Mitteilungen DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHES UND INTERNATIONALES MIP PARTEIENRECHT UND PARTEIENFORSCHUNG Aus dem Inhalt

Thorsten Holzhauser Extremisten von gestern – Demokraten von heute? Zum Umgang mit systemfeindlichen Parteien am Beispiel von Grünen und Linkspartei

Dr. Rolf Winkelmann Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland

Annika D’Avis „Restore Japan!“ Restore Nationalism? Die nationalistische Ideologisierung der Liberaldemokratischen Partei Japans unter Shinzo Abe

Nadine Budde/Prof. Dr. Olaf Jandura/PD Dr. Marco Dohle Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen

Ren-Jyun Huang Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen in Taiwan

Johannes Schmitt, M.A. Zur Wirkung einer Großen Koalition: Die Renaissance des polarisierten Pluralismus und die Polarisierung des deutschen Parteiensystems

Sophie Karow, M.A. Das beschleunigte Parlament – Die Gesetzgebungsdauer der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestags

apl. Prof. Dr. Thorsten Koch Das neue Recht der europäischen politischen Parteien

Dr. Sören Lehmann, Dipl. Finanzwirt (FH) MIP 2018 Transparenz durch die Hintertür? – Zugangsanspruch nach § 1 Abs. 1 S. 1 IFG 24. Jahrgang zu amtlichen Aufzeichnungen der Bundestagsverwaltung im Zusammenhang mit ISSN 2192-3833 dem Verifikationsverfahren nach § 23a PartG Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband Herausgegeben vom Motive des Pegida-Protests: Verbreitung, Struktur und Entwicklung unter dem Institut für Deutsches Einfluss der „Flüchtlingskrise“ und Internationales Dr. Simon Schuster Parteienrecht und Democracy in Europe Movement 2025 – Paneuropäische Parteien zur Rettung Parteienforschung Europas? Michael Angenendt, M.A. Parteienvertrauen in Deutschland 2017: Ausmaß und Determinanten

Dr. Alexandra Bäcker Damit ist kein Staat zu machen: Von Verfassungsfeinden und einem weiteren Problem mit der Verfassungstreue

Herausgeber

Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF)

Prof. Dr. Thomas Poguntke Prof. Dr. Martin Morlok

Das Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung ist eine zentrale interdisziplinäre wissenschaftliche Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gem. § 29 Abs. 1 S. 2 HG NW.

Zitierweise: MIP 2018, S.

Erscheint jährlich.

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Redaktion Dr. Alexandra Bäcker

Layout Dr. Alexandra Bäcker

Postanschrift Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung Universitätsstraße 1 Geb. 23.31 Raum 01.35 D – 40225 Düsseldorf Tel.: 0211/81-15722 Fax: 0211/81-15723 E-Mail: [email protected] Internet: www.pruf.de MIP 2018 24. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Editorial ...... 4

Aufsätze

Extremisten von gestern – Demokraten von heute? Zum Umgang mit systemfeindlichen Parteien am Beispiel von Grünen und Linkspartei ...... 5 Thorsten Holzhauser

Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland ...... 14 Dr. Rolf Winkelmann

„Restore Japan!“ Restore Nationalism? Die nationalistische Ideologisierung der Liberaldemokratischen Partei Japans unter Shinzo Abe ...... 22 Annika D’Avis

Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen ...... 31 Nadine Budde/Prof. Dr. Olaf Jandura/PD Dr. Marco Dohle

Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen in Taiwan ...... 40 Ren-Jyun Huang

Zur Wirkung einer Großen Koalition: Die Renaissance des polarisierten Pluralismus und die Polarisierung des deutschen Parteiensystems ...... 48 Johannes Schmitt, M.A.

Das beschleunigte Parlament – Die Gesetzgebungsdauer der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestags ...... 64 Sophie Karow, M.A.

Das neue Recht der europäischen politischen Parteien ...... 71 apl. Prof. Dr. Thorsten Koch

1 Inhaltsverzeichnis MIP 2018 24. Jhrg.

Transparenz durch die Hintertür? – Zugangsanspruch nach § 1 Abs. 1 S. 1 IFG zu amtlichen Aufzeichnungen der Bundestagsverwaltung im Zusammenhang mit dem Verifikationsverfahren nach § 23a PartG ...... 79 Dr. Sören Lehmann, Dipl. Finanzwirt (FH)

Motive des Pegida-Protests: Verbreitung, Struktur und Entwicklung unter dem Einfluss der „Flüchtlingskrise“ ...... 90 Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband

„Aufgespießt“

Democracy in Europe Movement 2025 – Paneuropäische Parteien zur Rettung Europas? ... 101 Dr. Simon Schuster

Parteienvertrauen in Deutschland 2017: Ausmaß und Determinanten ...... 106 Michael Angenendt, M.A.

Damit ist kein Staat zu machen: Von Verfassungsfeinden und einem weiteren Problem mit der Verfassungstreue ...... 112 Dr. Alexandra Bäcker

Rechtsprechung und Literatur

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung ...... 114 1. Grundlagen zum Parteienrecht ...... 114 Sven Jürgensen 2. Chancengleichheit ...... 118 Dr. Alexandra Bäcker 3. Parteienfinanzierung ...... 129 Dr. Heike Merten 4. Parteien und Parlamentsrecht ...... 133 Jasper Prigge 5. Parteien und Wahlrecht ...... 136 Frederik Orlowski

2 MIP 2018 24. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Rezensionen ...... 144 Rechtsprechungsübersicht ...... 151 Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung ...... 155

PRuF intern

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter ...... www.pruf.de

3 Editorial MIP 2018 24. Jhrg.

Editorial Kunst- und Kulturrecht sowie im Bereich der sym- bolischen und performativen Dimensionen des Prof. Dr. Thomas Poguntke Rechts. Mit Sophie Schönberger gewinnt das PRuF eine her- ausragend qualifizierte und renommierte Rechtswis- Das Vorwort der MIP gibt üblicherweise Auskunft senschaftlerin, die nicht nur im Bereich des Staats- über das vergangene Berichtsjahr. In diesem Jahr und Parteienrechts hervorragend ausgewiesen ist. gibt es einen Grund, davon abzuweichen und neben Für die traditionell interdisziplinär ausgerichtete Ar- dem Jahr 2017 auch das aktuelle Jahr 2018 in den beit des Instituts ist die Personalentscheidung zu- Blick zu nehmen. In diesen Zeitraum fallen wichtige kunftsweisend und verspricht, durch neue Impulse personelle Veränderungen am Institut. die herausragende Rolle, die das PRuF in der Partei- Prof. Dr. Martin Morlok, der das PRuF im Jahre 1991 enwissenschaft in Deutschland und international ein- als damaliger Habilitand des Gründungsdirektors be- nimmt, noch auszubauen. Die Arbeit des PRuF trifft reits mit aus der Taufe gehoben und seit 1997 – also zwar bereits jetzt auf breite Akzeptanz. Dafür sind seit 20 Jahren und damit für die längste Zeit seines zahlreiche Anfragen aus Politik, Medien und Wissen- Bestehens – als Mitglied des Direktoriums selbst ge- schaft nach unserer Expertise und unseren Publikatio- leitet hat, wurde Ende Juli 2017 in den Ruhestand ver- nen ein Indiz. Natürlich fühlen wir uns dadurch in un- setzt. Seine Leistungen für das PRuF ausführlich zu serer bisherigen Arbeit bestätigt. Dennoch setzen wir würdigen, fehlt hier – allein schon wegen des Um- nicht nur auf Bewährtes: Ausrichtung, Themen und fangs – der Raum. In den zwei Jahrzehnten seines En- Aufgabenstellungen werden ständig weiterentwickelt. gagements und seines begeisterten und begeisternden Daran anzuknüpfen und dabei auch die Weiterent- Einsatzes für die Parteienwissenschaften, vor allem wicklung des PRuF voranzutreiben, ist eine Aufgabe, auch in Hinwendung auf die interdisziplinäre For- der Sophie Schönberger sich als renommierte Wissen- schung, hat er den wissenschaftlichen Ruf dieser For- schaftlerin und gefragte Gesprächspartnerin der poli- schungseinrichtung nachhaltig mitbegründet. Ohne tischen Praxis ab Oktober 2018 widmen wird. Sie ihn wäre das PRuF heute nicht das, was es ist. Aber bringt die gesamte Bandbreite an Wissen und Kennt- nicht nur für die konstruktive und fruchtbare Zusam- nissen mit, die für die Leitung des PRuF von Bedeu- menarbeit in der Wissenschaft gilt Martin Morlok tung sind. Das gesamte PRuF-Team freut sich daher, Dank, sondern auch für das vertrauensvolle und kol- dass Prof. Dr. Sophie Schönberger sich entschieden legiale Miteinander bei der Institutsleitung. hat, den Ruf an die Heinrich-Heine-Universität anzu- nehmen, und heißt sie herzlich willkommen. Wir Dabei ist für die stets produktive Forscherpersön- freuen uns sehr auf die künftige Zusammenarbeit. lichkeit Martin Morlok selbstverständlich auch ein Ruhestand nur als ein Prozess dynamischer Weite- Das Vorwort hiermit beschließen zu können, wäre rentwicklung denkbar. Während er sich im Winterse- zu wünschen. Leider gilt es aber noch einen trauri- mester 2017/2018 und im Sommersemester 2018 gen Abschied zu nehmen. Das PRuF trauert um ei- noch selbst vertritt, bedeutet der Ruhestand auch im nen sehr geschätzten und hoch geachteten Kollegen. Anschluss vor allem ein Höchstmaß an Spielraum, Tim Spier, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbei- um sich dann frei von Dienstpflichten – dem PRuF ter des PRuF und Juniorprofessor für Politikwissen- aber weiterhin verbunden – neuen Projekten und schaft an der Universität Siegen, ist am 15. Novem- Ideen zuzuwenden. ber 2017 plötzlich und unerwartet im Alter von nur 42 Jahren verstorben. Als Jurist mit erstem Staatsex- Für die Nachfolge auf dem Lehrstuhl und die Leitung amen und exzellenter Politikwissenschaftler war er des PRuF konnte ab Oktober 2018 Prof. Dr. Sophie ein unschätzbarer Gewinn für das PRuF. Er hatte Schönberger gewonnen werden. Sophie Schönberger maßgeblichen Anteil daran, die von der DFG geför- ist seit 2012 Inhaberin des Lehrstuhls für Staats- und derte Parteimitglieder-Studie am PRuF durchzufüh- Verwaltungsrecht, Medienrecht, Kunst- und Kultur- ren und erfolgreich zu publizieren. Nicht nur seine recht an der Universität Konstanz. Im Akademischen Expertise, auch seine Hilfsbereitschaft, Kollegialität, Jahr 2017/2018 ist sie Fellow am Kulturwissen- Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit werden wir schaftlichen Kolleg Konstanz mit einem Forschungs- sehr vermissen. Sein Tod ist ein großer Verlust, für projekt zum Thema „Die Première Dame zwischen alle, die ihn kannten, und alle, denen dieses Glück Staatsrepräsentation und Privatisierung des Politi- nicht mehr zuteilwerden kann. schen“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Ver- fassungsrecht, Parteien-, Parlaments- und Wahlrecht, Düsseldorf, im März 2018

4 MIP 2018 24. Jhrg. Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] Aufsätze

Extremisten von gestern – Demokraten von Positionen aufgefallen und zwangen ihre Konkurren- ten zu einer Antwort auf die Frage, wie mit ihnen heute? Zum Umgang mit systemfeindlichen 6 Parteien am Beispiel von Grünen und verfahren werden sollte : Sollte man sie einbinden oder ausgrenzen, sich ihnen anpassen oder sich ab- Linkspartei grenzen? Beide haben zudem gemein, dass sie zwar – wie darzustellen sein wird – als Systemgegner be- Thorsten Holzhauser1 gannen, diese Position aber, wenn auch unterschied- lich weit, verlassen haben. Angesichts dieser Wand- lungen lohnt sich ein Blick auf die Entwicklung die- Die Frage des Umgangs mit dem „Extremen“ ist so alt ser Parteien: Was lässt sich anhand der Integrations- wie die Demokratie selbst. Während sie in der ersten geschichte von Linken und Grünen über Vorausset- Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Zusammen- zungen, Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs hang mit dem europäischen Faschismus und Kom- 2 mit Systemgegnern im demokratischen System der munismus debattiert wurde , ist sie in den vergange- Bundesrepublik sagen? Dabei kann gezeigt werden, nen Jahrzehnten mit dem Aufstieg neuer rechter und dass beide Parteien Objekte exkludierender, adaptie- linker Parteien in Europa erneut in den Fokus gerückt. render und inkludierender Strategien seitens ihrer Die Antworten gehen in Politik und Wissenschaft Konkurrenten wurden, was wiederum dazu beigetra- weit auseinander: Während die einen dazu aufrufen, gen hat, sie in unterschiedlichem Maße an den politi- Parteien, die als Gefahr für das politische System an- schen Basiskonsens der Bundesrepublik heranzufüh- gesehen werden, durch einen „Cordon Sanitaire“ zu ren und in diesem Sinne zu „entradikalisieren“. isolieren und von politischer Verantwortung fernzu- 3 halten , argumentieren andere, dass im Gegenteil „Extreme“ Parteien und politische Kultur eine zielgerichtete Einbindung zu einer Deradikali- sierung beitragen und damit systemstabilisierende Wer sich dem Umgang mit extremen Parteien zu- Wirkungen entfalten könne.4 wendet, muss zunächst klären, wen er damit meint und wen nicht. Auf die Frage, wann eine Partei als Blickt man auf die Empirie westlicher Demokratien, „radikal“, „extremistisch“ oder als „Anti-System- dann gibt es sowohl für den inkludierenden als auch Partei“ anzusehen ist (und welcher dieser Begriffe den exkludierenden Umgang mit Extremisten (und vorzuziehen ist), hat die Politikwissenschaft sehr un- solchen, die dazu erklärt werden) Präzedenzfälle.5 terschiedliche Antworten gegeben.7 In der Tradition Auch die Bundesrepublik hat in den letzten Jahr- der Politologie als „Demokratiewissenschaft“ wird zehnten Erfahrung mit dem Umgang mit systemkriti- oftmals die Haltung zur Demokratie selbst als Maß- schen Parteien gemacht. Das gilt nicht nur für den stab genommen: Wer den „demokratischen Verfas- rechten Rand: Auch die Partei Die Linke (bis 2005 sungsstaat“ und seine zentralen Normen ablehnt, ist PDS) und die Partei der westdeutschen Grünen sind ein „Extremist“, so die normative Extremismusfor- nach ihrem Entstehen mit dezidiert systemkritischen schung.8 Dem Zeithistoriker hingegen dienen solche Kategorien weniger als Analysewerkzeuge denn als 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand Vokabeln der Selbst- und Fremddeutung poli- am Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz. tisch-gesellschaftlicher Akteure, d.h. der zeit- und ortsgebundenen Positionsbestimmung innerhalb ei- 2 Siehe dazu ausführlich Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis in die Ge- nes politischen Diskurses. Und dieser Diskurs ist genwart. Göttingen 2006. noch dazu historisch wandelbar: Während beispiels- 3 Vgl. Stefan Rummens/Koen Abts, Defending Democracy. The weise Vorbehalte gegenüber gesellschaftlichem Plu- Concentric Containment of Political Extremism. In: Political ralismus oder die Sehnsucht nach autoritärer Füh- Studies 58 (2010), S. 649-665; Giovanni Capoccia, Defending Democracy: Reactions to extremism in inter-war Europe. In: 6 Vgl. Dan Hough/Michael Koß/Jonathan Olsen, Party European Journal of Political Research 39 (2001), S. 431-460. in Contemporary German Politics. Basingstoke 2007, S. 66; 4 Vgl. Joost van Spanje/Wouter van der Brug, The Party as für die kritische Einschätzung der Grünen in den 1980er Jahren Pariah: The Exclusion of Anti-Immigration Parties and its Ef- vgl. beispielhaft Manfred Langner (Hg.), Die Grünen auf dem fect on their Ideological Positions. In: West European Politics Prüfstand. Analyse einer Partei. Bergisch Gladbach 1987. 30 (2007), H. 5, S. 1022-1040; Wouter van der Brug/Meindert 7 Siehe Giovanni Capoccia, Anti-System Parties. A conceptual Fennema, Est-ce que le Cordon Sanitaire est Salutaire? In: reassessment. In: Journal of Theoretical Politics 14 (2002), Bob van den Broeck/Marie-Claire Foblets (Hg.), La Faillité H. 1, S. 9-35. de L’intégration. Le Débat Multiculturel en Flandre. Louvain-la- 8 Vgl. Eckhard Jesse/Isabelle-Christine Panreck, Populismus Neuve 2004, S. 199-203. und Extremismus. Terminologische Abgrenzung – das Bei- 5 Vgl. Rummens/Abts, Defending Democracy, S. 649. spiel der AfD. In: ZfP 64 (2017), H. 1, S. 59-76, dort S. 60.

5 Aufsätze Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] MIP 2018 24. Jhrg. rung heute als Indiz für extremistische Tendenzen verschieben. Das „Extreme“ kann so irgendwann gelten, waren sie zu Zeiten der Weimarer Republik „normal“ werden. Oder die Konkurrenten versuchen Teil des politischen „Mainstreams“ und aus damali- drittens, die fraglichen Konkurrenten selbst an den ger Sicht nur schwer als „extrem“ zu definieren.9 politisch-kulturellen Konsens heranzuführen, sie zu Daraus folgt, dass eine Partei immer im Zusammen- „zähmen“, in der Hoffnung, diese und ihre Wähler hang des jeweiligen politischen Systems, seiner langfristig in das politische System zu integrieren ideologischen Tradition und kulturellen Prägung ge- (inkludierende Strategie). Für die Wahrnehmung der sehen werden sollte. Politische Parteien sind dem- so Aufgewerteten kann das nachhaltige Folgen ha- nach nicht per se extrem, sondern nur innerhalb ei- ben: Wer für Koalitionen mit „demokratischen Par- ner bestimmten politischen Deutungskultur, die über teien“ infrage kommt, kann so „extrem“ nicht sein. Sagbares und Nichtsagbares, politisch Gewolltes und Das Zusammenspiel und die Folge dieser Strategien Nicht-Gewolltes entscheidet.10 soll im Folgenden am Beispiel der Entwicklung der Aus dieser Perspektive geht es daher auch nicht in Grünen und der PDS/Linkspartei näher beleuchtet erster Linie darum, ob eine Partei aus analytischer werden, ehe sie in einem Fazit zusammengefasst Sicht tatsächlich als extremistisch oder als Anti-Sys- werden. tem-Partei anzusehen ist, sondern ob sie innerhalb einer bestimmten politischen Deutungskultur als ex- Vom Anti-System-Protest in die Mitte der Gesell- trem markiert, von anderen als Gefahr für das politi- schaft – Die Grünen sche System beschrieben oder wahrgenommen wird. Im Umgang mit solchen Parteien rückt daher auch Die westdeutsche Partei Die Grünen wurde 1980 ge- wesentlich das Handeln ihrer Konkurrenten in den gründet und ging aus sehr unterschiedlichen Bewe- Fokus. Nimmt man ihre Perspektive ein, dann ergeben gungen der 1970er Jahre hervor, die vor allem ihr sich drei alternative Strategien, die in der politischen Protest gegen die bestehenden Parteien und ihr Ver- Praxis meistens in Mischformen vorkommen: ständnis von Ökologie als einem neuen gesellschaft- lichen Paradigma einte.11 Mit diesem Anspruch wa- Erstens können die „Etablierten“ eine dezidierte poli- ren die frühen Grünen, die 1983 erstmals in den tische und programmatische Abgrenzung pflegen Bundestag einzogen, für die „etablierten“ Kräfte der und versuchen, den jeweiligen Mitbewerber und sei- Bonner Republik zunächst einmal eine Herausforde- ne Positionen grundsätzlich als illegitim und gefähr- rung und gaben Anlass zum Streit, wie mit ihnen lich zu markieren (exkludierende Strategie). Die umzugehen sei. Aus historischer Perspektive ist auf- Konkurrenten können zweitens aber auch ihre eige- fällig, dass diese Diskussionen dezidiert an den be- nen Verhaltens- und Diskursmuster den radikaleren stehenden politisch-kulturellen Basiskonsens an- Mitbewerbern anpassen, und damit deren Positionen schlossen, wie er sich in den Nachkriegsjahrzehnten legitimieren und weniger extrem erscheinen lassen, zwischen CDU/CSU, SPD und FDP herausgebildet wie das zur Zeit einige etablierte Parteien Europas hatte und auch von großen Teilen der politisch-medi- im Hinblick auf manche populistische Position vor- alen Eliten außerhalb der Parteien unterstützt wurde. machen (adaptierende Strategie). Solche Strategien Die Grünen wurden als politische Kraft angesehen, dürften am ehesten dazu geeignet sein, den politisch- „die von dem bisherigen Konsens der im Bundestag kulturellen Basiskonsens eines Gemeinwesens nach- vertretenen demokratischen Parteien in entscheiden- haltig zu ändern und die Grenzen des Legitimen zu den Fragen abweicht“, wie es 1984 in einer CDU- Broschüre zu den Grünen hieß.12 Ihre Differenz zum 9 Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der bundesrepublikanischen Basiskonsens garantierte ih- Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Na- nen Aufmerksamkeit und Erfolg, markierte sie aber tionalismus zwischen 1918 und 1933. München 1962; Tho- auch als potenziell gefährlich und koalitionsunfähig. mas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Poli- tische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936. In: Geschichte und Ge- 11 Siehe hierzu Silke Mende, „Nicht links, nicht rechts, sondern sellschaft, Sonderheft 21 (2005), S. 91-127. vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen. München 2011; 10 Zum Begriff „politische Deutungskultur“ siehe Karl Rohe, Lothar Probst, Bündnis 90/Die Grünen (GRÜNE). In: Oskar The State Tradition in Germany: Continuities and Changes. Niedermayer (Hg.), Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden In: Dirk Berg-Schlosser/Ralf Rytlewski (Hg.), Political Cul- 2013, S. 509-540; Ferdinand Müller-Rommel/Thomas Poguntke, ture in Germany. Basingstoke/London 1993, S. 215-231; An- Die Grünen. In: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hg.), Par- dreas Dörner, Politische Kulturforschung als Cultural Studies. teien in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl. Opladen In: Othmar Nikola Haberl/Tobias Korenke (Hg.), Politische 1990, S. 319-361. Deutungskulturen. Festschrift für Karl Rohe. Baden-Baden 12 CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hg.), Die Grünen. Eine Analyse 1999, S. 93-110. der öko-marxistischen Radikalopposition. Bonn 1984, S. 3.

6 MIP 2018 24. Jhrg. Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] Aufsätze

Dieser westdeutsche Nachkriegskonsens hatte sich in schen Systemopposition“.18 Dass die Grünen vor den doppelter Abgrenzung von Nationalsozialismus und Erfahrungen Deutschlands mit Systemfeinden als Kommunismus herausgebildet. In Gegnerschaft zu je- staatspolitisch zweifelhaft behandelt und beispiels- der Form des „Totalitarismus“ wurde die bürger- weise von der Geheimdienstkontrolle ausgeschlos- lich-parlamentarische Ordnung, wie sie im Grundge- sen wurden, war in diesem Sinne nur logisch.19 setz festgeschrieben wurde, als Inbegriff und Garant Es waren aber nicht nur solche, dezidiert auf das de- politischer Freiheit und Demokratie angesehen. Um mokratische Verfassungssystem der Bundesrepublik diese zu schützen, sollte im Zweifel auch „Mut zur In- bezogene Kriterien, die in den Diskussionen angeführt toleranz“ gegenüber den Feinden des parlamentarisch- wurden. In ebenso grundsätzlicher Art und Weise demokratischen Systems gezeigt werden.13 wurden die industrie- und konzernkritischen Vorstel- Obwohl dieser parlamentarisch-antitotalitäre Grund- lungen grünalternativer Wirtschaftspolitik von den konsens seit den 1960er Jahren unter Druck vor allem maßgeblichen Konkurrenten als „Systembruch“ ange- von links geraten war14, wirkte er sich auch noch sehen und als illegitim zurückgewiesen.20 Spätestens stark auf die Perzeption der frühen Grünen durch ihre seit dem Godesberger Programm der SPD hatte sich Konkurrenten aus. Mit ihrer Wurzel in den west- in der Bundesrepublik ein breiter Konsens zugunsten deutschen K-Gruppen, aber auch mit ihrer parlamen- der wohlfahrtsstaatlich regulierten „sozialen Markt- tarismuskritischen Haltung wurden die Grünen zu- wirtschaft“ durchgesetzt, die als ökonomische Grund- nächst aus eben dieser Perspektive heraus kritisiert. lage des bundesdeutschen Erfolgsmodells angesehen Vor allem der Union erschien die neue Partei als wurde.21 Dass bis heute in Extremismusdiskursen wirt- „verdeckte[...] Plattform“ für kommunistische „Sys- schaftspolitische Fragen eine Rolle spielen, verweist temveränderer“ und „Verächter [...] der parlamenta- auf die zentrale Rolle der Marktwirtschaft für das poli- rischen Demokratie“.15 Den Grünen wurde vorge- tisch-kulturelle Selbstverständnis der Republik.22 worfen, einen „Umbau unserer Gesellschaftsord- Von ähnlicher Relevanz waren auch die sicherheits- nung“ und die Errichtung einer Rätediktatur anzu- politischen Vorstellungen der frühen Grünen. Auch streben.16 Noch 1993 wurde der CSU-Landesgruppen- sie wichen vom bundesrepublikanischen Konsens ab, chef Michael Glos mit der Äußerung zitiert, die Grü- wie er sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Zwei- nen seien „eine größere Gefahr für unser Land als die ten Weltkrieg herausgebildet hatte. Seit den 1960er Republikaner und die Rechten“.17 Aber auch viele Sozialdemokraten taten sich schwer mit den Alterna- 18 Wolf Michael Catenhusen, An die Adresse von Bahro und tiven und erblickten in deren scharfer Parteien- und Trampert. Grüne System-Opposition kann den Bonner Wende- Parlamentarismuskritik „bestürzende historische Pa- politikern nur recht sein. In: Sozialdemokratischer Pressedienst rallelen zur Politik der KPD in der Weimarer Repu- 39/234 vom 5. Dezember 1984, S. 2-3. Siehe hierzu auch blik“ und zu deren Strategie einer „antiparlamentari- Karsten D. Voigt, Ist eine parlamentarische Reform-Koalition möglich? Überlegungen zur Position der Sozialdemokraten gegenüber den Grünen. In: Sozialdemokratischer Pressedienst 42/18 vom 27. Januar 1987, S. 1-3; Norbert Seitz, Vom histo- 13 Carlo Schmid, Rede vor dem Parlamentarischen Rat am 8. Sep- rischen Projekt zum Schnittmengen-Deal. Die wechselvolle tember 1948. In: Wolfram Werner (Bearb.), Der Parlamentari- Geschichte von Rot-Grün. In: Volker Kronenberg/Christoph sche Rat 1948-1949. Akten und Protokolle. Band 9. München Weckenbrock (Hg.), Schwarz-Grün. Die Debatte. Wiesbaden 1996, S. 36. 2011, S. 47-64. 14 Vgl. Gert-Joachim Glaeßner, Kommunismus – Totalitarismus – 19 Vgl. Albrecht Funk, Verfassungswidrige, extremistische, radi- Demokratie. Studien zu einer säkularen Auseinandersetzung. kale und verfassungstreue Parteien. Zur Überprüfung der „Re- Frankfurt am Main et al. 1995, S. 25; Wolfgang Rudzio, Die publikaner“ durch die Ämter für Verfassungsschutz. In: Kriti- Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demo- sche Justiz 22 (1989), H. 4, S. 467-474, dort S. 472. kratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik 20 Catenhusen, An die Adresse von Bahro und Trampert, S. 3; Deutschland. Opladen 1988. CDU-Bgst. (Hg.), Die Rotgrünen, S. 8; CDU-Bgst. (Hg.), DIE 15 CDU-Bgst. (Hg.), Die Rotgrünen. Argumente gegen die rot- GRÜNEN. Geschichte, Programm und Politik. Bonn, 15. Au- grünen Experimente. Bonn 1983, S. 6; Dies. (Hg.), Die Grünen, gust 1982, S. 35. S. 4 & S. 7. 21 Vgl. Julia Angster, Konsenskapitalisms und Sozialdemokra- 16 CDU-Bgst. (Hg.), Die Grünen, S. 7 & S. 11; siehe hierzu auch tie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003, Paul Kraatz/Tim B. Peters, Zwischen Abgrenzung und Annä- S. 11; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Ge- herung. Das Verhältnis der CDU zu den Grünen 1980-1990. schichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die In: HPM 20 (2013), S. 121-146. Gegenwart. München 2009, S. 259 ff. 17 Michael Glos, zit. n. Axel Vornbäumen, Die Ostkomponente 22 Siehe hierzu Richard Stöss/Uwe Backes/Hans-Gerd Jaschke, namens PDS. In: FR vom 21. Dezember 1993; vgl. auch Glos, Streitgespräch zum Thema Linksextremismus. In: Ulrich Do- Grüne und PDS sind gefährlicher als Republikaner. In: FAZ vermann (Hg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik vom 8. Dezember 1993. Deutschland. 2. Aufl. Bonn 2012, S. 291-318, v.a. S. 301.

7 Aufsätze Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Jahren hatten alle Parteien des Bundestags im demokratie der potenzielle Bündnispartner abhan- Grundsatz die Einbindung der Bundesrepublik in das dengekommen. Eine rot-grüne Zusammenarbeit – und westliche Bündnissystem akzeptiert. Die spezifische damit ein Wechsel hin zu einer inkludierenden Stra- Mischung aus Multilateralismus, Atlantizismus und tegie – wurde daher für manche Sozialdemokraten zu Europäismus war in Abgrenzung sowohl vom Natio- einem erstrebenswerten Modell, um die eigene Mehr- nalsozialismus als auch zur Ostbindung der DDR zum heitsfähigkeit zurückzugewinnen. Die seit den 1980er Teil der bundesdeutschen „Staatsräson“ geworden.23 Jahren gegen innerparteiliche Widerstände versuchten Die abweichende Position der Grünen dagegen wurde rot-grünen Koalitionen auf Landesebene bis hin zum von ihren Gegnern zur Gefahr für die „außenpoliti- Eintritt der Grünen in die Bundesregierung 1998 wa- schen Grundlagen für unsere Freiheit und unsere Si- ren der sichtbare Ausdruck dieser Bemühungen.27 cherheit“ erklärt, wie die CDU 1983 in einer Argumen- Vorangetrieben wurden diese von einer jüngeren Ge- tesammlung gegen „Die Rotgrünen“ formulierte.24 neration von SPD-Politikern, die auch ihrer eigenen Hauptkritikpunkte waren dabei das distanzierte Ver- Partei ein „angegrüntes“28 Profil verpassten: Das 1989 hältnis der Grünen zu den USA und ihre Forderung verabschiedete Berliner Programm der SPD mit sei- nach einer Auflösung der NATO, was als „Unter- nem Konzept eines sozial-ökologischen „Umbaus“ werfung unter den Willen Moskaus“ galt.25 von Wirtschaft und Gesellschaft stellte dabei den Die frühen Grünen erschienen in den Augen ihrer Abschluss einer Öffnung der SPD für grünalternative Positionen und damit einer stärker adaptierenden po- Gegner also in erster Linie als antiparlamentarische, 29 antikapitalistische und antiwestliche Protestpartei litischen Strategie im Umgang mit den Grünen dar. und damit als Antithese zum politisch-kulturellen Und noch mehr: Die gesamte politische Kultur der Basiskonsens der Bundesrepublik.26 Im politischen Bundesrepublik hat sich seit Entstehung der Grünen Diskurs wurde dabei in gleichem Maße auf Grund- signifikant verändert, sodass manche originär grüne gesetz und Verfassungsnormen wie auf außerkonstitu- Position heute selbst im bürgerlichen Lager als tionelle Fragen der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik mehrheitsfähig gilt. verwiesen. Der Charakter der frühen Grünen wurde Diese Mischung aus Adaption und Inklusion seitens nicht ausschließlich am „demokratischen Verfassungs- ihrer Konkurrenten korrespondierte mit deutlichen staat“ des Grundgesetzes gemessen, sondern an der Wandlungsprozessen innerhalb der Grünen selbst. Gesamtheit des politisch-kulturellen Basiskonsenses Gerade die Aussicht einer stärkeren Einbindung in der Bundesrepublik. politische Verantwortung übte dabei eine formierende Die darauf basierende Exklusionsstrategie im Umgang Wirkung aus und trug dazu bei, dass sich in den er- mit den Grünen aber wurde bald schon prekär, je bittert geführten innerparteilichen Kämpfen schließ- stärker sich die Einsicht Bahn brach, dass damit kei- lich der „realpolitische“ Flügel der Grünen durchset- ne grünen Wahlerfolge verhindert werden konnten. zen konnte. Diese Auseinandersetzungen um Pro- Vor allem innerhalb der SPD entstanden Anreize, die gramm und Strategie können auch als Streit für und Öko-Partei einzubinden statt auszugrenzen. Nach dem gegen eine Annäherung an den politisch-kulturellen Wechsel der FDP von der sozialliberalen zur christ- Basiskonsens der Bundesrepublik verstanden werden: lich-liberalen Koalition im Jahr 1982 war der Sozial- Während die einen in ihrer Partei eine antikapitalisti- sche und parlamentarismuskritische Antisystem-Be- 23 Vgl. Werner Link, Die außenpolitische Staatsräson der Bun- wegung sehen wollten, vertraten andere eine dezi- desrepublik Deutschland. Überlegungen zur innerstaatlichen Struktur und Perzeption des internationalen Bedingungsfel- dierte Abkehr von linker Systemkritik und sahen sich 30 des. In: Manfred Funke et al. (Hg.), Demokratie und Diktatur. durch das Ende des Realsozialismus darin bestätigt. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Nach jahrelangen Richtungskämpfen kehrte schließ- Europa. Bonn 1987, S. 401-416; dort S. 404; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik 27 Siehe hierzu ausführlich Seitz, Vom historischen Projekt zum Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart Schnittmengen-Deal. 2006, S. 195; Steffen Kailitz, Die politische Deutungskultur 28 Ebd., S. 53. der Bundesrepublik Deutschland im Spiegel des „Historiker- 29 streits“. In: Ders. (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Vgl. Vorstand der SPD (Hg.), Grundsatzprogramm der Sozi- Der „Historikerstreit“ und die deutsche Geschichtspolitik. aldemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Pro- Wiesbaden 2008, S. 14-37, dort S. 26. gramm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- lands am 20. Dezember 1989 in Berlin. Bonn 1990, S. 37 ff. 24 CDU-Bgst. (Hg.), Die Rotgrünen, S. 21. 30 Vgl. Frieder Dittmar, Das Realo-Fundi-Dispositiv. Die Wirt- 25 CDU-Bgst. (Hg.), Die Grünen, S. 18; vgl. auch Dies. (Hg.), schaftskonzeptionen der Grünen. Marburg 2007, S. 328; Die Rotgrünen, S. 7 & S. 21. Hans-Joachim Veen & Jürgen Hoffmann, Die Grünen zu Be- 26 Siehe hierzu auch Funk, Verfassungswidrige, extremistische, ginn der neunziger Jahre. Profil und Defizite einer fast eta- radikale und verfassungstreue Parteien, S. 470 ff. blierten Partei. Bonn; Berlin 1992, S. 56.

8 MIP 2018 24. Jhrg. Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] Aufsätze lich Ende der 1980er Jahre ein Großteil des Antisys- gen sich stattdessen innerhalb eines breiten Grund- temflügels den Grünen den Rücken, weil er der Par- konsenses, der sie bis weit ins bürgerliche Lager hin- tei eine übermäßige Anpassung an das bundesrepu- ein koalitionsfähig macht. Dass keiner der genannten blikanische System und den dahinterstehenden Politik- Punkte in den „Jamaika“-Sondierungen nach der konsens vorwarf: „In den Grünen gibt es heute nur Bundestagswahl 2017 eine Rolle spielte, demons- noch wenig Zustimmung für eine Kritik des Parla- triert diese Wandlung mehr als alles andere. mentarismus oder eine Ablehnung von Regierungsbe- teiligungen im Rahmen des Kapitalismus“, wie es Auf dem Weg in die Bundesrepublik – von der 1990 in einer Austrittserklärung linker Parteimitglie- SED zur Partei Die Linke der hieß.31 Während sich die Grünen zunehmend von ihrem An- Stattdessen setzten die Grünen in den 1990er Jahren ti-System-Protest verabschiedeten, tauchte im politi- auf eine moderatere, sich dem Basiskonsens der schen System der Bundesrepublik eine neue system- Bundesrepublik annähernde Außendarstellung, was in kritische Partei auf: Die Partei des Demokratischen der Forschung als Entideologisierung und „Professi- Sozialismus (PDS). Angesichts ihrer Herkunft aus onalisierung“ der Partei gedeutet wurde.32 Das er- der DDR-Staatspartei SED kann es nicht verwun- leichterte der Partei, in rot-grüne Landesregierungen dern, dass die PDS gerade in ihren Anfangsjahren einzutreten, was wiederum den ideologischen Neu- noch sehr viel dezidierter als die westlichen Grünen orientierungsprozess vorantrieb: Seit Beginn der als Antithese zum bundesrepublikanischen Basiskon- 1990er Jahre bekannten sich die Grünen zur parla- sens erschien. Ähnlich wie die Grünen zuvor standen mentarischen Demokratie des Grundgesetzes und auch große Teile der PDS der politischen und öko- suchten nach Alternativen im System, statt zum Sys- nomischen Ordnung der Bundesrepublik kritisch ge- tem.33 Das Verhältnis zur bundesdeutschen Wirt- genüber, in der sie eine „Herrschaft des Kapitals“ sa- schaftsordnung basierte fortan auf einer „kritischen hen.37 In der Außenpolitik warnte die Partei vor ei- Akzeptanz der Marktwirtschaft“.34 Und auch in au- nem „vierte[n] Reich, das die NATO verstärkt“,38 ßenpolitischen Fragen setzte sich innerhalb der Grü- und forderte – wie die Grünen zuvor – eine Auflö- nen eine Neuorientierung durch, die sie immer wei- sung der transatlantischen Allianz.39 Und gerade ter von radikalpazifistischen und NATO-kritischen auch die antitotalitäre und antiextremistische Tradi- Orientierungen ihrer Anfangsjahre entfernte.35 Am tion der Bundesrepublik, inklusive ihrer sogenannten Ende war es die rot-grüne Regierungsbeteiligung, die „wehrhaften Demokratie“, stellte für Postkommunis- einen sich bereits länger vollziehenden Prozess kata- ten ein Feindbild dar, das politische Gegner als Ver- lysierte: Nach heftigen Debatten und einem ikoni- fassungsfeinde diskriminiere.40 schen Farbbeutelwurf auf Außenminister Joschka Fischer entschied sich ein grüner Parteitag im Mai Diese fundamental-systemkritische Haltung, die in 1999 schließlich, den NATO-Krieg gegen Jugosla- vielem der Positionierung der frühen Grünen ähnel- wien mitzutragen.36 te, wurde vor dem Hintergrund der SED-Vergangen- heit als umso problematischer angesehen, zumal die Im Ergebnis haben die heutigen Grünen ihre frühen PDS auch in geschichtspolitischer Hinsicht polari- NATO-kritischen Positionen ebenso hinter sich ge- sierte: Während die Konkurrenten Anfang der lassen wie andere Anti-System-Positionen und bewe- 1990er Jahre versuchten, die Erinnerung an die 31 Archiv Grünes Gedächtnis, B.I.3 – Bu/Vo/BGSt, Bundesvor- „SED-Diktatur“ neben der „Aufarbeitung“ der NS- stand [122]: Marianne v. Ilten u.a., Wir verlassen die Grüne Vergangenheit zum zweiten Pfeiler eines „neuen an- Partei. Hamburg, 6.4.90. 37 Vgl. Lothar Probst, Die PDS – von der Staats- zur Regie- 32 Vgl. Markus Klein & Jürgen W. Falter, Der lange Weg der rungspartei. Eine Studie aus Mecklenburg-Vorpommern. Grünen. Eine Partei zwischen Protest und Regierung. Mün- Hamburg 2000, S. 25 f. chen 2003, S. 61 f.; Veen & Hoffmann, Die Grünen zu Be- 38 ginn der neunziger Jahre, S. 162. Archiv Demokratischer Sozialismus (ADS), PDS-PV-050: Stenografische Niederschrift der Tagung des Parteivorstandes 33 Vgl. Niko Switek, Bündnis 90/Die Grünen. Koalitionsent- der SED-PDS am 6. Januar 1990 (Rede Gregor Gysi), S. 18; scheidungen in den Ländern. Baden-Baden 2015, S. 106 f. vgl. auch PDS (Hg.), Programm der Partei des Demokrati- 34 Dittmar, Das Realo-Fundi-Dispositiv, S. 342 & S. 368-372. schen Sozialismus. Beschlossen von der 1. Tagung des 3. Par- 35 Siehe hierzu Andreas Stifel, Vom erfolgreichen Scheitern ei- teitages der PDS, 29. bis 31. Januar 1993. Berlin 1998, S. 5. ner Bewegung. Bündnis 90/Die Grünen als politische Partei 39 Vgl. PDS (Hg.), Programm [1993], S. 23. und soziokulturelles Phänomen. Wiesbaden 2018, S. 100-117. 40 Dt. Bundestag, Drs. 12/6570 (12. Januar 1994), S. 42; vgl. 36 Vgl. Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland auch Sebastian Prinz, Die programmatische Entwicklung der 1998-2005. München 2013, S. 76-82; Stifel, Vom erfolgrei- PDS. Kontinuität und Wandel der Politik einer sozialistischen chen Scheitern einer Bewegung, S. 111-117. Partei. Wiesbaden 2010, S. 189 f.

9 Aufsätze Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] MIP 2018 24. Jhrg. titotalitären Konsenses“ zu machen,41 lehnte die PDS wie der Berliner CDU-Senator Elmar Pieroth, ein Un- jeden Versuch der „moralischen Vernichtung der ternehmer aus Rheinland-Pfalz, in PDS-Manier die DDR“42 ab und hielt an der Deutung der DDR als ei- DDR-Vergangenheit vor „pauschalen Angriffe[n]“ nem legitimen Versuch fest, die faschistische Ver- aus dem Westen in Schutz nahm,46 dann kann das gangenheit Deutschlands zu überwinden und eine auch als Versuch verstanden werden, die bei einem gerechte Gesellschaft zu errichten.43 Für ihre Kon- Teil des Elektorats erfolgreichen Sprachformeln und kurrenten ebenso wie für einen großen Teil der poli- Deutungsmuster der Postkommunisten zumindest in tischen Öffentlichkeit blieben diese Positionen jen- Teilen zu übernehmen, um mit deren Wählerinnen seits des etablierten Konsenses lange Beweis, dass und Wählern „ins Gespräch zu kommen“, wie die die PDS nichts gelernt hatte und eine „linksradikale“ damalige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel es bzw. „extremistische“ Partei darstellte, mit der sich ausdrückte.47 jede Kooperation verbot.44 Selbst die Grünen schlos- Sehr viel bedeutsamer aber war langfristig, dass sich sen sich dieser Position an und nutzten die Gelegen- insbesondere bei Sozialdemokraten und Grünen seit heit, durch Abgrenzung von der PDS ihre eigene Mitte der 1990er Jahre Elemente einer inkludierenden Wandlung zu demonstrieren: (Auch) die PDS müsse Strategie im Umgang mit der „SED-Nachfolgepartei“ sich von „linksradikalen Positionen“ trennen, einen abzeichneten. Zwar blieb Abgrenzung der dominie- „realistischen Kurs“ einschlagen und „aus demokra- rende Modus – eine rot-rot-grüne Koalition auf Bun- tischer Überzeugung in der Bundesrepublik ankom- desebene bleibt bis heute für viele undenkbar. Auf men“, um als legitime und vor allem bündnisfähige Landesebene dagegen wurde die PDS schon in den politische Kraft anerkannt zu werden, wie Fraktions- 1990er Jahren in gemeinsame Bündnisse integriert.48 chef Joschka Fischer im Jahr 1996 forderte.45 Die anfänglich große Aufregung hierüber ebbte Aber auch in der Auseinandersetzung mit der PDS schnell ab. Als SPD und Grüne in Sachsen-Anhalt zeigte sich schon bald, dass die eingeschlagene Ex- 1994 erstmals beschlossen, entgegen früherer Bekun- klusionsstrategie ihrer Konkurrenten keine Wahlerfol- dungen eine Minderheitsregierung mit Tolerierung der ge verhinderte, sondern ihre Position als ostdeutsche PDS anzustreben, sahen westdeutsche Beobachter Protestpartei eher noch bestärkte. Je deutlicher dies darin noch einen „Amoklauf“,49 der die „Gemein- wurde, desto eher versuchten sich die Mitbewerber, samkeit der Demokraten“ aufkündige.50 Nicht weniger und zwar quer durch alle politischen Lager, an einer als eine „Kampfansage für [sic!] die Demokratie“ sei stärker adaptierenden Strategie. Wenn selbst Politiker das, so der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl vor sei- ner Fraktion.51 Aber schon Ende der 1990er Jahre 41 Siehe dazu Thomas Schaarschmidt, Auf dem Weg zu einem hatte sich das Klima so weit geändert, dass die SPD neuen antitotalitären Grundkonsens? Die Erinnerung an die in Mecklenburg-Vorpommern ganz offiziell mit der Diktaturvergangenheit und der Übergang zur Demokratie in PDS koalieren und eine „Normalisierung der Ver- Deutschland nach 1945 und 1989. In: Thomas Großbölting et 52 al. (Hg.), Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der hältnisse“ propagieren konnte. Diktaturen in Europa und ihre Folgen. Essen 2010, S. 29-41. Die eingeschlagene Inklusionsstrategie wurde nun als 42 ADS, BT/12.WP-007: Uwe-Jens Heuer, Ekkehard Lieberam edukatorische Maßnahme begründet: Wie die Grünen & Gerhard Riege, Positionspapier zum Tribunalvorschlag und zur Einsetzung einer Enquetekommission. Vorlage für die 7. 46 CDU streitet um ‚Rote Socken’-Kampagne. In: Morgenpost Sitzung der Abgeordnetengruppe PDS/LL am 18. Februar vom 26. August 1996. 1992. 16. Februar 1992, S. 2. 47 Interview mit Angela Merkel. In: Deutschlandfunk vom 21. 43 Vgl. Dan Hough, The fall and rise of the PDS in eastern Ger- November 1999, URL . 44 Vgl. für CDU, SPD und FDP: Beschluß Nr. H81. In: CDU-Bgst. 48 Siehe hierzu ausführlich Thorsten Holzhauser, „Niemals mit (Hg.), 3. Parteitag der Christlich Demokratischen Union Deutsch- der PDS“? Zum Umgang der SPD mit der SED-Nachfolge- lands. Niederschrift. Düsseldorf, 26.-28. Oktober 1992. Bonn partei zwischen Ausgrenzungs- und Integrationsstrategie [1992], S. 440; Die Chancen der Einheit endlich nutzen. Dresd- (1990-1998). In: VfZ 62 (2014), H. 2, S. 285-308. ner Erklärung des SPD-Parteivorsitzenden Rudolf Scharping und 49 Rot-Grün von Gnaden der PDS? In: Süddeutsche Zeitung der ostdeutschen Landes- und Fraktionsvorsitzenden. In: So- vom 29. Juni 1994. zialdemokratischer Pressedienst 49/154 vom 12. August 1994, 50 S. 5 f.; Cornelia Schmalz-Jacobsen (Hg.), F.D.P. contra PDS: Einheitsfront de luxe. In: FAZ vom 29. Juni 1994. Argumente statt Polemik. Eine Kurzstudie der F.D.P.-Bundesge- 51 Archiv für Christlich-Demokratische Politik, CDU/CSU-Frak- schäftsstelle. In: Fdk 314/90 vom 2. November 1990, S. 9 f. tion, 12. WP, 08-012-127/2: Protokoll der Sondersitzung der 45 Joschka Fischer, Ohne wirkliche Erneuerung ist die PDS nicht Fraktion am 22. Juli 1994, S. 15 (Wortbeitrag Helmut Kohl). koalitionsfähig. In: Leipziger Volkszeitung vom 27. Juli 52 Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), SPD-PV, Protokoll 1996; Ders., „Die Lust am Verändern“. Interview. In: Der der Klausurtagung des Parteivorstandes am 9. Oktober 2000 Spiegel 34/1996 vom 19. August 1996, S. 52-55, dort S. 55. in Berlin, S. 9.

10 MIP 2018 24. Jhrg. Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] Aufsätze zuvor sollte auch die PDS zu einer „normalen“ Partei es der PDS-Landesvorsitzende von Mecklenburg- innerhalb des politischen Systems der Bundesrepublik Vorpommern Helmut Holter ausdrückte.58 „Akzep- domestiziert werden.53 Schließlich fördere das Mitre- tanz und Entdämonisierung“59 wurden zu Schlüssel- gieren „immer die allmähliche Integration einer oppo- begriffen in der politischen Strategie der PDS. sitionellen Partei und entzaubert den Protest – dies ist In der Folge vollzogen auch die Sozialisten einen nicht zuletzt Erfahrung des Umganges der SPD mit ähnlichen, wenn auch keineswegs genauso umfängli- den Grünen aus den 80er Jahren“, wie es nun in der chen Annäherungsprozess an die hegemoniale politi- SPD-Zentrale hieß.54 Die PDS sollte demnach nicht sche Kultur der Bundesrepublik, wie ihn die Grünen ausgegrenzt, sondern durch Einbindung „von der zuvor erlebt hatten. Ähnlich wie bei diesen veränder- Systemopposition weg“55 und an den politischen Ba- te sich auch der Blick der PDS-Sozialisten auf das siskonsens der Bundesrepublik herangeführt werden. „System“ Bundesrepublik: Die parlamentarische De- Konkret beinhaltete dies, dass die PDS nicht nur mokratie erschien manchem früheren Kommunisten Grundgesetz und Demokratie anerkennen und sich immer deutlicher als „Gewinn“60; und vor allem wo von ihrer Vergangenheit distanzieren müsse, sondern man selbst regierte, verlor man schnell seine system- dass sie auch die Bedingungen des modernen Kapi- transzendierenden Ambitionen und war im Gegenteil talismus zu akzeptieren und ihre „Skepsis gegenüber bemüht zu zeigen, dass die PDS „strikt auf dem Bo- [der] NATO“ abzulegen habe, wie SPD-Generalse- den des Grundgesetzes steht und eine realistische kretär Müntefering im Oktober 2000 mit deutlicher Politik betreiben kann“, wie die PDS-Fraktion in Referenz auf den noch immer geltenden bundesrepu- Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 1999 formulier- blikanischen Basiskonsens forderte.56 te.61 Dass die aus der Partei hervorgegangene Linke Dass diese Domestizierungsstrategie ganz im Sinne in Ländern wie Brandenburg und Berlin seit Jahren sozialdemokratischer Machtpolitik war, verstand sich mitregiert und in Thüringen sogar den Ministerpräsi- von selbst. Allerdings heißt das nicht, dass sie er- denten stellt, ohne das „System“ maßgeblich verän- folglos war. Bedeutsam war in diesem Zusammen- dert zu haben, steht deutlich in dieser Tradition. hang, dass die tonangebende „reformpolitische“ Füh- Selbst in der für Sozialisten so kritischen Frage der rungsgruppe innerhalb der PDS diese Fremddeutung Wirtschaftsordnung setzte bald ein Wandel ein. als „postkommunistisches Lernprojekt Richtung Re- Nachdem sie mit dem Scheitern des Realsozialismus formpolitik und westliche Demokratie“57 selbst unter- ihres ökonomischen Modells verlustig gegangen wa- stützte und ihrerseits einen auffallend deutlichen Wil- ren, orientierten sich große Teile der Partei zuneh- len zur Inklusion im politischen System der Bundesre- mend an sozialdemokratischen Konzepten. Obwohl publik entwickelte. Ganz in der staatsnahen Tradition sie sich noch immer als „sozialistisch“ definierten, der SED stehend, wollten führende Politikerinnen begannen die „Reformer“ an der Parteispitze, die und Politiker der PDS wie Gregor Gysi, André Brie „Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft“62 oder Petra Pau auch im „bürgerlichen Parlamentaris- zu preisen. Sie erklärten sich selbst zu Verteidigern des mus“ mitmischen: „Wer sich nicht als Teil dieser „rheinischen Kapitalismus“ Westeuropas gegen die Gesellschaft versteht, wird ihr keine Impulse zur vermeintlich unsozialere angelsächsische Variante, Veränderung und Entwicklung geben können“, wie 53 AdsD, SPD-LV MV, 3/MVAB000122: Überlegungen zu den 58 ADS, PDS-LV MV, Alt-Sign. 2008-XVII-560: Helmut Holter, Gesprächen zwischen SPD und PDS [1995]. ... aber Lichtjahre liegen vor uns. 10 Jahre PDS Mecklenburg- 54 AdsD, Dep. Thierse, 1/WTAA001646: Klaus-Jürgen Scherer, Vorpommern. Rede zur Podiumsveranstaltung „PDS – Überlegungen zur Auseinandersetzung der Sozialdemokratie Schwieriges und offenes Projekt“. Rostock, 17. Juni 2000, S. 3. mit der PDS. Beitrag für die Konferenz „Die PDS und ihre 59 Diether Dehm, Das Magdeburger Modell schafft Akzeptanz Bedeutung in der Parteienlandschaft des vereinigten Deutsch- und Entdämonisierung. Rede auf der Hauptversammlung der land“ 17. und 18. März 1995 in der Akademie für Politische PDS Magdeburg am 17. Juli 1999. In: PDS-Pressedienst vom Bildung Tutzing. 18. März 1995, S. 9. 13. August 1999. 55 Die PDS als möglicher Koalitionspartner der SPD? Interview 60 ADS, PDS-LV MV, Alt-Sign. 2008-XVII-51: Helmut Holter, mit Franz Müntefering. In: Deutschlandfunk vom 11. Oktober „Zu den Ergebnissen der Wahlen ’94 und zur weiteren Politik 2000, URL . Schwerin, 3. Oktober 1994, S. 30. 56 Ebd. 61 ADS, Gysi-008: PDS-Fraktion, „Ein Jahr rot/rot“. Bilanz und 57 Klaus-Jürgen Scherer, Die SPD und die PDS. In: Peter Barker Schlussfolgerungen. 18. Oktober 1999, S. 1. (Hg.), The Party of Democratic Socialism in Germany. Modern 62 Gregor Gysi, Gerechtigkeit ist modern. Eine notwendige Ant- Post-Communism or Nostalgic Populism? Amsterdam/Atlanta wort auf Gerhard Schröder und Tony Blair / Zwölf Thesen für 1998, S. 182-193, dort S. 184. eine Politik des modernen Sozialismus. Berlin 1999, S. 4.

11 Aufsätze Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] MIP 2018 24. Jhrg. wie ein PDS-Parteitagsbeschluss im Jahr 2000 for- partei entgegensteht.66 Allerdings ist nicht ausge- mulierte.63 Auf dieser Grundlage konnte sich die Partei schlossen, dass auch die Linkspartei nach eventuel- schließlich 2005 mit enttäuschten Sozialdemokraten lem Eintritt in eine Bundesregierung eine ähnlich und Gewerkschaftern aus dem Westen verbünden und unwahrscheinliche Hinwendung zum Atlantizismus er- sich als „Linkspartei“ neu positionieren. Langfristig leben könnte wie die Grünen in ihrer rot-grünen Re- ging dieser Wandel so weit, dass selbst führende gierungszeit. Dann wäre vom Anti-System-Protest Vertreterinnen und Vertreter des linken Parteiflügels der Linken auch in dieser Hinsicht nicht mehr viel zu wie Sahra Wagenknecht, in den 1990er Jahren noch spüren. Aushängeschild des orthodox-kommunistischen Flü- gels, nun öffentlich als Marktwirtschaftler gesehen Fazit werden wollten und in bürgerlichen Feuilletons mit dem Erbe des Ordoliberalismus kokettierten: Ludwig Aus den dargelegten Ausführungen lassen sich drei Erhard wäre heute bei der Linkspartei „am besten auf- Beobachtungen ableiten. Erstens hat es in der Ge- gehoben“, so Wagenknecht im Dezember 2012.64 schichte der Bundesrepublik Parteien gegeben, die anfänglich als Gefahr für das politische System und Eine wesentliche Folge dieser Entwicklung ist, dass seine Normen angesehen wurden, sich von diesem die Diskussionen um Die Linke stark abgeklungen Image aber zunehmend lösen konnten. Es wurde ar- sind. Dass die Linkspartei heute kaum mehr und die gumentiert, dass diese Wahrnehmung wesentlich mit Grünen überhaupt nicht mehr als grundsätzliche Ge- der Distanz bzw. Nähe dieser Parteien zum etablier- fahr für unsere Demokratie beschrieben werden, ist ten politisch-kulturellen Basiskonsens der Bundesre- sichtbarer Ausdruck dieser doppelten Verschiebung: publik zusammenhängt. Aus dieser Sicht ist „Extre- einer Wahrnehmungsverschiebung, die aber zugleich mismus“ im politischen Diskurs weniger eine abso- auch mit einer Profilveränderung zusammenhängt: lute denn eine relationale Kategorie und sie bezieht Die Linkspartei und noch mehr die Grünen haben sich nicht nur auf das konstitutionelle System, son- ihren Widerstand gegen die hegemoniale politische dern auf die gesamte politische Deutungskultur, die Deutungskultur der Bundesrepublik nach und nach auch solche Faktoren der Wirtschafts- und Sicher- aufgegeben und wurden zugleich stärker in politi- heitspolitik umfasst, die nicht unbedingt als Kernbe- sche Verantwortung eingebunden, wobei sich beide stand des „demokratischen Verfassungsstaates“ an- Prozesse gegenseitig antrieben und verstärkten. gesehen werden können. Andererseits hat die Linkspartei bisher weder pro- Zweitens wurde am Beispiel der Grünen und der grammatisch noch in der öffentlichen Wahrnehmung PDS/Linkspartei dargestellt, dass das Verhalten der einen ähnlich umfänglichen Wandel durchlebt wie Konkurrenz einen entscheidenden Einfluss auf die die Grünen. Zum einen wirft die SED-Vergangenheit politischen Wandlungen systemkritischer Parteien noch immer einen Schatten, der nur sehr allmählich ausüben kann. So trug in beiden Fällen eine Mi- verblasst. Zum anderen aber hat sich die Linkspartei schung aus exkludierenden, adaptierenden und in- – in bewusster Abgrenzung von den Grünen – bis kludierenden Strategien dazu bei, sowohl Grüne als heute nicht auf den transatlantischen Konsens ihrer auch – in geringerem Maße – PDS/Linkspartei an Konkurrenten eingelassen. Vorsichtige Versuche der den politischen Basiskonsens der Bundesrepublik Parteiführung wie beispielsweise auf dem PDS-Par- heranzuführen und zu entradikalisieren – wobei in teitag in Münster im Jahr 2000, die Partei durch eine beiden Fällen der Aussicht auf symbolische Aner- flexiblere Positionierung für eine „realistische und kennung und auf praktische Machtbeteiligung eine mehrheitsfähige“ Außenpolitik zu öffnen, schlugen wichtige Anreizfunktion zukam.67 fehl und wurden durch die Parteimehrheit zurückge- wiesen.65 Die außenpolitische „Unzuverlässigkeit“ Allerdings muss drittens auch konstatiert werden, der Sozialisten bleibt daher ein zentraler Faktor, der dass der Erfolg einer Inklusionsstrategie notwendiger- einer bundespolitischen Aufwertung zur Regierungs- weise die Bereitschaft innerhalb der strategischen

63 Politische Erklärung des Münsteraner Parteitages der PDS. In: 66 Vgl. Cordula Eubel, Matthias Meisner & Stephan Haselsberger, Disput 4/2000, S. 19-20, dort S. 19. Rot-Rot-Grün zweifelt an Rot-Rot-Grün. In: tagesspiegel.de 64 „Wir brauchen Märkte“. Interview mit Sahra Wagenknecht. vom 12. Juni 2017, URL . heit statt Kapitalismus. Frankfurt/Main 2011. 67 Zu dem Ergebnis, dass gemischte Strategien im Umgang mit 65 6. Parteitag in Münster vor mehreren schwerwiegenden Ent- Extremisten erfolgreich sein können, kommt auch Capoccia, scheidungen. In: PDS-Pressedienst vom 7. April 2000. Defending Democracy.

12 MIP 2018 24. Jhrg. Holzhauser – Extremisten von gestern – Demokraten von heute? [...] Aufsätze

Führungsgruppe der zu integrierenden Partei voraus- lang, antidemokratische Systemfeinde einzuhegen.68 setzt, sich auf die maßgeblichen politisch-kulturellen Und ganz abgesehen davon, ob eine Inklusion der Codes und Spielregeln einzulassen, um als legitime Rechten normativ wünschenswert ist, gibt es aktuell und bündnisfähige politische Kraft anerkannt zu wer- auch wenig Indizien dafür, dass eine solche Strategie den. Das war sowohl unter grünen „Realos“ (und Re- im Fall der AfD eine gangbare Alternative darstellt: gierungslinken) als auch unter den sogenannten „Re- Zum einen gibt die Partei wenig Anlass zu glauben, formern“ der PDS der Fall. Diese waren in unter- dass sie sich domestizieren ließe. Vielmehr scheint schiedlichem Maße bereit, bestimmte politische Po- die Partei ihr Glück weiter in der radikalen und ma- sitionen aufzugeben, die als mit dem politisch-kultu- ximalen Abgrenzung vom politischen Basiskonsens rellen Basiskonsens der Bundesrepublik unvereinbar ihrer Konkurrenten zu suchen. Und zum anderen angesehen werden, um auf diese Weise Anerken- scheinen die Etablierten momentan eher auf Adapti- nung und Koalitionsfähigkeit zu gewinnen – auch on zu setzen: Man grenzt sich zwar von der AfD als wenn das zugleich einen gewissen Profilverlust als Partei ab, nähert sich in Teilen aber deren Positionen Protestpartei bedeutete. an – mit der Gefahr, dass sich die politische Kultur der Bundesrepublik eher den Rechten anpasst als Die Zähmung des „Extremen“ erscheint daher eben- umgekehrt. so möglich wie riskant. Dafür spricht nicht nur der Weg der Grünen in die politische Mitte, sondern auch das Beispiel der Linkspartei, die aktuell sicht- lich damit kämpft, ihre Ausstrahlung auf Protestwäh- ler zu behaupten – gerade auch angesichts neuer Konkurrenz durch die Alternative für Deutschland. Diese gibt heute mehr als jede andere Partei in Deutschland Grund zur Diskussion um den richtigen Umgang mit Populisten und Extremisten. Lassen sich aus den dargelegten Ausführungen zur Entwick- lung von Grünen und PDS also auch Rückschlüsse für den Umgang mit der AfD ableiten? Auch wenn es nicht die Sache des Historikers ist, politische Ratschläge zu geben oder gar Prognosen zu erstellen, so kann doch gesagt werden, dass jeder Versuch des Vergleichs sowohl die strukturellen Ge- meinsamkeiten als auch die erheblichen politischen Unterschiede zwischen den fraglichen Parteien be- rücksichtigen muss. Dass bei der Diskussion um die AfD nicht nur verfas- sungspolitische, sondern gerade auch gesellschaftspo- litische Gegensätze (etwa der Asyl- und Einwande- rungspolitik oder der Erinnerungs- und Identitätspoli- tik) eine Rolle spielen, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass die neue Rechte gerade deswegen reüssiert, weil sie sich als Alternative zum politi- schen Basiskonsens der Bundesrepublik zu inszenie- ren versteht. Das heißt aber noch lange nicht, dass eine Partei wie die AfD pauschal als ungefährlich eingeschätzt werden sollte, zumal eben ganz grund- sätzliche Fragen der demokratischen Gleichheit und Liberalität zur Disposition stehen. Dem hiesigen Be- fund der Integrierbarkeit früherer Systemgegner ste- hen nach wie vor die zahlreichen Fälle der Zwi- schenkriegszeit entgegen, in der es eben nicht ge-

68 Für verschiedene Beispiele siehe Capoccia, Defending Demo- cracy.

13 Aufsätze Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland MIP 2018 24. Jhrg.

Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – schluss soll die Entwicklung der Partei von ihren Ur- Rechtspopulisten in Estland sprüngen bis heute skizziert werden. Nach Klärung des Konzepts Rechtspopulismus und der Herkunft der Partei erfolgt eine Analyse des Grundsatzpro- Dr. Rolf Winkelmann1 gramms der EKRE. Hierbei wird eine Beschränkung auf die zuvor gefundenen Charakteristika erfolgen Einleitung und andere Themen werden außen vorgelassen, wenn sie nicht einen Bezug zu den ausgewählten Themen- Rechtspopulisten sind in den vergangenen Jahren bereichen haben. weltweit stärker geworden. Besonders in Europa ist Das Parteiprogramm ist nur in estnischer Sprache auf dies in den letzten Jahren u.a. durch Probleme wie der Website der Partei aufzufinden. Übersetzungs- die hohe Zahl an Flüchtlingen, EU-kritische Stim- fehler sind dem Verfasser anzulasten. Ergänzend zur mungen und Terrorismus offensichtlich geworden Analyse des Grundsatzprogramms werden auch in (Mudde 2016: 25). Einige Parteien wie die PVV von englischsprachigen Medien gefundene Beiträge von Geert Wilders, die PiS in Polen, der FIDESZ von Parteifunktionären herangezogen. Diese Ergänzung Viktor Orbán oder die FPÖ waren oder sind an Re- erfolgt, weil erstens ein Grundsatzprogramm länger- gierungen beteiligt gewesen, während andere Partei- fristig ausgerichtet ist und zweitens Beiträge wie „If en wie die deutsche AfD, die UKIP von Nigel Fara- you are black, go back“ (Martin Helme) durchaus auf ge im Vereinigten Königreich oder Le Pens Front den Charakter einer Partei schließen lassen können. National in Frankreich bisher nicht an Regierungen Die gewählten Medien sind die estnischen öffent- beteiligt sind. Hiermit dürften die einem breiten Pu- lich-rechtlichen Medien (news.err.com) und das On- blikum bekannten rechtspopulistischen Parteien be- line-Angebot der Tageszeitung Postimees. nannt sein. Abseits davon finden sich aber auch Par- teien, die sogar in der Fachwelt weitgehend unbe- 1. Definition Rechtspopulismus kannt sind. Zu diesen Parteien gehört zweifelsfrei die Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (EKRE) in Est- Die Forschung ist sich hinsichtlich der Definition land, die eigentlich nur einem estnischen Publikum des Begriffs Rechtspopulismus bzw. Populismus un- bekannt ist. Der in Tallinn lebende Populismus-Ex- eins. Die Spannbreite geht vom ‚Stilmittel der Politik‘ perte Florian Hartleb (2017: 21) erwähnt die EKRE bis zur ‚Ideologie‘ (Lewandowsky 2012: 390; Hartleb kurz und stellt die rühmliche Ausnahme dar. Diese 2017: 57ff.). Mudde/Kaltwasser gehen davon aus, Wissenslücke in der außerestnischen Wissenschaft dass populistische Parteien verschiedene ideologi- (auch in der Fachzeitschrift Journal of Baltic Studies sche Kernkonzepte besitzen, die aber z.T. nur schwer findet sich kein Hinweis) ist wohl zunächst dem greifbar sind und in verschiedene Richtungen inter- Sprachenproblem geschuldet und in zweiter Linie pretierbar sind, weswegen es sich nicht um Gruppen dem geringen Interesse der Wissenschaft. Dies ist mit ‚harter Ideologie‘ handelt. Die Kernkonzepte sind: umso erstaunlicher, als die EKRE im Juni 2017 die Volk, Elite, Gemeinwille (i.S.v. volonté générale) drittstärkste Kraft vor den im Oktober stattfindenden (Mudde/Kaltwasser 2017: 9). Auch andere Autoren Kommunalwahlen war (news.err.ee: 20.06.2017). wie Wolf (2017), Lewandowsky (2012) nehmen in Bei den Kommunalwahlen am 15. Oktober 2017 er- ihren Arbeiten Bezug auf diese Kernkonzepte. hielt die EKRE allerdings nur 6,7 % der abgegebe- nen Stimmen (news.postimees.ee: 16.10.2017). Populistischen Parteien ist zu eigen, dass sie über ein manichäisches Weltbild verfügen. Dies zeigt sich In dieser Studie soll die Partei Eesti Konservatiivne zunächst in der Kontrastierung vom einfachen Volk, Rahvaerakond (Estnische konservative Volkspartei) an das sich die populistischen Parteien wenden und einem deutschsprachigen Fachpublikum näherge- das als unschuldig und rein verstanden wird, wäh- bracht werden. In diesem Aufsatz soll auch der Fra- rend auf der anderen Seite die Elite als unreine, kor- ge nachgegangen werden, ob die EKRE überhaupt rupte oder als negativ konnotierte Gruppe gesehen eine rechtspopulistische Partei ist. Zur Klärung soll wird (Mudde/Kaltwasser 2017: 6). Gleichzeitig ver- mit einer Definition von Rechtspopulismus gestartet harrt der Volksbezug ideologisch im Vagen und wird werden. Hierbei werden primär Ansätze von Cas so anschlussfähig an verschiedene Ideologien und Mudde und Mudde/Kaltwasser verwendet. Im An- Gruppen von rechts bis links. Dies entspricht mehr oder weniger allen populistischen Parteien und ist 1 Dr. Rolf Winkelmann, Verwaltung der Professur Didaktik des kein ausschließliches Merkmal rechtspopulistischer politischen Unterrichts und der politischen Bildung, Universität Oldenburg. Parteien. Die Wendung zum Rechtspopulismus er-

14 MIP 2018 24. Jhrg. Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland Aufsätze folgt nach Wolf, wenn die Provokationen und die 1178). Das Volk ist durch eine gemeinsame Kultur, Abgrenzung von den Eliten, von den Fremden und Sprache, Religion und Abstammung definiert. Diese den „Anderen“ bei der gleichzeitigen Betonung des Gemeinsamkeiten müssen entsprechend vor externen Nationalen zum prägenden Stil werden (Wolf, 2017: Einflüssen, die zu einer Veränderung eines als statisch 7). Hiermit wird deutlich, dass Populisten wegen definierten Volkstums führen können, geschützt wer- ihres geringen Ideologiegehalts an stärker ideologi- den. Andere, also Migranten, Ausländer, Minderhei- sierte Konzepte anknüpfen müssen. Diese ideologi- ten (Muslime, Islam usw.) etc. stellen eine Gefahr für schen Versatzstücke und starken Anknüpfungen an die Nation und ihren Fortbestand dar (Wolf 2017: andere Ideologien sind z.B. Nationalismus, Nativis- 13f.). Aber auch sozioökonomische Verteilungskämp- mus oder Xenophobie (Mudde/Kaltwasser 2017). fe werden bei der Ablehnung der „Anderen“ herange- Diese Anknüpfungen sind auch deshalb notwendig, zogen, sei es im Kampf um Arbeitsplätze oder um be- weil Populismus aus seiner dünnen ideologischen zahlbaren Wohnraum (Lewandowsky 2012: 393). Schicht eben keine Lösung ableiten kann, sondern Eliten sind nach Mudde/Kaltwasser u.a.m. ein weite- dies aus den angebundenen Ideologien heraus erfolgt res Kernkonzept des Populismus und dessen mani- (Mudde/Kaltwasser 2017: 6). Für das östliche Europa chäischen Weltbildes. Auch die Verwendung des charakteristisch ist, dass populistische Parteien sich Begriffs Elite ist vielseitig. Neben der politischen stark an den Nationalismus binden und entsprechend und wirtschaftlichen Elite können auch aus allen an- eher rechts stehen (Mudde/Kaltwasser 2017: 14). deren Bereichen, aber auch anderen Systemen und Das einfache Volk wird angesprochen, weil es sich Staaten wie auch aus der EU, negativ konnotierte gegen die Eliten und das Establishment mobilisieren Eliten aus der Führungsschicht herangezogen wer- lässt. Diese Ansprache ist auch als Kritik an der den. Ihnen allen ist aus Sicht der Populisten gemein, herrschenden politischen Kultur zu verstehen. Das dass sie sich quasi gegen das Volk verschworen ha- einfache Volk wird aus der Sicht der Populisten von ben, gegen das Volk arbeiten und andere Interessen schlechten Politikern geführt, weshalb das Volk die über die des Volkes stellen. In Mittel-Osteuropa ist Macht zurückerhalten soll. Der Terminus Volk ist eine Variante besonders oft zu finden, nachdem Po- polysemisch. Neben dem Verständnis des einfachen pulisten an die Macht gelangten und Erfolge ausblie- Volkes als Bürgerschaft, wird das Volk auch als po- ben. In jenen Fällen wird auf dunkle Drahtzieher im litischer Souverän verstanden und in einer dritten Hintergrund und oppositionelle wirtschaftliche Eli- Fassung wird Volk als Nation verstanden. Diese Na- ten verwiesen, die mit ausländischen Gruppen und tion kann inklusiv im Sinne einer Bürgerschaft oder Regierungen gegen die Populisten arbeiten (Mudde/ exklusiv in der ethnischen Variante verstanden wer- Kaltwasser 2017: 12f.). Hierfür kann die Stiftung den (Mudde/Kaltwasser 2017: 9-11). Wolf (2017: 6) „Open Society“ von George Soros exemplarisch ge- stellt, wie Lewandowsky (2012: 391) und Hartleb nannt werden. (2017: 60), die Selbstidentifizierung und Gleichset- Populisten von rechts wie links ist auch gemeinsam, zung der Organisation und ihrer Ideologie mit dem dass sie sich als Vertreter des Gemeinwillens im Sin- gemeinen Volk und einer dazugehörenden Abgren- ne von Jean-Jacques Rousseaus volonté générale ver- zung zu den herrschenden Eliten als ein Element ei- stehen. Entsprechend propagieren Populisten häufig ner populistischen Partei heraus. Gleichzeitig findet die Idee der Selbststeuerung des Volkes als Legislati- sich bei Populisten das Thema der Entfremdung der ve und Exekutive in einer Form und fordern immer Eliten, die sich selbst bereichern und den einfachen auch eine Stärkung der direkten Demokratie. Hierbei Bürgern nicht helfen. Dadurch gewinnt der Populis- handelt es sich nicht nur um einen durchaus positiv zu mus einen identitätspolitischen Grundcharakter mit wertenden Wunsch nach stärkerer Demokratisierung einem entsprechenden Demokratieverständnis, in und Ausbau der Partizipationsmöglichkeiten für die dem das Volk die absolute Souveränität zugespro- mündigen Bürger, sondern auch um einen Ausdruck chen bekommt (Lewandowsky 2012: 391). Damit der Diskreditierung des repräsentativen Demokratie- das Volk seine Interessen dann gegen die korrupten modells, in dem korrupte Eliten über das ehrliche Eliten durchsetzen kann, werden von populistischen Volk zu dessen Nachteil herrschen. Zu Letzterem ge- Parteien häufig Plebiszite gefordert. hört auch die bei Populisten verbreitete EU-Skepsis Rechtspopulisten sind keine isolierte Gruppierung in bzw. EU-Feindlichkeit. In der EU würden schlechte, einer Gesellschaft, sondern können an verbreitete Ein- korrupte Eliten über die Interessen des einfachen Vol- stellungen und Ideen zu Policy-Positionen der breiten kes hinwegregieren (Mudde/Kaltwasser 2017: 16ff.), Masse einer Gesellschaft anknüpfen (Mudde 2010: so ihre Ansicht.

