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Albrecht von Lucke Grün schlägt Schwarz

1997 machte „Grün schlägt rot“ Furore, An einer Regierungsbeteiligung der das Buch der beiden US-Politikwissen- Grünen zwecks deren Schwächung schaftler Andrei Markovits und Philip haben somit sowohl Sozialdemokraten Goski über die deutsche Linke nach als auch Union ein Interesse. Die ent- 1945. Seine Kernthese: Seit dem Ende scheidende Frage der nächsten Jahre, des Zweiten Weltkriegs ist die deutsche durchaus bereits mit Blick auf die Bun- Sozialdemokratie immer weniger in der destagswahl 2013, lautet daher: Wer Lage, das gesamte linke Spektrum zu koaliert künftig mit den Grünen? integrieren. Folge dieser Schwäche war nicht nur die Entstehung der APO, son- dern auch das Aufkommen und Erstar- Das Ende der Merkelschen ken der neuen sozialen Bewegungen Demobilisierungsstrategie bis hin zur Gründung der Grünen. 2011 könnte sich der Titel des Buches Hier aber liegt die eigentliche Ironie gleich zweimal bewahrheiten: Sowohl der Analyse von Markovits und Goski. in Baden-Württemberg als auch in Ber- Denn bei der sozialdemokratischen lin könnte „Grün“ „Rot“ schlagen und Verlustgeschichte nach 1945 handelt die Sozialdemokratie damit ihre ange- es sich bloß um die eine Seite der Me- stammte Führungsposition im Partei- daille. Weit wichtiger ist hingegen die enspektrum links von der Mitte ver- andere Seite, die eine überraschende lieren. Erstmalig liegen die Grünen in Chance für die Linke bedeutet: Das Meinungsumfragen bundesweit fast Aufkommen der neuen sozialen Be- gleichauf mit der SPD, und in den Pro- wegungen hat nämlich das linke Spek- gnosen für die beiden Landtagswahlen trum insgesamt verbreitert. Infolge des rangieren die grünen Spitzenkandida- postmateriellen Wertewandels ist Rot- ten, Winfried Kretschmann und Renate Grün nicht nur aus der deutschen Poli- Künast, teils klar, teils knapp vor ihren tik nicht mehr wegzudenken, sondern sozialdemokratischen Konkurrenten. Rot-Grün ist laut Markovits/Goski zum Tatsächlich erlebt das Land derzeit strukturell überlegenen Koalitions- und sein „grünes Wunder“, die Umfrage- Regierungsmodell geworden, während werte der einstigen Antiparteienpartei die Ära der Konservativen unweiger- wachsen seit Monaten förmlich durch lich ihrem Ende entgegengeht. die Decke. Dagegen gibt es offenbar Der aktuelle Höhenflug der Grünen für ihre Konkurrenten nur ein Mittel: gibt dieser Prognose Recht. Er entpuppt mit den Grünen zu koalieren. Nur die sich als ein Höhenflug zugunsten des Regierungsbeteiligung, so die Ironie Mitte-Links-Lagers insgesamt und zu der Geschichte, könnte die Partei wie- Lasten von Union und FDP. Tatsächlich der dezimieren. Die SPD hat diese all- liegt hier der Kern der aktuellen Aus- gemeingültige Lektion in ihrer eigenen einandersetzung. elfjährigen Regierungszeit schmerz- Lange Zeit hatte aus lich lernen müssen, und für die FDP der faktischen Linksverschiebung der scheinen schon wenige Monate an der Bevölkerungsmentalität die Konse- Regierung zu reichen, um erneut zur quenz gezogen, selbst nach links zu Fünfprozentpartei zu schrumpfen. wandern – allerdings keineswegs mit

