche ein entsprechendes Vorha- praxistauglichen Impfstoff gebe, werde er dessen Zulas- ben auf den Weg gebracht hat. Wir werden es im Aus- sung mit einer Eilverordnung genehmigen, sodass es aus schuss noch bekommen und uns dann gemeinsam dieser Warte überhaupt keinen Zeitverzug gibt. Wir darüber freuen. brauchen natürlich erst einmal einen praxistauglichen Impfstoff, bevor wir ihn einsetzen können. Es ist redlich Ein weiterer Fortschritt aus tierschutzpolitischer Sicht und richtig, dass man, wenn man den ersten Teil eines ist die Erfassung mobiler Tierschauen und Zirkusbe- Berichtes zitiert, dann auch noch das Ende vorliest. So triebe mit Tierhaltung in einem entsprechenden Register. viel Zeit muss ganz einfach sein. Dieses Zirkuszentralregister wurde vor allem aufgrund nicht immer zufriedenstellender Haltungsbedingungen (Beifall bei der CDU/CSU) von Zirkustieren gefordert. Ich halte diesen Ansatz für Uns liegt bereits der zehnte Tierschutzbericht der Re- weitaus wirkungsvoller, als das Halten von verschiede- gierung vor; er muss entsprechend dem Tierschutzgesetz nen Tieren im Zirkus zu verbieten. alle zwei Jahre vorgelegt werden. Er umfasst diesmal Ein weiteres positives Beispiel, bei dem eine europäi- den Zeitraum 2005/2006. Die Bundesregierung stellt be- sche Lösung möglich war, ist das europaweite Einfuhr- reits in der Einleitung fest: verbot von Hunde- und Katzenfellen. Unter deutscher In diesem Zeitraum konnten in konsequenter Um- Ratspräsidentschaft konnte dieses Vorhaben erfolgreich setzung des Verfassungsauftrages spürbare Fort- abgeschlossen werden. Diese Verordnung tritt am 31. De- schritte für den Tierschutz erzielt werden. zember 2008 in Kraft. Das ist eine bemerkenswert optimistische Einschätzung, Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, der die ich jedoch ausdrücklich teile. Tierschutzbericht zeigt jedoch auch neue Handlungsfel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15143

Dr. Peter Jahr (A) der auf. Angesichts der hohen Zahl der getöteten Ver- gen zugelassen werden, die auf Tiergerechtheit geprüft (C) suchstiere – von allen Rednern bisher kritisiert – müssen wurden. wir endlich zu wirksamen nationalen und europäischen (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sehr gut!) Lösungen kommen. Leider ist im Jahr 2000 die Anzahl der insgesamt für Versuche und andere wissenschaftliche Der vorliegende Gesetzentwurf unterstützt insbeson- Zwecke verwendeten Tiere auf unvorstellbare 2,5 Mil- dere unsere Landwirte. Wenn jemand seine Stalleinrich- lionen Tiere gestiegen. Das war im Vergleich zu 2004 ein tungen modernisieren und den wissenschaftlich-techni- Anstieg um 6,5 Prozent. Das ist zu viel. Um das erklärte schen Fortschritt nutzen möchte, dann muss er sich beim Ziel zu erreichen, die Tierversuche auf das absolut not- Kauf dieser Anlage von einem namhaften Hersteller wendige Maß zu verringern, gilt es, weiterhin verstärkt auch sicher sein, dass die Stalleinrichtung nicht nur tech- mögliche Alternativmethoden zu fördern. Erfreulich ist nisch, sondern auch im Sinne des Tierschutzes auf dem – Staatssekretär Müller hat es schon erwähnt –, dass neuesten Stand ist. Deutschland mit zwei Förderprogrammen zur Entwick- lung von Alternativmethoden zu Tierversuchen den weit- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und aus größten Beitrag aller EU-Mitgliedstaaten leistet. der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nicht mehr, aber auch nicht weniger will der vorliegende Gesetzentwurf erreichen. Wir werden in den Ausschuss- Auch müssen Wiederholungsversuche eingeschränkt beratungen dafür sorgen, dass aus diesem Anspruch kein werden. Wie bereits festgestellt wurde – auch ich bin bürokratisches Monster, sondern ein tierartengerechtes dieser Meinung –, ist die europäische Chemikalienver- Gesetz wird. ordnung REACH hierbei ein schlechtes Beispiel, weil der Schadensnachweis von sogenannten Altchemikalien Tierschutz ist und bleibt eine echte tagtägliche He- oft mittels Tierversuchen erbracht wird. rausforderung. Ich wünsche uns das Herz und den Ver- stand, gute Ideen und reichlich Mut, weiter zum Wohle (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE unserer Tiere zu arbeiten. LINKE]) Danke schön. Die bisherigen Ausnahmeregelungen des betäubungs- losen Tötens von Schlachttieren – gemeinhin als Schäch- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ten bezeichnet – sind aus tierschutzpolitischer Sicht ein weiteres Ärgernis. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Kurt Segner [CDU/CSU]: Jawohl!) Der Kollege Wilhelm Priesmeier hat jetzt das Wort (B) für die SPD-Fraktion. (D) Ich werbe an dieser Stelle ausdrücklich für eine Ände- rung des Tierschutzgesetzes. Ich bin mir sicher, dass im (Beifall bei der SPD) parlamentarischen Verfahren für alle Beteiligten und da- von Betroffenen ein praxistauglicher Kompromiss er- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): reichbar ist. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dass auch ein Schächtverfahren inklusive vorheriger Be- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, die täubung zulässig sein kann. In dieser konkreten Debatte heutige Debatte ist im Sinne aller und des Tierschutzes wünsche ich mir mehr Sachlichkeit und weniger Ideolo- recht zufriedenstellend verlaufen. Es ist in der Tat zu be- gie im Interesse der Tiere. klagen, dass die Zahl der Tierversuche gestiegen ist. Es ist zu überlegen, welche Maßnahmen dagegen unter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nommen werden können. Es gibt durchaus einige Mög- neten der SPD) lichkeiten, und wir geben uns dabei große Mühe. Bevor ich schließe, möchte ich auf einen weiteren Seit Beginn der schwarz-roten Koalition haben wir positiven Mosaikstein des Tierschutzes, nämlich den 4 Millionen Euro für die Entwicklung von Alternativen vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur zu Tierversuchen in den Haushalt eingestellt. Dies kann Änderung des Tierschutzgesetzes – den sogenannten sich europaweit sehen lassen; das gibt es in keinem an- Tierschutz-TÜV –, eingehen. Neben dem Grundgesetz deren europäischen Mitgliedstaat. Unter Rot-Grün ist es legt § 2 des Tierschutzgesetzes fest, dass derjenige, der uns nicht gelungen, diesen Ansatz aufzustocken. ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, sicherstellen muss, dass das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen Die Aufstockung der Mittel in diesem Bereich zeigt entsprechend angemessen ernährt, gepflegt und verhal- bereits eine positive Wirkung. Es ist eine Reihe von Ver- tensgerecht untergebracht wird. Um es vorwegzuneh- fahren in Zusammenarbeit mit der ZEBET entwickelt men: Die meisten Landwirte in Deutschland werden die- worden, die mittlerweile auch von ECVAM anerkannt sem Anspruch gerecht. worden sind und deren Validierung bei der OECD voran- getrieben wird. Das wird eine wesentliche Vorausset- Der Gesetzentwurf sieht ein obligatorisches Prüf- und zung sein, um gerade im Hinblick auf die REACH-Pro- Zulassungsverfahren für serienmäßig hergestellte Stall- blematik die Zahl der Versuchstiere zu begrenzen. einrichtungen für Nutztiere vor, das für das Inverkehr- bringen und den Einbau solcher Einrichtungen Voraus- Dazu gehört aber auch – das ist als eine Replik auf das setzung sein soll. Das Verfahren soll dazu dienen, dass gestern diskutierte Thema zu verstehen – die Forschung zukünftig nur serienmäßig hergestellte Stalleinrichtun- an humanen Stammzellen. Gerade in diesem Bereich er- 15144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) geben sich interessante Möglichkeiten, in In-vitro-Versu- Mecklenburg-Vorpommern. Das hängt also nicht davon (C) chen die Toxikologie von verschiedenen chemischen ab, wer in den jeweiligen Bundesländern regiert, sondern Substanzen und Verbindungen, denen wir tagtäglich aus- von bestimmten Vorbedingungen und eventuell von der gesetzt sind, zu bewerten und Risiken auszuschließen. Kontrollfrequenz. Die Einhaltung der Standards ist Das sind weitere Verfahren, die man einsetzen kann, um wichtig. Es reicht nicht aus, ein paar Millionen Euro in die Zahl der Tierversuche drastisch zu reduzieren. Das die Forschung zu investieren. Dazu müssen wir einen gilt auch für die Zulassung von Arzneimitteln. Auf den entsprechenden Forschungscluster schaffen. Das ist mit LD-50-Test, mit dem der Zusammenhang zwischen Do- Celle und Umgebung – sprich: Tierärztliche Hochschule sis und Mortalität bestimmt wird, kann man in vielen und andere Beteiligte – angedacht. Das ist wichtig im Bereichen verzichten. Wir müssen uns aber Gedanken Hinblick auf die finanziellen Möglichkeiten. darüber machen, inwieweit die Vorgaben für die Zulas- sungsverfahren von Arzneimitteln in bestimmten Sub- Wenn man sich den Siebten Forschungsrahmenplan stanzklassen verändert werden können. Hier lässt sich im der EU anschaut, dann erkennt man, dass Tierschutzfor- Detail sicherlich noch einiges verbessern. schung ein Schwerpunkt ist. Dies müssen wir nutzen, um in diesem Zusammenhang wissenschaftlich begründbare Man sollte zudem hinterfragen, ob viele Tierversuche Standards zu erforschen, anhand deren wir Haltungssys- tatsächlich zweckdienlich sind. Es ist sicherlich sinnvoll, teme bewerten können. Da liegt vieles im Argen. Da bei ethisch umstrittenen Versuchen zu verlangen, in der müssen wir noch viel Arbeit leisten. Wir haben uns bis- Bewertung nachvollziehbar darzulegen, ob der Ver- lang immer auf die Hennenhaltung, hauptsächlich Lege- suchszweck überhaupt erreicht wurde. Das bewahrt an- hennenhaltung, konzentriert. Das ist der erste Ansatz, dere gegebenenfalls davor, den gleichen Versuchsansatz weil er in der Gesellschaft am heftigsten diskutiert wor- zu wählen. Das Spannungsfeld zwischen der Freiheit den ist. Wir müssen aber auch alle anderen Bereiche ein- von Forschung und Lehre einerseits und dem Staatsziel beziehen. Dazu bietet das Gesetz zur Änderung des Tier- Tierschutz und dem Anspruch, den Einsatz von Ver- schutzgesetzes ausreichend Möglichkeiten. Die beiden suchstieren zu minimieren, andererseits muss nach mei- Verordnungsgrundlagen, die dort enthalten sind, bieten ner Einschätzung ständig neu überdacht werden. Unter auch Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf das zu Umständen sind andere gesetzliche Regelungen notwen- wählende Verfahren. dig. Ein Instrument – das wurde bereits angesprochen – kann in begrenztem Umfang die Verbandsklage sein. Ich appelliere von hier aus an die Bundesländer – das (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE ist zwischenzeitlich auch bei der Beratung dieses Ent- LINKE]) wurfes vom Bundesrat signalisiert worden –, dass keine Kamingespräche der Agrarminister der deutschen Län- (B) Wir Sozialdemokraten sind dafür offen, der stattfinden und ein Konsens darüber hergestellt wird, (D) was später im Rahmen einer Verordnung umgesetzt wird (Peter Bleser [CDU/CSU]: Wir nicht!) und was nicht. Das wäre unfair; denn die Rechtsetzungs- insbesondere wenn es um die Ausgestaltung geht. Das kompetenz für den Tierschutz liegt beim Bund. Das soll- kann sicherlich nicht darauf hinauslaufen, dass man da- ten auch die Länder wissen. Das ist auch nach der Föde- mit eine Verhinderungspolitik betreibt und versucht, die ralismusreform so. Dieses Feld eignet sich nicht dazu, Bestimmungen zur Genehmigung von Tierhaltungsanla- über die Bande zu spielen. Ich hoffe auf die tatkräftige gen konsequent zu unterlaufen. Das ist sicherlich nicht Unterstützung des Koalitionspartners, wenn es darum die Zweckbestimmung solcher Rechtsinstrumente; denn geht, die B-Länder in bestimmten Punkten zu überzeu- dieses Instrument soll jemandem die Klage ermöglichen, gen. Es wird nicht nach dem Motto funktionieren: Ma- der rechtlich an sich nicht betroffen ist. Aber ich möchte chen wir das Gesetz, aber die Verordnung lassen wir vor den Dialog mit den Verbänden darüber führen, obwohl die Wand fahren. – Das kann nicht die Gesetzeswirklich- dieses Vorhaben in dieser Koalition vielleicht nicht keit sein. Dann können wir uns dieses Gesetz sparen. gleich umgesetzt werden kann. Man kann zumindest da- Oder wir gehen einen anderen Weg und schreiben die für werben und das zum politischen Ziel machen. gesamten Vorgaben, die man benötigt, in das Gesetz sel- ber. Dann haben wir eine ganz andere Position. Das sind (Beifall bei der SPD) die beiden Alternativen. Bei der Ausgestaltung muss man sich den Modalitäten und Bedingungen anpassen. Aber ich glaube, dass die In diesem Zusammenhang erwarte ich ein klares Si- Verbände recht offen sind. gnal seitens der Länder, wie sie denn gedenken, in die- sem Punkt weiter zu verfahren, damit etwas Struktur und Man könnte zudem die Rechtsposition der Tierschutz- Ernsthaftigkeit in die Diskussion zurückkehrt. Diese beauftragten in den Unternehmen verbessern, die eine kann man in vielen Bereichen nicht unbedingt vorausset- große und intensive Nutztierhaltung betreiben. Dort zen. Ich als jemand, der Bundespolitik gestaltet, bin je- müssen die Verantwortlichkeiten deutlich geregelt wer- denfalls nicht bereit, so mit mir umgehen zu lassen. Das den, um die Voraussetzungen für eine präzise Einhaltung widerspricht auch meinem Selbstverständnis als Bundes- der durch Haltungsverordnungen vorgegebenen Bedin- tagsabgeordneter. Ich lasse mich da von den Ländern gungen zu schaffen. Die Kommission, die im Sommer nicht an der Nase ziehen. die Einhaltung der Tierschutzstandards in den Bundes- ländern überprüft hat, hat eine ganze Reihe von Proble- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men festgestellt, zum Beispiel in Niedersachsen und in der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15145