15 Aufsätze Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland MIP 2018 24. Jhrg.

Auch wenn Populisten nur wenige Themen anspre- (Winkelmann 2007: 53; news.err.ee: 09.03.15). Das chen, kann man bei den europäischen Rechtspopulis- estnische Wikipedia wiederum datiert die Gründung ten einige Gemeinsamkeiten feststellen. Insgesamt be- der EKRE auf September 1994. Wikipedia zeigt die steht die inhaltliche Dimension von Rechtspopulisten langsame Entwicklung, die geprägt ist durch die Zu- aus diversen Antis (Anti-Islamismus, Anti-Immigrati- gehörigkeit zu verschiedenen national orientierten on etc.) die aber helfen, die Mobilisierung der Wähler Bündnissen, bis zur unübersichtlichen Gründung hin zu steigern (Hartleb 2017: 62). Mit Blick auf die Eu- zur jetzigen EKRE auf. Allgemein aber wird der 24. ropäische Union kann die Ablehnung selbiger durch September 2012 als Gründungstag von EKRE be- Populisten als ein Kernkonzept der europäischen Po- trachtet (Wikipedia.ee). Für die Entwicklung der pulisten von rechts und links gelten. Populisten in Eu- Partei ist es wichtig zu erwähnen, dass es am ropa sind meistens eher rechtsorientiert und greifen 21.10.2009 seitens der Zentrumspartei, die als Re- entsprechend auf Autoritarismus und Nativismus als präsentantin der russischsprachigen Minderheit gilt, harter Ideologie zurück (Mudde/Kaltwasser 2017: 34, ein Fusionsangebot gab, das aber abgelehnt wurde 37). Tendenziell beziehen sich rechtspopulistische (erakonnad.info/erakond/reg/erl.html). Parteien weniger auf sozioökonomische als vielmehr Seit 2013 ist Mart Helme der Vorsitzende der Partei. auf soziokulturelle Themen (Mudde 2010: 1179). Es Mart Helme ist politisch kein Unbekannter. In den ist nicht der Populismus mit seiner dünnen ideologi- 1990er Jahren war er Botschafter der Republik Est- schen Schicht, sondern die angebundene Ideologie land in Russland (ekre.ee). Martin Helme ist eben- wie z.B. Xenophobie, die Wähler mobilisiert (Mudde/ falls Vorstandsmitglied von EKRE und Abgeordne- Kaltwasser 2017: 99). Rechtspopulisten stehen dem ter im Riigikogu. Estland ist ein kleines Land und so Konzept des neurechten Ethnopluralismus, einem sind Familien oder Familienbande in Parteien und gesteigerten Sicherheitsbedürfnis und einer protekti- Führungsfunktionen oder als Abgeordnete nicht un- onistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik nahe gewöhnlich. Bereits in der Rahvaliit waren z.B. ver- (Wolf, 2017: 14). Um die eigenen Ideen und Vor- schiedene Mitglieder der Familie Reiljan in expo- stellungen zu ventilieren, wird auch das Schüren von nierter Stellung aktiv. Ressentiments in der Bürgerschaft genutzt. Aktuell lässt sich festhalten, dass der Islam und Muslime so- 3. Analyse des Grundsatzprogramms wie die Immigrationspolitik zu den bevorzugten Feindbildern gehören. Diese, so die Populisten, seien Als Grundlage der kommenden Analyse wird das für die gegenwärtigen Probleme verantwortlich. Au- „Konservatiivne Programm“ ausgewählt. Die Inter- ßerdem führen Multikulturalismus und Immigration netseite der Partei bietet noch weitere Programme in zu einem Identitätsverlust bei den „Einheimischen“ estnischer Sprache an. Hierzu gehören „Eurovalimis- und deren Entwurzelung und zu steigender Krimina- te Platvorm“, das „Konservatiivne Manifest“ von lität (Wolf, 2017: 15-16). In der Folge soll sich diese 2012, das letzte Wahlprogramm für die Parlaments- Studie bei der Analyse des Parteiprogramms der wahl 2015 u.a.m. Das „Konservatiivne Programm“ EKRE auf diese Bereiche fokussieren. ist das Grundsatzprogramm der Partei. Dieses Pro- gramm liegt nur in estnischer Sprache vor. Die Zita- 2. Partei tion dieses Programms wird folgendermaßen erfol- gen: dem estnischen Namen des Programmkapitels Wo kommt die Estnische Konservative Volkspartei folgt die Seitenzahl. (EKRE) her? Das estnische Parteiensystem erlebte seit seiner Entstehung während der Unabhängigkeits- Bereits an dieser Stelle kann festgehalten werden, bewegung gegen die sowjetische Okkupation zahl- dass das Parteiprogramm der Eesti Konservatiivne reiche Parteigründungen in Form von genuin neuen Rahvaerakond den Erwartungen an eine Vollpartei Parteien, Abspaltungen aus alten Parteien und Fusio- entspricht und allumfassend in dem Sinne ist, dass nen zwischen Parteien sowie einer Kumulation aller alle wesentlichen Politikbereiche thematisiert wer- Formen der Gründungsmöglichkeiten (Winkelmann den. Eine Ein-Themen-Partei ist sie nicht; deshalb 2007, Grofman/Mikkel/Taagepera 2000). Auch die kann sie auch nicht auf klassische populistische The- EKRE macht hier keinen Unterschied. Der Nukleus men reduziert werden. Im Folgenden wird das „Kon- der Partei liegt weit zurück in der Gründung der Est- servatiivne Programm“ auf die oben herausgearbei- nischen Volksunion (Eestimaa Rahvaliit) im Jahre teten Kerncharakteristika einer rechtspopulistischen 1999. Rahvaliit war eine Partei, die durch Fusion mit Partei untersucht und entsprechende Passagen wer- anderen Parteien entstand und eher die ländliche, est- den zugeordnet. Die gewählten Charakteristika sind: nische Bevölkerung sowie Ex-Kommunisten ansprach Anti-EU, -Islam, -Immigration; Volk vs. Eliten und

16 MIP 2018 24. Jhrg. Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland Aufsätze direkte Demokratie. Ausgewählt werden Programm- Mordes oder von Verbrechen gegen die Menschlich- punkte, die eindeutig rechtspopulistischen Charakter keit (Õigus ja korrakaitse: 13). In diesem Fall müsste haben bzw. den gewählten Kernthemen zugeordnet Estland aus der EU austreten. Dies alles erscheint irri- werden können. tierend, wenn man sich das Kapitel der Außen- und Sicherheitspolitik ansieht (Välis- ja julgeolekupoliitika). 3.1 Anti-EU Dort werden die Forderungen und Pläne vorgebracht, Die Europäische Union findet im Parteiprogramm an nach denen die EKRE ein vielfältiges Europa for- verschiedenen Stellen in direkter oder in indirekter dert, in dem die nationalen Kulturen geschützt wer- Form Erwähnung. Die Partei verspricht im Kapitel den. Auf der einen Seite will die Partei Estlands Rol- „Sotsiaalpoliitika“ EU-Strukturfonds-Gelder zum le in der EU stärken und auf der anderen Seite gilt Zwecke der Regionalentwicklung nutzen zu wollen aber eine Suprematie estnischen Rechts in Estland (Sotsiaalpoliitika: 3). Dies ist erstaunlich, denn in ei- über EU-Recht. Die EU soll gestärkt werden und in nem Statement vom 30.04.2017 erklärte der Partei- vielen Bereichen wie der Kriminalitätsbekämpfung vorsitzende, dass Estland die EU verlassen sollte. soll es eine vertiefte Zusammenarbeit geben (Välis- ja Auch das Geld der EU sei unbedeutend, denn es julgeolekupoliitika, 15). Auch in der Regionalpolitik wäre nur für sinnlose Dinge ausgegeben worden, findet sich die Rosinenpickerei der EKRE wieder. hätte die Korruption gefördert und die estnische Auf der einen Seite will die Partei die ländliche Ar- Wirtschaft gliche eher einem Trümmerfeld wie die beitsmarktpolitik mit EU-Geldern fördern, auf der deutsche oder japanische nach dem Zweiten Welt- anderen Seite aber die Rechte von EU-Ausländern krieg. Und überhaupt entwickele sich die EU in ei- beim Landerwerb einschränken (Regionaalareng ja nen totalitären Moloch. EU-Gelder seien nur ein kohalik omavaltsus: 20). Die Partei lehnt eine militä- Hindernis auf dem Weg zu Modernität und Wachs- rische Integration in die EU ab (Riigikaitse: 17). tum, welche ohne diese Gelder besser zu erreichen Eine Kohärenz ist nicht immer zu erkennen. seien (news.err.ee: 30.04.2017). Dazu passt, dass wenige Wochen zuvor der Parteikongress beschlos- 3.2 Anti-Islam sen hatte, ein neues Referendum über die EU-Mit- Auch in Estland findet sich seit einiger Zeit eine gliedschaft abhalten zu wollen (news.err.ee: seltsame Diskussion wieder, in der es um die Folgen 10.04.2017). Das erste erfolgte im September 2003 für die estnische Identität durch die Immigration von vor dem Beitritt zur EU. Ebenfalls gegen die EU ge- wenigen Flüchtlingen aus muslimischen Ländern geht richtet ist das Ansinnen, den EU-Verteilungsplan für (Hartleb 2017: 117f.). Dass Estland seit Jahrhunder- Flüchtlinge, dem Estland zugestimmt hat, wieder ab- ten eine muslimische Gemeinde besitzt (Özkan zulehnen (news.err.ee: 21.03.2017). Die EU teilwei- 2009), wurde in den Diskussionen weitgehend außer se zu akzeptieren scheint die Partei in ihrer Wirt- Acht gelassen. So bezieht sich EKRE in ihrer Fami- schaftspolitik. Hier strebt sie an, dass die estnische lienpolitik (Perekond) auf christliche Werte und das Landwirtschaft im europäischen Wirtschaftsraum traditionelle Familienbild aus Mann-Frau-Kind(er) wettbewerbsfähig sein solle, gleichzeitig aber die (Perekond: 4). Hier zeigen sich erste anti-islamische heimische Wirtschaft gegen ausländische Akteure (aber auch homophobe) Denkmuster. Ansonsten fin- geschützt werden müsse (Majandus ja põllumajan- det sich weder das Wort Islam im Programm, noch dus: 8). Der Staat soll explizit estnische Unterneh- wird die Asylpolitik thematisiert. Einzig die Re-Mi- men bei der Auftragsvergabe bevorzugen (Majandus gration estnischer Auswanderer zurück nach Estland ja põllumajandus: 8), was wiederum ein eklatanter findet sich im Programm an verschiedenen Stellen. Bruch mit EU-Recht wäre und die Anti-EU-Pro- Die Positionen der Partei können entsprechend am grammatik der Partei zeigt. Besonders deutlich wird ehesten exemplarisch durch die mediale Berichter- die protektionistische Wirtschaftspolitik in der stattung ergründet werden. Am 06.02.2016 wollte Landwirtschaft. Die Produktionsgrenzen in der die Partei mit PEGIDA, Fortress Europe und anderen Landwirtschaft sollen fallen. Ziel ist eine Autarkie Rechtspopulisten aus Europa in Estland gegen die Is- für Grundnahrungsmittel. Die Landwirtschaft soll lamisierung des Kontinents demonstrieren (news.err.ee: vor ausländischer Konkurrenz geschützt werden. 01.02.2016). An anderer Stelle setzten Mart Helme Gleichzeitig aber will EKRE mehr Produkte expor- und sein Sohn Martin den Islam in eine enge Bezie- tieren (Majandus ja põllumajandus: 9). hung mit Immigration und Terrorismus (news.err.ee: 21.08.2017; 19.08.2017). Die anti-islamische/anti- Einen deutlichen Widerspruch zu Werten der EU muslimische Rhetorik ist inzwischen zu einem von findet sich im Programm über die Einführung der der Partei gepflegten Programmpunkt geworden. Todesstrafe (surmanuhtlus) in Fällen des Hochverrats,

17 Aufsätze Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland MIP 2018 24. Jhrg.

3.3 Anti-Immigration, russische Minderheit land eingeklagt werden (Välis- ja julgeolekupoliitika: 16). Hier wird emotional auf die Leidenszeit der Esten Das thematische Charakteristikum Anti-Immigration während der Okkupation vor und nach dem Zweiten wird mit Blick auf das Parteiprogramm differenziert. Weltkrieg angespielt, als u.a. Zehntausende aus politi- Zum einen soll hier berücksichtigt werden, wie die schen Gründen deportiert und enteignet wurden Partei zur Immigration allgemein steht und zweitens (Kukk/Raun 2007). Der russischen Minderheit mit wie sie mit den Ergebnissen der bisherigen Immigra- grauem Pass (Staatenlose) wird mit Misstrauen be- tion – also der russischen Minderheit, die während gegnet, wenn es um die Landesverteidigung geht, der Okkupationszeit völkerrechtswidrig in Estland und ihnen wird Illoyalität unterstellt (Riigikaitse: angesiedelt wurde – umgehen möchte. 17). Die estnische Sprache soll, auch im Gegensatz Die erste Erwähnung findet das Thema Migration im zur heutigen Situation (Galbreath 2005: 169), allei- Kapitel „Kodanik ja kodanikuühiskond“. Dort wird nige Amtssprache sein (Regionaalareng ja kohalik für eine Re-Migration von Esten zurück nach Est- omavaltsus: 19). land geworben. Neben den Emigranten sind hier Wie oben bereits erwähnt, wendet sich die Partei ge- auch die estnischen Flüchtlinge angesprochen, denen gen den europäischen Verteilungsschlüssel für ein materielles Rückkehrrecht und staatliche Unter- Flüchtlinge. Auch kündigte die Partei bereits 2015 stützung eingeräumt werden soll. Immigranten sollen im Falle eines Wahlsieges die Rückführung und De- nur streng kontrolliert zuwandern dürfen. Dies gilt für portation von Flüchtlingen an. Und auch dort wurde Zuwanderungen aus dem Westen genauso wie aus dies mit einer Ablehnung der EU-Flüchtlingspolitik dem Osten. Einwanderung soll sich an Notwendigkei- verbunden. In diesem Zusammenhang fiel auch die ten orientieren. Diese Immigranten sollen schnellst- Aussage des Fraktionsvorsitzenden Martin Helme: möglich in die estnische Gesellschaft und Kultur in- „If you are black, go back“ (Helme). Dieser Satz tegriert werden (Kodanik ja kodanikuühiskond: 1). wurde 2013 in dem Kontext gebraucht, dass Estland Ausländische Lehrer und Wissenschaftler sollen ein weißes Land sei und bleiben solle, wenn es nach über hervorragende Sprachkenntnisse sowie Kennt- der EKRE ginge (news.err.ee: 20.07.2015). nisse der estnischen Geschichte verfügen müssen (Haridus ja kultuur: 5). Integration wird faktisch als 3.4 Volk vs. Eliten Assimilation verstanden. Arbeitsmigration von Per- sonal aus dem Gesundheitswesen soll durch verbes- Elemente eines elitenfeindlichen Ansatzes findet serte Rahmenbedingungen verhindert bzw. umge- man ebenfalls sehr früh im Programm. Versteht man kehrt werden (Tervishoid: 7). unter Eliten auch Parteien, so macht das EKRE-Pro- gramm deutlich, dass das Parteiengesetz reformiert Mit Blick auf die russische Minderheit spricht sich und die Zahlungen an die Parteien neu geordnet und die Partei für eine Akzeptanz der bisherigen Verhält- reduziert werden sollen (Kodanik ja kodanikuühis- nisse aus und damit für ein Bleiberecht der zuvor kond: 1f.). Gegenwärtig hat Estland eine sehr großzü- eingewanderten Russen. Eine doppelte Staatsbürger- gige Parteienfinanzierung (Winkelmann 2014). Einen schaft wird abgelehnt und kriminalisiert (Kodanik ja elitenfeindlichen Ansatz formuliert das Programm, kodanikuühiskond: 1). Auf der anderen Seite will die wenn die Partei fordert, die Kontrolle über die Ge- Partei das Abkommen mit der Russischen Föderation setzgebung und den Lobbyismus zu verschärfen, um aufkündigen, nach dem die ehemaligen Rotarmisten den Kauf von Gesetzen zu verhindern (Kodanik ja mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht Pensionszahlun- kodanikuühiskond: 2). Hierdurch wird bewusst eine gen aus Estland genießen (Sotsiaalpoliitika: 3) – ein Verquickung beider Themen suggeriert. Dass Teile deutlicher anti-russischer Wink. Außenpolitisch ver- der Eliten anscheinend mit ausländischen, der estni- steht sich die Partei ebenfalls als anti-russisch. Sie schen Republik feindlich gegenüberstehenden Kräf- fordert die Grenzen gemäß des Vertrages von Tartu ten zusammenarbeiten (Kodanik ja kodanikuühis- (1920), und nicht die Grenzen wie sie im nicht-ratifi- kond: 2), ist ein Seitenhieb auf die Zentrumspartei, zierten Grenzvertrag von 2005/14 beschrieben sind der immer wieder eine Nähe zu Russland unterstellt (Välis- ja julgeolekupoliitika: 15). Diese Unterschei- wird und die eine Kooperation mit der Partei „Eini- dung würde zu signifikanten Veränderungen der jet- ges Russland“ eingegangen ist und diese bisher nicht zigen Grenzen zu Gunsten Estlands führen. Die Par- beendet hat (news.err.ee: 09.10.2017). tei fordert auch die Rückführung aller kulturellen Objekte, die während der Besatzungszeit nach Russ- Die Partei setzt sich zum Ziel, das Volk zu aktivieren land/UdSSR verbracht wurden (Õigus ja korrakaitse: und seinen Willen in der Regierung umzusetzen und 14). Zusätzlich sollen Entschädigungen von Russ- den Erhalt des estnischen Volkes, seiner Kultur und

18 MIP 2018 24. Jhrg. Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland Aufsätze

Sprache zu sichern (Kodanik ja kodanikuühiskond: 1). teilweise erklärt werden. In der Kommunalwahl Das Volk soll sich im Rahmen der Bildungs- und 2017 erhielt die EKRE knapp 11.000 ihrer ca. Kulturpolitik positiv entwickeln. Hier wird die För- 39.000 Stimmen per E-Voting und damit knapp 25% derung der (traditionellen) estnischen Kultur betont. ihrer Stimmen, während z.B. die Reformpartei unge- Denn diese soll dazu beitragen, die eigene Nation zu fähr 50% ihrer Stimmen durch E-Voting erhielt (vgl. erhalten. Zu diesem Zwecke sollen verschiedene http://kov2017.valimised.ee/valimistulemus.html#0000). Maßnahmen erfolgen, die sich besonders um die est- Die Ablehnung kann aber auch auf Verschwörungs- nische Sprache drehen. Auch im Ausland soll diese theorien mit Bezug zum so genannten „Deep State“ Förderung erfolgen. Tendenzen des Nativismus sind beruhen (news.err.ee: 24.01.2018). Die Forderung hier durchaus zu erkennen (Haridus ja kultuur: 5). hingegen, die Abgeordnetendiäten auf den Median- Das Volk als estnische Nation wird betont, während lohn zu reduzieren, hat einen elitenfeindlichen Ansatz, die Minderheiten nur eine untergeordnete Rolle mit weil hier suggeriert wird, die Abgeordneten würden limitierten Rechten einnehmen sollen. Auch spielt der zu viel Geld für schlechte Arbeit erhalten. Ergänzt Staat bei der Kulturpolitik die entscheidende Rolle wird diese Zielsetzung noch mit der Bekämpfung der im Sinne eines intervenierenden und gestaltenden Korruption im Verwaltungsapparat und der Forde- Akteurs. Der Partei geht es ausschließlich um die rung, die Beamten und Politiker müssten für Fehlent- estnische Kultur, über der idealisierte Vorstellungen scheidungen persönlich haftbar gemacht werden (Riik unausgesprochen mitschweben (Haridus ja kultuur: 6). ja valitsemine: 11). Hier zeigt sich die Vorstellung, Auch in der Kulturförderung sollen Gelder der EU- dass Politik und Verwaltung gemeinsam mit Ge- Strukturfonds zum Einsatz kommen (Haridus ja kul- schäftsleuten unter einer Decke stecken und in dunkle tuur: 6). Das Volk wird auch in der Gesundheitspoli- Machenschaften gegen Estland und sein Volk verwi- tik in einem nativistischen Sinne verstanden, wenn ckelt sind (Riik ja valitsemine: 11). explizit estnischen Familien der Zugang zu kosten- freien Fertilitätsbehandlungen gewährt werden soll, 3.5 Direkte Demokratie anderen dauerhaften Einwohnergruppen aber offen- Im Grundsatzprogramm der EKRE finden sich zahl- bar nicht (Tervishoid: 7). reiche Passagen, die eine stärkere Demokratisierung Das Volk wird auch im Kapitel „Riik ja valitsemine“ des estnischen politischen Systems fordern. Hierzu (Staat und Governance) besonders betont. Hier wird gehören auch plebiszitäre Elemente. Letztere sollen Estland als einziges Land gepriesen, in dem Esten pri- nur ergänzt werden. In der Verfassung finden sich vilegiert sind und in dem Voraussetzungen für ihre bereits jetzt verschiedene Wege zu einem Plebiszit Kultur und Sprache bestehen (Riik ja valitsemine: 11). (Tupay 2015). Die aktive und sich engagierende Bür- Betont wird auch die Demokratie und der Kampf der gerschaft wird im Programm als Grundvoraussetzung Partei gegen Korruption und für gute Regierungsfüh- eines demokratischen und funktionierenden Estlands rung, Rechtstaatlichkeit und einen effektiven Verwal- verstanden (Kodanik ja kodanikuühiskond: 1). Ange- tungsapparat. Durch das Parteiprogramm wird sugge- strebt wird u.a., dass der Staatspräsident durch direkte riert, dass die anderen Parteien nicht für diese Punkte Volkswahl ins Amt gelangen solle. Aber auch tech- stehen, sondern sie im Gegenteil negativ verkörpern. nische Möglichkeiten sollen genutzt werden, um Darüber hinaus soll das Parlament gestärkt werden mehr Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen (Ko- und die Abgeordneten sollen viel stärker der perma- danik ja kodanikuühiskond: 1). Dies erstaunt, wird nenten Kontrolle der Wähler ausgesetzt werden und das E-Voting doch abgelehnt. Partizipationsmöglich- die Abberufung von gewählten Abgeordneten soll keiten werden betont, indem die Partei Volksinitiati- während der Legislaturperiode eingeführt werden ven fordert und dass das Parlament ab 25.000 Unter- (Riik ja valitsemine: 11). EKRE ist die einzige Partei, stützern auch ein Referendum abhalten lassen muss die gegenwärtig das E-Voting-System, das 2005 auf (Riik ja valitsemine: 12). Eine thematische Begren- kommunaler Ebene eingeführt wurde und heute zung ist hier nicht gegeben, muss aber auch nicht, durchgängig Verwendung findet, ablehnt und Sicher- denn das Volk ist der höchste Souverän, der über al- heitsbedenken vorschiebt (news.err.ee: 16.10.2017). les entscheiden können muss. Die Abneigung findet sich auch im Grundsatzpro- Eine Mischung aus Anti-Eliten-Ansatz und mehr Par- gramm, ohne dass es explizit erwähnt wird. EKRE tizipation findet sich im Kapitel Recht und Ordnung fordert hier die Durchführung von Wahlen mit einem der Partei. Es wird eine grundlegende Neustrukturie- sicheren und nicht manipulierbaren System (Riik ja rung der Prozessordnung verlangt – der Wechsel auf valitsemine: 11). Die Abneigung kann durch einen das anglo-amerikanische Rechtssystem mit einer aus schwächeren Zuspruch der Partei beim E-Voting der Bürgerschaft stammenden Jury (Õigus ja korra-

19 Aufsätze Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland MIP 2018 24. Jhrg. kaitse: 13). Hier wird exemplarisch deutlich, dass der Das (rechts-)populistische Kerncharakteristikum ei- Bürger die Verkörperung des Reinen ist und das Jus- nes Gegensatzes von Volk und Eliten findet sich an tizsystem wegen seiner zu starken Nähe zu den Eliten zahlreichen Stellen des Parteiprogramms wieder. etc. verändert werden muss. Dass sich dieses System Der wichtigste Befund hierfür ist neben der Parteien- nicht mit den estnischen Rechtsprechungstraditionen feindlichkeit und der Suggestion eines Zusammen- verträgt, die seit Jahrhunderten durch das deutsche, hangs von Eliten und Korruption die Veränderung schwedische und russische System geprägt wurden, des estnischen Rechtsprechungssystems hin zu ei- muss hier nicht weiter vertieft, aber erwähnt werden. nem anglo-amerikanischen Jury-System. Martin Helme fordert, dass nur estnischen Staatsbür- Die EU-feindliche Haltung der Partei besteht schon gern gestattet sein sollte, an Kommunalwahlen teilzu- seit Jahren auch im Parteiprogramm. Neben medial nehmen. Die Integration anderer Bürger mit dauerhafter erhobenen Forderungen der Partei nach einem erneu- Aufenthaltserlaubnis hätte keine Verbesserungen der ten Referendum über den Verbleib in der EU, wie es Situation erbracht, weil die Angehörigen aus Dritt- die Rechtspopulisten der UKIP im Vereinigten Kö- staaten zu weit von der estnischen Kultur entfernt seien nigreich erreichten, finden sich im Programm auch (news.err.ee: 09.05.2017). Diese Forderung findet zahlreiche Passagen, die einen EU-Verbleib aus- sich auch im Programm wieder. Ergänzt wird dort der schließen würden (Einführung der Todesstrafe) oder Vorstoß noch um eine Verschärfung der umstrittenen die wenigstens nicht kompatibel sind mit dem gegen- Sprachinspektionen (Riik ja valitsemine: 12), bei denen wärtigen Stand der Integration (Einschränkung des der Staat prüft, ob in Wirtschaft und Verwaltung die Wahlrechts, Begrenzung der Freiheiten). Dazu im Sprachgesetze und Vorschriften eingehalten werden. Widerspruch stehend, will die Partei aber EU-Gelder nutzen, um regionale Entwicklungen voranzubrin- Direkte Demokratie bzw. Stärkung des Volkes auch gen. Mit Blick auf Äußerungen von Mart Helme, auf kommunaler Ebene ist ebenfalls ein Programm- dass die EU-Gelder von ihm nicht gewünscht seien, punkt der Partei (Regionaalareng ja kohalik omavalt- befindet sich die Partei hier öffentlich im Wider- sus: 19), ohne jedoch näher ausgeführt zu werden. spruch mit der eigenen Programmatik. Fazit Hinsichtlich der Forderung nach mehr direkter Demo- Die Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (EKRE) ist kratie entspricht die EKRE ebenfalls der oben aufge- eine Partei mit einem vollumfänglichen Programm. führten Definition von Rechtspopulismus. Das Volk Bei diesem Programm kann festgehalten werden, als unschuldiger, reiner und einzig wahrer Souverän dass weder die Immigrationspolitik oder islamischer soll mehr Macht erhalten und Referenden anstoßen Terrorismus geschweige denn Islamisierung themati- und den Staatspräsidenten direkt wählen können. Hier siert werden. Ursächlich hierfür ist, dass es zum klingt auch immer mit an, dass die Politiker und der Zeitpunkt der Verabschiedung des Programms in Verwaltungsapparat korrupt sind und die Tagespolitik Estland niemanden interessierte, denn diese Themen von dunklen Geschäften geprägt ist, die es durch mehr sind für Estland neu und auch weit weg. Die eigenen Transparenz und Bürgerbeteiligung zu beseitigen gilt Krisenerscheinungen und ihre Bewältigung standen – und natürlich durch die Partei selbst. Das Misstrau- im Vordergrund – Muslime wollen bis heute nicht in en und die Verachtung gegenüber den anderen Partei- Massen nach Estland. Dennoch finden sich die The- en zeigt sich immer wieder, wenn eben von diesem men Immigration, EU-Flüchtlingspolitik und Anti-Is- Staatsapparat und dem „Deep State“ gesprochen und lam in den öffentlichen Verlautbarungen der Familie den Mitgliedern der Elite schlechte Arbeit und Kor- Helme. Die Partei muss diese Themen spätestens ruption unterstellt wird. Auch hier will die Partei ein entdeckt haben, nachdem im Frühling 2015 der An- in modernen Demokratien unübliches Verfahren ein- schlag auf die Satirezeitschrift ‚Charlie Hebdo‘ er- führen – die Abberufbarkeit von Abgeordneten wäh- folgte und im Sommer 2015 die Fluchtbewegungen rend einer laufenden Legislaturperiode. Hier bleibt nach Europa offenbar wurden und es seit Herbst das Programm aber eher vage. 2015 zu verschiedenen Anschlägen kam. Den Tabubrecher gibt die Familie Helme gerne. Be- Der von Wolf angeführte wirtschaftliche Protektio- kannt sind Ausfälle wie „If you are black, go back“ nismus als Element rechtspopulistischer Parteien fin- von Martin Helme. Und auch sonst zeigen Äußerun- det sich wie oben gesehen auch im Programm der gen in den Medien und dem Parteiprogramm deut- Eesti Konservatiivne Rahvaerakond wieder. Hier soll lich, dass die wesentlichen ideologischen Aspekte de- besonders die Landwirtschaft vor unliebsamer Kon- nen einer rechtspopulistischen Partei entsprechen. kurrenz geschützt werden. Neben der dünnen ideologischen Schicht einer popu-

20 MIP 2018 24. Jhrg. Winkelmann – Eesti Konservatiivne Rahvaerakond – Rechtspopulisten in Estland Aufsätze listischen Partei verbindet sich die EKRE mit den http://news.err.ee/635273/ratas-center-party-not-pla stärkeren Ideologien des Nationalismus und des Nati- nning-to-give-up-protocol-with-united-russia, vismus, wie oben mit Verweis auf Mudde aber auch 09.10.2017, letzter Zugriff: 17.01.2018. Wolf dargelegt. Kulturalistische bzw. nativistische http://news.err.ee/636821/e-vote-is-checked-and-co Argumentationsstrukturen finden sich immer wieder nfirmed-during-every-election-say-experts, im Parteiprogramm oder in Äußerungen von Abge- 16.10.2017, letzter Zugriff: 17.01.2018. ordneten bzw. Funktionsträgern. Ein Beispiel ist die Bestrebung, das aktuell eher inklusive Kommunal- http://news.err.ee/677019/ekre-chairman-special-ser wahlrecht auf estnische Staatsbürger zu begrenzen. vices-covertly-influencing-estonian-politics, 24.01.2018, letzter Zugriff: 25.01.2018. Literatur und Internetquellen http://news.postimees.ee/4277717/center-party-once- Galbreath, David J. (2005): Nation-building and mi- again-wins-local-elections-in-estonia, 16.10.2017, nority politics in post-socialist states. Interest, influ- letzter Zugriff: 17.01.2018. ences and identities in Estonia and Latvia, Stuttgart. http://www.erakonnad.info/erakond/reg/erl.html, Grofman, Bernard/Mikkel, Evald/Taagepera, Rein letzter Zugriff: 17.12.2017. (2000): Fission and fusion of parties in Estonia. In: https://ekre.ee/konservatiivne-programm/, letzter Zu- Journal of Baltic Studies, Vol. 31, No. 4, S. 329-357. griff: 30.01.2018. Hartleb, Florian (2017): Die Stunde der Populisten. Wie sich unsere Politik trumpetisiert und was wir https://news.err.ee/594605/ekre-wants-to-limit-parti dagegen tun können. Schwalbach/Ts. cipation-in-local-elections-to-citizens, 09.05.2017, letzter Zugriff: 30.01.2018. http://ekre.ee, letzter Zugriff: 17.01.2018. Kukk, Kristi/Raun, Toivo (2007): Soviet deporta- http://et.wikipedia.org/wiki/Eesti_Konservatiivne_R tions in Estonia: Impact and legacy, Tartu. ahvaerakond, letzter Zugriff: 17.01.2018. http://kov2017.valimised.ee/valimistulemus.html#0000, Lewandowsky, Marcel (2012): Rechtspopulismus letzter Zugriff: 17.01.2018. als Herausforderung für die Demokratie in Deutsch- land. In: Mörschel, Tobias/Krell, Christian (Hrsg.): http://news.err.ee/115352/extremists-in-parliament- Demokratie in Deutschland. Zustand – Herausforde- not-so-fast, 09.03.2015, letzter Zugriff: 17.01.2018. rungen – Perspektiven. Wiesbaden, S. 389-412. http://news.err.ee/116335/far-right-mp-we-will-depo Mudde, Cas (2010): The populist radical right: A rt-refugees-if-we-win-elections, 20.07.2015, letzter pathological normalcy. In: West European Politics, Zugriff: 30.01.2018. Vol. 33, Nr. 6, S. 1167-1186. http://news.err.ee/117563/ekre-to-stage-events-in- support-of-european-anti-immigrant-protests, Mudde, Cas (2016): Europe’s populist surge. A long 01.02.2016, letzter Zugriff: 25.01.2018. time in the making. In: Foreign Affairs Novem- ber/December, S. 25-30. http://news.err.ee/585257/ekre-introduces-bill-to-sus pend-participation-in-migrant-distribution-plan, Mudde, Cas/Kaltwasser, Cristóbal Rovira (2017): 21.03.2017, letzter Zugriff: 17.01.2018. Populism. A very short introduction. Oxford. http://news.err.ee/589098/ekre-congress-confirms-he Özkan, Aysha (2009): Estonia. In: Larsson, Göran lme-wants-new-eu-referendum, 10.04.2017, letzter (Ed.): Islam in the Nordic and Baltic countries, Zugriff: 17.01.2018. Oxon, S. 90-101. http://news.err.ee/592954/ekre-leader-estonia-should Tupay, Paloma Krõõt (2015): Verfassung und Ver- -waive-eu-help-leave-the-union, 30.04.2017, letzter fassungsänderung in Estland. Berlin. Zugriff: 17.01.2018. Winkelmann, Rolf (2007): Politik und Wirtschaft im http://news.err.ee/603178/june-party-ratings-ekre-no Baltikum. Stabilisierung von Demokratie und Markt- w-third-most-popular-party-in-estonia, 20.06.2017, wirtschaft in Estland, Lettland und Litauen. Saarbrü- letzter Zugriff: 17.01.2018. cken. http://news.err.ee/613753/ekre-parliamentary-group- Winkelmann, Rolf (2014): Auswirkungen der Ver- leader-calls-for-border-checks-to-be-reinstated, änderungen der Parteienfinanzierung in Estland nach 19.08.2017, letzter Zugriff: 25.01.2018. 2004. In: MIP, Jg. 20, S. 34-42. http://news.err.ee/614053/opinion-digest-i-m-not-ch Wolf, Tanja (2017): Rechtspopulismus. Überblick arlie-hebdo, 21.08.2017, letzter Zugriff: 25.01.2018. über Theorie und Praxis, Wiesbaden.

21 Aufsätze D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] MIP 2018 24. Jhrg.

„Restore Japan!“ Restore Nationalism? senden Parteiprogrammen erlaubt ist, setzten sich Die nationalistische Ideologisierung der bisher nur quantitative Erhebungen mit den Partei- Liberaldemokratischen Partei Japans unter programmen der LDP auseinander, jedoch stand eine qualitative Erarbeitung der aktuellen Politikziele die- Shinzo Abe ser Manifeste im deutsch- und englischsprachigen Raum noch aus (Derichs/Lukner 2013: 333; Winkler Annika D’Avis1 2017). Mit dem methodischen Ansatz einer qualitati- ven Inhaltsanalyse in Anlehnung an Philipp Mayring (2015) erfolgte die Erarbeitung der Parteiprogramme Japan arbeitet intensiv an seinem Image als liberale, der LDP von 2010 bis 2016. Auf dieser wissen- friedliche und offene Demokratie und präsentiert schaftlich-methodischen Basis wird nicht nur die be- sich in der machtpolitisch aufgeladenen Region Ost- stehende Forschungslücke gedeckt, sondern auch der asiens als ein Stabilitätsanker. Entgegen dieser idyl- Forschungsstand zur Ausrichtung der Partei partiell lischen Darstellung setzt die langjährige japanische revidiert. Da die Manifeste nur in der japanischen Regierungspartei unter Shinzo Abe zunehmend auf Originalsprache zur Verfügung standen, habe ich die Nationalismus und implementiert unter dieser Ideo- erstmalige Übersetzung der Dokumente ins Engli- logie eine radikale Abkehr von der bisherigen Politik- 2 sche übernommen, um so gleichzeitig den Zugang zu linie. Die Liberaldemokratische Partei Japans (LDP) einem zusätzlichen Materialkorpus zu ermöglichen4. fokussierte zwar bereits in den vergangenen 60 Jahren, in denen sie fast ausnahmslos die Regierung Nippons Für die Analyse von Nationalismus liegen prinzipiell stellte, eine autoritäre innen- sowie außenpolitische Or- eine Vielzahl an theoretischen Ansätzen vor. Bei der ganisationsstruktur (Adams/Scheiner/Kawasumi 2016; vorliegenden Arbeit finden die Nationalismuskon- Derichs 1998; Köllner 2005). Jedoch setzt sie mitt- zepte von Earnest Gellner (1999, 2006) und Benedict lerweile neue Superlative in der nationalistischen Anderson (2016) Anwendung, da diese eine spezifi- Politikausrichtung, welche nach einer Auswertung sche Anknüpfungsfähigkeit an Japan liefern5. Wäh- der aktuellen Parteiprogrammatik nicht mehr nur als rend Anderson selbst auf das Fallbeispiel Japan ein- punktuelle Wahlkampfstrategie einzustufen ist. Viel- geht, heben beide Autoren die Notwendigkeit einer mehr realisiert auch die LDP, wie ihre europäischen ökonomisch-kapitalistischen Expansion, eines zentra- und amerikanischen Kompagnons, eine eindeutige lisierten Staates und eines staatlichen Bildungssys- Umpolung zum Nationalismus (McVeigh 2006: 75; tems hervor, welche in Nippon umfänglich gegeben Nagy 2014: 8). Abes Partei muss dabei aber nicht auf sind (Anderson 2016: 94ff; Gellner 20006: 20f; De- rassistische Schlachtrufe oder Tweets zurückgreifen, richs/Lunker 2013: 300ff; McVeigh 2006: 99ff). Aus sondern konstituiert mit Hilfe des Nipponismus3 ei- den theoretischen Darlegungen von Anderson und nen subtilen offiziellen Nationalismus unterhalb des Gellner generieren sich ebenfalls die Analysekatego- internationalen Medien- und Wissenschaftsradars. rien für die Parteiprogramme der LDP, nach welchen zugleich die Gliederung meines Artikels strukturiert Bisher konzentrierte sich die Forschung primär auf ist. Da beide Autoren auf die Staatenkonkurrenz so- die erstaunliche Dominanz der LDP innerhalb des wie die Demarkation von Staaten als wichtige Elemen- japanischen Parteiensystems, wobei zumeist eine te des Nationalismus verweisen (Gellner 1999: 20f; Verortung im konservativ-bürgerlichen Spektrum Anderson 2016: 17), bildet die Außenpolitik mit Fo- Anwendung fand (Abe 2013; Akaha 2008; Köllner kus auf territorialen Protektionismus und Souveräni- 2005; Park 2013). Da durch die Reform des Wahl- tät den ersten Abschnitt. Im darauffolgenden Schritt systems erst seit 2003 die Distribution von umfas- erfolgt die Analyse der Kulturpolitik der LDP, wel- che Gellner stark betont und von Anderson in den 1 Die Autorin ist studentische Hilfskraft an der Professur für Kontext von historischem Romantizismus verordnet Politikwissenschaft (Fachbereich 03 – Gesellschaftswissen- schaften, Institut für Politikwissenschaft), Goethe-Universität 4 Die von der Autorin übersetzten Parteiprogramme der LDP von Frankfurt am Main. 2010 bis 2016 sind online verfügbar unter http://www.pruf.de 2 Die Liberaldemokratische Partei Japans entstand 1955 aus /publikationen/mip-zeitschrift/mip-zusatzmaterialien.html. dem Zusammenschluss der Liberalen und der Demokratischen 5 Da beide Autoren weiterhin der Sprache eine gewichtige Rolle Partei Japans (Crespo 1999: 200; Derichs/Lukner 2013: 269f). zuschreiben, werden im vorliegenden Artikel zusätzlich Stellung- 3 Nipponismus oder auch Japanismus sind synonyme Termini nahmen von LDP Politikern herangezogen, die in direktem für eine Perspektive, die Japan spezifische und dominante Zusammenhang mit den Parteiprogrammen stehen (Gellner Einzigartigkeiten auf normativer, kultureller, ethnischer und 1999: 63; Anderson 2016: 17). Ebenfalls werden Gesetze ana- sozialer Ebene zuschreibt (Derichs/Lukner 2013: 261f; Mc- lysiert, um darstellen zu können, inwiefern die LDP ihre Pro- Veigh 2006: 23f). grammatik auf nationaler Ebene implementiert.

22 MIP 2018 24. Jhrg. D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] Aufsätze wird (Gellner 1999: 56ff; Anderson 2016: 12ff). Der through a reform of the constitution. […] The darauffolgende Teil widmet sich der Bildungspolitik, sovereignty of Japan shall be protected welche beide Theoretiker als elementaren Bestand- through our own efforts. We shall fulfill our teil sehen und primär der Konstruktion von homoge- obligations in line with the realities of the in- nen Identitäten dient (Gellner 2006: 85ff; Anderson ternational community. Further, we reject the 2016: 114ff). ideology of “one-country pacifism” (Japanese should be content as long as Japan is Gegeben der Tatsache, dass die LDP eindeutig aus peaceful). (LDP 2010a: 5ff) dem nationalistischen Vollen schöpft, muss im An- schluss an die Inhaltsanalyse der Parteiprogramme Die Zielsetzung, Japan durch die Verfassung in eine selbstredend eine Aufschlüsselung dieses program- einzigartig japanische Form zu disziplinieren, gibt matischen Turns in verschiedene Ursachen erfolgen. dabei schon vage die Ausrichtung der geplanten Ver- Mit dieser methodischen, theoretischen und katego- fassungsänderung an. Am 28. April 2012, dem Jah- risierenden Aufarbeitung der LDP-Manifeste kristal- restag der Rückerlangung der Unabhängigkeit nach lisiert sich der subtile offizielle Nationalismus – ge- der US Besatzung, veröffentlichte die LDP medien- koppelt mit dem dominanten Narrativ des Nipponis- wirksam einen Entwurf für die neue Verfassung mus – innerhalb der Parteilinie heraus. (LDP 2013: 131). Neben dieser nicht gerade subtilen Geschichtsanekdote schreibt die Revisionsvorlage in 1. Aufrüstung und Verfassungsreform: Nationa- der neuen Präambel erstmals den Respekt für die ja- lismus in der Außenpolitik der LDP panische Geschichte, Harmonie und Kultur fest. Der Kaiser soll als nationales Symbol der Einheit des ja- Das politische Nachkriegsregime stellt bereits seit panischen Staates mit der japanischen Bevölkerung mehreren Jahren einen intensiv diskutierten Aspekt fungieren (LDP 2014: 142; LDP 2016: 164f; Repeta der Liberaldemokratischen Partei Japans dar. Vor al- 2013: 2). Auch scheint der LDP nur wenig am Prin- lem die eigene pazifistische Verfassung, welche Ja- zip der Volkssouveränität gelegen zu sein, denn die- pan den Aufbau eines eigenständig agierenden Mili- ses soll in der Verfassung keinerlei Erwähnung fin- tärs verbietet, wird als von Amerika aufgezwungen den (Repeta 2013: 2). Parallel lehnt der Verfassungs- empfunden (Estévez-Abe 2014: 166). Diese Debatte entwurf explizit die westliche Konzeption der natür- erhielt durch die ideologische Konnotation des lichen Rechte ab und ersetzt diese mit Rechten, die Wahlkampfes 2012 unter dem Duktus der nationalen aus der Geschichte, Tradition und Kultur Japans her- Restoration neuen Aufwind (Abe 2013: 81). Die un- vorgehen (LDP 2010b: 3; Repeta 2013: 2f). Um die- eingeschränkte Unabhängigkeit und Souveränität sen traditionalistischen Souveränitätsrundumschlag spielt eine wichtige Rolle im nationalistischen Den- abzurunden, strebt die LDP eine bedeutende Aus- ken (Anderson 2016: 192). Unter der Führung von 6 weitung der Befugnisse des Premierministers an, wäh- Shinzo Abe soll die „imposed constitution“ für die rend der revidierte Artikel 99 nur noch eine einge- Bürger Japans wiederhergestellt (restore) werden schränkte Machtausübung des Parlaments zulässt (LDP 2013: 131; Repeta 2013: 1). Mit der von Abe (LDP 2013: 131; LDP 2014: 143; LDP 2016: 164f; und der LDP angepeilten Verfassungsänderung soll Repeta 2013: 7). dieser Schritt nun endlich gelingen, weshalb die ja- panische Regierungspartei bereits 2010 die Hürden Den größten Stein des Anstoßes für die Wiederher- für die Zustimmung zu einer Verfassungsreform im stellung der nationalen Souveränität stellt natürlich Parlament und der Bevölkerung abflachte (LDP der Artikel 9 dar (LDP 2014: 142). Faktisch wurde 2014: 143). Die verfassungsrechtliche Strategie der dieser in den vergangenen Jahren schon so weit auf- Partei findet in ausnahmslos jedem Parteiprogramm geweicht, dass Japan durchaus zu militärischer Un- Anklang, wobei bereits der Wortlaut der Manifeste terstützung von Alliierten befähigt ist (Derichs/ verdeutlicht, warum dieses Projekt auch internatio- Lukner 2013: 282f; Michozuki/Porter 2013: 30). Abe nal so umstritten ist: reicht die reine Abkehr vom Pazifismus jedoch nicht, sodass auch die Parteiprogramme auf einen massiven First of all, the basic policy and principle of Militärausbau7 setzen (LDP 2014: 137; LDP 2016: our party is to discipline Japan in a unique Ja- 160; Washington Post 2013). Die hierfür angebrach- panese form that can contribute to the world ten Begründungsnarrative beziehen sich einerseits 6 Auch wenn die LDP bereits seit ihrer Gründung 1955 eine Revision der Verfassung fordert, wurde dieses Projekt bis 7 Bereits in seiner ersten Amtszeit restrukturierte Shinzo Abe zum Amtsantritt Abes nie konkret verfolgt (Derichs/Lunker 2007 das vormalige Amt für Verteidigung als ein vollwertiges 2013: 282f). Verteidigungsministerium (Derichs/Lukner 2013: 270).

23 Aufsätze D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] MIP 2018 24. Jhrg. auf die stärkere Stellung Japans in der internationa- lichen Bewusstseins durch Geschichtsforschung zu- len Staatengemeinschaft, andererseits auf die subjek- ständig (LDP 2014: 136f; LDP 2016: 160). tive Bedrohungswahrnehmung von China und Nord- Also, regarding various post-war compensation korea (LDP 2010b: 46f; LDP 2016: 149). Insbeson- trials and the discourse on so-called comfort dere die schwelenden Inseldispute mit gleich drei women, unjustifiable arguments contrary to Nachbarstaaten8 werden in den letzten Parteipro- historical facts have been made public and the grammen aufgegriffen und dort als fundamentaler honor of our country has been severely impai- Angriff der nationalen Souveränität und Territorien red. We will use the research of the new insti- gewertet (LDP 2014: 132ff; LDP 2016: 160). Die tutions to refute and disprove these arguments. zunehmende Sorge um die eigene Sicherheit und das (LDP 2013: 75) eigene Territorium sowie der parallele Machtverlust gegenüber der VRC können hier als nationalistische Die LDP strebt folglich eine komplette Umdeutung Manifestation der Reaktion auf externe militärische von international verurteilten Kriegsverbrechen über und machtpolitische Gefährdung verortet werden Geschichtsforschung an, um die eigene Ehre der Na- (Anderson 2016: 99; Gellner 1999: 25; Gellner tion zu bewahren (Anderson 2016: 204f). Es geht der 2006: 108). Eine feste Geographie und ein dazuge- japanischen Regierungspartei dabei aber auch um höriger selektiver Atlas scheinen auch für die LDP ein korrektes Image innerhalb der internationalen Ge- von besonderer Bedeutung zu sein (Anderson 2016: meinschaft über eine historisch-selektive Charmeoffen- 171ff). Die Selbsteinschätzung als noch nicht souve- sive (LDP 2014: 130; LDP 2016: 153). Doch Shinzo räne Nation, welche in turbulenten Zeiten der Unsi- Abe selbst geht bei der Neumodellierung der japani- cherheit auf Protektionismus setzen müsse, gipfelt schen Kriegsgeschichte noch einen Schritt weiter. bei der LDP schließlich in der Debatte um die An- 1995 entschuldigte sich der damalige PM Tomiichi schaffung eigener Atomwaffen zur Abschreckung Murayama erstmals bei Japans Nachbarstaaten für die (LDP 2010b: 48; LDP 2013: 65; LDP 2014: 128f). Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Diese Entschuldigung wurde als das „Murayama 2. Die nostalgische Geschichtsselektion im ro- Statement“ bekannt. Abe fordert seit seiner Wieder- mantischen Revisionismus als nationalistischer wahl eine Zurücknahme dieser Entschuldigung und Eckpfeiler der Kulturpolitik will sie durch ein „zukunftsorientiertes“ Statement ersetzen, während er parallel an der Revision des To- Die außenpolitisch angespannte Lage mit Japans Nach- kio Kriegsverbrechen Tribunals arbeitet (Michozuki/ barländern generiert sich jedoch nicht nur aus dem Porter 2013: 35; Park 2013: 78; Saaler 2014: 138ff). militärischen Aufrüsten und Umstrukturieren. Viel- Auch die Besuche des Yasukuni Schreins durch einen mehr steht die revisionistische Geschichtsagenda von neuen Höchststand an LDP Politikern – natürlich ein- Shinzo Abe jeglichen langfristigen Verbesserungen geschlossen des Premierministers – stehen regelmä- der Außenbeziehungen Japans beharrlich im Wege. ßig in regionaler Kritik. Im Yasukuni Schrein sind Während die LDP unter Abe das öffentlich prokla- nicht nur 14 Kriegsverbrecher des Zweiten Welt- mierte Ziel der Abkehr vom Nachkriegsregime be- kriegs beigesetzt, sondern in dem eingegliederten reits über die Verfassungsreform und den protektio- Museum wird der Asien-Pazifik Krieg als „guter nistischen Militärausbau vorantreibt, spielen vor al- Krieg“ Japans zur Befreiung Asiens dargestellt (Saaler lem die neu eingeführten Forschungsinstitutionen 2014: 143f). 2007 dementierte Abe sogar öffentlich, zur Geschichte Japans einen elementaren Teil bei der dass die sogenannten Comfort Women tatsächlich Taktik des „bringing back Japan“ (Takahashi 2014). zur Prostitution gezwungen wurden, da es angeblich Die von der LDP erstmals 2013 angekündigten Re- keine Beweise hierfür gebe10 (Köllner/Pohl 2012: 4). gierungsorganisationen setzen sich alleinig mit den Eine revisionistisch-nationalistische Geschichtsdar- territorialen Konflikten mit beispielsweise Südkorea stellung innerhalb der Parteilinie der LDP ist folg- oder China9 sowie Japans imperialistischer Historie lich mehr als nur augenkundig. auseinander und sind für die Erweiterung des öffent- Während die LDP und Abe die eigene Kriegsvergan- genheit Japans komplett umdeuten, sparen die Par- 8 Das japanische Außenministerium lehnt mittlerweile jegliche teiprogramme gleichermaßen nicht an romantischer Art von Kompromissen in bestehenden Disputen ab und fordert die uneingeschränkte Souveränität Japans (Burrett 2014: 171f). 10 Bereits 2002 drängte Abe den Fernsehsender NHK dazu, eine 9 Eine detaillierte Erläuterung aller Territorialkonflikte von Ja- Dokumentation über die Comfort Women abzuändern, da die- pan mit seinen Nachbarstaaten findet sich in dem Artikel von se den Kaiser der Showa Ära als Verantwortlichen für die Saaler (2014). Zwangsprostitution darstelle (McNeill 2005).

24 MIP 2018 24. Jhrg. D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] Aufsätze

Nostalgie. Der Slogan Restore Japan! richtet sich Das japanische Bildungssystem arbeitet grundsätz- dabei an die Rückerlangung der romantisierten Showa lich bereits stark mit der Vermittlung von japani- Ära, die als Hochphase der japanischen Kultur gilt schen Verhaltensweisen, Disziplin, Gehorsam und und deren traditionell-japanische Werte erst durch Kooperation (Gellner 1999: 121; McVeigh: 61ff). das aufgezwungene Nachkriegsregime verloren ge- Auch stellt die Integration der Kultur Japans im offi- gangen seien (Abe 2013: 83ff; LDP 2013: 1; Mc- ziellen Lehrplan keinen neuen Duktus dar (McVeigh Veigh 2006: 40). Mit der nostalgischen Idealisierung 2006: 227). Und trotzdem schafft es die LDP auch der Showa Ära korreliert gleichzeitig die Bagatelli- im Bildungssektor neue Maßstäbe bei der nationalis- sierung der Gräueltaten des japanischen Imperialis- tischen Ausrichtung zu setzen. Bereits in seiner ers- mus (Estévez-Abe 2014: 165). Allein diese Perspek- ten Amtszeit installierte Abe das Education Rebuil- tive fabriziert bereits eine verzerrte Zeitwahrneh- ding Council, welches die Abkehr von der west- mung, in welcher die glorreiche Vergangenheit zu- lich-individualisierten hin zur moralischen Bildung nächst in einer degradierten Gegenwart und später in steuern soll, um so den Respekt für Japans Traditio- einer utopischen Zukunft mündet (Anderson 2016: nen, Kultur und die Liebe zur Nation fest zu veran- 24ff; Gellner 2006: 77; McVeigh 2006: 65). Auch kern (Aspinall 2014: 240ff). Die Parteiprogramme die Parteiprogramme sparen nicht an nostalgischen der LDP verinnerlichen eindeutig diese Richtungs- Anekdoten: weisung. Grundsätzlich soll ein neues Lizenzsystem für Lehrkräfte eingerichtet werden, um deren Schwä- This is the way Japanese people used to be. chen auszumerzen. Schwächen definiert die LDP da- We have to regain once more the culture and bei auch als „unpatriotische“ Verweigerungen, die lifestyle Japan cherishes so much. I would like Nationalflagge zu hissen oder die Nationalhymne zu to reread the precepts of our ancestors once singen (LDP 2014: 116; Derichs/Lukner 2013: 262f). again, which are bushido, diligent agricultural work, the heart of master craftsmanship, mer- Weiterhin ergänzt Abes Partei den Lehrplan um die chant roads and so on. […] These are some of Lehre von „stolzen Vorfahren“, „reichen Traditionen“ the aspects of our national character, the ele- sowie Moral und richtet dafür sogar ein neues Schul- ments that have helped to form our traditional fach ein (LDP 2013: 110). Der Geschichtsunterricht ways of life – the natural environment that has scheint der LDP besonders am Herzen zu liegen, given rise to Japanese culture, the personal denn dieser soll nicht mehr nur voreingenommene conduct of our people, a way of life in which Theorien über die Vergangenheit Japans beinhalten, we venerate our ancestors who are, after all, the sondern soll den Respekt gegenüber der japanischen foundation of not only our own generation, but Tradition, Kultur, Nation und Folklore vermitteln: of all previous and future ones – these are the Even if textbooks have already been adopted elements of the Japanese character that we be- numerous times since the Basic Education Law lieve should be recognized afresh. In other was revised and new guidelines for learning words, this is what we hold to be the second were established, many textbooks still teach great goal for which our party was founded: “to biased descriptions, such as a self-directed establish a Japan that best reflects the essential historical perspective. […] we will establish nature of what is Japanese”. (LDP 2010a: 4ff) suitable guidelines and verification criteria for Im Zuge des nostalgischen Renovationismus fungiert textbooks teaching children “to respect tradi- die Vergangenheit klar als Instrument der LDP zur tion and culture and respect our country and Konstruktion eines Zusammengehörigkeitsgefühls, the local folk having brought them together”. einer Abgrenzung von anderen Nationen und der (LDP 2014: 113) Etablierung einer imaginierten Realität (Anderson Die Überarbeitung der Schulbücher auf nationaler 2016: 80f; McVeigh 2006: 53). Eine implizite Ebene dient zudem nicht nur der Revision von histo- Selbst-Anbetung der nationalen Gemeinschaft auf rischen Fakten, sondern soll gleichzeitig die Per- Basis einer mystifizierten homogenen Abstammung spektive der Regierung im Lehrplan manifestieren ist in demselben Maße zu erkennen (Gellner 1999: (LDP 2014: 113). Das nostalgische Erinnern an ver- 123; Gellner 2006: 55, 101ff). Dass Nationalstolz gangene Zeiten und die Romantisierung von Kultur insbesondere an ein kreiertes Image des nationalen und Tradition unterliegt hier einer direkten Verflech- Geschichtsbewusstseins gebunden ist, hat auch die tung mit der Essentialisierung der japanischen Iden- LDP bereits verinnerlicht (Anderson 2016: 117f; tität (Anderson 2016: 109; Gellner 1999: 114f). LDP 2016: 153).

25 Aufsätze D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] MIP 2018 24. Jhrg.

3. Für ein japanisches Japan – Der Mythos der reize für deren Rückkehr nach Nippon zu schaffen ethnisch-kulturellen Essenz im nationalistischen (LDP 2010b: 21; LDP 2013: 102; LDP 2014: 95; LDP Diskurs 2016: 112). Shinzo Abe selbst lehnt überdies eine offenere Migrationspolitik sowie ein eingeschränk- Eine allgegenwärtige Prädominante in der japani- tes Wahlrecht für in Japan lebende Ausländer kate- schen Politik und Gesellschaft besteht in dem My- gorisch ab (LDP 2013: 130; Ryan 2015). Auch die thos der ethnisch-kulturellen Homogenität sowie Gleichsetzung von territorialen mit ethnisch-kultu- dem Optimismus gegenüber einem einzigartigen Set rellen Grenzen lässt sich im Repertoire der Parteili- an japanischen Werten, Normen und Eigenschaften nie verzeichnen (Gellner 2006: 129). (McVeigh 2006: 180f). Der semantische Magnet bunka oder Kultur definiert dabei nicht nur diverse Besonders pointiert zeigt sich der Rückgriff auf Ho- soziale Dimensionen, sondern schreibt auch obliga- mogenisierung und Essentialisierung im Zusammen- torische Charakteristika für eine japanische Identität hang der nationalen Identitätskonformität in der Ka- fest. Der nationale Identifikationsrahmen beinhaltet tegorie der Bildungspolitik. Proklamiertes Ziel der Wesenszüge wie die Unterordnung gegenüber Auto- LDP ist die Erziehung von Bürgern, welche die ritätspersonen, Pflichtbewusstsein oder Harmonie hochwertige Kultur Japans und die Loyalität gegen- und setzt somit die Marker für das Ideal einer sozio- über der Nation verinnerlichen (LDP 2010b: 57; kulturellen Homogenität (Gellner 1999: 81ff; Mc- LDP 2013: 107). Bereits seit 2010 schreibt die Re- Veigh 2006: 181ff). Diese attestierten Attribute fin- gierungspartei den Respekt gegenüber der National- den sich fast wortgleich auch in den Parteiprogram- flagge und -hymne fest und installiert mit diesem na- men der Liberaldemokratischen Partei Japans. tionalistischen Referenzpunkt ein Novum in der Ge- schichte des japanischen Bildungssystems (Aspinall Die erklärte Absicht der LDP ist eine gelungene In- 2014: 243). Ab 2013 verschärft die LDP ihre Rheto- tegration von japanischen und ausländischen Bür- rik sukzessive und verbietet unangemessene Sexual- gern über intensivierten Japanischunterricht, in dem kunde, geschlechtsneutrale Bildung und einen vorein- gleichzeitig traditionelle Werte Nippons vermittelt genommenen Geschichtsunterricht. Begründet werden werden (LDP 2016: 126ff). Sprache verwendet Abes diese Aspekte mit der bemerkenswerten Hypothese, Partei folglich als klares nationales Demarkations- dass solche Bildungsinhalte zur Demütigung Japans und Homogenisierungsinstrument (Anderson 2016: führten und mit der japanischen Kultur unvereinbar 84f; Gellner 1999: 81ff). Zusätzlich betonen die Pu- seien (LDP 2013: 110; LDP 2014: 111; LDP 2016: blikationen eine deutliche Ablehnung der Internatio- 128). Schulkinder sollen folglich von Seiten der Schule nalisierung, um die eigene Kultur und natürliche „wünschenswerte Lebensweisen“ erlernen, wodurch Disposition zu schützen: parallel ein heteronormatives Geschlechterbild zum At the same time globalization is still advancing eindringlichen Pathos wird (Anderson 2016: 143; LDP so that cross cultural contact increases. Even 2013: 96; LDP 2016: 96). Die tatsächliche Relevanz if we cherish this, our pride in our traditional der staatlichen Identitätshomogenisierung akzentuiert way of life and natural disposition has been die LDP jedoch erst im Parteiprogramm von 2016: changed dramatically. (LDP 2010a: 4) In order to nurture global human resources Weiterhin keimt in der gleichen Publikation die For- who can play an active role in the world, we derung auf, dass ein Staat wiederhergestellt werden will promote the cultivation of Japanese iden- soll, welches die wahre Essenz Japans reflektiere. tities via the education on Japanese traditions, Als solche positioniert die LDP Aspekte wie Ehre, history and culture as well as high motivation. Harmonie oder Moral (LDP 2010a: 7f). Unbestritten (LDP 2016: 126) ist demnach das angestrebte Identitätsmanagement Das japanische Bildungssystem verfügt folglich über auf Basis der politischen Essentialisierung der japa- spezifische Mittel zur Kultivierung von „starken Ja- nischen Wesenheit (Anderson 2016: 35). panern“ (LDP 2014: 122). Ab 2018 müssen Schüler Der Japanischheit schreibt Abes Partei somit eine do- daher in verschiedenen moralischen Fächern und 22 minante Bedeutung zu. Die Notwendigkeit des Pro- Unterbereichen Prüfungen ablegen, zu denen offizi- tektionismus der Reinheit und Homogenität der japa- ell auch die Liebe zur Nation gehört (Sieg 2017). Es nischen Ethnie kristallisiert sich jedoch auch noch in bleibt abzuwarten, wie die LDP diese Evaluation des anderen Passagen heraus (Anderson 2016: 114; Cleve- Patriotismus von Schülern genau ausgestaltet und land 2014: 218). In vier Parteiprogrammen findet sich wie kreativ sie bei der Indoktrination mit japani- die Verpflichtung, für in China lebende Japaner An-

26 MIP 2018 24. Jhrg. D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] Aufsätze schen Werten und Identitäten noch werden kann eine Krise attestiert werden. Demgegenüber glänzt (Anderson 2016: 141ff; Gellner 1999: 140ff). aber auch das sozio-politische System nicht gerade mit Stabilität. Denn seit 2006 erlebte Japan sechs un- 4. Interne und externe Anreize für die nationalis- terschiedliche Premierminister aufgrund verschie- tische Programmatik denster Rücktritte oder Neuwahlen (Michozuki/Por- ter 2013: 26). Auch das stark zerstückelte Parteien- Unter Abe nimmt die LDP zusammenfassend in al- system, das vor allem durch andauernde Neugrün- len drei erarbeiteten Politikfeldern eine zunehmend dung und Zerschlagung von Parteien gekennzeichnet nationalistische Ausrichtung in ihrer Programmatik ist, trägt nicht zur politischen Konsolidierung bei ein. In der Außen-, Kultur- sowie Bildungspolitik (Derichs/Lukner 2013: 328ff). Unter diesen Bedin- zeigen sich einschlägige Referenzen zur territorialen gungen greift die LDP möglicherweise auf Nationa- Demarkation via dem Ausbau der Souveränitäts- lismus als Instrument zur Beilegung von politischen kraft, eine romantisch-revisionistische Geschichtsno- Systemstörungen zurück. Weiterhin fällt durch den stalgie und eine intensive Emphase der Essenz der neuen dauerhaften Koalitionspartner der Komeito japanischen Identität sowie Kultur. Auf Grundlage die Notwendigkeit weg, sich als Mitte-Partei präsen- dieser Analyseergebnisse kann Japan als nationalis- tieren zu müssen, wobei dies gleichzeitig einem offi- musanfällige Gesellschaft eingeordnet werden (Gell- ziellen Nationalismus neue Optionen bietet (Köllner ner 1999: 27ff), jedoch müssen hierbei noch potenti- 2005: 29f). Zuzüglich könnte die verheerende Wahl- elle Ursachen und Triebkräfte Klarstellung finden. niederlage der Liberaldemokratischen Partei 2009 Die harte außenpolitische Linie der LDP stellt indes ein Katalysator für nationalistische Strömungen in- keine überraschende Wende dar, sondern der „diplo- nerhalb der eigenen Partei gewesen sein, da man sich matische Zwerg“ Japan kompensiert die Verschär- über eine vereinigende Nationalismuspolitik stärke- fung und Zunahme von territorialen sowie machtpo- ren Rückhalt in der Bevölkerung ausrechnet (Adams/ litischen Kollisionen mit seinen Nachbarstaaten Scheiner/Kawasumi 2016: 275f). (Estévez-Abe 2014: 166). Da auch die schwanken- Aufgrund der Parteiendominanz der LDP, welche den Beziehungen zu den USA nicht wirklich zum Si- Abe 2012 wiederherstellte, sowie der starken Ein- cherheitsgefühl der japanischen Regierung beitra- griffe des Staates in die Gesellschaft, deklarieren gen, verarbeitet die LDP externe Bedrohungen über Wissenschaftler Japan ferner als prozedurale oder eine nationalistische Reaktion (Selden 2014: 154ff). gar autoritäre Demokratie. Hierbei bleiben die Dies belegen primär die Angst schürenden Beschreibun- grundlegenden demokratischen Prozesse aufrechter- gen des japanischen Sicherheitsumfeldes in den Par- halten, während sich inhärente Prinzipien und Nor- teiprogrammen. Diese Schilderungen der Unsicher- men einer Demokratie mit einer geflissentlichen heit oder Bedrohung von allen Fronten hat für die ja- Ignoranz konfrontiert sehen (McVeigh 2006: 83ff). panische Regierungspartei dabei noch einen netten Die nur rudimentär aktive Zivilgesellschaft Japans, Nebeneffekt. die intensive politische Normierung der Gesellschaft Shinzo Abe und die LDP begriffen schneller als an- – welche sich auch in den Parteiprogrammen heraus- dere Parteien, dass der nationale Sicherheitsdiskurs stellt – und die Positionierung Abes als starken Füh- sowie das Schüren von Angst auch bei der heimi- rer könnten Manifestationen des offiziellen Nationa- schen Wählerschaft punkten würde (Estévez-Abe lismus aus den politischen Eliten heraus darstellen 2014: 170; Michozuki/Porter 2013: 38). Und in ge- (Gellner 2006: 52f; Nagy 2016: 96ff). Dies würde nau diese Kerbe der zunehmenden Bedrohungsge- sich ebenfalls mit der Einschätzung decken, dass es fühle innerhalb der Gesellschaft schlägt die neue in Japan noch nie eine nationalistische Bewegung Programmatik der LDP. In sicherheitspolitisch oder aus der Bevölkerung heraus gegeben hat, sondern innenpolitisch schwierigen Zeiten bietet die nationa- diese stets staatlicher Animierung unterlag (Ander- listische Rhetorik das effektivste Instrument zur Ge- son 2016: 96ff). Aber auch wenn die LDP folglich nerierung von öffentlicher Unterstützung für die ei- Nationalismus zur politischen Stabilisierung Japans gene Partei (Gellner 1999: 86f). Grundsätzlich mög- instrumentalisiert, sind ebenfalls gesellschaftliche lich wäre somit, dass die LDP Nationalismus nutzt, Triebfedern gegeben. um die Bevölkerung für ihre Reformen und Narrati- Die starke Industrialisierung, gefolgt von einer öko- ve zu mobilisieren. nomischen Stagnation Japans seit den 1990er Jahren, Im sicherheitspolitischen Bereich kann Japan auf Ba- liefert dabei die stärksten Erklärungen für das Auf- sis der vielen schwelenden Konflikte wohl durchaus kommen von Nationalismus in der japanischen Politik.