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prozentualem Erfolg, wie die seit 2002 ökonomischen Vernunft, die auch Uni- kontinuierlich sinkenden Unions-Er- on und FDP erfolgreich Stimmen ab- gebnisse verdeutlichen (von 38,5 Pro- jagt. zent für (!) 2002 über 35,2 Prozent für Angela Merkel 2005 bis zu 33,8 Prozent 2009). Allein der enor- Zweierlei Bürgerlichkeit me Zugewinn der FDP brachte bei der letzten Bundestagswahl den Wahlsieg. Damit geht es in den kommenden Jah- Doch dieses Hoch ist offenbar unwie- ren auch um die Frage, welches Modell derbringlich vorbei, auch daher rührt von Bürgerlichkeit die Deutungshoheit der erstaunliche Strategiewechsel der gewinnt: ein reines Klientelbürgertum, Kanzlerin. Angela Merkel hat erkannt, wie es primär von der FDP verkörpert dass sie ihre Politik der „asymmetri- wird, oder ein aufgeklärtes, durchaus schen Demobilisierung“1 überreizt hat links-liberales Bürgertum mit dem An- – nämlich bis zur massiven Demobilisie- spruch auf eine sozial-ökologische Um- rung der eigenen Anhänger. Klare Kan- gestaltung der Gesellschaft. Schwarz- te lautet daher seit diesem „Herbst der Gelb ist noch einmal, soweit die Bilanz Entscheidungen“ die Maxime. So wie des ersten Jahres, der Sieg des ma- Gerhard Schröder ein Jahr nach sei- terialistischen bourgeois. Die Regie- ner Wiederwahl tritt die Kanzlerin die rungspolitik entpuppte sich als reiner Flucht nach vorne an – mit erheblichen Klientelismus, ob für Hoteliers oder Folgekosten. Obwohl sie die Grünen AKW-Betreiber. Man operiert dezidiert aufgrund des Ausfalls der FDP stärker mit Ressentiments gegenüber sozial denn je als künftigen Koalitionspartner Schwächeren, denen man „spätrömi- benötigt, geht sie auf klaren Konfron- sche Dekadenz“ (Guido Westerwelle) tationskurs. Heute bezeichnet Merkel vorwirft, während man ihnen bei Hartz die einst von ihr selbst betriebene Öff- IV das existenzielle Minimum vorent- nung für schwarz-grüne Koalitionen hält, trotz eindeutiger Rüge durch das als „Hirngespinst“, um mit der Koali- Bundesverfassungsgericht. tionsaufkündigung durch die Grünen Die Grünen dagegen bedienen, wie in für diese neue Lagerstra- ihnen gerne vorgehalten wird, eben- tegie prompt die Quittung zu erhalten. falls eine Klientel, nämlich gerade die Die Bundeskanzlerin geht mit die- Klientel jener, die keine (oder zumin- ser Wette gegen Schwarz-Grün und dest nicht primär) Klientelpolitik wün- auf alleinigen Sieg der „bürgerlichen schen, sondern eine am Gemeinwohl Wunschkoalition“ ein enormes Risiko orientierte Politik. Damit zielen sie auf ein. Ihre konservative Wende des Jah- den citoyen als den politisch engagier- res 2010, die von der Verlängerung der ten Zeitgenossen und werden zum Pro- AKW-Laufzeiten ihren Ausgang nahm, fiteur jener neuen Politisierung, de- könnte zur Agenda 2010 der Ange- ren Vorschein man soeben in la Merkel werden. Denn eines hat sich und Gorleben erleben konnte. Dort seit dem Buch von Markovits und Gos- gingen auch zutiefst bürgerliche Men- ki entscheidend geändert: Anders als schen (teilweise erstmalig) auf die Stra- noch 1997 stehen die Grünen heute ße und auf die Schienen. Dieser neue nicht mehr links von der SPD, sondern Wettstreit zwischen Schwarz und Grün in der Mitte des Parteienspektrums. um das bürgerliche Lager hat erhebli- Unter dem neuen Leitbegriff des Green che Konsequenzen für die Linke insge- New Deal definieren sie sich als die ei- samt, birgt aber auch ganz neue strate- gentliche Partei der ökologischen wie gische Optionen. Damit endet die Ära der selbstverständlichen Vorherrschaft 1 Vgl. Albrecht von Lucke, Zehn Jahre Mer- kel und das Dilemma der CDU, in: „Blätter“, der SPD im links-bürgerlichen Lager. 4/2010, S. 5-9. Das, was die SPD schon seit geraumer