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) In dem Zusammenhang kann ich auch keinen Konflikt Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 27 auf: (C) innerhalb der Koalition erkennen, der von vielen Journa- listen konstruiert worden ist. Ich glaube, wir sind auf ei- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nem vernünftigen und zielführenden Weg. richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Das Käfigverbot auf europäischer Ebene bleibt erhal- Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Katja Kipping, ten. Danke schön für die klare Position der Bundesregie- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE rung. Ich kann die jetzige Regelung, die Verlässlichkeit LINKE bietet, nur unterstützen. Über die Frage von Systemen kann man sich natürlich streiten. Aber ich finde, dass Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Men- das, was wir mit der Hennenhaltungsverordnung in schen mit geringem Einkommen Gang gesetzt haben, ein gelungener Kompromiss ist. Zu – Drucksachen 16/5247, 16/7171 – diesem bekennen wir uns. Aus diesem Grunde fordern wir auch die andere Seite dieses Kompromisses ein. Die Berichterstattung: andere Seite dieses Kompromisses lautet: Ab 2012 wer- Abgeordneter Karl Schiewerling den nur noch geprüfte Systeme in den Verkehr gebracht, Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. – und ab 2020 gibt es keine Systeme mehr, die ungeprüft Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- sind. Das ist die Grundlage. Darauf beziehe ich mich schlossen. hier. Das fordern wir ein. Wenn wir das gemeinsam hier umsetzen, dann kann dieser Tag der Einbringung des Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Gesetzentwurfes ein guter Tag für den deutschen Tier- Gabriele Hiller-Ohm das Wort für die SPD-Fraktion. schutz werden. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Mit dem heute vorgelegten Antrag „Rechtsanspruch auf Ich schließe die Aussprache. Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkom- men“ greift die Linksfraktion ein Thema auf, das weder Es ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen in unsere bundespolitische Zuständigkeit fällt noch den 16/5044 und 16/7413 an die Ausschüsse zu überweisen, Menschen vor Ort weiterhilft. die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit sind (B) Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist so beschlos- „Jede Leistung ist besser als keine Leistung“, das, (D) sen. liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, ist das Motto Ihrer Sozialpolitik. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf: (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid LINKE]: Besser als keine Leistung ist eine Wolff (Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. Karl Leistung, oder?) Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Warum sollte also nicht jeder, der Arbeitslosengeld II, Bevölkerungsschutzsystem reformieren – Zu- Sozialhilfe oder Wohngeld bezieht, auch noch eine Mie- ständigkeiten klar regeln terberatung auf Kosten der Steuerzahler obendrauf erhalten? Ganz egal, ob das sinnvoll ist oder nicht. Sie – Drucksache 16/7520 – sind sich dabei auch nicht zu schade, gegen besseres Überweisungsvorschlag: Wissen Geld zu verteilen, das Sie überhaupt nicht haben, Innenausschuss (f) und großzügig andere Ebenen auf Kosten des Bundes- Rechtsausschuss haushaltes zu entlasten. Wir lehnen den Antrag ab. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Kosten der Unterkunft, also Miete und Heizung der Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Bezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe, sind Technikfolgenabschätzung Sache der Kommunen. Die Träger der Grundsicherung vor Ort – das sind Sozialämter und Argen – müssen des- Hierzu sind die Reden der Kolleginnen und Kollegen halb ebenso wie die Mieter daran interessiert sein, dass Beatrix Philipp, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff es keine unberechtigten Erhöhungen gibt. Sie sind damit (Rems-Murr), Jan Korte und Silke Stokar von Neuforn auch Ansprechpartner der Grundsicherungsempfänger, 1) zu Protokoll gegeben worden. wenn der Protest beim Vermieter erfolglos war. Sie kön- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nen dann selber aktiv werden oder Rechtsberatung von Drucksache 16/7520 an die in der Tagesordnung aufge- außerhalb einholen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind Selbstverständlich sind die Kommunen verpflichtet, Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- gewissenhaft mit Steuergeldern umzugehen und überzo- schlossen. genen Forderungen von Vermietern energisch entgegen- zutreten. Warum also sollten wir Sozialämter und Argen 1) Anlage 3 aus ihrer Verantwortung und Zuständigkeit entlassen? 15146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Gabriele Hiller-Ohm (A) Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es über- (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) (C) haupt keinen Grund. Inzwischen hat das Bundessozialgericht zu dieser Die Linksfraktion begründet ihre Antragsinitiative Problematik geurteilt und dabei allgemeinverbindliche mit einer deutlichen Einsparung bei den Trägern. Dies ist Maßstäbe für die Bemessung der Kosten der Unterkunft jedoch mehr als fragwürdig, eigentlich geradezu absurd. festgelegt. Jetzt kommt es darauf an, dass alle Länder Millionen von Menschen sollen einen Rechtsanspruch und Kommunen diese Maßstäbe vor Ort anwenden und auf kostenlose und unabhängige Mieterberatung erhal- so zu einer gerechteren Berechnung der Kosten der Un- ten, so lautet die Forderung der Linksfraktion. Es gibt terkunft beitragen. 7 Millionen Menschen in 3,6 Millionen Bedarfsgemein- Die Linksfraktion spricht in ihrem Antrag auch den schaften allein im SGB II. Hinzu kommen über 2 Mil- Kreis der wohngeldberechtigten Personen an. Im Hin- lionen Sozialhilfe- und Wohngeldempfänger. Millionen blick auf Mieterberatung hatte ich bereits erwähnt, dass von Menschen sollen also in Mietervereinen angemeldet hier das Instrument der Beratungshilfe greift. Für diese werden, und die Beiträge dafür sollen vom Staat über- Menschen ist aber viel wichtiger, dass es in Kürze eine nommen werden. Die Mietervereine werden sich freuen. Anpassung des Wohngeldes geben soll. Die SPD-Bun- Wo aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollen hier destagsfraktion und sozialdemokratische Bundesminis- Einsparungen sein? Ich sehe keine. Im Gegenteil: Die ter haben sich in den vergangenen Tagen öffentlich dafür Kosten stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu dem eingesetzt. Profitieren werden von diesem Schritt Men- Nutzen. Den Menschen weismachen zu wollen, mit der schen mit geringen Einkommen, die trotz Arbeit nur Übernahme des Mieterschutzes für alle Leistungsemp- knapp über der Armutsgrenze liegen. Besonders sind fänger würden Kosten gesenkt, grenzt ja geradezu an hier Familien mit Kindern betroffen. Auch Menschen Volksverdummung. mit kleinen Renten wird durch die Wohngelderhöhung Gerade bei der Mieterberatung haben wir insgesamt der Gang in die Sozialhilfe erspart. gesehen ganz gute Strukturen, von denen auch Men- Wir wollen das Wohngeld deutlich erhöhen und damit schen mit kleinen Einkommen profitieren, die nicht im Mietsteigerungen seit der letzten Anpassung 2001 nach- ALG-II- oder Sozialhilfebezug sind. Für sie könnte ein vollziehen. Ganz wichtig ist aber auch, dass wir auf die Mietstreit tatsächlich zu einer großen Belastung werden. kontinuierlich angestiegenen Energiekosten reagieren, Aber natürlich lassen wir diese Menschen nicht im Re- und das machen wir mit unserem Vorschlag. gen stehen. So gibt es im Rahmen der Beratungshilfe für 10 Euro eine fast kostenlose Mietrechtsberatung, die (Beifall bei der SPD) durch örtliche Rechtsanwälte durchgeführt wird. Mit der Anhebung des Wohngeldes setzen wir ein kla- res Zeichen: Wir lassen bedürftige Menschen mit stei- (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Und die wird noch (D) genden Wohnkosten nicht alleine. Im Gegensatz zur erstattet!) Linksfraktion packen wir da an, wo tatsächlich Hand- Auch die Wohlfahrtsverbände stellen eine umfas- lungsbedarf besteht und wo wir als Bund nach der Ver- sende Beratungsstruktur zur Verfügung. fassung auch die Zuständigkeit haben. Wenn wir uns die Kosten der Unterkunft anschauen, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Karl wird deutlich, dass die Mieterberatung und der Mieter- Schiewerling [CDU/CSU]) schutz keine Probleme sind. Viel spannender ist hinge- gen die Frage der Bemessung der Kosten der Unterkunft. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Hier gibt es abhängig vom jeweiligen Träger und Ort Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion ganz unterschiedliche Berechnungsverfahren und damit Die Linke. auch individuelle Ungerechtigkeiten. Darauf hat der (Beifall bei der LINKEN) Bundesrechnungshof in seiner letzten Unterrichtung des Bundestages hingewiesen. Durch die willkürliche Be- messung der Kosten der Unterkunft entstehe die Situa- Heidrun Bluhm (DIE LINKE): tion, so der Rechnungshof, dass einem Teil der Hilfe- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! empfänger übermäßig hohe Kosten erstattet würden, Frau Hiller-Ohm, es ist eine Katastrophe. Mit großer während anderen zu schnell und zu drastisch die Leis- Selbstsicherheit tragen Sie hier etwas als Erfolg Ihrer ei- tungen gekürzt würden. genen Politik vor. Mit dem, wie das im Leben derjenigen aussieht, die das auszubaden haben, ist das überhaupt Leider gibt es Fälle, in denen zum Beispiel bei Miet- nicht in Übereinstimmung zu bringen. erhöhungen aufstockende Zahlungen verweigert werden, ohne dass die Konsequenzen im Einzelfall geklärt wür- Nach Angaben des Deutschen Mieterbundes zahlen den. Hierzu heißt es im Bericht des Rechnungshofes: Mieterinnen und Mieter in der Bundesrepublik im Jahr circa 250 Millionen Euro mehr Miete, als nach der recht- Teilweise überschritten die vom Hilfeempfänger lichen Grundlage möglich wäre. selbst zu zahlenden Beträge sogar die ausgezahlte (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Regelleistung. Diese Verfahrensweisen … laufen LINKE]: So ist das!) einem umfassenden Fallmanagement, das auch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Dieses Zuviel an Miete geht in die Kassen der Vermieter, Hilfebedürftigen einbezieht, zuwider. insbesondere der privaten Vermieter, aber sicherlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15147

Heidrun Bluhm (A) auch in die der kommunalen Vermieter. Hier wird Steu- einen Transferempfänger in einem Mieterverein kosten. (C) ergeld, das Familien in Form von Transferleistungen er- An der Tatsache, dass dadurch gleichzeitig durchschnitt- halten, weil sie von der eigenen Arbeit, vom eigenen lich 160 Euro im Jahr pro Wohngeldempfänger einge- Einkommen nicht leben können, letztlich also nur in die spart werden könnten, also ganz konkret weniger Steuer- Privatwirtschaft hinein durchgeleitet. gelder aufzuwenden wären, wird deutlich, dass dieses Vorhaben sehr wohl wirtschaftlich wäre. Ein Drittel der Betriebskostenabrechnungen, die jähr- lich zu erstellen sind, sind, wie der Mieterbund feststellt, Herzlichen Dank. falsch, überhöht, nicht nachprüfbar oder Ähnliches. (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei Auch hier werden also Steuergelder über falsche Be- der SPD) triebskostenabrechnungen in die Hände der Privaten, die solche Abrechnungen erstellen, durchgeleitet. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie, Frau Hiller-Ohm, sagen, der Bund sei nicht zu- Karl Schiewerling spricht jetzt für die CDU/CSU- ständig. Selbstverständlich ist der Bund zuständig. Man Fraktion. kann nicht die Hartz-IV-Gesetze verabschieden, darin die Verantwortung für diese Aufgabe den Kommunen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – zuweisen und dann hier sagen, man mische sich in die [SPD]: Jetzt kommt wenigstens Angelegenheiten der Kommunen ein. einer, der von der Sache Ahnung hat!) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Die sind halt zu- Karl Schiewerling (CDU/CSU): ständig!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist einfach nur arrogant, wenn man jetzt die Kommu- Viele Dinge hat Frau Hiller-Ohm vorhin schon darge- nen mit ihren Belastungen alleine lässt. Schon Ende letz- stellt. Ich will noch auf einige Punkte kurz eingehen. ten Jahres konnten wir im Rahmen der Haushaltsbera- tungen sehr wohl sehen, wie sich der Bund immer weiter Frau Bluhm, es mag ja sein, dass die Feststellung des aus der Finanzierung der Unterkunftskosten zurückzie- Mieterbundes, dass jährlich 250 Millionen Euro zu viel hen will. gezahlt würden, zutrifft. Ich kann die Zahlen nicht über- prüfen. Es sind ja viele verschiedene Zahlen in der Welt. (Beifall bei der LINKEN – Gerd Andres [SPD]: Ist Das trifft aber ganz sicher nicht ausschließlich auf Perso- doch Quatsch! So ein Unsinn!) nen zu, die Transferleistungen gemäß SGB II oder SGB XII erhalten. Ich weiß auch nicht, wen alles Sie mit Sie sprechen von 10 Euro für Mietrechtsberatung für Ihren Zwangsberatungen beglücken wollen. Unserer Wohngeldempfänger. Wohngeldempfänger bekommen (B) Vorstellung entspricht das nicht. (D) deshalb Wohngeld, weil sie mit ihrem eigenen Geld die Miete nicht bezahlen können. Aber sie sollen die Mit ihrem Antrag will die Linke erwirken, dass Be- 10 Euro für die entsprechende Beratung ausgeben. zieher von Grundsicherung nach SGB II und SGB XII, also Bezieher von Arbeitslosengeld II oder der alten (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sozialhilfe, und alle weiteren wohngeldberechtigten Per- NEN]: Die werden erstattet!) sonen einen Rechtsanspruch auf eine kostenlose, unab- Das ist doch lächerlich. Es wäre doch ganz einfach mög- hängige Mietrechtsberatung erhalten. Wie ein derartiger lich, in der von Ihnen angekündigten Wohngeldnovelle Rechtsanspruch umgesetzt werden soll, sagen Sie nicht. entsprechende Regelungen vorzusehen. Diese Novelle Offen bleibt auch die Kostenfrage. Die meisten Men- wird sich die Regierung übrigens auch nicht als Erfolg schen, die von einer solchen Regelung betroffen wären, anrechnen lassen können. Der erste Entwurf nämlich, beziehen übrigens Leistungen vom Staat. den Sie vorgelegt haben, war noch schlechter als das Die Behauptung in der Begründung, dass die Kom- derzeitige Wohngeldgesetz. Erst als die von Ihnen be- munen automatisch alle Kosten unkritisch übernehmen, stellten Sachverständigen und Gutachter in der von der geht schlichtweg an der Wirklichkeit vorbei. Opposition beantragten Anhörung Ihnen bescheinigt ha- ben, dass die Novelle das Papier nicht wert ist, auf dem (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau!) sie steht, sind Sie nachdenklich geworden und haben re- agiert. Es mag ja den einen oder anderen Fall geben, wo man sich wundert, dass Kostensteigerungen ungeprüft über- (Beifall bei der LINKEN) nommen werden. Aber das kann doch nicht darüber hin- wegtäuschen, dass alle Kommunen ein ureigenes Inte- Irgendwann in naher Zukunft werden Sie uns dann etwas resse daran haben, die Wohnkosten so gering wie vorlegen, worüber man diskutieren kann. möglich zu halten. Ich denke also, dass all das, was Sie uns hier vorgetra- (Gerd Andres [SPD]: Ja!) gen haben, scheinheilig war. Abrechnungen müssen konkret, korrekt und nachvoll- (Gerd Andres [SPD]: Hört! Hört!) ziehbar sein. Die örtlichen Träger können dafür alle ge- Wir sind der Auffassung, es wäre leicht und einfach zu eigneten und erforderlichen Maßnahmen treffen. Dazu regeln, indem ein Rechtsanspruch auf Inanspruchnahme gehört auch die Unterstützung einer Beratung in Miet- einer Mieterberatung im Gesetz verankert würde. 3 Euro angelegenheiten. Dies kann über eigene Einrichtungen pro Monat würde zum Beispiel eine Mitgliedschaft für oder über Kooperationsvereinbarungen beispielsweise 15148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