27 Aufsätze D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Beide Prozesse verursachten tiefgreifende soziale 5. Fazit und Ausblick Umwälzungen und die Spaltung der Gesellschaft in Globalisierungsverlierer und -gewinner (Watanabe/ Häufig wird konstatiert, dass es Nippon gelungen Schmidt 2013: 8ff). Bis heute hat die Phase der 90er sei, auf einzigartige Weise Moderne und Tradition Jahre den Titel des „verlorenen Jahrzehnts“ sowie zu verbinden, ohne dabei einen rechtspopulistischen der „verlorenen Generation“ inne (Derichs/Lukner Charakter zu entwickeln. Auf sozialer sowie politi- 2013: 261ff). Erschwerend gilt Japan mittlerweile scher Ebene setze Japan auf Harmonie und Koopera- als die am schnellsten alternde Industrienation durch tion, sodass das Land der aufgehenden Sonne als den extensiven demographischen Wandel (Kingston friedliche, pazifistische und vorbildliche Demokratie 2014: 189f). beschrieben werden könne. Bei all diesen blumigen Beschreibungen bleibt jedoch eins zu beachten: Die resultierende Unzufriedenheit, Anomie und ver- änderte Sozialstruktur in Nippon spielt eine gewich- The greatest trick of the Devil is to convince tige Rolle bei der nationalistischen Ausrichtung der us he doesn't exist. If this doesn't work, his LDP (Gellner 1999: 169). Denn Nationalismus ent- second greatest trick is to make us believe he steht zwar erst durch die aktive Nutzung dieser Ideo- is someone other than he really is, thereby logie durch politische Autoritäten, ist dabei jedoch sending us off on a wild-goose chase while he nicht nur alleinig dem Bedürfnis nach Machterweite- is free to carry out his deeds unhindered. rung geschuldet. Vielmehr resultiert er aus dem ob- (McVeigh 2006: 282) jektiven Zwang zur Homogenisierung der Gesell- Die nationalistische Ausrichtung der japanischen Re- schaft. Nur durch dieses Vorgehen kann die Integra- gierungspartei unter Shinzo Abe äußert sich nicht in tion aller, auch ökonomisch Abgeschlagener und xenophoben und rassistischen Parolen, wie es bei- Subgruppen, in die moderne Gesellschaft durch kul- spielsweise aktuell in Europa oder den USA zu beo- turelle Politik, historische Nostalgie und Propaganda bachten ist. Vielmehr setzt die LDP auf alle Aspekte, gelingen (Gellner 2006: 44f). Wenn sich die Politik welche auch die Theoretiker Ernest Gellner und Bene- also nicht mehr über ein hohes ökonomisches dict Anderson zur Definition von Nationalismus her- Wachstum legitimieren kann, greift sie auf Nationa- anziehen. Auf diesem Wege implementiert Abe mit lismus zur Vereinigung der Bevölkerung zurück seiner Partei einen subtilen offiziellen Nationalismus (Gellner 1999: 49). Auf Grundlage dessen finden in Japan, der sich erst bei genauerer Betrachtung und sich auch in den Parteiprogrammen der LDP genau Analyse der Parteiprogramme herauskristallisiert. diese Referenzpunkte gehäuft wieder. Die Regie- Die Termini autoritär oder patriotisch reichen daher rungspartei scheint demnach zu versuchen, die japa- zur Definition der japanischen Politik derzeit nicht nische Gesellschaft vor der Zerstückelung durch Pro- mehr aus, sondern sie muss eindeutig in den Rahmen zesse der Industrialisierung und ökonomischen Re- einer nationalistischen Ideologisierung gesetzt wer- zession zu bewahren, indem sie rigoros auf das Prin- den. Geschuldet könnte der Rückgriff auf Nationa- zip des Nationalismus zurückgreift. Zeitgleich ver- lismus bei der LDP dabei sicherheitspolitischen sucht die LDP eine kulturelle Reorganisation durch Komplikationen in der machtpolitisch aufgeladenen Globalisierungseinflüsse verhindern zu wollen, um Region Nordostasien, der Dominanzkonkurrenz im so die monokulturelle, monolinguale und parochiale japanischen Parteiensystem sowie der Sorge um so- Gesellschaft zu bewahren (Gellner 2006: 112). ziostrukturelle und kulturelle Umwälzungen sein. Die japanische Regierungspartei unter Shinzo Abe Im Falle der Liberaldemokratischen Partei Japans unternimmt folglich den Versuch, über einen poli- stellt sich demnach nicht mehr die Frage danach, ob tisch-nationalistischen Nipponismus den Status Quo sie intensiv auf die Nationalismusideologie zurück- in der Politik und Kultur aufrechtzuerhalten (Gellner greift, sondern in welcher Form sie Nationalismus 2006: 112). Durch den Protektionismus der eigenen konfiguriert und lenkt. Die weitere Entwicklung der Hochkultur und der Vereinigung der Bevölkerung politischen Programmatik der LDP und Shinzo Abes über die nationalistische Ideologie versucht die LDP wird somit auch in der Zukunft ein interessantes und folglich, die demographischen, soziostrukturellen gewichtiges Forschungsfeld liefern, da ein schnelles und kulturellen Wandlungsprozesse auszugleichen, Ende des Nationalismus aus der chronologischen Bio- um simultan ihre dominante Machtposition als japa- graphie der Parteiprogramme nicht erkenntlich ist. nische Regierungspartei zu sichern (Derichs/Lunker 2013: 261f; Dujarric/Takenaka 2014: 283f; McVeigh Nationalismus ist jedoch nicht nur ein Phänomen, 2006: 24ff). sondern auch ein Problem. Gerade in Hinblick der vielen emotional aufgeladenen Konflikte in der ost-

28 MIP 2018 24. Jhrg. D'Avis – „Restore Japan!“ Restore Nationalism? [...] Aufsätze asiatischen Region bleibt abzuwarten, wie die Nach- Estévez-Abe, Margarita (2014): Feeling Triumpha- barstaaten Japans auf eine zunehmend nationalisti- list in Tokyo: The Real Reason Nationalism is Back sche Ausrichtung der Regierung reagieren. Bislang in Japan. In: Foreign Affairs. 93(3), 165-171. ist noch völlig offen, wie weit die LDP in Zukunft Gellner, Ernest (1999): Nationalismus: Kultur und gehen wird, ohne dabei in alte Verhaltensmuster zu Macht. Berlin. fallen oder eine regionale Krise hervorzurufen. Gellner, Ernest (2006): Nations and Nationalism. Literaturverzeichnis 2. Aufl. New York. Abe, Kiyoshi (2013): A Critique of Japan’s Political- Kingston, Jeff (2014): Demographic dilemmas, wo- cultural Nostalgia and its Impasse. Revised paper of men and immigration. In: ders. (Hg.): Critical Issues the keynote speech presented at The Asian Confe- in Contemporary Japan. Oxon/New York, 189-200. rence on Cultural Studies 2013, Osaka, 24- Köllner, Patrick (2005): 50 Jahre LDP: Aufstieg, Er- 26.05.2016. folgsquellen und Perspektiven der dominanten Partei Adams, James/Scheiner, Ethan/Kawasumi, Jed Japans. In: Japan aktuell. 2005(4), 23-32. (2016): Running on character? Running on policy? Köllner, Patrick/Pohl, Anna Yumi (2012): Vor dem An analysis of Japanese candidates’ campaign plat- Rechtsruck in Japan: Die Unterhauswahl wirft ihren forms. In: Electoral Studies. 2016(44), 275-283. Sschatten voraus. In: GIGA Focus Asien. 2012(10). Akaha, Tsueno (2008): The Nationalist Discourse in Online: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar Contemporary Japan: The Role of China and Korea in -321882 (25.01.2017). the Last Decade. In: Pacific Focus. 23(2), 156-188. Liberaldemokratische Partei Japan (2010a): A new Anderson, Benedict (2016): Imagined Communities: party platform for a fresh start. Tokio. [Übersetzung]. Reflections on the Origin and Spread of Nationa- Liberaldemokratische Partei Japan (2010b): J-File lism. 2. Aufl. London/New York. 2010: Liberal Democratic Party Policy Plan. Tokio. Aspinall, Robert (2014): Violence in schools. Tensi- [Übersetzung]. ons between “the individual” and “the group” in the Liberaldemokratische Partei Japan (2013): J-File Japanese education system. In: Kingston, Jeff (Hg.): 2013: Restore Japan. Tokio. [Übersetzung]. Critical Issues in Contemporary Japan. Oxon/New York, 235-245. Liberaldemokratische Partei Japan (2014): J-File: Policy Collection 2014. Tokio. [Übersetzung]. Burrett, Tina (2014): An inconvenient truce – Domestic politics and the Russo-Japanese Northern Territories Liberaldemokratische Partei Japan (2016): J-File: dispute. In: Kingston, Jeff (Hg.): Critical Issues in Comprehensive Policy Collection 2016. Tokio. Contemporary Japan. Oxon/New York, 161-176. [Übersetzung]. Crespo, Jose A. (1990): The Liberal Democratic Par- Mayring, Philipp (2015): Qualitative Inhaltsanalyse: ty in Japan: Conservative Domination. In: Internatio- Grundlagen und Techniken. 12. Aufl. Weinheim. nal Political Science Review. 16(2), 199-209. McNeill, David (2005): History Redux: Japan’s Derichs, Claudia (1998): Soziale Bewegungen im Ja- Textbook Battle Reignites. In: Japan Policy Re- pan der Nachkriegszeit: Betrachtung aus der Sicht search Institute. Online: http://www.jpri.org/publica der neuen Bewegungsforschung. In: dies./Osiander, tions/workingpapers/wp107.html (29.04.2017). Anja (Hg.): Soziale Bewegungen in Japan. Hamburg: McVeigh, Brian (2006): Nationalisms of Japan: Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, Managing and Mystifying Identity. Lanham/Oxford. 35-36. Michozuki, Mike/Porter, Samuel (2013): Japan under Derichs, Claudia/Lukner, Kerstin (2013): Japan: Poli- Abe: Towar Moderation or Nationalism? In: Washing- tisches System und politischer Wandel. In: Heberer, ton Quarterly. 36(4), 25-41. Thomas/dies. (Hg.): Die politischen Systeme Ostasi- Nagy, Stephen R. (2014): Nationalism, Domestic ens: Eine Einführung. 3. Aufl. Wiesbaden, 255-353. Politics, and the Japan Economic Rejuvenation. In: Dujarric, Robert/Takenaka, Ayumi (2014): Parochia- East Asia. 13(5), 5-21. lism: Japan’s failure to internationalize. In: Kingston, Park, Choel Hee (2013): The Double Life of Shinzo Jeff (Hg.): Critical Issues in Contemporary Japan. Abe. In: Global Asia. 8(2), 78-82. Oxon/New York, 276-287.

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30 MIP 2018 24. Jhrg. Budde/Jandura/Dohle – Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen Aufsätze

Das Framing der Flüchtlingskrise in Par- (Eilders & Hagen, 2005). Mit der sogenannten Flücht- lament und Parlamentsmagazinen lingskrise bildet eines der in Deutschland wohl am meisten und am kontroversesten diskutierten Themen der letzten Jahre den Untersuchungsgegenstand der Nadine Budde/ vorliegenden Studie. Im Beitrag soll daher die Frage Prof. Dr. Olaf Jandura/ beantwortet werden, ob sich das Framing der Flücht- PD Dr. Marco Dohle1 lingskrise zwischen den Selbstdarstellungen parla- mentarischer Akteure und der Parlamentsberichter- Einleitung stattung unterscheidet. Hierfür wurde eine manuelle Inhaltsanalyse (1) der Pressemitteilungen der Frakti- Parlamente sind zentrale Schnittstellen in der Demo- onen in der 18. Legislaturperiode des Deutschen kratie. In ihnen werden Aushandlungsprozesse ver- Bundestages sowie (2) der Berichte in den im Fern- dichtet und in für die Gesellschaft allgemein ver- sehen ausgestrahlten Parlamentsmagazinen Bericht bindliche Regeln gefasst. Zur Erfüllung ihrer viel- aus Berlin und Berlin direkt durchgeführt. Als schichtigen Funktionen benötigen Parlamente Öf- Grundlage für die Studie wird zunächst der For- fentlichkeit. Durch deren Herstellung können sich schungsstand zur Parlamentsberichterstattung disku- die Parlamente die notwendige Legitimation sichern tiert. Darauf aufbauend werden die theoretischen (Marschall, 2014). Diese Öffentlichkeit wird einer- Ansätze des Framings und der Schlüsselereignisse seits durch die parlamentseigene Medien- und Öf- herausgehoben und vertieft besprochen. An diese fentlichkeitsarbeit und andererseits durch die mas- Überlegungen schließt sich die Beschreibung der senmediale Berichterstattung über das Parlament Methode und der Ergebnisse der Studie an. Die Er- hergestellt. Letztere ist die bedeutendste Vermitt- gebnisse werden abschließend im Fazit mit dem bis- lungsinstanz zwischen Parlament und den Bürgern herigen Forschungsstand zusammengeführt. und gleichzeitig eine Determinante für das Vertrau- en der Bevölkerung in das Parlament (Zmerli, 2012, Forschungsstand zur Parlamentsberichterstattung S. 144). Die Aufgabe der Massenmedien ist es, über das aktuelle Geschehen zu berichten, es kritisch zu Wenngleich das Parlament als zentrale politische Insti- begleiten und die Abläufe im Parlament so darzustel- tution eine wichtige Rolle in der politikwissenschaft- len, dass auf Seiten der Bürger das Verständnis für lichen Forschung einnimmt, ist die Forschungslage zur parlamentarisches Handeln gestärkt wird. Diesen Parlamentsberichterstattung eher dünn (Jainsch, 2011, normativen Anforderungen steht eine empirische Be- S. 73). Die meisten Studien in diesem Feld analysieren fundlage gegenüber, laut der die Darstellung des Umfang bzw. Dauer der Berichterstattung, themati- Parlaments in den massenmedialen Angeboten auf sche Inhalte sowie die Art und Weise der Darstellung die Exekutive zentriert, auf konflikthafte Themen fo- der parlamentarischen Akteure in den Medien (u. a. kussiert, auf wenige Akteure konzentriert und entau- Schiller, 2002). Aus diesen Befunden werden Meta- thentisiert ist (u. a. Jainsch, 2011; Jandura, 2007; trends wie die Entparlamentisierung der Berichter- Marcinkowski, 2000). Das in den letzten Jahren zu- stattung, die Fixierung auf das Plenum als Handlungs- rückgehende Vertrauen in den Bundestag kann als ort und die hauptsächlich konfliktbehaftete Darstel- Resultat dieser „kommunikativen Beziehungsproble- lung der Akteure abgeleitet (u. a. Mayntz, 2002). me“ (Marschall, 2013, S. 204) zwischen Teilen der In den letzten Jahren ist verstärkt in der Kommuni- Bevölkerung und dem Parlament vermutet werden kationswissenschaft die Frage nach Argumentations- (Vowe & Dohle, 2009, S. 288). mustern in parlamentarischen Verlautbarungen und in Die Bedeutung einer qualitativ hochwertigen Parla- der Parlamentsberichterstattung aufgekommen. Hier- mentsberichterstattung wird besonders in politischen bei interessiert das Verhältnis der Deutungen von Krisen deutlich. In ihnen versucht die Politik im Be- Themen in Parlament und Medien. Problematisiert sonderen Zustimmung in der Bevölkerung zu gene- wird, dass ein mögliches Auseinanderdriften der The- rieren, um politische Entscheidungen zu legitimieren mendeutungen in beiden Arenen zu einer Entkopp- lung von Politikherstellung und -darstellung führt und 1 Nadine Budde ist Absolventin des Master-Studiengangs somit zum Legitimitätsverlust des Parlaments beiträgt „Politische Kommunikation“ am Institut für Sozialwissen- (u. a. Jandura, Gladitz, & Nitsch, 2016). schaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Olaf Jandura ist Professor und Marco Dohle ist Akademischer Die in Parlament und Medienberichterstattung präsen- Rat auf Zeit in der Abteilung für Kommunikations- und Me- tierten Deutungsmuster werden dabei in der Regel mit dienwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Hilfe des Framing-Ansatzes empirisch gefasst. Der

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Ansatz basiert auf der Annahme, dass in der Öffent- zeigt sich einerseits in einem unterschiedlichen Vor- lichkeit ein ständiger Kampf um die Deutungshoheit kommen gleicher Frames zu verschiedenen Zeiten für relevante Themen existiert und involvierte Akteu- und andererseits in einer Modifikation einzelner re versuchen, ihre Sichtweise auf das Thema präsent Frameelemente, die zur Entstehung neuer Frames zu machen und/oder andere Perspektiven zu unter- führen kann (Entman, 2003, S. 418). Als zusätzliche drücken (Matthes, 2007, S. 17). Diese Themendeu- Ursachen für diese Instabilität werden (mit Blick auf tungen sollen dabei den Rezipienten die Einordnung langfristige Veränderungen) der gesellschaftliche und Bewertung des Themas erleichtern (Scheufele, Wertewandel und (zur Erklärung kurzfristigerer Ver- 1999). Für Entman (2004) ist Framing „a process of änderungen) sogenannte Schlüsselereignisse genannt selecting and highlighting some aspects of an per- (u. a. Fröhlich, Scherer, & Scheufele, 2007, S. 14f.). ceived reality, and enhancing the salience of an in- Schlüsselereignisse werden als besondere Vorkomm- terpretation and evaluation of that reality“ (S. 26). nisse definiert, „die ein hohes Maß an Berichterstat- Empirisch übersetzt wird diese Definition zumeist tung um ein Ereignis auslösen und damit die Medien- durch die Identifikation von Frameelementen, aus berichterstattung stimulieren“ (Brosius & Eps, 1993, deren Zusammenspiel sich eine Deutung bzw. Rah- S. 393). Durch Schlüsselereignisse können einerseits mung von Themen ergibt. Ein Frame besteht aus vier neue Themen auf die Medienagenda gesetzt und an- Elementen: (1) der Problemdefinition, (2) der Ursa- dererseits bestehende Deutungen eines Themas ver- chenzuschreibung, (3) der moralischen Bewertung ändert werden. Schlüsselereignisse setzen dabei die und (4) einer Handlungsempfehlung (Entman, 1993). Routineberichterstattung zu einem Thema außer Kraft Erst durch die Kombination der Ausprägungen die- und stellen gesellschaftliche Akteure, Journalisten und ser vier Variablen lässt sich ein Frame kreieren und Rezipienten vor eine unsichere Situation der neuen interpretieren. Die reine Hervorhebung eines The- Bewertung eines Themas bzw. einer Situation (siehe menaspekts in politischen Statements oder in der u. a. auch Arendt, Brosius, & Hauck, 2017; Brosius & Medienberichterstattung reicht daher allein nicht Eps, 1995; Kepplinger, 2001). In der vergleichenden aus, um von einem Frame zu sprechen. Forschung zum Einfluss von Schlüsselereignissen Der Vorteil des Framing-Ansatzes ist, dass er auf alle auf parlamentarische Akteure und auf die Medienbe- Bereiche des Kommunikationsprozesses angewendet richterstattung wird deutlich, dass sich die Frames in werden kann. Daher kann zwischen vier verschiede- den Medien viel dynamischer verändern als die der nen Frames bzw. Stationen eines Frame-Prozesses parlamentarischen Akteure. Begründet wird dies mit unterschieden werden: (1) Das strategische Framing der starken Bindung letzterer an die eigene politische beschreibt, wie gesellschaftliche und politische Ak- Programmatik oder an Koalitionsvereinbarungen teure versuchen, ihre Deutungen auf ein Thema in der (Vliegenthart & Roggeband, 2007, S. 499). Öffentlichkeit über Selbstdarstellungen zu setzen. (2) Unter journalistischem Framing werden Selektions- Forschungsstand zum Framing von Asyl, Flücht- entscheidungen der Journalisten bezüglich Inhalten lingen und Migration und Darstellungsweisen gefasst. (3) Medienframing Der Forschungsstand zum Framing im Themenbereich hingegen beschreibt die redaktionellen Linien und die Asyl, Flüchtlinge und Migration ist sehr vielfältig und Framestruktur der Berichterstattung innerhalb eines dispers. Generell lassen sich drei Formen von Studien- Mediums über ein Thema. (4) Beim Rezipientenfra- konzeptionen erkennen: (1) Studien, die die Medien- ming interessieren schließlich die Wirkungen der Me- arena in den Mittelpunkt stellen (z. B. Chang, 2015), dienframes auf die Vorstellungen von Mediennutzern (2) Studien, die auf die politische Arena fokussieren (Scheufele, 1999). Matthes (2014, S. 14) weist in die- (z. B. Lavenex, 2001) und (3) vergleichsweise selten sem Zusammenhang darauf hin, dass diese Frames vorzufindende Studien, die beide Arenen miteinander nicht unabhängig voneinander entstehen: Mit ihrer vergleichen (z. B. Roggeband & Vliegenthart, 2007). Presse- und Öffentlichkeitsarbeit versuchen politische Innerhalb dieser Studien wird das Framing des The- Akteure Frames zu setzen, Journalisten übernehmen mas mit unterschiedlichen methodischen Designs diese jedoch nicht, sondern modifizieren sie zumeist (qualitativ vs. quantitativ), in unterschiedlichem Zeit- auf der Basis von journalistischen Selektionskriterien. rahmen (langfristig vs. kurzfristig), mit unterschiedli- Rezipienten verarbeiten die Frames zudem vor dem chem geographischen Bezug (einzelne Länder vs. Hintergrund ihrer politischen Werthaltungen und ihres Ländervergleich) und in stark differierenden Medien- politischen Involvements. Diese ständige Modifikation samples (schmales vs. breites Medienspektrum) unter- führt dazu, dass Frames langfristig eher instabil sind sucht. Diese Diversität hat zur Folge, dass unter- (Gamson & Modigliani, 1989, S. 1). Die Instabilität schiedliche Framestrukturen zu finden sind.

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Die Heterogenität gilt zum einen für das mediale und Notwendigkeiten stärker im Mittelpunkt stehen. Framing. Hier lassen sich indes Frames ausmachen, Vliegenthart und Roggeband (2007) können in ihrer die relativ häufig in Studien zu Themen wie Flucht Studie zeigen, dass dieselben Deutungsmuster in Par- und Migration identifiziert wurden: so zum Beispiel lament und Medienberichterstattung unterschiedlich ein Humanitäts-Frame, in dem die Notwendigkeit ei- intensiv verwendet werden. Einzig nach dem Schlüs- ner Unterstützung von Flüchtenden in den Vorder- selereignis des 11. September 2001 finden sie eine grund gestellt wird, oder ein Frame, in dem Proble- Überschneidung in der Dominanz des Islam-als-Be- me für die innere Sicherheit betont werden. Zudem drohung-Frame in beiden Arenen. Dieser Befund deu- werden häufig die mit dem Thema verbundenen (po- tet an, dass Schlüsselereignisse in der Lage sind, das litischen) Konflikte hervorgehoben (u. a. Boomgaarden Framing in Parlament und Medien zu synchronisieren. & Vliegenthart, 2007; Coole, 2002; Semetko & Val- kenburg, 2000; van Gorp, 2005). Methode Die Heterogenität zeigt sich zum anderen im Framing Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde eine auf der politischen Ebene: So identifiziert Lavenex standardisierte Inhaltsanalyse durchgeführt. Unter- (2001) in einer qualitativen Untersuchung des Fra- sucht wurden zum einen die Pressemitteilungen der in mings der EU-Außenpolitik zwei gegensätzliche der 18. Legislaturperiode (2013-2017) im Bundestag Frames, die je nach machtpolitischen und institutio- vertretenen Fraktionen. Die Pressemitteilungen kön- nellen Gegebenheiten der Länder unterschiedlich stark nen als zentrales Element der Selbstdarstellung der im ausgeprägt sind: Ein libertärer Frame, bei dem die Asyl- Bundestag vertretenen Akteure aufgefasst werden. politik aus der Perspektive der Sicherung der Men- Zum anderen wurde die Berichterstattung der beiden schenrechte und der Humanität gedeutet wird, konfli- jeweils sonntäglich ausgestrahlten politischen Maga- giert mit einem autoritären Frame, in dem das Thema zine Bericht aus Berlin (ARD) und Berlin direkt aus der Perspektive der inneren Sicherheit, von Grenz- (ZDF) analysiert. Die Wahl von Bericht aus Berlin kontrollen und der staatlichen Souveränität geframt und Berlin direkt als massenmediale Angebote in der wird. In weiteren Studien kommen nationale Beson- Untersuchung erfolgte deshalb, weil sich beide Sen- derheiten zum Vorschein. So zeigen Vliegenthart und dungen im weitesten Sinne gänzlich mit dem Parla- Roggeband (2007) in ihrer Langzeitstudie zur Migra- ment beschäftigen. Im Gegensatz zu Nachrichtensen- tionsdebatte in den Niederlanden zwischen 1995 und dungen ermöglicht das Magazinformat zudem einen 2004, dass der Diskurs in den Niederlanden im Unter- Blick auf die Hintergründe des parlamentarischen Ge- suchungszeitraum durch fünf Frames geprägt war. schehens, politischer Entscheidungsfindungen und Neben dem multikulturellen Frame und dem Begren- Akteurskonstellationen (Jandura et al., 2016, S. 293f.). zungsframe, die starke Ähnlichkeiten zu den eben In den Magazinen kann man ein sehr hohes Maß an beschriebenen libertären und autoritären Frames auf- Qualität der Parlamentsberichterstattung erwarten. weisen, bestimmen noch der Emanzipationsframe, der Für die Analyse wurde die Stichprobe zeitlich einge- Opferframe und der Islam-als-Bedrohung-Frame die grenzt. Wie viele Krisen ist auch die Flüchtlingskrise politische Debatte. Auch in der Studie von Nickels kein in sich geschlossenes Ereignis, das einen festen (2007), in der das Framing auf EU-Ebene in Luxem- Start und Endpunkt besitzt. Häufig werden daher be- burg im Zeitraum von 1993 bis 2000 untersucht wur- stimmte Schlüsselereignisse, die prägend für die Kri- de, finden sich neben dem liberalen Humanitätsframe se und die Kommunikation in der Krise waren, zur und dem realpolitischen Frame (ähnlich dem autori- Eingrenzung gewählt. Dieser Weg wurde auch in der tären Frame) zwei weitere Deutungsmuster: Im Au- vorliegenden Studie begangen. Den Startpunkt bildet thentizitätsframe wird zwischen Wirtschaftsflücht- der Untergang eines Flüchtlingsschiffes vor der itali- lingen und Asylsuchenden unterschieden, und im enischen Insel Lampedusa am 3. Oktober 2013, bei Verteilungsframe wird eine gleichmäßige Verteilung dem über 300 Menschen starben. Der Zeitraum en- der durch die Flüchtlinge entstehenden Lasten in der det am 30. September 2016. Kurz zuvor hatte Angela Europäischen Union gefordert. Merkel, auch unter dem Eindruck starker Verluste Die beiden letztgenannten Studien ermöglichen durch der CDU bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl, ihr Studiendesign einen Vergleich zwischen parla- erstmals in sehr deutlichem Maße Fehler in der mentarischer und medialer Arena. Nickels (2007) Flüchtlingspolitik eingeräumt. kommt zum Ergebnis, dass in den Medien die huma- In dem nahezu dreijährigen Untersuchungszeitraum nitären Belange zentral sind, während in der politi- sendeten die beiden Parlamentsmagazine 307 Beiträ- schen Arena die verwaltungspolitischen Maßnahmen ge und die im Bundestag vertretenen Fraktionen ver-

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öffentlichten 705 Pressemitteilungen mit Bezug zur fünf verschiedene Perspektivierungen auf die Flücht- Flüchtlingskrise. Im Falle von Bericht aus Berlin lingskrise durch die Selbstdarstellungen der Fraktionen und Berlin direkt wurden alle Beiträge codiert. Bei und die Berichterstattung in den beiden Parlaments- den Selbstdarstellungen fand eine disproportional magazinen angeboten. Die inhaltliche Interpretation geschichtete Stichprobeziehung von 80 Pressemittei- erfolgte über die Kombination der für jeden Frame lungen pro Fraktion (n = 320) statt. zentralen, gemeinsam auftretenden Frameelemente. Mit dieser Konstruktion der Stichprobe lässt sich so- Ergebnisse mit nicht nur untersuchen, welche Frames in der par- lamentarischen Kommunikation sowie in der Medi- Im Ergebnisteil werden nun zunächst die fünf Frames enberichterstattung in welchem Ausmaß zu finden vorgestellt, um anschließend auf dieser Basis die For- sind, sondern auch, ob die Perspektiven auf die schungsfrage nach der Parallelität der Frames in Selbst- Flüchtlingskrise stabil oder eher instabil und dyna- darstellungen und Politikmagazinen zu beantworten. mischen Veränderungen im Zeitverlauf unterworfen sind (Fröhlich et al., 2007). Für die Generierung der Der am häufigsten auftretende Frame mit einem Anteil Frames wurde ein zweistufiges Verfahren eingesetzt. von 32 Prozent ist der Maßnahmeframe. Sowohl bei Im ersten Schritt wurden einerseits deduktiv, also der Problemdefinition als auch bei den Handlungs- aus der themenspezifischen Literatur, und anderer- empfehlungen stehen politische Maßnahmen und Ver- seits induktiv, also aus Teilen des Untersuchungsma- fahren im Vordergrund (z. B. Asylverfahren, Begren- terials, Frameelemente abgeleitet (Entman, 1993; zung der Flüchtlingszahl, Integrationsmöglichkeiten), Matthes & Kohring, 2004). Erfasst wurden im Ein- deren (derzeitige) Angemessenheit zunächst bei der zelnen die Frameelemente der Problemdefinition, Problemdefinition häufig angezweifelt und kritisiert der Ursachenzuschreibung, der moralischen Bewer- wird und bei denen in den Handlungsempfehlungen tungen und der Handlungsempfehlungen mit ihren Gesetzesänderungen zur Verbesserung der Maßnah- jeweiligen Ausprägungen.2 Weitere Kategorien zur men und Verfahren als Lösung gefordert werden. Als Beschreibung der Beiträge waren neben den übli- Ursachen werden hier Dysfunktionalitäten aufgrund chen formalen Kategorien unter anderem die Erfas- bestehender Gesetze verantwortlich gemacht. Die sung der Konflikthaftigkeit, die Bewertung der Ar- Bewertung fällt in den Medien vorwiegend negativ beit des Parlaments sowie die Präsenz und Darstel- aus. Politische Akteure erwähnen dagegen auch die lung der Akteure. Die Codierung erfolgte durch eine gute Funktionalität von (geforderten/geplanten) Codiererin. Die Intracoderreliabilität für alle nicht- Maßnahmen und bewerten damit politische Leistun- formalen Variablen, berechnet nach dem Holsti-Ko- gen positiv. effizienten, lag zwischen .87 und .99. Am zweithäufigsten wird mit dem Humanitätsframe Über eine hierarchische Clusteranalyse (Ward-Verfah- (25%) die Flüchtlingskrise angesprochen. In dem ren, vorheriges Single-Linkage-Verfahren zur Ausrei- Frame ist die humanitäre Katastrophe das zentrale ßer-Eliminierung, Elbow-Verfahren) wurden die auf- Problem. Als Ursachen für diese Situation werden tretenden Kombinationen der Ausprägungen dieser (1) der Krieg in Syrien und (2) die Untätigkeit der Frameelemente zu Mustern (Frames) verdichtet. Im Akteure benannt, die zusehen, wie Flüchtlinge im Ergebnis dieser Analyse erwies sich eine 5-Clusterlö- Mittelmeer ertrinken oder ohne ausreichende Versor- sung mit Blick auf die statistischen Kennwerte und die gung und Hilfe in Flüchtlingslagern und Kriegsge- Interpretierbarkeit als die beste.3 Es werden folglich bieten leben. Die Bewertung ist demzufolge negativ, was sowohl für den Krieg als auch für die Untätig- keit der Akteure gilt. Als Handlungsempfehlungen 2 Problemdefinition: Humanitäre Katastrophe, Überforderung, Fremdenfeindlichkeit, Mangelnde Funktionalität von Verfah- werden ein geeigneter Schutz für die Flüchtlinge, der ren und Maßnahmen, Streit in Politik, Innere Sicherheit, Kon- aus den Menschenrechten abgeleitet wird, sowie die flikt: Bewältigung vs. Grundprinzipien. Ursachenzuschrei- Bekämpfung der Fluchtursachen gefordert. bung: Syrienkrieg/IS-Terror, Offene Grenzen, Diskrepanz: Maßnahmen vs. ideologische Grundsätze, Untätigkeit der Po- Ähnlich häufig wie der Humanitätsframe wird der litik, Bestehende Gesetze. Moralische Bewertung: Positiv, Konfliktframe (23%) verwendet. Problematisiert wird Negativ, Nicht bestimmbar. Handlungsempfehlung: Schutz, primär der Streit zwischen verschiedenen politischen Kontrolle der Grenzen/Begrenzung, Bekämpfung von Flucht- ursachen, Verbesserung von Verfahren und Maßnahmen, Ver- Akteuren, aber auch die Fremdenfeindlichkeit in der schärfung Asylrecht, Forderung politischer Reaktion. Gesellschaft wird angesprochen. Als Ursache wird vor 3 Kennwerte: binär euklidisches Distanzmaß, Übereinstim- allem die Untätigkeit verschiedener Akteure ausge- mungsmaß Kappa = 0.89, F-Werte der Clustervariablen macht, wobei – im Falle der politischen Statements – (knapp) größer 1.

34 MIP 2018 24. Jhrg. Budde/Jandura/Dohle – Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen Aufsätze der Adressat dieses Vorwurfs sich je nach Stellung lichkeit als Problem behandelt. Diese Aspekte erfül- des Urhebers im Parlament ändert: die Opposition kri- len alle den Nachrichtenfaktor der Negativität und tisiert die Regierung, die Regierungsparteien kritisie- des Konflikts. Daher ist auch nicht verwunderlich, ren die EU und die CSU kritisiert die Kanzlerin. Die dass fast alle Frames eine negative moralische Fär- Bewertung ist in diesem Frame die negativste von al- bung besitzen (Maurer & Reinemann, 2006, S. 153). len. Als Handlungsempfehlung wird unspezifisch eine Der Maßnahmeframe und der Ideologieframe zeigen Reaktion der Politik angemahnt, die ihr vorgeworfe- aber auch, dass parteipolitische Positionen und par- nen Mängel zu beheben. lamentarische Aspekte benannt werden. Die beiden letzten Frames kommen in der Debatte we- Im Folgenden gilt es nun zu klären, in welchen Are- niger zum Einsatz. Beim Ideologieframe (12%) wird nen welche Frames zum Einsatz kamen. Hierfür wird der Streit zwischen Akteuren um deren Handlungs- im ersten Schritt ein Aggregatvergleich über den ge- grundsätze problematisiert. Hier geht es um die Ein- samten Untersuchungszeitraum zwischen den Pres- haltung europäischer Grundwerte und um die christ- semitteilungen der Fraktionen und den beiden Polit- lich-demokratischen Werte, die gegen eine Politik magazinen vorgenommen. Im zweiten Schritt inter- der Ausgrenzung von Flüchtlingen und der Begren- essiert das Framing in beiden Arenen zu unter- zung von Flüchtlingszahlen stehen. Als Ursache für schiedlichen Zeitpunkten der Flüchtlingskrise. dieses Problem werden unterschiedliche Ideologien Die Auszählung der Perspektivierung über den ge- der Akteure angeführt. Die moralische Bewertung ist samten Zeitraum macht deutlich, dass beide Arenen überwiegend negativ. Auch in diesem Frame werden die Flüchtlingskrise unterschiedlich rahmen (siehe als Handlungsempfehlungen zur Lösung des Pro- Tabelle 1). In der parlamentarischen Arena wird der blems unspezifisch Reaktionen der Politik gefordert. Maßnahmeframe mit einem Anteil von 45 Prozent am Abschließend ist noch der Law-and-Order-Frame (8%) häufigsten verwendet, gefolgt vom Humanitätsframe zu nennen. Problematisiert werden hier vor allem die (33%). In der Politikdarstellung in Berlin direkt und Herausforderungen für die innere Sicherheit, die durch Bericht aus Berlin ist dagegen eine Dominanz des den Zuzug der Flüchtlinge für Europa und Deutsch- Konfliktframes (34 Prozent) zu beobachten. Der eben- land entstehen. Ursächlich für dieses Problem ist den falls sehr deutlich auf Konflikte abzielende Ideologie- in diesem Frame gebündelten Fällen zufolge die Poli- frame sowie der Maßnahmeframe folgen in der Medi- tik der offenen Grenzen und das Asylrecht, das die ho- enberichterstattung mit Anteilen von 19 Prozent bzw. hen Flüchtlingszahlen erst ermöglicht. Die Bewertung 18 Prozent. Dieser Befund steht im Einklang mit der der Situation ist überwiegend negativ, was mit dem Literaturlage und ergänzt diese um Befunde von Par- starken Bezug auf die Gefahr von Terrorismus und lamentsmagazinen. Auch in den Magazinsendungen, Kriminalität zu erklären ist. Handlungsempfehlungen in denen die Berichterstattung aus dem Parlament im zur Problemlösung sind daher die Verschärfung des Mittelpunkt steht, dominieren wie in anderen massen- Asylrechts, die neue Deklaration sicherer Herkunfts- medialen Angeboten mit dem Konfliktframe und dem länder sowie die Schließung bzw. die Kontrolle so- Ideologieframe Deutungsmuster, in denen der Nach- wohl der nationalen als auch der EU-Außengrenzen. richtenfaktor Negativität besonders ausgeprägt ist. In den Pressemitteilungen der Fraktionen hingegen steht Diese Befunde spiegeln Ergebnisse anderer Studien die Politikherstellung mit dem Maßnahmeframe im zu politischen Aussagen und zur Medienberichter- Mittelpunkt. Es wird also weitaus stärker darauf ver- stattung im untersuchten Themenfeld (z. B. Lavanex, wiesen, dass die Politik angesichts der Herausforde- 2001; van Gorp, 2005). In der geführten Debatte um rungen durch die humanitäre Situation (Humanitäts- die Flüchtlingskrise werden humanitäre Aspekte, frame) zum Handeln gezwungen wird bzw. bereits Fragen der inneren Sicherheit und der Fremdenfeind- mit (der Planung von) Maßnahmen begonnen hat.

Tabelle 1: Verteilung der Frames in Pressemitteilungen und Parlamentsmagazinen Pressemitteilungen Parlamentsmagazine Gesamt F-Werte (n = 320) (n = 303) (n = 623) Humanitätsframe 33% 17% 25% 25,47** Konfliktframe 13% 34% 23% 40,97** Maßnahmeframe 45% 18% 32% 50,07** Law-and-Order-Frame 4% 13% 8% 17,27** Ideologieframe 5% 19% 12% 29,25** ** p < 0.01

35 Aufsätze Budde/Jandura/Dohle – Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen MIP 2018 24. Jhrg.

Nach der statischen Analyse über den gesamten Zeit- folgende Ereignisse mit direktem Bezug zur Flücht- raum interessiert zudem, ob die parlamentarische lingskrise in den Untersuchungszeitraum: das Auf- und die mediale Deutung zu jeder Zeit unterschied- kommen der Pegida-Bewegung in Dresden im Herbst lich waren, oder ob es Zeitpunkte gab, an denen das 2014, der Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie massenmediale und das politische Framing überein- Hebdo in Paris im Januar 2015, der Brandanschlag stimmten. Folgt man dem theoretischen Ansatz der auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Sachsen Schlüsselereignisse, dann können Ereignisse mit be- im April 2015, die „Wir schaffen das“-Aussage von sonderer Tragweite die Berichterstattung über ein Angela Merkel im Spätsommer 2015, der an mehre- Thema sowie das Framing verändern. Für die Medien- ren Orten in Paris verübte Terroranschlag im No- berichterstattung konnten solche veränderten Deu- vember 2015, die Kölner Silvesternacht 2015/2016 tungsmuster vielfach nachgewiesen werden (u. a. und das EU-Türkei-Abkommen im März 2016. Brosius & Eps, 1995). Offen blieb bislang die Frage, Der Vergleich zwischen parlamentarischer und medi- ob solche Ereignisse auch die Selbstdarstellungen aler Agenda macht deutlich, dass nur zu einem Zeit- politischer Akteure beeinflussen. punkt, und zwar nach dem Schiffsunglück vor Lam- Für diese Auswertung wurden im Untersuchungs- pedusa, das Framing beider Arenen weitgehend zeitraum bestimmte Ereignisse identifiziert, die das identisch war (siehe Tabelle 2). Sowohl in den Presse- Potenzial haben, die politische und mediale Deutung mitteilungen als auch in der Medienberichterstattung eines Themas zu verändern. Neben dem Schiffsun- dominierte der Humanitätsframe mit einem Anteil glück vor Lampedusa im Oktober 2013, das den Be- von 71 Prozent bzw. 83 Prozent in den untersuchten ginn des Untersuchungszeitraums markiert, fielen Angeboten. Ab dem Aufkommen der Pegida-Bewe-

Tabelle 2: Verteilung der Frames in Pressemitteilungen und Parlamentsmagazinen im Zeitverlauf

Nach Nach Nach Nach Nach Nach Nach Nach Merkel Terror- Kölner EU- Frame Akteur Aufkommen Charlie Brand- Lampedusa „Wir anschlag Silvester- Türkei- von Pegida Hebdo anschlag schaffen das“ in Paris nacht Abkommen Pressemit- 71% 40% 57% 34% 18% 14% 30% 24% Humanitäts- teilungen frame Parlaments- 83% 50% 0% 37% 16% 12% 2% 2% magazine Pressemit- 5% 16% 0% 16% 16% 10% 13% 11% Konflikt- teilungen frame Parlaments- 17% 29% 18% 27% 37% 33% 37% 41% magazine Pressemit- 20% 44% 36% 48% 61% 71% 40% 33% Maßnahme- teilungen frame Parlaments- 0% 14% 24% 33% 25% 12% 10% 13% magazine Pressemit- 2% 0% 0% 2% 0% 0% 10% 16% Law-and- teilungen Order-Frame Parlaments- 0% 7% 59% 3% 6% 19% 25% 2% magazine Pressemit- 2% 0% 7% 0% 5% 5% 7% 16% Ideologie- teilungen frame Parlaments- 0% 0% 0% 0% 17% 26% 27% 41% magazine Pressemit- 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% teilungen Gesamt Parlaments- 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% magazine Pressemitteilungen: n = 320; Parlamentsmagazine: n = 303; Prozentangaben innerhalb einer Phase

36 MIP 2018 24. Jhrg. Budde/Jandura/Dohle – Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen Aufsätze gung liefen jedoch die Deutungen in parlamentari- Zweitens ist zu konstatieren, dass der theoretische scher und medialer Arena auseinander. Der Humani- Ansatz der Schlüsselereignisse nicht nur für die Be- tätsframe war zwar weiterhin die insgesamt häufigste schreibung der Medienberichterstattung, sondern Deutung der Flüchtlingskrise, nur wurde dieser nun auch für die Analyse der Selbstdarstellung von poli- in den Pressemitteilungen durch den Maßnahmeframe tischen Akteuren geeignet ist. Die Aussage von (44%) ergänzt, während die Parlamentsmagazine den Fröhlich et al. (2007), dass Medienframes nicht sta- Konfliktframe (29%), und hier den Konflikt zwischen bil, sondern vielmehr leicht veränderbar sind, kann den Demonstranten und der Politik stärker betonten. für die Berichterstattung der Parlamentsmagazine Auch auf die Ereignisse um den Anschlag auf die Sa- voll und ganz und für die Selbstdarstellungen der tirezeitschrift Charlie Hebdo reagierten mediale und Fraktionen in abgestufter Form bestätigt werden. Im parlamentarische Arena unterschiedlich: Während in Untersuchungszeitraum gibt es mit dem Schiffsun- den Parlamentsmagazinen primär der Law-and-Order- glück vor Lampedusa zudem nur ein Ereignis, das Frame zur Rahmung des Themas eingesetzt wurde, von beiden untersuchten Quellen zumindest annä- blieb in den Pressemitteilungen der Humanitätsframe hernd identisch geframt wurde. Alle anderen Ereig- neben dem Maßnahmeframe führend. Diese Diffe- nisse ziehen ein nach Selbstdarstellungen und Medi- renzen im Framing zeigen sich ebenso für die Zeit enberichterstattung differenziertes Framing nach nach den Brandanschlägen auf die geplante Flücht- sich. Dabei wird deutlich, dass im Gegensatz zur me- lingsunterkunft, nach Angela Merkels „Wir schaffen dialen Arena die parlamentarische Arena – auch die- das“-Rede, nach dem Terroranschlag in Paris, nach ser Befund steht im Einklang mit der Literatur der Kölner Silvesternacht sowie nach dem EU-Türkei- (Wood & Peake, 1998, S. 181f.) – weniger anfällig Abkommen. Während die Fraktionen in ihren Selbst- für externe Ereignisse ist. So ist zum Beispiel der darstellungen mit dem Maßnahmeframe vor allem Maßnahmeframe, also die Suche nach politischen auf diese Ereignisse mit Vorschlägen zur Politikher- Lösungen zur Bewältigung der Krise, fast durchgän- stellung reagierten, spielte in der Medienberichter- gig der am häufigsten verwendete Frame. stattung der Konfliktframe, also der Konflikt zwi- Drittens lässt sich mit den Befunden dieser Studie schen den politischen Akteuren, eine zentrale Rolle. ebenso zeigen, dass der Anpassung der Öffentlich- Zudem gewann der ebenfalls konfliktbetonende keitsarbeit der Fraktionen des Deutschen Bundesta- Ideologieframe in der Medienberichterstattung eine ges an die Medienlogik Grenzen gesetzt sind (Ober- zunehmende Bedeutung. reuter, 2013, S. 47f.). Die Fraktionen sind bemüht, Fazit den Journalisten und Bürgern zu vermitteln, welche politischen Maßnahmen zur Lösung bzw. Bewälti- Die Befunde der vorliegenden Studie lassen sich aus gung der Flüchtlingskrise sie für richtig finden bzw. drei Perspektiven diskutieren: Erstens bestätigt die ergreifen wollen. In den Parlamentsmagazinen wird Analyse den Forschungsstand zur Debatte um die jedoch auf der Ebene der Politikdarstellung ein ab- Flüchtlingskrise in anderen europäischen Ländern und weichendes Bild von diesen Bemühungen gezeichnet zu früheren Zeitpunkten. Zwischen parlamentarischer – der Maßnahmeframe wurde kaum aufgegriffen. und medialer Agenda, zwischen politischer Selbstdar- Nun kann es nicht Anspruch der Parlamentsmagazi- stellung und einer Fremddarstellung durch Medien ne sein, das Framing der Flüchtlingskrise durch die gibt es nur einen geringen Konsens (Vliegenthart & Fraktionen des Bundestags widerzuspiegeln. Eine Roggeband, 2007, S. 309). Dies gilt sowohl für den geringere Konfliktorientierung und eine intensivere gesamten Untersuchungszeitraum als auch mit einer Betrachtung der von den Akteuren vorgeschlagenen Ausnahme für die Berichterstattung in Zeiträumen, Maßnahmen könnte jedoch ein valideres Bild von die nach sehr unterschiedlichen Schlüsselereignissen der politischen Diskussionslage im Bundestag zeich- liegen. Die Parlamentsmagazine konzentrieren ihre nen und somit einen Beitrag leisten, die „kommuni- Themenrahmung der Flüchtlingskrise wie andere mas- kativen Beziehungsprobleme“ zwischen Parlament senmediale Angebote auch auf den Nachrichtenfak- und Bevölkerung zu verringern. tor der Negativität, indem sie neben negativen genui- nen Ereignissen mit dem Konfliktframe auch noch Am Ende des Beitrages noch einige Anmerkungen den Konflikt zwischen politischen Akteuren ins Zen- zu den Limitationen der Studie. Die Pressemitteilun- trum rücken. Der Maßnahmeframe, anhand dessen gen der Bundestagesfraktionen bilden nur einen klei- Verhandlungs- und Abstimmungsprozesse im Parla- nen Ausschnitt aller Verlautbarungen politischer Ak- ment verdeutlicht werden können, spielt in der Me- teure zur Flüchtlingskrise. Und aus der Berichterstat- dienberichterstattung nur eine untergeordnete Rolle. tung der beiden Parlamentsmagazine lassen sich kei-

37 Aufsätze Budde/Jandura/Dohle – Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen MIP 2018 24. Jhrg. ne direkten Rückschlüsse auf das Medienframing an- Entman, R. M. (2003). Cascading activation: Con- derer massenmedialer Angebote ziehen. Ein Ver- testing the White House’s frame after 9/11. Political gleich von Bericht aus Berlin und Berlin direkt mit Communication, 20, 415–432. anderen journalistischen Angeboten war im Rahmen Entman, R. M. (2004). Projections of power: Fram- der vorliegenden Untersuchung nicht möglich. In ing news, public opinion, and U.S. foreign policy. weiteren Studien könnte dies ebenso umgesetzt wer- Studies in communication, media, and public opin- den wie eine Ergänzung um andere Verlautbarungen ion. Chicago: University of Chicago Press. politischer Akteure. Ebenso sollten weitere Studien untersuchen, wie sich die Rezipientenframes wäh- Fröhlich, R., Scherer, H., & Scheufele, B. (2007). rend der Flüchtlingskrise entwickelt haben. Diese Kriegsberichterstattung in deutschen Qualitätszei- Auswertung ließe Schlüsse zum Verhältnis zwischen tungen. Publizistik, 52, 11–32. dem Framing der Fraktionen im Parlament und der Gamson, W. A., & Modigliani, A. (1989). Media Bevölkerung zu. Mit der AfD und der FDP sind zwei discourse and public opinion on nuclear power: A weitere Parteien in Fraktionsstärke in den 19. Bun- constructionist approach. American Journal of Soci- destag eingezogen. In diesem Kontext interessiert, ology, 95, 1–37. wie sich das Framing der Flüchtlingskrise im Bun- Jainsch, R. (2011). Im Schatten der Talkshows? Der destag nach 2017 verändert hat. Wandel der Parlamentsberichterstattung in Deutsch- Literatur land und Großbritannien. Baden-Baden: Nomos. Arendt, F., Brosius, H.-B., & Hauck, P. (2017). Jandura, O. (2007). Kleinparteien in der Mediende- Die Auswirkung des Schlüsselereignisses „Silves- mokratie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen- ternacht in Köln“ auf die Kriminalitätsberichter- schaften. stattung. Publizistik, 62, 135–152. Jandura, O., Gladitz, P., & Nitsch, C. (2016). Parla- mente in non-fiktionalen und fiktionalen Angeboten. Boomgaarden, H., & Vliegenthart, R. (2009). How Publizistik, 61, 287–304. news content influences anti-immigration attitudes. Germany, 1993–2005. European Journal of Politi- Kepplinger, H. (2001). Der Ereignisbegriff in der cal Research, 48, 516–542. Publizistikwissenschaft. Publizistik, 46, 117–139. Brosius, H.-B., & Eps, P. (1993). Verändern Schlüs- Lavenex, S. (2001). Migration and the EU's new selereignisse journalistische Selektionskriterien? eastern border: Between realism and liberalism. Framing am Beispiel der Berichterstattung über An- Journal of European Public Policy, 8, 24–42. schläge gegen Ausländer und Asylanten. Rundfunk Marcinkowski, F. (2000). Die Medien-Öffentlichkeit und Fernsehen, 41, 512–530. des Parlaments in der „Verhandlungsdemokratie“. In Brosius, H.-B., & Eps, P. (1995). Prototyping O. Jarren, K. Imhof, & R. Blum (Hrsg.), Zerfall der through key events. News selection in the case of vi- Öffentlichkeit? (S. 49–73). Wiesbaden: VS Verlag olence against aliens and asylum seekers in Ger- für Sozialwissenschaften. many. European Journal of Communication, 10, Marschall, S. (2013). Parlamentarische Kommunika- 391–412. tion in der repräsentativen Demokratie der Bundes- Chang, Y.-l. (2015). Framing of the immigration re- republik Deutschland. In E. Czerwick (Hrsg.), Poli- form in 2006. Journalism & Mass Communication tische Kommunikation in der repräsentativen Demo- Quarterly, 92, 839–856. kratie der Bundesrepublik Deutschland (S. 195– 206). Wiesbaden: Springer. Coole, C. (2002). A warm welcome? Scottish and UK media reporting of an asylum-seeker murder. Marschall, S. (2014). Das politische System Media, Culture & Society, 24, 839–852. Deutschlands (3. Aufl.). Konstanz: UVK. Eilders, C., & Hagen, L. (2005). Kriegsberichterstat- Matthes, J. (2007). Framing-Effekte: Zum Einfluss tung als Thema kommunikationswissenschaftlicher der Politikberichterstattung auf die Einstellungen Forschung. Medien & Kommunikationswissenschaft, der Rezipienten. München: Verlag Reinhard Fischer. 53, 205–221. Matthes, J. (2014). Framing. Baden-Baden: Nomos. Entman, R. (1993). Framing: Toward clarification of Matthes, J., & Kohring, M. (2004). Die empirische a fractured paradigm. Journal of Communication, Erfassung von Medien-Frames. Medien & Kommu- 43, 51–58. nikationswissenschaft, 52, 56–75.

38 MIP 2018 24. Jhrg. Budde/Jandura/Dohle – Das Framing der Flüchtlingskrise in Parlament und Parlamentsmagazinen Aufsätze

Maurer, M., & Reinemann, C. (2006). Medieninhalte: Zmerli, S. (2012). Soziales und politisches Vertrau- Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial- en. In J. W. van Deth & S. I. Keil (Hrsg.), Deutsch- wissenschaften. lands Metamorphosen (S. 139–173). Baden-Baden: Mayntz, G. (2002). Der unbekannte Star: Die Prä- Nomos. senz des Bundestages in den Medien. In H. Oberreu- ter, U. Kranenpohl, & M. Sebaldt (Hrsg.), Der Deut- sche Bundestag im Wandel. Ergebnisse neuerer Par- lamentarismusforschung (S. 200–214). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Nickels, H. C. (2007). Framing asylum discourse in Luxembourg. Journal of Refugee Studies, 20, 37–59. Oberreuter, H. (2013). Öffentlichkeit, Politik, Demo- kratie – Interdependenzen der Macht. In E. Czerwick (Hrsg.), Politische Kommunikation in der repräsen- tativen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland (S. 43–51). Wiesbaden: Springer. Roggeband, C., & Vliegenthart, R. (2007). Diver- gent framing: The public debate on migration in the Dutch parliament and media, 1995-2004. West Euro- pean Politics, 30, 524–548. Scheufele, B. (1999). (Visual) Media Framing und Politik. Zur Brauchbarkeit des Framing-Ansatzes im Kontext (visuell) vermittelter politischer Kommuni- kation und Meinungsbildung. In W. Hofmann (Hrsg.), Die Sichtbarkeit der Macht. Theoretische und empirische Untersuchungen zur visuellen Politik (S. 91–105). Baden-Baden: Nomos. Schiller, D. (2002). Brennpunkt Plenum. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Semetko, H., & Valkenburg, P. (2000). Framing Eu- ropean politics: A content analysis of press and tele- vision news. Journal of Communication, 50, 93–109. van Gorp, B. (2005). Where is the frame? Victims and intruders in the Belgian press coverage of the asylum issue. European Journal of Communication, 20, 484–507. Vliegenthart, R., & Roggeband, C. (2007). Framing immigration and integration. The International Communication Gazette, 69, 295–319. Vowe, G., & Dohle, M. (2009). Weltsicht und Medi- enbild des Parlaments im Wandel. Eine Inhaltsanaly- se von Bundestagsdebatten aus 50 Jahren. In F. Mar- cinkowski & B. Pfetsch (Hrsg.), Politik in der Medi- endemokratie (S. 224–250). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wood, B. D., & Peake, J. S. (1998). The dynamics of foreign policy agenda setting. American Political Science Review, 92, 173–184.

39 Aufsätze Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Die Unabhängige Kommission zur Über- als Vorbild in Taiwan betrachtet werden.5 Die zur prüfung des Vermögens der Parteien und Anwendung gebrachten materiell-rechtsstaatlichen Massenorganisationen in Taiwan Grundsätze, die Einordnung des Stichtags, die Auf- stellung der UKPV, die Regelung der treuhänderi-

1 schen Verwaltung sowie die Kriterien einer verbun- Ren-Jyun Huang denen politischen Organisation und juristischen Per- son im Sinne der §§ 20a und 20b PartG-DDR wur- den in Taiwan rezipiert. Im Folgenden soll rechtsver- I. Einleitung gleichend die rechtliche Behandlung der unrechtmä- Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des ßig erworbenen Parteienvermögen in Deutschland und Vermögens der Parteien und Massenorganisationen Taiwan mit Blick auf die Besonderheiten des demo- (UKPV) ist – obgleich ein deutscher Begriff – kein kratischen Übergangs in Taiwan untersucht werden. Fremdwort in Taiwan, sondern ein funktionierendes Organ in der taiwanischen Regierung.2 Nachdem die II. Verfassungs- und einfachrechtliche Grundlagen Kuomintang (KMT) die Präsidentschaftswahl und der politischen Parteien in Taiwan erstmals auch die Parlamentsmehrheit an die Demo- Bevor eine Auseinandersetzung mit dem „Gesetz kratische Fortschrittspartei (DPP) verloren hatte, wur- über die Behandlung des unrechtmäßig erworbenen de das „Gesetz über die Behandlung des unrechtmäßig Vermögens der Parteien und Massenorganisationen erworbenen Vermögens der Parteien und Massenor- (PartG-KMT)“ stattfindet, welches im Verhältnis ganisationen (PartG-KMT)“3 am 25. Juli 2016 von zum Parteienrecht eine Spezialregelung der Partei- der DPP-Regierung erlassen. Das Gesetz bezweckt vermögen darstellt, ist im Vorfeld zu klären, welche in erster Linie, diejenigen Vermögenswerte bei den verfassungs- und einfachrechtlichen Grundlagen der Parteien und Massenorganisationen zu sichern und politischen Parteien in Taiwan bestehen. ihnen zu entziehen, die sich bei eben diesen infolge der nicht vorhandenen Trennung von Staat und Par- Während der Funktionsbegriff der Parteien, die teien im ehemaligen KMT-Regime in Taiwan ange- Gründungsfreiheit der Parteien, die innerparteiliche sammelt hatten. Diese Maßnahmen werden als erster Demokratie, die Offenlegung der Parteienfinanzie- Schritt zur Herstellung der Chancengleichheit der rung und die wehrhafte Demokratie unmittelbar in Parteien und der Transitional Justice verstanden. Art. 21 GG verankert sind,6 finden sich solche par- teienrechtlichen Bestimmungen sowohl in Taiwans Es besteht kein Zweifel daran, dass das Gesetz über Verfassung als auch im einfachgesetzlichen Recht Parteien und andere politische Vereinigungen (PartG- der politischen Parteien wieder. Als das Gesetz über DDR)4 und die Praxiserfahrung der Unabhängigen die politischen Parteien (PartG-Taiwan)7 am 6. De- Kommission zur Überprüfung des Vermögens der zember 2017 in Kraft trat, enthielten das taiwanische Parteien und Massenorganisationen der DDR (UKPV) Verfassungs- und Parteienrecht bereits parteienrecht- liche Bestimmungen. In Taiwan sind zwar die politi- 1 Der Autor ist Doktorand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht schen Parteien verfassungsrechtlich institutionali- und Staatsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universi- siert, indem der Verfassungstext die Gleichheit der tät München. Parteien, die wehrhafte Demokratie und das Partei- 2 In Englisch: „Ill-gotten Party Assets Settlement Committee“; enverbot regelt.8 Jedoch ist der Funktionsbegriff der in (traditionellem) Chinesisch: „不當黨處理委員會產處理委員會 (bù dāng dǎng chǎn chù lǐ wěi yuán huì).“ Offizielle Website der 5 Official Gazette Department of Legislative, Record of Meet- UKPV-Taiwan: https://www.cipas.gov.tw/. ing, Official Gazette of Legislative Yuan, Vol. 105, No. 28, April 2016, 183-208. 3 In Englisch: „The Act Governing the Handling of Ill-Gotten Properties by Political Parties and Their Affiliated Organiza- 6 Dimitris Th. Tsatsos/Martin Morlok, Parteienrecht, 1982, tions“; in (traditionellem) Chinesisch: „政黨及其附隨組織 S. 16 ff.; Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 不當取得財產 處理條例 (zhèng dǎng jí qí fù suí zǔ zhī bù Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 19 ff.; Hans dāng qǔ dé cái chǎn chù lǐ tiáo lì).“ Der Volltext in chinesischer Hugo Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. III, 2017, Sprache ist abrufbar unter: http://law.moj.gov.tw/LawClass/ Art. 21 Rn. 248 ff. LawAll.aspx?PCode=A0030286 (Zugriff am: 20.02.2018). 7 PartG-Taiwan. In Englisch: Political Parties Act (Taiwan). Voll- 4 Gesetz über Parteien und andere politische Vereinigungen text (Englisch) unter: http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/ (PartG-DDR) vom 21. Februar 1990 (GBl. DDR I Nr. 3 S. 66); LawAll.aspx?PCode=D0020078 (Zugriff am: 20.02.2018). durch Gesetz vom 31. Mai 1990 (GBl. I. S. 275) wurde mit 8 Tzong-li Hsu, Rezeption und Weiterentwicklung des Konzepts der §§ 20a und 20b die Unabhängige Kommission zur Überprüfung wehrhaften Demokratie in Taiwan, in: Werner Heun/Christian des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der Starck/Tzung-jen Tsai (Hrsg.), Rezeption und Paradigmen- DDR geschaffen. wechsel im öffentlichen Recht, 2009, S. 97 ff.; Chih-kuang Wu,

40 MIP 2018 24. Jhrg. Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] Aufsätze

Parteien, die innerparteiliche Demokratie und die wenn ihre Ziele oder Aktivitäten den Fortbestand der Offenlegung der Parteienfinanzierung ausschließlich Republik China oder die freiheitlich-demokratische im PartG-Taiwan reguliert und gefordert. Verfassungsordnung gefährden.“13 Die Intention des Verfassungsgesetzgebers bestand darin, durch diesen 1. Die Gleichheit der politischen Parteien Artikel den Kommunismus zu bekämpfen, der Auf- Die Gleichheit politischer Parteien ist in Art. 7 der spaltung des nationalen Territoriums entgegenzuwir- Verfassung der Republik China verankert: „Alle ken, den Separatismus zu verbieten und die Unab- Staatsbürger der Republik China, ungeachtet ihres hängigkeitsbewegung Taiwans herbeizuführen, in- Geschlechts, ihrer Religion, ihrer Rasse, ihrer sozia- dem die deutsche wehrhafte Demokratie in der Ver- len Stellung oder ihrer Parteizugehörigkeit, sind vor fassung der Republik China (Taiwan) rezipiert dem Gesetz gleich.“9 Dieser Artikel reflektiert nicht wird.14 Diese Vorschrift des Parteiverbots ist auch in nur ein allgemeines Gleichheitsrecht, sondern er er- § 30 PartG-Taiwan enthalten. klärt sich auch vor dem historischen Hintergrund des Chinesischen Bürgerkrieges zwischen der Kommu- 3. Der Parteienbegriff nistischen Partei Chinas (KPCh) und der KMT. Der Begriff der politischen Parteien findet sich nicht Während des Chinesischen Bürgerkrieges (1945- in der Verfassung. Stattdessen wird die gesetzliche 1949) wurde die Verfassung der Republik China als Definition der politischen Parteien in § 3 PartG-Taiwan eine Chance des Waffenstillstandes wahrgenom- festgelegt: „Parteien sind politische Vereinigungen men.10 Aufgrund des Konflikts zwischen der Kom- von Bürgern der Republik China mit gemeinsamem munistischen Partei Chinas (KPCh) und der KMT ist politischen Verständnis, die die freiheitlich-demokra- die Gleichheit politischer Parteien in der Verfassung tische Verfassungsordnung schützen, bei der politi- der Republik China spezifisch verankert. Auf dieser schen Willensbildung des Volkes mitwirken und die verfassungsrechtlichen Grundlage hat der Gesetzge- Kandidaten für politische und staatliche Ämter auf- ber die Gleichbehandlung der Parteien in § 6 PartG- stellen.“15 Bei einem Vergleich des § 3 PartG-Taiwan Taiwan geregelt: „Wenn ein Träger öffentlicher Ge- mit Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG wird die Hervorhebung der walt den Parteien Einrichtungen zur Verfügung stellt Funktionsbegrifflichkeit in beiden Definitionen der oder andere öffentliche Leistungen und Medien ge- Parteien deutlich. So werden Parteien in ihren Funk- währt, sollen alle Parteien gleichbehandelt werden.“11 tionen in Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG folgendermaßen de- finiert: „Die Parteien wirken bei der politischen Wil- 2. Die wehrhafte Demokratie und das Parteiverbot lensbildung des Volkes mit.“16 Auffällig ist dabei die Seit der Verfassungsänderung 1992 werden die Adaption der Formulierung in § 3 PartG-Taiwan. wehrhafte Demokratie und das Parteiverbot im Er- Darüber hinaus werden politische Parteien in § 3 gänzenden Artikel zur Verfassung in Taiwan festge- 12 PartG-Taiwan ausdrücklich als „politische Vereini- legt. Seit 2005 regelt der Zusatzartikel 5 Absatz 5: gungen von Bürgern der Republik China“ bezeich- „Eine politische Partei gilt als verfassungswidrig, net. Der Parteibegriff hebt auf diese Weise beson- ders hervor, dass die Funktion der politischen Verei- Streitbare Demokratie: ihre Entwicklung in Deutschland und nigungen mit der staatlichen Identität der Republik ihre Rezeption in Taiwan (Republik China), 1998, S. 105 ff. China verknüpft ist. In diesem Sinne sind der taiwa- 9 Verfassung der Republik China. Volltext (Englisch) unter: http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/LawAll.aspx?PCode=A0 nische Parteienbegriff und die staatliche Identität der 000001 (Zugriff am: 20.02.2018); vgl. Yun-Ju Wang, Die Republik China eng miteinander verwoben. Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtstheorie in Taiwan, 2008, S. 202; Ying-Chu Wu, Die Parteienfinanzie- 13 Tzong-li Hsu (Fn. 8), S. 97 f. rung in Taiwan und in Deutschland, 2012, S. 98 ff. 14 Tzong-li Hsu (Fn. 8), S. 98 f. 10 Lei Zhen, The Constitutional History of the Republic of China: 15 § 3 PartG-Taiwan (Political Parties Act): The term “political The Path of Constitution-Making (1912-1945), 2010, S. 199. parties” in this act refers to political groups consisting of Re- 11 § 6 PartG-Taiwan (Political Parties Act): Political parties shall public of China citizens with a common political ideology be subject to the same payment practices for the use of public who safeguard the free, democratic, constitutional order, as- venues, mass media, and/or other public facilities, and may sist in shaping the political will of the people, and nominate not receive differential treatment without legitimate reason. candidates for election to public office. Volltext (Englisch) Volltext (Englisch) unter: http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/ unter: http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/LawAll.aspx?PCo LawAll.aspx?PCode=D0020078 (Zugriff am: 20.02.2018). de=D0020078 (Zugriff am: 20.02.2018). 12 Ergänzende Artikel zur Verfassung der Republik China. Volltext 16 Dimitris Th. Tsatsos/Martin Morlok (Fn. 6), S. 16 ff.; Martin (Englisch) unter: http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/LawAll Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, .aspx?PCode=A0000002 (Zugriff am: 20.02.2018); vgl. Jiunn- 3. Aufl., 2015, Art. 21 Rn. 19 ff.; Hans Hugo Klein, in: rong Yeh, The Constitution of Taiwan, 2016, S. 165. Maunz/Dürig, Grundgesetz Bd. III, 2017, Art. 21 Rn. 216 ff.