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Zeit immer weniger leistet, die Anspra- SPD 2009 in der Mitte verloren hat, und che und Integration der aufgeklärten zudem jene empörten Parteimitglieder Mittelschichten, übernehmen die Grü- besänftigen, die ihm seine entschlosse- nen. Heute kommt zum Abschluss, was ne Haltung gegenüber Thilo Sarrazin in den 80er Jahren begann: die Abset- übel nehmen. zung der aufgeklärten bürgerlichen Ungeachtet der programmatischen Schichten von der rein fortschrittsfixier- Defizite der SPD spricht angesichts ten Helmut-Schmidt-SPD, die sich zum des rasanten Verblassens nicht nur Leidwesen Erhard Epplers und Willy der schwarz-gelben, sondern auch der Brandts gegenüber den neuen ökolo- schwarz-grünen Blütenträume den- gischen Fragen als völlig unsensibel er- noch einiges dafür, dass das linke Lager wies. Damals bereits verlor die SPD je- schon bald wieder – zumindest prozen- ne Zwischengeneration der links-bür- tual – hegemoniefähig sein könnte. Das gerlichen Nach-68er, der „Zaungäste“ aber setzt voraus, dass es ihm gelingt, von Wackersdorf und Startbahn West, sein ganzes Wählerspektrum auszu- die ihr heute so sehr fehlen. schöpfen. Dies verlangt vor allem zwei- erlei: einen fairen Umgang aller drei Parteien miteinander und die Bereit- Die SPD als linke Zweitpartei schaft, im Zweifelsfall mit- statt gegen- einander zu koalieren. Immer getreu Auf Seiten der Union hat man den fun- der alten, bisher aber primär von CDU/ damentalen Angriff dieser neuen, an- CSU und FDP befolgten Devise: „Ge- deren Bürgerlichen auf die kulturelle trennt marschieren, vereint schlagen“. Hegemonie bereits begriffen. Daher Dafür aber müssten alle drei Partei- auch die konzertierten Attacken von en die neue Lage akzeptieren. Denn ein CDU, CSU und FDP gegen die Grü- Weiteres konnten selbst Markovits und nen. Die SPD ist dagegen offenbar noch Goski 1997 nicht voraussehen: Rot- nicht so weit, diese Situation als eine Grün und die folgende große Koalition Chance zu ihren Gunsten zu begreifen. haben die parteipolitische Lage im Lan- Insgesamt fährt die SPD unter Sig- de radikal verändert. Durch die Grün- mar Gabriel eine merkwürdige Doppel- dung der Linkspartei ist die SPD im Os- strategie: Einerseits lobt der Parteivor- ten, abgesehen von und sitzende die Grünen als neue und ein- Mecklenburg-Vorpommern, zur linken zige originär liberale Partei (nach dem Zweitpartei geworden. Nun aber droht Abdriften der FDP), andererseits stimmt ihr dasselbe auch im Westen. Während er in den großen Chor derer ein, die die die SPD seit dem Absturz auf 23 Prozent Grünen als bloße Wohlfühlpartei kriti- bei der Bundestagswahl um ihren Sta- sieren. Einerseits versucht der omniprä- tus als Volkspartei bangen muss, lieb- sente Parteivorsitzende wieder Terrain äugeln die Grünen mit ebenjenem. auf der Linken gutzumachen, vornehm- Insofern verlangt die neue Lage der lich durch Korrekturen an Hartz IV und SPD eindeutig am meisten ab, nämlich mit hartem Protest gegen die schwarz- die grundsätzliche Akzeptanz einer gelbe Atompolitik, andererseits zielt er neuen Gleichberechtigung, bei wel- mit seinen populistischen Attacken auf cher, von Fall zu Fall, die jeweils stärks- Migranten („Wer seine Kinder nicht re- te Partei die Führung übernimmt. In gelmäßig und pünktlich in die Schule Baden-Württemberg kommen die Grü- schickt, dem schicken wir die Polizei nen nach neuesten Umfragen auf 27 vorbei“) genau auf die von einer libe- und die Sozialdemokraten auf 19 Pro- ralen Merkel-Union enttäuschten au- zent; noch haben sie – ungeachtet der toritären Konservativen. Mit diesem Geißlerschen Befriedung der Lage zu- prekären Manöver will er offenbar je- gunsten der Union – durchaus Chan- ne Prozente zurückgewinnen, die die cen, Ministerpräsident