Karl Schiewerling (A) mit Mieterverbänden geschehen. Das geschieht bereits Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) heute, und es geschieht flächendeckend. Die Betroffenen Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der werden auf diese Möglichkeiten hingewiesen. Dass die Kollegin Bluhm zulassen? Wahl angesichts der bereits vorhandenen vielfältigen Beratungsangebote den Betroffenen nicht immer leicht Karl Schiewerling (CDU/CSU): fällt, bestätigt doch nur, dass wir ein flächendeckendes Netz an Beratungsmöglichkeiten haben, und zwar durch Nein. die Wohlfahrtsverbände, durch den Mieterbund und Darüber hinaus stellt sich mir die Frage, was wir mit durch die Verbraucherzentralen. den anderen Rechtsbereichen machen. Debattieren wir dann demnächst auch über Rechtsansprüche in anderen Eine von den Sozialämtern vor Ort bereits ange- Bereichen, zum Beispiel bei Haftpflichtversicherungen wandte Praxis ist, Mietberatungsscheine auszustellen, oder ähnlichen Dingen? Vor allem frage ich die Antrag- um zum Beispiel augenscheinlich zu hohe Abrechnun- steller: Wer soll das Ganze eigentlich bezahlen? Der An- gen von Experten auf ihre Korrektheit überprüfen zu las- trag ist eine staatliche Einkommensbeschaffungsmaß- sen. In vielen Fällen stellen sich dabei Mängel heraus, nahme für Juristen; das sage ich Ihnen in aller Klarheit. die in großen Abzügen zugunsten der Mieter bzw. der Kostenträger resultieren. Denn wenn der betroffene Die Union wird diesen Antrag ablehnen. Wir halten Leistungsträger Zweifel an der Richtigkeit zum Beispiel die Schaffung einer zusätzlichen gesetzlichen Regelung, der Betriebskostenabrechnung oder der Mieterhöhung die ihrerseits nur ein Mehr an Bürokratie mit Nachweis- hat, dann wird er immer im Gespräch den Leistungsemp- und Kontrollpflichten mit sich brächte, für nicht notwen- fänger auffordern, im Rahmen seiner Eigenverantwor- dig. Ich sage Ihnen deutlich: Den betroffenen Menschen tung die Richtigkeit überprüfen zu lassen und notfalls nützt es nichts. auch eine Korrektur beizubringen. Wir haben es hier also mit einem ureigenen Interesse der öffentlichen Hand zu Herzlichen Dank. tun, dass die Mieten ordentlich und sachgerecht behan- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem delt werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir jetzt zusätzliche Mietrechtsberatungen ein- führen, dann finanzieren wir mit öffentlichen Geldern Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zweimal dieselbe Leistung. Das kann es nicht sein. Oder Markus Kurth hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die haben Sie einfach nur gemeint, dass es dem Hilfeemp- Grünen. fänger nicht zuzumuten wäre, selbst dafür zu sorgen, (B) dass seine Mietabrechnung korrekt ist? Da sage ich Ih- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) nen: Jeder, der Geld vom Staat in Anspruch nimmt, muss Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und eigenverantwortlich im Sinne des öffentlichen Interesses Kollegen! Ich bin ja bei den meisten hier durchaus als je- für einen sachgerechten Nachweis sorgen. mand bekannt, der mit Kritik am Sozialgesetzbuch II, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem insbesondere an seinen leistungsrechtlichen Bestandtei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len, da, wo sie angebracht ist, nicht spart. (Gerd Andres [SPD]: Leider wahr!) Die Träger haben eigene Kooperationsvereinbarun- gen mit Beratungsstellen. Das entspricht dem Prinzip der – „Leider wahr“ ruft der Staatssekretär a. D. Gerd Subsidiarität. Das hat sich bewährt; darauf lassen wir Andres. Aber ich stehe dazu. Ich finde es gut, dass das nichts kommen. wahr ist. – Aber Sie schaden mit diesem Antrag Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch (Iris Gleicke [SPD]: Allerdings! So ist das!) daran, dass das Beratungshilfegesetz den Rechtsuchen- den mit niedrigem Einkommen gegen – Frau Hiller-Ohm allen, die eine ehrliche und konstruktive Kritik am hat vorhin darauf hingewiesen – eine geringe Eigenleis- Sozialgesetzbuch II üben. Mit diesem fachlich armseli- tung von 10 Euro – die im Einzelfall, was nicht selten gen und politisch wirklich erbarmungswürdigen Antrag, geschieht, völlig erlassen werden – auch Rechtsberatung der gänzlich überflüssig ist, stehlen Sie Papier und uns und Vertretung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens hier die Zeit am Freitagnachmittag. und im Rahmen eines Güteverfahrens gewährleistet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Deswegen frage ich also: Warum müssen wir das Ganze zu einem Rechtsanspruch erheben? Die Sozial- Die Argumente sind eigentlich fast alle schon gefal- ämter oder andere Träger vor Ort haben, wie bereits an- len, sodass ich mit meiner knapp bemessenen Redezeit gemerkt, ein eigenes Interesse daran, die Kosten niedrig auf jeden Fall auskommen werde. Ich will noch einmal zu halten. Ich halte die Schaffung einer zusätzlichen ge- betonen, dass es das Beratungshilfegesetz gibt. Es gibt setzlichen Regelung für nicht erforderlich. Dadurch wür- einen Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung. Die den nur zusätzliche Nachweis- und Kontrollpflichten 10 Euro, von denen die Kollegin Hiller-Ohm gesprochen eingeführt, und das würde zu zusätzlicher Bürokratie hat, können im Rahmen des Justizwesens erstattet wer- führen. Davon haben wir genug. Wir sind gerade dabei, den. Es gibt die Prozesskostenhilfe. Wir haben also sie abzubauen. durchaus eine kostenlose Beratungsstruktur. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15149

Markus Kurth (A) Ich will den Beispielen noch ein prägnantes aus mei- Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung von (C) nem Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen anfügen. EU-Agenturen Herr Schiewerling hat bereits die Mieterberatungs- scheine genannt. Bei der Stadt Köln gibt es beispiels- – Drucksache 16/7746 – weise die Fachkonferenz „Teure Mieten“. Dort sitzt der Überweisungsvorschlag: Kostenträger mit Mietervereinen und mit der Arge zu- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss sammen an einem Tisch. Diese schauen sich gezielt Ein- Innenausschuss zelfälle überteuerter Mieten an. Schritt für Schritt wird Sportausschuss überprüft, ob falsch abgerechnet wurde und ob man Rechtsausschuss nicht die Kosten im Rahmen des Mietspiegels senken Finanzausschuss kann. Diese Beispiele und noch viele andere können Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und überall gefunden werden. Ihr Antrag ist wirklich gänz- Verbraucherschutz lich überflüssig. Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Warum stellen Sie dann diesen Antrag? Ich persönlich Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend glaube, dass es Ihnen auch darum geht, die Lobbyinte- Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ressen der Mietervereine zu bedienen. Um nicht miss- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit verstanden zu werden, sage ich: Wir unterstützen die Ar- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe beit der Mietervereine; das ist gar keine Frage. Aber Ausschuss für Bildung, Forschung und nach Ihrer Auffassung soll die Rechtsberatung auf der Technikfolgenabschätzung Ebene der Mietervereine stattfinden. Das wäre sozusa- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gen die Einführung einer Dauermitgliedschaft. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien All das ist weit entfernt von einer zielführenden Poli- Haushaltsausschuss tik. Ich wiederhole es: Es ist einer parlamentarischen Be- ratung und einer konstruktiven Kritik an Gesetzen nicht ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus würdig, solche dürren und dürftigen Anträge zu stellen. Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Vielen Dank. der FDP (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Gerichtliche und parlamentarische Kontrolle bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) von EU-Agenturen (B) – Drucksache 16/8049 – (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Überweisungsvorschlag: Der Kollege Heinz-Peter Haustein hat seine Rede zu Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 1) Protokoll gegeben. Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Veronika Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- Bellmann, Eduard Lintner, Axel Schäfer, Markus schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Löning, Heike Hänsel und Rainder Steenblock wurden 2) Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rechtsanspruch auf zu Protokoll gegeben. Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkom- Es ist verabredet worden, die Vorlagen auf den men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- Drucksachen 16/7746 und 16/8049 an die in der Tages- fehlung auf Drucksache 16/7171, den Antrag der Frak- ordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind tion Die Linke auf Drucksache 16/5247 abzulehnen. Wer Sie damit einverstanden? – Dann ist es so beschlossen. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord- den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die nung. Grünen und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, den 20. Februar 2008, 13 Uhr, Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 sowie Zu- ein. satzpunkt 7 auf: Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und das 28 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Wochenende. Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei- Die Sitzung ist geschlossen. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN (Schluss: 15.18 Uhr)

1) Anlage 4 2) Anlage 5

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(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 15.02.2008 Schultz (Everswinkel), SPD 15.02.2008 Reinhard Blumentritt, Volker SPD 15.02.2008 Schwabe, Frank SPD 15.02.2008 Bodewig, Kurt SPD 15.02.2008 Dr. Stadler, Max FDP 15.02.2008 Brand, Michael CDU/CSU 15.02.2008 Steinbach, Erika CDU/CSU 15.02.2008 Burchardt, Ulla SPD 15.02.2008 Steppuhn, Andreas SPD 15.02.2008 Eichel, Hans SPD 15.02.2008 Strothmann, Lena CDU/CSU 15.02.2008 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 15.02.2008 Wicklein, Andrea SPD 15.02.2008 Grosse-Brömer, Michael CDU/CSU 15.02.2008 Zeil, Martin FDP 15.02.2008 Dr. Hemker, Reinhold SPD 15.02.2008

Hinz (Essen), Petra SPD 15.02.2008 Anlage 2 Hoff, Elke FDP 15.02.2008 Zu Protokoll gegebene Rede Hoffmann (Wismar), Iris SPD 15.02.2008 zur Beratung: (B) (D) Jelpke, Ulla DIE LINKE 15.02.2008 – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes Jung (Karlsruhe), SPD 15.02.2008 Johannes – Entwurf eines Gesetzes für eine menschen- freundliche Medizin – Gesetz zur Änderung Kelber, Ulrich SPD 15.02.2008 des Stammzellgesetzes – Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Kramer, Rolf SPD 15.02.2008 Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonen- Kramme, Anette SPD 15.02.2008 schutzes im Zusammenhang mit menschli- chen embryonalen Stammzellen (Stammzell- Kranz, Ernst SPD 15.02.2008 gesetz – StZG)

Krichbaum, Gunther CDU/CSU 15.02.2008 – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes Lafontaine, Oskar DIE LINKE 15.02.2008 – Antrag: Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzellfor- Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 15.02.2008 schung fördern DIE GRÜNEN (142. Sitzung, Tagesordnungspunkt 4 a bis e) Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 15.02.2008 DIE GRÜNEN Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Worüber beraten Nitzsche, Henry fraktionslos 15.02.2008 wir heute? Im Prinzip über die Bereitschaft, politisch der deutschen Forschung – speziell der Gesundheitsfor- Paula, Heinz SPD 15.02.2008 schung – zu ermöglichen, Grundlagenforschung hier in Deutschland zu betreiben. Die Forschung an embryona- Poß, Joachim SPD 15.02.2008 len Stammzellen ist eine große Chance, der Medizin neue Erkenntnisse zu verschaffen und der Klärung der Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 15.02.2008 Humangenese näher zu kommen, und nicht zuletzt auch ein erheblicher Standortfaktor für den Forschungsstand- Schily, Otto SPD 15.02.2008 ort Bundesrepublik Deutschland. 15152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) Die öffentliche Diskussion der vergangenen Monate dass der Informationsfluss innerhalb der FDP-Fraktion (C) rankte sich ja weitgehend um die Frage nach dem Be- ausgesprochen gut ist. Aber das trifft natürlich auch auf ginn des Lebens und die Frage, ob menschliches Leben meine Fraktion zu: Auch wir wissen, was im Haushalts- durch die embryonale Stammzellforschung vernichtet ausschuss des Deutschen Bundestages am 7. November wird oder ein Anreiz zur Vernichtung menschlichen Le- des vergangenen Jahres beschlossen wurde. bens gesetzt wird. Ich will es für uns alle noch einmal ins Gedächtnis Dieser ethische Disput ist wichtig – aber bei der be- rufen: Der Haushaltsausschuss forderte das BMI auf, bis stehenden Rechtslage in Deutschland nicht zu Ende ge- zum 1. Juli 2008 – also bis in circa einem halben Jahr ab dacht. Wenn wir uns tatsächlich auf die Position stellen, heute gerechnet – ein Konzept zum gesamten Bereich dass jede Forschung an embryonalen Stammzellen Le- des Bevölkerungsschutzes vorzulegen. Dieses Konzept ben vernichtet, müssen wir konsequenterweise sofort soll die rechtlichen Grundlagen und vor allem die Zu- jede Form der Abtreibung, der künstlichen Befruchtung, sammenarbeit bzw. die Kompetenzregelungen zwischen ja selbst der „Pille danach“ oder der sogenannten Spirale Bund und Ländern ausweisen. verbieten. Gerade bei letztgenannten Methoden werden in erheblichem Maße embryonale Zellen getötet. Wollen Nun kommt der gravierende Unterschied zwischen wir dies wirklich? Wollen wir den Abtreibungs-Touris- Ihnen von der FDP und uns: Wir wissen und können uns mus der 60er-Jahre wirklich wiederbeleben? darauf verlassen, dass das Innenministerium unter Herrn Innenminister Dr. Schäuble einen solchen Auftrag nicht Fakt ist, dass es weltweit ein reichliches Angebot an nur zur Kenntnis und ernst nimmt, sondern den Auftrag Stammzelllinien gibt. Keiner kann im Ernst behaupten, auch zügig umsetzt. Ich will Ihnen nicht unbedingt un- dass durch die deutsche Forschung ein Anreiz irgend- terstellen, dass Sie mit diesem Antrag den Eindruck welcher Art entsteht, menschliches Leben zu töten. Sol- erwecken möchten, ohne Sie täte sich nichts, oder es be- len deutsche Forscher, die auf diesem Gebiet erhebliche dürfe Ihres Antrages, um die Regierung auf Trab zu brin- Kompetenz haben, gezwungen werden, ins Ausland zu gen. Aber etwas merkwürdig ist Ihre Einlassung schon: gehen? Sollen die international gewonnenen Erkennt- nisse und in Zukunft möglichen Therapieformen den Nach einer „Schamfrist“ von etwa vier Wochen setzen deutschen Patienten vorenthalten werden – oder nur per Sie sich hin und schreiben das auf, was bereits beschlos- Gesundheits-Tourismus zur Verfügung stehen? sen und auf den Weg gebracht worden ist. Wir haben hier in der Bundesrepublik eine weltweit Aber weil wir nett sind, debattieren wir Ihren Antrag einmalige, sichere und öffentlich ethisch kontrollierte heute und nutzen die Gelegenheit, den Menschen in un- Forschung. Ich traue unseren Forschern und den sie be- serem Land zu sagen, auf welchem Stand der Verhand- gleitenden Ethikkommisionen zu, verantwortlich mit lungen wir derzeit sind. Dabei ist besonders bemerkens- (B) den Ressourcen umzugehen. Ich bin nicht sicher, ob in- wert, dass hier fast ein Kunststück gelungen ist, zu dem (D) ternational diese Standards überall gewahrt sind. man uns eigentlich beglückwünschen müsste: Dank des Verhandlungsgeschicks unseres Innenministers und sei- Eines ist sicher: Es wird weltweit an embryonalen ner Beamten ist es tatsächlich gelungen, was kaum noch Stammzellen geforscht – egal was wir hier beschließen, jemand glauben wollte und der vorigen Regierung aus welche Hürden wir errichten. Die Forschung an diesen unterschiedlichen Gründen eben nicht gelungen ist, Zellen ist erforderlich, um auch die Mechanismen der einen Konsens mit den Ländern zu finden! Dabei geht adulten Stammzellen zu verstehen. es um die Ausstattung im Katastrophenschutz und die Die Frage nach der schon vorhandenen Therapierele- besondere Berücksichtigung des in diesem Bereich vanz ist nicht fair. Wir befinden uns im Stadium der anzutreffenden besonders großen ehrenamtlichen En- Grundlagenforschung, erste Erkenntnisse sind sehr viel- gagements. Ich freue mich deshalb ganz besonders versprechend – aber es ist nun mal das Wesen von For- darüber, weil gerade dieses Engagement der Ehrenamtli- schung, speziell von Grundlagenforschung, dass fest de- chen in den vergangenen Jahren erheblich in den Hinter- finierte Ergebnisse nicht vorformulierbar sind. Wir grund getreten war. brauchen diese für unsere Menschen, zur Erklärung un- serer Genese und nicht zuletzt auch zur Weiterentwick- Zeitweise gab es sogar erhebliche Befürchtungen in lung unserer Medizin. Vertrauen wir auf unsere Forscher, Bezug auf die Zukunftsaussichten der Hilfsorganisatio- lassen wir Sie arbeiten, sie haben unser Vertrauen verdient. nen; ich will das hier nicht weiter ausführen. Wie gesagt, Sie wissen genau, dass das Bundesministerium des In- nern längst an einer Reform des Bevölkerungsschutzes Anlage 3 arbeitet. Zu Protokoll gegebene Reden Wer den Mitgliedern des Haushaltsausschusses nicht glauben wollte, konnte dies sogar im Behörden Spiegel zur Beratung des Antrags: Bevölkerungsschutz- im vergangenen November nachlesen. Auch die in ihrem system reformieren – Zuständigkeiten klar re- Antrag unter II. formulierten Forderungen sind wenig geln (Tagesordnungspunkt 26) kreativ: Sie wiederholen – fast gleichlautend – die Anre- gungen, die bereits in den Beschlüssen der Innenminis- Beatrix Philipp (CDU/CSU): Der uns vorliegende terkonferenz vom Frühjahr 2007 zu finden sind. Um es Antrag der FDP-Fraktion zur Reformierung des Bevöl- zusammenzufassen: Das Bundesinnenministerium arbei- kerungsschutzsystems – eindeutig getragen von dem tet aktuell an Eckwerten für einen Gesetzentwurf zur Wunsch nach klaren Zuständigkeiten – zeigt deutlich, Fortentwicklung des Zivilschutzgesetzes. Bisher regelt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15153