41 Aufsätze Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] MIP 2018 24. Jhrg.

4. Die innerparteiliche Demokratie 5. Die Offenlegung der Parteienfinanzierung Der Grundsatz der innerparteilichen Demokratie ist Vor dem Parteiengesetz gab es keine gesetzliche Re- in § 5 PartG-Taiwan lediglich formell festgelegt: „Die gelung zur Offenlegung der Finanzlage der Parteien Parteien sollen nach demokratischen Grundsätzen in Taiwan. Stattdessen waren in den Jahren 2006 bis organisiert und betrieben werden.“17 Die Rechte der 2016 Offenlegungspflichten in einer Verordnung, die Parteimitglieder sind zwar in den Satzungen beider durch das Ministerium des Innern erlassen wurde, Parteien (§ 8 Satzung der KMT; § 6 Satzung der vorgesehen, und zwar lediglich in Form der „Anlei- DPP) verankert, aber ihre Geltungskraft wird in der tung durch die Verwaltung“, sodass es keine Sankti- Auslegung Nr. 331 des Verfassungsgerichts Taiwans on gab. Nach dieser Verordnung wurde der Name (Judicial Yuan)18 und in § 73 Abs. 2 Wahlgesetz Tai- der Partei vom Ministerium des Innern im Internet wan19 erheblich geschwächt. Dem Mandatsverlust al- veröffentlicht, wenn die Partei keinen Finanzbericht lein aufgrund eines Parteiausschlusses stimmten das zur eigenen Finanzlage anmeldete. Seit Inkrafttreten Verfassungsgericht (Judicial Yuan) und der Gesetz- des Parteiengesetzes im Jahr 2017 sind die Bestim- geber in Taiwan zu. Innerparteiliche Opposition mung der Parteienfinanzierungsquelle, die Pflicht wird dadurch nicht begünstigt. Zur Begründung ver- zur öffentlichen Rechenschaftslegung, das Verbot weist das Verfassungsgericht darauf, dass im Kon- unternehmerischer Tätigkeit der Parteien und Straf- text der Mitwirkung bei der politischen Willensbil- vorschriften in den §§ 19-24 PartG-Taiwan geregelt. dung des nationalen Volkes das Wahlvorschlags- recht der Parteien im einzelnen Wahlbezirk eine hö- III. Das Gesetz über die Behandlung des unrecht- here Priorität besitzen soll als das Prinzip des freien mäßig erworbenen Vermögens der Parteien und Mandats.20 Massenorganisationen von 2016 Bei Betrachtung des Finanzberichts der KMT 201521 wird ein besonderes Problem hinsichtlich der Partei- 17 § 5 PartG-Taiwan (Political Parties Act): The organization and enfinanzierung sichtbar. Die Problematik besteht in operation of political parties shall comply with democratic prin- einer Finanzierungsquelle der KMT, nämlich der ciples. Volltext (Englisch) unter: http://law.moj.gov.tw/Eng/Law Central Investment Corporation, die in beträchtlicher Class/LawAll.aspx?PCode=D0020078 (Zugriff am: 20.02.2018). Höhe Gewinne aus dem in der Zeit der autoritären 18 The Reasoning of J.Y. Interpretation No. 331, 1993/12/30; s. Ein-Parteien-Herrschaft der KMT angehäuften Ver- Wen-Chen Chang/Li-ann Thio/Kevin Y. L. Tan/Jiunn-rong Yeh, mögenswerten erzielt. 2015 lagen die Trustgewinne Constitutionalism in Asia – Cases and Materials, 2014, S. 490. der KMT bei 76,52 % des Jahreseinkommens (ca. 54 19 § 73 II Wahlgesetz Taiwan (Civil Servants Election And Re- call Act): If a central civil servant elected in the national inte- Millionen Euro). Dabei ist der Betrag aus diesen grated election or the overseas election of central civil ser- Trustgewinnen (ca. 41 Millionen Euro) doppelt so vants loses his / her political party membership after acces- hoch wie das Jahreseinkommen der DPP (20 Millio- sion, he / she will lose the title of central civil servant from nen Euro). Nachdem die KMT die Präsidentschafts- the day when he / she loses the political party membership, and the Central Election Commission shall inform the Leg- wahl und erstmals auch die Parlamentsmehrheit an islative Yuan to write off his / her name. The corresponding die DPP verloren hatte, wurde das „Gesetz über die vacancy shall be made up by the candidates registered by the Behandlung des unrechtmäßig erworbenen Vermö- political party according to the sequence in the list of candi- gens der Parteien und Massenorganisationen (PartG- dates; if there is no alternate candidate in the list of candidates KMT)“22 am 25. Juli 2016 von der DPP-Regierung registered by the political party, it shall be regarded as vacan- cy; vgl. http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/LawAll.aspx?PC erlassen. In diesem Gesetz, dessen Vorbild das Ge- ode=D0020010 (Zugriff am: 20.02.2018). setz über Parteien und andere politische Vereinigun- 20 The Reasoning of J.Y. Interpretation No. 331, 1993/12/30: gen (PartG-DDR) ist, werden die Quellen der Partei- „In addition, said Articles also are meant to prompt political parties to nominate the most talented, virtuous and reputable members to be said congressmen within the quota proportion- ate to total ballots won in a particular election and allocated to 21 Der Finanzbericht der KMT 2015 und Der Finanzbericht der each party, so that such congressmen may serve their country. DPP 2015. Volltext in chinesischer Sprache abrufbar unter: Nonetheless, if any of said congressmen should lose his mem- http://www.moi.gov.tw/dca/03caucus_10401.aspx (Zugriff am: bership in the political party from which he is elected, it is 20.02.2018). certain that he will also be deprived of his eligibility for the position in the Congress, since the legal foundation of his 22 In Englisch: „The Act Governing the Handling of Ill-Gotten election is forfeited. Only then can the constitutional intent of Properties by Political Parties and Their Affiliated Organiza- introducing such a system be met.“ Vgl. http://www.judicial.g tions“; in (traditionellem) Chinesisch: „政黨及其附隨組織 ov.tw/constitutionalcourt/EN/p03_01.asp?expno=331 (Zugriff 不當取得財產處理條例 (zhèng dǎng jí qí fù suí zǔ zhī bù am: 20.02.2018). dāng qǔ dé cái chǎn chù lǐ tiáo lì).“

42 MIP 2018 24. Jhrg. Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] Aufsätze enfinanzierung und Fragen der rechtlichen Behand- zurückgegriffen.27 Auf dieser Grundlage geht die lung der Parteivermögen geregelt.23 Rechtslehre und Rechtsprechung von einem auf dem PartG-DDR beruhenden Vorverständnis des PartG- 1. Das PartG-DDR als Vorbild KMT aus. Die Berichte der UKPV28, die rechtswis- Durch das PartG-DDR werden die Vermögenswerte senschaftliche Literatur29 sowie die Rechtsprechung aller Parteien und der mit ihnen verbundenen Orga- zum PartG-DDR30 sind zwar nicht besonders zahl- nisationen, juristischen Personen und der Massenor- reich, doch sind sie heutzutage bei der Interpretation ganisationen der DDR spezifisch reguliert.24 §§ 20a des PartG-KMT in Taiwan von großer Bedeutung. und 20b PartG-DDR können in vier wesentliche Be- standteile aufgeteilt werden: die dem Gesetz zugrun- 2. Die Rezeption der rechtlichen Behandlung des deliegenden materiell-rechtsstaatlichen Grundsätze Parteienvermögens in Taiwan im Sinne des Grundgesetzes, die Einordnung des Das Gesetz über die Behandlung des unrechtmäßig er- Stichtags, die Regelung der treuhänderischen Ver- worbenen Vermögens der Parteien und Massenorgani- waltung und die Aufstellung der UKPV. Die Rege- sationen (PartG-KMT) bezweckt einen fairen Partei- lungen zielen darauf ab, dass die Vermögen, die sich enwettbewerb, die Verbesserung der Demokratie und die Parteien der ehemaligen DDR – in erster Linie Transitional Justice (§ 1). Darüber hinaus hat das Gesetz die SED – sowie die mit ihnen verbundenen Organi- bereits folgende Aspekte geregelt: die Aufgabe, Be- sationen und Unternehmen unter Ausnutzung ihres fugnis und Maßnahmen der UKPV-Taiwan (§§ 2, 6, Machtmonopols in Widerspruch zu materiell-rechts- 8-17), die materiell-rechtsstaatlichen Grundsätze (§ 4), staatlichen Grundsätzen verschafft haben, von der den Stichtag (§ 5), die Bestimmung der Parteienfinan- Treuhandanstalt und der UKPV erfasst und sicherge- zierungsquelle mit Beschränkung auf Mitgliedsgebüh- stellt werden.25 Die alte Ungerechtigkeit müsse be- ren, politische Spenden, Sponsorings der Wahlkampf- seitigt und das entsprechende Parteienvermögen kosten, staatliche Mittel und ihre Gewinne (§ 5), die nach Möglichkeit den früher Berechtigten oder deren Rechtsnachfolgern zurückgegeben oder gemeinnützi- 27 Shin-Hsin Huang, Party’s Property, Party’s Enterprises and gen Zwecken zugeführt werden.26 the Problems of Taiwan’s Party Financing: With the Ger- man’s Experiences, Socioeconomic Law and Institution Re- Der taiwanische Gesetzgeber hat sich dieses Anlie- view 17, 1995, S. 175-208; Tzung-jen Tsai, Legal Treatment gen zu eigen gemacht, indem er die Juristenkommis- of Party Assets in East Germany Since Reunification, The sion und öffentliche Debatten zu Rate zog. In den Taiwan Law Review 79, 2001, S.108-114; In-Chin Chen, Re- wissenschaftlichen Diskussionen wurde zur Lösung construction of Fair Competition between Political Parties, Constitution Development in 21th Century, Taiwan Law Soci- des Problems des unrechtmäßig erworbenen Partei- ety, 2003, S. 35-52. vermögens der KMT sowohl auf die materiell- 28 Zwischenbericht der UKPV, BT-Drucks. 12/622, 12. Wahlpe- rechtsstaatlichen Grundsätze nach der deutschen riode, 27.05.1991; Zweiter Zwischenbericht der UKPV, BT- Wiedervereinigung als auch auf den Sicherungs- und Drucks. 12/6515, 12. Wahlperiode, 22.12.1993; Bericht der Restitutionszweck der §§ 20a und 20b PartG-DDR UKPV (Erster Teilabschlußbericht) über das Vermögen der DDR-Parteien (Christlich-Demokratische Union Deutsch- lands, Demokratische Bauernpartei Deutschlands, Liberal-De- mokratische Partei Deutschlands, National-Demokratische 23 Official Gazette Department of Legislative, Record of Meet- Partei Deutschlands), BT-Drucks. 13/5376, 13. Wahlperiode, ing, Official Gazette of Legislative Yuan, Vol. 105, No. 28, 01.08.1996; Bericht der UKPV (Zweiter Teilabschlußbericht) April 2016, 183-208. über das Vermögen der Freien Deutschen Jugend (FDJ), BT- 24 Hans-Jürgen Papier, Das Parteivermögen in der ehemaligen DDR. Drucks. 13/5377, 13. Wahlperiode, 01.08.1996; Schlußbe- Aktuelle Rechtsfragen der Feststellung, 1992, S. 8; Christian richt der UKPV, Berlin 2006. Starck, Die Behandlung des Vermögens der Parteien und 29 Hans-Jürgen Papier (Fn. 24), S. 1 ff.; Christian Starck (Fn. 24), Massenorganisationen der ehemaligen DDR, in: Staatswissen- S. 321 ff.; Hans Herbert von Arnim (Fn. 24), S. 1 ff.; Sönke schaften und Staatspraxis, Bd. 2, 1991, S. 321 f.; Hans Herbert Volkens, Die bisherige Rechtsprechung zum Vermögen der von Arnim, Wem steht das Vermögen der DDR-Parteien zu?, Parteien und Massenorganisationen der früheren DDR, VIZ 1993, S. 53 ff.; Philip Kunig, Die Parteien und ihr Vermögen, 1993, S. 334 ff.; Philip Kunig (Fn. 24), Rn. 1-67; Sven Berger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Die treuhänderische Verwaltung des Vermögens der Parteien Bundesrepublik Deutschland, Band IX, Die Einheit Deutsch- und Massenorganisationen der DDR, 1998; Guido Toussaint, lands – Festigung und Übergang, § 216, 1997, Rn. 1-67. DDR-Parteivermögen und die Treuhandanstalt, 1993. 25 BVerwG, Urteil v. 11.03.1993 – 7 C 15/92 = BVerwGE 92, 30 BVerfGE 84, 290 = NJW 1991, 2472; BGH, Urteil v. 196; BVerwG, Beschluss v. 11.08.1995 – 7 B 295/95; BVer- 20.10.1993 – 5 StR 635/92= ZIP 1994, 159; BVerwGE 92, wG, Beschluss v. 14.10.2004 – 6 B 6/04. 196 = DÖV 1993, 662 ff.; OVG Berlin, Urteil v. 13.03.1992 26 BVerwG, Urteil v. 11.03.1993 – 7 C 15/92 = BVerwGE 92, – 2 B 34/91= ZIP 1992, 1184 ff.; VG Berlin, Beschluss v. 196; BGH, Urteil v. 20.10.1993 – 5 StR 635/92 = ZIP 1994, 11.09.1991 – VG 1 A 212/91= ZIP 1992, 582 ff.; VG Berlin, 159; BVerwG, Beschluss v. 14.10.2004 – 6 B 7/04. Beschluss v. 23.03.1995 – VG 26 A 137/94.

43 Aufsätze Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Anmeldungspflicht des Parteienvermögens (§ 8), die fenlegungspflichten für die Finanzierungslage und Organisation der UKPV-Taiwan (§§ 18-22), die halb- die Festlegung der jeweils maßgeblichen Stichtage jährliche Berichtspflicht der UKPV-Taiwan bezogen (§ 20a Abs. 1 PartG-DDR und §§ 4-5 PartG-KMT). auf das unrechtmäßig erworbene Parteienvermögen Während § 20a PartG-DDR als Stichtagsregelung (§§ 23-24), Sanktionen (§§ 26-28) sowie das Zwangs- den Zeitraum vom 08. Mai 1945 (Tag der bedin- vollstreckungsverfahren (§§ 30-32). Mit dieser Ge- gungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs) bis setzgebung begann ein neues Kapitel für die Kontrolle zum 7. Oktober 1989 (Ende der SED-Herrschaft), der Parteienfinanzierung und die Vergangenheitsbe- bestimmte,34 wählte das PartG-KMT den Zeitraum wältigung des KMT-Regimes. vom 15. August 1945 (Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien) bis 5. Juli 1987 (Zeitpunkt der Aufhebung So wie § 20a PartG-DDR31 die Kriterien zur Einord- des taiwanischen Kriegsrechts). nung der mit einer politischen Partei verbundenen politischen Organisation und juristischen Person re- Die Regelungen des § 20b PartG-DDR35 konkretisie- gelt,32 finden sich auch im PartG-KMT entsprechen- ren die geltenden materiell-rechtsstaatlichen Grund- de Regelungen, wobei allerdings § 4 PartG-KMT sätze und stellen das Vermögen der Parteien und der nicht nur auf wirtschaftliche, sondern auch auf ge- mit ihnen verbundenen Organisationen, juristischen schäftliche und personelle Verbindungen abstellt.33 Personen und Massenorganisationen, das am 7. Ok- Darüber hinaus enthalten beide Regelungswerke Of- tober 1989 bestanden hat, unter treuhänderische Ver- waltung.36 Darüber hinaus ist geregelt, dass Vermö- 31 § 20a PartG-DDR vom 31. Mai 1990 (GBl. I. S. 275): (1) Der Ministerpräsident setzt eine unabhängige Kommission gensänderungen nur mit Zustimmung der UKPV vor- 37 ein, die einen Bericht über die Vermögenswerte aller Parteien und genommen werden können. Die Vorschriften des mit ihnen verbundenen Organisationen, juristischen Personen Zustimmungsvorbehalts und der treuhänderischen Ver- und Massenorganisationen der DDR im In- und Ausland erstellt. waltung finden sich auch in den §§ 5-9 PartG-KMT. (2) Die Parteien und die ihnen verbundenen Organisationen, juristischen Personen und Massenorganisationen haben unbe- 3. Die Kritik an der Rezeption schadet der Pflichten gemäß Absatz 1 eingesetzten Kommissi- on vollständig Rechenschaft zu legen, Nach Inkrafttreten des PartG-KMT berief sich die (a) welche Vermögenswerte seit dem 8. Mai 1945 in ihr Vermö- KMT auf die Verfassungswidrigkeit des PartG-KMT gen oder das einer Vorgänger- oder Nachfolgeorganisation durch Erwerb, Enteignung oder auf sonstige Weise gelangt sind oder und begründete dies vor allem mit einem darin zu se- veräußert, verschenkt oder auf sonstige Weise abgegeben wurde; henden Verstoß gegen das Verbot des Einzelfallge- (b) insbesondere ist eine Vermögensübersicht nach dem Stand setzes, der Verletzung der Eigentumsrechte, der par- vom 7. Oktober 1989 sowie über die seitdem erfolgten Verände- teilichen Abhängigkeit der UKPV und der Unbe- rungen zu erstellen. stimmtheit der materiell-rechtsstaatlichen Grundsät- (3) Die Rechenschaftspflicht erstreckt sich auf sämtliche Vorgän- ge und Unterlagen, die für die Beurteilung der Vermögenssitua- ze und sie erhob den Einwand der Verjährung. Zwar tion von Bedeutung sein können, insbesondere auch auf rechtli- wurden diese Kritikpunkte bereits in der Rechtspre- che, wirtschaftliche oder sonstige Beteiligungen an Unterneh- 34 men und geschäftliche Verbindungen, auch wenn sie über andere Christian Starck (Fn. 24), S. 333 f.; Guido Toussaint (Fn. 29), natürliche oder juristische Personen abgewickelt wurden, wobei S. 45 ff.; Sven Berger (Fn. 29), S. 112 f.; Sönke Volkens eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zugrunde zu legen ist. (Fn. 29), S. 337 f. (4) Die vom Ministerpräsidenten eingesetzte unabhängige Kom- 35 § 20b PartG-DDR vom 31. Mai 1990 (GBl. I. S. 275): mission hat zur Durchführung ihrer Arbeit das Recht zur Be- (1) Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes können die Parteien und die weisaufnahme, entsprechend den Verfahrensregeln der Strafpro- ihnen verbundenen Organisationen, juristischen Personen und zeßordnung Zeugen zu vernehmen, Hausdurchsuchungen, sons- Massenorganisationen Vermögensveränderungen wirksam nur mit tige Durchsuchungen und Beschlagnahmen vornehmen zu las- Zustimmung des Vorsitzenden der unabhängigen Kommission sen. Alle Behörden, Organisationen und Bürger der DDR sind vornehmen. verpflichtet, die Kommission zu unterstützen. (2) Zur Sicherung von Vermögenswerten von Parteien oder ihnen (5) Der Ministerpräsident leitet der Volkskammer den Bericht verbundenen Organisationen, juristischen Personen und Massenor- der Kommission bis zum 30. Juni 1990 zu. ganisationen wird das Vermögen der Parteien und der ihnen ver- 32 Dazu Christian Starck (Fn. 24), S. 319 ff.; Guido Toussaint bundenen Organisationen, juristischen Personen und Massenorga- (Fn. 29), S. 26 ff.; Sven Berger (Fn. 29), S. 103 ff.; Sönke nisationen, das am 7. Oktober 1989 bestanden oder seither an die Volkens (Fn. 29), S. 337 f.; Bericht der UKPV über das Ver- Stelle dieses Vermögens getreten ist, unter treuhänderische Ver- mögen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) waltung gestellt. jetzt: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), des Frei- (3) Die treuhänderische Verwaltung wird von der vom Ministerprä- en Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der sonstigen sidenten eingesetzten unabhängigen Kommission wahrgenommen. politischen Organisationen, S. 206 f. (BT-Drucks. 13/11353. 36 Hans-Jürgen Papier (Fn. 24), S. 28 f.; Hans Herbert von Arnim 13. Wahlperiode, 24.08.1998.) (Fn. 24), S. 39 ff.; Guido Toussaint (Fn. 29), S. 68 ff.; Sven 33 Ren-Jyun Huang, Interpretation of Affiliate Organizations un- Berger (Fn. 29), S. 93 ff., 129 ff. der the GDR's Party Law (PartG-DDR), Journal for the Study 37 Guido Toussaint (Fn. 29), S. 107 ff.; Sven Berger (Fn. 29), of Party Assets (黨研究產研究), 2017, Vol. 1, S. 103-134. S. 45 ff., 115 ff.

44 MIP 2018 24. Jhrg. Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] Aufsätze chung des BVerfG in Deutschland geklärt,38 doch ist Nicht zuletzt unterscheidet sich das Parteiensystem in am Verfassungsgericht Taiwans (Judicial Yuan) Taiwan von dem in Deutschland. Im Zweiparteien- noch keine Entscheidung darüber getroffen. system Taiwans kann das PartG-KMT zwar einerseits der Vergangenheitsbewältigung des ehemaligen KMT- Aber bei näherem Hinsehen werden die historisch und Regimes dienen und auch die Problematik des un- politisch bedingten Unterschiede des Parteienvermö- rechtmäßig erworbenen Parteivermögens lösen. An- gensrechts nach dem PartG-DDR und dem PartG- dererseits eröffnet es aber in eben diesem Zweipar- KMT deutlich. Es besteht kein Zweifel daran, dass die teiensystem auch Missbrauchsmöglichkeiten, die von DDR ein zentral verwalteter Einparteienstaat unter der DPP im Parteienkampf gegen die KMT ausge- Führung der SED gewesen ist.39 Aber die Legitimität nutzt werden. des ehemaligen KMT-Regimes und dessen politische und historische Bewertung polarisieren in Taiwan: Ei- Vor dem Hintergrund dieser politischen und historischen nerseits wird das ehemalige KMT-Regime als ein Unterschiede hängt die Beurteilung der Verfassungs- „Unrechtsstaat“40 bezeichnet; andererseits wird die mäßigkeit des PartG-KMT von folgenden zwei Fragen Legitimität des ehemaligen KMT-Regimes auf das ab: Eignet sich die Rezeption des PartG-DDR für die Kriegsrecht des Chinesischen Bürgerkrieges gestützt. Demokratisierung Taiwans? Welche Rolle spielte das Im Unterschied zur SED ist die KMT keine kommu- PartG-KMT tatsächlich im Vergleich zwischen der nistische Partei und ihre politische Ideologie ist anti- historischen Bewertung und der politischen Wirklich- kommunistisch sowie antisowjetisch. Wegen des Chi- keit? Diese für die Verfassungsmäßigkeit des PartG- nesischen Bürgerkrieges regierte die KMT mit KMT wesentlichen Fragen sind vom Verfassungsge- Kriegsrecht bis 1987. In diesem Zeitraum war die richt Taiwans (Judicial Yuan) noch zu beantworten. KMT Beschützer der Republik China auf Taiwan vor Angriffen der Kommunistischen Partei Chinas.41 IV. Die Funktion der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen und Massenorganisationen in Taiwan der SED und der KMT darin, dass die SED der DDR nach der Demokratisierung beendet war, während Obwohl die Verfassungsmäßigkeit des PartG-KMT die KMT der Republik China nach der Demokrati- im Verfassungsgericht Taiwans (Judicial Yuan) de- sierung auf Taiwan zur Regierungspartei Taiwans battiert wird, wurde die Unabhängige Kommission innerhalb der Demokratie wurde.42 Die Umstände zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und und der Ablauf der taiwanischen Demokratisierung Massenorganisationen in Taiwan (UKPV-Taiwan) am bedingen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen der 31. August 2016 gegründet. Nach § 2 PartG-KMT autoritären Ein-Parteien-Herrschaft der KMT und hat die UKPV-Taiwan die Aufgabe, einen Bericht der reformierten KMT in der Republik China. Die über die Vermögenswerte aller Parteien und der mit Vergangenheitsbewältigung in Fragen der Parteien- ihnen verbunden Massenorganisationen sowie Unter- vermögen ist daher mit verschiedenen historischen nehmen des KMT-Regimes zu erstellen. Zur Durch- sowie politischen Hintergründen verflochten.43 führung ihrer Aufgabe hat die UKPV-Taiwan das Recht zur Prüfung der Parteienfinanzierungsquelle 38 BVerfGE 84, 290 = NJW 1991, 2472. und zur Bestimmung der Massenorganisationen und 39 Michael Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit, 2009, S. 22; Unternehmen der KMT sowie das Recht, eine Ent- Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in ziehung des aus dem ehemaligen KMT-Regime Deutschland Bd. 4: Staats- und Verwaltungsrechtswissen- schaft in West und Ost 1945-1990, 2012, S. 97. stammenden Parteivermögens vornehmen zu lassen. 40 Yun-Ju Wang, Constitutional Thinking on Ill-gotten Proper- 1. Die Beschränkung der Parteienfinanzierungs- ties by Political Parties, Journal for the Study of Party Assets (黨研究產研究), 2017, Vol. 1, S. 5-26. quelle 41 Baocheng Dong, The Concept of Affiliated Organization un- Zur Parteienfinanzierung in der DDR wird in der der The Act Governing the Handling of Ill-Gotten Properties Protokollnotiz Nr.17 Abs. 2 des Einigungsvertrages by Political Parties and Their Affiliated Organizations, Tai- wan Law Journal, 2017, Vol. 322, S. 92-132. folgende Regelung getroffen: „Geld oder geldwertes Vermögen, das den Parteien weder durch Mitglieds- 42 Stefan Fleischauer, Der Traum von der eigenen Nation: Ge- schichte und Gegenwart der Unabhängigkeitsbewegung Tai- beiträge noch durch Spenden oder eine staatliche wans, 2009, S. 281 ff. 43 Chwen-Wen Chen, History in Judicial Judgment, Taiwan Law Bardenhagen, Schwierige Vergangenheitsbewältigung auf Journal, 2017, Vol. 313, S. 79-97; Giin-Tarng Hwang, Transi- Taiwan, Deutsche Welle, 25.01.2018. Volltext unter: http:// tional Justice and the Settlement of Ill-Gotten Party Assets, www.dw.com/de/schwierige-vergangenheitsbew%C3%A4ltig Taiwan Law Journal, 2017, Vol. 313, S. 111-140; Klaus ung-auf-taiwan/a-42300406 (Zugriff am: 20. 02. 2018).

45 Aufsätze Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Wahlkampfkostenerstattung zugeflossen ist, insbe- der einen Seite sind die politischen Massenorganisa- sondere Vermögensgegenstände ehemaliger Block- tionen und Parteienunternehmen des ehemaligen parteien und der PDS in der Deutschen Demokrati- KMT-Regimes heutzutage nach der Demokratisie- schen Republik, dürfen weder zur Wahlvorbereitung rung reformiert und legalisiert. Auf der anderen Sei- noch im Wahlkampf verwendet werden.“44 te behalten die politischen Massenorganisationen und Parteienunternehmen des ehemaligen KMT-Re- Eine solche rechtliche Bestimmung zur Einordnung gimes auch nach der Demokratisierung weiterhin der Parteienfinanzierungsquellen ist auch in § 5 ihre Monopolstellung im Kapitalmarkt und sind nach PartG-KMT enthalten. Gemäß §§ 5-6 PartG-KMT wie vor mit der reformierten KMT freundschaftlich gibt es die Einschränkung, dass nur Mitgliedsgebüh- verbunden.47 Diese Verbundenheit und wie weit die- ren, politische Spenden, Sponsorings der Wahl- se reicht, soll durch eine Beurteilung der personel- kampfkosten, staatliche Mittel und damit erzielte Ge- len, finanziellen und geschäftlichen Verflechtung im winne zu den erlaubten Parteienfinanzierungsquellen Sinne des § 4 Abs. 2 PartG-KMT von der UKPV- zählen. Wenn sich das Parteivermögen nicht aus den Taiwan geklärt werden. genannten Quellen zusammensetzt, so sind die Par- teivermögen nicht nach materiell-rechtsstaatlichen Seit ihrer Gründung im Jahre 2016 hat die UKPV- Grundsätzen erworben und können somit vom Staat Taiwan die Parteivermögen vom Frauenverband der entzogen werden. R.O.C. (National Women’s League of the Republic of China), vom Jugendverband der R.O.C. (China Diese rechtliche Behandlung wird als eine Konkreti- Youth Corps), von parteinahen Unternehmen (z.B. sierung der materiell-rechtsstaatlichen Grundsätze Central Investment Holding Corporation, Central für den Vermögenserwerb betrachtet.45 Nach diesen Pictures Corporation, Broadcasting Corporation of Grundsätzen ist der oben bereits erwähnte Trustge- China usw.) und zahlreichen parteinahen Stiftungen winn als Finanzierungsquelle der KMT verboten. mithilfe der Kriterien zur Bestimmung einer verbun- 2. Die Bestimmung der Massenorganisationen denen politischen Organisation und juristischen Per- und Unternehmen der KMT son, die denen der §§ 20a und 20b PartG-DDR in Verwaltungspraxis und Rechtsprechung entspre- Die mit den Parteien verbundenen Organisationen, chen, untersucht.48 Bei der Auslegung dieses Begrif- Massenorganisationen und Unternehmen, die von fes wird sowohl nach den deutschen als auch den tai- der SED als wesentliches Element zur Stabilisierung wanischen Vorschriften eine wirtschaftliche Be- der politischen Macht angesehen und entsprechend trachtung zugrunde gelegt und nicht lediglich auf gesteuert wurden, fallen nach der Bestimmung der formal-juristische Kriterien wie die rechtliche Ver- UKPV der DDR in den Anwendungsbereich der 46 selbständigung eines Unternehmens von einer Partei §§ 20a und 20b PartG-DDR. Eine entsprechende oder Massenorganisation abgestellt. Ausschlagge- Festlegung findet sich auch in § 4 Abs. 2 PartG- bend ist danach insbesondere eine enge politische, KMT. Aber wenn diese Vorschriften auch gleiche finanzielle und personelle Verflechtung zwischen Zwecke verfolgen, so trifft ihre Anwendung doch Partei/Massenorganisation und der betreffenden Or- auf verschiedene politische Wirklichkeiten in Tai- ganisation/juristischen Person.49 wan und Deutschland. Im Unterschied zur SED der DDR ist die KMT nach der Demokratisierung von 1987 in Taiwan Regierungspartei einer Demokratie geworden. Vor diesem Hintergrund ist die Beurtei- lung einer Verbundenheit von Organisationen und 47 Unternehmen mit dem KMT-Regime umstritten. Auf Shih-meng Chen/C. Y. Cyrus Chu et al., Deconstructing the KMT-State Capitalism: A Closer Look at Privatizing Taiwan's State- and Party-Owned Enterprises, 1991, S. 69-86. 44 Vgl. Hans Herbert von Arnim (Fn. 24), S. 44 f. 48 Vgl. Zweiter Bericht über den Frauenverband der R.O.C (Na- 45 Christian Starck (Fn. 24), S. 332 ff.; Hans Herbert von Arnim tional Women’s League of the Republic of China), UKPV- (Fn. 24), S. 53 ff.; Sven Berger (Fn. 29), S. 62 ff. Taiwan, 12.07.2017, S. 2. Der Volltext in chinesischer Sprache 46 Zwischenbericht der UKPV (Fn. 28), S. 6 f.; Zweiter Zwischen- ist abrufbar unter: https://storage.googleapis.com/cipasproduc bericht der UKPV (Fn. 28), S. 5 ff.; Hans-Jürgen Papier (Fn. 24), tion/news/2017/07/0f0cffcb5d0f4f8a05d5e73e8d9bf8da.pdf S. 10 f.; Christian Starck (Fn. 24), S. 319 f.; Hans Herbert von (Zugriff am: 20.02.2018). Arnim (Fn. 24), S. 48 f.; Guido Toussaint (Fn. 29), S. 26 ff.; 49 Sönke Volkens (Fn. 29), S. 337 f.; Sven Berger (Fn. 29), Sönke Volkens (Fn. 29), 337 f.; VG Berlin, Beschluss v. S. 106 f.; VG Berlin, Beschluss v. 11.09.1991 – VG 1 A 11.09.1991 – VG 1 A 212/91 = ZIP 1992 582 (587); OVG 212/91 = ZIP 1992, 582 (587); OVG Berlin, Urteil v. Berlin, Urteil v. 13.03.1992 – 2 B 34/91 = ZIP 1992, 1184; 13.03.1992 – 2 B 34/91 = ZIP 1992, 1184; VG Berlin, Be- VG Berlin, Beschluss v. 23.03.1995 – VG 26 A 137/94. schluss v. 23.03.1995 – VG 26 A 137/94.

46 MIP 2018 24. Jhrg. Huang – Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien [...] Aufsätze

3. Die Entziehung des Parteivermögens aus dem V. Fazit ehemaligen KMT-Regime Aufgrund der Rezeption sind die rechtlichen Vorga- Während der Präsidentschaftswahl 2008 hatte die KMT ben für die politischen Parteien in Taiwan nach den öffentlich die Entziehung des Parteivermögens aus dem Grundsätzen des deutschen Parteienrechts ausgestal- ehemaligen KMT-Regime zum Bestandteil ihres tet. Im PartG-Taiwan sind nicht nur der Funktions- Wahlprogramms erklärt. Dieser Wahlprogrammpunkt begriff sowie die Gründungsfreiheit der Parteien, die wurde insoweit erfüllt, als das Parteivermögen unter Offenlegung der Parteienfinanzierung, die innerpartei- treuhänderische Verwaltung gestellt wurde. Vor 2016 liche Demokratie und die wehrhafte Demokratie be- konnte sich die KMT noch durch die oben bereits er- reits verankert. Auch der Sicherungs- und Restituti- wähnten Trustgewinne finanzieren, die mit dem Ver- onszweck der §§ 20a und 20b PartG-DDR zur Lösung mögen erzielt wurden, das die KMT in der Zeit der der Probleme im Zusammenhang mit unrechtmäßigem autoritären Ein-Parteien-Herrschaft erworben hatte. Parteivermögen finden sich im PartG-KMT wieder. Nach dem Erlass des PartG-KMT sind die Trustge- winne aus diesem Parteienvermögen als Parteienfi- Nach der Rezeption des PartG-DDR entwickelten nanzierungsquelle verboten und die UKPV-Taiwan sich die rechtswissenschaftliche Literatur und die bemüht sich noch um dessen Entziehung. Rechtsprechung zum PartG-DDR zu einem Vorver- ständnis des PartG-KMT, das dessen Auslegung und Wie bereits erwähnt, wurde die KMT nach der Demo- Anwendung maßgeblich mitbestimmte und sich auch kratisierung 1987 auf Taiwan reformiert und Regie- in den Berichten der UKPV widerspiegelt. Aber die- rungspartei einer Demokratie. In dieser Zeitspanne se den gleichen Zwecken dienenden Vorschriften (1987-2016) sind auch die Parteivermögen, die das trafen auf verschiedene politische Wirklichkeiten in ehemalige KMT-Regime angesammelt hatte, durch das Taiwan und Deutschland. Vor diesem Hintergrund Vereinsrecht und Gesellschaftsrecht privatisiert und le- löste die Rezeption des PartG-DDR einen (polarisie- 50 galisiert worden. Vor diesem Hintergrund kommt die renden) wissenschaftlichen Diskurs über die Verfas- UKPV-Taiwan ihrer Aufgabe in zwei Schritten nach: sungswidrigkeit des PartG-KMT in Taiwan aus. In der ersten Phase beschäftigt sich die UKPV-Taiwan Dass ein Rechtsvergleich zwischen dem PartG-DDR in öffentlichen Anhörungen mit der Untersuchung, ob und dem PartG-KMT auch die historischen Beson- eine Verbundenheit von Organisationen und Unter- derheiten, die Entwicklung der Demokratisierung, nehmen mit den politischen Parteien des KMT-Re- die politische Ideologie und die Voraussetzungen gimes gegeben war; in der zweiten Phase (nach der des Parteiensystems berücksichtigen muss, wird in Festlegung der verbundenen Parteienunternehmen und Taiwan auch parteipolitisch debattiert, weil die Ent- Parteienorganisationen) müssen die Parteivermögen wicklung und die Inhalte einer Parteienrechtslehre durch einen Verwaltungsakt durch die UKPV-Taiwan des PartG-KMT mit dem Parteienkampf zwischen entzogen werden, wenn sie nicht nach materiell- der DPP und der KMT eng verwoben ist. rechtsstaatlichen Grundsätzen erworben wurden.51 Heutzutage beschäftigt sich die UKPV-Taiwan zwar Am 1. November 2017 fiel das größte Parteiunterneh- mit der Prüfung der Parteienfinanzierungsquellen, der men (Central Investment Holding Corporation) der Beurteilung der Massenorganisationen und Unterneh- KMT nach der Bestimmung der UKPV-Taiwan in den men der KMT und der Entziehung des Parteivermö- Anwendungsbereich des PartG-KMT. Dieses Partei- gens aus dem ehemaligen KMT-Regime, doch die unternehmen, das über 400 Millionen Euro an Kapital- Anwendung und Auslegung des PartG-KMT sind den vermögen besitzt, wurde durch Verwaltungsakt der Gerichten fremd. Über die Fragen, welche Unterneh- UKPV-Taiwan verstaatlicht und das Vermögen die- men und Massenorganisationen dem PartG-KMT un- 52 sem damit entzogen. Zurzeit wird die Rechtmäßig- terliegen und wie die Parteienvermögen aus dem ehe- keit des erlassenen Verwaltungsakts vom Verwal- maligen KMT-Regime verstaatlicht werden sollen, tungsgericht Taipehs überprüft. haben das Verwaltungsgericht Taipeh und das Verfas- sungsgericht Taiwan (Judicial Yuan) bis heute noch 50 Shih-meng Chen (Fn. 47), S. 15 ff. nicht entschieden. Eine in naher Zukunft unparteiliche 51 Ren-Jyun Huang, Interpretation of Affiliate Organizations un- Beantwortung der parteirechtlichen Fragen wird hoff- der the GDR's Party Law (PartG-DDR), Journal for the Study nungsvoll und mit großem Interesse erwartet. of Party Assets (黨研究產研究), 2017, Vol. 1, S. 103-134. 52 Klaus Bardenhagen, Taiwans Jagd nach den Kuomintang-Mil- liarden, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.2017. Volltext unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/taiwan-jagd-nach-den -kuomintang-milliarden-15198365.html (Zugriff am: 20.02.2018).

47 Aufsätze Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Zur Wirkung einer Großen Koalition: Die tet sich demnach insbesondere durch die Zersplitte- Renaissance des polarisierten Pluralismus rung der Opposition und deren mangelnden Macht- und die Polarisierung des deutschen Par- optionen im elektoralen Wahlkampf. Der Erwartung nach kann dies zu einer Fokussierung auf wähler- teiensystems stimmenmaximierende Strategien ohne Rücksicht auf mögliche Koalitionsverhandlungen führen Johannes Schmitt, M.A. 1, 2 (Schmitt und Franzmann 2018). In der Konsequenz sind der Vermutung nach ein permanenter Konflikt durch die ideologische Spaltung und ein ausufernder Im deutschen Parteiensystem wird die Große Koaliti- Wettbewerb zwischen den unkooperativen Akteuren on anscheinend von einer Ausnahme zu einer Regel. im Parteiensystem präsent (Sartori 1976: 131 ff.). Im medialen Diskurs wird diese Koalitionsform im- mer wieder negativ bewertet. Die feuilletonistischen Die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen des Beiträge befürchten eine vermeintlich polarisierende deutschen Parteiensystems auf Basis dieses theoreti- Wirkung und in der Konsequenz die Stärkung extre- schen Ansatzes ist dabei aus zwei Perspektiven in- mer Parteien.3 Dies wiederum könnte der Vermutung teressant: (1) Die Einordnung des deutschen Falls in nach die Stabilität und Funktionsweise des politischen eine generalisierte, abstrakte Argumentation kann Systems insgesamt beeinträchtigen. Doch welchen möglicherweise abseits von anekdotischer Evidenz Einfluss hat ein solcher Koalitionstyp tatsächlich auf dabei helfen, die Bedingungen für die polarisierende das politische System der Bundesrepublik? Wirkung einer Großen Koalition im bundesrepubli- kanischen Parteiensystem zu identifizieren und da- Interessanterweise korrespondieren die journalisti- mit die empirisch beobachteten Muster zu erklären. schen Beobachtungen im Kern mit theoretischen Würde zum Beispiel eine erneute Große Koalition Überlegungen und empirischen Befunden aus der ähnliche Dynamiken verursachen wie die zurücklie- vergleichenden Politikwissenschaft (Schmitt und genden? Stärken Große Koalitionen immer die extre- Franzmann 2018, 2017c; Hazan 1995b), welche men Parteien oder entfaltet sich diese Dynamik nur ihren Ausgangspunkt in der Formulierung des Ideal- unter spezifischen Bedingungen? (2) Die Auseinan- typs des polarisierten Pluralismus von Sartori dersetzung mit einem empirischen Fall kann wieder- (1976) finden. Hieraus ist die Hypothese abzuleiten, um auch Rückschlüsse für das theoretische Modell dass sich eine Stärkung bzw. Besetzung des politi- offenbaren. Tritt der vermutete Mechanismus wie er- schen Zentrums, z.B. durch eine Große Koalition wartet auf oder werden mögliche Gründe für das (Schmitt und Franzmann 2017c), zu einer zentrifuga- Ausbleiben identifiziert? Diese Erkenntnisse können len Wettbewerbsdynamik entwickelt (Sartori 1976: letztlich genutzt werden, um das theoretische Modell 133 f.). Die Wirkung auf das Parteiensystem entfal- zu verfeinern. Der folgende Beitrag soll also sowohl mit Blick auf den konkreten empirischen Fall als 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRuF. auch aus abstrakter, modelltheoretischer Sicht erklä- 2 Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen des Forschungsprojektes ren, wann spezifische Wettbewerbsmuster zwischen „Der Einfluss der Opposition in etablierten Demokratien“, geför- Regierung und Opposition, z.B. in Form einer Gro- dert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, Projekt- nummer: 290380518, http://pruf.de/dfg-projekt-opposition), ßen Koalition, die Dynamik im Parteiensystem be- entstanden. Besonderer Dank gilt zudem Simon Miksch und einflussen. Anna Halstenbach für die Unterstützung bei der Recherche und dem Editieren des Artikels sowie für die zahlreichen, hilf- Um dieses Ziel zu erreichen, teilt sich der folgende reichen Anmerkungen. Beitrag in mehrere aufeinander aufbauende Kapitel. 3 Ein paar anekdotische Beispiele hierfür sind die folgenden Zunächst werden das theoretische Konstrukt des pola- Artikel: Der Beitrag „Große Koalition, große Sorgen“ auf Zeit risierten Pluralismus (Sartori 1976) und die aktuelle Online (Quelle: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-09/ Mikrofundierung des dahinterliegenden Mechanismus grosse-koalition-folgen-parteien-afd-fpoe, Stand: 27.02.2018) diskutiert (Schmitt und Franzmann 2018). Das Kern- sieht den Erfolg der FPÖ als Produkt der großen Koalition und zieht einen Vergleich zur AfD. Ein Kommentar in der argument ist dabei, dass eine zersplitterte, schwache Kölnischen Rundschau stellt fest: „Zum politischen Einmaleins Opposition zu zentrifugalen Dynamiken führt, da der gehört, dass große Koalitionen die radikalen Ränder stärken.“ Anreiz für kooperative Beziehungen für einen Teil der (Quelle: https://www.rundschau-online.de/28945346, Stand: relevanten Akteure nicht gegeben ist. Dieser Zustand 27.02.2018). Eine solche Möglichkeit diskutiert auch ein Ar- tikel im Tagesspiegel zur möglichen, kommenden Großen Ko- verfestigt sich, da durch die Dynamik eine (kleiner alition (Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/vor-der-b werdende) Große Koalition die einzig verbleibende undestagswahl-kommt-im-herbst-die-neuauflage-der-grossen- Option auf eine Regierungsbildung wird. Darauf auf- koalition/20045686.html, Stand: 27.02.2018).

48 MIP 2018 24. Jhrg. Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] Aufsätze bauend werden die empirischen Evidenzen zu den Darstellung 1: Die kausale Struktur des polarisierten theoretisch vermuteten Zusammenhängen diskutiert Pluralismus* (Schmitt und Franzmann 2017b, 2017c). Auf diesem Fundament werden wiederum die aktuellen Entwick- lungen inklusive die Bundestagswahl 2017 deskriptiv betrachtet und diskutiert. Hier zeigt sich, dass die Ent- wicklungen zum Großteil mit den theoretischen Er- wartungen korrespondieren und insbesondere die Gro- ße Koalition nach der Wahl 2013 im Gegensatz zur Großen Koalition nach der Wahl 2005 die Bedingun- gen für eine polarisierende Wirkung erfüllt hat. Ab- schließend werden die Ergebnisse der Analyse disku- tiert: Gibt es möglicherweise eine Renaissance des polarisierten Pluralismus im deutschen Parteiensys- *Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Schmitt (2014) tem oder sind solche dauerhaften, zentrifugalen Dyna- sowie Schmitt und Franzmann (2017c). miken und ideologischen Konflikte eher unwahr- Die Beschreibung des polarisierten Pluralismus lässt scheinlich – auch wenn sich erneut eine Große Koali- sich aus der Perspektive kausaler Wirkungszusam- tion bildet? menhänge in drei aufeinanderfolgende Phasen unter- teilen, wobei den Ankerpunkt die Polarisierung des Der polarisierende Einfluss einer Zentrumskoali- Parteiensystems bildet. Diese ist die zentrale theoreti- tion sche Größe in Sartoris Ansatz. Die restlichen Merk- male sind entweder die Ursache der Polarisierung Der Ausgangspunkt der theoretischen Argumentation oder deren Folge (Sartori 1976: 131 ff.). Aufgrund zur Beschreibung der Wirkung von Koalitionstypen seines fundamentalen Stellenwertes soll das Konzept auf den Parteienwettbewerb ist in der wegweisenden der Parteiensystempolarisierung kurz näher erörtert Typologie von Sartori (1976) zu finden. Diese ordnet werden. Polarisierung als Begriff wird in einer Viel- in ihrer Essenz die Parteiensysteme anhand der Frag- zahl von sozial- und politikwissenschaftlichen Studien mentierung und der ideologischen Polarisierung. Hier- verwendet und adressiert teilweise höchst unter- durch wird die prägende Wettbewerbsdynamik ver- schiedliche Referenten, z.B. Einkommenspolarisie- schiedener Parteiensystemtypen theoretisch herausge- rung (Esteban und Ray 1994), Meinungspolarisierung arbeitet (Sartori 1976: 124 ff.). Zur Beschreibung von (DiMaggio et al. 1996) oder Parteienpolarisierung Polarisierung in Mehrparteiensystemen sind dabei ins- (Han 2015). Sartoris Ansatz zur Konzeptualisierung besondere die beiden konträren Typen des moderaten beinhaltet die Überlegung, dass Polarisierung die und polarisierten Pluralismus relevant (Sartori 1976: ideologischen Distanzen innerhalb eines Parteiensys- 131 ff.). Während ersterer durch eine zentripetale Dy- tems subsummiert (Sartori 1976: 135). Diese Auffas- namik und damit einhergehende geringe Polarisierung sung ist bis heute innerhalb der vergleichenden Poli- geprägt ist, zeichnet den polarisierten Pluralismus, tikwissenschaft prägend (vgl. Definitionen von Dalton wie der Name bereits vermuten lässt, eine gegenteili- 2008; Powell 2015; Klingemann 2005). ge und damit zentrifugale Dynamik aus (ebd.). Beide Typen werden von Sartori über eine Reihe von Merk- Die ideologischen Distanzen zwischen den Parteien malen beschrieben, welche jeweils eine konträre Aus- als kollektive Akteure sind deshalb von konzeptio- prägung aufweisen. Ein Beispiel hierfür ist die Exis- neller Relevanz, da sie die Interaktionsbeziehungen tenz von Antisystemparteien, welche im polarisierten im Parteienwettbewerb prägen (Schmitt 2016; Pluralismus gegeben ist, während deren Abwesenheit Schmitt und Franzmann 2017a) und eine hohe Pola- die moderaten Mehrparteiensysteme charakterisiert. risierung mutmaßlich mit dem Auftreten von politi- Hierauf aufbauend kann der Kern der theoretischen schen Konflikten einhergeht (Sartori 1976; Dalton Überlegungen von Sartori abgeleitet werden, indem 2008; Pelizzo und Babones 2007). Notwendige die Merkmale in eine kausale Beziehung zueinander Bedingung für die Möglichkeit von Polarisierung ist gebracht werden (vgl. hierzu Schmitt 2014; Schmitt dabei, dass sich eine dominante ideologische Dimen- und Franzmann 2017c: 92 ff.). Für die Beschreibung sion im Parteiensystem überhaupt bildet, welche für der Wirkungsweise einer Großen Koalition sind nun die Akteure handlungsrelevant ist (Sartori 1976: insbesondere die kausalen Beziehungen innerhalb des 334 ff.). Nach dieser Argumentation führt Multidi- polarisierten Pluralismus interessant, welche die fol- mensionalität eher zu Segmentierung anstatt zu Pola- gende Darstellung 1 zusammenfasst. risierung (ebd.). Zentral ist weiterhin, dass die domi-

49 Aufsätze Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] MIP 2018 24. Jhrg. nante Wettbewerbsdimension in ihrem Kern auch Das illustrierte hypothetische Parteiensystem um- die Position zur aktuellen Konstitution umfasst (Sar- fasst fünf relevante Parteien, welche entlang einer tori 1976: 157, 1976: 337 f.), d.h. extrem linke und dominanten Wettbewerbsdimension positioniert rechte Positionen implizieren eine ablehnende Hal- sind. In dem Beispiel hat sich eine zentrale Koalition tung gegenüber dem aktuellen System, während zen- aus den Parteien B und C gebildet. Diese wird von trale Akteure systemstabilisierend wirken. Hieraus links durch die Oppositionspartei A und von rechts ergibt sich ein persistenter Konflikt im Falle einer durch die Oppositionsparteien D und E im elektora- Polarisierung zwischen den Parteien. len Wettbewerb herausgefordert. Die ausgeführte theoretische Überlegung ist nun, dass sich hieraus Auf der ideologischen Dimension können zwei ver- eine Dynamik zu den Flügeln (graue Pfeile) und weg schiedene Arten von Wettbewerbsbewegungen auf- vom Zentrum entwickelt – also ein zentrifugaler, po- treten, welche entweder zu einer hohen Polarisierung larisierender Parteienwettbewerb. Dieser Zusam- (zentrifugale Dynamik) oder niedrigen Polarisierung menhang verstärkt sich zudem selbst (zurückführen- (zentripetale Dynamik) führen (Sartori 1976: 342 ff.). der Pfeil in Darstellung 1), da eine zunehmende Po- Die Ursache für die eine oder andere Dynamik ist larisierung die moderaten Parteien schwächt. Damit auf zwei Merkmale des polarisierten Pluralismus zu- verbleibt eine Zentrumskoalition als einzige Regie- rückzuführen: die Besetzung des ideologischen Zen- rungsoption, da die zersplitterte Opposition keine re- trums und die bilaterale Struktur der Opposition elle Alternative für die Koalitionsbildung darstellt (Sartori 1976: 133 ff.; vgl. weiterführend Schmitt und (Sartori 1976: 135 f.). Franzmann 2017c: 92 ff.). Der erste Punkt beinhaltet die Überlegung, dass eine Gruppe von Parteien, wel- Im Gegensatz dazu sollte eine Flügelkoalition, wel- che sich im politischen Zentrum positionieren (und che charakteristisch für den moderaten Pluralismus nicht unmittelbar miteinander konkurrieren), dazu ist, eine gegenteilige Dynamik auslösen. Hier ist führt, dass das Zentrum selbst im Parteienwettbe- eine Koalition entlang des linken oder rechten Flü- werb nicht umkämpft ist (Sartori 1976: 133 ff.). In gels positioniert und mit einer Opposition auf der der Konsequenz wird also Wahlkampf um die weniger entsprechend anderen Seite des Wettbewerbsspek- moderaten Wählerschaften geführt. Dagegen beinhal- trums konfrontiert. Die ideologisch verbundene Op- tet der zweite Punkt – die bilaterale Opposition –, position konkurriert dementsprechend mit der amtie- dass die Regierungsparteien sowohl mit einer Oppo- renden Regierungskoalition im Wettbewerb um die sition von rechts als auch links konfrontiert sind und zukünftige Besetzung der Ämter. Daraus folgt nach sich hierdurch der elektorale Wettbewerb der Partei- Sartoris Überlegungen ein Lagerwahlkampf zwi- en auf die Flügel und nicht das Zentrum konzentriert schen den beiden Gruppen, wobei die ausschlagge- (ebd.). benden Stimmen im Zentrum zu gewinnen sind. Dies löst in der Konsequenz eine zentripetale Dynamik Beide Überlegungen können durch die Gegenüberstel- aus, wie in der folgenden Darstellung 3 illustriert ist. lung von zwei idealtypischen Koalitionsmustern mit- einander verknüpft werden: einer Zentrums- und einer Darstellung 3: Die Wirkung einer Flügelkoalition* Flügelkoalition (vgl. hierzu Schmitt 2014; Schmitt und Franzmann 2017c, 2018). Bei einer Zentrumskoa- lition sind die Regierungsparteien mittig auf der ideo- logischen Wettbewerbsdimension zu verorten und mit einer Opposition sowohl von links als auch rechts konfrontiert. Dies entspricht der Ausgangskonstellation des polarisierten Pluralismus. In der folgenden Dar- *Quelle: Darstellung auf Basis von Schmitt (2014) sowie stellung findet sich hierfür ein Beispiel. Schmitt und Franzmann (2017c). Darstellung 2: Die Wirkung einer Zentrumskoalition* In diesem Beispiel bilden nun die Parteien A und B eine Koalition, welcher die Opposition aus den Par- teien C, D und E entgegensteht. Der theoretischen Argumentation nach hat dies eine zentripetale Dyna- mik zur Folge, weil sich die beiden Lager um den Stimmengewinn im Zentrum bemühen. Im Prinzip ist nach Sartori (1976: 169 ff.) ein moderates Mehrpar- *Quelle: Darstellung auf Basis von Schmitt (2014) sowie teiensystem durch die Gruppenbildung in seiner Dy- Schmitt und Franzmann (2017c). namik vergleichbar mit einem Zweiparteiensystem.

50 MIP 2018 24. Jhrg. Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] Aufsätze

Diese Gruppenbildung ist unter Zentrumskoalitionen sche Mechanismus erklärt also den dargestellten Zu- allerdings nicht möglich, da die Opposition ideolo- sammenhang auf Makroebene? Und ist dieser Me- gisch zersplittert ist. chanismus auch unter der Bedingung der Präsenz von Großen Koalitionen gegeben? Auf Grundlage Die verbleibenden Merkmale aus der Darstellung 1 einer aktuellen Mikrofundierung wurde mit Hilfe ei- stellen abschließend die Konsequenzen der zentrifu- nes agentenbasierten Modells4 diese Problemstellung galen Dynamik dar. Das Resultat des polarisierten gelöst (Schmitt und Franzmann 2018). Damit liefert Pluralismus beschreibt Sartori insbesondere durch die Studie ein zentrales Puzzleteil für die Beantwor- die politischen Konflikte, welche aus den ideologi- tung der hier untersuchten Fragestellung. Die bishe- schen Differenzen der relevanten Akteure folgen rige Black Box und der herausgearbeitete Mechanis- (Sartori 1976: 133 ff.). So sind im polarisierten Plu- mus werden mit Hilfe der folgenden Darstellung il- ralismus Parteien präsent, welche das System grund- lustriert. legend ablehnen, nicht bereit sind Regierungsverant- wortung zu übernehmen und/oder sich nur einge- Darstellung 4: Die Öffnung der Black Box des polarisierten Pluralismus schränkt an die Regeln des demokratischen Wettbe- werbs halten (ebd.). Ur- sprünglich hatte Sartori hier insbesondere kommu- nistische und faschistische Parteien als Antisystem- parteien im Sinn. Aller- dings lässt sich das Kon- zept auch auf die heutige Zeit übertragen. So formu- liert Capoccia (2002) die Überlegung der relationa- len Antisystempartei. Ent- scheidend ist, dass die *Quelle: Darstellung auf Basis von Schmitt und Franzmann (2018). Parteien die aktuelle Kon- stitution ablehnen und Wenn auf Makroebene der Koalitionstyp die Polari- sich von dem bisherigen System entfremdet haben. sierung teilweise bestimmt, muss dieser letztlich die Sie müssen nicht zwangsläufig antidemokratisch Akteure so beeinflussen, dass sich die Parteien im oder autoritär sein und wirken trotzdem dysfunktio- Falle einer Zentrumskoalition extremer positionieren nal aufgrund ihres Konfliktpotentials. und/oder die Wähler extremere Parteien wählen. Da- Der ausgeführte theoretische Kern der Parteiensys- gegen müsste es einen umgekehrten Effekt für Flü- temtypologie von Sartori bietet damit einen Ansatz- gelkoalitionen geben. Hierfür wurden zwei mögli- punkt zur Erklärung von Wettbewerbseffekten durch chen Mechanismen herausgearbeitet, welche die Große Koalitionen. Diese sollten besonders dann die Black Box öffnen können. Zunächst beeinflusst die politischen Ränder stärken, wenn sie zentral auf der Wettbewerbslage zwischen Regierung und Oppositi- dominanten ideologischen Wettbewerbsdimension on die Möglichkeiten der strategischen Verfolgung positioniert sind und sowohl von links als auch von Zielen unter Zentrumskoalitionen (Schmitt und rechts mit relevanten oppositionellen Akteuren kon- Franzmann 2018). In dem Modell wird dabei grund- frontiert sind. Auf Dauer wäre hieraus ein dysfunkti- sätzlich davon ausgegangen, dass Parteien unter- onaler, konfliktiver Wettbewerb zu erwarten. Aller- schiedliche Zielsetzungen im elektoralen Wettbe- dings ist das bis hierin bestehende Problem die man- werb verfolgen können: policy-, office- und vote- gelnde Verknüpfung der verschiedenen analytischen seeking (vgl. hierzu Strøm 1990). Parteien können Ebenen miteinander, d.h. Sartori verbindet im ur- also versuchen durch ihren Wahlkampf Wählerstim- sprünglichen theoretischen Konstrukt nicht die An- men zu gewinnen, an der zukünftigen Regierung zu nahmen über Akteure und ihre Heuristiken mit den partizipieren (und damit Ämter zu erhalten) oder formulierten Zusammenhängen auf der Systemebene 4 Die Methode ermöglicht die Modellierung von komplexen, (Koalitionstyp → Polarisierung). Welcher spezifi- dynamischen Prozessen auf Basis von Akteuren (vgl. hierzu Schmitt 2015; Gilbert 2010).

51 Aufsätze Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] MIP 2018 24. Jhrg. spezifische Politiken auf die Agenda zu setzen und Aus dieser Perspektive ist der Effekt einer Großen zu vertreten. Die Ziele können sich unter Umständen Koalition immer dann zentrifugal, wenn (a) sie eine teilweise gegenseitig ausschließen. Die Präsenz ei- zentrale Lage einnimmt, (b) sie zu einer substanziel- ner Zentrumskoalition kann nun die Möglichkeiten len, ideologischen Zersplitterung der Opposition zur Verfolgung spezifischer Ziele, zumindest einiger führt, (c) eine Partizipation (von Teilen) der Opposi- Akteure, einschränken (Schmitt und Franzmann tion in zukünftigen Koalitionsverhandlungen per se 2018). Gibt es ausschließlich Konkurrenz- und keine ausgeschlossen scheint und (d) die Unzufriedenheit Kooperationsbeziehungen zwischen Koalition und mit der aktuellen Regierung substanziell ist. Not- Opposition, haben die oppositionellen Akteure unter wendige Bedingung für einen solchen Effekt ist wei- einer Zentrumskoalition keine Möglichkeit zukünftig terhin, dass sich der Wettbewerb auf eine dominante an der Regierung zu partizipieren, da sie selber ideo- ideologische Dimension konzentriert. logisch zersplittert ist und damit keine mögliche Al- Bevor schließlich die Dynamiken des deutschen Par- ternative zur aktuellen Regierung darstellt (ebd.). teiensystems mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 Weil die mögliche zukünftige Regierungsverantwor- vor dem Hintergrund des ausgeführten Mechanismus tung nicht Teil der strategischen Abwägung der op- betrachtet werden, sollen noch kurz die empirischen positionellen Akteure im Modell ist, ergibt sich aus Evidenzen zu diesem Zusammenhang aus der ver- der Heuristik dieser Akteure eine zentrifugale Dyna- gleichenden Politikwissenschaft erörtert werden. mik. Dagegen führen Flügelkoalitionen zu Lagerbil- Diese ergeben sich bisher primär aus drei quantitati- dung und zur zentripetalen Dynamik, da hier der ven Beiträgen: Hazan (1995b), Schmitt und Franzmann Wettbewerb maßgeblich durch den möglichen Äm- (2017c) sowie Schmitt und Franzmann (2017b). Hazan tergewinn geprägt ist und die ideologisch homogene (1995b) präsentiert die erste empirische Analyse, Opposition versuchen kann, die aktuelle Regierung welche im Kern den von Sartori beschriebenen Zu- nach der Wahl durch den Gewinn einer gemeinsa- sammenhang testet. Allerdings konzentriert sich der men Mehrheit abzulösen (ebd.). Autor auf den Effekt eines besetzten ideologischen Dieser Mechanismus funktioniert unter Zentrumsko- Zentrums und lässt damit den Aspekt der bilateralen alitionen allerdings nur dann, wenn die oppositionel- Oppositionsstruktur außer Acht. In der Analyse zeigt len Akteure auch prinzipiell einen Anreiz haben mit sich, dass eine Stärkung des politischen Zentrums, weniger moderaten Standpunkten Wahlkampf zu welches durch den Sitzanteil zentral positionierter führen, z.B. weil sie hierdurch Wählerstimmen ge- Parteien gemessen wird, mit einer Stärkung extremer winnen (ebd.). Dies kann gegeben sein, wenn die Parteien einhergeht (ebd.; vgl. weiterführend Hazan Wählerschaft selbst polarisiert ist. Weiterführend 1995a). Diese Studie stellt damit ein erstes Indiz für wurde in dem Modell der mögliche verstärkende den vermuteten Zusammenhang dar. In dem neueren Mechanismus der Regierungsabstrafung („Evaluati- Beitrag von Schmitt und Franzmann (2017c) wird on der Regierung“ in der Darstellung 4) herausgear- dagegen konkret der Effekt von einer zentral positio- beitet (ebd.). Sind Wähler unzufrieden mit der Re- nierten Koalition im Zusammenspiel mit einer zer- gierung, z.B. aufgrund einer Austeritätspolitik in splitterten Opposition im Rahmen einer quantitati- Phasen wirtschaftlicher Rezession, und beeinflusst ven Time-Series Cross-Section Analyse getestet. Da- dies ihr Wahlverhalten, können die Wähler unter bei wird ein substanzieller polarisierender Effekt Flügelkoalitionen zur moderaten, zentral positionier- von Zentrumskoalitionen vorgefunden (ebd.). Der ten Alternative ausweichen. Dagegen bleibt ihnen Effekt ist dabei insbesondere auf die zentrale Lage unter Zentrumskoalitionen nur das Wählen von ex- und nicht unbedingt auf die Größe der Koalition zu- tremeren Oppositionsparteien. Dieser zweite Mecha- rückzuführen (ebd.). In einer Erweiterung dieser nismus kann den ersten Mechanismus der einge- Analyse wird ein Interaktionseffekt zwischen Zen- schränkten Konkurrenz verstärken (ebd.): Zunächst trumskoalitionen und der Stärke der Opposition ist durch die Zersplitterung die Strategie der Opposi- nachgewiesen, d.h. sind Zentrumskoalitionen mit ei- tion nicht auf die Partizipation in einer zukünftigen ner schwachen Opposition konfrontiert, wirken sie Koalition ausgerichtet und aufbauend weichen die polarisierender (Schmitt und Franzmann 2017b). unzufriedenen Wähler zu den oppositionellen Akteu- Die empirischen Studien bestätigen bisher also die ren auf den Flügel aus. Unter einer Flügelkoalition vermuteten theoretischen Zusammenhänge. Vor dem führt die Unzufriedenheit im Sinne des Modells da- Hintergrund der ausgeführten Mechanismen sollen gegen zu einem Regierungswechsel. im Folgenden nun die Dynamiken im deutschen Par- teiensystem deskriptiv betrachtet werden. Dies kann

52 MIP 2018 24. Jhrg. Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] Aufsätze natürlich nicht als empirischer Test der erörterten und jede Wahl separat vorgenommen. Um das Maß Hypothese interpretiert werden, allerdings soll die für die folgende Analyse nutzen zu können, wurden fallstudienartige Betrachtung eine Einschätzung er- die Werte für die Wahl 2017 nach dem vorgeschla- möglichen, ob der Mechanismus ein mögliches Puzzle- genen Vorgehen (siehe hierzu Franzmann und Kai- teil in der Erklärung der Dynamiken im deutschen ser 2006: 167) aktualisiert6. Parteiensystem darstellt und was dies in der Konse- Auf Grund der Verfügbarkeit der MARPOR-Daten quenz für eine mögliche weitere Große Koalition be- können die Entwicklungen zunächst über einen län- deutet. geren Zeitraum betrachtet werden. In der folgenden Darstellung 5 werden dabei die Links-Rechts-Positi- Die Dynamiken im deutschen Parteiensystem und onen der Parteien seit der Wahl 1998 abgebildet. Da- die Bundestagswahl 2017 mit beginnt die Darstellung mit dem Regierungs- Auf Grundlage der theoretischen Argumentation wechsel zu Rot-Grün. Vorher war das Parteiensys- sind insbesondere die Wettbewerbskonstellationen tem von einer rechten Flügelkoalition (Schwarz- zwischen Regierung und Opposition auf dem Links- Gelb) und einer linken Opposition geprägt. In der Rechts-Kontinuum im Zusammenspiel mit den Pola- Abbildung wird die Koalition, welche sich nach der risierungsdynamiken im Parteiensystem von Interes- Wahl formiert hat, durch grau eingefärbte Kreise se, da hier theoretisch ein Zusammenhang erwartet symbolisiert. Weiße Punkte stellen dagegen die Op- wird. Empirisch sollen die aktuellen Entwicklungen positionsparteien dar. Weiterhin stellt die Koalition im deutschen System aus zwei verschiedenen Per- nach der Wahl 2017 das technische Übergangskabi- spektiven betrachtet werden – aus Sicht der Anbieter nett von SPD und Union dar, weil zum Zeitpunkt des und aus Sicht der Rezipienten. Um die Perspektive Verfassens dieses Beitrags die Koalitionsbildung der Wähler abzubilden, wird im Folgenden auf die aufgrund des ausstehenden SPD-Mitgliederent- Umfragedaten der German Longitudinal Election scheids noch nicht abgeschlossen war (Stand: Study (kurz: GLES)5 zurückgegriffen, während die 27.02.2018). Angebotsseite der Parteien durch die Wahlprogrammana- Darstellung 5: Die Positionierung der Parteien zu den Bundestagswahlen* lysen des Manifesto Project (kurz: MARPOR; Volkens et al. 2017) repräsentiert wird. Es gibt verschiedene Ansätze, um aus der Inhaltsanalyse und dem Kategorienschema des MAR- POR-Datensatzes Parteipositio- nen abzuleiten (vgl. hierzu u.a. Franzmann 2015; Jahn 2011; Mölder 2015). Wichtig für die empirische Analyse des erör- terten Konzeptes ist, dass die untersuchte ideologische Di- mension alle relevanten The- men im Wettbewerb subsum- miert. Dies kann über den kon- textsensitiven Indikator von Franzmann und Kaiser (2006) erreicht werden. Hier wird die Klassifikation der inhaltlichen *Die Parteipositionen basieren auf dem Franzmann-Kaiser-Indikator (Franz- Kategorien als linke oder rech- mann und Kaiser 2006), welche wiederum auf Grundlage des MARPOR gebil- te Kategorie bzw. als Va- det wird (Volkens et al. 2017). lenz-Kategorie für jedes Land 6 Die Einstufung der Kategorie zu links, rechts und Valenz 5 Die insgesamt drei verfügbaren Wellen umfassen die Nach- wurde von der Bundestagswahl 2013 für 2017 übernommen wahlbefragungen zu den Bundestagswahlen 2009 (Rattinger außer in den folgenden Fällen: Die Kategorien 104, 109, 402, et al. 2017a), 2013 (Rattinger et al. 2017b) sowie 2017 (Roß- 403, 605 und 608 sind nun als rechts eingestuft und die Kate- teutscher et al. 2017). gorien 201, 202, 501 und 705 sind als Valenz eingestuft.

53 Aufsätze Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Die 1998 gewählte rot-grüne Regierung stellte die Diese Große Koalition wies die Besonderheit auf, erste Koalition seit den 1960er Jahren im bundesre- dass sie keine Zentrumskoalition darstellt. Die Uni- publikanischen Parteiensystem dar, welche sowohl on war zumindest nach den verwendeten Daten8 zur von links (PDS) als auch rechts (Union und FDP) Wahl rechter positioniert als die FDP. Damit stellte mit oppositionellen Kontrahenten im Parteienwett- diese Große Koalition weder eine idealtypische Zen- bewerb konfrontiert war. In diesem Sinne entspricht trums- noch Flügelkoalition dar. Weiterhin kam es in das Kabinett einer idealtypischen Zentrumskoalition. der folgenden Wahl wieder zu einem Lagerkampf Damit ist eine Voraussetzung für das Eintreten des zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb (Decker beschriebenen Mechanismus bereits ohne die Bil- 2009). Damit war für (fast) alle Parteien im Wettbe- dung einer Großen Koalition gegeben. Allerdings werb eine Regierungsbeteiligung zumindest hypo- sind in diesem Fall die Bedingungen nicht vollstän- thetisch möglich und der Mechanismus der einge- dig erfüllt, da die schwarz-gelbe Opposition nach wie schränkten Konkurrenz greift wieder nicht. Folglich vor die Möglichkeit für das Verfolgen von office- ist durch diese Große Koalition keine Polarisierungs- seeking Strategien hatte. Die zentrale Lage der Koa- dynamik zu erwarten gewesen, was sich mit den dar- lition im Wettbewerb führte nicht zu einer substanzi- gestellten empirischen Mustern deckt. Im Gegenteil, ellen ideologischen Zersplitterung der Opposition. die Union orientierte sich wieder in Richtung des Alleine die PDS hatte zu diesem Zeitpunkt keine Zentrums auf der Links-Rechts-Skala und es bildeten reale Perspektive auf eine zukünftige Regierungsbe- sich zwei deutlich voneinander abgrenzbare Lager teiligung. Dementsprechend wurde die folgende auf dem Kontinuum zur Wahl 2009. Diese gewann Wahl 2002 noch von einem Wettbewerb zwischen Schwarz-Gelb und als Konsequenz bildete sich eine den Lagern Rot-Grün und Schwarz-Gelb geprägt idealtypische Flügelkoalition aus FDP und Union. (Jun 2007: 500) und, wie hieraus theoretisch zu er- Diese führte 2013 – trotz der ersten Erfolge der AfD warten ist, trat dementsprechend auch keine Polari- als neue Partei – erstmal zu einer deutlichen Depolari- sierungsdynamik auf. sierung durch die zentripetalen Positionierungen der FDP und Union. Die AfD setzte zu diesem Zeitpunkt Im Anschluss ist in der folgenden Legislaturperiode vor allem auf die Kritik am Euro und auf national- während der zweiten rot-grünen Koalition eine ver- liberale Positionen im Wahlkampf, was in der Summe gleichbare Wettbewerbskonstellation zu beobachten. – zumindest hinsichtlich des Wahlprogramms – ins- Diesmal trat allerdings eine zentrifugale Tendenz gesamt eher auf dem moderat rechten Flügel zu ver- auf Grund der rechteren Positionierung der Union orten ist (vgl. zur Positionierung der AfD vor der auf und die ideologische Spannweite im Parteiensys- Spaltung Franzmann 2016b, 2014).9 Trotz dieser tem erhöhte sich. Diese kommt vor allem durch die zentripetalen Entwicklung schuf die Flügelkoalition Betonung marktliberaler Positionen im Wahlpro- mutmaßlich erst durch die Bewegung Richtung Zen- gramm der Union zustande7, wobei diese Wettbe- trum die Voraussetzungen für die anschließende Po- werbsorientierung vom Elektorat nicht belohnt wur- larisierung, da Teile des Elektorats unzufrieden mit de (Niedermayer 2008: 30). Zudem sind auf der an- der weniger konservativen Positionierung der Union deren Seite des Links-Rechts-Kontinuums ebenfalls waren (Franzmann 2014: 115). Polarisierungstendenzen festzustellen. Die Position der Linken (PDS und WASG) rückte zwar nicht wei- In Folge des parlamentarischen Ausscheidens der ter nach links, aber es ist ein deutlicher Stimmenge- FDP ergab sich nun erstmals eine idealtypische Zen- winn dieses Akteurs zu verzeichnen (+4.7 Prozent- trumskoalition im Parteienwettbewerb, auf welche punkte im Vergleich zur PDS 2002). Da die Linke der Mechanismus der eingeschränkten Konkurrenz nun mit einem substanziellen Sitzanteil im Parla- theoretisch zutraf: Die Koalition aus SPD und Union ment vertreten war, hatte keines der beiden etablier- ist sowohl von links (Linke und Grüne) als auch ten Lager die parlamentarische Mehrheit. Hierdurch rechts (FDP und AfD) mit einer zersplitterten Oppo- blieb, da weder eine Ampel- noch eine Jamaika-Koa- sition konfrontiert, wobei sowohl auf dem linken als lition möglich waren, nur noch der Ausweg der ers- auch rechten Flügel mindestens eine relevante Partei ten Großen Koalition nach der Wende (vgl. hierzu präsent war, für die eine zukünftige Regierungsbetei- Jun 2008: 32 f.). 8 In Ergänzung ist die Union 2006 auch nach dem Chapel Hill 7 Unter anderem werden nach dem MARPOR (Volkens et al. expert survey (Bakker et al. 2014) weiter rechts als die FDP 2017) insbesondere Aussagen zur Liberalisierung der Märkte positioniert. (Kategorie 401, 5,8% der Quasisätze) und zum Bürokratieab- 9 Zu diesem Zeitpunkt nimmt die AfD am ehesten auf der so- bau (bzw. „Governmental and Administrative Efficiency“, zio-ökonomischen Dimension eine rechte Position ein (Franz- Kategorie 303, 13,7%) getätigt. mann 2014: 120).