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am 27. März abzulösen und erstmalig in diskursiven Programmpartei massiv der Geschichte die CDU zu bezwingen. vorantreiben. Leider kann davon der- Immerhin hat die SPD bereits erklärt, zeit nicht die Rede sein. Im Gegenteil: dass sie in diesem Fall den grünen Spit- In der öffentlichen Debatte findet ih- zenkandidaten mitwählen würde. Hier re Programmdiskussion faktisch nicht könnte sich zeigen, wie lernfähig die statt. geschrumpfte SPD zukünftig ist – und Am Ende könnte es aber, wieder ein- damit auch wie macht- und koalitions- mal, gerade auf Die Linke ankommen. fähig. Vielleicht wird es ihr ja durch Wie schon 2005 könnten es die Prozen- den wahrscheinlichen Erfolg von Olaf te der Linkspartei sein, die in den Um- Scholz bei der Neuwahl in Hamburg fragen erstaunlich konstant bei rund am 20. Februar erleichtert, an anderer zehn Prozent rangiert, welche zu einer Stelle die veränderte Lage zu akzep- Koalition der linken Mitte erforderlich tieren – möglicherweise auch bei der sind. Sollte es erneut nicht dazu kom- kommenden Hauptstadtwahl. men, liegt die Alternative auf der Hand: Auch wenn die Linkspartei dort Wird es wieder nichts mit Rot-Rot- durch den Wettstreit zwischen Wowe- Grün, könnten die Grünen doch noch reit-SPD und Künast-Grünen zerrie- ins konservative Lager wechseln. ben zu werden droht: Sie könnte der Das kommende Superwahljahr 2011 eigentliche Nutzießer des Kampfes von mit seinen inzwischen sieben Land- Grünen und SPD um die Vorreiterrolle tagswahlen wird für die Positionierung in der linken Mitte werden. Denn da- mit Blick auf 2013 von vorentscheiden- mit machen beide den dezidiert linken, der Bedeutung sein. Doch noch sind kapitalismuskritischen Platz im Partei- es drei Jahre bis zur nächsten Bundes- enspektrum frei. Bereits jetzt wird den tagswahl. Bis dahin werden wir noch so Grünen, teilweise durchaus zu Unrecht, manche Wiederannäherung und -ent- eine neue Beliebigkeit vorgeworfen. fernung von Grünen und Union erle- Doch tatsächlich datiert die letzte radi- ben. Bereits jetzt unternehmen jeden- kal-ökologische Entscheidung – die le- falls die Anhänger speziell des frisch gendäre (und ökologisch immer noch gewählten stellvertretenden Partei- gebotene) Forderung nach einem Ben- vorsitzenden Norbert Röttgen alle An- zinpreis von fünf DM – noch aus dem stalten, die Merkelsche Absage an das Wahljahr 1998. Offenbar wirkt der schwarz-grüne „Hirngespinst“ als blo- Schock des immensen medialen Ge- ße Missinterpretation zu interpretieren, genwindes bis heute nach. Man darf um auf diese Weise der CDU keine Ko- daher bereits gespannt sein, wie sich alitionsoptionen zu verbauen.2 die einst dezidiert linke Renate Künast Fest steht jedenfalls eins: Sollte es im Hauptstadt-Wahlkampf als mode- 2013 keine linke Regierungsalternative rierende Bürgermeisterin aller Berliner geben und die FDP unter zehn Prozent präsentieren wird, ohne ihre alternati- landen, womit sie als Koalitionspartner ve Kernklientel dabei allzu sehr zu ver- der Union ausfiele, dann dürften die prellen. In jüngster Vergangenheit hat Angebote der Union letztlich so ver- die Fraktionsvorsitzende ihre Grünen lockend sein, dass die Grünen – „aus jedenfalls bereits vorsorglich und ganz Verantwortung für das Land“ – nicht neu-mittig als „Partei des Bürgertums“ widerstehen werden. So bürgerlich- definiert. In der entstehenden linken machtbewusst ist die Partei inzwischen Leerstelle läge die Chance für eine mo- allemal – allen schwarz-grünen Kon- derne Linkspartei auf der Höhe der Zeit flikten zum Trotz. und ihrer radikal-ökologischen wie so- zialen Reformerfordernisse. Dafür aber 2 Vgl. Matthias Geis, Tausendmal berührt. Und Schwarz-Grün kommt doch, in: „Die Zeit“, müsste „Die Linke“ ihren Wandel von 2.12.2010; Günter Bannas, Die Ansage als Ab- der bloßen Anti-SPD-Partei zur echten sage an die Absage, in: „FAZ“, 26.11.2010.

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