(A) das Zivilschutzgesetz nur den Schutz der Bevölkerung in sind die Länder nun mit diesem neuen Konzept einver- (C) militärischen Krisen und Lagen. Die bestehende Aufga- standen. Ihnen werden selbstverständlich Übergangszei- benteilung zwischen Bund und Ländern – und zwar auf- ten eingeräumt, um sich auf die veränderten Unterstüt- seiten des Bundes für den Verteidigungsfall und aufseiten zungsleistungen des Bundes einzustellen und für die der Länder für den Katastrophenschutz – ist heute über- Bereiche, die der Bund nicht mehr prioritär ansieht, holt. Das liegt darin begründet, dass einerseits der klassi- selbst Vorsorge zu treffen. sche Verteidigungsfall glücklicherweise eher unwahr- Ich habe es bereits eingangs erwähnt: Ohne die vielen scheinlich geworden ist und andererseits die heutigen Menschen, die sich tagtäglich in den verschiedenen Herausforderungen und Bedrohungen eher im Bereich der Hilfsorganisationen freiwillig engagieren und ihre Frei- großen Naturkatastrophen bzw. des internationalen Terro- zeit in Einsätzen und für Übungen opfern, wären alle rismus liegen. Diesen aktuellen Herausforderungen wird Ausstattungskonzepte dieser Welt ohne Wert und unsere das geltende Zivilschutzgesetz aber nicht mehr gerecht. Gesellschaft ein deutliches Stück ärmer. Dieses ehren- So besteht der Bedarf für eine Anpassung des Gesetzes an amtliche Engagement gilt es zu erhalten und zu fördern. die eben genannten neuen Bedrohungslagen, wie zum Gerade dieser Aufgabe fühlt sich die CDU/CSU-Bun- Beispiel ABC-Lagen oder etwa einem Massenanfall von destagsfraktion in besonderem Maße verbunden und Verletzten bei Katastrophen jeder Art. auch verpflichtet. Deshalb möchte ich es an dieser Stelle Die Leistungen des Bundes haben in den vergangenen nicht versäumen, meinen ausdrücklichen Dank und vor Jahren bereits den neuen Bedrohungslagen Rechnung allem meine Anerkennung allen Ehrenamtlichen für die getragen. Dieser Anpassungs- und Umstellungsprozess geleistete, sehr wertvolle Arbeit auszusprechen. Auch wurde 2002 durch die Innenministerkonferenz in die unter diesem Aspekt ist mit dem neuen Ausstattungskon- Wege geleitet, als diese die sogenannte „Neue Strategie“ zept eine gute Lösung gefunden worden. Natürlich ist es beschloss. Auf ihrer Frühjahrssitzung 2007 hat die In- jeder Fraktion dieses Hauses unbenommen – und erst nenministerkonferenz die Neuausrichtung des Bundes recht der Opposition –, mit Anträgen die Regierung zum im Bevölkerungsschutz ausdrücklich begrüßt. Weiterhin Handeln aufzufordern. Und natürlich nehmen wir Anre- forderte sie, dass der Bund zusätzlich zu seiner Zustän- gungen auf und ernst! Dieser Antrag fällt leider nicht in digkeit für den Schutz der Bevölkerung im Verteidi- diese Kategorie, weil er das umständlich fordert, was gungsfall auch die gesetzliche Befugnis erhalten solle, schon längst in der Mache ist. Aber einem guten parla- die Länder beim Schutz der Bevölkerung in Fällen terro- mentarischen Brauch folgend überweisen wir auch – ei- ristischer Anschläge sowie bei Naturkatastrophen und gentlich unnötige, weil überflüssige – Anträge in den Unglücksfällen, die das Gebiet mehr als eines Landes Ausschuss; also auch diesen. gefährden, zu unterstützen. Genau diesen Forderungen (B) der Landesinnenminister bzw. den neuen Herausforde- Gerold Reichenbach (SPD): Für die Väter des (D) rungen wird das neue Gesetz gerecht werden. Fragen Grundgesetzes war nur eine Situation vorstellbar, in der hinsichtlich einer Stärkung der Koordinierungskompe- Infrastruktur und Aufrechterhaltung eines geregelten öf- tenz des Bundes bei der Bewältigung von Großkatastro- fentlichen Lebens bundesweit bedroht sind – nämlich phen und länderübergreifenden schweren Unglücksfäl- der Kriegs- beziehungsweise Verteidigungsfall. len befinden sich noch in der Abstimmung mit den Ländern. In diesem Zusammenhang gilt es zu berück- Darum ist im Grundgesetz unser Notfallsystem zwei- sichtigen, dass eine solche länderübergreifende Gefah- geteilt: In Friedenszeiten sind die Länder für den Kata- renlage ein einziges Bundesland bei der Gesamtkoordi- strophenschutz zuständig. Im Verteidigungsfall ist der nation leicht überfordern kann. Daher könnte eine Bund für den Schutz der Bevölkerung zuständig. Koordinierungskompetenz des Bundes durchaus eine Nach dem Ende der Blockkonfrontation hat sich die sinnvolle Ergänzung sein. Bedrohung der Bundesrepublik durch einen umfassen- den militärischen Angriff drastisch reduziert – und damit Mit dem neuen Ausstattungskonzept ist Folgendes die Anforderung an den Zivilschutz des Bundes. vorgesehen: Der Bund zieht sich aus der bisherigen flä- chendeckenden Grundversorgung, wie sie mit Blick auf Spätestens die Elbeflut 2002 aber machte deutlich: den traditionellen Verteidigungsfall geboten war, zurück. Naturkatastrophen können Dimensionen erreichen, die Dafür konzentriert er sich angesichts aktuell in den Vor- weit über die Grenzen eines Bundeslandes hinausgreifen dergrund gerückter neuer Bedrohungslagen auf Spezial- und deren Bewältigung die gesamte Republik fordert. fähigkeiten mit den Schwerpunkten ABC-Schutz und Dies sind nicht mehr nur seltene Jahrhundertereignisse. Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten: weg Die Auswirkungen des Klimawandels werden zu einer vom Gießkannenprinzip und hin zu einer gefährdungs- Häufung und Verschärfung von Naturkatastrophen auch orientierten und damit schwerpunktmäßigen Vorsorge bei uns führen. für Sonderlagen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat Der Terroranschlag in den USA 2001 zeigt, auch Ge- sich immer dafür stark gemacht, dass der Bund für den walt unterhalb der Kriegsschwelle kann verheerende Katastrophenschutz eigene Mittel bereithält, um die Schäden verursachen. Länder in ihren Aufgaben zu unterstützen. Grundsätzlich ist Katastrophenschutz zwar Ländersache und damit Neue Bedrohungsszenarien und wachsende Verwund- auch deren Finanzierung, aber es ist eine jahrelang ge- barkeiten in Friedenszeiten treten ins Bewusstsein: Infra- übte Praxis, dass der Bund sich am Katastrophenschutz strukturausfälle etwa in der Stromversorgung oder der beteiligt. Wie gesagt, nach anfänglichen Widerständen IT-Kommunikation, Zusammenbruch der Lieferketten – 15154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) Katastrophen mit bundesweit oder gar europaweit ver- phenlagen“ stärken wollen. Wir wollen auf die neuen zi- (C) heerenden Auswirkungen. Dabei sind die Ursachen nicht vilen Bedrohungen vorbereitet sein. Sie stehen zwar erheblich. nicht so im Fokus der Öffentlichkeit wie der Terroris- mus, aber sie können in ihren Auswirkungen gleichwohl Technisches Versagen, Naturkatastrophen, Terroran- sehr viel schwerwiegender sein. Leider hat Bundes- schläge oder eine Pandemie können solche Katastrophen innenminister Schäuble bislang dieses gemeinsam ver- auslösen. Ob bei einer Pandemie nun 10 Prozent der Be- abredete Ziel gegenüber den Ländern politisch nicht vo- völkerung erkranken oder 30 Prozent oder gar 50 Pro- ranbringen können. zent und mehr – das Leben der Menschen, das von Just- in-time-Lieferketten, Stromversorgung und Kommuni- Gleichwohl bietet der Bund weiter in freiwilliger Vor- kation abhängig geworden ist, wäre zusätzlich zu der leistung Instrumente zur Koordinierung der Länder an. Vielzahl von Erkrankten bedroht. Die Bedrohung ist Mit dem BBK treiben wir die Ausrichtung und Vorberei- real. Unter Fachleuten ist es keine Frage mehr, ob eine tung auf länderübergreifende Katastrophen voran. Ich Pandemie kommt, sondern nur wann. nenne nur die Pandemieübung im Herbst vergangenen Jahres. In sie waren sowohl Bund und Länder als auch Die bestehende Aufgabenteilung zwischen Zivil- die Privatwirtschaft einbezogen. schutz als Bundesaufgabe und Katastrophenschutz als reine Länderaufgabe ist historisch überholt. Sie ist zur Wir Sozialdemokraten halten es für erforderlich und Bewältigung dieser neuen Bedrohungen ungeeignet. richtig, dass der Bund auch im zivilen Katastrophen- schutz Verantwortung für die Bewältigung dieser länder- Wir haben ein bewährtes und gutes System zur Be- übergreifenden Gefahren übernimmt. Dazu gehört auch wältigung der alltäglichen Gefahrenabwehr und zur Be- die Bereitstellung zusätzlicher Ausstattung und ein Bei- wältigung von Großschadensereignissen, die ein oder trag zum Erhalt der ehrenamtlichen Strukturen, so wie zwei Bundesländer betreffen. Aber auf die Bewältigung dies mit den Innenministern der Länder vereinbart solcher Szenarien, die bundesweite Auswirkungen ha- wurde. ben, sind wir völlig unzureichend vorbereitet. Es gibt er- hebliche Defizite, etwa bei der Sanitätsversorgung oder Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass der den Management- und Führungsfähigkeiten für solche Bundesrechnungshof deutlich moniert hat, dass dafür die zivilen Großkatastrophen. Diese Defizite werden wir auf gegenwärtige Rechtsgrundlage nicht ausreicht. Das der Länderebene alleine nicht beheben können. Grundgesetz beschränkt die Verantwortung des Bundes auf den Schutz der Zivilbevölkerung im Verteidigungs- Es ist kein Zufall, dass nach der Erfahrung des Elbe- fall. hochwassers im Jahre 2002 von der Innenministerkon- ferenz die „Neuen Strategien zum Schutz der Bevölke- Damit diese fehlende gesetzliche Kompetenzklärung (B) (D) rung“ verabschiedet wurden, um länderübergreifende zwischen Bund und Ländern nicht zulasten der notwen- Katastrophenlagen wie die erlebten Überschwemmun- digen Anstrengung und der betroffenen ehrenamtlichen gen besser bewältigen zu können. Die Koordinierung Helfer geht, hat der Haushaltsausschuss die entsprechen- und Kooperation zwischen Bund und Ländern sollte ver- den Mittel für 2008 in den Haushalt eingestellt; dies aber bessert werden. Die jeweilige Verantwortung sollte sich unter dem Vorbehalt eines Begleitbeschlusses, der die künftig nicht mehr am Anlass – ob Krieg oder Frieden –, Bundesregierung auffordert, die notwendige gesetzliche sondern an der Schwere des Ereignisses orientieren. Grundlage zu schaffen. Ansonsten ist die Weiterfinan- Seitdem wartet diese neue Strategie auf ihre Umsetzung – zierung gefährdet. Der Wissenschaftliche Dienst des und zwar sowohl was ihre gesetzliche Basis als auch Deutschen Bundestages hat ebenfalls deutlich gemacht: eine gemeinsam abgestimmte Gefährdungsanalyse be- Dazu brauchen wir eine entsprechende Anpassung der trifft. Aufgabenzuweisung im Grundgesetz. Wir Sozialdemokraten haben vielfach auf diese Wir haben bereits den Auftrag. Das sollten wir ernst Schutzlücken hingewiesen. Die Bemühungen des Bun- nehmen, und dazu bedarf es des Antrages der FDP, dem des – insbesondere unter der rot-grünen Regierung –, ich in seiner inhaltlichen Beschreibung ja nur zustimmen Verantwortung für zivile Katastrophenlagen zu überneh- kann, nicht! men, sind bisher am Beharrungsvermögen der Mehrzahl Herr Kollege Wolff, überzeugen Sie Ihren Parteikolle- der Länder gescheitert. gen und nordrhein-westfälischen Innenminister von der Unsere Vorschläge dazu in der Föderalismuskommis- Notwendigkeit dessen, was sie in Ihrem Antrag be- sion hat der Verhandlungsführer der Länder, Edmund schreiben! Der Landesinnenminister des bevölkerungs- Stoiber, brüsk zurückgewiesen. Der niedersächsische In- reichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Dr. Ingo nenministers Schünemann fordert sogar immer wieder, Wolf, partei- und namensgleich mit Ihnen, lehnt dies bis- hier jegliche Verantwortung des Bundes zu streichen und lang strikt ab. Auf dem Katastrophenschutzkongress des alles auf die Länder zu übertragen. Dennoch ist der Bund Jahres 2006 verstieg er sich sogar zu der Ansicht, dass unter Rot-Grün mit dem BBK, mit DeNiS, mit ABC- der Bund für den Schutz der Bevölkerung überflüssig Task-Forces usw. immer wieder in Vorleistung getreten. wäre. In den Koalitionsvertrag wurde auf Drängen der SPD Die Bundesregierung dazu aufzufordern und in eige- aufgenommen, dass wir „die Steuerungs- und Koordinie- ner Regierungsverantwortung dagegenzuarbeiten, die- rungskompetenz des Bundes für die Bewältigung von ser Spagat der FDP hilft den Menschen und der Sicher- Großkatastrophen und länderübergreifenden Katastro- heit in unserem Land nicht weiter. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15155