54 MIP 2018 24. Jhrg. Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] Aufsätze ligung nicht in Aussicht stand. In der Konsequenz Wie erheblich der Anstieg der Polarisierung des waren nun auf beiden Flügeln Akteure vorhanden, deutschen Parteiensystems zur Wahl 2017 war, wird die zukünftige Koalitionsverhandlungen nicht in ihre bei der Betrachtung der Dynamik im Zeitverlauf wettbewerbsstrategische Ausrichtung miteinbezogen deutlich (Darstellung 6). Generell kann Polarisie- (bzw. miteinbeziehen konnten). Weiterhin war mit rung über verschiedene empirische Indikatoren abge- der Flüchtlingskrise ein salientes Thema im Wettbe- bildet werden (Schmitt 2016; Schmitt und Franz- werb präsent, bei dem ein substanzieller Teil der mann 2017a; Dalton 2008; Evans 2002), wobei die Wählerschaft anscheinend mit der Regierung unzu- kombinierte Verwendung der Spannweite und der frieden war (vgl. hierzu Niedermayer 2018: 118 f.) gewichteten Standardabweichung10 den Vorteil hat, und diese Unzufriedenheit mutmaßlich relevant für dass die Nachteile des jeweils anderen Maßes kom- die Wahlentscheidung war. Hierdurch waren die pensiert werden (Schmitt und Franzmann 2017a). In Vorrausetzungen für das Eintreten einer zentrifuga- der folgenden Darstellung werden die Polarisie- len Dynamik aus Sicht des Modells (Schmitt und rungswerte für beide Indikatoren auf Basis der Franzmann 2018) geradezu prototypisch gegeben. Franzmann-Kaiser Positionsdaten für alle deutschen Der Erwartung nach zeigt sich dabei auch empirisch Bundestagswahlen dargestellt. eine erhebliche Polarisierung bei der Bundestags- Seit den 1970er-Jahren ist die Polarisierung des Par- wahl 2017. Die AfD positionierte sich im Vergleich teiensystems aus der Perspektive beider Indikatoren zur Wahl 2013 nach der Abspaltung von der ALFA erheblich angestiegen. Vor allem der Trend hinsicht- (bzw. jetzt LKR) deutlich weiter rechts (vgl. hierzu lich der Spannweite ist in Wellenbewegungen stetig Franzmann 2016b: 35) und gewann substanziell an steigend. Das Allzeithoch ist in der letzten Bundes- Stimmen hinzu (+7.9 Prozentpunkte, Döring und tagswahl zu beobachten, wobei der Wert im Ver- Manow 2016). Interessanterweise würde eine erneu- gleich zur vorherigen Wahl um 58 Prozent gestiegen te Große Koalition wieder einer idealtypischen Zen- ist. Die Varianz der Positionen ist ebenfalls in Rela- trumskoalition entsprechen und die Bedingungen für tion zu den restlichen beobachteten Werten hoch, die Wirkung des theoretischen Mechanismus wären aber weit weniger stark angestiegen als die Spann- erneut erfüllt. weite. Betrachten wir die ideologische Polarisierung in Relation zur Fragmen- Darstellung 6: Die Polarisierung im deutschen Parteiensystem* tierung, welche die beiden Kriterien zur Bildung der ursprünglichen Typologie von Sartori (1976: 290) darstellen, wird deutlich, dass eine Entwicklung in Richtung des polarisierten Pluralismus zu beobachten ist. Der Typ des moderaten Pluralismus ist in der fol- genden Darstellung 7 im unteren linken Bereich zu verorten (geringe Polari- sierung und Fragmentie- rung), während Systeme des polarisierten Konter- parts in der oberen rechten zu finden sein müssten (hohe Polarisierung und *Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des MARPOR (Volkens et al. 2017) und der Fragmentierung). Während Franzmann-Kaiser Positionsdaten (Franzmann und Kaiser 2006). Die Linien zeigen das deutsche Parteiensys- die Schätzungen auf Basis einer Loess-Regression an. Die Skala der Polarisierungs- werte ist reskaliert und reicht von 0 bis 1 (Schmitt 2016). tem lange Zeit durch einen moderaten Polarisierungs-

10 Diese berechnet sich über die Distanzen zwischen den Partei- positionen und dem Mittelwert, wobei auf Basis der Stimman- teile der Parteien gewichtet wird (vgl. hierzu Schmitt 2016).

55 Aufsätze Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] MIP 2018 24. Jhrg. grad und geringe Fragmentierung geprägt war, ent- sierten Pluralismus wären dabei nach der theoreti- wickelte sich der Trend seit der Wahl 2005 langsam schen Argumentation von Sartori (1976), dass sich in Richtung des polarisierten Typs und machte 2017 diese Wettbewerbskonstellation verfestigt und dass einen erheblichen weiteren Sprung auf diesem Weg. kleiner werdende Zentrumskoalitionen zunehmend von dem zentrifugalen Wettbewerb Darstellung 7: Die Fragmentierung und Polarisierung im deutschen elektoral geschwächt werden. Dieser Parteiensystem* Argumentation liegt implizit die Über- legung zugrunde, dass Flügelkoalitio- nen aufgrund der ideologischen Diffe- renzen nicht mehr möglich sind. Ob diese Entwicklung von der Nach- frageseite ähnlich wahrgenommen wird oder der Polarisierungstrend ein Arte- fakt der Wahlprogramme ist, soll mit einem Perspektivwechsel hin zur Ana- lyse der Wählerbefragungen im Rah- men der GLES überprüft werden. Da- bei werden die Parteien im Zeitverlauf seit der Wahl 2009 in der grundlegen- den Konstellation sehr ähnlich zu den bisherigen Positionsdaten auf dem Links-Rechts-Spektrum verortet (vgl. mit Darstellung 5). Die Position der AfD wird bei der Wahl 2013 im Mit- tel von den Wählern nahe Schwarz- Gelb gesehen, während anschließend *Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis des MARPOR (Volkens et al. eine substanzielle Bewegung nach 2017) und der Franzmann-Kaiser Positionsdaten (Franzmann und Kaiser rechts durch den Wähler diagnostiziert 2006). Jeder Punkt symbolisiert die Fragmentierung und Polarisierung zu einer Bundestagswahl von 1949 bis 2017 und die Verbindungslinien wird und sich damit auch auf dieser zeigen den Verlauf an. Datenbasis eine erhebliche Polarisie- rung ergibt. Die Entwicklung des deut- schen Parteiensystems weist Darstellung 8: Die mittleren Links-Rechts-Parteipositionen in der GLES* anhand der bisher betrachteten Indikatoren in einem erhebli- chen Maß auf eine substanziel- le Polarisierung unter der drit- ten Großen Koalition hin. Da- gegen hat die vorherige, zweite Große Koalition nach der Wahl 2005 noch zu keiner zentrifu- galen Dynamik geführt. Die Entwicklung des Parteiensys- tems aus der Sicht der Typo- logie verläuft dabei vom mo- deraten zum polarisierten Plu- ralismus. Die Voraussetzungen hierfür hat allerdings schein- bar erst die Flügelkoalition geschaffen, da sie durch ihren zentripetalen Kurs die Grün- *Quelle: Berechnungen auf Basis der GLES-Befragungen (Rattinger et al. 2017a; dung der AfD ermöglichte. Rattinger et al. 2017b; Roßteutscher et al. 2017). Die Mittelwerte sind gewichtet nach dem bereitgestellten Ost-West-Gewicht. Typisches Muster des polari-

56 MIP 2018 24. Jhrg. Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] Aufsätze

Auch auf der Wählerseite wird also im Mittel die dern ihren Ursprung in der Frage zur Flüchtlingspo- zentrifugale Dynamik wahrgenommen. Entlang der litik hat. Zunächst zeigt sich auf der Parteienebene Links-Rechts-Achse bilden sich aus der aggregierten folgendes Bild (Darstellung 9). Sicht der Wähler Die Spannweite zwi- deutlich vier Lager: Darstellung 9: Die Parteipositionierung 2017 im zweidimen- schen den Parteien Die Linke, Rot- sionalen Raum (GLES)* hinsichtlich sozio- Grün, Schwarz- ökonomischer Fragen Gelb und die AfD. wird von den Wäh- Mit den vier Polen lern eher als gering hat sich das deut- angesehen. In dieser sche Parteiensys- Hinsicht ist die AfD tem von dem Ideal- relativ nah am politi- typ des moderaten schen Zentrum posi- Pluralismus (zwei tioniert. Insgesamt konkurrierende beträgt hier die ma- Pole) sichtlich ent- ximale Distanz zwi- fernt. Differenziert schen den Parteien man die Links- gerade einmal 6,5 Rechts-Dimension Skalenpunkte. Dage- inhaltlich weiter gen sind die Diffe- aus, wird zudem renzen wesentlich deutlich, in wel- größer auf der liber- cher Hinsicht die tär-autoritären Di- Positionen der Par- mension bzw. hin- teien und die Mei- sichtlich der Frage nungen der Wähler zu den Zuzugsmög- sich polarisiert ha- *Quelle: Berechnungen auf Basis der GLES-Befragungen (Roßteut- lichkeiten von Aus- ben. Dies ist mög- scher et al. 2017). Die Mittelwerte sind gewichtet nach dem bereit- ländern. Hier beträgt lich, da in der gestellten Ost-West-Gewicht. Die graue Linie stellt die lineare Re- die Spannweite mit GLES nicht nur gressionsgerade zwischen den beiden Dimensionen dar. 2,9 Skalenpunkten die allgemeinen einen wesentlich hö- Links-Rechts-Positionen11, sondern auch Items zur heren Wert. Betrachten wir weitergehend die Vertei- sozio-ökonomischen und libertär-autoritären Dimen- lung der Wählerpositionen auf diesen beiden Dimen- sion abgefragt werden (vgl. Roßteutscher et al. sionen, zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Auf der 2017). Die erste Dimension umfasst die inhaltliche sozio-ökonomischen Dimension ist eine deutliche Frage nach der Stärkung des Sozialstaates (links = 0) Tendenz zur Mitte zu beobachten und ansonsten ein vs. die Senkung von Abgaben und Steuern (rechts = kleiner Bias zugunsten der Befürwortung eines stärke- 10). Dagegen wird mit der libertär-autoritären Di- ren Sozialstaates. Dagegen ist bei der Verteilung der mension die Werteeinstellung der Befragten und der Meinungen hinsichtlich der libertär-autoritären Frage Parteien abgefragt. Wichtig ist anzumerken, dass eine starke Tendenz nach rechts zu beobachten und dieses Frageitem in der GLES explizit über die Fra- eine höhere Varianz in den Positionen festzustellen. ge nach den Zuzugsmöglichkeiten von Ausländern operationalisiert wird: mehr Möglichkeiten (links = Zusammenfassend ist also sowohl aus der Perspektive 0) und weniger Möglichkeiten (rechts = 10). Bei der der Parteien (bzw. deren Wahlprogrammen) als auch Gegenüberstellung beider Dimensionen wird so- hinsichtlich der Wählerschaft eine deutliche Polari- wohl auf Parteien- als auch auf Wählerebene deut- sierung des deutschen Parteiensystems festzustellen. lich, dass die Polarisierung weniger auf einem Dis- Die zeitliche Abfolge korrespondiert dabei in den sens hinsichtlich wirtschaftlicher Fragen beruht, son- wesentlichen Aspekten mit den Erwartungen des ausgeführten Mechanismus und bietet damit einen 11 In dem Survey wurden auf die folgende Weise die Parteiposi- möglichen Erklärungsansatz für die beobachteten tionen erhoben: „In der Politik reden die Leute häufig von "links" und "rechts". Wenn Sie diese Skala von 1 bis 11 be- Entwicklungen. Aus der theoretischen Perspektive nutzen, wo würden Sie die folgenden Parteien einordnen, stellen die Dynamiken des deutschen Parteiensys- wenn 1 "links" und 11 "rechts" ist?“ (vgl. Fragebogen Roß- tems damit einen typischen Fall dar. teutscher et al. 2017).

57 Aufsätze Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Darstellung 10: Die Wählerverteilung auf den beiden Dimensionen 2017 (GLES)*

*Quelle: Berechnungen auf Basis der GLES-Befragungen (Roßteutscher et al. 2017). Die Mittelwerte sind gewichtet nach dem bereitgestellten Ost-West-Gewicht.

Bis zu diesem Zeitpunkt wurde vor allem die erste Um das Potential für eine solche Entwicklung zumin- Hälfte der Geschichte erzählt: die Regierungs-Oppo- dest erahnen zu können, sollen abschließend noch sitions-Konstellation bestimmt das Polarisierungsni- zwei Überlegungen im Zusammenhang mit Polarisie- veau. Abschließend soll noch erörtert werden, ob die rung in Bezug zur Bundestagwahl 2017 überprüft Polarisierung möglicherweise auch zu den vermute- werden: (1) Eine Bedingung für die Substanz der Po- ten Konsequenzen führt. In der ursprünglichen Argu- larisierung im Erklärungsansatz ist, dass die ideologi- mentation von Sartori (1976: 131 ff.) wird im polari- sche Dimension auch die konstitutionellen Positionen sierten Pluralismus erwartet, dass der Wettbewerb der Akteure widerspiegelt: Sind weiter links oder zunehmend durch die ideologischen Dynamiken ge- rechts positionierte Parteien und ihre Wähler ableh- prägt wird und die Entfremdung der Flügelparteien nend dem aktuellen System gegenüber eingestellt? gegenüber dem etablierten System bis hin zu einer Die Idee des polarisierten Pluralismus ist, dass sich prinzipiellen Anti-System-Einstellung der Akteure hieraus ein Konflikt ergibt. (2) Weiterhin wird auf steigt. Auf der einen Seite sind die Fallanalysen zur gesellschaftlicher Ebene argumentiert, dass die AfD zumindest ein Indiz dafür, dass das Konfliktpo- Gruppenbildung und Exklusion der Anderen (vgl. tential im Parteiensystem tatsächlich gestiegen ist. Argumentation von Esteban und Ray 1994) und, Die populistischen Aussagen richten sich substanziell weiterführend, die affektive Distanz (vgl. den Ansatz gegen die anderen, etablierten Parteien (vgl. hierzu von Iyengar et al. 2012) zwischen verschiedenen Franzmann 2016a: 470) und Kooperationsansätze Gruppen – ich fühle mich also entfernt von den An- zwischen der AfD und den anderen Parteien existie- deren – zentrale Fundamente von Polarisierung sind. ren (bis jetzt) nicht, soweit dies zu beobachten ist. Ob solche Strukturen in Deutschland möglicherweise Die Art der Interaktionsbeziehungen im Parteiensys- gegeben sind, soll zumindest indizienhaft mit zwei tem scheinen sich also zu verändern – von Konkur- Items aus den GLES-Daten erörtert werden. Der ers- renz und Kooperation hin zu Konflikt12. Auf der an- te Punkt impliziert, dass sich die Wählerschaften in deren Seite ist selbst bei einer pessimistischen Be- Bezug zur Einstellung zum System systematisch an- trachtung wohl (noch) kein destabilisierender Kon- hand der Links-Rechts-Positionen der Parteien unter- flikt und ausufernder Wettbewerb zu diagnostizie- scheiden. Hierfür wird untersucht, inwiefern sich die ren, wie ihn Sartori (1976: 131 ff.) idealtypisch mit Bewertung des aktuellen Systems (Demokratiezu- polarisiertem Pluralismus beschreibt. friedenheit) durch die Wählerschaften zwischen den Parteien unterscheidet. Die Skala umfasst dabei vier Kategorien (1: zufrieden, 2: eher zufrieden, 3: eher 12 Die möglichen Arten von Interaktionen zwischen Parteien im unzufrieden, 4: unzufrieden; vgl. Dokumentation zu Wettbewerb werden u.a. nähergehend von Franzmann (2011) konzeptualisiert. Roßteutscher et al. 2017).

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Darstellung 11: Demokratiezufriedenheit der verschiedenen Wählerschaften*

*Quelle: Berechnungen auf Basis der GLES-Befragungen (Roßteutscher et al. 2017). Die Werte sind gewichtet nach dem bereitgestellten Ost-West-Gewicht. Die Skalenpunkte bedeuten: 1: zufrieden, 2: eher zufrieden, 3: eher unzufrieden, 4: unzufrieden.

Es lässt sich zunächst feststellen, dass die Wähler se mutmaßlich durchaus den Spagat zwischen der der etablierten Parteien, welche bereits auf Bundes- Mobilisierung der (eher) Zufriedenen und der (eher) ebene Regierungsverantwortung übernommen haben, Unzufriedenen bewältigen müssen. sich zum Großteil eher zufrieden mit dem System zei- Um die affektive Dimension abzubilden, wird die gen und damit grundsätzlich eine positive Einstel- mittlere Bewertung der Parteien durch die verschie- lung offenbaren. Dagegen unterscheiden sich, wie zu denen Wählerschaften im Folgenden betrachtet. Es erwarten, insbesondere AfD-Wähler von diesem ist natürlich trivialerweise zu erwarten, dass Wähler Muster. Die AfD-Wähler sind zum Großteil (eher) die eigene Partei im Schnitt besser bewerten. Aller- unzufrieden. In weniger starkem Ausmaß ist eine dings ist die Frage, ob systematische Unterschiede solche Tendenz auch bei der Linkspartei zu sehen. zwischen verschiedenen Gruppen festgestellt werden Trotz allem ist auch bei den beiden Flügelparteien, können. Hierfür wird die Frage nach der Sympathie- AfD und Linke, ein gewichtiger Anteil an Wählern bewertung der Parteien verwendet, welche in der vorzufinden, welche durchaus zufrieden mit der ak- GLES von +5 („halte sehr viel von dieser Partei“) tuellen Demokratie in der Bundesrepublik sind. Bei bis -5 („halte überhaupt nichts von dieser Partei“) der Linkspartei sind diese sogar in der Mehrheit. reichen (vgl. Dokumentation zu Roßteutscher et al. Dies lässt zumindest vermuten, dass ein zentrifuga- 2017). Die mittleren Bewertungen verteilen sich da- ler Wettbewerb langfristig auch zu elektoralen Ver- bei wie folgt: lusten bei den Flügelparteien führen könnte und die-

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Darstellung 12: Demokratiezufriedenheit der verschiedenen Wählerschaften*

*Quelle: Berechnungen auf Basis der GLES-Befragungen (Roßteutscher et al. 2017). Die Mittelwerte sind gewichtet nach dem bereitgestellten Ost-West-Gewicht. Die Skala reicht von +5 („halte sehr viel von dieser Partei“) bis -5 („halte überhaupt nichts von dieser Partei“).

Es sind zunächst einmal deutlich drei (bis vier) Clus- Die Linke wird zwar von den Unions- und FDP- ter zu erkennen. Die Wähler der Union, SPD, FDP Wählern eher negativ bewertet, aber von den Grü- und Grünen bewerten zwar jeweils ihre eigene Partei nen- und SPD-Wählern im Mittel eher neutral bis am positivsten, aber die anderen, etablierten Parteien positiv verortet. werden von diesen Wählern immerhin auch neutral Insgesamt kann damit durchaus auch eine Polarisie- bis positiv gesehen. Die Ausnahme ist die CSU (und rung bei den affektiven Distanzen zwischen den teilweise die FDP), welche von den Grünen- und Wählerschaften beobachtet werden, die vor allem SPD-Wählern tendenziell negativ bewertet wird die AfD betrifft. Diese wird von den anderen Wäh- (bzw. werden). Weiterhin bewerten sich insbesonde- lerschaften negativ bewertet und deren Wählerschaft re die Wählerschaften der FDP und Union sowie der bewertet wiederum alle anderen Parteien im Mittel Grünen und der SPD eher positiv – was den vormals negativ. Dagegen ist eine Ausgrenzung der linken etablierten Koalitionsmustern entspricht. Am größ- Flügelpartei prinzipiell nicht aus diesen Daten zu er- ten ist die mittlere affektive Distanz zu der AfD. kennen. Ob sich eine Isolierung der verschiedenen Diese wird mit Abstand am negativsten von allen an- Wählerpopulationen, wie in der Tendenz zu sehen, deren Parteien bewertet. Das umgekehrte Muster ist verstärken könnte und dies auch zu einem generellen bei den AfD-Wählern zu erkennen. Diese bewerten Vertrauensverlust13 in die Politiker der Gegenseite wiederum alle anderen Parteien negativ. Umso linker führen könnte, ist aber nur zu mutmaßen. Damit die Partei ist, desto negativer wird diese auch von scheint zumindest auf dem rechten Flügel einge- den AfD-Wählern im Mittel gesehen. Die Ausnahme ist hier wieder die CSU, welche wesentlich näher am 13 Dies ist insofern besonders relevant, als das Vertrauen ein Wählermilieu der AfD zu sein scheint. Auf dem lin- wichtiges Fundament der repräsentativen Demokratie ist (vgl. zur Bedeutung von Vertrauen im politischen System Ange- ken Flügel zeigt sich kein vergleichbares Muster. nendt (2018); weiterführend Angenendt und Schmitt [2015]).

60 MIP 2018 24. Jhrg. Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] Aufsätze schränkt die Voraussetzung für eine weitere Polari- stellungen immer schwierig zu treffen, da die Wahr- sierung gegeben zu sein. Abschließend sollen die Er- scheinlichkeit des Falschliegens erheblich scheint. gebnisse in ihrer Bedeutung für das deutsche Partei- Die Dynamiken im Parteienwettbewerb werden von ensystem diskutiert werden. einer Vielzahl von Faktoren bestimmt und unterlie- gen einer gewissen Pfadabhängigkeit. Der beschrie- Diskussion bene Ansatz vereinfacht zwangsläufig und hat nur den Anspruch einen spezifischen Mechanismus er- Das Konzept des polarisierten Pluralismus (Sartori klären zu wollen. Trotzdem soll abschließend noch 1976) und die Mikrofundierung der Zusammenhänge eine mögliche Antwort diskutiert werden, um die (Schmitt und Franzmann 2018) bieten einen mögli- Implikationen der Analyse abschätzen zu können. Es chen Erklärungsansatz zu der Frage, welche Wir- lässt sich mindestens eine pessimistische Antwort kung eine Große Koalition im Parteienwettbewerb aus der Perspektive des theoretischen Modells und entfalten kann. Wenn spezifische Bedingungen er- eine (verhalten) optimistische Antwort aus den em- füllt sind, sollte eine solche Koalition einen Polari- pirischen Beobachtungen zu den europäischen Par- sierungseffekt entfalten. Insbesondere sind hierfür teiensystemen finden. die zentrale Lage der Regierungsparteien und die mangelnde Aussicht auf eine zukünftige Regierungs- Aus der pessimistischen Sicht des Modells würde beteiligung der oppositionellen Akteure verantwort- sich die bisherige Konstellation verfestigen. Die lich: der Mechanismus der eingeschränkten Konkur- Große Koalition würde zunehmend schwächer wer- renz (Schmitt und Franzmann 2018). Eine substanzi- den, wodurch weitere moderate Parteien in die Koa- elle Unzufriedenheit im Elektorat sollte diesen Ef- lition integriert werden müssten (z.B. die Grünen). fekt zudem verstärken. Dieser Ansatz bietet eine Er- Diese würden dann wiederum geschwächt werden klärung für die beobachteten zentrifugalen Dynami- und der Wettbewerb würde sich weiter zentrifugal ken unter der dritten Großen Koalition nach der entwickeln, solange bis die Funktionalität des Partei- Bundestagswahl 2013. Weiterhin ist es aus dieser ensystems gar nicht mehr gegeben und eine Koaliti- Theorie heraus plausibel, dass unter der zweiten onsbildung prinzipiell nicht mehr möglich ist. Großen Koalition kein solcher Effekt zu beobachten Dagegen zeigen sich in den Entwicklungen der euro- ist, da hier keine idealtypische Zentrumskoalition päischen Parteiensysteme allerdings durchaus Fälle, präsent war, sowie ein Lagerwahlkampf zwischen die die Polarisierungsdynamik durchbrochen und Rot-Grün und Schwarz-Gelb geführt wurde. Aus die- sich zu moderaten Parteiensystemen entwickelt ha- ser Perspektive stellt Deutschland für das theoreti- ben (vgl. zum Beispiel die Beobachtungen von Bey- sche Modell einen typischen Fall dar. Allerdings ist me 2000: 158 ff.; Hloušek 2010). Aus Sicht des be- bemerkenswert, dass die zentripetale Dynamik unter schriebenen Ansatzes gibt es hierfür prinzipiell drei der schwarz-gelben Koalition überhaupt erst eine an- Möglichkeiten: (1) Die Flügelparteien integrieren sich schließende Polarisierung ermöglicht hat, da der mo- in das System und kooperieren mit den anderen Par- derate Kurs der Union eine der Gründungsursachen teien. Im Zuge dessen moderieren diese ihre Positio- für die AfD war (Franzmann 2014). nen und tragen somit zur Depolarisierung bei, wie Insgesamt deuten die ausgeführten Dynamiken im z.B. bei einigen kommunistischen Parteien in west- deutschen Parteiensystem auf eine Entwicklung vom europäischen Systemen zu beobachten war. Sollte moderaten zum polarisierten Pluralismus hin. Die die SPD wieder beim Elektorat an Zustimmung ge- Fragmentierung und ideologische Spannweite ist be- winnen, wäre möglicherweise eine Rot-Rot-Grüne reits bei den letzten Bundestagswahlen gestiegen, Koalition als idealtypische Flügelkoalition möglich. wobei dieser Anstieg am stärksten 2017 war. Die (2) Theoretisch ist es auch möglich, dass der Wähler Zersplitterung der Opposition und die zentral positio- den zentrifugalen Kurs der Parteien auf Dauer nierte Koalitionsregierung sowie mit Einschränkun- abstraft und dadurch wieder andere Koalitionsmus- gen die Konflikte mit der AfD entsprechen den von ter ermöglicht. Mutmaßlich scheint die Unzufrieden- Sartori beschriebenen Mustern, welche im polarisier- heit mit dem aktuellen System nach den ausgeführ- ten Typ zu erwarten sind. Interessanterweise könnte ten Zahlen der GLES selbst bei AfD-Wählern nicht so damit dieser Parteiensystemtyp eine Renaissance im groß zu sein, dass ein zentrifugaler Kurs der Partei un- deutschen Parteiensystem erleben. bedingt dauerhaft getragen wird. (3) Als letzte Über- legung ist auch zu nennen, dass Polarisierung eine Was bedeutet diese Entwicklung für die Zukunft des Strukturierung des Wettbewerbs voraussetzt. Diese deutschen Parteiensystems? Eine Prognose ist prin- scheint sich im deutschen Parteiensystem insbeson- zipiell hinsichtlich politikwissenschaftlicher Frage-

61 Aufsätze Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] MIP 2018 24. Jhrg. dere an der libertär-autoritären Dimension abzubilden. Franzmann, Simon T. 2014. Die Wahlprogrammatik Durch die Abnahme der Bedeutung von Themen, z.B. der AfD in vergleichender Perspektive. Mitteilungen der Flüchtlingsfrage, und dem Eintreten von neuen des Instituts für Parteienrecht und Parteienfor- Themen in den Wettbewerb kann sich eine solche schung 20, 115-124. Struktur natürlich wandeln und somit die Dynami- Franzmann, Simon T. 2015. Towards a real compari- ken verändern. Insgesamt gibt es also sowohl Argu- son of left-right indices: A comment on Jahn. Party mente für die eine und die andere Antwort auf die Politics 21 (5), 821-828. Frage nach der Zukunft des deutschen Parteiensys- tems aus der hier erörterten theoretischen Perspekti- Franzmann, Simon T. 2016a. Calling the Ghost of ve. Unumkehrbar sind die aktuellen Entwicklungen Populism: The AfD’s Strategic and Tactical Agen- hin zum polarisierten Pluralismus allerdings auf kei- das until the EP Election 2014. German Politics 25 nen Fall. (4), 457-479. Franzmann, Simon T. 2016b. Von AfD zu ALFA: Literatur Die Entwicklung zur Spaltung. Mitteilungen des In- Angenendt, Michael. 2018. Parteienvertrauen in stituts für Parteienrecht und Parteienforschung 22, Deutschland 2017. Mitteilungen des Instituts für 23-37. Parteienrecht und Parteienforschung 24, 106-111. Franzmann, Simon T. und André Kaiser. 2006. Lo- Angenendt, Michael und Johannes Schmitt. 2015. cating Political Parties in Policy Space: A Reanaly- (Warum) Vertrauen wir Politikern?: Kontextuelle sis of Party Manifesto Data. Party Politics 12 (2), und individuelle Determinanten politischen Vertrau- 163-188. ens. In Krisen, Prozesse, Potenziale. Beiträge zum 4. Gilbert, G. Nigel. 2010. Agent-based models. Los Studentischen Soziologiekongress, 04.-06.10.2013 in Angeles [u.a.]: SAGE Publications. Bamberg, Hrsg. Simon Scholz und Julian Dütsch, 293-317. Bamberg: University of Bamberg Press. Han, Sung Min. 2015. Income inequality, electoral systems and party polarisation. European Journal of Beyme, Klaus von. 2000. Parteien im Wandel: Von Political Research 54 (3), 582-600. den Volksparteien zu den professionalisierten Wäh- lerparteien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis- Hazan, Reuven Y. 1995a. Attacking the Centre: senschaften. “Moderate-Induced Polarization” in Denmark and The Netherlands. Scandinavian Political Studies 18 Capoccia, Giovanni. 2002. Anti-System Parties: A (2), 73-95. Conceptual Reassessment. Journal of Theoretical Politics 14 (1), 9-35. Hazan, Reuven Y. 1995b. Center Parties and Sys- temic Polarization: An Exploration of Recent Trends Dalton, Russell J. 2008. The Quantity and the Quali- in Western Europe. Journal of Theoretical Politics 7 ty of Party Systems: Party System Polarization, Its (4), 421-445. Measurement, and Its Consequences. Comparative Political Studies 41 (7), 899-920. Hloušek, Vít. 2010. Seeking a type: The Czech party system after 1989. Politics in Central Europe 6 (1), Decker, Frank. 2009. Koalitionsaussagen und Koali- 90-109. tionsbildung. Aus Politik und Zeitgeschichte 51, 20-26. Iyengar, Shanto, Gaurav Sood und Yphtach Lelkes. DiMaggio, Paul, John Evans und Bethany Bryson. 2012. Affect, Not Ideology. Public Opinion Quar- 1996. Have American‘s Social Attitudes Become terly 76 (3), 405-431. More Polarized? American journal of sociology 102 (3), 690-755. Jahn, Detlef. 2011. Conceptualizing Left and Right in comparative politics: Towards a deductive ap- Esteban, Joan-Maria und Debraj Ray. 1994. On the proach. Party Politics 17 (6), 745-765. Measurement of Polarization. Econometrica 62 (4), 819. Jun, Uwe. 2007. Parteiensystem und Koalitionskon- Evans, Jocelyn. 2002. In Defence of Sartori: Party Sys- stellationen vor und nach der Bundestagswahl 2005. tem Change, Voter Preference Distributions and Other In Die Bundestagswahl 2005. Analysen des wahl- Competitive Incentives. Party Politics 8 (2), 155-174. kampfes und der wahlergebnisse, Hrsg. Frank Brett- Franzmann, Simon T. 2011. Competition, contest, and schneider, Oskar Niedermayer und Bernhard Wes- cooperation: The analytic framework of the issue mar- sels, 491-515. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis- ket. Journal of Theoretical Politics 23 (3), 317-343. senschaften.

62 MIP 2018 24. Jhrg. Schmitt – Zur Wirkung einer Großen Koalition [...] Aufsätze

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63 Aufsätze Karow – Das beschleunigte Parlament [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Das beschleunigte Parlament – Die Gesetz- werden. Mit einer Gesetzgebungsdauer von durch- gebungsdauer der 18. Wahlperiode des schnittlich 181 Tagen (Zeitraum 1990-2013, Deutschen Bundestags Karow/Bukow 2016: 79) und der Möglichkeit Geset- ze in minimal drei Tagen zu verabschieden, ist das

1 Beschleunigungspotential des Deutschen Bundestags Sophie Karow, M.A. noch nicht ausgeschöpft. Des Weiteren findet nicht nur eine zunehmende Professionalisierung von Par- teien statt (Bukow 2013), sondern auch von Parlamen- Parlamente machen Politik. Eine Kernkompetenz ten (Ismayr 2012: 24-28), womit arbeitsoptimierende liegt dabei in der Erarbeitung und dem erfolgreichen Maßnahmen einhergehen. Grundsätzlich hat das Par- Durchbringen von Gesetzesvorhaben. Dabei fällt der lament jedoch seine „Eigenzeit“ (Dreischer 2009: im Parlament die Mehrheit stellenden Koalition und 32) und vollzieht in der Willensbildung innerhalb ei- ihrer Regierung eine tragende Rolle zu. Der Umwelt nes Gesetzesvorhabens „Schleifen“ (Bohmann/Laux von Parlamenten wird eine zunehmende Beschleuni- 2018: 294). Der Druck von außen ist jedoch mit gung unterstellt, in deren Folge das Parlament in sei- Großereignissen wie Terror oder der sogenannten ner Reaktion permanenten Zeitdruck erfährt, den es Flüchtlingskrise auch in der im Oktober 2017 zu zu organisieren gilt (Rosa 2005, 2012; Döring 1995; Ende gegangenen 18. Wahlperiode nicht kleiner ge- Bohmann/Laux 2018). Die zugrunde gelegte Annah- worden. Daraus ergibt sich die Kernfrage dieses Ar- me ist dabei, dass sich die gesellschaftlichen Ent- tikels: Hat der Gesetzgeber in der 18. Wahlperiode wicklungen und Politik desynchronisiert haben, aber weiter dem gesellschaftlichen Beschleunigungsdruck gleichzeitig ein Bestreben da ist diese Desynchroni- nachgegeben und das Tempo seiner Prozesse erhöht? sation so gering wie möglich zu halten (Rosa 2005; Goetz 2009; Saward 2017). Die beteiligten Akteure Die 18. Wahlperiode (2013 bis 2017) war das dritte haben dabei einen Gestaltungsspielraum und konkrete Kabinett unter Kanzlerin Angela Merkel und zu- Agenda-Setzer-Macht, um mit einer gewissen Zeit- gleich deren zweite Große Koalition. Die Aushand- autonomie zu agieren oder zu reagieren (Riescher lung des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und 1994; Döring 2005; Dreischer 2009). Damit stellt SPD verlief geräuschlos und der Bundestag wählte sich die Frage: Inwieweit reagiert der Gesetzgeber Angela Merkel im Dezember 2013 wieder zur Kanz- auf diese Desynchronisation? Beschleunigt er selbst lerin (Horst 2015). Die erneute und damit dritte Gro- seine Prozesse? ße Koalition aus CDU/CSU und SPD wurde weitläu- fig als Beständigkeit und höchstens „halber Macht- Der deutsche Gesetzgebungsprozess eignet sich für wechsel“ (Korte 2015: 23) wahrgenommen. Diese eine solche Betrachtung in besonderem Maße, da Beständigkeit wird insbesondere durch Kanzlerin seine Rahmenbedingungen im Grundgesetz festge- Merkel verkörpert und den von ihr gepflegten Poli- legt und über die Jahre gleichgeblieben sind. Das tikstil (Niedermayer 2015: 838). Dem Koalitionsma- Diskontinuitätsprinzip2 für die vierjährigen Legisla- nagement der Großen Koalition lässt sich ebenfalls turperioden und die klare Gliederung in einzelne Beständigkeit unterstellen: Begleitet von wenig per- Prozessabschnitte, die im formalen Teil der Gesetz- sonellem Wechsel kann von einer „Rückkehr“ zur gebung transparent nachvollziehbar sind, geben Großen Koalition gesprochen werden, die bereits nicht nur Einblick in das Verfahren, sondern erlau- 2005 bis 2009 regierte. So konnte ohne große Einge- ben es auch die Zeitabschnitte auf ihre Dauer hin zu wöhnungsphase die Regierungsarbeit beginnen. untersuchen und zu bewerten. Gesetzgebungsprozes- Kennzeichen der 18. Wahlperiode war außerdem die se lassen sich nicht unendlich beschleunigen, aber Dominanz der Regierungsparteien mit rund 80% der das heißt nicht, dass sie nicht trotzdem schneller Parlamentssitze und der dagegen recht schwachen 1 Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Opposition aus zwei Parteien – Bündnis 90/Die Grü- Sozialwissenschaften, Lehrstuhl Vergleich politischer Systeme nen und Die Linke. Im Bundesrat gab es zudem we- und Politikfeldanalyse, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. der eine Regierungs- noch eine Oppositionsmehrheit 2 Das Diskontinuitätsprinzip legt u.a. fest, dass am Ende einer aufgrund der heterogenen Koalitionskonstellationen Wahlperiode alle laufenden Gesetzesverfahren automatisch auf Landesebene, womit er weder als Veto-Spieler beendet sind. In der Geschäftsordnung des Deutschen Bun- destages heißt es dazu: „Am Ende der Wahlperiode des Bun- noch als loyaler Mitspieler der Regierung anzusehen destages gelten alle Vorlagen als erledigt“ Deutscher Bundes- ist. Trotz einiger Eigen- bzw. Neuheiten ist die 18. tag 2017b: § 125. Es ist zwar möglich bereits geschriebene Wahlperiode damit keine Phase des politischen Auf- Gesetzesentwürfe in einer neuen Wahlperiode wieder aufzu- bruchs wie zum Beispiel die 14. Wahlperiode, wo greifen, das Verfahren beginnt dann allerdings wieder von vorne (Schneider 2002: 99). man mit der neuen rot-grünen Regierung auch eine

64 MIP 2018 24. Jhrg. Karow – Das beschleunigte Parlament [...] Aufsätze

Änderung des gepflegten Politikstils und -manage- Bundesregierung, Bundesrat oder Bundestag den ments erwartete. Gesetzesentwurf formal initiieren, folgt die Bundes- tagsphase, in welcher der Gesetzesentwurf offiziell Hypothesen eingebracht und in zwei bis drei öffentlichen Lesun- gen behandelt sowie darüber abgestimmt wird. Ab Aufgrund von äußeren Gegebenheiten, insbesondere hier ist das formale Verfahren transparent nachvoll- einer allgemeinen Beschleunigung von Gesellschaft ziehbar. In der darauffolgenden Föderalphase wer- und ihrer Umwelt, ist anzunehmen, dass der Gesetz- den die verkündeten Gesetze vom Bundesrat, insbe- geber diese als Druck verspürt und seine Verfahren sondere zustimmungspflichtige Gesetze, geprüft und beschleunigt, womit der Gesetzgebungsprozess erst durch die Unterschrift des zuständigen Ministers schneller werden sollte. Diese Entwicklung ließ sich sowie des Bundespräsidenten endgültig verabschie- bereits für die vergangenen Wahlperioden nach- det (Exekutivphase). In der 18. Wahlperiode war zeichnen, auch wenn keine lineare Beschleunigung, aufgrund der gemischten Mehrheiten im Bundesrat sondern vielmehr eine Wellenlinie mit sinkender nicht mit einem dominanten Veto-Spieler zu rech- Tendenz in der Gesamtdauer zu erkennen war (Ka- nen, der den Gesetzgebungsprozess verzögert hätte. row/Bukow 2016). Mit einer Gesetzgebungsdauer Frühere Studien (König/Bräuninger 2005; Manow/ von 157 Tagen markierte die 17. Wahlperiode Burkhart 2009) haben außerdem herausgefunden, (2009-2013) das bisherige Minimum (ebd.: 79). Die dass der Bundesrat von seiner Veto-Macht nur äu- politische Lage und die gesellschaftliche Grundten- ßerst selten Gebrauch macht, womit der Einfluss denz sind nach wie vor unverändert und auch das zwar gegeben ist, aber nur äußerst gering ausfällt. In Einflusspotential durch die Implementierung europä- den vergangenen Wahlperioden ließ sich feststellen, ischer Gesetzgebung auf nationaler Ebene ist als dass sich die Bundestagsphase mit der Zeit verkürzt nach wie vor hoch anzusehen. Externe Schocks gel- hat, während die kontrollierenden Phasen, insbeson- ten ebenfalls als Ursache für beschleunigte Gesetz- dere die abschließende föderal-exekutive Phase, kei- gebungsverfahren. Diese wurden in den vergangenen ne Beschleunigungstendenzen aufweist. So ist zu Jahren insbesondere in der Finanz- und Wirtschafts- schlussfolgern: politik identifiziert (Laux/Rosa 2009; Bohmann/ Laux 2017). Während dieses Thema an Brisanz in (H2a) Auch in der 18. Wahlperiode reagiert der 18. Wahlperiode abgenommen hat beziehungs- der Bundestag auf den externen Druck und weise überlagert wurde, stand diese Wahlperiode im verkürzt die ihm obliegenden Zwischenschrit- Zeichen der Flüchtlingspolitik. Das Thema „Auslän- te (Bundestagsphase), um den Gesetzgebungs- der/Flüchtlinge/Asyl“ wird seit Ende 2014 als das prozess insgesamt zu beschleunigen. wichtigste von der Politik zu bewältigende Problem (H2b) Gleichzeitig ist für die anderen Phasen in der deutschen Bevölkerung angesehen (For- der Gesetzgebung (Initiativ-, Föderal- und schungsgruppe Wahlen e.V. 2018). Der dringende Exekutivphase) keine Beschleunigung zu er- gesetzgeberische Handlungsbedarf lässt deshalb vor- warten. aussetzen, dass keine Entschleunigung stattgefunden hat, sondern auch für die 18. Wahlperiode eine wei- In der Formulierung von Gesetzesvorlagen ist die tere Beschleunigung des Gesetzgebungsprozesses zu Bundesregierung, obwohl Exekutivorgan, die taktan- erwarten ist: gebende Akteurin. Der Großteil der Gesetzesinitiati- ven entsteht in den Ministerien und wird von der Re- (H1) Wenn der Gesetzgeber weiterhin auf den gierung in den Bundestag eingebracht (Ismayr 2012: externen Beschleunigungsdruck reagiert, wird 37). Ein Instrument um diesen formalen Prozess zu der Gesetzgebungsprozess auch in der 18. beschleunigen, ist die direkte Einbringung ins Parla- Wahlperiode schneller. ment über die Regierungsfraktionen, da so der Bun- Betrachtet man die einzelnen Akteure in der deut- desrat nicht im Voraus in den Prozess involviert ist schen Gesetzgebung, so spielt der Bundestag eine (Döring 2005: 141). In der 12. bis 17. Wahlperiode wichtige Rolle. Erfolgreiche Gesetze durchlaufen im haben die jeweiligen Regierungen dieses Instrument Gesetzgebungsprozess fünf Phasen (Deutscher Bun- nur sehr begrenzt und keineswegs über die Zeit ver- destag 2017a: Art. 70-82; Karow/Bukow 2016: 74): mehrt genutzt (Karow/Bukow 2016: 81). Es war Allem voran steht die Vorbereitungsphase, in der un- vielmehr auffällig, dass insbesondere die beiden rot- terschiedlichste Akteure (EU, Parteien, Zivilgesell- grünen Koalitionen überdurchschnittlich oft auf die- schaft, u.a.) politische Anliegen in Gesetzesvorha- ses Instrument zurückgegriffen haben. Es stellt sich ben verschriftlichen. Auf die Initiativphase, in der damit die Frage, inwiefern in der 18. Wahlperiode

65 Aufsätze Karow – Das beschleunigte Parlament [...] MIP 2018 24. Jhrg. dieses Instrument genutzt wurde. In Anbetracht des res Instrument, das von der Bundesregierung zur Be- äußeren Drucks ist eine vermehrte Nutzung erwart- schleunigung genutzt werden kann. Das Grundgesetz bar: räumt der Regierung in Ausnahmefällen die Mög- lichkeit ein, ein Gesetz als „besonders eilbedürftig“ (H3) Wenn die Regierung der Großen Koaliti- (Deutscher Bundestag 2017: Art. 76 (2)) einzustufen. on auf den Zeitdruck durch eine verstärkte Damit verkürzt sich die Initiativphase, da der Bun- Kooperation mit den Regierungsfraktionen desrat höchstens drei statt sechs Wochen für eine reagiert, dann bringen diese in der 18. Wahl- Stellungnahme Zeit hat. Wenn die Regierung ihren periode mehr Gesetze in den Gesetzgebungs- Handlungsspielraum bezüglich solcher Instrumente prozess ein als in den vergangenen Wahlperi- ausschöpft, so sollte sich folgendes beobachten lassen: oden. (H4) Wenn die Regierung der Großen Koaliti- Die aktive Rolle der Parlamente im Gesetzgebungs- on auf den externen Druck aktiv reagiert, prozess, also hier des Bundestags, und die Verant- dann nehmen eilbedürftige Gesetzgebungen zu. wortung gegenüber der Gesellschaft sind hervorzu- heben: das Parlament ist „Resonanzraum“, soll „auf Forschungsdesign, Daten und Methodik der Höhe der Zeit sein“ und muss den „Strom der Ereignisse registrieren und seine internen Zeitstruk- In diesem Artikel werden die Ergebnisse der „Befun- turen (Tempo, Sequenz, Radius, Volumen) auf diese de zur Beschleunigung der deutschen Gesetzgebung“ externen Herausforderungen einstellen“ (Bohmann/ (Karow/Bukow 2016) fortgeführt. Dabei wird die Laux 2018: 304). Als Beispiel für diese Funktionser- 18. Wahlperiode der Untersuchung hinzugefügt und füllung als Resonanzraum dient deutlich die Asyl- zusätzlich gesondert betrachtet. Insgesamt liegt der und Flüchtlingspolitik, die in der medialen Aufmerk- Fokus auf den Wahlperioden nach der Wiederverei- samkeit sowie der Bevölkerung ab Ende 2014 als nigung, da dadurch systembedingte Änderungen als drängend wahrgenommen wurde. Der politische Erklärung ausgeschlossen werden können. Dem Da- Handlungsbedarf war durch die reale Ankunft von tensatz von ursprünglich 3.074 verkündeten Gesetzen Geflüchteten und dem Agieren anderer Staaten be- (12. bis 17. Wahlperiode) wurden 548 verkündete, das sonders augenscheinlich. Eine kleine Anfrage der heißt alle erfolgreichen, Gesetze der 18. Wahlperiode Fraktion Die Linke und die Antwort der Bundesre- hinzugefügt, womit 3.622 Fälle in die Analyse ein- gierung attestiert, dass „[d]ie Gesetzgebung im Asyl- fließen. Die Daten wurden erneut vom Deutschen und Aufenthaltsrecht […] insbesondere in den Jah- Bundestag zur Verfügung gestellt (Dokumentations- ren 2015 und 2016 von großer Eile und Hektik ge- und Informationssystem für Parlamentarische Vor- prägt“ (Fraktion DIE LINKE 2017: 1) war. Dabei gänge, DIP). Die hier beschriebene Dauer der Ge- liegt das Hauptaugenmerk auf der aufgrund von setzgebung bezieht sich auf den formalen Teil des Zeitdruck mangelnden Einbeziehung der Zivilgesell- Gesetzgebungsprozesses, wie er oben beschrieben schaft im Vorfeld des formalprozeduralen Gesetzge- wurde. Das bedeutet, dass der Startpunkt für die bungsprozesses3. Die Anfrage hinterfragt des Weite- Messung der Gesetzgebungsdauer die Einbringung ren die tatsächliche Eilbedürftigkeit einiger Geset- eines Gesetzes in den Bundestag ist. Der Endpunkt zesentwürfe (ebd.: 5). Damit beachten sie ein weite- der Messung ist die Verkündung eines Gesetzes. Da- zwischen liegen die Messpunkte der ersten Beratung 3 Die Antwort der Bundesregierung 2017 gibt dabei aufschluss- und der Verabschiedung (dritte Beratung). Letztere reiche Einblicke in den sonst als „Blackbox“ angesehenen grenzt die Bundestagsphase von der Föderalphase ab. Entstehungsprozess eines Gesetzes auf Initiative der Bundes- regierung. Konkret geht es um sogenannte Beteiligungsschrei- ben zu zehn Gesetzesvorhaben. Diese ermöglichen Expertin- Empirische Befunde nen und Experten aus der Zivilgesellschaft, hier insbesondere Verbände im Bereich der Asylpolitik, sowie von der Politik Es wurde erwartet, dass auch die 18. Wahlperiode Betroffenen, wie Kommunen, Stellung zu einem Gesetzesent- Beschleunigung im Gesetzgebungsprozess aufweist wurf zu nehmen. Deren Feedback kann dann in der Kabinetts- (H1). Diese Hypothese bestätigt sich: Im Vergleich befassung berücksichtigt werden. Es lässt sich detailliert zur 17. Wahlperiode ist die Gesetzgebung mit 137 nachlesen wann (Datum und zum Teil sogar Uhrzeit) und an wen diese Schreiben versendet wurden. Ferner sind für sieben Tagen im Durchschnitt rund 20 Tage schneller ge- Vorgänge eine Vielzahl an schriftlichen Beschwerden bezüg- worden (Tabelle 1). Sie ist damit auf ein weiteres lich der kurzen Fristsetzung vermerkt (ebd.: 25). Exempla- Allzeittief gesunken. In der siebten Wahlperiode risch lässt sich so Zeitdruck und Beschleunigung in einem (1972-76) erreichte die Gesetzgebung mit 266 Tagen Zeitabschnitt feststellen, der noch vor den hier analysierten Abschnitten liegt (Vorbereitungsphase). Das zeigt das Aus- das bisherige durchschnittliche Maximum. Seither maß des Phänomens. hat sie sich folglich fast halbiert.

66 MIP 2018 24. Jhrg. Karow – Das beschleunigte Parlament [...] Aufsätze

Tabelle 1: Dauer der Gesetzgebung in der 1. bis 18. Wahlperiode (WP) Anzahl verkündete Ø Dauer Gesetzge- Mehrheit Dauer WP (Tage) Gesetze* bung (Tage) Bundesrat** 1. WP (1949-1953) 1461 (545) 199 2. WP (1953-1957) 1461 (507) 214 3. WP (1957-1961) 1461 (424) 244 4. WP (1961-1965) 1461 (427) 254 5. WP (1965-1969) 1461 (453) 209 6. WP (1969-1972) 1068 (335) 212 7. WP (1972-1976) 1461 506 266 8. WP (1976-1980) 1421 339 234 9. WP (1980-1983) 875 136 187 10. WP (1983-1987) 1422 320 259 11. WP (1987-1990) 1401 366 212 12. WP (1990-1994) 1421 476 210 M** 13. WP (1994-1998) 1446 544 224 O** 14. WP (1998-2002) 1452 531 173 M** 15. WP (2002-2005) 1087 378 159 O** 16. WP (2005-2009) 1470 609 163 M** 17. WP (2009-2013) 1456 536 157 M** 18. WP (2013-2017) 1462 548 137 M** Gesamtdurchschnitt 1375 / 1399 443 / 517 206 / 175 (alle WP/12. bis 18. WP) * In Klammern: Anzahl der verabschiedeten Gesetze, da Anzahl der verkündeten Gesetze nicht verfügbar (Schindler 1999: 2415). ** Angegeben ist die überwiegende Bundesratsmehrheit (R: Regierungsländer; O: Oppositionsländer; M: Mischländer/ keine R/O-Mehrheit. Die Wahlperioden 12-14, 17 und 18 weisen wechselnde Mehrheiten auf – 12. WP: 3 Monate R zu Beginn; 13. WP: 1 Jahr M zu Beginn, 14. WP: Jeweils 5 Monate R zu Beginn und O am Ende, 17. WP: 1 Jahr R zu Beginn und 9 Monate O am Ende). Quelle: Karow/Bukow (2016: 79) und eigene Berechnung nach Daten des Deutschen Bundestages.

Gleichzeitig ist auch erkennbar, dass sich der Um- Insgesamt gesehen reagiert der Gesetzgeber also auf fang der Gesetzgebung nicht weiter erhöht hat, das den externen Beschleunigungsdruck. Anhand von heißt, dass nicht mehr Gesetze verkündet wurden. Tabelle 2 lässt sich ablesen, dass die Hauptbeschleu- Mit 548 verkündeten Gesetzen liegt die dritte Gro- nigung dabei in der 18. Wahlperiode entgegen beider ße Koalition deutlich unter dem Pensum der zwei- Vermutungen (H2a und b nicht bestätigt), insbeson- ten (n=609) und nur knapp über dem der Vorgän- dere in der föderal-exekutiven Phase der Gesetzge- ger-Wahlperiode (n=536). Die gesetzgeberische bung zu finden ist. Mit einer Dauer von 63 Tagen Arbeitsbelastung ist damit als beständig zu bewer- zwischen erster Beratung und Verabschiedung, han- ten: im Durchschnitt (12. bis 17. Wahlperiode) lag delt es sich zwar noch immer um eine schnelle diese bei 0,37 Gesetzen pro Tag und liegt bei 0,38 Wahlperiode bezüglich dieser Gesetzgebungsphase, Gesetzen pro Tag in der 18. Wahlperiode. aber sie hat sich nicht weiter beschleunigt. Dafür hat sich die Phase zwischen Verabschiedung und Ver- kündung mit 19 Tagen um rund drei Wochen ver- kürzt im Vergleich zur 17. Wahlperiode.

Tabelle 2: Dauer der Gesetzgebung (Einbringung bis Verkündung; pro Wahlperiode) Wahlperiode 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. Ø Ø Dauer Einbringung bis 1. Beratung 23 26 21 15 20 20 15 20 (in Tagen) Ø Dauer 1. Beratung bis Verabschiedung 107110685873596377 (in Tagen) Ø Dauer Verabschiedung bis Verkündung 81 88 83 85 70 78 59 78 (in Tagen) Quelle: Karow/Bukow (2016: 81f) und eigene Berechnung nach Daten des Deutschen Bundestages.

67 Aufsätze Karow – Das beschleunigte Parlament [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Damit wird deutlich, dass sich ein bislang weitestge- Bezüglich der Nutzung von Beschleunigungsinstru- hend zeitlich beständiger Zeitabschnitt beschleunigt menten, konkret der Initiierung von Gesetzen über hat. Betrachtet man die Dauer der Gesetzgebung über die Regierungsfraktionen, bestätigt sich auch für die die Wahlperioden hinweg relativ zueinander (Abbil- 18. Wahlperiode die Hypothese nicht, dass der exter- dung 1), so fällt auf, dass das Verhältnis zwischen der ne Druck zu einer verstärkten Nutzung der zur Ver- Bundestags- und der föderal-exekutiven Phase im fügung stehenden Beschleunigungsmöglichkeiten Durchschnitt ausgeglichen ist (44% bzw. 45%), aber führt (H3). Nur 8,4 Prozent aller Gesetze wurden in durchaus schwankt. Die Bundestagsphase verein- der vergangenen Legislaturperiode von den Regie- nahmte im Minimum 37% des Prozesses (15. WP) rungsfraktionen eingebracht (Tabelle 3). Im betrach- und im Maximum 51% (12. WP), während die föde- teten Zeitraum ist dies der niedrigste Wert. Es ist ral-exekutive Phase im Minimum 38% der Zeit bean- vielmehr zu erkennen, dass die (erfolgreiche) gesetz- spruchte (12. WP) und im Maximum 54% (15. WP). geberische Tätigkeit von Seiten der Bundesregierung Die 18. Wahlperiode ist mit 46% zu 43% eine der aus- noch weiter zugenommen hat: 88,9 Prozent aller Ge- gewogeneren Wahlperioden. Es lässt sich keine Ten- setze wurden von der Bundesregierung initiiert. denz feststellen, dass einer der Phasen im Verhältnis Auch Kooperationsentwürfe der Regierung mit Op- stetig weniger oder mehr Zeit eingeräumt wird. Die positionsparteien und sonstige gesetzgeberische In- Beschleunigung findet sich in allen Phasen wieder. itiativen haben weiter abgenommen. Dies ist ein Abbildung 1: Prozentuale Dauer der Gesetzgebung deutliches Zeichen für die geringe Einbindung und schwache Stellung der Opposition, die in diesem Bundestag mit 127 Sitzen (20,2%) Prozent außerge- wöhnlich klein war. Bezüglich des Instruments der Eilbedürftigkeit (H4) ist dafür erkennbar, dass die 18. Wahlperiode einen Sonderfall darstellt: jedes vierte Gesetz war eilbe- dürftig (Tabelle 4). Damit wird offensichtlich, dass Eilbedürftigkeit bewusst und vermehrt vom Gesetz- geber eingesetzt wurde, um das Gesetzgebungsver- fahren zu verkürzen. Die Verkürzung findet dabei insbesondere in der Initiativphase statt, da dem Bun- desrat ein kürzerer Beratungszeitraum eingeräumt wird. H4 bestätigt sich damit. Bezogen auf den restlichen Prozess eines eilbedürfti- Quelle: Eigene Berechnung nach Daten des Deutschen gen Gesetzes ist festzustellen, dass die Eilbedürftig- Bundestages. keit von Gesetzen in den Wahlperioden 12 bis 16 ei- nen signifikanten Einfluss auf die Dauer der Gesetz-

Tabelle 3: Initiatoren von verkündeten Gesetzen aufgeschlüsselt nach Wahlperiode (in Prozent) Wahlperiode 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. Bundesregierung 75,4 75,9 75,5 75,1 82,9 81,3 88,9 Regierungsfraktionen 12,2 13,4 17,3 18,3 11,2 12,3 8,4 Kooperationen 6,1 3,1 2,6 2,4 2,3 2,8 0,9 Sonstige* 6,3 7,5 4,5 4,2 3,6 3,5 1,8 *‚Sonstige‘ umfasst alle weiteren Initiativen, wie den Bundesrat, die Opposition oder Einzelabgeordnete. Quelle: Karow/Bukow (2016: 81) und eigene Berechnung nach Daten des Deutschen Bundestages.

Tabelle 4: Eilbedürftigkeit von verkündeten Gesetzen aufgeschlüsselt nach Wahlperiode (in Prozent) Wahlperiode 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. Eilbedürftig 8,4 7,7 7,9 11,4 13,0 10,1 26,1 Nicht eilbedürftig 91,6 92,3 92,1 88,6 87,0 89,9 73,9 Quelle: Eigene Berechnung nach Daten des Deutschen Bundestages.

68 MIP 2018 24. Jhrg. Karow – Das beschleunigte Parlament [...] Aufsätze gebung hat: Sie wird deutlich kürzer, nämlich um bis ses niederschlagen werden. Es ist denkbar, dass die zu 82 Tage verglichen mit nicht eilbedürftigen Ge- bewährte Große Koalition einen schnellen Start hin- setzen (12. Wahlperiode). In der 18. Wahlperiode ist legt und sowohl was Dauer als auch Umfang von der Wert nicht signifikant (Sig.=0,336). Eilbedürfti- Gesetzgebung betrifft versucht aufzuholen. Es ist je- ge Gesetze waren im Mittelwert nur 8 Tage schneller doch genauso gut möglich, dass ein entgegengesetz- als nicht eilbedürftige Gesetze. Die Signalwirkung ter Effekt eintrifft. Anfragen, wie die der Fraktion von Eilbedürftigkeit zieht sich folglich nicht durch Die Linke und die Antwort der Bundesregierung, alle Prozessabschnitte. Es lässt sich unterstellen, lassen erkennen, dass unter den beteiligten Akteuren dass die deutlich gestiegene Nutzung dieses Instru- durchaus eine kritische Reflexion und ein Zeitbe- ments dazu geführt hat, dass seine Wirkmächtigkeit wusstsein vorhanden ist. Es bleibt abzuwarten, wie abseits von daran hängenden formalen Regeln nach- damit in Zukunft umgegangen wird, und ob der ex- gelassen hat. terne Anspruch an die Parlamente, schnell zu han- deln, bestehen bleibt. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die 18. Literaturverzeichnis Wahlperiode den allgemeinen Trend zur Beschleuni- Bohmann, Ulf/Laux, Henning (2017): Finanzmarkt- gung in der Gesetzgebung bestätigt. Der Gesetzgeber wächter. Über die Synchronisation von Politik und hat dem gesellschaftlichen Beschleunigungsdruck Ökonomie. In: Berliner Journal für Soziologie 27 weiter nachgegeben und das Tempo seiner Prozesse (1), 35–63. erhöht. Außergewöhnlich ist jedoch, dass die festzu- stellende Beschleunigung vornehmlich in der End- Bohmann, Ulf/Laux, Henning (2018): Das synchro- phase der Gesetzgebung festzustellen ist. Darüber nisierte Parlament – eine differenzierungstheoreti- hinaus zeichnet sich die 18. Wahlperiode dadurch sche Perspektive. In: Brichzin, Jenni/Krichewsky, aus, dass außergewöhnlich viele eilbedürftige Ge- Damien/Ringel, Leopold/Schank, Jan (Hrsg.): Sozio- setzgebungsprozesse stattgefunden haben. In einem logie der Parlamente. Wiesbaden: Springer Fachme- Arbeitsparlament ist die Optimierung von Prozessen dien Wiesbaden, 287–305. und eine damit einhergehend andere Output-Taktung Bukow, Sebastian (2013): Die professionalisierte nicht grundlegend falsch. Politik reagiert offensicht- Mitgliederpartei. Politische Parteien zwischen insti- lich aktiv auf die Beschleunigung ihrer Umwelt. Da- tutionellen Erwartungen und organisationaler Wirk- durch hat sie die Möglichkeit, mitzugestalten und lichkeit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. nicht nur zu reagieren. Immer weitere Beschleuni- Bundesregierung (2017): Antwort der Bundesregie- gung ist aber auch nicht unkritisch zu sehen: „At rung. Beschleunigte Gesetzgebungsverfahren im what point does minimal democracy become sham Asyl- und Aufenthaltsrecht. Deutscher Bundestag. democracy or non-democracy?“ (Saward 2017: 372). Berlin (Drucksache 18/13478). Das heißt, wann geht die Beschleunigung des Ge- setzgebers eigentlich so weit, dass sie den Ansprü- Deutscher Bundestag (2017a): Grundgesetz für die chen eines demokratischen Teilhabeprozesses, wie Bundesrepublik Deutschland. Berlin. vorgesehen, nicht mehr gerecht wird? Ab wann lei- Deutscher Bundestag (2017b): Geschäftsordnung det die Qualität der Gesetzgebung unter immer wei- des Deutschen Bundestages und Geschäftsordnung terer Beschleunigung? Diese Frage lässt sich mit ei- des Vermittlungsausschusses. Berlin. ner formalprozeduralen Analyse wie der vorliegen- Döring, Herbert (1995): Time as a Scarce Resource. den nicht beurteilen, sondern muss anhand der Ana- Government Control of the Agenda. In: Döring, Her- lyse konkreter Gesetze beantwortet werden. Hierfür bert (Hrsg.): Parliaments and majority rule in West- bieten die Erkenntnisse der Gesetzgebungsdauer je- ern Europe. Frankfurt/Main [u.a.]: Campus-Verlag, doch einen ersten Anhaltspunkt. 223–246. In der politischen Praxis liegt eine weitere Beschleu- Döring, Herbert (2005): Worauf gründet sich die nigung oder ein Halten der Gesetzgebungsdauer auf Agenda-Setzer-Macht der Regierung? Theoretische dem Stand der 18. Wahlperiode in der Hand der Be- und vergleichende Perspektiven auf den deutschen teiligten. Es ist noch offen, ob sich die Umstände des Fall. In: Ganghof, Steffen/Manow, Philip (Hrsg.): Starts der 19. Wahlperiode, deren Bundesregierung Mechanismen der Politik. Strategische Interaktion erst verhältnismäßig spät zu arbeiten beginnen kann, im deutschen Regierungssystem. Frankfurt/Main aufgrund der außergewöhnlich langen Koalitionsver- [u.a.]: Campus-Verlag, 109–148. handlungen, in der Dauer des Gesetzgebungsprozes-

69 Aufsätze Karow – Das beschleunigte Parlament [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Dreischer, Stephan (2009): Parlamente und ihre Niedermayer, Oskar (2015): Halbzeit. Die Entwick- Zeit. Kategorien der Analyse. In: Patzelt, Werner lung des Parteiensystems nach der Bundestagswahl J./Dreischer, Stephan (Hrsg.): Parlamente und ihre 2013. In: ZParl Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeit. Zeitstrukturen als Machtpotentiale. Baden-Ba- 46 (4), 830–851. den: Nomos, 9–54. Riescher, Gisela (1994): Zeit und Politik. Zur insti- Forschungsgruppe Wahlen e.V. (2018): Wichtigste tutionellen Bedeutung von Zeitstrukturen in parla- Probleme in Deutschland seit 01/2000. Online ver- mentarischen und präsidentiellen Regierungssyste- fügbar unter http://www.forschungsgruppe.de/Umfra men. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. gen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Verän- _im_Ueberblick/Politik_II/9_Probleme_1_1.pdf derung der Zeitstrukturen der Moderne. Frankfurt (Abruf am 02.03.2018). am Main: Suhrkamp. Fraktion DIE LINKE (2017): Kleine Anfrage. Be- Rosa, Hartmut (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter schleunigte Gesetzgebungsverfahren im Asyl- und der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesell- Aufenthaltsrecht. Deutscher Bundestag. Berlin schaftskritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (Drucksache 18/13177). Saward, Michael (2017): Agency, design and ‘slow Goetz, Klaus H. (2009): How does the EU tick? Five democracy’. In: Time & Society 26 (3), 362–383. propositions on political time. In: Journal of Euro- pean Public Policy 16 (2), 202–220. Schindler, Peter (1999): Datenhandbuch zur Ge- schichte des Deutschen Bundestages. 1949 bis 1999; Horst, Patrick (2015): Das Management der dritten eine Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Dienste Großen Koalition in Deutschland 2013 bis 2015: un- des Deutschen Bundestages. Baden-Baden: Nomos- angefochtene Dominanz der drei Parteivorsitzenden. Verlag. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 46 (4), 852–873. Schneider, Hans (2002): Gesetzgebung. Ein Lehr- Ismayr, Wolfgang (2012): Der Deutsche Bundestag. und Handbuch. Heidelberg: C.F. Müller. Wiesbaden: Springer VS. Karow, Sophie/Bukow, Sebastian (2016): Demokra- tie unter Zeitdruck? Befunde zur Beschleunigung der deutschen Gesetzgebung. In: Zeitschrift für Parla- mentsfragen (1), 69–84. König, Thomas/Bräuninger, Thomas (2005): Gesetz- gebung im Föderalismus. Speyer: Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung. Korte, Karl-Rudolf (2015): Die Bundestagswahl 2013 – ein halber Machtwechsel. Problemstellungen der Wahl-, Parteien- Kommunikations- und Regie- rungsforschung. In: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Die Bundestagswahl, 2013. Analysen der Wahl-, Partei- en-, Kommunikations und Regierungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, 9–31. Laux, Henning/Rosa, Hartmut (2009): Die beschleu- nigte Demokratie. Überlegungen zur Weltwirt- schaftskrise. In: WSI-Mitteilungen (10), 547–553. Manow, Philip/Burkhart, Simone (2009): Die Dauer der Gesetzgebungstätigkeit und die Herrschaft über den parlamentarischen Zeitplan. eine empirische Untersuchung des Legislativprozesses in Deutsch- land. In: Ganghof, Steffen (Hrsg.): Parlamente, Agendasetzung und Vetospieler. Festschrift für Her- bert Döring. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissen- schaften, 53–67.

70 MIP 2018 24. Jhrg. Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien Aufsätze

Das neue Recht der europäischen politischen damit ist die zuvor in Art. 191 EGV enthaltene Re- Parteien gelung7 auf zwei Vorschriften verteilt worden. Nach Art. 10 Abs. 4 EUV tragen die politischen Parteien auf europäischer Ebene zur Herausbildung eines eu- apl. Prof. Dr. Thorsten Koch1 ropäischen politischen Bewusstseins und zum Aus- druck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Auf europäischer Ebene haben sich mitgliedstaatli- Union bei. Diese Norm wird verschiedentlich als 8 che Parteien gleicher oder zumindest ähnlicher poli- Aufgabenzuweisung verstanden. Richtigerweise wird tischer Ausrichtung zu Verbünden politischer Partei- man sie aber nur als deskriptive Funktionsbeschrei- 9 10 en zusammengeschlossen, die ihrerseits als europäi- bung zu interpretieren haben, mit der zugleich die sche politische Parteien agieren. Deren Bedeutung Anerkennung politischer Parteien auf europäischer 11 ist nicht zu unterschätzen und nimmt zu, auch wenn Ebene erfolgt ist. Art. 224 AEUV sieht daran an- sie in der öffentlichen Wahrnehmung derzeit noch knüpfend vor, dass das Europäische Parlament und eine untergeordnete Rolle spielen.2 Der Rechtsrah- der Rat durch Verordnungen die Regelungen für die men für die Tätigkeit dieser europäischen politi- politischen Parteien auf europäischer Ebene „und schen Parteien wurde mit Wirkung zum 1. Januar insbesondere die Vorschriften über ihre Finanzie- 2017 ergänzt und modifiziert. Die bereits im Jahre rung“ festlegen. 2014 erfolgte Neuregelung,3 die den sperrigen Titel „Verordnung über das Statut und die Finanzierung 2. Der Begriff der europäischen politischen Partei europäischer politischer Parteien und europäischer Bei den europäischen politischen Parteien, die bis- politischer Stiftungen“ trägt, ist ausweislich ihres lang entsprechend dem Text von Art. 10 Abs. 4 EUV sechsten Erwägungsgrundes der Notwendigkeit ge- als „politische Parteien auf europäischer Ebene“ be- schuldet, aufgrund der Erfahrungen mit den vorange- zeichnet wurden, konnte es sich nach dem bisherigen 4 gangenen Vorschriften „den rechtlichen und finan- (Sekundär-)Recht um Vereinigungen von Bürgern zur ziellen Rahmen für europäische politische Parteien Verfolgung politischer Ziele („politische Partei“12) und die ihnen angeschlossenen europäischen Stiftun- oder Bündnisse von mindestens zweien dieser politi- 5 gen zu verbessern, damit sie im vielschichtigen po- schen Parteien („Bündnis politischer Parteien“13) litischen System der Union zu sichtbareren und effi- handeln.14 Diese Definition ist durch die Neuregelung zienteren Akteuren werden können“. Wie nicht an- ders zu erwarten, werfen die zahlreichen Verände- 7 Ausführl. zur Entwicklungsgeschichte bis zum Vertrag von rungen in Bezug auf den rechtlichen und finanziellen Lissabon J. Kersten, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), PartG, 2009, Rahmen der Tätigkeit europäischer politischer Par- Art. 191 EGV Rn. 2 ff.; s. ferner H. Merten, MIP 11 (2003), teien auch einige neue Rechtsfragen auf. S. 40 (41 ff.); dies., in: Poguntke/Morlok/Merten (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Parteiendemokratie, 2013, 1. Die primärrechtlichen Vorgaben S. 45 (47 ff.). 8 S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht Bestimmungen in Bezug auf die „politischen Partei- der Europäischen Union, Art. 224 AEUV Rn. 17 (2014); J. en auf europäischer Ebene“ enthält das Primärrecht Schoo, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl., 2012, 6 Art. 224 AEUV Rn. 4 f.; G. Lienbacher/Th. Kröll, in: in Art. 10 Abs. 4 EUV sowie in Art. 224 AEUV; Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 10 1 Der Autor ist außerplanmäßiger Professor an der Universität EUV Rn. 25; M. Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje Osnabrück und Rechtsanwalt. (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl., 2015, Art. 10 2 EUV Rn. 25; s. ferner M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), H.H. Klein, in: Poguntke/Morlok/Merten (Hrsg.), Auf dem Weg EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 10 EUV Rn. 21 f. zu einer europäischen Parteiendemokratie, 2013, S. 23 (24). 9 3 In diese Richtung auch R. Stentzel, EuR 1997, S. 174 (180 ff., Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 v. 22.10.2014 über 182); s. ferner H.H. Klein, in: Poguntke/Morlok/Merten das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Par- (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Parteiendemo- teien und europäischer politischer Stiftungen, ABl. L 317 v. kratie, 2013, S. 23 (28): „Funktionsauftrag“. 04.11.2014, S. 1. 10 4 P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Verordnung (EG) Nr. 2004/2003 v. 04.11.2003 über die Re- Art. 10 EUV Rn. 53, spricht von einer „normative[n] Zielvor- gelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene gabe“. und ihre Finanzierung, ABl. L 297 v. 15.11.2003, S. 1. 11 5 Vgl. (zu Art. 191 Abs. 1 EGV) Th. Koch, in: Ipsen/Stüer Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die (Hrsg.), FS Rengeling, 2008, S. 307 f. m.w.N. europäischen politischen Parteien; eine nähere Befassung mit 12 den Stiftungen muss unterbleiben. Art. 2 Nr. 1 Verordnung (EG) 2004/2003. 13 6 Eine Art. 10 Abs. 4 EUV teilweise entsprechende Regelung Art. 2 Nr. 2 Verordnung (EG) 2004/2003. enthält Art. 12 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta. 14 Art. 2 Nr. 3 Verordnung (EG) 2004/2003.

71 Aufsätze Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien MIP 2018 24. Jhrg. leicht verändert und verkompliziert worden: Die eu- Neben dem Sitz in einem Mitgliedstaat und dem ropäische politische Partei wird jetzt als politische Fehlen einer Gewinnerzielungsabsicht erfordert die Ziele verfolgendes politisches Bündnis verstanden,15 Eintragung in das bei der Behörde geführte Register, das politische Bündnis wiederum als strukturierte dass die Organisation oder ihre Mitglieder (!) in Zusammenarbeit zwischen Bürgerinnen und Bürgern mindestens sieben Mitgliedstaaten durch Mitglieder und/oder politischer Parteien,16 denen wiederum des Europäischen Parlaments oder Mitglieder von Bürgerinnen und Bürger angehören.17 Die Änderung nationalen oder regionalen Parlamenten bzw. regio- stellt damit klar, dass sich in einer europäischen po- nalen Versammlungen vertreten sind oder aber bei litischen Partei nicht nur entweder Parteien oder der letzten Wahl zum Europäischen Parlament min- Bürgerinnen und Bürger zusammenschließen kön- destens drei Prozent der abgegebenen Stimmen er- nen, sondern auch eine gleichzeitige Mitgliedschaft halten haben, ferner die Partei an Wahlen zum Euro- von Parteien und Einzelpersonen möglich ist. päischen Parlament teilgenommen hat oder teilneh- men will. Des Weiteren muss das Programm der Par- Zu den Voraussetzungen für eine politische Partei tei mit grundlegenden Werten der Union in Einklang auf europäischer Ebene zählte bislang weiter die stehen; dazu zählen Achtung der Menschenwürde, Rechtsfähigkeit in einem Mitgliedstaat der Union, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit eine über einen Mitgliedstaat hinausreichende Akti- und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der vität, das Bekenntnis zu grundlegenden Werten der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören;25 Union sowie (mindestens) der Wille zur Teilnahme darüber hinaus sind relativ detaillierte Anforderun- an Wahlen zum Europäischen Parlament.18 Daran hat gen an die Satzung zu erfüllen.26 sich nichts Grundlegendes geändert. Die genannten Merkmale bilden jetzt aber die Voraussetzungen für Die Neuregelung stellt zunächst (deklaratorisch) die Registrierung eines politischen Bündnisses bei klar, dass es ausreichend ist, wenn auf mitgliedstaat- einer eigens eingerichteten europäischen Behörde licher Ebene die Mitgliedsparteien europäischer Par- für europäische politische Parteien und politische teien, nicht aber die europäischen Parteien selbst in Stiftungen („Behörde“);19 diese Eintragung ist wie- Parlamenten oder Versammlungen vertreten sind. derum konstitutiv für die Eigenschaft als europäi- Bei diesen „Versammlungen“ muss es sich demnach sche politische Partei.20 Mit der Veröffentlichung nicht um Parlamente – verstanden als Gesetzge- der Entscheidung über die Eintragung erwächst der bungsorgane – handeln. Soweit die Mitgliedschaft Partei „europäische Rechtspersönlichkeit“;21 sie ge- von Vertretern einer (Mitglieds-)Partei in „regiona- nießt unmittelbar kraft Gemeinschaftsrechts in allen len Versammlungen“ geeignet ist, die Anforderun- Mitgliedstaaten rechtliche Anerkennung und Hand- gen an eine europäische politische Partei zu erfüllen, lungsfähigkeit.22 Eine vorgängige Rechtsfähigkeit wird man daher in Deutschland angesichts der Ten- nach Maßgabe mitgliedstaatlichen Rechts führt zu denz zu größeren Einheiten auch die Ebene der einer „Umwandlung der nationalen Rechtspersön- (Land-)Kreise einzubeziehen haben.27 Anderenfalls lichkeit in eine diese ablösende europäische Rechts- wäre zu erklären, warum es sich etwa bei der Regi- persönlichkeit“ mit Übergang vorgefundener Rechte onsversammlung der Region Hannover nicht um und Pflichten.23 Die Vorschriften des Mitgliedstaa- eine regionale Versammlung handeln soll. Entspre- tes, in dem die Partei ihren Sitz hat, sowie im Falle chendes wird (beispielsweise) für die italienischen von Tätigkeiten der Partei in anderen Staaten die Provinzen zu gelten haben. dort jeweils geltenden Regelungen bleiben aber sub- Die vom Sekundärrecht formulierten Anforderungen sidiär anwendbar.24 an eine europäische politische Partei müssen zwangs- läufig zu der Frage führen, ob diese Vorgaben mit 15 Art. 2 Nr. 3 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. Art. 10 Abs. 4 EUV und Art. 224 AEUV in Einklang 16 Art. 2 Nr. 2 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. stehen. Wenngleich Art. 224 AEUV im Ausgangs- 17 Art. 2 Nr. 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 25 Vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a) bis e) Verordnung (EU, Euratom) 18 Vgl. Art. 3 Verordnung (EG) 2004/2003. 1141/2014. 19 Art. 3 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 26 Vgl. Art. 4 Abs. 1 und 2 Verordnung (EU, Euratom) 20 Art. 2 Nr. 3 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 1141/2014. 21 Art. 12, 15 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 27 Anders noch Th. Koch, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, 22 Art. 13 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 2008, S. 307 (309 f.); s. ferner S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 23 Art. 15 Abs. 3 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. Art. 224 AEUV Rn. 26 (2014), der Gesetzgebungskompeten- 24 Art. 14 Abs. 2 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. zen verlangt.

72 MIP 2018 24. Jhrg. Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien Aufsätze punkt nur dazu ermächtigt, die Regelungen für poli- Nizza32 nicht zur unmittelbaren oder mittelbaren Fi- tische Parteien festzulegen, nicht aber Anforderun- nanzierung von Parteien auf der Ebene der Mit- gen an politische Parteien zu definieren, enthält das gliedstaaten genutzt werden dürfen. Eine Verwen- Primärrecht kaum konkretisierende Merkmale des dung von Finanzmitteln der europäischen politischen Parteienbegriffs, was zwangsläufig in einen gewis- Parteien zu Zwecken einer unmittelbaren oder mit- sen (Aus)Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung des telbaren Finanzierung insbesondere nationaler Par- Regelungsauftrags aus Art. 224 AEUV münden teien oder Kandidaten wird denn auch (weiterhin33) muss.28 Zunächst darf aber angenommen werden, ausdrücklich untersagt und auf Mittel „aus anderen dass sich bei Schaffung der Normen bzw. der Vor- Quellen“ als dem EU-Haushalt erstreckt.34 Auch gängerregelungen (Art. 191 EGV, zuvor Art. 138a hierin manifestiert sich die Unterscheidung zwischen EGV) der Blick auf die seinerzeit auf Gemein- Parteien auf europäischer und Parteien auf mit- schaftsebene bereits existierenden Parteien gerichtet gliedstaatlicher Ebene.35 Können Parteien auf mit- hatte.29 Da sich in diesen Parteien aber wiederum gliedstaatlicher Ebene nicht zugleich europäische primär mitgliedstaatliche Parteien organisierten, Parteien sein, so ist aber nichts dagegen zu erinnern, werden gegen die Zulassung von Bündnissen politi- dass das Gemeinschaftsrecht eine gewisse politische scher Parteien folglich keine Einwendungen zu erhe- Relevanz einer europäischen politischen Partei (oder ben sein.30 ihrer Mitglieder) in mehreren Mitgliedstaaten sowie die Bereitschaft zur Mitwirkung auf Gemeinschafts- Des Weiteren wird von europäischen politischen ebene durch die (Bereitschaft zur) Beteiligung an Parteien bzw. politischen Parteien auf europäischer Wahlen zum Europäischen Parlament fordert.36 Ebene nur gesprochen werden können, wenn diese auch Grundzüge einer überstaatlichen Struktur auf- Problematisieren lässt sich ferner die Verpflichtung weisen,31 weil Parteien auf mitgliedstaatlicher Ebene der europäischen politischen Parteien auf grundle- nicht zugleich europäische politische Parteien sein gende Werte der Gemeinschaft. Indes kann eine können, denn europäische politische Parteien haben überstaatliche Organisation ebenso wenig wie deren dem Grunde nach Anspruch auf finanzielle Mittel Mitgliedstaaten verpflichtet sein, Organisationen an aus dem Haushalt der Gemeinschaft, die aber nach der Willensbildung und politischen Gestaltung mit- der Protokollerklärung Nr. 11 zum Vertrag von wirken zu lassen, die sich gegen solche Grundwerte wenden, die nach dem Selbstverständnis eines Staa- 28 Vgl. G. Lienbacher/Th. Kröll, in: Schwarze (Hrsg.), EU- tes oder der überstaatlichen Organisation von funda- Kommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 10 EUV Rn. 23; s. ferner W. mentaler und identitätsstiftender Bedeutung sind.37 Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 224 AEUV Rn. 5. Im Übrigen ist weder Art. 10 Abs. 4 EUV noch dem Sekundärrecht zu entnehmen, dass die europäischen 29 P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 10 EUV Rn. 56; P. Szczekalla, in: Pechstein/Nowak/ politischen Parteien eine europafreundliche Position Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, Band 4, 2017, Art. 224 einnehmen müssen.38 Unionskritische Parteien und AEUV Rn. 6; W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Organisationen können sich aber ebenfalls zu grund- EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 224 AEUV Rn. 2. legenden – und unverhandelbaren – Werten wie Men- 30 Vgl. Th. Koch, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, 2008, schenwürde, grundlegenden Menschenrechten sowie S. 307 (309 f.); W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 224 AEUV Rn. 2; anders R. 32 Wiedergegeben u.a. bei S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettes- Stentzel, EuR 1997, S. 174 (183 f.). heim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 224 31 Vgl. M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das AEUV Rn. 2 (2014). Recht der Europäischen Union, Art. 10 EUV Rn. 48 (2014); 33 Zuvor Art. 7 Verordnung EG 2003/2004. M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 34 2016, Art. 10 EUV Rn. 20; W. Kluth, in: Calliess/Ruffert Art. 22 Abs. 1 Satz 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 224 AEUV Rn. 2; 35 Ebenso G. Lienbacher/Th. Kröll, in: Schwarze (Hrsg.), EU- G. Lienbacher/Th. Kröll, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommen- Kommentar, 3. Aufl., 2012, Art. 10 EUV Rn. 24. tar, 3. Aufl., 2012, Art. 10 EUV Rn. 24; P. Szczekalla, in: 36 Näher Th. Koch, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, 2008, Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, S. 307 (312 f.); krit. M. Morlok, in: Poguntke/Morlok/Merten Band 1, 2017, Art. 224 AEUV Rn. 8; Th. Koch, in: Ipsen/ (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Parteiendemo- Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, 2008, S. 307 (310 f.); anders kratie, 2013, S. 29 (32); H. Merten, in: Poguntke/Morlok/ P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Merten (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Parteien- Art. 10 EUV Rn. 57 f.; S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettes- demokratie, 2013, S. 45 (61). heim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 224 37 AEUV Rn. 25 (2014); J. Kersten, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), Ähnl. S. Heselhaus, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frank- PartG, 2009, Art. 191 EGV Rn. 59; krit. auch S. Heselhaus, furter Kommentar, Band 1, 2017, Art. 10 EUV Rn. 51. in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, 38 W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., Band 1, 2017, Art. 10 EUV Rn. 52. 2016, Art. 224 AEUV Rn. 2.

73 Aufsätze Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien MIP 2018 24. Jhrg.

Freiheit und Demokratie bekennen.39 Unabhängig Recht mit der „absoluten Obergrenze“ (§ 18 Abs. 2 von der Haltung zur Union ist zudem schon die Tat- PartG) vorgesehen ist.45 Allerdings wird man das Eu- sache der Mitwirkung einer Partei an der politischen ropäische Parlament aufgrund des ihm erteilten Re- Willensbildung auf Gemeinschaftsebene geeignet, gelungsauftrages als grundsätzlich verpflichtet anse- nach Maßgabe des als Funktionsbeschreibung zu hen müssen, überhaupt relevante Mittel vorzusehen. verstehenden Art. 10 Abs. 4 EUV zur Herausbildung Andererseits werden die insgesamt möglichen Mittel eines europäischen Bewusstseins und zur Artikula- dadurch begrenzt, dass eine relative Obergrenze vor- tion des Willens von Bürgerinnen und Bürgern beizu- gesehen ist: Die Leistungen aus dem EU-Haushalt tragen; die seinerzeitige Vorgabe aus Art. 191 EGV, dürfen 85 Prozent der erstattungsfähigen Ausgaben dass europäische politische Parteien auch ein „Fak- einer Partei nicht übersteigen.46 Zu diesen erstat- tor der Integration“ sein sollen, findet sich in Art. 10 tungsfähigen Aufwendungen gehören Verwaltungs- Abs. 4 EUV nicht mehr. ausgaben und Ausgaben in Zusammenhang mit tech- nischer Unterstützung, Ausgaben für Treffen, For- Im Ergebnis darf daher angenommen werden, dass schung, grenzübergreifende Veranstaltungen, Studien, der Begriff der politischen Partei auf europäischer Informationen und Veröffentlichungen.47 Ferner zu- Ebene i.S.v. Art. 10 Abs. 4 EUV (bzw. Art. 12 Abs. 2 lässig ist nunmehr eine Finanzierung von Wahlkämp- GrCh) und Art. 224 AEUV durch das Sekundärrecht fen in Bezug auf Wahlen zum Europäischen Parla- in zulässiger Weise konkretisiert40 und damit zugleich ment, auch soweit sich Mitgliedsparteien von europäi- konstituiert41 worden ist. Allerdings erscheint zwei- schen Parteien an der Wahl beteiligen.48 Diese Rege- felhaft, ob namentlich die Bezugnahme auf Grund- lung wird sich mit dem im Primärrecht verankerten werte der Gemeinschaft tatsächlich eine relevante Verbot der Finanzierung mitgliedstaatlicher Parteien „Sperrwirkung“ in Bezug auf die Anerkennung euro- aus EU-Mitteln (s.o.) indes kaum vereinbaren lassen. päischer politischer Parteien wird entfalten können.42 Antragsberechtigt sind allein eingetragene europäi- 3. Die Finanzierung der europäischen politischen sche politische Parteien, die mit mindestens einem Parteien Mitglied im Europäischen Parlament vertreten sind.49 Von den insgesamt verfügbaren Mitteln werden 15 a) Mittel aus dem Gemeinschaftshaushalt Prozent auf die anspruchsberechtigten Parteien „zu Europäische politische Parteien können grundsätz- gleichen Teilen“ und die verbleibenden 85 Prozent lich Mittel zur Finanzierung ihrer Arbeit aus dem entsprechend dem Verhältnis der Zahl der jeweils Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bean- von ihnen gestellten Mitglieder des Europäischen spruchen, die auf Antrag bewilligt werden.43 Die Ge- Parlamentes verteilt.50 samthöhe der zu verteilenden Mittel, die für europäi- An der Verteilung der Haushaltsmittel nehmen da- sche politische Parteien (und die ihnen angeschlos- nach nur noch Parteien teil, die nicht nur die Voraus- senen europäischen politischen Stiftungen) bereit setzungen für die Anerkennung als europäische poli- stehen, werden im Rahmen der Aufstellung des 44 tische Partei erfüllen und entsprechend registriert Haushalts festgelegt; es existiert weder ein Mindest- wurden, sondern zudem im Europäischen Parlament betrag noch ein Höchstbetrag, wie er im deutschen vertreten sind. Ausgeklammert bleiben danach einer- 39 R. Stentzel, EuR 1997, S. 174 (184 f.). seits Mitglieder/Fraktionen des Europäischen Parla- 40 M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das ments, die nicht einer (registrierten) europäischen Recht der Europäischen Union, Art. 10 EUV Rn. 48 (2014); politischen Partei zuzuordnen sind, andererseits eu- W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., ropäische politische Parteien, denen der Einzug in 2016, Art. 224 AEUV Rn. 2; für Primärrechtswidrigkeit aber P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, das Europäische Parlament bislang nicht gelungen Art. 10 EUV Rn. 58; s. ferner S. Hölscheidt, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 44 Art. 25 Abs. 1 Satz 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. Art. 224 AEUV Rn. 25 (2014). 45 Die Gesamtsumme der Mittel aus der staatlichen Parteienfi- 41 Th. Koch, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, 2008, S. 307 nanzierung in Deutschland betrug im Jahre 2017 € 161,8 Mio., (312). vgl. BT-Drs. 18/12303 v. 08.05.2017. 42 So hat die Behörde für europäische politische Parteien und politi- 46 Art. 17 Abs. 4 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. sche Stiftungen mit Entscheidung vom 09.02.2018 die Allianz 47 Vgl. Art. 17 Abs. 5, 21 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) für Frieden und Freiheit (APF), in der sich verschiedene 1141/2014. rechtsextremistische Parteien, u.a. die NPD, zusammenge- 48 schlossen haben, als europäische politische Partei anerkannt. Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 49 43 Art. 17 Abs. 1 Satz 1, 18 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 1141/2014. 50 Art. 19 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014.

74 MIP 2018 24. Jhrg. Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien Aufsätze ist. Demgegenüber wurden nach dem zuvor gelten- det,57 ist es folgerichtig, daran auch bei der Parteien- den Recht die (noch) nicht im Europäischen Parla- finanzierung anzuknüpfen.58 Dass Parteien, von de- ment vertretenen europäischen Parteien zumindest nen die Anforderungen an europäische politische an der „Grundförderung“ in Höhe von 15 Prozent Parteien nicht erfüllt werden, von der Finanzierung der insgesamt bereit stehenden Mittel beteiligt.51 auf Gemeinschaftsebene selbst dann ausgeschlossen Schon diese Regelung ist stark kritisiert worden, sind, wenn sie gleichwohl Abgeordnete in das Euro- weil der „Löwenanteil“ der Mittel aus dem EU- päische Parlament entsenden, begegnet danach kei- Haushalt den im Parlament vertretenen Parteien vor- nen Bedenken.59 behalten wurde.52 Im Übrigen ist bei der Beurteilung des Verteilungs- Ausgangspunkt dieser Kritik ist, dass sich auch für systems auch der jeweilige normative Bezugsrahmen das europäische Recht ein Gebot der Chancengleich- in den Blick zu nehmen: Die Verteilung der Mittel heit und Neutralität im Parteienwettbewerb formu- wird hier letztlich vom Wahlerfolg abhängig ge- lieren lässt,53 das Verfälschungen des Parteienwett- macht. Eine solche Anknüpfung allein an den Wahl- bewerbs und sachlich ungerechtfertigten Differen- erfolg ist auf Unionsebene auch allein sachgerecht,60 zierungen entgegensteht.54 Dass bedeutet indes nicht, weil beispielsweise einer Anknüpfung an die in Ei- dass der hier gewählte Verteilungsmaßstab mit die- genmitteln zum Ausdruck kommende Verwurzelung sen Vorgaben nicht zu vereinbaren ist. So wird im in der Bevölkerung die Strukturen der europäischen Ausgangspunkt nichts dagegen einzuwenden sein, politischen Parteien entgegenstehen, die in weitem dass die Mittel aus dem Gemeinschaftshaushalt den Umfang mitgliedstaatliche Parteien repräsentieren. registrierten europäischen Parteien vorbehalten wer- Kann die grundsätzliche Teilhabe an der Parteienfi- den, denn wenn eine transnationale Aktivität ein zu- nanzierung aber vom Wahlerfolg abhängig gemacht lässiges55 oder gar primärrechtlich vorgegebenes56 werden, so setzt dies notwendig die vorgängige Be- Merkmal einer europäischen politischen Partei bil- teiligung an einer Wahl voraus; dies ist im deutschen Recht in Bezug auf den wahlerfolgsbezogenen Teil 51 Art. 10 Abs. 1 lit. a) Verordnung (EG) 2003/2004. der staatlichen Parteienfinanzierung nicht anders. Es 52 H.H. Klein, in: Bröhmer u.a. (Hrsg.), FS Ress, 2005, S. 541 erweist sich daher auch als zulässig, dass neu ge- (549 f.); s. ferner Th. Koch, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), FS Renge- gründeten Parteien eine „Wartefrist“ von bis zu einer ling, 2008, S. 307 (314 ff.); J. Kersten, in: Kersten/Rixen Wahlperiode auferlegt wird, bevor sie an der Partei- (Hrsg.), PartG, 2009, Art. 191 EGV Rn. 238 („gleichheitswid- enfinanzierung teilhaben können. rige Selbstbedienung“); ähnl. W. Kluth, in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 224 AEUV Rn. 15; Es verbleibt der Umstand, dass eine Antragsberech- krit. auch S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), tigung europäischer Parteien nur besteht, wenn sie Das Recht der Europäischen Union, Art. 224 AEUV Rn. 38, 51 (2014); H.H. v. Arnim/M. Schurig, Die EU-Verordnung mit mindestens einem Mitglied im Europäischen über die Parteienfinanzierung, 2004, S. 63 f.; H. Merten, in: Element vertreten sind. Diese „Sperrwirkung“ ge- Poguntke/Morlok/Merten (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer eu- genüber Parteien, denen der Einzug in das Europäi- ropäischen Parteiendemokratie, 2013, S. 45 (54). sche Parlament nicht gelingt, läuft in der Sache auf 53 Vgl. Th. Koch, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, 2008, die Erforderlichkeit eines Mindesterfolgs bei Wah- S. 307 (316); J. Kersten, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), PartG, 2009, len hinaus. Ein solches Erfordernis einer Mindest- Art. 191 EGV Rn. 82; H.H. Klein, in: Bröhmer u.a. (Hrsg.), FS Ress, 2005, S. 541 (549); P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., 2012, Art. 224 AEUV Rn. 10, 19. 57 Abl. aber S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), 54 Für ein „Mindestmaß an Parteiengleichheit“ auch S. Hölscheidt, Das Recht der Europäischen Union, Art. 224 AEUV Rn. 25 in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäi- (2014); P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., schen Union, Art. 224 AEUV Rn. 18 (2014). 2012, Art. 10 EUV Rn. 57 f. 58 55 Vgl. M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Zur Kritik P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl., Recht der Europäischen Union, Art. 10 EUV Rn. 48 (2014); 2012, Art. 224 AEUV Rn. 10, 19; s. ferner S. Heselhaus, in: M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, 2016, Art. 10 EUV Rn. 20; W. Kluth, in: Calliess/Ruffert Band 1, 2017, Art. 10 EUV Rn. 52, dessen Kritik an Art. 3 (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl., 2016, Art. 224 AEUV Rn. 2; der Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014 auf der unrichti- G. Lienbacher/Th. Kröll, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommen- gen (s.o.) Annahme beruht, dass die VO eine integrations- tar, 3. Aufl., 2012, Art. 10 EUV Rn. 24; P. Szczekalla, in: freundliche Haltung einer Partei verlange. Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, 59 Krit. aber H. Merten, MIP 19 (2013), S. 30 (32); s. ferner S. Band 1, 2017, Art. 224 AEUV Rn. 8. Heselhaus, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter 56 M. Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Euro- Kommentar, Band 1, 2017, Art. 10 EUV Rn. 55. päisches Unionsrecht, 7. Aufl., Band 1, 2015, Art. 10 EUV 60 Vgl. dazu H.H. Klein, in: Bröhmer u.a. (Hrsg.), FS Ress, Rn. 23; Th. Koch, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), FS Rengeling, 2005, S. 541 (550); J. Kersten, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), 2008, S. 307 (312). PartG, 2009, Art. 191 EGV Rn. 238.

75 Aufsätze Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien MIP 2018 24. Jhrg. stimmenzahl ist für sich genommen nicht ungewöhn- b) Spenden lich und auch dem Bundesrecht bekannt, indem für Ein weiteres Instrument der Finanzierung europäi- die Teilhabe an den wahlerfolgsbezogenen Mitteln scher politischer Parteien bilden Zuwendungen der aus der staatlichen Parteienfinanzierung ein Stim- Mitglieder und Dritter, namentlich Spenden. Hierzu menanteil von 0,5 Prozent der Listenstimmen bei finden sich nunmehr umfangreiche Regelungen, die Bundestags- oder Europawahlen oder einem Prozent deutliche Parallelen zu § 25 PartG aufweisen: Grund- der Listenstimmen bei Landtagswahlen gefordert sätzlich sind die europäischen Parteien berechtigt, wird (§ 18 Abs. 4 Satz 1 PartG). Demgegenüber gilt Spenden von natürlichen oder juristischen Personen auf europäischer Ebene im Ergebnis eine faktische bis zu € 18.000,00 pro Jahr und Spender anzuneh- Mindeststimmenzahl für die Teilhabe an der Partei- men.65 Unzulässig sind aber anonyme Spenden oder enfinanzierung, die in den verschiedenen Mitglied- Zuwendungen, ferner Spenden von Fraktionen des staaten in Abhängigkeit von der Zahl der Sitze, der Europäischen Parlaments, Spenden von „öffentli- Zahl der Wählenden und einer etwaigen „Sperrklau- chen Behörden“ und öffentlichen Unternehmen so- sel“ unterschiedlich hoch ist.61 Diese unterschiedli- wie bestimmte Spenden, die einer Partei aus einem chen Quoren sind aber zunächst eine Folge des je- Drittstaat zufließen.66 Zuwendungen der Mitglieder weiligen Wahlsystems nach Maßgabe des mitglied- einer europäischen politischen Partei dürfen insge- staatlichen Rechts und nicht ohne Weiteres der Ge- samt nicht mehr als 40 Prozent des Jahresbudgets meinschaft zuzurechnen; ihre Folgen werden zudem der Partei ausmachen; für Zuwendungen von Mit- dadurch abgemildert, dass europäische politische gliedern, die zugleich EU-Bürger sind, gilt wiederum Parteien (bzw. deren Mitgliedsparteien) typischer- die Obergrenze von € 18.000,00.67 Soweit eine Spen- weise in mehreren Mitgliedstaaten kandidieren.62 de nicht zulässig ist, muss diese innerhalb von drei- Zudem reicht bereits ein Sitz im Europäischen Parla- ßig Tagen nach dem Eingang zurückgegeben wer- ment für die Antragsberechtigung aus. In Deutsch- den. Ist dies nicht möglich, ist die Spende der Behör- land kann wegen des Fehlens einer Sperrklausel bei de für europäische politische Parteien und politische Wahlen zum Europäischen Parlament in Abhängig- Stiftungen mitzuteilen; die Spende wird in diesem keit vom konkreten Wahlergebnis ein Sitz schon mit Falle eingezogen und im EU-Haushalt verbucht.68 wenig mehr als 0,5 Prozent der gültigen Stimmen er- reicht werden.63 Ergänzt werden diese Bestimmungen durch weitere Regelungen zu Meldepflichten: Zusammen mit dem Im Ergebnis ist daher nichts dafür ersichtlich, das Jahresabschluss ist grundsätzlich eine Aufstellung Parteien, die (noch) nicht im Europäischen Parla- aller Spenden mit Benennung des Spenders sowie ment vertreten sind, in (chancen-)gleichheitswidriger der Art und Höhe der Spende vorzulegen.69 Spenden Weise von der Teilhabe an der Parteienfinanzierung bis zu einem Wert von € 1.500,00 sind hingegen nur aus dem Gemeinschaftshaushalt ausgeschlossen wer- als „geringfügige Spenden“ auszuweisen, bei höhe- den. Die anspruchsberechtigten Parteien erhalten die ren Spenden bis zu einem Wert von € 3.000,00 be- Zuwendungen sodann nach Maßgabe des sich in der darf die Veröffentlichung der (schriftlichen) Geneh- Zahl der von ihnen gestellten Abgeordneten wider- migung des Zuwendenden, widrigenfalls werden die- spiegelnden Wahlerfolgs, wobei kleinere Parteien se Spenden ebenfalls als „geringfügige Spenden“ de- durch die gleichmäßige (Vorab-)Verteilung von 15 klariert.70 Spenden innerhalb eines Zeitraums von Prozent des Gesamtbetrages eine relative Begünsti- sechs Monaten vor Wahlen zum Europäischen Parla- gung erfahren. Gegen diesen Verteilungsmechanis- ment sind unabhängig von der Höhe wöchentlich zu mus, der grundsätzlich an die vorgefundene Stärke melden, Einzelspenden im Wert von mehr als der Parteien anknüpft, lassen sich daher ebenfalls € 12.000,00 „umgehend“ mitzuteilen.71 keine durchgreifenden Bedenken erheben.64

65 Art. 20 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 61 H. Merten, MIP 19 (2013), S. 30 (31). 66 Art. 20 Abs. 5 lit. a) bis d) Verordnung (EU, Euratom) 62 Zu den unterschiedlichen Voraussetzungen H.H. v. Arnim/M. 1141/2014. Schurig, Die EU-Verordnung über die Parteienfinanzierung, 67 Art. 20 Abs. 7 und 9 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 2004, S. 61 f. 68 63 Art. 20 Abs. 6 lit. a) und b) Verordnung (EU, Euratom) Im Jahre 2014 konnten die ÖDP und die Partei „Die Partei“ 1141/2014. mit rund 0,6 Prozent der Stimmen jeweils einen Sitz erzielen. 69 Art. 20 Abs. 2 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 64 Abl. aber P.M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 70 2. Aufl., 2012, Art. 224 AEUV Rn. 20 zur Verordnung (EG) Art. 32 Abs. 1 lit. e) Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 2003/2004. 71 Art. 20 Abs. 3 und 4 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014.

76 MIP 2018 24. Jhrg. Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien Aufsätze

Die Verpflichtung zur Vorlage einer Aufstellung keit allein auf Zuwendungen von Mitgliedsparteien der Spenden gilt nach dem ausdrücklichen Verord- beziehen.78 nungstext auch für Zuwendungen, die europäische politische Parteien von ihren Mitgliedsparteien er- 4. Rechenschaftspflichten und Sanktionen halten.72 Zuwendungen von Mitgliedern, die natür- liche Personen sind, werden demgegenüber an die- Innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf eines ser Stelle nicht erwähnt, obwohl die Verordnung Haushaltsjahres haben die europäischen politischen sie voraussetzt, da insoweit an anderer Stelle eine Parteien ihre Jahresabschlüsse nebst einem Prüfbe- richt und der Aufstellung der Spender/Zuwendungs- Höchstgrenze von € 18.000,00 pro Jahr angeordnet 79 wird.73 Dieses (ausdrückliche) Schweigen führt zu leistenden vorzulegen. Sie unterliegen hinsichtlich der Frage, worin sich Spenden und Zuwendungen der ihnen obliegenden Verpflichtungen einer Kon- unterscheiden. Insoweit fehlt es nach Maßgabe der trolle, die durch die Behörde für europäische politi- jeweiligen Definition in den „Begriffsbestimmun- sche Parteien und politische Stiftungen sowie in Be- gen“ zunächst an einem Unterschied in Bezug auf zug auf die Mittel aus dem EU-Haushalt durch den für deren Festsetzung zuständigen „Anweisungsbe- Art und Rechtsgrund der Leistung. Vielmehr wer- 80 den Zuwendungen allein beschrieben als Leistun- fugten“ sowie den Rechnungshof erfolgt. Die Nicht- gen von Mitgliedern zugunsten der Parteien („Zu- einhaltung von Verpflichtungen wird mit Sanktionen wendungen von Mitgliedern“).74 Dabei handelt es belegt, wobei zwischen quantifizierbaren und nicht sich nach dem ausdrücklichen Verordnungstext quantifizierbaren Verstößen gegen Rechtspflichten aber nicht um Spenden, denn diese werden defi- unterschieden wird. Nicht quantifizierbare Verstöße niert als (beliebige) Leistungen „mit Ausnahme sind insbesondere die Verletzung von Vorgaben in von Zuwendungen von Mitgliedern“.75 Bezug auf Mitteilungspflichten, namentlich die un- terbliebene Übermittlung der Aufstellung der Spen- Indes wird die Terminologie nicht konsequent der, die fehlende Meldung von Spenden oder die durchgehalten: So soll es neben anonymen Spenden Nichtvorlage des Rechenschaftsberichts.81 Zu den auch anonyme Zuwendungen geben können.76 Auch quantifizierbaren Verstößen zählen die Annahme ist mit dem Jahresabschluss „eine Aufstellung der unzulässiger Spenden oder Zuwendungen sowie Spender und Zuwendungsleistenden mit ihren Spen- Pflichtverletzungen in Zusammenhang mit der Wahl- den oder Zuwendungen gemäß Artikel 20 Absätze 2, kampffinanzierung und der Verstoß gegen Finanzie- 3 und 4“ vorzulegen,77 obwohl sich die hiermit in rungsverbote, namentlich das Verbot der Verwen- Bezug genommenen Regelungen allein auf Spenden dung von Mitteln aus dem Gemeinschaftshaushalt beziehen. Im Interesse der auch in den Erwägungs- für die Arbeit mitgliedstaatlicher Parteien.82 gründen, namentlich Nr. 39, geforderten Transpa- renz wird man daher Rechtspflichten in Bezug auf Bei nicht quantifizierbaren Verstößen erfolgt eine fi- Spenden im Zweifel auch auf Zuwendungen zu be- nanzielle Sanktion, die sich grundsätzlich auf 5 Pro- ziehen haben; dies gilt dann folgerichtig auch für die zent des Jahresbudgets, bei mehreren Verstößen Pflicht zur Rückgabe oder Meldung einer unzulässi- durch dieselbe Handlung auf 7,5 Prozent und bei wiederholten Verstößen auf 20 Prozent des Jahres- gen Leistung nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 6 der 83 Verordnung. Das (ausdrückliche) Fehlen einer Ver- budgets der Partei beläuft; dabei wird es sich aber pflichtung, mit dem Rechenschaftsbericht auch Zu- um einen wiederholten Verstoß im gleichen Jahr wendungen von Mitgliedern mitzuteilen, die keine handeln müssen. Wird die Pflichtverletzung freiwil- (mitgliedstaatlichen) Parteien sind, wird sich hinge- lig angezeigt, bevor eine offizielle Untersuchung gen mit den Mitteln der juristischen Hermeneutik eingeleitet wurde, und werden Abhilfemaßnahmen ergriffen, ermäßigt sich die Sanktion auf ein Drittel nicht überwinden lassen, zumal sich auch die (Trans- 84 parenz-)Regeln über die Information der Öffentlich- des jeweiligen Prozentsatzes. Bei quantifizierbaren 78 Vgl. Art. 32 Abs. 1 lit. f) Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 72 Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 79 Art. 23 Abs. 1 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 73 Art. 20 Abs. 9 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 80 Art. 24 Abs. 2, 25 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 74 Vgl. Art. 2 Nr. 7 und 8 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 81 Art. 27 Abs. 2 lit. a) Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 75 Art. 2 Nr. 7 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 82 Art. 27 Abs. 2 lit. b) Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 76 Vgl. Art. 20 Abs. 5 lit. a) Verordnung (EU, Euratom) 83 Art. 27 Abs. 4 lit. a) Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 1141/2014. 84 Art. 27 Abs. 4 lit. a) Spiegelstrich 4 Verordnung (EU, Euratom) 77 Art. 23 Abs. 1 lit. c) Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 1141/2014.

77 Aufsätze Koch – Das neue Recht der europäischen politischen Parteien MIP 2018 24. Jhrg.

Verstößen wird als Sanktion ein fester Prozentsatz der erhaltenen oder nicht angegebenen Summe fest- gesetzt, der mindestens 100 Prozent dieser Summe (bei einem Betrag bis € 50.000,00) beträgt und auf bis zu 300 Prozent (bei einem Betrag von mehr als € 200.000,00) ansteigt; dabei ist eine Höchstgrenze von 10 % des Jahresbudgets der betreffenden Partei einzuhalten.85 In diesem Rahmen wird jede Spende oder Zuwendung separat betrachtet. Auch bei quan- tifizierbaren Verstößen ermäßigt sich die Sanktion auf ein Drittel, wenn freiwillig eine rechtzeitige (Selbst-)Anzeige erfolgt.86

5. Abschließende Bewertung Gegenüber der vorangegangenen Verordnung aus dem Jahre 2003 hat sich die Regelungsdichte des EU-Parteienrechts mit der Neuregelung beträchtlich erhöht. Deutlich ausgebaut wurden insbesondere die Rechenschafts- und Offenlegungspflichten sowie die Kontroll- und Überprüfungsmöglichkeiten, die einen eigenen bürokratischen Apparat nach sich ziehen. Zu begrüßen ist insbesondere die Schaffung von Sanktio- nierungsmöglichkeiten bei Pflichtverletzungen. An- haltspunkte für eine Unvereinbarkeit der getroffenen Regelungen mit dem Primärrecht, namentlich in Be- zug auf die Voraussetzungen für die Finanzierung aus dem Gemeinschaftshaushalt, ergeben sich nicht. Hinsichtlich der Regelungstechnik wäre, wie häufig im Gemeinschaftsrecht, mehr begriffliche Präzision wünschenswert. Ihren Praxistest werden die neuen Regelungen erst noch bestehen müssen.

85 Art. 27 Abs. 4 lit. b) Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014. 86 Art. 27 Abs. 4 lit. b) Spiegelstrich 6 Verordnung (EU, Euratom) 1141/2014.

78 MIP 2018 24. Jhrg. Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] Aufsätze

Transparenz durch die Hintertür? sichtspunkt vollkommen unberücksichtigt und könn- te auch aus der Perspektive der Rechtsanwendung – Zugangsanspruch nach § 1 Abs. 1 S. 1 IFG unerwünschte Nebenwirkungen entfalten. zu amtlichen Aufzeichnungen der Bundestags- verwaltung im Zusammenhang mit dem Veri- I. Sachverhalt und Rechtsansichten fikationsverfahren nach § 23a PartG – Die beklagte Bundestagsverwaltung lehnte einen auf Dr. Sören Lehmann, Dipl. Finanzwirt (FH)1 das Informationsfreiheitsgesetz gestützten Antrag des Klägers auf Zugang zu den das Rechenschafts- jahr 2013 betreffenden Verifikationsunterlagen mit Ein im Januar 2017 ergangenes Urteil des Verwal- der Begründung ab, das Parteiengesetz verdränge tungsgerichts Berlin hat den Betreibern der Website spezialgesetzlich dessen Anwendungsbereich. Da „www.Abgeordnetenwatch.de“ einen umfassenden das Informationsfreiheitsgesetz darüber hinaus ohne- Zugang zu den Aufzeichnungen der Bundestagsver- hin nur einen Zugang zu tatsächlich vorliegenden In- waltung über die Prüfung der Rechenschaftsberichte formationen gewährleiste und gesonderte Aufzeich- politischer Parteien auf Basis des Informationsfrei- nungen und Vermerke im Rahmen des Verifikations- heitsgesetzes zuerkannt. Die verfassungsrechtlichen verfahrens nicht anfielen, sei auch aus diesem Grunde Grundlagen der Rechenschaft politischer Parteien ein Anspruch nicht gegeben. sind bisher nicht sehr tiefgehend erforscht. Die Ent- Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Be- scheidung gibt Anlass dazu, die Stellung von Art. 21 klagte zurück. Zur Begründung führte sie ergänzend Abs. 1 S. 4 GG im Gefüge des Grundgesetzes zu be- aus, der besondere Grundrechtsschutz der politischen leuchten und auf mögliche Friktionen zwischen den Parteien und der aus Art. 21 Abs. 1 GG abgeleitete §§ 23 ff. PartG und dem System des IFG hinzuweisen. Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien geböten die Die Zweite Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin Annahme einer Sperrwirkung des Parteiengesetzes. hat am 26. Januar 2017 entschieden, dass die Ver- Die Parteien hätten – ebenso wie die mit ihnen in waltung des Deutschen Bundestages dem Verein Verbindung stehenden Dritten – einen Anspruch auf Parlamentwatch e.V., besser bekannt unter seinem Wahrung der Vertraulichkeit und auf Datenschutz. Internetauftritt „Abgeordnetenwatch.de“, Zugang zu Weiterhin werde durch eine Preisgabe der begehrten den dort vorhandenen Korrespondenzen, Vermerken, Informationen das Vertrauensverhältnis zwischen Notizen, Dienstanweisungen oder sonstigen amtli- der Beklagten und den Parteien gestört, weil die bis- chen Aufzeichnungen, die im Zusammenhang mit herige Praxis eine enge und vertrauliche Abstim- den Rechenschaftsberichten 2013 sowie den Partei- mung zu den sich bei konkreten Einzelfragen erge- spenden 2013 der Parteien CDU, CSU, SPD, Grüne, benden laufenden Rechenschaftspflichten vorsehe. Linke und FDP stehen und die bis zum 23. Septem- Der Kläger war der Ansicht, die §§ 23 ff. PartG ber 2015 gefertigt wurden, einschließlich der Re- stellten keine das IFG verdrängende Rechtsmaterie chenschaftsberichtsakten für das Jahr 2013 in anony- dar. Nur § 23a Abs. 7 PartG, der eine bereichsspezi- 2 misierter Form zu verschaffen hat . fische Geheimhaltung von im Verifikationsverfahren Dieser so technisch erscheinende Urteilstenor zeitigt erlangten Kenntnissen anordne, sei ein solcher spezial- erhebliche Folgen: Eine Privatperson hat hier – so- gesetzlicher Ausschluss. Da § 23a Abs. 7 PartG aber weit ersichtlich – erstmals auf Basis von § 1 Abs. 1 nur solche Erkenntnisse erfasse, die nicht die Rech- S. 1 IFG3 einen tiefen Einblick in die Überprüfungs- nungslegung der Partei selbst beträfen, ergäbe sich tätigkeit des Präsidenten des Deutschen Bundestages aus der Vorschrift kein Ausschluss für den Zugang erstritten. Im Folgenden soll die Entscheidung kurz zu den begehrten Informationen. vorgestellt und dann einer kritischen Prüfung unter- Die Beklagte ergänzte ihr Vorbringen aus dem Ver- zogen werden. Sie lässt mit dem Recht der Bürger waltungsverfahren dahingehend, dass auch die auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbil- Chancengleichheit der politischen Parteien die Ver- dung einen relevanten verfassungsrechtlichen Ge- sagung eines Informationsanspruchs gebiete. Eine 1 Der Autor ist Rechtsanwalt in Düsseldorf. verfassungskonforme Auslegung des Informations- 2 VG Berlin, Urteil v. 26.1.2017, 2 K 69.16, juris. Die Parallel- freiheitsgesetzes führe zu diesem Ergebnis. Werde entscheidung v. 26.1.2017, 2 K 292.16, ist bisher unveröffentlicht. ein über die Gewährleistungen des Parteiengesetzes 3 Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bun- hinausgehender Informationszugang ermöglicht, sei des (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) i.d.F. des Gesetzes v. die Gleichheit der Parteien wegen einer Möglichkeit 7.8.2013, BGBl I, S. 3154.

79 Aufsätze Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] MIP 2018 24. Jhrg. zur Ausforschung interner Vorgänge gefährdet. Ein Zwar könnten auch behördliche Veröffentlichungs- selektiver Informationsbezug ermögliche eine selek- pflichten im Einzelfall Spezialgesetze im Sinne von § 1 tive Veröffentlichung von Daten durch Private, so Abs. 3 IFG darstellen. Jedoch verfolgten die §§ 23 ff. dass staatsseitig eine gleichmäßig alle Parteien tref- PartG eine vollkommen andere Zielsetzung als das In- fende Publikation von Rechenschaftsdaten nicht formationsfreiheitsgesetz. Die in § 23 PartG geregelte mehr sichergestellt sei. Entsprechend dem in § 6 IFG antragsunabhängige, verpflichtende Offenlegung von genannten Ausschlussgrund für Betriebs- und Ge- Parteifinanzen realisiere die verfassungsrechtliche schäftsgeheimnisse müsse auch der politische Wett- Pflicht der Parteien, ihre Finanzen offenzulegen. Dem bewerb der Parteien vor Beeinträchtigungen ge- Transparenzgebot des Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG liege schützt werden. Auch die Parteienfreiheit und das die Erwägung zugrunde, dass die politische Willens- den Parteien zuteilwerdende Recht auf informatio- bildung innerhalb einer Partei von Personen oder Or- nelle Selbstbestimmung geböten die Annahme eines ganisationen erheblich beeinflusst werden könne, die Vorrangverhältnisses des Parteiengesetzes gegen- den Parteien in größerem Umfang finanzielle Mittel über dem Informationsfreiheitsgesetz, solange nicht zur Verfügung stellten. Derartige Verflechtungen und das Informationsfreiheitsgesetz selbst die privaten drohende Abhängigkeitsverhältnisse sollten mithilfe Daten der politischen Parteien schütze. der Publikation offengelegt werden. Dem Wähler sol- le eine Überprüfung solcher Zusammenhänge und ein II. Die Entscheidung des Gerichts Abgleich der Programmatik der politischen Parteien Das Verwaltungsgericht bejahte einen Anspruch des mit der Wirklichkeit ermöglicht werden. Zugleich Klägers aus § 1 Abs. 1 S. 1 IFG auf Zugang zu den werde hierdurch ein Schutz der innerparteilichen De- das Verifikationsverfahren nach § 23a PartG betref- mokratie bewirkt und die Chancengleichheit der Par- fenden Informationen. teien im politischen Wettbewerb sichergestellt6. Die §§ 23 ff. PartG seien keine vorrangig zu beach- § 23a Abs. 7 PartG stelle nicht eine Bereichsausnah- tenden Informationszugangsvorschriften im Sinne me im Sinne des § 1 Abs. 3 IFG dar, sondern sei viel- von § 1 Abs. 3 IFG. Als solche seien nur Vorschrif- mehr ein Ausschlussgrund im Sinne von § 3 Nr. 4 ten anzusehen, die einen mit dem Informationsan- IFG. Die Vorschrift betreffe im Rahmen des Verifi- spruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz identi- kationsverfahrens gemachte Zufallsfunde. Zwar sei schen sachlichen Regelungsgegenstand hätten und insoweit ein Anspruch aus § 1 Abs. 1 IFG ausge- die als abschließend zu verstehen seien4. schlossen, jedoch betreffe dies gerade nicht die übri- gen rechnungslegungsbezogenen Unterlagen, welche Das Informationsfreiheitsgesetz betreffe unmittelbar im Verifikationsverfahren anfielen. nur das Handeln der öffentlichen Verwaltung. Es verfolge insbesondere das Ziel, Verwaltungstranspa- Entgegen der Ansicht der Beklagten sei dem Parteien- renz herzustellen und dadurch die effektive Wahr- gesetz auch nicht solange ein Vorrang vor den Vor- nehmung von Bürgerrechten, die Förderung demo- schriften des Informationsfreiheitsgesetzes einzuräu- kratischer Meinungs- und Willensbildung und eine men, bis dieses selbst das Grundrecht der Parteien auf Verbesserung der Kontrolle staatlichen Handelns informationelle Selbstbestimmung und den Grundsatz herbeizuführen5. Insoweit stehe dem Einzelnen ein der politischen Chancengleichheit zugunsten der Par- subjektiv-öffentliches Recht auf Zugang zu amtli- teien regele. Diese Rechtspositionen der Parteien sei- chen Informationen zu. en nicht geeignet, den Anwendungsbereich des Infor- mationsfreiheitsgesetzes im Sinne von § 1 Abs. 3 IFG Die §§ 23 ff. PartG verfolgten demgegenüber einen insgesamt zu sperren. Vielmehr bedürfe, wenn sich vollkommen anderen Zweck. Die Veröffentlichungs- im Einzelfall eine zugunsten der Parteien schutzwür- pflichten nach § 23 Abs. 2 S. 2 und 5, Abs. 4 PartG dige Fallkonstellation zeige, die nicht von § 23a regelten allein eine verpflichtende Unterrichtung des Abs. 7 PartG berührt sei, das Informationsfreiheits- Bundestages und der Öffentlichkeit über Einzelheiten gesetz selbst einer verfassungskonformen Auslegung, der Parteifinanzen. Der Bürger könne hieraus kein soweit dann nicht bereits durch unmittelbare Anwen- subjektives Recht auf einen Zugang zu Verifikations- dung von §§ 5 oder 6 IFG verfassungskonforme Er- unterlagen ableiten. gebnisse zu erzielen seien. Derartige Konstellationen 4 Unter Zitierung von BVerwG, Urteil v. 3.11.2011, 7 C 4.11, seien mit Blick auf die Anordnung des Art. 21 Abs. 1 NVwZ 2012, 251; Urteil v. 15.11.2012, 7 C 1.12, NVwZ S. 4 GG aber eher eine Ausnahme denn die Regel. 2013, 431, 434. 5 Unter Zitierung von BT-Drs. 15/4493, S. 6; Schoch, IFG, 6 Unter Zitierung von BVerfGE 24, 300 (356); BVerfGE 111, 2. Aufl. 2016, § 1 Rn. 9. 54 (83).

80 MIP 2018 24. Jhrg. Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] Aufsätze

III. Stellungnahme bewirken eine solche Willensbildung nicht allein8. Die Vorschrift legt die verfassungsrechtliche Rolle „Abgeordnetenwatch“ hat über die bloße Veröffent- der Partei als „Transmissionsriemen“ des für sich lichung von Rechenschaftsberichten hinaus den Zu- genommen diffusen Volkswillens in konkrete Hand- gang zu den Prüfunterlagen des Bundestagspräsidi- lungsvorschläge und Anschauungen fest9. Art. 20 ums erstritten. Bei unbefangener Betrachtungsweise Abs. 2 S. 2 GG schreibt den Wahlakt als maßgebli- mag hierin ein erheblicher Zugewinn an Rechen- che Methode der Machtausübung durch das Volk schaftstransparenz liegen. Auf den zweiten Blick er- fest. Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG erfüllt in diesem Zusam- geben sich sowohl hinsichtlich des rechtlichen Be- menhang eine zweiseitige Funktion. fundes des Verwaltungsgerichts Berlin als auch mit Blick auf die praktischen Konsequenzen der Ent- Einerseits ermöglicht die öffentliche Rechenschaft scheidung gewisse Bedenken. der Parteien dem Volk als Rechenschaftsadressaten eine Kontrolle über die Einhaltung des in der Ver- Das Gericht beschränkt sich auf eine – am Vorbringen fassung angelegten Machtsystems: Der Bürger soll der Beklagten orientierte – knappe Abgrenzung der sich über Verflechtungen, welche zwischen der Par- Rechtspositionen der politischen Parteien. Ob der tei und fremden Dritten bestehen, informieren und verfassungsrechtliche Befund so eindeutig ist, wie es etwaige Abhängigkeitspotenziale erkennen, welche die Ausführungen des Gerichts vermuten lassen, ist das über den Wahlakt und die damit einhergehende zumindest fraglich. Zunächst sollen im Folgenden Stimmenrepräsentation gewollte Transmissionsver- kurz die zur Untersuchung dieser Frage heranzuzie- hältnis gefährden können10. henden verfassungsrechtlichen Maßstäbe dargestellt werden. In diese Ausgangsüberlegungen wird so- Andererseits unterfüttert die mit Art. 21 Abs. 1 S. 4 dann der Befund des Gerichts eingeordnet. GG ermöglichte Information des Einzelnen komple- mentär den Wahlakt11. Der Bürger kann sich ein Bild 1. Verfassungsrechtliche Maßstäbe davon machen, ob die von der Partei transportierte Die für eine Untersuchung des Komplexes maßgeb- politische Ausrichtung der Wirklichkeit und seiner 12 lichen verfassungsrechtlichen Positionen sind insbe- eigenen politischen Präferenz entspricht . Durch die sondere das sich aus Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG erge- Informationen aus dem Rechenschaftsbericht wird es bende Transparenzprinzip mit seinen Bezügen zum dem Bürger ermöglicht, Programmatik und Wirklich- Demokratieprinzip und zu den Wahlgrundsätzen, das keit des Parteihandelns abzugleichen und gegebe- Informationsgrundrecht, das Recht auf informatio- nenfalls seine Wahlentscheidung daran auszurichten. nelle Selbstbestimmung der Parteien und der mit die- Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG hat – zumindest im Norm- und sen kontrahierenden Dritten und aus gleichheits- Wertegefüge der Verfassung13 – eine nicht zu unter- rechtlicher Perspektive das Recht der Parteien auf schätzende kontrollierende und komplementäre Bedeu- Chancengleichheit im politischen Wettbewerb und tung für das Funktionieren der politischen Willensbil- das Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe an der po- litischen Willensbildung. 8 Betont Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010, S. 238 f. m.w.N. aus der Literatur. a) Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG als verfassungsunmittel- 9 Zuletzt BVerfGE 121, 30 (57) m.w.N.; siehe auch Streinz, in: bare Grundentscheidung von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Rn. 8; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Das Transparenzgebot des Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG Rn. 21; anschauliche Darstellung dieser Parteifunktion etwa steht sowohl mit dem in Art. 20 Abs. 2 GG veranker- bei Stein/Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 341 f. ten Demokratieprinzip als auch mit den Wahlgrund- 10 So etwa BVerfGE 85, 264 (318 f.); BVerfGE 111, 54 (83), je- sätzen des Art. 38 GG in engem Zusammenhang7. weils m.w.N. 11 Siehe nur BVerfGE 24, 300 (356); BVerfGE 85, 264 (319). Das Grundgesetz geht mit Art. 20 Abs. 2 GG davon 12 So kann er beispielsweise über die Erläuterung des § 24 Abs. 7 aus, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wel- Nr. 2 PartG erkennen, ob eine eher dem wirtschaftsfreundli- ches diese durch Wahlen und Abstimmungen und chen Spektrum nahestehende Partei auch wirklich nach dieser durch Legislative, Exekutive und Judikative ausübt. Ausrichtung handelt, oder vielmehr Medien unterstützt, die Nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG wirken die Parteien bei eine ganz andere politische Strömung bedienen. der politischen Willensbildung des Volkes mit – sie 13 Ob dies in der Realität auch zutrifft, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Viele Bürger wissen nicht um die Möglich- 7 Auf die vielfach betonte Verzahnung auch mit dem Grundsatz keit, die Rechenschaftsberichte politischer Parteien einzusehen, der innerparteilichen Demokratie (siehe etwa BVerfGE 85, vgl. Günther, ZParl 1977, 41, 46, 50; Kaltefleiter/Naßmacher, 264 [319]; BVerfGE 111, 54 [83]) soll an dieser Stelle nicht ZfP 1992, 135, 141; Düselder/Rieken/Römmele, ZParl 1993, näher eingegangen werden. 179, 188; Naßmacher, ApuZ 16/2000, 15, 20.

81 Aufsätze Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] MIP 2018 24. Jhrg. dung. Er kann insbesondere wegen der engen Verzah- Rechenschaftsberichte stellen Quellen im Sinne der nung mit dem Demokratieprinzip und den Wahlgrund- Vorschrift dar. Die Besonderheit in diesem Kontext sätzen als eine verfassungsrechtliche Grundentschei- besteht darin, dass die allgemeine Zugänglichkeit die- dung von erheblicher Bedeutung begriffen werden. ser Quelle mit Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG verfassungs- rechtlich in einer qualifizierten Art und Weise prä- b) Freiheitsrechtliche Implikationen dispositioniert ist23. Es wird nicht nur bereits auf aa) Informationsgrundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Verfassungsebene festgelegt, dass eine Quelle allge- Alt. 2 GG mein zugänglich ist, sondern auch in welcher Art und Weise. Damit vermittelt die Informationsfreiheit in Bemerkenswerterweise geht die Bundestagsverwal- diesem speziellen Fall eine über die bloße Zugangs- tung ausweislich des Urteilstatbestands davon aus, dimension reichende inhaltliche Wirkrichtung24. Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG stelle ein subjektiv-öffentli- ches Recht auf Informationszugang dar14. Ob man im Die Einschätzungsprärogative des Kraft Art. 21 Abs. 5 Transparenzgebot ein subjektiv-öffentliches Recht GG legitimierten Bundesgesetzgebers ist hierbei zu sehen kann oder es für sich genommen vielmehr eine respektieren. Erst, wenn eine Vorenthaltung von Re- objektiv-rechtliche Garantie darstellt, soll an dieser chenschaftsberichten oder Rechenschaftsinhalten ein Stelle nicht näher untersucht werden15. Einen subjek- derart erhebliches Maß annimmt, dass die demokra- tietheoretischen Funktionszusammenhänge, in denen tiv-rechtlichen Einschlag erlangt Art. 21 Abs. 1 S. 4 25 GG nämlich jedenfalls über das in Art. 5 Abs. 1 S. 1 das Transparenzgebot steht , nicht mehr gewährleis- Alt. 2 GG verankerte Recht auf ungehinderte Infor- tet sind, kann der Einzelne unter Berufung auf das mation aus allgemein zugänglichen Quellen16. Informationsgrundrecht dagegen vorgehen. Die zentrale Bedeutung dieses Grundrechts für eine Der Anspruch auf Zugang zu Informationen nach § 1 informierte und demokratische Öffentlichkeit ist all- Abs. 1 S. 1 IFG steht auf einfachrechtlicher Ebene gemein anerkannt17. Als Quellen im Sinne der Vor- selbständig daneben. Er ist nicht durch das Informa- schrift werden alle denkbaren Informationsträger, die tionsgrundrecht bedingt, sondern definiert nur ge- setzlich die Öffentlichkeit von Quellen im Sinne des Meinungen oder Tatsachen vermitteln, verstanden, un- 26 abhängig davon, ob es sich um Inhalte privater oder öf- Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG . Weitergehend als fentlicher Art handelt, wobei jedoch der Informations- Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG gewährt das Informati- träger durch Willensakt oder gesetzliche Anordnung onsfreiheitsgesetz einen zwar antragsgebundenen, die Information auch als allgemein zugänglich be- aber ansonsten voraussetzungslosen Anspruch für stimmen muss18. Die allgemeine Zugänglichkeit be- Jedermann. Es handelt sich hierbei um ein zur Ver- trifft hierbei alle Quellen, die für einen Zugang der All- wirklichung des Demokratieprinzips installiertes In- gemeinheit geeignet und bestimmt sind19. Das Infor- strument der Teilhabe an und Kontrolle der Verwal- mationsgrundrecht vermittelt dem Einzelnen ein sub- jektiv-öffentliches Recht auf Zugang in Fällen, in de- 23 nen die Rechtsordnung eine im staatlichen Einfluss- Morlok/Lehmann, NVwZ 2015, 470, 473; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 119; siehe weiterhin bereich liegende Informationsquelle der öffentlichen zur Möglichkeit der Anordnung von allgemeiner Zugänglich- Zugänglichkeit zuweist, der Staat diesen Zugang aber keit durch Verfassungsbestimmungen Jarass, in: Jarass/Pieroth, verweigert20. Ein Recht auf Eröffnung neuer Informa- GG, 14. Aufl. 2016, Art. 5 Rn. 24, Art. 109a Rn. 3. tionsquellen enthält der grundsätzlich als Abwehr- 24 Die Frage, ob Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG über die bloße Zu- recht21 konstruierte Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG nicht22. gangsdimension hinaus auch einen inhaltlichen Mindeststan- dard an Information schützt, ist bisher ungeklärt. Jedenfalls in 14 VG Berlin, Urteil v. 26.1.2017, 2 K 69.16, juris, Rn. 14. Bezug auf den Zugang zu Rechenschaftsberichten wird dies kraft verfassungsunmittelbarer Anordnung (Mittelherkunft, Mit- 15 Siehe dazu bereits Morlok/Lehmann, NVwZ 2015, 470, 473. telverwendung, Vermögen) der Fall sein, da ansonsten die Re- 16 Siehe für eine ausführliche Herleitung der nun folgenden chenschaftspflicht über den inhaltlichen Weg ausgehöhlt werden Überlegungen Morlok/Lehmann, NVwZ 2015, 470. könnte, Morlok/Lehmann, NVwZ 2015, 470, 473. Zu einer Ge- 17 Siehe etwa BVerfGE 7, 198 (208); BVerfGE 20, 162 (174); währung von inhaltlichen Mindeststandards aufgrund verfas- BVerfGE 103, 44 (59). sungsrechtlicher Direktiven siehe auch Wendt, in: von Münch/ 18 BVerfGE 103, 44 (60). Kunig, GG, Bd. I, 6. Aufl. 2012, Art. 5 Rn. 28; Degenhardt, in: Bonner Kommentar GG, Bd. II, Art. 5 Abs. 1 und 2 19 BVerfGE 103, 44 (59 f.). Rn. 179 (Juli 2017). 20 BVerfGE 103, 44 (60). 25 S. oben, III. 1. a). 21 Ausführlich etwa Degenhardt, in: Bonner Kommentar GG, 26 H.M. Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, Vor § 1 Rn. 68 ff., 81, 287 Bd. II, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 176 f. (Juli 2017) m.w.N. m.w.N.; a.A. etwa Scherzberg/Solka, in: Fluck/Fischer/Martini, 22 BVerfGE 103, 44 (59 f.). IFG, Bd. I, § 3 IFG Rn. 51 ff. m.w.N.

82 MIP 2018 24. Jhrg. Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] Aufsätze tungstätigkeit27. In Bezug auf den Zugang zu Re- die Entscheidung über Offenbarung und Preisgabe chenschaftsberichten selbst ist der einfachrechtliche von Lebenssachverhalten im Allgemeinen und per- Zugangsanspruch nicht von Relevanz. Solange sich sonenbezogenen Daten im Besonderen in Bezug auf der Antragsteller nämlich die begehrten Informatio- den Zeitpunkt und den Adressaten des Zugangs tref- nen in zumutbarer Weise aus allgemein zugängli- fen zu können33. Ein Eingriff in die informationelle chen Quellen beschaffen kann, kann ein Anspruch Selbstbestimmung lässt sich zumindest dann feststel- abgelehnt werden, § 9 Abs. 3 IFG. Für die Fragen, len, wenn ein gezielter, rechtsförmlicher Zwang zur die über die bloße Kenntnisnahme der Rechen- Preisgabe von Daten, Sachverhalten und Unterlagen schaftsberichte hinausgehen, hat das Verwaltungsge- ausgeübt wird oder eine Kenntnisnahme, Verwer- richt zutreffend den unterschiedlichen sachlichen tung und Aufzeichnung solcher Umstände stattfin- Regelungsgegenstand beider Rechtsmaterien heraus- det34. In der Zugangsgewährung, welche die Einzel- gearbeitet28. Richtig ist daher, dass die §§ 23 ff. person über § 1 Abs. 1 S. 1 IFG zu den Rechen- PartG jedenfalls nicht global eine Anwendung des schaftsinterna der politischen Partei erhält, wird man IFG sperren. Über die Frage, ob es andere verfas- zumindest einen mittelbaren Eingriff sehen kön- sungsrechtliche Gründe gibt, die gegen den konkret nen35. Auch gegenüber Dritten, denen gegenüber zu zugesprochenen Informationszugang sprechen könn- handeln der Staat nicht final beabsichtigt, kann ein ten, ist damit freilich noch nicht befunden. Eingriff in Grundrechtspositionen gegeben sein36. bb) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Gleiches gilt für Privatpersonen, die mit den politi- aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG schen Parteien in (Geschäfts-)Verbindung stehen. Auch soweit ihre Daten im Zusammenhang mit der Ob die Parteien über die Gewährleistungen des Gewährleistung des Informationszugangs in Erschei- Art. 21 GG hinaus grundrechtsfähig sind, war und ist nung treten, kann ihre informationelle Selbstbestim- 29 trefflich umstritten . Die besseren Gründe sprechen mung mittelbar berührt sein. sicherlich dafür. Die Parteien sind Privatrechtssub- jekte30 und als solche nach Art. 19 Abs. 3 GG grund- c) Gleichheitsrechtliche Implikationen rechtsfähig, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Die Heranziehung aa) Recht der Parteien auf Chancengleichheit im des Art. 21 Abs. 1 GG für originär grundrechtsrele- politischen Wettbewerb, Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. vante Fragen der Partei überfrachtet die dort enthal- Art. 21 Abs. 1 GG tenen Gewährleistungen und lässt das zumeist gege- Der Schutzgehalt des Rechts der Parteien auf Chan- bene spezialgesetzliche Vorrangverhältnis der Grund- cengleichheit im politischen Wettbewerb besteht nicht rechte außer Betracht. darin, sämtlichen Parteien die gleichen Ausgangs- Erkennt man an, dass sich Parteien auf das Recht auf bedingungen für ein Bestehen im politischen Wettbe- 37 informationelle Selbstbestimmung berufen können, werb zu stellen . Jedoch darf durch staatliches Han- so ist der im Einzelnen recht umstrittene Schutzbe- deln die vorgefundene Wettbewerbslage nicht verän- 38 reich dieses Grundrechts31 durch einen Informations- dert oder verfälscht werden . Wegen der starken Ver- zugang, den der Bundestagspräsident zu den verifi- knüpfung des Gleichbehandlungsgebotes für die poli- kationsbezogenen Unterlagen gewähren muss, ohne tischen Parteien mit den Grundsätzen der Allgemein- Weiteres eröffnet32. Das Grundrecht schützt jeden- heit und Gleichheit der Wahl und mit dem Demokra- falls das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst tieprinzip ist die politische Chancengleichheit in ei- nem umfassenden und streng formalen Sinne zu be- 27 So die Gesetzesbegründung BT-Drs. 15/4493, S. 6. 33 28 VG Berlin, Urteil v. 26.1.2017, 2 K 69.16, juris, Rn. 24 ff. Siehe etwa BVerfGE 65, 1 (43); BVerfGE 115, 320 (341). 34 29 Ausführlich Kersten, in: Kersten/Rixen, PartG, § 1 Rn. 132 ff. So etwa BVerfGE 27, 344 (351); BVerfGE 89, 69 (82); Be- m.w.N. schluss v. 1.12.2010, 1 BvR 1572/10, BVerfGK 18, 260 (263) m.w.N. 30 Kersten, in: Kersten/Rixen, PartG, § 1 Rn. 131; siehe auch 35 Streinz, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II, 6. Aufl. Den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbe- 2010, Art. 21 Rn. 53. stimmung sieht auch Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, Vor § 1 Rn. 86, tangiert. 31 Ausführlich etwa Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. I, 36 Art. 2 Abs. 1 Rn. 173 ff. (Juli 2001) m.w.N. Näher Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 32 2000, S. 211 ff.; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, § 2 Rn. 7 und 80 m.w.N., spricht 32. Aufl. 2016, S. 67. insoweit plastisch von einem dreiseitigen Informationsrechts- 37 verhältnis, welches entsprechende Schutzbedürfnisse bei den Siehe nur BVerfGE 8, 51 (67); BVerfGE 111, 54 (105). durch den Informationszugang betroffenen Dritten auslöst. 38 BVerfGE 111, 54 (105) m.w.N.