(A) Es geht nicht darum, den Ländern Kompetenzen zu Daher ist eine Aufgabenverteilung anzustreben, bei (C) entziehen. Sie sollen weiterhin die volle Verantwortung der die Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse im für den Katastrophenschutz tragen, und zwar nicht nur Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr bei den Kom- rechtlich, sondern auch materiell. Der Bund soll nicht in munen bzw. beim Land, die Zuständigkeit für Großscha- die Länder hineinregieren. Er soll vielmehr in die be- densereignisse innerhalb eines Bundeslandes ohne wei- währte subsidiäre Systematik des zivilen Katastrophen- tere Auswirkungen auf das Bundesgebiet bei den schutzes eingebunden werden – mit eigenen Anstren- Ländern und die Zuständigkeit für außerordentliche bun- gungen und klarer Verantwortung. desweite Schadenslagen sowie für länderübergreifende Großschadenslagen beim Bund liegt. Innerhalb dieses Es ist auch und gerade im Interesse der vielen ehren- Rahmens ist die Ressourcenverantwortung zu regeln, um und hauptamtlichen Helferinnen und Helfer und der effektiv und schnellstmöglich helfen zu können. Hilfsorganisationen, dass die Verantwortung des Bundes für zivile länderübergreifende Katastrophenlagen auf Ein neues, zeitgemäßes Ausstattungskonzept ist dabei eine gesetzliche Grundlage gestellt wird, die auch für sie ohne einen schlagkräftigen und wirkungsvollen Beitrag verlässlich ist. des Bundes nicht denkbar. Die Konzentration des Bun- Sie leisten eine hervorragende Arbeit, allein ausge- des auf die Bereitstellung von Spezialressourcen für richtet an dem Ziel eines bestmöglichen Schutzes der „Sonderlagen“ darf nicht zu einem schleichenden Rück- Bevölkerung. Die Helferinnen und Helfer sowie unsere zug des Bundes aus der Fläche führen. Die Verteilung Bevölkerung haben wenig Verständnis dafür, dass dieses der Ressourcen hat vielmehr dergestalt zu erfolgen, dass Ziel unter der Verteidigung von Kompetenzerbhöfen lei- eine zeitnahe Reaktion auf Ereignisse an jedem Ort in det. Deutschland sichergestellt ist. Dabei ist die Frage nach der Rechtsgrundlage auch für die Bundesleistungen im Wir haben die Pflicht, den Bevölkerungs- und Kata- Bereich Ausstattung, wie sie vom Deutschen Bundestag strophenschutz auf die neuen Bedrohungslagen auszu- und dem Bundesrechnungshof aufgeworfen worden ist, richten und dies entsprechend im Grundgesetz abzusi- abschließend und eindeutig zu klären. chern. Die volle Unterstützung der SPD haben Sie dazu. Darüber hinaus sind die ehrenamtlichen Strukturen im Lassen Sie uns das gemeinsam angehen! Katastrophenschutz mindestens im bisherigen Umfange unbedingt aufrecht zu erhalten. Das ehrenamtliche En- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Schutz der gagement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die Si- Bevölkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist cherheit aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland eine der grundlegenden Aufgaben des Staates. Dies darf und die tragende personelle Infrastrukturkomponente (B) in der aktuellen Debatte um immer neue Sicherheitsge- des Bevölkerungsschutzes. Zur langfristigen Sicherung (D) setze nicht vergessen werden. Im Gegenteil: Wir brau- und Stärkung des ehrenamtlichen Engagements bedarf chen im Bevölkerungsschutz dringend eine Modernisie- es eines zukunftsorientierten, tragfähigen Konzepts. Hier rung, um den Herausforderungen besser Herr werden zu müssen alle Träger, Bund, Land und Kommunen, zu- können. Sicherheit entsteht nicht durch Gesetze, sondern sammenarbeiten. durch gut ausgebildete und ausgerüstete Kräfte. Hierzu zählen insbesondere eine Intensivierung der Nach dem Sommerhochwasser 2002 sowie aufgrund Öffentlichkeitsarbeit für die Förderung des Ehrenamtes, der Risiken bei kritischen Infrastrukturen ist es offen- die Harmonisierung und Verbesserung helferrechtlicher, sichtlich: Bei bestimmten überregionalen Naturereignis- auch steuerrechtlicher Regelungen in Bund und Ländern sen oder von Menschen verursachten Unglücksfällen sowie die verstärkte Zusammenarbeit mit den Arbeitge- können Gefahren für die Bevölkerung auftreten, denen bern ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. mit gesamtstaatlichen Maßnahmen begegnet werden muss. Ein weiteres Ziel ist es, mehr Frauen und auch mehr Migrantinnen und Migranten für das Ehrenamt im Zivil- Die bestehende Zweiteilung in den Zivilschutz im und Katastrophenschutz zu gewinnen. Ich begrüße nach- Verteidigungsfall und Katastrophenschutz im Frieden drücklich, dass der Präsident des Deutschen Feuerwehr- bedarf einer Neuordnung. Der bisherige Dualismus von verbandes, Kröger, nach der tragischen Brandkatastro- Zivil- und Katastrophenschutz muss überwunden und phe in Ludwigshafen sich zu diesem Ziel bekannt hat. die Zuständigkeit klar geregelt werden. Hierfür am bes- ten geeignet ist ein von Bund und Ländern gemeinsam Zur weiteren Qualitätssteigerung muss die Ausbil- getragenes, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem mit dung im Bevölkerungsschutz verbessert werden. Auch allein am Schadensausmaß und an den schnellsten und die Forschung zum Bevölkerungsschutz kann zur Ver- besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten Zustän- besserung der Vorsorge im Katastrophenfall beitragen. digkeiten und Verantwortlichkeiten. Hier wäre etwa neuen Risikomanagementmethoden be- sondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei können Die bislang praktizierte Zuweisung von Zuständigkei- auch betriebswirtschaftliche Methoden zur Vermeidung ten nach der Schadensursache wird der Lage nicht länger von Geschäftsrisiken geeignet sein, das Katastrophen- gerecht. Zum Zeitpunkt einer notwendigen Gefahren- verwaltungsrecht zu optimieren. abwehr kann nicht die Ursachenforschung höchste Prio- rität haben, um Zuständigkeitsfragen zu klären. Hier Die FDP ist überzeugt: Die ehrenamtlichen und die muss einfach und schnell geholfen werden. professionellen Helferinnen von THW und Feuerweh- 15156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) ren, von Rettungsdiensten und anderen Hilfsorganisatio- Linke hat dieses Thema mehrfach auch in diesem Hause (C) nen leisten ausgezeichnete Arbeit. wie auch in allen ostdeutschen Landtagen angesprochen und mit Anfragen und Anträgen inhaltlich untersetzt. Es Wir als Parlamentarier sind aufgefordert, die rechtli- ist also an der Zeit, partei- und fraktionsübergreifend chen Rahmenbedingungen für ein zukunftsorientiertes endlich praktikable Lösungen hierfür zu finden. Aber Bevölkerungsschutzsystem zu setzen. auch das spricht der vorliegende Antrag an. Deshalb sollte aus unserer Sicht diesem auch entsprochen wer- Jan Korte (DIE LINKE): Ich begrüße es ausdrück- den. lich, dass wir durch den Antrag der FDP-Fraktion einmal die Möglichkeit haben, über den Bevölkerungs- und Ka- Die Stärkung des Bevölkerungsschutzes und des eh- tastrophenschutz zu debattieren, ohne gleich über den renamtlichen Engagements in diesem wird aber immer Einsatz der im Innern streiten zu müssen. dann ad absurdum geführt, wenn unser Sicherheitsminis- ter ohne Uniform den Einsatz selbiger zu Hunderten im Zum Antrag: Aus Sicht der Linken ist der vorliegende Innern fordert. Es ist eben nicht nachvollziehbar, die Antrag sinnvoll und in seiner Zielstellung zu unterstüt- Bundeswehr im Innern einsetzen zu wollen. Weder aus zen. Es ist richtig, ein einheitliches Bevölkerungsschutz- Sicht des Bevölkerungsschutzes noch aus Sicht der Stär- system einzurichten und Zuständigkeiten endlich ein- kung und der Finanzierung des ehrenamtlichen Engage- deutig zu regeln. Dies ist bisher nicht der Fall. Die ments oder im Hinblick auf das deutsche Grundgesetz. Kolleginnen und Kollegen stellen vollkommen richtig dar, dass es notwendig ist, zukünftig ein einheitliches Zum Schluss noch eine Bemerkung, die leider in dem Bevölkerungsschutzsystem mit allein am Schadensmaß Antrag der FDP keinen Eingang gefunden hat, aber viel- ausgerichteten Zuständigkeiten und Verantwortlichkei- leicht hätte dies auch zu weit geführt. Gerade an dem ten aufzubauen. Die bislang vorgenommene Zuweisung Beispiel des Bevölkerungsschutzes und des ehrenamtli- von Verantwortlichkeiten nach der Schadensursache chen Engagements in diesem wird deutlich, wie sehr muss der Vergangenheit angehören. doch die Verteidigung sozialer und politischer Rechte zusammenhängen. Man kann meiner Meinung nach Es ist deshalb wichtig, diese Fragen breit zu diskutie- nicht über die Stärkung des Ehrenamts debattieren und ren, mit den Kommunen, den Ländern und dem Bund so- gleichzeitig über Hartz IV das persönliche und indivi- wie den Verbänden und Vereinen. Ergebnis dieser Neu- duelle Engagement ver- oder zumindest behindern. Ein justierung des Bevölkerungsschutzes darf jedoch nicht Diskurs über das Ehrenamt und über die Sicherheit in sein, dass sich der Bund aus der Verantwortung stiehlt, Deutschland muss deshalb auch vor dem Hintergrund vielmehr muss es darum gehen, die Mitfinanzierung des der deutschen Sozialpolitik geführt werden. Bevölkerungsschutzes durch den Bund klar zu regeln (B) und die Basisausstattungen der Bevölkerungsschutzein- (D) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE richtungen zu verbessern. GRÜNEN): Das Thema Bevölkerungsschutz braucht ei- Im Vordergrund müssen dabei folgende Parameter nen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, und wir sind uns stehen: Erstens muss die Einsatzbereitschaft vor Ort er- alle einig: Angesichts der zunehmenden Risiken braucht halten und ausgebaut werden. Zum Zweiten müssen wir der Bevölkerungsschutz in Deutschland aber auch in Eu- uns darum bemühen, wieder mehr junge Menschen an ropa neue Strategien. Die Zunahme extremer Wetterla- den ehrenamtlichen Bevölkerungsschutz heranzuführen. gen, bedingt durch den Klimawandel, die Gefahren von Pandemien durch aggressive Viren, die Gefahren durch In den vielen Gesprächen, die ich vor Ort in meinem Risikotechnologien wie die Atomkraft oder die Bedro- Wahlkreis und in Sachsen-Anhalt mit freiwilligen Feuer- hung durch den internationalen Terrorismus fordern von wehren, dem THW und weiteren Einrichtungen geführt einer verantwortlichen Politik nicht nur neue Konzepte habe, wurde mir immer wieder bedeutet, dass die derzei- im Bereich der inneren Sicherheit, sondern auch im Be- tigen Kernprobleme neben den Regelungen der Zustän- reich der öffentlichen Sicherheit. digkeiten vor allem in der materiellen und finanziellen Ausstattung und dem nachlassenden ehrenamtlichen Ein moderner Bevölkerungsschutz muss auf drei Säu- Engagement der Menschen vor Ort liegen. len gestellt werden: Erstens. Die Selbsthilfekräfte der Bevölkerung müssen gestärkt werden, und angesichts Und die Probleme sind uns doch seit langem bekannt. des demografischen Wandels brauchen wir Konzepte, Vor wenigen Wochen haben wir hier im Bundestag über die das ehrenamtliche Engagement fördern und stärken. die Neuordnung der Wahlkreise debattiert. Darin wurde Zweitens. Die staatlichen Ressourcen müssen gebündelt unter anderem entschieden, dass das Bundesland Sach- werden; wir brauchen ein modernes Bevölkerungs- sen-Anhalt aufgrund der sinkenden Bevölkerungsent- schutzgesetz und den Abbau der föderalen Hemmnisse. wicklung einen Wahlkreis verliert. Die Abwanderung Drittens. Kritische Infrastrukturen wie Mobilität, Ener- vor allem junger Menschen aus dem Osten der Republik gieversorgung und Kommunikation sind weitgehend pri- hält an. Es mag ja sein, dass mit der Beschlussfassung vatisiert. Der Sicherstellungsauftrag der Wirtschaft muss über die neue Wahlkreisstruktur eine Übergangslösung neu definiert werden. für die Abwanderung aus dem Osten gefunden wurde. Für den Bevölkerungsschutz und die Strukturen vor Ort Wir haben im Bundestag ein fraktionsübergreifendes freilich ist dies natürlich keine Lösung. Hier müssen an- Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit eingerichtet. Hier dere, langfristige Lösungen gefunden und neue Anreize arbeiten Politiker, Experten und Verbände aus dem Be- für ehrenamtliches Engagement gegeben werden. Die völkerungsschutz und die Wirtschaft in Arbeitsgruppen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15157

(A) und Foren zusammen, um in einem Konsensverfahren gen ist Teil des Problems. Einen Lösungsansatz hat die (C) neue Strategien im Bereich der öffentlichen Sicherheit FDP nicht zu bieten. Die Debatte um den Antrag ist so zu entwickeln. Noch vor der Sommerpause soll ein überflüssig wie der Antrag selbst. „Grünbuch öffentliche Sicherheit“ mit Analysen, Leit- fragen und Lösungsansätzen der Öffentlichkeit vorge- Wir werden uns weiter konstruktiv an dem Prozess im stellt werden. Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit beteiligen und das Grünbuch abwarten, um dann auf einer fundierten Lassen Sie mich sagen: Ich bedaure, dass die Bundes- Grundlage Konzepte für die Modernisierung des Bevöl- tagsfraktion der FDP zu diesem Zeitpunkt mit einem An- kerungsschutzes in Deutschland vorzulegen. Wir werden trag zum Bevölkerungsschutz kommt. Lassen Sie uns auch die Analysen und Strategien aufgreifen, die im doch fair miteinander umgehen und die Vorstellung des April auf der RisiKA, der Messe für Krisenmanagement Grünbuches abwarten! Danach ist der richtige Zeitpunkt, von Naturereignissen, vorgestellt werden. Zu vernünfti- aus den Bundestagsfraktionen zu erklären, welche Ant- gen Lösungen werden wir nur mit einem gesamtgesell- worten wir aus der Politik geben. schaftlichen Ansatz kommen. In der FDP heulen ja bekanntlich mehrere Wölfe: Hartfrid Wolff, der MdB, der hier heute den Antrag der Anlage 4 Bundestagsfraktion der FDP mit der Forderung nach ei- nem einheitlichen Bevölkerungsschutzgesetz vorstellt, Zu Protokoll gegebene Rede und Ingo Wolf, der Innenminister der FDP aus NRW, der zur Beratung der Beschlussempfehlung und des genau dies vehement behindert. Genau hier liegt das Berichts: Rechtsanspruch auf Mieterberatung Hauptproblem. Der Föderalismus in Deutschland ist ein für Menschen mit geringem Einkommen (Ta- Hemmnis für den Aufbau eines modernen Bevölke- gesordnungspunkt 27) rungsschutzes in Deutschland. Ohne Grundgesetzände- rung werden wir nicht zu einer vernünftigen Lösung kommen. Heinz-Peter Haustein (FDP): In dem Antrag der Linken, der hier zur Debatte steht, wird ein Rechtsan- Wir sind seit Jahren nicht in der Lage, die völlig ver- spruch auf Mieterberatung für Menschen mit geringem alteten Katastrophenschutz- und Zivilschutzgesetze in Einkommen verlangt. Die Linken begründen die Not- ein einheitliches Bevölkerungsschutzgesetz umzuwan- wendigkeit zur Einführung dieser Regelung damit, dass deln, weil die Länder hier aus machtpolitischen Gründen die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Nebenkosten- in unverantwortlicher Weise mauern. Dies hat zur Folge, abrechnungen oder Mieterhöhungen häufig bei den Kos- dass es keinen Überblick über die vorhandenen Kapazi- tenträgern nicht vorgenommen wird, sondern dass die (D) (B) täten gibt. Dies hat auch zur Folge, dass die Anschaffung Mieterhöhungen oder Nebenkostenabrechnungen ein- von Feuerwehrfahrzeugen zu einem permanenten Fi- fach so übernommen werden. Insofern, so die Logik der nanzstreit zwischen Kommunen, Ländern und Bund Linken, würde der gesetzlich verankerte Anspruch auf führt. Eine gemeinsame Kommunikation bei länderüber- eine Mieterberatung zu einem effizienten Einsatz staatli- greifenden Großlagen existiert nach wie vor nur auf dem cher Mittel beitragen. Papier. Man mag ja geneigt sein, dem zuzustimmen; denn Am Beispiel BOS-Digitalfunk wird deutlich, wie „effizient“ klingt ja gut. Und einen wirtschaftlichen teuer und unsinnig der Föderalismus im Bereich der öf- Staat, der effizient arbeitet, findet jeder gut. Nur ist es so, fentlichen Sicherheit ist. In keinem europäischen Land dass uns die Erfahrung gelehrt hat, dass wir immer auf hat die Einführung des BOS-Digitalfunks so lange ge- der Hut sein müssen, wenn uns die Linken etwas von dauert wie in Deutschland, und in keinem anderen euro- effizientem Wirtschaften vorträgt. So auch hier: Was uns päischen Land ist die Umsetzung so teuer wie in nämlich als notwendige Maßnahme der Steigerung der Deutschland. Die Länder zwingen den Bund zu völlig Effizienz verkauft wird, ist ja tatsächlich doch wieder unsinnigen Organisationsstrukturen, wie die Einrichtung eine Ausweitung der Staatstätigkeit. So eine Regelung einer Bund-Länder-Anstalt. brauchen wir nicht. Jedes Bundesland entwickelt ein eigenes Leitstellen- Der Staat und mit ihm die Träger der „Kosten der Un- konzept. Aber damit nicht genug: Es gibt auch Bundes- terkunft“ sind ohnehin schon zur Effizienz verpflichtet. länder, die mehrere Leitstellenkonzepte haben. Die tech- Wo nicht auf Minimierung der Ausgaben geachtet wird, nischen Systeme sind nicht miteinander kompatibel. ist dies höchstens ein Fall für die die Fachaufsicht aus- Diese Kleinstaaterei führt nicht nur zu erheblichen übende Stelle und letztlich für die Rechnungshöfe. Schutzlücken, sie ist auch ein gravierender Nachteil für die deutsche Wirtschaft. Auf dem Sicherheitsmarkt, der Ferner führen die Linken in ihrem Antrag zur Begrün- einer der am stärksten wachsenden Märkte weltweit ist, dung an, der Anspruch auf eine Mietrechtsberatung sei spielen deutsche Unternehmen keine Rolle, weil es keine „aus rechtsstaatlichen Gründen“ zu befürworten. Es wird vernünftigen Referenzanwendungen im eigenen Land suggeriert, es gäbe eine „Gerechtigkeitslücke“. Dem ist gibt. jedoch nicht so. Wie ausgeführt, sind die Kostenträger ohnehin zu wirtschaftlichem Handeln verpflichtet. Da- Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Der FDP-Antrag rüber hinaus schreiben die Linken in ihrem Antrag trifft nur einen kleinen, allen bekannten Teilbereich des selbst, dass es längst Praxis der Sozialämter ist, für die umfassenden Problems. Die FDP in den Landesregierun- Mieter den Mitgliedsbeitrag für den Mieterverein zu 15158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) übernehmen. Wenn also der Mieter Interesse an der es für unbedingt erforderlich, dass wir diesbezüglich die (C) Überprüfung seiner Nebenkostenabrechnung oder seiner Bundesregierung in die Pflicht nehmen und in unserer Mieterhöhung hat, so kann er sich auch heute schon Rolle als nationales Parlament unmissverständlich Stel- Hilfe beim Mieterverein holen. Völlig kostenlos aber lung beziehen. Daher begrüße ich die heutige Debatte kann er auch beim Kostenträger auf eine Überprüfung zum Thema ausdrücklich. drängen. Das müsste der erste Schritt sein. Der Mieter kann sich auch kostenlos in zahlreichen Internetforen Es ist unbestritten, dass mit der Übertragung von na- informieren. Auch auf die Möglichkeit, Prozesskosten- tionalen Kompetenzen auf die europäische Ebene gleich- hilfe zu erhalten, muss hier ausdrücklich hingewiesen zeitig ein gesteigertes Maß an Koordination innerhalb werden. Von einem Mangel kann hier also nicht gespro- der EU notwendig geworden ist. Daher mag auch die chen werden. Auslagerung der Wahrnehmung europäischer Aufgaben auf dezentral errichtete Agenturen in einzelnen Teilbe- Dem mündigen Bürger sind also längst ausreichend reichen sinnvoll und auch effizient sein. Möglichkeiten an die Hand gegeben. Und wo der Staat bei der Überprüfung von Mieterhöhungen und Sonsti- Der inflationären Art und Weise jedoch, wie in jüngs- gem untätig bleibt, also unwirtschaftlich handelt, ist das ter Vergangenheit diverse Agenturen und Beobachtungs- der Beweis dafür, dass staatliches Handeln immer teurer stellen beschlossen und EU-weit aus dem Boden ge- ist als alles andere. Es ist nicht die Begründung für eine stampft worden sind, müssen wir entschieden neue gesetzliche Regelung. Die Logik der Linken ist ja entgegentreten. Vielfach ist die Einrichtung von Agentu- grotesk: Weil der Staat versagt, brauchen wir mehr Staat. ren eben nicht durch ein Aufgabenbedürfnis der EU zu So ja nicht, meine Damen und Herren. Wo es so ist, wie begründen, sondern entspringt dem Wunsch nach geo- die Linken sagen, wo die Nebenkostenabrechnungen grafischer Streuung von EU-Einrichtungen in den Mit- und Mieterhöhungen nicht ausreichend überprüft wer- gliedstaaten. Eine grundlegende Konzeption ist bei die- den, muss den Verantwortlichen auf die Finger geklopft sem „Agenturunwesen“ nicht erkennbar. Ich nenne an werden und auf die Einhaltung der Vorschriften gedrängt dieser Stelle nur das Stichwort „Agentur für Grund- werden. Nichts anderes. rechte“. Das Gegenteil ist der Fall: Nicht momentan besteht Vielfach sind mit der Einrichtung derartiger Institu- eine Gerechtigkeitslücke, sondern es würde eine ge- tionen Doppelstrukturen entstanden, die unter finanziel- schaffen, wenn man jetzt diesen Anspruch auf Miet- len und bürokratischen Gesichtspunkten nicht zu recht- rechtsberatung einführte, wie von den Linken beantragt. fertigen sind. Komplizierte Organisationsformen tragen Wo will man die Grenze ziehen? Wer soll denn die Bera- zur wachsenden Unübersichtlichkeit bei, und Kollisio- tung erhalten und wer nicht, und warum? Es müsste nen mit dem Subsidiaritätsprinzip bleiben völlig unge- (B) (D) doch der schwer arbeitende Geringverdiener fragen, wa- ahndet. rum er nun wieder gerade nicht mehr in den Genuss des Wir geben uns zudem einem uferlosen Unterfangen Anspruchs auf Beratung kommt? hin, wenn wir die Schaffung von neuen Agenturen und Selbst wenn ich einen Mangel anerkennen würde, Beobachtungsstellen, verstreut über das gesamte Gebiet könnte der Vorschlag der Linken nicht die Lösung sein. der EU, mit einer größeren Bürgernähe begründen wol- Die einzige Lösung ist und bleibt der mündige Bürger, len. Wie viele Agenturen soll dann jeder Mitgliedstaat der sich über die Korrektheit seiner Mieterhöhungen und erhalten? Die Resonanz bei der Bevölkerung sieht dage- Nebenkostenabrechnungen informiert. Und die Lösung gen völlig anders aus. Wenn solche Einrichtungen von ist nach wie vor der Staat, der wirtschaftlich arbeitet und den Bürgern überhaupt wahrgenommen werden, dann seiner Pflicht nachkommt, seine Ausgaben niedrig zu als bürokratischer „Monsterapparat“, der mit Geldern halten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Insofern aus den einzelnen Mitgliedstaaten in beliebigem Aus- können wir den Antrag der Linken nur ablehnen. maß gefüttert wird. Der Appell geht in erster Linie auch an den Europäischen Rat, in welchem sich die Mitglied- staaten mit der Einrichtung solcher Institutionen so man- Anlage 5 che Zustimmung zu bestimmten Paketlösungen versüßen lassen. Das kann nicht der Stil transparenter demokrati- Zu Protokoll gegebene Reden scher Politik sein! zur Beratung der Anträge: Da die Gemeinschaftsagenturen lediglich zur Entlas- – Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung von tung ihrer Verwaltungshaushalte rechenschaftspflichtig EU-Agenturen sind, entziehen sich die Sinnhaftigkeit ihrer Mandats- wahrnehmung sowie die Details ihrer Finanzierung allzu – Gerichtliche und parlamentarische Kon- oft einer gründlichen Überprüfung. Ich stimme mit den trolle von EU-Agenturen Antragstellern in ihrem Anliegen insoweit überein, dass (Tagesordnungspunkt 28 und Zusatztagesord- die Agenturen einer wesentlich effizienteren und restrik- nungspunkt 7) tiveren Kontrolle unterliegen müssen. Die Forderung an die Bundesregierung, dem Deut- Veronika Bellmann (CDU/CSU): Die in den letzten schen Bundestag ein Gesamtkonzept zu EU-Agenturen Jahren drastisch gestiegene Anzahl von europäischen vorzulegen, löst jedoch nicht das eigentliche Problem. Agenturen bereitet Anlass zu großer Besorgnis. Ich halte Für eine solche Vorlage fehlt der Regierung auch das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15159