83 Aufsätze Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] MIP 2018 24. Jhrg. greifen39. Durchbrechungen des speziellen Gleichheits- gibt und diese ungleiche Auswirkung gerade auf die satzes bedürfen eines besonders zwingenden Grundes rechtliche Gestaltung zurückzuführen ist43. – gegebenenfalls in Form kollidierenden Verfassungs- rechts40. Unter Umständen ist zur Beantwortung der 2. Einordnung der Gerichtsentscheidung in die Frage, ob eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbe- vorstehenden Überlegungen handlung gegeben ist, auch über Normgrenzen hin- Im Folgenden wird die Entscheidung des Verwal- weg eine Gesamtschau der faktischen Folgen anzu- tungsgerichts in den soeben dargestellten verfas- stellen41. Formal gleichheitsgerechte Normkomplexe sungsrechtlichen Ausgangsbefund eingeordnet. Wie und Entscheidungen können so wegen ihrer fakti- sich hierbei zeigt, ist das Urteil sowohl vom Begrün- schen Wirkungen eine Ungleichbehandlung erzeugen. dungsweg her als auch in Bezug auf das gefundene Ergebnis zu hinterfragen. bb) Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung, Art. 3 Abs. 1 GG a) Mehrdeutige Einordnung von Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG S. 4 GG führt zu einem weitgehenden Tenor Die politische Chancengleichheit kennt einen weite- Zwar hat das Verwaltungsgericht den klägerischen ren streng zu handhabenden Gleichheitssatz, nämlich Antrag zur Wahrung der von § 5 IFG aufgestellten das Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe an der po- Anforderungen dahin ausgelegt, dass eine Schwär- litischen Willensbildung. Im Ausgangspunkt ist zung der Unterlagen in Bezug auf personenbezogene staatlicherseits zu gewährleisten, dass alle Bürger Daten natürlicher Personen vorzunehmen sei. In Be- ihre Vorstellungen in den politischen Prozess glei- zug auf die Rechtspositionen der mittelbar von der chermaßen einbringen können. Fundiert wird dieser Informationsverschaffung betroffenen Parteien fin- Gleichheitssatz im Grundsatz der Allgemeinheit und det sich indes keine Einschränkung. Angesichts des Gleichheit der Wahl sowie im Demokratieprinzip42. insgesamt sehr weiten Tenors fragt sich, ob das Ge- Diese verfassungstheoretische Fundierung, die – frei- richt die von ihm als Ausnahme angesehene Situati- lich auf einer grundsätzlicheren Funktionsebene – on, dass in den zu eröffnenden Unterlagen eine par- auch Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG selbst zugrunde liegt, teienbezogene Information enthalten sein sollte, die nicht unter § 23a Abs. 7 PartG fällt, nicht genauer zeigt, dass aus einer Rechenschaftsperspektive für 44 den Bürger eine neutrale Wettbewerbsgrundlage für hätte untersuchen können . den Wahlvorgang und die „Machtkontrolle durch In- Die nicht näher begründete Ausführung, das Infor- formation“ zu schaffen ist. Sicherlich ergibt sich aus mationsfreiheitsgesetz könne in solchen Fällen selbst dem Gleichheitssatz kein Optimierungsgebot im Sin- verfassungskonform ausgelegt werden, sofern sich ne eines bestmöglichen Zugangs zu Rechenschafts- nicht bereits über die unmittelbare Anwendung von daten. Es ist jedoch für einen gleichmäßigen und §§ 5 oder 6 IFG verfassungskonforme Ergebnisse er- gleichzeitigen Zugang zu Rechenschaftsunterlagen zielen ließen, lässt den Leser und insbesondere die Sorge zu tragen: Informationsvorsprünge Einzelner, Beteiligten recht ratlos zurück. Das Verwaltungsge- die mehr über das Finanzgebaren der Parteien wis- richt hätte – da es einen in Bezug auf die verfas- sen als andere und die sich in einer verbesserten sungsrechtlichen Rechtspositionen der Parteien all- Möglichkeit zur Transmission der eigenen Vorstel- umfassenden Tenor ausgesprochen hat – dazu Stel- lungen niederschlagen, sind staatlicherseits grund- lung beziehen sollen, welche Unterlagen es wegen sätzlich zu vermeiden. In diesem Zusammenhang ist der betroffenen Rechte der Parteien als schutzwürdig eine Ungleichbehandlung auch durch ein Gesetz ansieht. Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG stellt – anders als möglich, das seinem Wortlaut nach eine ungleiche das Verwaltungsgericht annimmt – nicht in den al- Behandlung vermeidet und seinen Geltungsbereich lermeisten Fällen eine Rechtfertigung für die Beein- allgemein umschreibt, wenn sich aus seiner prakti- trächtigung der Positionen der Parteien dar. schen Auswirkung eine offenbare Ungleichheit er-

43 BVerfGE 8, 51 (64 f.). Ein weiteres Beispiel für diese auf die 39 So etwa BVerfGE 20, 56 (116); BVerfGE 111, 382 (398). faktischen Auswirkungen einer Regelung gerichtete Betrach- tungsweise bietet BVerfGE 85, 264 (312 ff.). 40 Siehe etwa BVerfGE 95, 408 (417 f.); BVerfGE 111, 382 (398). 44 Man wird schon hinterfragen müssen, ob die bei der Bundes- 41 Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet BVerfGE 85, 264 tagsverwaltung vorliegenden Verifikationsunterlagen wirklich (301 ff.). überwiegend § 23a Abs. 7 PartG unterfallen. Es erscheint wahr- 42 Siehe etwa BVerfGE 20, 56 (116); BVerfGE 104, 14 (20); scheinlicher, dass diese Unterlagen überwiegend Rechenschafts- BVerfGE 111, 382 (398). bezug haben und deshalb gerade nicht hiervon erfasst sind.

84 MIP 2018 24. Jhrg. Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] Aufsätze

Das Gericht zieht an dieser Stelle Art. 21 Abs. 1 S. 4 nur in einer Summe in der Vermögensbilanz angege- GG ausdrücklich als Grund heran, um eine mögliche ben werden müssen und insoweit auch keine beson- Beeinträchtigung der Rechtspositionen der Parteien dere verpflichtende Erläuterungsvorschrift für die durch Informationszugänge nach dem Informations- Person des Darlehensgebers, die Darlehenshöhe und freiheitsgesetz zu rechtfertigen. Der verfassungsrecht- die Konditionen besteht, so ist darin sicherlich mit liche Transparenzappell habe ein derartiges Gewicht, Blick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen dass ein Durchgreifen der informationellen Selbstbe- des Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG (öffentliche Rechen- stimmung und der Chancengleichheit nur ganz aus- schaft) ein bedenklicher Umstand zu sehen47. Das nahmsweise denkbar sei. Es sieht sich in Anbetracht Parteiengesetz aber hat zunächst einmal diese Belas- dieses Befundes nicht veranlasst, überhaupt Stellung tungsentscheidung getroffen. Wenn der Bundestags- dazu zu nehmen, wann dies der Fall sein soll. präsident nun im Rahmen des Verifikationsverfah- rens nach § 23a Abs. 1 und 2 PartG eine Partei um Diese Vorgehensweise ist schon dem Grunde nach Einreichung einer Aufschlüsselung zu den genann- zu hinterfragen. Führt das Verwaltungsgericht zu- ten Bilanzpositionen bittet, so kann genau diese Auf- nächst zutreffend aus, dass die §§ 23 ff. PartG Aus- schlüsselung – gegebenenfalls teilweise anonymi- füllungen des Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG darstellen, die siert nach § 5 IFG i.V.m. § 3 Abs. 1 BDSG, § 6 S. 2 wegen ihrer vollkommen anderen teleologischen IFG – nun durch einen voraussetzungslosen Antrag Stoßrichtung nicht als Gesetze im Sinne von § 1 von einer Einzelperson auf nicht öffentlichem Wege Abs. 3 IFG angesehen werden können45, so zieht es erlangt werden. Da es sich um eine rechnungsle- zugleich die Grundlage dieser Normen – Art. 21 gungsbezogene Information handelt, greift § 23a Abs. 1 S. 4 GG – als Rechtfertigungsgrund für Ein- Abs. 7 PartG hier nicht ein. Ob dann aber die mit schränkungen der informationellen Selbstbestim- Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG angeordnete Verpflichtung mung heran. Wenn doch – was das Gericht zutref- der Partei zu einer öffentlichen und damit die Allge- fend herausstellt – eine voraussetzungslose öffentli- meinheit betreffenden Rechenschaft auch dann che Rechenschaft über Herkunft und Verwendung rechtfertigend herangezogen werden kann, wenn der Mittel sowie über das Vermögen etwas vollkom- sich eine Einzelperson ebensolche Daten über die men anderes ist als ein antragsbezogener Individual- Partei beschafft, kann zumindest hinterfragt werden. zugang auf Informationen von Behörden, dann ist die gleichzeitige Annahme eines Rechtfertigungs- Die öffentliche Rechenschaft liegt auf einer voll- grundes für Beeinträchtigungen im Bereich der An- kommen anderen dogmatischen Ebene als der An- wendung des Informationsfreiheitsgesetzes jeden- spruch des Einzelnen auf Zugang zu behördlichen falls nicht ohne einen gesteigerten Begründungsauf- Informationen. Dies hat das Gericht auf der Ebene wand widerspruchsfrei möglich. der Anwendbarkeit des IFG wegen der unterschiedli- chen teleologischen Stoßrichtung beider Materien Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG enthält einen öffentlichen Re- zutreffend herausgearbeitet. Warum es dann aber bei chenschaftsappell für die Parteien und kann sicher- der Frage, ob der Zugangsanspruch aus zugunsten lich als Rechtfertigungsgrund für Grundrechtsein- der Partei sprechenden verfassungsrechtlichen Grün- griffe herangezogen werden, die durch die Kraft den einer Einschränkung bedarf, mit knappen Erwä- Art. 21 Abs. 5 GG geschaffenen §§ 23 ff. PartG platz- gungen das Transparenzgebot als Argument für ei- greifen46. Der Individualzugang zu Rechenschaftsin- nen umfassenden, inhaltlich nicht eingeschränkten terna nach dem Informationsfreiheitsgesetz findet in- Informationszugang für den Kläger heranzieht, er- des auf anderer, nicht öffentlicher Ebene statt und ist schließt sich nicht ohne Weiteres. insbesondere nicht in einen einfach-rechtlichen Rah- men gegossen, wie dies bei den §§ 23 ff. PartG der b) Bejahung des Auskunftsanspruchs dem Grun- Fall ist. Mit anderen Worten: Wenn das Parteien- de nach ohne nähere verfassungsrechtliche Ein- recht etwa mit § 24 Abs. 6 Nr. 2 lit. B. III. und IV. ordnung des Rechenschaftsrechts PartG regelt, dass die Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten und sonstigen Darlehensgebern – ei- Diese nicht vollkommen konsistente argumentative nen aus der Mittelherkunfts- beziehungsweise Ver- Anwendung von Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG zeitigt wei- mögensperspektive hoch sensiblen Bereich – jeweils tere Folgen. Das Gericht hat auf diese Weise eine

47 Ähnlich etwa Rixen, in: Kersten/Rixen, PartG, § 24 Rn. 99; 45 VG Berlin, Urteil v. 26.1.2017, 2 K 69.16, juris, Rn. 26 ff. Krumbholz, Finanzierung und Rechnungslegung der politi- 46 Siehe etwa für Eingriffe in das Recht auf informationelle schen Parteien und deren Umfeld, 2010, S. 266 f.; Streinz, in: Selbstbestimmung Streinz, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Bd. II, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Rn. 206 m.w.N. Rn. 206.

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– angezeigte – vertiefte Auseinandersetzung mit der zogenen Verifikationsunterlagen werde das Recht Frage vermieden, ob Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG und die der Parteien auf informationelle Selbstbestimmung davon ab- und damit zusammenhängenden verfas- berührt, ist nicht von der Hand zu weisen. Gleiches sungsrechtlichen Grundentscheidungen abseits von gilt für die informationelle Selbstbestimmung derje- der Frage eines identischen Regelungsgehaltes im nigen Personen, die mit den Parteien dergestalt in Sinne von § 1 Abs. 3 IFG eine Einschränkung des Verbindung getreten sind, dass ihre Daten in Rech- Informationszugangs gefordert hätten. nungslegungsunterlagen enthalten sind. Jedoch wird man sagen können, dass das IFG seinerseits mit den Hierzu bedarf es zunächst einmal der Feststellung, in den §§ 3 ff. IFG vorgesehenen Ausnahmetatbe- dass es „Abgeordnetenwatch“ sicherlich nicht darauf ständen einen Ausgleich zwischen den hier wider- ankam, die Prüftätigkeit des Bundestagspräsidenten streitenden Interessen gesucht und gefunden hat50. näher zu untersuchen, sondern vielmehr auf eine Ge- winnung von Rechnungslegungsdaten der großen Die Chancengleichheit der politischen Parteien kann Parteien über die nach dem Rechenschaftssystem des durch einen globalen und voraussetzungslosen Zu- PartG verfügbaren Informationen hinaus48. Anders gang zu Rechenschaftsinformationen beim Bundes- ist die Reaktion eines Mitarbeiters der Organisation tagspräsidenten aber durchaus berührt sein. auf den Urteilsspruch, das Urteil werde „zur Infor- Bemerkenswert ist insoweit bereits, dass der Kläger mation der Öffentlichkeit über wirtschaftliche Ver- nur die rechenschaftsbezogenen Unterlagen der gro- flechtungen und Abhängigkeiten der Parteien beitra- ßen deutschen Parteien einsehen wollte. Wenn – wo- gen“49, nicht zu deuten. für einiges spricht – wegen des Interesses (auch ande- Zwar mögen die §§ 23 ff. PartG als Ausprägungen des rer Antragsteller) an der Rechnungslegung der großen verfassungsrechtlichen Transparenzgebots auf den deutschen Parteien insbesondere diese mittelbar von ersten Blick eine andere Teleologie aufweisen als einer Informationspreisgabe betroffen werden, so hat der Informationszugang nach dem Informationsfrei- dies durchaus gleichheitsrechtliche Effekte. Die tat- heitsgesetz. Der Anwendungsbereich des IFG wird sächlich von der Gewährung eines solchen An- deshalb dem Grunde nach nicht durch diese Vor- spruchs zu erwartenden praktischen Folgen werden schriften gesperrt. Jedoch unterfüttert das Transpa- tendenziell bei den bedeutsamen Parteien eintreten. renzprinzip ebenso wie der Zugang nach dem Infor- Zwar hat hier ein als gemeinnützig anerkannter Ver- mationsfreiheitsgesetz maßgeblich das Demokratie- ein den Anspruch erstritten, der sich in der Vergan- prinzip. Der Gesetzgeber hat – in nicht pauschal, genheit in hohem Maße um eine Untersuchung und sondern allenfalls im Einzelfall zu beanstandender Transparenzsteigerung parlamentarischer Prozesse Art und Weise – in Ausfüllung des Regelungsauftra- verdient gemacht hat. Ein „Missbrauch“ der Daten ges aus Art. 21 Abs. 5 GG den für alle Bürger gel- steht also nicht zu befürchten. Jedoch könnte die tenden Rechenschaftsstandard festgelegt. Es mag Entscheidung, welche den – im Verfassungsgefüge zwar prima vista begrüßenswert sein, wenn ein Ein- des Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG durchaus relevanten – zelner die Kontrolle der Parteifinanzen über das für Kreis der Informationsempfänger nicht gewürdigt die Allgemeinheit vorgesehene Rechenschaftssystem hat, auch einer beliebigen Einzelperson oder gar ei- der §§ 23 ff. PartG hinaus in die eigene Hand nimmt. ner Konkurrenzpartei, die nur ihren „ärgsten Kontra- Jedoch geht damit eine Verschiebung der gesamten henten“ betreffende Verifikationsunterlagen anfor- soeben dargestellten verfassungsrechtlichen Einbet- dert, den Weg zum Zugangsanspruch geebnet haben. tung des Rechenschaftsrechts einher. Werden Rechenschaftsinterna auf bloßen Antrag hin Die Argumentation der Beklagten, durch einen unein- Privaten mitgeteilt, so haben diese Personen potenzi- geschränkten Informationszugang zu rechenschaftsbe- ell einen erheblichen und von Verfassungs wegen nicht intendierten Macht- und Kenntniszuwachs. 48 Ähnlich Schönberger, MIP 2017, 5, 10, die betont, dass das Entdeckt ein positiv nach dem IFG Beschiedener in Informationsfreiheitsgesetz der Verwaltungstransparenz die- den ihm zur Verfügung gestellten Unterlagen etwa nen soll und nicht zu einer Ausforschung des gesellschaftli- bei zwei Parteien einen gleichgelagert problemati- chen Bereichs geschaffen wurde. schen Sachverhalt, so steht es ihm frei, die entspre- 49 Interviewinhalt mit dem Spiegel, wiedergegeben auf Legal Tribune Online vom 8.2.2017, VG Berlin bejaht Auskunftsan- chenden Informationen nur in Bezug auf die ihm spruch – Bundestag muss Unterlagen zu Parteispenden her- nicht genehme Partei an die Öffentlichkeit zu brin- ausgeben, im Internet abrufbar unter https://www.lto.de/recht/ gen. Ist es verfassungsrechtlich zulässig, die Publi- nachrichten/n/vg-berlin-2-k-292-16-bundestag-auskunft-partei enfinanzierung-abgeordnetenwatch/, zuletzt abgerufen am 50 Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, Vor § 1 Rn. 86, Vor § 3 Rn. 2 f. 1.9.2017. m.w.N.

86 MIP 2018 24. Jhrg. Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] Aufsätze kationsentscheidungen, die der Gesetzgeber zur Aus- zeitigen kann, zu einer Einschränkung des Zugangs- füllung des Transparenzgebots mit § 23 Abs. 2 S. 3, anspruchs hätten führen müssen, soll an dieser Stelle Abs. 4 S. 3, § 23a Abs. 6, § 25 Abs. 3 S. 3 PartG ge- nicht entschieden werden. Es soll nur festgehalten troffen hat, über den dort vorgesehenen Rahmen hin- werden, dass das Gericht über die multipolaren ver- aus in das Ermessen Privater zu legen? fassungsrechtlichen Implikationen einer solchen Zu- gangsgewährung in einer nicht zustimmungswürdi- Aus derartigen Perspektiven heraus ergeben sich gen Art und Weise hinweggegangen ist. Indem es neue Möglichkeiten zur Störung eines reibungslosen sich einseitig auf eine Untersuchung der Sperrwir- und gleichheitsgerechten Funktionierens der politi- kung der §§ 23 ff. PartG für den Zugangsanspruch schen Willensbildung, wie sie der verfassungsrecht- fokussiert hat und die seitens der Beklagten ange- lichen Konzeption zugrunde liegt: Was passiert, deuteten verfassungsrechtlichen Aspekte einer Zu- wenn sich der private Informationsinhaber gar nicht gangsgewährung unter Berufung auf einen vermeint- an die Öffentlichkeit wendet, sondern lieber entstan- lich rechtfertigenden Charakter des Art. 21 Abs. 1 dene Druckpotenziale zulasten der betroffenen Partei S. 4 GG als unbeachtlich verworfen hat, hat es wo- nutzt, um eigenen politischen Interessen Nachdruck möglich anspruchslimitierende Faktoren vollkom- zu verleihen? men außen vor gelassen. Solche wären auch trotz des Die soeben angesprochene Gleichheitsproblematik wiederholt hervorgehobenen abschließenden und betrifft zwar die Parteien, aber ebenso die Bürger analogiefeindlichen Charakters von Ausnahmetatbe- selbst in ihrem Recht auf gleiche Teilhabe an der po- ständen52 des IFG zu erwägen gewesen. Denn es litischen Willensbildung. Es ist kaum zu erwarten, wäre möglich, dass in diesem Fall tatsächlich einmal dass die Mehrheit der Berechtigten einen Antrag ein anspruchslimitierendes verfassungsrechtliches nach § 1 Abs. 1 S. 1 IFG bei der Bundestagsverwal- Korrektiv für den Zugangsanspruch ähnlich dem so- tung stellt. Die dort zu erlangenden Informationen genannten Kernbereich der exekutiven Eigenverant- dürften inhaltlich nur von einem kleinen Kreis von wortung53 hätte platzgreifen können. Bürgern zu erschließen sein – es handelt sich um Rechnungslegungsinterna. Das mit der Veröffentli- 3. Auswirkungen der Entscheidung für die Rech- chung der Rechenschaftsberichte als Bundestags- nungslegungs- und Verifikationspraxis drucksachen verfolgte Anliegen, zumindest potenzi- Die Entscheidung kann auch abseits der soeben ge- ell jedem Bürger gleichen, gleich verständlichen und nannten verfassungsrechtlich relevanten Verschie- gleichzeitigen Zugang zu den Rechenschaftsberich- bungen Wirkungen für die Praxis der Rechnungsle- ten der Parteien zuteilwerden zu lassen, wird so in gung und des Verifikationsmechanismus zeitigen. eine faktische Schieflage gebracht. Derjenige, der möchte und dazu fachlich in der Lage ist, kann sich a) Auswirkungen auf Rücksprachen im Rahmen einen Wissensvorsprung gegenüber den anderen ho- der laufenden Rechnungslegung len, ganz abhängig davon, was er gerade bei der Die Bundestagsverwaltung hat ausweislich des Tat- Bundestagsverwaltung anfragt und was dort gerade bestands der Entscheidung in der Begründung des abgeprüft wird. Nun kann man argumentieren, dass Widerspruchsbescheids hervorgehoben, dass sie ein Antrag nach § 1 Abs. 1 IFG von Jedermann ge- nicht nur eine Prüf-, sondern auch eine Beratungs- stellt werden kann, also kein unbehebbarer, verfas- funktion gegenüber den politischen Parteien inneha- sungsrechtlich relevanter Wissensvorsprung eintritt. be54. Die Parteien sollten im Rahmen ihrer Rech- Jedoch ist zu beachten, dass sich insbesondere die nungslegungsverpflichtung die Bundestagsverwal- streng zu handhabenden politischen Gleichheitssätze tung jederzeit zum Umfang ihrer Verpflichtungen an den faktischen Gegebenheiten und praktischen um Rat fragen können, ohne befürchten zu müssen, Auswirkungen einer Regelung orientieren und gera- dass entsprechender Schriftverkehr Dritten zugäng- 51 de nicht an den formal-rechtlichen Möglichkeiten . lich gemacht werde. Zumindest eine Erwägung dieser Umstände hätte das Verwaltungsgericht anstellen können. 52 BT-Drs. 15/4493, S. 9; OVG NRW, Urteil v. 17.5.2006, 8 A 1642/05, NWVBl. 2006, 292 (295); siehe auch Schoch, IFG, Ob die hier nur ansatzweise aufgezeigten verfas- 2. Aufl. 2016, Vor §§ 3-6 Rn. 16 ff.; Scherzberg/Solka, in: sungsrechtlichen Wechselwirkungen, die eine vor- Fluck/Fischer/Martini, IFG, Bd. I, § 3 IFG Rn. 57 ff. m.w.N. aussetzungslose und thematisch uneingeschränkte 53 Siehe hierzu BT-Drs. 14/4493, S. 12; BVerwG, Urteil v. Zugangsgewährung nach § 1 Abs. 1 S. 1 IFG zu den 3.11.2011, 7 C 3/11, BVerwGE 141, 122 (131 ff.); Urteil v. 3.11.2011, 7 C 4/11, NVwZ 2012, 251, 253; siehe auch Verifikationsunterlagen der Bundestagsverwaltung Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, Vor §§ 3-6 Rn. 27 f. m.w.N. 51 BVerfGE 8, 51 (63 f.). 54 VG Berlin, Urteil v. 26.1.2017, 2 K 69.16, juris, Rn. 5.

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Damit ist ein für das System der Rechenschaft der Bundestagsverwaltung gestört. Es ist zu befürchten, politischen Parteien essentieller, wenn auch in seinen dass die Parteien zukünftig weniger häufig von der konkreten Ausprägungen nicht ausdrücklich gesetz- Möglichkeit zur Stellung informeller Anfragen Ge- lich geregelter Vereinheitlichungs- und Evolutions- brauch machen oder jedenfalls im Vorfeld einer sol- mechanismus angesprochen55. Die informelle Rück- chen Anfrage die Chancen und Risiken eines sol- kopplung zwischen den Parteien und dem Präsiden- chen Vorgehens gezielt abwägen werden57. Damit ten des Deutschen Bundestags etwa über Fragen der könnte eine Herabsetzung sämtlicher genannter Verbuchung von Geschäftsvorfällen unter die im Funktionen der informellen Stellungnahmen zur Einzelfall schwierig abzugrenzenden Positionen von Rechnungslegung einhergehen: Die Rechtsanwen- Ergebnisrechnung und Vermögensbilanz hat mehre- dungssicherheit kann geschmälert werden, die ein- re Wirkungen: Zum einen schafft sie Sicherheit für heitliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte die anfragende Partei – wenn der Bundestagspräsi- kann abnehmen, schnelle und einheitliche Reaktio- dent eine bestimmte bilanzielle Behandlung vor- nen auf neue Entwicklungen in der Gesellschaft schlägt, wird er nicht im Nachhinein von deren Un- (Rechtsevolution durch exekutives Handeln) können richtigkeit ausgehen. Zum anderen dient dieses in- erschwert werden und der Kenntnishorizont der formelle System der Vergleichbarkeit der Rechen- Bundestagsverwaltung von laufenden Vorgängen schaft: Wenn zwei Parteien einen ähnlichen Sach- kann abnehmen. verhalt vortragen und um Rat zu dessen Verbuchung ersuchen, wird es zumeist nicht zwei unterschiedliche b) Auswirkungen auf die Kontrolle durch den Antworten geben. Damit verbunden ist eine gewisse Bundesrechnungshof Evolution des Rechnungslegungsrechts der Parteien Auch auf das mehrstufig angelegte Sicherungssystem ohne gesetzgeberisches Handeln. Ähnlich wie das staatlicher Kontrolle des Rechenschaftsrechts könnte Bundesfinanzministerium in den sogenannten „BMF- die Entscheidung negative Auswirkungen haben. Schreiben“ die stets fortschreitenden Erkenntnisse, die aus der „Reibung“ des Steuerpflichtigen an der Nach § 21 Abs. 2 PartG prüft der Bundesrechnungs- Verwaltung entstehen, festschreibt und für die hof, ob der Präsident des Deutschen Bundestages als Rechtsanwender damit faktische Rechtssicherheit mittelverwaltende Stelle die staatlichen Mittel ent- und Vereinheitlichung schafft, kann die Bundestags- sprechend den Vorschriften zur Parteienfinanzierung verwaltung auf wiederholte Anfragen zu demselben festgesetzt und ausgezahlt hat, sowie die ordnungs- Problemkreis reagieren und im Rahmen der Berichte gemäße Durchführung des Verifikationsverfahrens nach § 23 Abs. 4 PartG vereinheitlichend Stellung nach § 23a PartG. dazu beziehen56. Damit können derartige Fragen zu- Da wegen der jederzeitigen Möglichkeit zur Infor- künftig einheitlich und gestaltungsarm bei allen Par- mationserlangung durch Private die schriftliche Do- teien behandelt werden, was in erheblichem Maße kumentation von Prüftätigkeiten abnehmen könnte, der Rechenschaftstransparenz dient. Schließlich er- könnte dem Bundesrechnungshof eine effektive Prü- langt der Präsident des Deutschen Bundestages über fung der Tätigkeiten des Präsidenten des Deutschen derartige Anfragen erst Kenntnis von sich mögli- Bundestages über die Prüfung von Rechenschaftsbe- cherweise stellenden Problem- und Prüffeldern, die richten – auch durch Einsichtnahme in bisher nicht eine erhöhte Aufmerksamkeit verdienen. dem Zugang durch Private ausgesetzte Unterlagen – Der Tenor der hier vorgestellten Entscheidung ist erschwert werden. derart weit gefasst, dass auch schriftliche Niederle- IV. Ergebnis und Ausblick gungen über den Inhalt und die Ergebnisse dieser in- formellen Rücksprachen offenzulegen sind. Damit Betrachtet man die verfassungsrechtlichen und ver- wird die – auch und insbesondere eine Vereinheitli- waltungspraktischen Wechselwirkungen, welche die chung der Rechenschaft erzeugende – Tätigkeit der Zuerkennung eines umfassenden Anspruchs auf Ein- sicht in Prüfungsunterlagen der Bundesverwaltung 55 BT-Drs. 18/10710, S. 14: „Die mittelverwaltende Behörde ist durch das Verwaltungsgericht Berlin hat, so fragt zur Hilfestellung im Hinblick auf das Verständnis der gesetz- sich, ob das Telos des Informationsfreiheitsgesetzes, lichen Anforderungen und Darstellungsfragen befugt und im Rahmen ihrer Kapazitäten auch gerne bereit. Selbstverständ- eine effektive Kontrolle der Tätigkeit der Verwal- lich ist eine Rechtsberatung im engeren Sinne schon aus tung für den Bürger zu ermöglichen, wirklich so Gleichbehandlungsgründen ausgeschlossen.“. zwanglos für den eingeschlagenen Weg streitet. 56 Siehe zuletzt etwa BT-Drs. 18/10710, wo zu einer Vielzahl von Rechtsfragen zur Rechnungslegung in vereinheitlichender Art und Weise Stellung bezogen wird. 57 Ähnlich Schönberger, MIP 2017, 5, 11.

88 MIP 2018 24. Jhrg. Lehmann – Transparenz durch die Hintertür? [...] Aufsätze

Durch die Zuerkennung des Auskunftsanspruchs in Es könnte sein, dass der Gesetzgeber auf die Ent- einer umfassenden Art und Weise droht eine Ver- scheidung mit der Aufnahme eines Ausschlusstatbe- schiebung des verfassungsrechtlichen Konzepts der stands in das Informationsfreiheitsgesetz oder mit ei- parteilichen Rechenschaft einzutreten. Es kann die ner Ausweitung von § 23a Abs. 7 PartG reagiert. Hoffnung geäußert werden, dass sich das Recht der Derartige Reaktionen ließen die zum Teil weiterhin Rechenschaft politischer Parteien nicht über den bestehenden Transparenzdefizite des PartG zugunsten Weg des Informationsfreiheitsgesetzes auf gewisse einer vermeintlich „schnellen Lösung“ unbehoben. Weise zugunsten des Wissensvorsprungs einiger Weniger entwickelt. Offenbar hat die Bundestagsverwaltung Berufung gegen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ein- gelegt58. Es kann die Hoffnung geäußert werden, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin-Branden- burg das Verhältnis zwischen Parteienbilanz- und In- formationsfreiheitsrecht einer vertieften Überprü- fung unterziehen wird. Maßgebliche verfassungs- rechtliche Fragen sind bisher ebenso unbeantwortet geblieben, wie auch einfachrechtliche Möglichkeiten – etwa eine Subsumtion der Prüftätigkeit unter den Tatbestand „Kontrollaufgabe einer Finanzbehörde“ in § 3 Nr. 1 lit. d) IFG59 – für einen sachgerechten Interessenausgleich noch nicht beleuchtet worden sind. Auf dem von „Abgeordnetenwatch“ beschrittenen Wege lassen sich möglicherweise kurzfristige Ein- blicke in nicht von den parteiengesetzlichen Vor- schriften erfasste Bereiche des parteilichen Finanz- gebarens gewinnen. Die verfassungsrechtlich in eini- gen Bereichen angezeigte Verbesserung des Rechen- schaftssystems wird auf diesem Wege jedoch nicht zu erreichen sein. Allein eine aufgrund punktueller verfassungsrechtlicher Transparenzdefizite vorzu- nehmende Reform der §§ 23 ff. PartG kann diesem Anspruch gerecht werden60. Zu erreichen ist dieses Ziel nur durch ein eigeninitiatives Tätigwerden des Gesetzgebers oder durch ein Beschreiten des Klage- weges unter Beanstandung der für verfassungsrecht- lich unzureichend gehaltenen Rechenschaftsvor- schriften des Parteiengesetzes61.

58 Auf https://www.abgeordnetenwatch.de/blog/2017-02-08/ur teil-bundestag-muss-abgeordnetenwatchde-interne-dokumente -zu-parteispenden, zuletzt abgerufen am 8.3.2018, wird mitge- teilt, dass die mündliche Berufungsverhandlung am 26.4.2018 um 9 Uhr stattfindet. Auf juris.de ist ein Zusatz über die Ein- legung des Rechtsmittels bisher nicht zu finden. 59 Siehe zu diesem Tatbestand Scherzberg/Solka, in: Fluck/Fischer/ Martini, IFG, Bd. I, § 3 IFG Rn. 92. Sowohl Wortsinn als auch Telos dieser Ausnahmevorschrift legen eine Gleichstel- lung der Prüftätigkeit des Präsidenten des Deutschen Bundes- tages mit derjenigen der Finanzbehörden nahe. 60 Ebenso Schönberger, MIP 2017, 5, 13 f. 61 Siehe für materiell-rechtliche und prozessuale Aspekte Morlok/ Lehmann, NVwZ 2015, 470, 473.

89 Aufsätze Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Motive des Pegida-Protests: Verbreitung, Die Kundgebung am 12.01.2015 nimmt in der Ge- Struktur und Entwicklung unter dem Ein- schichte des Pegida-Protests eine Sonderstellung ein. fluss der „Flüchtlingskrise“ Nicht nur, dass mehrere Forschungsteams aktiv wa- ren, entscheidender ist an dieser Stelle: keine andere

1 Pegida-Kundgebung hat jemals wieder so viele Men- Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband schen vereint. Und die Entwicklung der Flüchtlings- und Asylbewerberzahlen hatte zu dieser Zeit ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Zwar hatte es Steige- 1. Die Dynamik des Pegida Protests rungen gegeben, und weitere wurden – auch in Dres- Pegida entstand aus einer nicht öffentlich sichtbaren den – erwartet.5 Doch die Schätzungen der Zuwande- Facebook-Gruppe am 11.10.2014. Dem ersten öffent- rungszahlen hielten sich noch auf einem relativ mode- lichen Aufruf zu Demonstrationen in der Dresdner raten Niveau. Noch Anfang des Jahres 2015 erwartete Innenstadt folgten am 22.10.2014 ca. 300-350 Perso- man bundesweit nicht mehr als 300.000 Flüchtlinge nen. Von dann an stieg die Zahl von Woche zu Wo- und Asylbewerber (immerhin ein Plus von 50 % ge- che geradezu explosionsartig an und erreichte am genüber dem Vorjahr). Bereits im März wurden die 12.01.2015 mit ca. 17.000 bis 25.000 Teilnehmern Schätzungen jedoch auf mehr als das Doppelte des ihren Höhepunkt.2 Wenig später setzten auch erste vorherigen Jahres – auf 500.000 – aufgestockt.6 Und systematische Forschungsbemühungen ein. Bereits wenig später wurde es allgemein offenbar, dass es am 22.12.2014 und am 05.01.2015 kam es unter der auch bei dieser Zahl nicht bleiben wird. Leitung von Hans Vorländer zu Pilot-Befragungen, Dass sich die Zahl gegen Ende des Jahres gar auf die Haupterhebung folgte kurz danach am rund eine Million belaufen würde, war zum Zeit- 3 12.01.2015 (vgl. Vorländer et al. 2015, 2016). punkt der Erhebungen, die von Hans Vorländer und Am gleichen Tag führten ebenfalls ein Team unter den anderen Teams durchgeführt wurden, jedenfalls der Leitung von Dieter Rucht (Rucht et al. 2015) so- nicht vorhersehbar, und es war auch kein Thema der wie ein Team des Göttinger Instituts für Demokratie- öffentlichen Diskussion. Die Menschenschlangen an forschung (Geiges et al. 2015) Befragungen unter den Grenzen waren nicht Bestandteil der täglichen den Teilnehmern durch. Wenig später kam Werner Bilder in den Medien wie wenige Monate später in Patzelt mit Erhebungen (die später Bestandteil einer der zweiten Hälfte des Jahres. Und entsprechend umfassenden Befragungsserie wurden) hinzu (vgl. hielt sich in der Bevölkerung das Ausmaß der Beun- Patzelt 2016). Die von den unterschiedlichen Teams ruhigung, auch wenn es zwischenzeitlich gestiegen eingesetzten Samplingstrategien und Befragungsver- war, in Grenzen (vgl. Reuband 2017: 113). fahren variieren. Mündliche face-to-face-Befragun- Nachdem die Pegida-Kundgebungen nach einem ra- gen mit standardisierten Fragen gehören ebenso dazu santen Anstieg am 12.01.2015 ihren Höhepunkt er- wie Online-Erhebungen und Gruppendiskussionen reicht hatten, folgte – von vielen Beobachtern uner- (vgl. die Übersicht in Reuband 2015). Eine offene wartet – ein Absturz. Die Zahl der Teilnehmer sank Frage zu den subjektiven, von den Befragten verbali- auf weniger als 2.000 Personen – aufgrund interner sierten Beweggründen der Teilnahme stellte im Rah- Querelen in der Organisation, dem (vorübergehen- men einer (ansonsten mit standardisierten Fragen den) Rücktritt von Lutz Bachmann als Organisator 4 durchgeführten) Befragung lediglich Vorländer. und aus anderen Gründen. Und eine Zeitlang schien es, als wäre das Ende von Pegida damit besiegelt. 1 Der Autor ist Professor für Soziologie (em.), Institut für Sozial- Doch diese Phase hielt nicht lange an. Wenig später wissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. setzte ein neuer Aufschwung ein (vgl. Berger et al. 2 Divergierende Schätzungen seitens der Polizei und Dieter Rucht. In der Folgezeit hat die Gruppe „Durchgezählt“ regelmäßig sys- 2016: 120f.), als Folge – so wird weithin vermutet – tematische Zählungen unternommen (vgl. Berger et al. 2016). Diese sind bei Pegida inzwischen jedoch eingestellt worden. dessen Repräsentanz bezogen auf die Gesamtheit der Teilneh- 3 Aufgrund der Vorläufer-Erhebungen des Vorländer-Teams mer unbekannt ist. kann man deren Untersuchung mit gewissem Recht als erste 5 Dies hatte auch die Stadt Dresden nicht unberührt gelassen. Untersuchung zu Pegida bezeichnen (es war zudem auch die So hatte sie im Juni 2014 damit begonnen, sich auf steigende erste, die über Ergebnisse in der Öffentlichkeit berichtete). Flüchtlingszahlen vorzubereiten und einen Budget-Mehrbe- 4 Die Göttinger Studie (Geiges et al. 2015) bietet ergänzende, darf von 7,5 Millionen für die Einrichtung neuer Asylunter- qualitativ ausgerichtete Befunde aus Gruppendiskussionen. künfte geltend gemacht (Vorländer et al. 2016: 6) Die Angaben können in diesem Fall jedoch nicht auf die Be- 6 https://www.welt.de/politik/deutschland/article138655241/La fragten der quantitativ ausgerichteten Online-Befragung bezo- ender-rechnen-mit-bis-zu-500-000-Asylbewerbern.html, Zu- gen werden. Es handelt sich um ein eigenständiges Sample, griff 28.03.2018

90 MIP 2018 24. Jhrg. Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] Aufsätze der „Flüchtlingskrise“, die zwischenzeitlich massiv Erst relativ spät, gegen Ende des Jahres 2015/Beginn eingesetzt hatte und die Flüchtlings- und Asylbewer- des Jahres 2016 scheint sich (einer Erhebung vom berzahlen schnell ansteigen ließ. April 2016 zufolge)8 schließlich verstärkt eine Ak- zentverlagerung in den Orientierungen der Teilneh- Die „Flüchtlingskrise“ „rettete“ Pegida, wie nicht mer vollzogen zu haben: auf einen härteren Kern wenige Kommentatoren meinen. Und Kundgebun- von Personen hin, die politisch weiter rechts ange- gen mit bekannten Rednern trugen das Ihrige dazu siedelt sind und gegenüber dem Islam eine negative bei, machten die Pegida-Veranstaltungen zu einem bis feindliche Haltung einnehmen (Reuband 2017: „Event“, das wieder größere Teilnehmerkreise anzog. 117ff.). Inwieweit diese Entwicklung als eine Folge Im Oktober 2015 – anlässlich des Jahresjubiläums – der Schrumpfung auf kleinere Teilnehmerzahlen an- waren es fast wieder so viele Menschen wie am zusehen ist oder aus einer inhärenten Dynamik des 12.01.2015. Doch dies blieb ein singuläres Ereignis. Protests erwächst, ist eine offene Frage. Womöglich Die bei dieser Veranstaltung erzielten Teilnehmer- üben beide Faktoren einen Einfluss aus. zahlen wurden in der Folgezeit nicht mehr erreicht. Sie pendelten sich auf ein Niveau zwischen 4.000 Mag auch in der sozialen Zusammensetzung und der und 8.000 Personen ein und sanken in dem Maße Rekrutierung im Verlauf des Jahres 2015 zunächst wie sich die Flüchtlingssituation zu entspannen schien die Kontinuität überwiegen, so kann sich doch die – gegen Ende des Jahres 2015/Beginn des Jahres Motivlage im Lauf der Zeit geändert haben. Zur Mo- 2016 – schließlich auf 2.000 bis 3.000 Personen tivlage der Befragten – hier verstanden als subjekti- (vgl. Berger et al. 2016: 121, Reuband 2017: 115). ve Gründe für die Teilnahme an den Pegida-Kundge- bungen – gibt es freilich kaum empirische Befunde. Heutzutage sind es weit weniger Menschen, die sich Einzig Hans Vorländer ging der Thematik mittels ei- noch zu den Kundgebungen in Dresden einfinden. ner offenen Frage nach. Auf diese Frage hin gaben Eine systematische Zählung, wie sie eine Zeitlang (im Rahmen von Mehrfachnennungen) 71 % Unzu- von der Gruppe „Durchgezählt“ durchgeführt wurde, friedenheit mit der Politik als wichtigen Grund an, gibt es leider nicht mehr. Von einem erneuten 35 % Kritik an den Medien bzw. der Öffentlichkeit Wachstum ist nichts zu erkennen. Gleichwohl: Kei- und 31 % Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und ne andere Bewegung hat es vermocht, in der Bun- Asylbewerbern. Vorbehalte speziell gegenüber Mus- desrepublik eine derartige Dauerinstitutionalisierung limen oder dem Islam nannten in diesem Zusammen- des Protests – nahezu jeden Montag in der Woche – hang gerade mal 15 % der Befragten (vgl. Vorländer zu etablieren. Und dies über einen Zeitraum von et al 2015: 59, 69, Vorländer et al. 2016: 67). Der mehr als drei Jahren. Aus dieser Sicht nimmt Pegida Wert steigt zwar leicht an, wenn man die vielschich- unter den Protestbewegungen der Nachkriegszeit in tigen Nennungen zusammenführt, gelangt aber über Deutschland eine Sonderstellung ein. einen Anteil von rund einem Viertel nicht hinaus 2. Änderungen in der sozialen Zusammensetzung (Vorländer et al. 2016: 67). und der Motivation? Daraus wurde gefolgert, dass nicht der Islam oder eine mutmaßliche Islamisierung des Abendlandes, Die Analysen der Pegida-Dynamik gingen bisher der sondern eine in „verschiedenartiger Weise artikulier- Frage nach der sozialen Zusammensetzung der Teil- te Unzufriedenheit mit der Politik“ das Hauptmotiv nehmer und ihren sozialen und politischen Orientie- für die Teilnahme an Pegida Demonstrationen bildet rungen nach. Sie dokumentieren – mit Ausnahme 7 (Vorländer et al. 2016: 66). Vor allem aufgrund der des Alters – eine weitgehende Konstanz in der Zu- vermeintlichen Irrelevanz des Islams kamen in der sammensetzung und den Orientierungen im Verlauf öffentlichen Diskussion schnell Zweifel an der Aus- des Jahres 2015. Danach sind Männer und höher Ge- sagekraft der Untersuchung auf, standen die Ergeb- bildete überproportional vertreten. In ihrem Selbst- nisse doch so sehr im Gegensatz zum selbstprokla- verständnis stehen die Befragten politisch mehrheit- mierten Selbstverständnis von Pegida als Bewegung lich in der Mitte bis rechts, mit starker Affinität zur gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ und den AfD. Sie weisen mehrheitlich ein rechtspopulisti- Reden, die auf den Versammlungen häufig zu hören sches, aber kein rechtsextremes Einstellungsprofil waren. auf. Die Mehrheit wählte früher die CDU und ver- steht sich als Anhänger der Demokratie (Patzelt Doch in der kritischen Diskussion über die Ergebnis- 2016, 2018, Reuband 2016a, 2017, 2018). se der Untersuchung wurden zwei Dinge allzu oft übersehen (z.T. mitbegünstigt durch die Akzentset- 7 Das Durchschnittsalter der Teilnehmer scheint längerfristig angestiegen zu sein, vgl. Reuband (2016a: 56) 8 Es ist die letzte in der Serie der bisherigen Pegida-Erhebungen.

91 Aufsätze Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] MIP 2018 24. Jhrg. zung der Autoren, welche die Politikverdrossenheit Fragen und Statements die Einstellungen zum Islam, als Motiv zu sehr betonten): zur Zuwanderung und zur Politik.11 Dadurch sind wir in der Lage, über die selbstverbalisierten Motive (1) In die Antworten auf die Frage nach den wichtigs- hinauszugehen und sie zugleich mit dem Einstel- ten Gründen der Teilnahme gehen primär die Motive lungsprofil der Befragten in Beziehung zu setzen. ein, denen die Befragten eine hohe Priorität einräu- men. Wer den Islam nicht nennt, kann ihn sehr wohl Drei Fragestellungen stehen im Vordergrund der fol- als Problem wahrnehmen. Er gewichtet ihn nur nicht genden Diskussion: so hoch. Oder er mag ihn in abstrahierender Weise zu (1) Welche Motive werden von den Befragten für einem Problem der Asylpolitik oder der Zuwanderung ihre Teilnahme genannt? Und wie sehr haben sich erklären und entsprechend globaler umschreiben. Wie diese verändert? Wurden im Gefolge der Flücht- sehr der Islam oder die Zuwanderung als Problem lingskrise des Jahres 2015 zunehmend Vorbehalte wahrgenommen wird, kann nur mittels weiterer, ver- gegenüber Flüchtlingen und der Asylpolitik vorge- tiefender Fragen ermittelt werden. Auf solche Fragen bracht, und trat die Unzufriedenheit mit der Politik musste Vorländer jedoch aufgrund der Gegebenhei- als Motiv dadurch in den Hintergrund? War die häu- ten seiner Erhebung (Kurzinterviews im Rahmen fige Nennung politischer Unzufriedenheit in der von face-to-face-Befragungen) verzichten. Vorländer-Untersuchung also ein Sonderfall, der den (2) Vorländers Untersuchung weist beträchtlich mehr Zeitumständen geschuldet ist? migrationsbezogene Kritik auf Seiten der Befragten (2) Wie sehr spiegeln sich in den Antworten der Be- aus, als es zunächst den Eindruck hat: nämlich dann, fragten ihre Einstellungen zur Politik, zur Zuwande- wenn man die Kritik an der Asyl- und Integrations- rung und zum Islam wider? Sind diejenigen, die den politik nicht als Ausdruck von Politikunzufriedenheit Islam als Grund ihrer Pegida-Teilnahme nicht er- versteht und darunter subsumiert, sondern ebenfalls wähnen, ihm weniger kritisch gegenüber eingestellt als migrationsbezogene Kritik begreift. Unter diesen als diejenigen, die ihn nennen? Und wie verhält es Umständen – so wurde bereits anlässlich der Veröf- sich mit denen, die allein die Zuwanderung oder den fentlichung angemerkt (Reuband 2015: 142) – sind Islam, aber nicht die Unzufriedenheit mit der Politik die Werte mit Migrationsbezug erheblich höher an- als Beweggrund ihres Protestes bezeichnen? Sind sie zusetzen. Dies gilt womöglich auch für die Islamkri- politisch zufriedener als die übrigen Befragten? tik: sofern die Befragten die Flüchtlinge und Asylbe- werber in der damaligen Zeit – vor dem eigentlichen (3) Wie groß ist der Einfluss der selbstverbalisierten Anschwellen der Flüchtlingswelle – primär als Mus- Motive und der durch Fragen und Statements erfass- lime wahrnahmen. Ob dies der Fall war oder in die- ten Einstellungen auf die Bewertung der Parteien? ser Phase eher an Migranten aus Osteuropa gedacht Sind es die selbstverbalisierten Motive oder die mit- wurde, die seinerzeit noch einen nennenswerten Teil tels standardisierter Fragen erhobenen Einstellun- der Asylbewerber bildeten, sei dahingestellt. gen, die den größeren Einfluss entfalten, oder sind beide gleichermaßen bedeutsam? Im Folgenden soll auf der Basis eigener Erhebungen, die am 14.12.2015 und am 06.02.2016 unter Teil- 3. Methodisches Vorgehen nehmern des Pegida-Protestes in Dresden durchge- führt wurden9, der Frage nach den Protestmotiven, Dass Menschen der von ihnen wahrgenommenen ihrer Struktur und ihrem Wandel nachgegangen wer- Realität gemäß handeln und sich dessen bewusst den. Dabei knüpfen wir an die Untersuchung von sind, gehört zum Selbstverständnis unterschiedlicher Hans Vorländer an und übernehmen weitgehend des- theoretischer Ansätze in den Sozialwissenschaften – sen Schema zur Klassifikation der selbstverbalisier- 10 ten Motive (vgl. Vorländer et al. 2015). Im Gegen- 11 Im Übrigen war es Vorländer und seinem Thema durchaus be- satz zu seiner Erhebung begnügen wir uns nicht mit wusst, dass mit der offenen Frage zu den Gründen der Teil- der offenen Frage nach den Gründen der Teilnahme, nahme nur ein erster Schritt getan ist und es für eine umfas- sondern erfassen zusätzlich mittels standardisierter sendere Erforschung der Einstellungen vor allem geschlosse- ner Fragebatterien bedarf (Vorländer et al. 2015: 57). Sich ei- nes derartigen Instrumentariums zu bedienen, wäre freilich 9 Die Untersuchung wurde dankenswerterweise finanziell ge- unter den gegebenen Erhebungsmodalitäten ihrer Studie – im fördert von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Rahmen einer face-to-face-Befragung vor Ort – praktisch un- Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. möglich gewesen. Schließlich wurden die Teilnehmer auf dem 10 Zugrundegelegt wurden die Kategorien, die in der Publikation Weg zur Veranstaltung kontaktiert. Diese waren bemüht, ausgewiesen sind, partiell ergänzt durch weitere von uns vor- schnell zum Veranstaltungsort zu kommen, längere Befragun- genommene Differenzierungen. gen hätten sie davon abgehalten.

92 MIP 2018 24. Jhrg. Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] Aufsätze vom symbolischen Interaktionismus12 bis zum Ratio- Untersuchungen, welche die selbstverbalisierten Mo- nal-Choice-Ansatz. Und es gehört auch zur Praxis tive in Umfragen auf ihren Realitätsbezug hin prüfen, der Politikforschung, so z.B. wenn in den Exit-Polls sind selten. Dass die Begründungen nicht völlig von nach den Gründen der Wahlentscheidung gefragt der Realität abgehoben sind, belegt – bei einem an- wird. Natürlich mag man einwenden, dass Beweg- deren Thema – ein Vergleich der Antworten auf die gründe mitunter eher unterschwellig und nicht be- offene Frage mit den Antworten auf Fragen zu den wusst einwirken (daran dürften auch die Vertreter Lebensbedingungen der Befragten. Danach bringen der oben genannten Ansätze nicht zweifeln). Ent- Klassikliebhaber, die im Rahmen einer schriftlichen scheidender ist hier, dass den obigen Konzeptionen Befragung nach den Gründen für ihren seltenen oder zufolge sich in Situationen der Entscheidung die ver- fehlenden Opernbesuch gefragt werden, am häufigs- schiedenen Einflüsse in einer Motivkonstellation ten das Argument „keine Zeit“ und „zu hohe bündeln und diese den Einzelnen in seinem Verhal- Kosten“ vor. Prüft man diese Begründungen anhand ten bewusst leitet. der in der Umfrage gemachten Angaben zu frei dis- ponibler Zeit und den Einkommensverhältnissen, Erfragt werden in Umfragen die Gründe üblicher- zeigt sich: Wer fehlende Zeit nennt, hat in der Tat weise mittels der Formulierung, warum man sich für überproportional wenig freie Zeit. Und wer die Kos- oder gegen etwas entschieden habe. Bei Sachverhal- ten als Hindernisgrund nennt, verfügt über ein gerin- ten, die neu sind und/oder über die man bislang we- geres Haushaltseinkommen als Personen, die dieses nig weiß – etwa bei sich neu formierenden Protest- Argument nicht vortragen (Reuband 2008: 25). bewegungen – ist für diese Zwecke methodisch eine offene Frage am geeignetsten: schließlich verfügt Im Fall unserer Thematik würde man analog erwar- man als Forscher noch nicht über hinreichendes ten, dass die selbstverbalisierten Motive mit den je- Wissen, um geschlossene Fragen mit ausdifferen- weiligen Einstellungen eng korrelieren. Je stärker je- zierten und realitätsgerechten Antwortoptionen vor- mand einem vorgegebenen Statement zustimmt, des- geben zu können.13 Je nach Komplexität des Sach- to eher müsste sich das Argument auf der Ebene der verhalts ist zwar – worauf Paul F. Lazarsfeld bereits verbalisierten Gründe wiederfinden. Wer den Islam früh hingewiesen hat (1935) – bei Fragen nach den als Bedrohung ansieht, müsste dies häufiger als Gründen ein abgestuftes Vorgehen mittels „reason Grund seiner Teilnahme am Pegida Protest nennen analysis“ angeraten, derzufolge die Entwicklung als als jemand, der dem Islam keine oder eine nur Abfolge einzelner, in sich abgeschlossener Phasen schwache Bedrohung zuschreibt. In ähnlicher Weise begriffen wird und diese zum eigenständigen Gegen- müssten sich die Verhältnisse im Fall politischer Un- stand der Analyse gemacht werden. Im Fall von Pe- zufriedenheit darstellen. gida sind die Verlaufsprozesse insgesamt jedoch we- Das Vorgehen der Vorländer-Untersuchung und un- niger komplex, weswegen die „einfache“ Frage nach serer Untersuchung ähnelt einander in der Auswahl den Gründen der Teilnahme sehr wohl eine sinnvolle der Befragten. Sie wurden jeweils vor Beginn der und praktikable Herangehensweise darstellt. 14 Kundgebung an den Zugängen zum Veranstaltungs- 12 Wenn Menschen eine Situation als real definieren, ist sie real ort unter systematischen Zufallsgesichtspunkten in ihren Konsequenzen, heißt es z.B. bei William I. Thomas kontaktiert. Während bei Vorländer die Befragung (1928/1965). Wählt man ein qualitatives Verfahren der Befra- nach der Kontaktaufnahme vor Ort mündlich face- gung – wie im symbolischen Interaktionismus nicht unüblich – beschränkt man sich gewöhnlich nicht auf die zuerst gegebe- to-face stattfand, wurde in unserem Fall den koope- nen Antworten, sondern fragt weiter. Je nach theoretischer Aus- rationsbereiten Teilnehmern ein Umschlag mit Fra- richtung geschieht dies ausführlicher oder weniger ausführlich, gebogen, Rücksendeumschlag und Anschreiben neigt man zu einem Tiefeninterview oder bevorzugt die narrative übergeben. Der Fragebogen war zu Hause zu beant- Erzählung. Ungeachtet dessen aber wird den verbalisierten Be- gründungen ein herausgehobener Stellenwert eingeräumt. worten und konnte portofrei zurückgesandt werden. 13 Zum Problem offener und geschlossener Fragen und den Stel- Die Ausschöpfungsquote der Vorländer-Untersuchung lenwert der Angaben bei offenen Fragen siehe Schuman betrug 36 % (Vorländer et al. 2016: 56) – ein Wert, (2011: 30-62). der in der Umfrageforschung heutzutage nicht als 14 Zu erfragen wären allenfalls neben den Push-Faktoren die atypisch gesehen werden kann und kein Zeichen für Pull-Faktoren, also: warum Pegida und nicht andere Strategi- en oder Bewegungen/Parteien? Im vorliegenden Fall werden, minderwertige Qualität ist (Reuband 2015: 135f.). wie Vorländers Untersuchung und auch unsere Untersuchung zeigt, vor allem die Push-Faktoren genannt. Klassische Studien, (1969) dar. Zur „Reason Analyse“ vgl. Kadushin (1968). die den Prinzipien der „Reason Analyse“ folgen, stellen die Un- Heutzutage werden Sequenzen von Verhaltensabläufen und tersuchungen von P.H. Rossi „Why families move“ (1955) so- Einstellungen eher über Panelstudien ermittelt, diese können wie von Charles Kadushin „Why people go to psychiatrists“ jedoch die „Reason Analyse“ nicht oder nur bedingt ersetzen.

93 Aufsätze Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Im Fall unserer Erhebung nahmen rund zwei Drittel Zeit als in einer mündlichen face-to-face-Befragung, der angesprochenen Personen den Fragebogen an, die im Freien und auf dem Weg zur Kundgebung und rund 40 % von ihnen sandten ihn ausgefüllt zu- stattfindet.18 rück. Auch dieser Wert ist höchst zufriedenstellend, Je mehr Zeit zur Verfügung steht, um Beweggründe er liegt höher als es bei Befragungen zu Protestver- zu benennen, desto größer dürfte die Zahl der Nen- anstaltungen üblich ist (vgl. Reuband 2016a: 54). nungen sein, und desto häufiger dürften auch weni- Von einer selektiven Teilnahme, welche die Zusam- ger bedeutsame Gründe aufgeführt werden. Ange- mensetzung der Befragten maßgeblich beeinträchtigt sichts dessen halten wir es methodisch für geraten, und ein falsches Bild vermittelt, ist in beiden Studi- beim Vergleich mit der Vorländer-Untersuchung zu- en nicht auszugehen. 15 Der härtere Kern rechtsradi- nächst die ersten drei Antworten in unserer Umfrage kaler Teilnehmer dürfte zwar unterrepräsentiert sein, heranzuziehen und erst dann die Gesamtzahl der aber er dürfte nur einen kleineren Teil der Teilneh- Nennungen. Dabei gehen wir davon aus, dass die zu- mer darstellen. Die Erhebung von Vorländer umfasst erst genannten Gründe subjektiv einen höheren Stel- 397 Befragte. Die Zahl der Befragten in unserer Be- lenwert im Kalkül der Befragten einnehmen und am fragung, für die Angaben zu den Gründen der Teil- ehesten mit den Antworten in der Vorländer-Unter- nahme vorliegen, beläuft sich auf 548 Personen.16 suchung gleichgesetzt werden können. 4. Selbstverbalisierte Motive Tabelle 1: Unzufriedenheit mit der Politik (Mehrfach- nennungen in % der Befragten) Die Frage in Vorländers Untersuchung und unserer Eigene zu den Gründen der Teilnahme ist identisch: „War- Vorländer- Umfrage um nehmen Sie an der Pegida-Kundgebung teil?“ Umfrage Bis drei Insgesamt Der Interviewer in der Vorländer-Untersuchung ver- Nennungen Allgemeine Unzufriedenheit suchte dann die wichtigsten Gründe zu erfassen, des- 20 gleichen hieß es bei uns ergänzend „Was sind die mit der Politik wichtigsten Gründe?“ Die Frage war in beiden Un- Unzufriedenheit mit dem } 29 } 39 tersuchungen als offene Frage konstruiert, die Be- politischen System der 21 Bundesrepublik fragten konnten sich dazu ausführlicher oder stich- Allgemeine Distanz 26 23 29 wortartig äußern, und die meisten Teilnehmer mach- zwischen Volk und Politikern ten davon Gebrauch. Unzufriedenheit mit der Au- 6 14 28 In beiden Untersuchungen wurden in der Regel meh- ßen- und Sicherheitspolitik rere Nennungen abgegeben, in der Vorländer-Unter- Unzufriedenheit mit der Wirt- 8 10 16 suchung durchschnittlich 2.5 (Vorländer et al. 2016: schafts- und Sozialpolitik 67), in unserer Untersuchung 3.1. Dass in unserer Unzufriedenheit mit der 26 27 32 Untersuchung die Zahl höher liegt, hat seine Ursache Asylpolitik vermutlich weniger in den zwischenzeitlich gewan- Unzufriedenheit mit der 17 Zuwanderungs- und 17 18 25 delten sozialen und politischen Verhältnissen , als Integrationspolitik in der Befragungssituation selbst: in einer schriftli- chen Befragung, bei welcher der Fragebogen zu Quelle: Vorländer et. al. (2015: 62); Erhebung des Verfassers. Hause ausgefüllt wird, haben die Befragten mehr Prozentuierung in dieser und den folgenden Tabellen jeweils auf die Gesamtheit der Befragten hin (nicht auf die Zahl der 15 Die Tatsache, dass die Älteren in unserer Erhebung stärker Nennungen). In der eigenen Erhebung Differenzierung in: vertreten sind als in der Vorländer-Untersuchung, dürfte keine erste drei Nennungen sowie Nennungen insgesamt. grundsätzlichen Veränderungen in den Antwortmustern her-

vorgebracht haben. Dies belegen Aufgliederungen nach den 18 Hauptmotiven in unserer Untersuchung. Auffällig ist allen- Womöglich hat es ebenfalls einen Effekt, dass den Befragten falls, dass im Bereich der migrationsbezogenen Motive die in unserer Umfrage fünfeinhalb Zeilen zur Verfügung standen, Asylpolitik etwas eher von den Jüngeren thematisiert wird, in der Vorländer-Untersuchung hingegen dem Interviewer ledig- der Islam etwas eher von den Älteren. lich zwei, plus vorgegebene Kategorien für die Einordnung der Antworten (vgl. Vorländer et al. 2016, Anhang). Letzteres müss- 16 Befragte, die in der vorhergehenden Erhebung dazu bereits te eigentlich dem Effekt, der aus der Begrenztheit der Zeilen er- befragt wurden, sind aus der Analyse ausgeklammert. wächst, entgegenwirken. Ergänzt man in unserer Untersuchung 17 Denkbar wäre z.B. ein gestiegenes Bedürfnis der Rechtferti- zur Berechnung eines Durchschnittswertes die Zeilenzahl fünf- gung in einer Zeit, in der Pegida zunehmend in die öffentliche einhalb um eine weitere Zeile für diejenigen, die entweder Kritik geraten ist und gesellschaftlich weithin missbilligt wird weitere Zeilen einfügten oder ein Zusatzblatt für die Darle- (zur Wahrnehmung und Missbilligung von Pegida vgl. Reu- gung ihrer Motive verwendeten, so kommt man auf ein arith- band 2016b: 173ff.). metisches Mittel von 3.9 beschriebenen Zeilen.

94 MIP 2018 24. Jhrg. Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] Aufsätze

Was ergibt der Vergleich auf der Ebene der thema- Aufwertung dieses Themenbereichs ereignet hat. tisch zusammengefassten Nennungen? Wählt man Was die Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und zunächst die Nennungen mit politischem Bezug aus Asylbewerbern angeht – Tabelle 2 –, so zeigen diese und setzt sie mit den Ergebnissen unserer Erhebung im Vergleich ebenfalls eine weitgehende Überein- in Beziehung, ergeben sich – wie man Tabelle 1 stimmung. Dies betrifft die Vorbehalte gegenüber (hier Rubrik: bis drei Nennungen) entnehmen kann – Muslimen bzw. dem Islam, die entweder global oder große Ähnlichkeiten. Die Struktur der Begründun- spezifisch auf der Ebene von Werten und Verhaltens- gen bleibt über die Zeit hinweg im Wesentlichen weisen ausformuliert sind. Und es betrifft die Sorge gleich.19 Leichte Verschiebungen deuten sich allen- um Kriminalität und Terror. Einzig die Rubrik „Sorge falls im Urteil über die Außen- und Sicherheitspoli- um Identitätsverlust und Überfremdung“ (Nennungen tik an (wobei in unserer Erhebung nahezu gleich oft wie „unsere Kultur bewahren“ „man muss sich wieder eine Kritik an der NATO, an den USA und eine zu als Deutscher fühlen“) weicht davon ab und verzeich- negative Haltung gegenüber Russland thematisiert net einen gewissen Bedeutungszuwachs, was womög- wurde). In diesem Fall sind die Nennungen in unse- lich z.T. in Reaktion auf gestiegene Flüchtlings- und rer Erhebung etwas häufiger als in der Vorländer- Asylbewerberzahlen zu sehen ist. Untersuchung, was den zunehmenden Spannungen Tabelle 3: Kritik an Medien und der Öffentlichkeit und Sanktionen im Gefolge der Ukraine-Krise ge- (Mehrfachnennungen in % der Befragten) schuldet sein mag. Differenziert nach der Reihenfol- Eigene ge der Nennungen, zeigt sich, dass die Außen- und Vorländer Umfrage Sicherheitspolitik in der Regel nicht zu den ersten Umfrage Bis drei Insgesamt als vielmehr zu den späteren Nennungen zählt. Dies Nennungen spricht für eine gewisse Nachrangigkeit der Thema- Unzufriedenheit mit Bericht- 21 erstattung der Medien tik. Gleichwohl: der Zuwachs in der Häufigkeit der } 10 } 18 Thematisierung bei Berücksichtigung der übrigen Protest gegen Diffamierung 18 Nennungen ist auffällig und findet sich nicht in ver- von Pegida gleichbarer Weise bei anderen Themen wieder. Kritik an wahrgenommenen Sprechverboten und öffentli- 7 3 6 Tabelle 2: Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asyl- chem Diskurs bewerbern (Mehrfachnennungen in % der Befragten) Eigene Quelle: Vorländer et al. (2015: 66), Erhebung des Verfassers.

Vorländer- Umfrage Ein dritter Themenkomplex betrifft die Medien und Umfrage Bis drei Insgesamt die Öffentlichkeit (Tabelle 3). Rund 35 % der Be- Nennungen fragten in der Untersuchung von Vorländer nennen Sorge vor Identitätsverlust 6 16 19 diesen Bereich, meist verknüpft mit dem Vorwurf und „Überfremdung“ der Einseitigkeit und tendenziöser Berichterstattung Sorge um sozioökonomi- 8 7 11 sche Nachteile an die Medien. In den Fällen, wo lediglich von der Öffentlichkeit die Rede ist, dürften Befragte oftmals Vorbehalte gegenüber 15 17 26 Muslimen bzw. dem Islam ebenfalls an den medialen Diskurs gedacht haben, so Sorge um hohe Kriminali- dass man die beiden Bereiche vermutlich als nahezu 7 5 9 tät von Asylbewerbern äquivalent ansehen und zusammenfassen kann. In unserer Erhebung nannten bei bis zu drei Nennungen Quelle: Vorländer et al. (2015: 69), Erhebung des Verfassers. 12 % den Themenkomplex Medien bzw. Öffentlich- Besonders bemerkenswert und bedeutsam in unse- keit, unter Einschluss aller Nennungen beläuft sich rem Zusammenhang ist, dass die Unzufriedenheit der Anteil auf 22 %. Es handelt sich um einen Wert, mit der Asylpolitik und mit der Zuwanderungs- und der deutlich unter dem der Vorländer-Untersuchung Integrationspolitik im Zeitverlauf praktisch auf dem liegt und bedeuten könnte, dass die Thematik im gleichen Niveau verbleibt, sich also trotz massiv stei- Zeitverlauf leicht an Bedeutung verloren hat. gender Flüchtlings- und Asylbewerberzahlen keine Wer die mediale Darstellung als Beweggrund auf- führt, zählt wider Erwarten nicht zu den Personen, 19 Im Fall der allgemeinen politischen Unzufriedenheit und der die sich der Mediennutzung enthalten. Im Gegenteil: Unzufriedenheit mit dem politischen System liegen die Nen- nungen oftmals so dicht beieinander und sind nicht immer unsere Untersuchung zeigt, dass sie sogar überpro- trennscharf, dass wir uns – anders als Vorländer – für eine Zu- portional häufig täglich oder fast täglich eine Zei- sammenfassung in einer Kategorie entschieden haben. In diesem tung (meist eine Lokalzeitung) lesen. Unter denen, Fall kann ein direkter Vergleich nicht angestellt werden.

95 Aufsätze Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] MIP 2018 24. Jhrg. welche Kritik an den Medien als Motiv angaben, be- Die Zahl derer, die ausschließlich politische Unzu- kundeten 63 %, täglich oder fast täglich eine Zeitung friedenheit äußern, ohne zugleich Fragen der Zuwan- zu lesen. Unter denen, die dieses Motiv nicht nann- derung oder der Asylpolitik zu thematisieren, stellen ten, waren es 58 %. Die kritische Haltung gegenüber nach diesen Befunden also eine Minderheit dar. Und den etablierten Medien führt offenbar nicht zum anzunehmen ist angesichts der Konstanz der Vertei- Verzicht auf deren Nutzung, sondern bedeutet in den lungen über die Zeit, dass ähnliches auch schon in meisten Fällen immer noch eine Beibehaltung des der Vorländer-Erhebung vom Januar 2015 der Fall Mediengebrauchs, wenn auch vermutlich mit einem war. Dies spricht dafür, der politischen Unzufrieden- etwas distanzierten Blick. heit als Alleinstellungsmerkmal auch schon in der Frühphase von Pegida einen eher geringen Stellen- Ein vierter Themenkomplex, der als solcher bei Vor- wert zuzuschreiben. Mag auch allgemeine politische länder nicht ausgewiesen ist, betrifft Pegida – dazu Unzufriedenheit ein Element sein, dass zum Protest zählen Nennungen wie „ein Zeichen setzen“, „Mäch- motiviert, so scheint es doch notwendig, dass ein tige wachrütteln“, „um etwas zu verändern“, „hier konkreter Anlass existiert (und sei es nur in Form ei- wird Klartext gesprochen“, „es gibt keine echte Op- nes wahrgenommenen zukünftigen Problems), der position“ etc. Welche Gründe ursprünglich den An- die Bürger beunruhigt. Der Glaube, sich nicht anders stoß zur Teilnahme bildeten, bleibt entweder offen politisch Gehör verschaffen zu können – er dürfte oder ergibt sich aus den sonstigen Erwähnungen. bei politischer Entfremdung eine umso größere Rolle Dass Befragte lediglich Pegida als Grund ihrer Teil- spielen –, wird unter diesen Umständen zu einem ge- nahme aufführen, ist eher die Ausnahme. Alles in al- wichtigen verstärkenden Faktor, der die Menschen lem könnte man die Pegida-Nennungen ebenfalls als auf die Straßen treibt. Ausdruck einer Unzufriedenheit mit dem politischen System werten, wobei im Einzelnen offen bleiben 5. Selbstverbalisierte Motive und Einstellungen muss, ob sich darin eher der Bereich der allgemeinen Politikunzufriedenheit widerspiegelt oder die Unzu- Wie eng ist der Zusammenhang zwischen selbstver- friedenheit mit der Asyl- und Zuwanderungspolitik. balisierten Motiven und Einstellungen, die sich in Und wie verhält es sich im Gesamttextkorpus mit den Antworten auf standardisierte Fragen und State- der Thematisierung von Asylpolitik, Migration, Zu- ments ergeben? Wie sehr sagt die Nennung des Zu- wanderung und Islam sowie den Problemen, die mit wanderungsthemas etwas über die Einstellungen zu der Zuwanderung verknüpft sind? Kombiniert man Zuwanderern aus? Und wie sehr spiegelt sich in der die verschiedenen Nennungen thematisch zu größe- Nennung politischer Motive eine entsprechende Ver- ren Subgruppen, so ergibt sich (Tabelle 4): Fragen breitung politischer Kritik wider? Rechnet man mit der Zuwanderung (einschl. Asylpolitik, Integrations- den Antworten zu politischen Fragen, einzeln oder in politik) werden in Kombination mit Nennungen, die Form einer Skala, so zeigt sich: der Zusammenhang sich auf andere Aspekte der Politik beziehen, von zwischen politischer Unzufriedenheit, wie sie mit nahezu der Hälfte der Befragten aufgeführt. Fragen den standardisierten Fragen ermittelt werden, und der Zuwanderung ohne Politikbezug nennen 22 %. dem selbstverbalisierten Beweggrund politischer Nahezu gleich viele äußern Motive, die sich auf eine Unzufriedenheit (ohne Asylpolitik) ist schwach. Die Unzufriedenheit mit der Politik beziehen. Und 12 % Beziehungen gehen zwar des Öfteren in die erwarte- listen sonstige Motive auf, beziehen sich auf Pegida, te Richtung, jedoch erreichen die Korrelationen sel- die Medien und/oder die Öffentlichkeit. ten einen Wert nahe r=.15. Und sie sind meist nicht signifikant. Tabelle 4: Kombination der Motive „Unzufriedenheit mit der Politik“ und „Vorbehalte gegenüber Zuwande- Geht man spezifischer vor – korreliert z.B. die Kritik rern und Asylbewerbern“ (in % der Befragten) an der Politik gegenüber den USA oder Russland auf Zuwanderung und Politik 45 der Einstellungsebene mit der entsprechenden Nen- nung der Politik gegenüber den USA bzw. Russland Zuwanderung (ohne Politik) 22 in der offenen Frage – werden die Korrelationen Politik (ohne Zuwanderung) 21 zwar etwas stärker, aber bleiben weiterhin schwach. Sonstiges 12 Dies gilt selbst dann, wenn man sich auf die zuerst Gesamt 100 genannten Beweggründe bezieht und die anderen Zuwanderung =einschl. Asylpolitik, Islam, Vorbehalte ge- Nennungen auslässt. Ein ähnliches Muster resultiert, genüber Zuwanderern und Asylbewerbern; Politik =allein wenn man sich dem Bereich der Zuwanderung und oder in Kombination mit Pegida, Medien bzw. Öffentlich- des Islams zuwendet. Auch hier gilt, dass die Bezie- keit; Sonstiges = Pegida, Medien bzw. Öffentlichkeit

96 MIP 2018 24. Jhrg. Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] Aufsätze hungen schwach sind: dass diejenigen, die den Islam zum Bereich der Politik nur marginal (in der Tabelle als Grund ihrer Teilnahme nennen, sich kaum von auf eine Auswahl der Fragen bezogen und be- denen unterscheiden, die ihn nicht nennen.20 schränkt auf die Zustimmung „voll und ganz“ einer vierstufigen Skala). So sind diejenigen, die lediglich Man kann diese Nicht-Übereinstimmung von Ant- Politikunzufriedenheit als Grund nennen und keinen worten auf die offene Frage mit den Antworten auf Bezug zu der Zuwanderung oder der Asyl- und Inte- die geschlossenen Fragen/Skalen ebenfalls Tabelle 5 grationspolitik herstellen, zu 80 % „voll und ganz“ entnehmen, in der die Kombination der Nennungen der Meinung, dass der Islam eine Bedrohung für Grundlage der Darstellung ist. Danach unterscheiden Deutschland sei. Ähnliche Diskrepanzen finden sich, sich die Befragten in den einzelnen Subgruppen in wenn man diejenigen betrachtet, die nur das Zuwan- ihren Einstellungen zu Zuwanderung/Muslimen und derer-Thema als Grund angeben: auch sie äußern Tabelle 5: Zustimmung „voll und ganz“ zu Aussagen mehrheitlich Unzufriedenheit mit der Politik und über Islam/Muslime, Politik in Abhängigkeit von Kom- zeichnen sich durch ein ähnliches Maß an Politikver- bination der Motivnennungen (Mehrfachnennungen drosssenheit aus wie diejenigen, die lediglich politi- in % der Befragten) sche Unzufriedenheit als Motiv aufführen.