(A) Initiativrecht im Europäischen Rat. Vielmehr hat uns das Darüber hinaus, und hier wird es kontraproduktiv und (C) Beispiel Grundrechteagentur eines deutlich vor Augen damit bedenklich, sind Agenturen eingerichtet worden, geführt: dass es nämlich an einem Konzept fehlt, wie deren Tätigkeit zwangsläufig in die über Jahre hin be- Bundesregierung und Parlament bei solchen Fragenstel- währte Arbeit von anderen europäischen Institutionen lungen zusammenarbeiten sollten. Die Position des eingreift, die sich durch gute Arbeit große und weltweite Deutschen Bundestages muss in den Verhandlungen auf Reputation erarbeitet haben. Das gilt zum Beispiel für europäischer Ebene eine deutlich größere Berücksichti- die erst kürzlich gegen den heftigen Widerstand des gung finden. Dazu müssen wir die Bundesregierung in Deutschen Bundestages in Wien etablierte „Europäische die Pflicht nehmen. Sie muss ihrem eigenen, immer wie- Agentur für Grundrechte“. Sie soll auf einem Feld tätig der betonten Bedenken gegenüber den EU-Agenturen werden, das bislang vom Europarat und insbesondere endlich auch Taten folgen lassen. Der Beschluss zur Er- von seinem Europäischen Gerichtshof für Menschen- richtung der Grundrechteagentur muss eine absolute rechte in Straßburg abgedeckt worden ist, mit großem Ausnahme bleiben. Echo in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats. Der Ge- richtshof ist für viele der insgesamt ca. 800 Millionen Als Grundlage für ein erfolgreiches Vorgehen bedarf Menschen in diesen Ländern ein echter Hoffnungsträger. es einer gründlichen und transparenten Kosten-Nutzen- der häufig der letzte Rettungsanker im Kampf um die Analyse für alle zur Gründung anstehenden EU-Agentu- Beachtung der Menschenrechte ist. Seit seinem Beste- ren. Bereits bestehende Verwaltungsstellen müssen re- hen sind Hunderttausende von Klagen beim Gerichtshof gelmäßig hinsichtlich der effizienten Erfüllung ihrer eingereicht worden. Und dass heute ein Rückstau von Zielvorgaben überprüft werden und bei negativen Ergeb- etwa 100 000 Fällen besteht, an dem der Gerichtshof zu nissen wieder abgebaut werden. Ein von der Bundesre- ersticken droht, zeigt seine große konkrete Bedeutung. gierung einseitig entwickeltes Gesamtkonzept hingegen Es wäre deshalb sinnvoller gewesen, die EU hätte sich führt uns nicht ans Ziel. Aus diesem Grunde werden wir beim Gerichtshof finanziell und gegebenenfalls perso- diese Forderung aus dem zur Debatte stehenden Antrag nell engagiert, um ihm und damit den betroffenen Men- der Grünen nicht unterstützen. Zu vielen anderen Aspek- schen aus der Bredouille zu helfen, statt mit der Grün- ten könnte ich mir vorstellen, zu einem Konsens mit an- dung einer Agentur unnötige und teure Doppelstrukturen deren Fraktionen zu kommen. Ein fraktionsübergreifen- zu schaffen. Zwar wird jetzt durch vertragliche Verein- der Antrag wäre eine sehr starke Antwort des Deutschen barungen versucht, das Nebeneinander reibungslos zu gestalten, aber dennoch besteht die Gefahr der Verwäs- Bundestages auf die Frage nach den Agenturen. serung von Standards durch unterschiedliche Akzentuie- rungen. Eduard Lintner (CDU/CSU): Es ist schon bemer- (B) (D) kenswert, was sich in der EU über die Jahre hinweg alles Sorgen bereiten muss auch die Tatsache, dass die EU- an Agenturen angesammelt hat. Man kann schon, ohne Agenturen als selbstständige Institutionen konstruiert polemisch zu sein, von einem „Wildwuchs“ sprechen, sind, sodass sie sich praktisch einer unmittelbaren Kon- denn offenbar ist es schon nicht mehr möglich, sich auf trolle durch das Europäische Parlament oder den Rat ent- die genaue Zahl der vorhandenen Agenturen zu einigen. ziehen. Sie nehmen also an der staatsrechtlich gebotenen In der Tageszeitung Die Welt war am 10. Januar zu lesen, Gewaltenteilung gar nicht teil. Sie sind Instrumente der es gebe 23 EU-Agenturen, häufig hört man die Zahl 31, Kommission, entfalten ihr Wirken am Parlament vorbei und sind längst über die ursprüngliche Zielsetzung einer und zählt man die im Internet unter dem Stichwort Agentur, nämlich der „Ausübung ganz bestimmter tech- „Agenturen der EU“ aufgezählten Einrichtungen zusam- nischer, wissenschaftlicher und verwaltungstechnischer men, so kommt man auf sage und schreibe 36 Agentu- Aufgaben“ zu dienen, hinausgewachsen, treiben konkret ren. Es ist also durchaus berechtigt, wie es der Kollege Politik oder gestalten sie inhaltlich und sind an der Um- Silberhorn einmal formuliert hat, von einer „Agenturi- setzung beteiligt, ohne einer wirksamen Kontrolle unter- tis“ der EU zu sprechen. Und weil es sich dabei um Ein- worfen zu sein. Zwar sind die Rechte des Parlaments in richtungen handelt, die immerhin einen jährlichen Fi- diesem Zusammenhang kürzlich gestärkt worden, aber nanzaufwand von etwa 1,3 Milliarden Euro erfordern von einer „parlamentarischen Kontrolle“ kann dennoch und mittlerweile fast 4 000 Mitarbeiter zählen, ist es nicht gesprochen werden. durchaus berechtigt, dass sich der Deutsche Bundestag heute des Themas annimmt. Leider gilt auch hier die alte Lebenserfahrung, dass einmal Geschaffenes nicht so leicht wieder abgeschafft Natürlich ist nicht jede Agentur eine Fehlkonstruktion werden kann. Dennoch sollte sich die EU dazu durchrin- oder überflüssig, aber viele Agenturen befassen sich mit gen, zu überprüfen, ob nicht manche dieser Agenturen eng benachbarten oder sogar gleichgerichteten Tätig- wieder aufgegeben werden können und ob Zusammen- keitsfeldern. Hier wäre Konzentration und Präzisierung fassungen möglich sind. In jedem Fall sollte aber der wünschenswert. So gibt es eine europäische „Agentur mittlerweile leider verfestigte unselige Brauch schnells- für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz“ tens unterbunden werden, dass jede Ratspräsidentschaft und zugleich eine „Europäische Stiftung zur Verbesse- sich eine neue Agentur ausdenkt und die übrigen Mit- rung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“, oder neben- gliedsländer dies solidarisch abnicken. Ein solcher Um- einander existieren zum Beispiel eine „Europäische Stif- gang mit Prinzipien und vor allem auch eine solch groß- tung für Berufsbildung“ und ein „Europäisches Zentrum zügige Umgangsweise mit dem Geld der Bürger ist nicht für die Förderung der Berufsbildung“. zu rechtfertigen und trägt nur zur Verstärkung der Aver- 15160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) sionen gegen die schon heute allgemein als ausufernd völlig. Was aber viel schlimmer ist: Die geschätzten Kol- (C) verschriene europäische Bürokratie bei. leginnen und Kollegen dieser Fraktion nehmen mit kei- nem Wort Bezug auf die tatsächlich schon erreichte Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Komplizierte euro- Situation in der EU, wo der Entwurf für eine „Interinsti- päische Zusammenhänge erfordern eine differenzierte tutionelle Vereinbarung zur Festlegung von Rahmenbe- Betrachtungsweise, um angemessene Antworten zu ge- dingungen für die europäischen Regulierungsagenturen“ ben. Die Frage der EU-Agenturen ist dafür ein Beispiel – von der Kommission vorgelegt worden ist, vom Europä- und zwar in jeder Hinsicht. Es zeigt, dass leider einige in ischen Parlament unterstützt wird und im Rat allerdings diesem Hause das Ganze populistisch verpacken und noch nicht vorangebracht worden ist. deutsche Sichtweisen voranstellen, während Betroffen- Drittens. Da wir in Europa zusammenarbeiten wollen heiten anderer EU-Mitgliedstaaten völlig außen vor ge- und auch voneinander lernen können, sollten in diesem lassen werden. Zusammenhang durchaus Fragen einer besseren Aufga- Im Einzelnen: bentrennung – auch in der Kommission – angesprochen werden. Ich halte es für problematisch, dass die EU- Erstens. Wir wollen ein föderales Europa, keine „Zen- Kommission als ein politisches Organ selbst unmittelbar trale“ in Brüssel. Damit ist völlig klar, dass auch die Ver- für die Wettbewerbskontrolle zuständig ist, während in waltung sachlich wie örtlich nicht an einer Stelle kon- Deutschland ein unabhängiges Kartellamt viele Bei- zentriert werden kann. Ein Prinzip, das für uns in spiele guter Arbeit vorweisen kann. Also: Auch über Deutschland gilt und das wir im Rahmen eines über mehrere Richtungen, nicht nur über Einbahnstraßen sechs Jahrzehnte insgesamt erfolgreichen Föderalismus nachdenken. praktiziert haben, muss auch ein Maßstab für unsere europäische Beurteilung sein. Um es auf den Punkt zu Viertens. Ich bin davon überzeugt, dass wir jetzt be- bringen: Ein Staat wie Deutschland mit insgesamt ginnen, zu fraktionsübergreifenden gemeinsamen Ent- 83 obersten Bundesbehörden und Bundesoberbehörden schließungen zu kommen – aber nicht ad hoc und übers darf nicht in der EU so auftreten, als würden wir jede Knie gebrochen und vor allen Dingen nicht nur mit der neue EU-Agentur rundweg ablehnen. Ganz im Gegen- deutschen Sicht auf Europa, sondern auch mit europäi- teil: Wir sind die Letzten, die dazu moralisch legitimiert scher Gesinnung in Deutschland. Deshalb ist es wichtig, wären! Da Politik eine Frage des guten Gedächtnisses ist dass sowohl der Bundestag in Zusammenarbeit mit dem – wie schon zu Recht bemerkte –, soll- Europäischen Parlament als auch die einzelnen Fraktio- ten wir uns anständigerweise ins Gedächtnis rufen: nen dieses Hauses im Rahmen ihrer europäischen Partei- familien die Diskussion führen. Europäische Sichtweise Die wichtigste institutionelle Neugründung in der (B) darf nicht durch nationale Scheuklappen eingeengt wer- (D) EG/EU war das europäische Währungsinstitut – daraus den. Das Ergebnis eines integrativen Ansatzes könnte entstand die Europäische Zentralbank; heute eine mäch- auch sein, die Bundesregierung im Rat zu unterstützen, tige Institution in Europa. Ihr Sitz: Frankfurt am Main. damit Blockaden überwunden und die interinstitutionelle Keine Partei in Deutschland hätte dem Euro zugestimmt, Vereinbarung vorangebracht werden kann. wenn dies anders wäre. Die europäische Agentur für Flugsicherung erfüllt un- Markus Löning (FDP): „Das haben wir den Part- bestreitbar wichtige Aufgaben. Unser Land hatte auch nern zugesagt, diese Zusage können wir nicht mehr zu- aus verkehrspolitischen Gründen ein großes Interesse rücknehmen, wir können das Paket nicht noch einmal daran, diese Behörde in Deutschland anzusiedeln. Sie aufschnüren.“ Wohl keine Ausrede haben wir bei der residiert in Köln, wie jeder weiß. Debatte um die Grundrechtsagentur im letzten Jahr öfter gehört, als diese. Die Bundesregierung hat im Europäi- Das zeigt: Wir dürfen keinesfalls den Eindruck ver- schen Rat eine – zunächst informelle – Zusage zu einem mitteln, nachdem Deutschland zu den Mitgliedsländern bestimmten institutionellen Paket gemacht und benutzt mit der besten Infrastruktur an EU-Einrichtungen gehört, anschließend diese Zusage als Argument gegenüber den dass es jetzt das Mitglied ist, welches anderen Ländern gewählten Vertretern des Volkes, warum sie nicht mitre- eine gerechte Teilhabe an der dezentralen Organisation den können. Bei der Grundrechteagentur war der Anlass, Europas mit einer sichtbaren Repräsentanz an vielen Or- nämlich die Grundrechtecharta, entfallen. ten des Kontinents entgegensteht. Die Fraktionen des Bundestages waren sich in ihrer Zweitens. Es ist gut, dass wir uns vor diesem Hinter- Kritik weitgehend einig, dass die Agentur, wenn über- grund kritisch mit bestehenden Entwicklungen auseinan- haupt, dann zumindest nicht in der ursprünglich geplan- dersetzen. Die entscheidenden Fragen sind zum Teil von ten Größe an den Start gehen sollte. Es gab sehr ernste den Kolleginnen und Kollegen der Grünen sowie der Bedenken hinsichtlich der gerichtlichen und parlamenta- FDP in ihren Anträgen aufgeworfen worden. Aber an ei- rischen Kontrolle der Agentur. Dennoch konnten weder nigen Stellen ist ein völlig falscher Ansatz zu erkennen: Ochs noch Esel das Projekt in seinem Lauf aufhalten. Es kann zum Beispiel meines Erachtens nicht sein, dass Die Agentur wurde gegründet. Die Planstellen wurden die nationalen Parlamente in Zukunft über die EU-Agen- geschaffen. Das Budget wurde genehmigt. turen entscheiden – wie das die FDP will –, genauso we- nig kann die deutsche Bundesregierung ein Gesamtkon- Dies war ein Beispiel dafür, wie es in Zukunft nicht zept für EU-Agenturen vorlegen, wie es die Grünen mehr laufen soll. In Zukunft soll die Bundesregierung fordern. Beides verkennt die europäischen Strukturen den Bundestag einbeziehen, bevor sie Zusagen macht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15161

(A) Es gibt ja durchaus auch sinnvolle Aufgaben für Agentu- oder juristischen Debatte. Wer legitimiert sie dazu? Sie (C) ren. Auch in Deutschland lagern wir ja manche Aufga- sind weder unabhängige Gerichte, die das Recht ausle- ben in Anstalten, wie zum Beispiel die Bundesanstalt für gen und durchsetzen, noch gewählte Vertreter des Vol- Materialforschung oder das Robert-Koch-Institut, aus. kes, die der Kontrolle durch Wahl unterliegen. Dies wi- derspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung in einem Die EU-Agentur zur Umsetzung der Chemikalien- demokratischen Rechtsstaat. Es muss hier eine klare Zu- richtlinie war sicher eine sinnvolle Gründung, denn sie ordnung geben. Auch dies stellen wir daher mit unserem bündelt sehr spezifischen Sachverstand und ist der eine Antrag klar: Alle Agenturen müssen der vollen parla- Ansprechpartner für die betroffene Wirtschaft. Ich ver- mentarischen Kontrolle unterworfen sein. stehe nicht, warum die Bundesregierung bei solch sinn- vollen Gründungen Angst vor dem Deutschen Bundes- Lieber Kollege Schäfer, lieber Kollege Stübgen, ich tag hat. Es stärkt doch auch die Position der denkte, wir sind uns in den Kernanliegen auch weiterhin Bundesregierung, wenn die Sinnhaftigkeit einer Agentur einig. Ich freue mich, dass die Koalitionsfraktionen in in der Debatte mit den Abgeordneten Bestand hat. dieser Frage einen gemeinsamen Antrag mit FDP und Grünen machen wollen. Das wäre ein weiterer Schritt Wir wollen, dass vor einer Zusage die Zustimmung zur Stärkung des Deutschen Bundestages in EU-Fragen. des Bundestages eingeholt wird, und wir wollen, dass es vor der Errichtung einer Agentur ein transparentes Ver- fahren gibt. Der Bundestag muss in einem geordneten Heike Hänsel (DIE LINKE): Die heutige Debatte ist Verfahren einbezogen werden. Die Mitteilung, dass man überfällig. Die Zahl der Aufgaben der Europäischen den Bundestag natürlich gerne informiere, die Entschei- Union nimmt seit dem Vertrag von Amsterdam ständig dung aber längst gefallen sei, ist ein Schlag ins Gesicht zu, ohne dass eine wirkliche Gewaltenteilung und demo- der Parlamentarier. Wir wollen ein geordnetes Verfah- kratische Kontrolle über diese Aufgaben möglich ist. ren, bei dem der EU-Ausschuss, betroffene Fachaus- Heute wird durch die Europäische Union in vielen Poli- schüsse und gegebenenfalls das Plenum Gelegenheit zur tikbereichen eine faktische Entparlamentarisierung be- Stellungsnahme bekommen, bevor die Entscheidung schleunigt. Ein Beispiel für diese Entparlamentarisierung über die Errichtung endgültig fällt. und damit auch einer zunehmenden Entdemokratisie- rung von politischen Prozessen in der Europäischen Die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie gehö- Union ist die massive Zunahme von EU-Agenturen. ren zur gemeinsamen Wertegrundlage der EU. Sie müs- sen in allen Aspekten des Handelns der EU berücksich- Heute gibt es in der Europäischen Union 35 Agentu- tig werden. Es kann nicht sein, dass für jede EU-Agentur ren, die von der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- ein neuer Rechtsweg beschlossen werden muss, und es politik bis zur Frage der Grundrechte hochsensible poli- (B) kann erst Recht nicht sein, dass nicht sichergestellt ist, tische Bereiche bearbeiten. Diese Agenturen unterliegen (D) dass es für die Bürgerinnen und Bürger immer einen keinem Einfluss vonseiten eines demokratisch gewähl- Rechtsweg gibt. Hoheitliche Akte der Agenturen können ten Parlaments. Auch ist dem Haushaltsausschuss des schwerwiegende Eingriffe in Rechte von Personen oder Europäischen Parlaments zuzustimmen, wenn er auch Unternehmen darstellen. Jeder betroffene Bürger, jedes auf die mangelhafte budgetäre Kontrolle der EU-Agen- betroffene Unternehmen muss alle Akte von EU-Agen- turen hinweist. turen rechtlich überprüfen lassen können. Es ist nach un- Die Struktur der Europäischen Agenturen hält einer serem Rechtsstaatsverständnis schlicht inakzeptabel, kritischen demokratischen Betrachtung nicht stand. In wenn der Rechtsweg nicht klar – oder noch schlimmer – der Bundesrepublik Deutschland würden sie vom Bun- nicht vorhanden ist. desverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz nicht Die Freien Demokraten fordern daher eine Rechtswe- vereinbar aufgehoben, da sie zu einer Verwischung der gegarantie für alle Bürgerinnen und Bürger gegenüber Gewaltenteilung führen. Die Entwicklung der EU-Struk- allen EU-Agenturen. Genauso wichtig ist die demokrati- turen führt zu einem Rückfall in vordemokratische sche Kontrolle. Dies betrifft die Budgets, den Haushalts- Strukturen, indem die Gewaltenteilung zwischen Exeku- vollzug und bei einigen Agenturen die inhaltliche Ar- tive und Legislative immer weiter aufgehoben wird. Die beit. Exekutive übernimmt in der Europäischen Union immer mehr Macht- und Entscheidungsbefugnisse. Eine solche Der Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Entwicklung dürfen Demokraten nicht weiter unwider- Parlamentes verweigert zurzeit wegen einer Reihe von sprochen hinnehmen. ungeklärten Fragen einigen Agenturen die Entlastung. Ich kann die Kollegen im EP nur bestärken, ihre Rechte Nehmen wir als Beispiel die sogenannte Europäische wahrzunehmen und im Sinne der europäischen Steuer- Verteidigungsagentur, bei der es sich in Realität um eine zahler auf einem transparenten und ordentlichen Haus- Rüstungsagentur handelt. Die Agentur ist organisato- haltsvollzug zu bestehen. risch direkt unterhalb des Rates für Allgemeine Angele- genheiten und Außenbeziehungen angesiedelt. Die Ver- Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt der demo- teidigungsminister – und damit die jeweilige Exekutive kratischen Kontrolle. Die Agentur für Grundrechte oder der Nationalstaaten – erhalten durch die Agentur unmit- die Agentur für Gleichstellungsfragen werden gutachter- telbar die Möglichkeit, eine bessere europäische Koordi- lich tätig sein. Sie werden Stellungnahmen auf Anfrage nation der Rüstungszusammenarbeit und den beschleu- oder aus eigenem Antrieb erarbeiten und verbreiten. Da- nigten Aufbau für militärische Kapazitäten für weltweite mit sind sie Teilnehmer einer öffentlichen politischen Militäreinsätze durchzusetzen. Ein demokratisches Mit- 15162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) spracherecht oder wenigstens eine demokratisch-parla- verteilt in der Europäischen Union sogenannte EU- (C) mentarische Kontrolle der Militär- und Rüstungspolitik Agenturen bestehen. Zur Ausführung ihrer Aufgaben auf europäischer Ebene wird dadurch fast unmöglich. Im sind die EU-Agenturen nicht weisungsgebunden, ledig- Rahmen der Europäischen Verteidigungsagentur wird lich zur Entlastung ihres Verwaltungshaushalts dem weder dem Europäischen Parlament noch den nationalen Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlamen- Parlamenten eine politische oder fiskalische Kontroll- tes rechenschaftspflichtig. Insgesamt sind es derzeit möglichkeit eingeräumt. 22 Gemeinschaftsagenturen, drei Agenturen für die Ge- meinsame Außen- und Sicherheitspolitik und drei Exe- Gleichzeitig nimmt der Deutsche Bundestag durch kutivagenturen. Weitere Agenturen wie beispielsweise die organisatorische Entwicklung der Europäischen zur Koordinierung von nationalen Regelungsbehörden Union hin, dass sich in der Europäischen Union immer im Bereich Telekommunikation oder Energie sind in mehr undemokratische Strukturen durchsetzen und ver- Planung. festigen. Die beiden Anträge können hier eine Grund- lage sein, diesen Prozess zu beenden. Wir müssen die Wir Grünen unterstützen EU-Agenturen, die sinnvoll zunehmende Entdemokratisierung von politischen Ent- und notwendig sind und die durch ihre dezentrale Ein- scheidungsprozessen stoppen. Deshalb fordern wir eine richtung der Europäischen Union auch vor Ort ein weite- grundsätzliche Debatte über die Notwendigkeit von EU- res Gesicht geben. Teilweise leisten die Agenturen eine Agenturen. Unsere Position ist dabei klar: Wir setzen sehr gute Arbeit; dies steht außer Frage. Aber mit den uns dafür ein, dass alle Entscheidungen und daraus fol- EU-Agenturen hat sich parallel zu den Arbeitsstrukturen gend die exekutiven Umsetzungen solcher Entscheidun- in Brüssel ein riesiger Apparat zur Bewältigung neuer gen nach demokratischen Gesichtspunkten organisiert Aufgaben rechtlicher, technischer und wissenschaftli- werden müssen. Wir müssen auch auf europäischer cher Art aufgebaut. Gerade in den letzten Jahren ist ihre Ebene die demokratische Gewaltenteilung und Kontrolle Zahl dramatisch gestiegen: So hat sich die Anzahl seit durchsetzen. dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt, die Personalplan- stellen sind im selben Zeitraum um 148 Prozent ange- Deshalb stehen wir dem Instrument von Europäischen wachsen, und der Gesamthaushalt hatte allein in den Agenturen skeptisch gegenüber. Natürlich können wir letzten beiden Jahren einen Aufwuchs von 20 Prozent. uns vorstellen, dass in spezifischen Bereichen wie zum Beispiel der Sicherheit des See- und Luftverkehrs oder Wir kritisieren, dass dabei nicht alle EU-Agenturen der Organisation von Übersetzungsarbeiten Agenturen notwendig und sinnvoll sind. Mitunter werden über sie als Umsetzungsinstrument von politischen Entscheidun- sogar Aufgaben erledigt, die bereits an anderer Stelle be- gen geschaffen werden. In allen grundsätzlichen politi- arbeitet werden. In einigen Fällen sind die Mandate der Agenturen nicht eindeutig und Doppelstrukturen zwi- (B) schen Bereichen haben Agenturen jedoch nichts verlo- (D) ren. schen unterschiedlichen Agenturen erkennbar. Weiterhin beanstanden wir, dass bei einigen Agenturen lange Zeit Wir wollen die heutige Debatte und die beiden An- ein klar erkennbares Konzept fehlte oder sogar das Di- träge als Aufschlag für eine grundsätzliche Debatte zur rektorium nicht eingesetzt wird. Und schließlich lässt die Durchsetzung von demokratischen Strukturen auf euro- Finanzverwaltung zu wünschen übrig und wird auch päischer Ebene verstanden wissen. Eine solche grundle- vom Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Par- gende Debatte können wir nur über die Grenzen von par- lamentes als mangelhaft kritisiert. teipolitischen Diskussionen zum Erfolg führen. Deshalb steht Die Linke für die Ausarbeitung eines gemeinsamen Diese Mängel müssen abgeschafft werden. Die EU- Antrages aller Fraktionen gerne zur Verfügung. Strukturen müssen genauso wie nationale Strukturen ef- fizient und effektiv arbeiten. Mit unserem Antrag for- Alleine in der Zeit von 2005 bis 2007 – hier weisen dern wir die Bundesregierung auf, sich in den EU-Gre- Sie in Ihrem Antrag richtigerweise darauf hin – ist der mien dafür einzusetzen, dass diese Mängel abgeschafft Gesamthaushalt der Europäischen Agenturen auf fast werden. Hierzu fordern wir erstens, uns ein Gesamtkon- 1,3 Milliarden Euro angewachsen. Wir wollen, dass zept zur Einrichtung von EU-Agenturen vorzulegen, in diese Mittel, die alle von den Bürgerinnen und Bürgern dem klare Kriterien für die Einrichtung von EU-Agen- der Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgebracht turen genannt werden, und zweitens, sich für die Vermei- werden, demokratisch vergeben und vor allem auch de- dung von Doppelstrukturen zwischen den jeweiligen mokratisch kontrolliert werden. Deshalb unterstützen Agenturen, aber auch zwischen Agenturen und den Ge- wir das Anliegen, mit allen Parlamenten der europäi- neraldirektionen der Europäischen Kommission einzu- schen Mitgliedstaaten, aber auch in enger Kooperation setzen. mit dem Europäischen Parlament, in eine Diskussion über eine Gesamtkonzeption der zukünftigen Ausgestal- Schließlich fordern wir die Bundesregierung dazu tung von Europäischen Agenturen einzutreten. auf, uns eine Stellungnahme vorzulegen, aus der ersicht- lich wird, inwieweit eine effiziente und transparente Kontrolle der Finanzverwaltung der EU-Agenturen ge- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- währleistet ist. NEN): Die Europäische Arzneimittelagentur in London, die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen oder die Wir freuen uns sehr, wenn uns auch die anderen Frak- Europäische Eisenbahnagentur in Valenciennes – diese tionen im Deutschen Bundestag in dieser wichtigen zufällig herausgegriffenen Beispiele zeigen, dass zu Frage unterstützen, und fordern Sie auf, unseren Antrag zahlreichen und unterschiedlichsten Themen und überall zu unterstützen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15163

(A) Anlage 6 – Unterrichtung durch die Bundesregierung (C) Amtliche Mitteilungen Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2007 – Drucksache 16/6385 – Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben mit Schreiben vom 25. Januar 2008 mitgeteilt, dass sie den Antrag Die UN-Vertragsstaatenkonferenz in Bali – Ausschuss für Bildung, Forschung und Den Grundstein für ein Kyoto-Nachfolgeabkommen Technikfolgenabschätzung legen auf Drucksache 16/7281 zurückziehen. – Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Abgeordnete Gerhard Wächter hat mitgeteilt, Erster Fortschrittsbericht zur Hightechstrategie für dass er seine Unterschrift auf dem Entwurf eines Geset- Deutschland zes für eine menschenfreundliche Medizin – Gesetz – Drucksache 16/6900 – zur Änderung des Stammzellgesetzes auf Drucksache 16/7982 zurückzieht. Ausschuss für Kultur und Medien Die Abgeordneten Johannes Jung (Karlsruhe) und Heidi Wright haben darum gebeten, bei dem Entwurf ei- – Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung nes Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin – für Kultur und Medien Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes auf Bericht über das Prüfergebnis zur Sicherung eines ziel- Drucksache 16/7982 nachträglich in die Liste der An- gruppengerechten und qualitativ hochwertigen Ange- tragsteller aufgenommen zu werden. bots an interaktiven Unterhaltungsmedien – Drucksachen 16/7081, 16/7376 Nr. 1 – Die Abgeordnete Ingrid Fischbach hat darum gebe- ten, bei dem Antrag Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzellforschung för- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben dern auf Drucksache 16/7985 nachträglich in die Liste mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- der Antragsteller aufgenommen zu werden. Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Auswärtiger Ausschuss nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 16/7070 Nr. A.4 (B) Drucksache 16/7070 Nr. A.6 (D) Drucksache 16/7223 Nr. A.10 Auswärtiger Ausschuss Drucksache 16/7393 Nr. A.27 Drucksache 16/7393 Nr. A.28 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/7575 Nr. A.1 Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühun- Drucksache 16/7575 Nr. A.3 gen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtver- Drucksache 16/7575 Nr. A.16 breitung sowie über die Entwicklung der Streitkräfte- Drucksache 16/7575 Nr. A.17 potenziale (Jahresabrüstungsbericht 2004) Drucksache 16/7575 Nr. A.18 – Drucksache 15/5801 – Drucksache 16/7575 Nr. A.19 Drucksache 16/7575 Nr. A.23

Haushaltsausschuss Innenausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/6041 Nr. 2.16 Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Drucksache 16/6041 Nr. 2.18 Drucksache 16/6715 Nr. 1.5 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 632 07 Drucksache 16/6715 Nr. 1.19 – Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschuss- gesetzes – – Drucksachen 16/7681, 16/7793 Nr. 1.6 – Rechtsausschuss Drucksache 16/901 Nr. 2.5 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/993 Nr. 2.15 Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Drucksache 16/3382 Nr. 2.1 Drucksache 16/4819 Nr. 1.1 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 681 01 Drucksache 16/4939 Nr. 3.1 – Erziehungsgeld – sowie Kapitel 17 10 Titel 681 02 Drucksache 16/5199 Nr. 2.15 – Elterngeld – Drucksache 16/5681 Nr. 1.2 – Drucksachen 16/7723, 16/7793 Nr. 1.8 – Drucksache 16/6389 Nr. 1.78 Drucksache 16/6715 Nr. 1.14 Drucksache 16/6715 Nr. 1.15 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsausschuss Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2006 Drucksache 16/7070 Nr. A.5 – Drucksache 16/3000 – Drucksache 16/7070 Nr. A.11 15164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008

(A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales (C) Drucksache 16/820 Nr. 1.32 Drucksache 16/6389 Nr. 1.27 Drucksache 16/1748 Nr. 2.5 Drucksache 16/6389 Nr. 1.28 Drucksache 16/4105 Nr. 2.9 Drucksache 16/6389 Nr. 1.33 Drucksache 16/6501 Nr. 1.2 Drucksache 16/4105 Nr. 2.22 Drucksache 16/7223 Nr. A.1 Drucksache 16/4105 Nr. 2.64 Drucksache 16/4501 Nr. 2.49 Drucksache 16/4635 Nr. 2.23 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 16/4635 Nr. 2.24 Drucksache 16/7070 Nr. A.14 Drucksache 16/6389 Nr. 1.52 Drucksache 16/7070 Nr. A.15 Drucksache 16/6715 Nr. 1.7 Drucksache 16/7070 Nr. A.16 Drucksache 16/7223 Nr. A.2 Drucksache 16/7223 Nr. A.9 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Drucksache 16/7223 Nr. A.11 Verbraucherschutz Drucksache 16/7393 Nr. A.11 Drucksache 16/7393 Nr. A.16 Drucksache 16/4501 Nr. 2.18 Drucksache 16/7393 Nr. A.18 Drucksache 16/4501 Nr. 2.33 Drucksache 16/4501 Nr. 2.34 Drucksache 16/4501 Nr. 2.42 Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksache 16/4501 Nr. 2.45 Technikfolgenabschätzung Drucksache 16/4635 Nr. 2.5 Drucksache 16/150 Nr. 1.42 Drucksache 16/4635 Nr. 2.8 Drucksache 16/820 Nr. 1.49 Drucksache 16/4635 Nr. 2.9 Drucksache 16/5681 Nr. 1.27 Drucksache 16/4635 Nr. 2.10 Drucksache 16/5681 Nr. 1.28 Drucksache 16/6389 Nr. 1.9 Drucksache 16/6389 Nr. 2.28 Drucksache 16/7393 Nr. A.8 Drucksache 16/6865 Nr. 1.26 Drucksache 16/7393 Nr. A.9 Drucksache 16/7393 Nr. A.20 Drucksache 16/7393 Nr. A.21 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Drucksache 16/7393 Nr. A.29 Entwicklung Drucksache 16/7393 Nr. A.30 Drucksache 16/1101 Nr. 2.16 Drucksache 16/7575 Nr. 1.45 Drucksache 16/7575 Nr. A.24

(B) (D)

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