Zuwanderung Sonsti- Und wie wirken sich die selbstverbalisierten Motive Zuwanderung Politik und Politik ges und die mittels standardisierter Fragen/Skalen erfass- Islam ist eine ten Einstellungen aus? Dazu ziehen wir die Angaben Bedrohung für 87 91 80 79 zur Parteienbewertung als abhängige Variable heran – Deutschland erfasst über Skalometerfragen, bei denen die Parteien Zuwanderung von auf einer Skala zwischen -5 und +5 zu bewerten wa- 35 48 32 38 Muslimen sollte ren. Als unabhängige Variablen verwenden wir neben untersagt werden den selbstverbalisierten Motiven die Einstellungen zur Moscheebau soll- Zuwanderung und Indikatoren für die Unzufriedenheit te in Deutschland 69 73 69 66 verboten werden mit der Politik (beides erfasst über mehrere Indikato- Desinteresse der ren, die zu einer Skala zusammengefasst sind). Politiker an Mei- 73 73 72 64 Wie man nachfolgender Tabelle 6 entnehmen kann, nungen der Leute wirken sich in der Bewertung der Parteien am stärks- Verlass auf ten die Einstellungen aus, die über die jeweiligen Ska- Aussagen der 2 3 2 3 Politiker len erfasst wurden. Dabei gilt, dass sich die Politik- Dessinteresse verdrosssenheit, gefolgt von der Einstellung zur Zu- der Parteien wanderung, bei der Bewertung von CDU, SPD und 71 67 70 56 an Ansichten FDP am stärksten auswirkt. Bei der Bewertung der der Wähler Grünen und der Linken spielt hingegen die Einstel- Motivnennungen: „Zuwanderung“ bzw. „Politik“: jeweils lung zur Zuwanderung die größere Rolle. Und bei der einschl. Kombinationen mit Medien/Öffentlichkeit; „Sons- Bewertung von AfD und NPD gilt, dass ausschließ- tiges“: Medien und/oder Öffentlichkeit lich die Bewertung der Zuwanderung Einfluss nimmt. Frageformulierungen: „Bitte geben Sie für jede Aussage Während die kritische Einstellung zur Zuwanderung an, wie sehr Sie ihr zustimmen oder sie ablehnen … Der Is- lam ist eine Bedrohung für Deutschland; Muslimen sollte die der Wertschätzung von CDU, SPD, FDP, Grünen und Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden; Der Bau Linken abträglich ist, kommt sie der Wertschätzung von Moscheen sollte in Deutschland verboten werden; Die von AfD und NPD zugute – was nicht verwundert: Politiker kümmern sich nicht viel darum, was Leute wie ich bilden doch beide Parteien den radikalen Gegenpol in denken; Auf das, was Politiker sagen, kann man sich im all- Fragen der Asylpolitik und Zuwanderung. Desglei- gemeinen verlassen; Die Parteien wollen nur die Stimmen chen ist wenig erstaunlich, dass die Bewertung der der Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht.“ CDU – dicht gefolgt von der SPD – besonders stark Antwortkategorien: „Stimme voll und ganz zu, Stimme von der Politikunzufriedenheit beeinflusst wird: bilde- eher zu, Stimme eher nicht zu, Stimme überhaupt nicht zu“ ten sie doch in der Zeit der Befragung gemeinsam die [Hier: „stimme voll und ganz zu“]. Regierung. Und die Unzufriedenheit mit der Politik 20 So korreliert die Nennung des Islams als Grund des Pegida- entzündet sich normalerweise bevorzugt am Regie- Engagements mit dem Statement, dass der Islam eine Bedro- rungshandeln.21 hung für Deutschland sei, lediglich r=. 16 (p<0,001). Ähnlich schwach der Zusammenhang mit dem Statement, dass man die 21 Die Zuwanderungsthematik scheint insbesondere im Fall der Zuwanderung von Muslimen nach Deutschland untersagen solle. CDU gegenüber der Politikverdrosssenheit von einer eher se-

97 Aufsätze Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Tabelle 6: Einfluss selbstverbalisierter Motive und der Was die selbstverbalisierten Motive des Protests an- Einstellungen auf die Bewertung von Parteien (beta geht, so kann man bei ihnen nahezu keinen Einfluss Koeffizienten der OLS Regressionsanalyse). erkennen: mit Ausnahme eines Effekts auf CDU und – Zeilenweise Anordnung der Werte – FDP. Bei beiden wirkt sich die Thematisierung der Unzufriedenheit Problem Unzufriedenheit mit der Politik auf die Bewertung mit Politik Zuwanderung negativ aus. Dass die CDU als stärkste Regierungs- 2 (1) (2) (1) (2) R partei davon betroffen ist, verwundert nicht, verwun- ** *** * CDU -.11 -.30 .07 -.10 .14 derlich ist vielmehr die Stellung der FDP. Womög- *** *** SPD -.07 -.24 .03 -.21 .13 lich wird sie – weil sie früher an der Regierung be- FDP -.09* -.15** .08 -.10* .05 ** *** teiligt war – von den Pegida-Befragten nach wie vor Grüne -.01 -.12 -.07 -.25 .10 in gewissem Umfang mit der etablierten Politik Linke .03 -.11* -.05 -.28*** .12 gleichgesetzt (auch wenn die FDP in der Frage der AfD .04 -.02 .04 .30*** .09 Zuwanderung inzwischen eher kritische Positionen NPD -.04 .02 .04 .22*** .06 einnimmt). Vielleicht auch hat es etwas mit dem Paarweiser Ausschluss von Werten Image der Partei zu tun, einer spezifischen Klientel (1) Selbstverbalisierte Motive: Unzufriedenheit mit der zugewandt zu sein und Unternehmerinteressen zu Politik bzw. Probleme der Zuwanderung (Vorbehalte ge- vertreten. genüber Zuwanderern und Asylbewerbern, Asyl-/Integrati- onspolitik, Islam/Muslime etc.) (Nein=0, Ja=1) Dass die selbstberichteten Motive keinen oder allen- falls sekundären Einfluss ausüben, ist nicht auf die (2) Einstellungen, erfasst über Skala für Unzufriedenheit Thematik der Parteienbewertung beschränkt. Wählt mit der Politik bzw. Skala für Probleme der Zuwanderung man die Stärke der Pegida-Bindung und die Bereit- (Operationalisierung siehe Frageformulierungen) schaft zur Fortsetzung des Protests als abhängige Frageformulierungen: Variable22, wiederholt sich das zuvor beschriebene Bewertung der Parteien: „Wie bewerten Sie die nachfolgen- Muster: die selbstverbalisierten Gründe erweisen sich den Parteien auf der Skala von -5 bis +5? -5 bedeutet, dass gegenüber dem Einfluss der standardisierten Skala als sie Ihnen sehr unsympathisch ist, +5 bedeutet, dass sie Ihnen wenig aussagekräftig. Wenn es einen Einfluss gibt, sehr sympathisch ist. Mit den Werten dazwischen können Sie dann sind es die Variablen für Politikverdrosssenheit Ihr Urteil abstufen. Bitte beurteilen Sie jede der Parteien.“ und die Zuwandererthematik. Dies muss nicht aus- [Hohe Wert auf Skalometer =Positive Bewertung] schließen, dass es bei anderen Themen und anderen Unzufriedenheit mit der Politik: Skala auf der Basis der abhängigen Variablen anders sein könnte und den Faktorenwerte für die Items „Die Politiker kümmern sich selbstberichteten Gründen ein größerer Stellenwert nicht viel darum, was Leute wie ich denken; Auf das was zukommt. Doch dazu liegen keine Analysen vor. Politiker sagen, kann man sich im allgemeinen verlassen; Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre An- 6. Schlussbemerkungen sichten interessieren sie nicht; Die Interessen der Bürger werden von der Politik ausreichend berücksichtigt.“ [Ho- Was bleibt als Fazit? Fragt man die Teilnehmer des her Wert auf Skala =Unzufriedenheit] Pegida-Protests nach den Gründen ihrer Teilnahme, Problem Zuwanderung: Skala auf der Basis der Faktoren- so werden mehrheitlich Fragen der Asylpolitik und der werte für die Items „Es macht mir Angst, dass viele Zuwanderung genannt. Ergänzend kommt politische Flüchtlinge kommen; Den meisten Asylbewerbern, die Unzufriedenheit hinzu. Eine Dominanz politischer nach Deutschland kommen, geht es gar nicht um Schutz Unzufriedenheit ohne Asyl- oder Zuwanderungsbe- und Sicherheit, sondern um ein besseres wirtschaftliches zug findet sich unter den Motiven jedoch nicht. Leben; Man sollte an den Grenzen Österreichs einen Zaun bauen, um Flüchtlinge abzuhalten; Der Islam ist eine Be- Die selbstverbalisierten Motive der Teilnehmer erwie- drohung für Deutschland; Muslimen sollte die Zuwande- sen sich im hier betrachteten Zeitraum als weitgehend rung nach Deutschland untersagt werden; Der Bau von stabil. Trotz gestiegener Probleme und Wahrnehmung Moscheen sollte in Deutschland verboten werden.“ [Hoher einer „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 blieben die jewei- Wert auf Skala =Zuwanderung als Problem] ligen Antwortmuster im Wesentlichen bestehen. Ein- 22 Die Frage lautete hier „Wie groß ist Ihre Bereitschaft auch in der Zukunft an Pegida-Kundgebungen teilzunehmen?“ (mit fünf Antwortvorgaben zwischen „sehr groß“ und „überhaupt kundären Bedeutung zu sein (was u.U. eine Ursache darin ha- nicht“) sowie in Form eines Statements „Ich fühle mich Pegi- ben könnte, dass die Mehrheit der Pegida-Teilnehmer früher da eng verbunden“ (mit vierstufiger Skala). Die Fragen wur- CDU wählte (Reuband 2017) und sich ihre Entfremdung nicht den sowohl einzeln als auch in Kombination mit den unab- allein auf die Thematik der Zuwanderungspolitik beschränkt). hängigen Variablen verrechnet.

98 MIP 2018 24. Jhrg. Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] Aufsätze zig in der Kategorie „Identitätsverlust/Überfremdung“ Motive zumindest gelegentlich einen Einfluss aus- war ein leichter Anstieg in der Zahl der Nennungen zu üben, ist andererseits ein Hinweis dafür, dass es verzeichnen. falsch wäre, sie bei Analysen von vornherein aus der Betrachtung auszuklammern. Was von den Befragten in der offenen Frage als Be- weggrund ihres Protests angegeben wird, sagt wenig Literaturverzeichnis über die Verbreitung der entsprechenden Einstellun- Berger, R., Poppe, S. und M. Schuh (2016): Every- gen aus. Auch wenn es nicht mehr als ein Viertel der thing counts in large amounts, in: K.-S. Rehberg, F. Befragten ist, das sich explizit auf den Islam als Kunz und T. Schlinzig, Hrsg., Pegida. Rechtspopulis- Grund ihres Pegida-Engagements bezieht, liegt doch mus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Enttäu- die Zahl derer, die den Islam als Bedrohung wahr- schung. Analysen im Überblick. Bielefeld, S.113-146 nehmen, beträchtlich höher. Die Einstellungen der Befragten bilden offensichtlich eine kognitive Res- Geiges, L., Marg, S. und F. Walter (2015): PEGIDA. source, auf die selektiv zurückgegriffen wird. Was Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft. Bielefeld als Motiv ihrer Teilnahme aufgeführt wird, stellt Kadushin, Ch. (1968): Reason analysis, in: D. Sills, letztlich nur einen Ausschnitt ihres „belief systems“ Hrsg., Encyclopedia of the Social Sciences. Bd. 13, dar: eine spezifische Akzentuierung und Gewichtung 2. Aufl. New York, S. 338-343 unter dem Aspekt subjektiver Bedeutsamkeit in der Lazarsfeld, P.F. (1935): The art of asking why: three Interviewsituation. principles understanding the formulation of ques- Inwieweit die Pegida-Teilnehmer in der Frage des tionnaires, in: National Marketing Review, 1, S. 32- Zusammenhangs von selbstverbalisierten Motiven 43 (wieder abgedruckt in: D. Katz et al., Hrsg., Pub- und Einstellungen einen Sonderfall darstellen, ist lic Opinion and Propaganda. New York 1954) eine offene Frage. Je homogener die Ablehnung von Patzelt, W. (2016): Wer sind und wie denken Pegidi- etablierter Politik und Zuwanderung ausgeprägt ist, aner?, in: W. Patzelt und J. Klose, Hrsg. Pegida – desto beliebiger könnte es sein, was als Begründung Warnsignale aus Dresden. Dresden, S. 149-293 für das eigene Engagement vorgebracht wird: weil man letztlich das Gleiche meint, auch wenn man es Patzelt, W. (2018): Pegida Demonstranten und sprachlich oder auf der Abstraktionsebene anders Deutschlands Demokratie, in: Zeitschrift für Parla- fasst. In Populationen mit einer größeren Variations- mentsfragen 49, Heft 1, S. 111-128 breite der Meinungen stellt sich das Verhältnis wo- Reuband, K.H. (2008): Kosten – Interessen – Lebens- möglich anders dar, stehen die selbstberichteten stil. Warum Opernliebhaber nicht häufiger in die Gründe stärker mit den Einstellungen in Beziehung. Oper gehen und andere die Oper meiden, in: Stadt- Desgleichen könnte dies der Fall sein, wenn es sich forschung und Statistik. Zeitschrift des Verbandes um weniger politisierte Themen handelt und die deutscher Städtestatistiker, Heft 1, S. 24-30 Zentralität der Thematik stärker innerhalb der Popu- Reuband, K.H. (2015): Wer demonstriert in Dresden lation variiert. für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, metho- Die Bewertung der etablierten Parteien auf dem Par- dische Grundlagen und offene Fragen, in: Mitteilun- teienskalometer wird durch die Einstellungen zur gen des Instituts für Parteienrecht und Parteienfor- Zuwanderung und politischen Unzufriedenheit stär- schung 21, S. 133-143 ker beeinflusst als durch die Antworten auf die offen Reuband, K.H. (2016a): Pegida im Wandel? Soziale gehaltene Frage nach den Gründen der Teilnahme. Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Par- Dies spricht dafür, dass selbstverbalisierte Motive teipräferenzen der Kundgebungsteilnehmer, in: Mit- subjektiv gesehen einen wichtigen Aspekt im Be- teilungen des Instituts für Parteienrecht und Partei- zugsrahmen der Befragten repräsentieren können, enforschung 22, S. 52-69 sich die Struktur der relevanten Einstellungen jedoch oft eher über standardisierte Fragen erschließen Reuband, K.H. (2016b): Außenseiter oder Repräsen- lässt.23 Die Tatsache, dass die selbstverbalisierten tanten der Mehrheit? Selbst- und Fremdwahrneh- mung der Teilnehmer von PEGIDA-Kundgebungen, 23 Dies schließt andersgeartete Einblicke bei qualitativen Inter- in: K.-S. Rehberg, F. Kunz und T. Schlinzig, Hrsg., views und Fokus Gruppen nicht aus. Sie erschließen eher die PEGIDA. Bielefeld, S. 165-188 differenzierten Sichtweisen der Befragten und lassen - wenn entsprechend vertiefend nachgefragt wird - die Dimensionali- Reuband, K.H. (2017): Die Dynamik des Pegida tät und Bedeutsamkeit von Einstellungen für das Handeln er- Protests. Der Einfluss von Ereignissen und bewe- kennen. Im Rahmen einer standardisierten Befragung mit of- gungsspezifischer Mobilisierung auf Teilnehmerzah- fenen Fragen ist die Situation jedoch offenbar eine andere.

99 Aufsätze Reuband – Motive des Pegida-Protests [...] MIP 2018 24. Jhrg. len und Teilnehmerzusammensetzung, in: Mitteilun- gen des Instituts für Parteienrecht und Parteienfor- schung, 23, S. 112-130 Reuband, K.H. (2018): Pegida im „Tal der Ahnungs- losen“. Demokratievorstellungen der Bürger in Dres- den, in Düsseldorf und unter den Teilnehmern des Pegida-Protests, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 49, Heft 1, S. 129-147 Rucht, D. et al. (2015): Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida. IPS Wor- king Paper, https://protestinstitut.eu/wp.../protestfor schung-am-limit_ipb-working-paper_web.pdf [Stand: 03.04.2018] Schuman, H. (2011): Method and meaning in polls and surveys. Cambridge und London Thomas, W.I. (1965/1928): Person und Sozialverhal- ten. Neuwied Vorländer, H., H. Maik und S. Schäller (2015): Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Un- tersuchung zu PEGIDA-Demonstrationen in Dres- den. Schriften zur Verfassungs- und Demokratiefor- schung 1/2015. Dresden Vorländer, H., H. Maik und S. Schäller (2016): PE- GIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deu- tung einer Empörungsbewegung. Wiesbaden

100 MIP 2018 24. Jhrg. Schuster – Democracy in Europe Movement 2025 [...] „Aufgespießt“

„Aufgespießt“ problem hat. Die Kritik an der demokratischen Rück- bindung europäischer Entscheidungen im komplexen Democracy in Europe Movement 2025 – Pan- Geflecht europäischer Kompetenzverschränkungen europäische Parteien zur Rettung Europas? und Gewaltenteilung ist eine, die schon immer und immer stärker in den öffentlichen aber auch rechts- 3 Dr. Simon Schuster1 wissenschaftlichen Fokus gerückt ist. Ist die europäische Form der repräsentativen Demo- kratie wirklich am Ende oder finden sich in den Ver- A. Einleitung – Europa am Abgrund? trägen weitere Ansätze für eine Demokratisierung? Es gab in den letzten 15 Jahren der Geschichte der Um darauf eine Antwort geben zu können, muss man Europäischen Union (EU) viele, man ist beinahe ge- die Idee der repräsentativen Idee an der Wurzel pa- halten zu sagen unzählige Beispiele, in denen das cken: Grundbedingung für eine repräsentative De- nahe Ende der EU vorhergesagt wurde. Auch das mokratie auf europäischer Ebene ist eine europäi- Jahr 2017 war keines, von dem man ernsthaft sagen sche Öffentlichkeit, die nicht an nationalen Grenzen könnte, dass Europa zumindest in der öffentlichen haltmacht. Neben direktdemokratischen Instrumenten, Wahrnehmung gestärkt daraus hervorgegangen ist. wie den Europäischen Bürgerinitiativen, muss vor Zwar sind die schlimmsten Befürchtungen nicht allem das Europäische Parlament mit pointierten De- wahr geworden, (Ultra-)Nationalistische Strömungen batten zur politischen Auseinandersetzungen in der haben dennoch in vielen europäischen Mitgliedstaa- europäischen Öffentlichkeit beitragen. Diese werden ten immer stärkeren Zulauf und machen gegen die von den Fraktionen als parlamentarische Ableger ih- Europäische Einigung Stimmung. In solchen Kreisen rer Parteien geführt, während die politischen Partei- steht schon lange nicht mehr zur Diskussion, ob Eu- en die Diskussion in die breite Bevölkerung tragen. ropa weiter zusammenwachsen kann oder soll bzw. Der Posten der Europäischen Politischen Partei wie die „Vereinigten Staaten von Europa“ aussehen (EPP) ist aber noch weitgehend vakant, obwohl die könnten. Getreu ihres Nationalismus (und teilweise Stelle in den Verträgen seit dem Vertrag von Maas- offenem Faschismus) fragen sie nicht danach, wie tricht ausgeschrieben zu sein scheint. Eine paneuro- Europa in einer globalisierten Welt bestehen, ja vor päische Partei, die sich zur Aufgabe macht, politi- allem sozialer werden kann. Sie streben danach, eine sche Diskussionen in einem gesamteuropäischen mutmaßliche nationale Identität, mag es auch reine Rahmen zu organisieren und auch zu führen, hat sich Chimäre sein, als Ersatzreligion zu etablieren. Der bisher noch nicht gegründet. „Kampf gegen Europa“ wird zum Selbstzweck und Die Verheißungen, die mit der formalen Einführung rechtfertigt schon mal die Abschaffung rechtsstaatli- von EPP im Vertrag von Maastricht nach Art. 10 2 cher und menschenrechtlicher Grundsätze. Abs. 4 EUV verbunden waren, sind bisher noch Trotz all dieser Angriffe von außen ist das letzte Wort nicht eingetreten.4 Über lose Allianzen und mit- selbstverständlich noch nicht gesprochen. Man könnte gliedstaatliche Klientelpolitik reichen die Bündnisse ebenso viele Beispiele mit positivem Bezug zur EU bisher kaum hinaus. aufzählen. Nicht zuletzt war die Antwort auf die Kri- B. DiEM25 – Die Rettung naht? sen und Herausforderungen stets eine europäische, die auch teilweise zur (faktischen) Weiterentwick- Dies könnte sich nun erstmals mit der Wahl zum Eu- lung der Europäischen Union und einer europäischen ropäischen Parlament (EP) im Jahr 2019 ändern. Am Öffentlichkeit beigetragen hat. Diese Entwicklung 9. Februar 2016 gründete sich mit „Democracy in verdeutlicht im Grunde, dass ein Großteil der euro- 3 päischen Nationen davon ausgeht, ihre Herausforde- Grundlegend dazu Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungs- lehre, S. 571 ff. m.w.N.; skeptisch Mittag, Europäische Parteien rungen in Zukunft nur gemeinsam lösen zu können. im Wandel, APuZ 2009, S. 42 ff.; BVerfG, Urteil v. 26.02.2014 Die genannten Entwicklungen können aber nicht dar- – 2 BvE 2/13; vgl. den Diskurs zum Brexit in der europäi- schen Linken http://www.deutschlandfunk.de/sahra-wagenkn über hinwegtäuschen, dass die EU in ihrer rechtli- echt-europa-ist-wesentlich-unsozialer-und.694.de.html?dram: chen Verfasstheit ein demokratisches Legitimations- article_id=358241; https://www.marx21.de/brexit-nein-zu-die ser-eu-nein-zu-rassismus/; http://www.faz.net/aktuell/brexit/g 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl astbeitrag-zum-brexit-eine-entscheidung-fuer-die-demokratie- für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht der 14292886.html und viele andere. Universität Leipzig. 4 Zur möglichen Rolle von EPPs, vgl. unter vielen Huber, EuR 2 Vgl. dazu Müller, in: Rüttgers/Decker (Hrsg.), Europas Ende, 1999, S. 579 ff.; Schiffauer, MIP 1996, S. 80 ff.; ähnlich Europas Anfang, S. 133 (137 ff.). Tsatsos, EuGRZ 1994, S. 45 ff.

101 „Aufgespießt“ Schuster – Democracy in Europe Movement 2025 [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Europe Movement 2025“ (kurz: DiEM) eine paneu- turen auf europäischer Ebene.8 Die etablierten EPP fol- ropäische politische Bewegung, deren Mitbegründer gen dem Leitbild einer „föderativen Vereinigung na- unter anderem der ehemalige griechische Finanzmi- tionaler Parteien“9, wonach EPP vor allem Parteien- nister Yanis Varoufakis ist. DiEM kündigte als Re- bündnisse nationalstaatlicher Parteien sind.10 In ih- aktion auf den Brexit und nationalistische Tenden- nen organisieren sich die nationalen Parteien, die zen an, für einen sog. „Radikalen Europäismus“5 zu eine ähnliche Politik in den einzelnen Mitgliedstaa- streiten. Die Bewegung bringt ihre Agenda auf die ten vertreten (z.B. EVP: CDU/CSU, Partido Popular, zugespitzte Aussage: „Europa wird demokratisiert ÖVP u.a.; PES: SPD, PS France, PSOE u.a.). Ein ge- oder es wird zerfallen!“6. Als weitere systemische meinsames europäisches Wahlprogramm, das auch Herausforderungen hat DiEM unter anderem ein den nationalen Wahlkampf prägen soll, wird nicht transparentes Europa und einen „European New entworfen. Eine Mitgliedschaft wird derzeit noch so Deal“ identifiziert. Letzterer fordert eine andere eu- gut wie ausschließlich über die Zugehörigkeit zu ei- ropäische Wirtschafts- und Sozialpolitik. ner nationalen Partei vermittelt. Zwar wird auf euro- päischer Ebene das politische Vorgehen abgestimmt. Dem Credo einer Stärkung der Demokratie entspre- Ein Rückgriff auf die Europapolitik der nationalen chend organisiert sich DiEM möglichst basisdemo- Partei, sei es über Sachfragen oder die Personen- kratisch. Fundament der Bewegung sind lokale Orts- wahl, findet jedoch nicht statt. Insoweit bleiben die gruppen, die sog. DSG (DiEM Gemeinschaften) so- Parteienbündnisse und ihre nationalen Mitglieder in wie die nationalen Komitees. Neben den Mitglie- den Grenzen nationalstaatlicher Politik verhaftet.11 dern, die sich an allen internen Strukturentscheidun- DiEM hingegen plant die sich gründenden lokalen, gen beteiligen können, übernehmen ein Koordinie- regionalen und nationalen Verbände sowie einzelne rungskollektiv (KK) und das Beschlussfassende Gre- nationale Bündnispartner sachlich und personell un- mium (BG) wichtige Aufgaben. So soll das BG bei ter dem Dach einer paneuropäischen Partei zu verei- ad-hoc-Entscheidungen ein Mindestmaß an Rückbin- nen. DiEM geht damit noch einen Schritt weiter als dung schaffen, bevor eine Maßnahme durch alle Mit- der prominent von dem französischen Präsidenten glieder überprüft werden kann. Rechtlich ist DiEM Emanuel Macron gemachte Vorschlag zur Einfüh- als internationale Organisation ohne Gewinnerzie- rung transnationaler Parteienlisten. Die Diskussion lungsabsicht (IVoG) in Brüssel registriert und hat um solche Listen wurde mit einer ablehnenden Ent- damit Rechtspersönlichkeit in der gesamten EU. scheidung des EU-Parlaments vorerst beendet12. Zunächst „nur“ als politische Bewegung geplant, Die lose politische Bindung der bestehenden EPP entschieden sich die Mitglieder im Rahmen eines ge- führt stets dazu, dass das Parlament zwar aus einer samteuropäischen Mitgliederentscheids dazu, einen überschaubaren Anzahl von Fraktionen besteht, sich sog. Wahlflügel zu gründen. Als eigenständige euro- aber insgesamt aus einer unüberschaubaren Vielzahl päische politische Partei oder in Kooperation mit be- von nationalen Parteien zusammensetzt, die wiederum stehenden Parteien wollen sie eine gesamteuropäi- in (noch) 28 nationalen Wahlkämpfen ohne gesamteu- sche, transnationale Parteienliste erstellen. Zudem ropäische Fragestellung gewählt wurden. Eine gesamt- wird ein gemeinsames paneuropäisches Wahlpro- europäische Liste haben die einzelnen EPP nicht und gramm Grundlage der Agenda zur Europawahl sein. Es solle möglich sein, als Deutscher einen Griechen oder als Italiener einen Deutschen zu wählen. DiEM 8 wolle so dazu beitragen, „jenes europäische Volk Momentan gibt es 13 anerkannte europäische politische Parteien, die Parteifinanzierung aus europäischen Mitteln beziehen, vgl. (Demos) allererst hervortreten zu lassen, welches http://www.europarl.europa.eu/politicalparties/index_en.xml; Europas künftige Demokratie“7 erfordere. zu den Strukturen Grupp, in: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, S. 759. C. (Europa-)Rechtliche Hindernisse für paneuro- 9 Zotti, Politische Parteien auf europäischer Ebene, S. 62; Morlok, päische Parteien in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, Art. 21 Rn. 13 ff. 10 Mit der geplanten paneuropäischen Parteistruktur un- Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 10 EUV Rn. 57. terscheidet sich DiEM25 ganz erheblich von den be- 11 Ebd., Art. 10 EUV Rn. 57 ff. stehenden politischen transeuropäischen Parteienstruk- 12 Vgl. Finthammer/Kapern/König, Macrons Kampfansage an Brüssel, in: Deutschlandfunk v. 22.02.2018, abrufbar unter: 5 Siehe https://diem25.org/wahlplattform/. http://www.deutschlandfunk.de/zukunft-der-eu-macrons-kampf ansage-an-bruessel.724.de.html?dram:article_id=411462; Eu- 6 DiEM25, Ein Manifest zur Demokratisierung Europas, abruf- ropäisches Parlament, resolution of 7th bar unter: https://diem25.org/manifesto-lange-version/. February 2018 on the composition of the European Parlia- 7 Siehe https://diem25.org/wahlplattform/. ment, 2017/2054 (INL).

102 MIP 2018 24. Jhrg. Schuster – Democracy in Europe Movement 2025 [...] „Aufgespießt“ streben diese, soweit erkennbar, nicht an13. Die EPP suggeriert, dass der europäische Gesetzgeber den po- bewegen sich damit in dem Rahmen, der durch das litischen Parteien im europäischen Kontext ähnliche Sekundärrecht und dort insbesondere durch die VO Aufgaben und Funktionen zuspricht, wie sie auch in (EU) 1141/2014 vom 04. Oktober 2014, die unter an- Art. 21 Abs. 1 GG statuiert sind. Sie sollen im spezi- derem Regelungen für europäische politischen Partei- fischen Kontext europäischer Politik politische Ziele en und ihre Finanzierung trifft, festgelegt wurde.14 formulieren und diese den Bürger*innen vermitteln. Nach einem Vorschlag der Kommission sollen sie Wenn die bestehenden „Bündnisse politischer Partei- „eine wichtige Rolle bei der Intensivierung und Stär- en“ geltendes Sekundärrecht abbilden, ist fraglich, kung der repräsentativen Demokratie auf europäi- wie sich die geplante Struktur von DiEM dazu ver- scher Ebene und der Beseitigung der Kluft zwischen hält. Schon DiEM verweist darauf, dass sie ihre Visio- EU-Politik und Unionsbürger spielen“16. nen nur im Rahmen wahlgesetzlicher Beschränkungen realisieren können. Unbenommen von der Frage, ob Den EPP fällt folglich die Aufgabe anheim, die öf- man eine Demokratisierung Europas für notwendig fentliche Debatte vor Europawahlen aus dem natio- hält, DiEM die richtigen Fragen darauf formuliert nalen Kontext zu lösen und in eine gesamteuropäi- oder ob eine paneuropäische politische Partei das sche Debatte zu überführen. richtige Instrument für die Umsetzung solcher Pläne II. Sekundärrechtliche und nationalstaatliche darstellt, muss geklärt werden, ob das nationale und Umsetzung europäische Rechtsregime einer solchen paneuropäi- schen Parteienstruktur überhaupt zugänglich ist. Zur Konkretisierung hat der europäische Gesetzge- ber in Art. 224 AEUV eine Kompetenz zum Erlass I. Rechtliche Ausgangslage im Primärrecht von Sekundärrechtsakten geschaffen. Auf Grundlage Geht man strukturell von einer repräsentativen De- der Verordnungsermächtigung wurde die Richtlinie mokratie aus, kommt politischen Parteien im politi- für die Wahl zum Europaparlament17 sowie eine Ver- schen und parlamentarischen Prozess eine hervorge- ordnung über das Statut und die Finanzierung euro- hobene Stellung zu. Vor allem im Prozess der öffent- päischer politischer Parteien und europäischer Stif- lichen Meinungsbildung außerhalb des organisierten tungen erlassen.18 In beiden Rechtsakten manifestiert Politikbetriebs ist es Aufgabe der politischen Partei- sich die bisher bestehende Praxis transnationaler en, den Bürger*innen politische Diskussion zu bie- Strukturen der europäischen Parteienbündnisse. ten, sie anzuleiten und gesellschaftlich auszuformen. Der Direktwahlakt19 lässt den Mitgliedstaaten, abgese- Mit Art. 10 Abs. 4 EUV und seit Inkrafttreten des hen von der Maßgabe eines Wahlrechts für Unions- Art. 12 Abs. 2 GRCh erkennt auch das europäische bürger und der Wahl nach dem Verhältniswahlrecht Verfassungsrecht das Grundrecht auf Parteienfreiheit auf Listenplätze, relativ freie Hand. Der Bundesge- an.15 Es weist EPP bedeutende Aufgaben im europäi- setzgeber hat die europäischen Vorgaben mit dem schen demokratischen Willensbildungsprozess zu. Europawahlgesetz umgesetzt. Die überwiegende Mehr- Dazu zählt unter anderem die Stärkung der politischen zahl der Parteien bewirbt sich mit einer Bundeswahl- Rückkopplung zwischen Bürger*innen und EU sowie liste für die 96 Sitze, die Deutschland im Europäi- Auslösung grenzübergreifender öffentlicher Debatten. schen Parlament zustehen. Ein Wahlvorschlagsrecht haben dabei sowohl Parteien als auch sonstige politi- Die Formulierung von Art. 10 Abs. 4 EUV sche Vereinigungen i.S.d. § 8 Abs. 1 EuWG. Letztere „Politische Parteien auf europäischer Ebene müssen unter gewissen Umständen nach § 9 Abs. 5 tragen zur Herausbildung eines europäischen EuWG ihre Wahlvorschläge von einer bestimmten politischen Bewusstseins und zum Ausdruck Anzahl Wahlberechtiger unterzeichnen lassen. des Willens der Bürgerinnen und Bürger der 16 Europäische Kommission, COM (2012) 499 final, Vorschlag Union bei“ v. 12.9.2012, S. 3. 17 Sog. Direktwahlakt, Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 13 In der aktuellen Diskussion um transnationale Listenplätze im 06.12.1993 in der durch den Beschluss 2002/772/EG geän- Europäischen Parlament war lediglich angedacht, die durch derten Fassung. den Brexit vakanten Sitze über transnationale Listenplätze zu 18 VO (EU, EURATOM) Nr. 1141/2014 des Europäischen Par- vergeben. laments und des Rates v. 22.10.2014. 14 So Zotti, S. 105 ff. (Fn. 9); kritisch zur Konformität mit dem 19 Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Primärrecht Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 10 Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom EUV Rn. 51 m.w.N. 20. September 1976, BGBl. 1977 II S. 733/734, zuletzt geän- 15 Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 10 EUV Rn. 51 dert durch Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. m.w.N. September 2002 (BGBl. 2003 II S. 810; 2004 II S. 520).

103 „Aufgespießt“ Schuster – Democracy in Europe Movement 2025 [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Das benannte europäische Parteienstatut macht hin- den Parteien zu gewinnen. Weiter müssten die Par- gegen hinsichtlich der Definition und Anerkennung teien unter einem gemeinsamen Namen mit einem „Politischer Parteien auf europäischer Ebene“ in Art. gesamteuropäischen Programm antreten. Gerade 2 Nr. 3 und Art. 3 Abs. 1 VO 1141/2014 klare Vor- Letzteres beinhaltet rein politische Vorgaben an die gaben. Eine EPP muss danach unter anderem in min- neugegründeten oder verbündeten Partner, die einer destens einem Viertel der Mitgliedstaaten parlamen- rechtlichen Bewertung nicht zugänglich sind. tarisch vertreten sein oder in derselben Anzahl von Problematisch ist auch, wie eine gemeinsame paneu- Mitgliedstaaten mindestens 3 Prozent je Mitglieds- ropäische Liste für die Europawahl aufgestellt werden taat in der letzten Europawahl erreicht haben, Art. 3 kann. Weder innerhalb des europäischen Verteilungs- Abs. 1 lit. b). Der Anerkennung als EPP sind europa- schlüssels noch nach dem EuWG sind solche transna- rechtlich damit hohe Hürden gesetzt. tionalen Kandidaten möglich. Das aktive und das pas- Im Ergebnis hat sich der EU-Gesetzgeber somit für sive Wahlrecht ist bei EU-Bürger*innen zwar nicht das sog. konföderierte Organisationsmodell ent- mehr an die Nationalität gleichwohl aber an den schieden und damit föderativen oder supranationalen Wohnsitz gekoppelt. Ob man nun in seinem Wohn- Modellen weitgehend eine Absage erteilt.20 sitzland oder seinem Herkunftsland wählt, ändert nichts daran, dass man nur nationale Listen wählt. Ein Die starke Orientierung an der Vertretung der Parteien Grieche kann also z.B. nur dann in Deutschland kan- in den einzelnen Mitgliedstaaten macht den Zusam- didieren, wenn er auch dort wohnt. Grenzüberschrei- menschluss zu Parteienbündnissen bestehend aus nati- tende Kandidaturen, die ein „europäisches Volk“ her- onalen Parteien beinahe unumgänglich.21 Für eine sich vortreten lassen, sind nach jetzigem Stand nicht zuläs- in Gründung befindende oder gerade neugegründete sig. Entsprechend der Sitzverteilung im Europäischen Partei stellen die genannten Voraussetzungen eine Parlament können nur die einzelnen Parteilisten pan- große Hürde dar. In der Regel dürfte eine EPP nur europäisch bestückt werden, insofern die Wählbarkeit über das Zusammenwachsen nationaler Parteien als nach den nationalen Umsetzungsgesetzen gegeben ist. sog. „Bündnis politischer Parteien“ möglich sein. Da dadurch der nationalstaatliche Kontext im innerpartei- Für DiEM heißt dies, dass die angestrebte paneuropäi- lichen Diskurs gestärkt werden dürfte, ist nicht davon sche Liste als offzielle Wahlliste bei den Europa- auszugehen, dass nach diesem Konzept in Europa- wahlen 2019 nicht zu realisieren ist. Im Rahmen eines wahlen gesamteuropäische Programme oder Visionen parteiinternen Abstimmungsprozesses könnte DiEM als zentrale Wahlkampfthemen eine Rolle spielen zumindest informell eine paneuropäische Liste auf- dürften. Dementgegen wird es weiter so bleiben, dass stellen. Dies könnte entsprechend den Entscheidungs- aus nationalen Beweggründen gewählt wird. statuten von DiEM z.B in der Form geschehen, dass die nationalen Listenplätze in einer europaweiten Ab- III. Folgen für das Konzept von DiEM25 stimmung aller DiEM-Mitglieder vergeben werden. Überträgt man die ermittelten Erkenntnisse auf die von Den europäischen Unterstützer*innen verbleibt so DiEM bekundete Absicht, die erste wirkliche paneuro- die Möglichkeit, auf maßgebliche Personalentschei- päische Partei zu werden und als solche zur Europa- dungen ihrer Partei in allen EU-Mitgliedstaaten Ein- wahl 2019 anzutreten, muss konstatiert werden, dass fluss zu nehmen. Ein solches grenzüberschreitendes die in Art. 3 Abs. 1 lit b) VO 1141/2014 geforderten Beteiligungsverfahren war bisher in der Praxis von Quoren nicht mehr zu erreichen sind. Eine Teilnahme DiEM, soweit ersichtlich, üblich und könnte auch so an den Wahlen zum Europäischen Parlament kann erhebliche politische Außenwirkung entfalten. nicht als EPP erfolgen, sondern wird nur über eine Paneuropäische Wahllisten könnten der nächste poli- Anerkennung als nationale Einzelpartei möglich sein. tische Schritt der Europäisierung der Europawahlen Um zumindest in der Öffentlichkeit mit dem An- sein, folgen sie doch beinahe logisch auf die Ent- spruch wahrgenommen zu werden, eine paneuropäi- scheidung der etablierten EPP, bereits zur Wahl 2014 sche Partei zu sein, müsste DiEM in den einzelnen mit europäischen „Spitzenkandidaten“ anzutreten.22 Mitgliedstaaten versuchen, eigene nationale „Able- ger“ zu gründen oder nationale Bündnispartner unter D. Die paneuropäische EPP – Verheißung oder Luftschloss 20 Vgl. zu diesen Begriffen unter vielen Kluth, in: Calliess/Ruf- Der europäische Gesetzgeber hatte mit der positiv- fert (Hrsg.), EUV/AEUV, AEUV Art. 224 Rn. 3. rechtlichen Normierung des Parteienstatus im Maas- 21 Zur Kritik vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, EUV Art. 10 Rn. 110 ff. m.w.N. 22 Dazu Lehner, NVwZ 2015, S. 20.

104 MIP 2018 24. Jhrg. Schuster – Democracy in Europe Movement 2025 [...] „Aufgespießt“ tricht-Vertrag hehre Ziele verfolgt. Er hat diese in rentscheidungen basierende Zuschauerrolle zu relati- den folgenden 30 Jahren nicht nur bestätigt, sondern vieren und damit dem Wortlaut Genüge zu tun. Der wiederholt betont und auch zuletzt wieder hervorge- vorgegebene Rahmen stärkt die nationalen Parteien hoben: Europäische Politische Parteien sollen „die sowie die Mitgliedstaaten und schwächt die europäi- Bürgerbeteiligung und Inklusivität der Wahlen erhö- sche Demokratie. Die Mitglieder eines europäischen hen, die europäische Dimension der Debatte stär- Parteienbündnisses haben wegen der starken Eigen- ken, den Trend der niedrigen Wahlbeteiligung um- ständigkeit kaum politische Einflussmöglichkeiten kehren und die demokratische Legitimation der poli- auf den nationalen und damit auch nicht auf deren eu- tischen Willensbildung der EU weiter steigern.“ Der ropäischen Diskurs. Es fällt schwer, sich vorzustellen, Europäische Gesetzgeber sieht die Stärkung der Rol- dass (zulässige) nationale Meinungstendenzen in ei- le der EPP im europäischen Kontext, so scheint es, nem solchen Rahmen gesamteuropäischen Diskussio- als eine zentrale Maßnahme an, um das viel geschol- nen weichen. Den Bürger*innen kann dann aber auch tene Demokratiedefizit abzubauen und eine wirklich ein politischer Wettbewerb um Meinungen im ge- europäische Zivilgesellschaft zu schaffen. Kurz ge- samteuropäischen Kontext nicht vermittelt werden. Es sagt sollen EPP die Rolle einnehmen, die sie im nati- wird stets die Frage im Vordergrund stehen: „Was onalen Kontext spielen.23 kostet uns (Deutsche, Franzosen, Polen, …) das?“27 Allein, das europäische Recht gibt eine solche Rol- Es ist nicht gesagt, dass EPP, die einem föderativen lenzuweisung bislang nicht her. Parteien sollen als Organisationsmodell folgen, nationale Egoismen „Transmissionsriemen“24 gesellschaftlicher Willens- eindämmen können. Es leuchtet aber ein, dass sich bildung in den institutionellen Entscheidungsprozess nationale Politiken in einer europäisch strukturierten hineinwirken. Diese Funktion und die damit verbun- Partei stärker als bisher an einem gesamteuropäi- dene Zugkraft ist eng verbunden mit dem Verspre- schen Konzept orientieren müssen.28 Eine derart auf- chen gegenüber den Wähler*innen, dass die in den gestellte Partei muss beginnen, das Modell eines Parteien geführten Diskussionen im Entscheidungs- „Europas der Nationen“ i.S. eines „Europas des Ro- prozess relevant sind und Wirksamkeit entfalten,25 sinenpickens“29 zu überwinden. Nationale Politik sich der Input folglich auch im Output widerspiegelt. wird von Europa aus gedacht und nicht umgekehrt. Das Versprechen ist untrennbar mit der Rolle und Nur wenn sich eine EPP darauf einlässt, in ihrer Po- den Aufgaben des Parlaments, bei EPP also mit der litik Griechen nicht ausschließlich als Griechen und Rolle des Europäischen Parlaments verknüpft.26 Da- Deutsche nicht ausschließlich als Deutsche zu den- mit lässt sich auch die relative Schwäche der EPP im ken, sondern als Bürger*innen der Union zu verste- öffentlichen Meinungsdiskurs teilweise erklären. hen, die – ob sie wollen oder nicht – ein gemeinsa- Das EP ist unter den europäischen Institutionen, ob- mes Schicksal teilen, kann eine öffentliche Diskussi- wohl als einziges unmittelbar legitimiert, auch nach on darüber beginnen, wie die unterschiedlichen He- Lissabon weiterhin das machtpolitisch Schwächste. misphären solidarisch sein können und Zukunft ge- Ursächlich dafür ist vor allem, dass das EP gerade meinsam gestaltet werden kann. bei den klassischen Parlamentsaufgaben der Regie- Das Projekt „DiEM“ als paneuropäische Partei ver- rungskontrolle und der Gesetzesinitiativfunktion sucht genau diesen Weg zu gehen. Unterschiede wer- kompetenziell noch defizitär ausgestattet ist. Es de nicht kleingemacht und Bedürfnisse nicht über ei- mangelt gerade an solchen Funktionen, die die Rolle nen Kamm geschert. Mit ihrer Idee eines gesamteu- eines Parlaments in einer Demokratie definieren. Als ropäischen Programms und einer paneuropäischen parlamentarischer „Key-Player“ muss sich dies auch Liste fördern sie den Diskurs zwischen den unter- auf die Rolle von Parteien auswirken. schiedlichen Nationalitäten. Es bleibt zu hoffen, dass Die sekundärrechtliche Umsetzung des Art. 10 Abs. 4 das europäische Parteienrecht mit dieser Form der EUV leistet keine Abhilfe dabei, diese auf Struktu- Integration Schritt hält.

23 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 21 Rn. 19 ff.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, EUV Art. 10 27 Vgl. dazu Pehle/Roland, ZfP 2010, S. 294 (303). Rn. 14 ff. 28 Dazu schon Schiffauer, MIP 1996, S. 80 (91 ff.); Tsatsos, EuGRZ 24 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EUV, Art. 10 1994, S. 45 (50); kritisch dazu unter vielen Meier, Transnatio- Rn. 49. nale Listen – Eine Kopfgeburt, Tagesspiegel.de v. 25.01.2018, 25 So auch Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 10 abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/transnatio EUV Rn. 62; Merten, MIP 2013, S. 30 (36). nale-listen-eine-kopfgeburt/20886540.html. 26 So auch Europäische Kommission, COM (2012) 499 final, 29 So aber wohl Orbán, Zerfällt Europa?, FAZ-Online v. Vorschlag v. 12.9.2012, S. 1. 15.07.2016.

105 „Aufgespießt“ Angenendt – Parteienvertrauen in Deutschland 2017 [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Parteienvertrauen in Deutschland 2017: Ausmaß gen zudem ein volatileres Parteiensystem und führen und Determinanten zu einer Schwächung der etablierten Parteien (Pog- untke 2014). Als problematisch erachtet wird die Michael Angenendt, M.A.1 sinkende Zufriedenheit vor allem dann, „if the par- ties themselves become the center of protest and if anti-party sentiments occur increasingly, [because] 1. Parteien im Dauerfeuer der Kritik the core actors of representative democracy are dis- credited” (Rossteutscher et. al. 2015: 53). Den aktuel- Das Vertrauen der Bürger in die politischen Instituti- len Trend in den Bevölkerungseinstellungen fasst onen ihres Landes lässt sich als Potenzial bzw. gesell- Norris (2011: 21) unter dem Begriff „critical citi- schaftliche Ressource verstehen, mit der soziale, zens“ zusammen: So zeigt sich zwar im Zeitverlauf wirtschaftliche und politische Krisen leichter über- in modernen Demokratien eine Zunahme der gene- wunden werden können als in der Abwesenheit poli- rellen Akzeptanz demokratischer Werte und Prinzi- tischen Vertrauens (Tyler 1998: 270-272). Es stellt pien, diese geht jedoch einher mit einer gleichzeitig sich daher in Auseinandersetzung mit dem Begriff gestiegenen Skepsis gegenüber den zentralen Akteu- des Vertrauens die Frage, wer wem bzw. welchen ren wie Parteien, Parlamenten und Regierungen (vgl. politischen Institutionen aus welchen Gründen ver- auch Scarrow 1996: 311; Dalton 2004: 195). traut. In der Bundesrepublik stehen insbesondere die Par- 2. Parteienvertrauen im Vergleich teien im Fokus der Kritik. Das Phänomen der Partei- Wie viel Vertrauen bringt die Bevölkerung in enkritik ist dabei „so alt wie die Parteien selbst“ Deutschland den Parteien im Jahr 2017 tatsächlich (Stöss 1990: 15); Parteien seien „Unpopulär aus Tra- entgegen? Tabelle 1 gibt einen Überblick über das dition“ (Wiesendahl 2012). So begann in der Bun- Vertrauen in verschiedene Institutionen und ermög- desrepublik bereits in den 1970er Jahren die Debatte licht dadurch den Vergleich zu anderen öffentlichen um „die Legitimationskrise des Parteiensystems“ Einrichtungen: (Rönsch 1977: 366; vgl. Poguntke 1999) und erreichte ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren (Arzheimer Tabelle 1: Vertrauen in öffentliche Einrichtungen in 2002: 18). An vielen Kommunal- und selbst bei eini- Deutschland (2017) gen Landtagswahlen beteiligt sich mittlerweile weni- eher eher nicht weiß ger als die Hälfte der Wahlberechtigten (siehe u.a. vertrauen vertrauen nicht Gehne 2008: 116ff.). Zudem sinken die Mitglieds- Polizei 86,4 12,3 1,4 zahlen der deutschen Parteien: Es treten weniger Regionale/lokale Behörden 75,5 21,6 2,9 Justiz 66,2 31,2 2,6 Menschen den Parteien bei, als altersbedingt aus- Bundeswehr 64,9 27,1 8,0 scheiden (Niedermayer 2016; vgl. auch van Biezen/ Bundestag 59,6 35,0 5,4 Poguntke 2012). Mit der AfD ist seit der letzten Bundesregierung 58,7 37,3 4,0 Bundestagswahl nun auch erstmals eine rechtspopu- Öffentliche Verwaltung 56,8 30,8 3,4 listische Partei in den Bundestag eingezogen, womit Vereinte Nationen 47,2 39,8 13,0 Europäische Union 45,6 46,1 8,3 eine Angleichung an die Parteienlandschaft anderer Politische Parteien 36,8 57,9 5,3 europäischer Staaten stattgefunden hat. Offen bleibt, ob es sich dabei tatsächlich um einen Niedergang der Eigene Berechnung auf Grundlage des Eurobarometers 2017; Befragte= 1605. Parteien oder um eine Phase der Neustrukturierung handelt (Gehne/Spier 2010). Wie Tabelle 1 zeigt, setzen die Bürger das meiste Der internationale Vergleich zeigt darüber hinaus, Vertrauen in die Ordnungs- und Rechtsorgane, wobei dass sich die steigende Unzufriedenheit mit den Par- der Polizei mit mehr als 85 Prozent Zustimmung am teien nicht auf Deutschland beschränkt, sondern ein häufigsten vertraut wird. Justiz und Bundeswehr fol- generelles Phänomen moderner, westlicher Demo- gen an dritter bzw. vierter Stelle. Den regionalen oder kratien darstellt (u.a. Dalton 2008, 2004; Dalton/ lokalen Behörden vertrauen drei von vier Befragten. Weldon 2005; Pharr/Putnam 2000; Norris 1999). Geringeres Vertrauen wird in die politischen Instituti- Die gesellschaftlichen Veränderungen und die man- onen gesetzt: Dem Bundestag, der Bundesregierung, gelnde Integrationskraft der Volksparteien begünsti- der Europäischen Union und den Parteien vertrauen weniger als zwei Drittel der Befragten. Die Parteien in 1 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften, Lehrstuhl Vergleich politischer Systeme Deutschland genießen dabei das geringste Vertrauen: und Politikfeldanalyse, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Mehr als jeder zweite Befragte misstraut ihnen.

106 MIP 2018 24. Jhrg. Angenendt – Parteienvertrauen in Deutschland 2017 [...] „Aufgespießt“

Im Vergleich zum Vorjahr zeigen sich Kontinuitäten vertraute (siehe Abbildung A im Anhang), sind es hinsichtlich der Rangfolge: Die Ordnungs- und 2017 zehn Staaten mit ähnlich hohen oder höheren Rechtsorgane genießen nach wie vor das höchste Vertrauenswerten. Vertrauen, während die politischen Institutionen auf den hinteren Plätzen rangieren (vgl. Tabelle A im 3. Parteienvertrauen und Sozialstruktur Anhang). Dennoch verzeichnen Letztere einen deut- lichen Vertrauenszuwachs, wobei die Parteien am Im Folgenden wird dargestellt, ob sich das Parteien- wenigsten davon profitieren, da sie den geringsten vertrauen zwischen den gesellschaftlichen Schichten Zuwachs verzeichnen. unterscheidet. Den Ausgangspunkt bilden in der bis- herigen Literatur weitgehend zwei widerstreitende Genießen die Parteien ausschließlich im Vergleich Thesen (vgl. zusammenfassend Biehl 2013: 72-74). zu anderen Institutionen in Deutschland ein geringes Vertrauen oder ist die Parteienverdrossenheit hierzu- Einerseits wird postuliert, dass zunehmendes Miss- lande generell ausgeprägter als in anderen Staaten? trauen gegenüber den Parteien das Resultat unproble- Abbildung 1 gibt Auskunft über die Bewertung der matischer gesellschaftlicher Entwicklungen ist (Dalton Parteien im europäischen Vergleich: 2008). Demzufolge sei blindes Vertrauen in die poli- tischen Institutio- nen Ausdruck ei- nes vordemokrati- schen Politikver- ständnisses und nehme mit der Ausbreitung post- materialistischer Wertevorstellun- gen (Inglehart 1999) kontinuier- lich ab. Misstrauen wird gemäß die- ser Sichtweise als Ausdruck mündi- ger und kritischer Bürger verstan- den (Bude et al. 2010: 22). Dem- nach misstrauen den Parteien eher Abbildung 1 zeigt deutlich, dass das Vertrauen der ressourcenstarke Bürger der höheren gesellschaftli- deutschen Bevölkerung in die Parteien im Vergleich chen Schichten (Biehl 2013: 73). zu ihren europäischen Nachbarn relativ hoch ist. Nur Andererseits wird das politische Misstrauen als Kri- in den Niederlanden und in Luxemburg vertrauen senphänomen verstanden (ebd.: 72). Die Unzufrie- anteilig mehr Personen den Parteien als in Deutsch- denheit mit den Ergebnissen des politischen Systems land. Auch die skandinavischen Länder weisen rela- sowie der eigenen wirtschaftlichen Lage und des so- tiv hohe Zustimmungswerte auf, ebenso wie Öster- zialen Status spiegelten sich folglich in einem gerin- reich, die Türkei, Albanien und Malta. Süd- und ost- gen Vertrauen in die politischen Akteure wider europäische Staaten weisen mit unter 20 Prozent Zu- (ebd.: 74). Mangelndes Vertrauen sei demgemäß der stimmung geringere Vertrauenswerte auf. Griechen- Ausdruck von Defiziten politischer Repräsentation land, Lettland, Spanien und Zypern bilden das (ebd.). Empirisch sollten sich dann vorwiegend res- Schlusslicht: Weniger als jeder zehnte Bürger ver- sourcenschwache Bürger der unteren sozialen traut den dortigen Parteien. Schichten durch Misstrauen kennzeichnen (ebd.: 73- Die Steigerung des Parteienvertrauens zwischen 74). Die widerstreitenden Thesen wurden von Biehl 2016 und 2017 beschränkt sich nicht auf Deutsch- (ebd.) anhand einer Bevölkerungsbefragung aus dem land: Während 2016 nur in Dänemark und den Nie- Jahr 2010 für die Bundesrepublik einer empirischen derlanden etwa jeder dritte Befragte den Parteien Prüfung unterzogen. Biehl resümiert, dass sozioöko-

107 „Aufgespießt“ Angenendt – Parteienvertrauen in Deutschland 2017 [...] MIP 2018 24. Jhrg. nomisch schwächer gestellte Personen ein im Ver- en in die Parteien. Generalisierbare Aussagen über gleich zu höheren sozialen Sichten geringeres Partei- die Angehörigen der Oberschicht sind aufgrund der envertrauen aufweisen und sieht daher „das geringe geringen Fallzahl (<10) nicht möglich. Von denjeni- Vertrauen nicht als Modernisierungssymptom, son- gen, die ihre finanzielle Haushaltslage eher schlecht dern eher als Ausdruck einer gestörten Beziehung beurteilen, vertraut nur eine von acht Personen den zwischen Bürgern und Parteien“ (ebd.: 86). Ob es sich Parteien. Wird die Finanzsituation eher gut beurteilt, bei den Befunden lediglich um eine Momentaufnah- vertrauen vier von zehn Personen den Parteien. Er- me handelt oder die postulierten Thesen auch sieben kennbar sind ebenfalls Unterschiede zwischen West- Jahre später Gültigkeit besitzen, wird anhand der Da- und Ostdeutschen. Letztere sind den Parteien gegen- ten des Eurobarometers 2017 im Folgenden überprüft. über deutlich misstrauischer eingestellt als West- Tabelle 2: Parteienvertrauen und Sozialstruktur (2017) deutsche. eher eher nicht weiß Die Ergebnisse von Tabelle 2 deuten auf die Bestäti- vertrauen vertrauen nicht gung der Krisenthese hin: Insgesamt kennzeichnen Gesamt 36,8 57,9 5,3 sich ressourcenschwache Personen der unteren ge- Geschlecht sellschaftlichen Schichten häufiger durch eine par- Männer 37,2 58,6 4,2 teienskeptische Sichtweise als Personen höherer Frauen 36,4 57,1 6,5 Alter Schichten. Doch welche der berücksichtigten Merk- 15 bis 24 Jahre 31,0 59,2 9,9 male sind ursächlich für das Parteienvertrauen? Ta- 25 bis 39 Jahre 33,3 63,5 3,1 belle 3 gibt darüber abschließend Auskunft. 40 bis 54 Jahre 35,4 57,6 7,0 55 Jahre oder älter 39,2 56,2 4,6 Tabelle 3: Determinanten des Parteienvertrauens Bildungszeit (in Jahren) Regressionskoeffizient Weniger als 15 Jahre 37,0 57,7 5,3 Variablen Exp (B) B 16 bis 19 Jahre 32,4 62,2 5,4 Mehr als 20 Jahre 44,3 52,1 3,5 Geschlecht ,14 1,15 Schichtzugehörigkeit Alter ,01 *** 1,01 Arbeiterklasse 22,5 72,5 4,9 Bildungszeit (in Jahren) ,01 1,01 Untere Mittelschicht 26,2 70,0 3,8 Untere Mittelschicht ,00 1,00 Mittelschicht 41,8 53,4 4,8 Mittelschicht ,46 * 1,58 Obere Mittelschicht 51,2 43,5 5,4 Obere Mittelschicht ,67 * 1,96 Oberschicht 42,9 42,9 14,3 Oberschicht 1,37 3,92 Finanzlage des Haushalts Finanzlage des Haushalts ,73 *** 2,08 Eher gut 41,3 53,5 5,2 Bundesland ,79 *** 2,19 2 Eher schlecht 12,6 84,0 3,5 Pseudo R (Nagelkerkes) ,16 Bundesland Befragte (n) 1.143 Westdeutschland 42,2 52,3 5,5 Geschlecht= Referenz Männer; Schichtzugehörigkeit= Referenz Ostdeutschland 24,1 71,1 4,8 Arbeiterklasse; Finanzlage= Referenz eher schlechte Lage; Bundes- Eigene Berechnung auf Grundlage des Eurobarometers 2017; land= Referenz Ostdeutschland. Signifikanzen: ***= 0,1 %-Ni- Befragte= 1605. veau; **= 1 %-Niveau; *= 5 %-Niveau. Eigene Berechnung auf Grundlage des Eurobarometers 2017. Zwischen Männern und Frauen lassen sich 2017 in Deutschland hinsichtlich des Parteienvertrauens kei- Es lassen sich keine geschlechtsspezifischen Unter- ne nennenswerten Unterschiede feststellen. Jeweils schiede hinsichtlich des Parteienvertrauens in zwei von drei Befragten neigen eher zu Misstrauen. Deutschland feststellen, wie bereits durch die de- Differenzen zeigen sich hinsichtlich der Altersstruk- skriptive Übersicht zu vermuten war. Im Gegensatz tur: Ältere Personen vertrauen häufiger als jüngere dazu ist ein hochsignifikanter positiver Effekt des Personen. Die Bildung(szeit) der Befragten zeigt in Lebensalters auf das Parteienvertrauen erkennbar: keine eindeutige Richtung. Wer länger als 20 Jahre Mit jedem zusätzlichen Lebensjahr steigt die Wahr- in schulischer- und beruflicher Ausbildung war, ver- scheinlichkeit, den Parteien eher zu vertrauen, um traut mehr als diejenigen mit geringerer Ausbil- ein Prozent. Da in der Analyse die Finanzlage und dungszeit. Allerdings vertrauen Befragte mit einer Schichtzugehörigkeit kontrolliert wurde, handelt es Ausbildungszeit zwischen 16 und 19 Jahren seltener sich um einen eigenständigen Effekt, d.h. ältere Per- den Parteien als Befragte mit einer noch kürzeren sonen vertrauen eher den Parteien, unabhängig Ausbildungszeit. Deutlich erkennbar sind schicht- davon, ob sie eine im Vergleich zu jüngeren Jahren spezifische Unterschiede: Während nur jeder fünfte bessere Finanzlage aufweisen oder nicht. Nichtsdes- Angehörige der Arbeiterklasse den Parteien vertraut, totrotz ist die finanzielle Situation ein wichtiger Er- hat in der oberen Mittelschicht jeder Zweite Vertrau- klärungsfaktor: Befragte, die ihre Haushaltslage eher

108 MIP 2018 24. Jhrg. Angenendt – Parteienvertrauen in Deutschland 2017 [...] „Aufgespießt“ gut beurteilen, weisen im Vergleich zu Befragten mit 4. Fazit eher schlechter Beurteilung eine mehr als doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit auf, Parteien zu vertrauen. Die empirischen Befunde belegen das im Vergleich Einen weiteren Erklärungsfaktor stellt die Schichtzu- zu anderen Institutionen geringe Vertrauen der Deut- gehörigkeit dar. Auffällig ist, dass zwischen den An- schen in die Parteien, wobei die Bewertung der Par- gehörigen der Arbeiterklasse und der unteren Mittel- teien im europäischen Vergleich hoch ausfällt. Hier schicht keine überzufälligen Unterschiede bestehen. zeigt sich zwischen 2016 und 2017 eine deutliche Erst darüber hinaus zeigen sich signifikante Diffe- Zunahme des Vertrauens, sodass Deutschland im renzen: Je höher die Schichtzugehörigkeit, desto grö- Jahr 2017 zu den drei Ländern in Europa gehört, in ßer ist die Wahrscheinlichkeit, den Parteien zu ver- denen den Parteien am häufigsten vertraut wird. Hin- trauen. Befragte der Mittelschicht weisen eine im sichtlich der Ursachen des Parteienvertrauens zeigen Vergleich zu Arbeitern fast sechzig Prozent höhere sich schichtspezifische und strukturelle Unterschie- Chance auf, zu vertrauen, Angehörige der oberen de: Angehörige höherer Schichten und finanziell Mittelschicht bereits eine knapp doppelt so hohe Bessergestellte vertrauen eher als Angehörige niedri- Chance. Die fehlende Signifikanz für Angehörige ger Schichten und finanziell Schlechtergestellte, der Oberschicht resultiert voraussichtlich aus der ge- ebenso wie Westdeutsche im Vergleich zu Ostdeut- ringen Fallzahl für diese Kategorie. Die Bildung der schen. Letztlich bekräftigen die Daten somit vorher- Befragten erweist sich als insignifikant. Dabei ist al- gehende Analysen, die ein geringes Parteienvertrau- lerdings zu berücksichtigen, dass im Eurobarometer en in Deutschland als Ausdruck von Unzufriedenheit 2017 nicht der formale Bildungsabschluss erhoben mit den etablierten politischen Akteuren deuten und wurde, sondern ausschließlich die Schul- und Be- nicht als Folge von Modernisierungsprozessen. rufsbildungszeit in Jahren. Neben den individuellen Offen bleibt, ob und inwieweit das Parteienvertrauen Eigenschaften der Befragten zeigt sich ein erklä- durch die zunehmende Polarisierung des deutschen rungskräftiger struktureller Faktor: Westdeutsche Parteiensystems leidet. Etwaige Rückkoppelungsef- vertrauen den Parteien im Vergleich zu Ostdeut- fekte auf das Elektorat infolge sinkender Kooperati- schen deutlich häufiger; Erstere weisen eine mehr onsbereitschaft zwischen den Parteien (Schmitt als doppelt so hohe und hochsignifikante Wahr- 2018; vgl. auch Angenendt/Schmitt 2017) bieten in- scheinlichkeit auf, zu vertrauen. Einkommensunter- sofern einen relevanten Anknüpfungspunkt für künf- schiede zwischen Ost und West scheinen dabei nicht tige Forschungsanstrengungen. der ausschlaggebende Faktor zu sein, da der Unter- schied unabhängig von der finanziellen Haushaltsla- 5. Literaturverzeichnis ge der Befragten bestehen bleibt. Angenendt, Michael (2017): Zum Verhältnis von in- Die erklärte Varianz des empirischen Modells liegt stitutionalisiertem Misstrauen und persönlichem bei 16 Prozent und damit eher im unteren Bereich. Vertrauen in der Politik, MIP 2017, S. 72-81. Sozialstrukturelle Determinanten erweisen sich in der Konsequenz zwar als einflussreich, jedoch sind Angenendt, Michael; Schmitt, Johannes (2015): weitere Forschungsanstrengungen notwendig. Die (Warum) Vertrauen wir Politikern?. In: Krisen, Pro- vorangegangene Analyse erfolgte auf Grundlage des zesse, Potenziale, Hrsg. Simon Scholz und Julian Eurobarometers 2017. Der Vorteil liegt in der Aktu- Dütsch, S. 293-318. Bamberg: Bamberg University alität der Daten, geht allerdings auf Kosten eines Press. umfangreicheren Sets an möglichen erklärenden Angenendt, Michael; Schmitt, Johannes (2017): Der Faktoren. Potenziell einflussreiche Erklärungskon- Lohn der Kooperation. Vorzeitige Regierungsbeen- zepte, wie bspw. das generalisierte soziale Vertrauen digungen als erfolgreiche Strategie im Parteienwett- (Angenendt 2017; Angenendt/Schmitt 2015, Zmerli/ bewerb?. In: Parteien unter Wettbewerbsdruck, Newton 2008; Newton 1999), wurden nicht erhoben. Hrsg. Sebastian Bukow und Uwe Jun, S. 203-228. Durch den Fokus der obigen Analyse auf die Bun- Wiesbaden: Springer VS. desrepublik war es zudem nicht möglich, institutio- Arzheimer, Kai (2002): Politikverdrossenheit. Be- nelle Faktoren, wie bspw. das Wahl- oder Parteien- deutung, Verwendung und empirische Relevanz ei- system (van der Meer 2010; Criado/Herreros 2007), nes politikwissenschaftlichen Begriffs. Wiesbaden: vergleichend einzubeziehen. Westdeutscher Verlag.

109 „Aufgespießt“ Angenendt – Parteienvertrauen in Deutschland 2017 [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Biehl, Heiko (2013): Noch vertrauenswürdig? Kon- Pharr, Susan J.; Putnam, Robert D. (2000): Disaf- zept und Empirie des gesellschaftlichen Vertrauens fected Democracies. What's Troubling the Trilateral in politische Parteien. In: Abkehr von den Parteien? Countries? Princeton: Princeton University Press. Parteiendemokratie und Bürgerprotest, Hrsg. Oskar Poguntke, Thomas (1999): Das Parteiensystem der Niedermayer, Benjamin Höhne und Uwe Jun, S. 67- Bundesrepublik Deutschland: Von Krise zu Krise? 92. Wiesbaden: Springer VS. In: 50 Jahre Bundesrepublik. Rahmenbedingungen – Bude, Heinz; Fischer, Karsten; Huhnholz, Sebastian Entwicklungen – Perspektiven, Hrsg. Thomas Ellwein (2010): Vertrauen. Die Bedeutung von Vertrauens- und Everhard Holtmann, PVS-Sonderheft 30. Opla- formen für das soziale Kapital unserer Gesellschaft. den/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. S. 429-439. Gedanken zur Zukunft. Bad Homburg v.d. Höhe: Poguntke, Thomas (2014): Towards a New Party Sys- Herbert-Quandt-Stiftung. tem: The Vanishing Hold of the Catch-all Parties in Criado, Henar; Herreros, Francisco (2007): Political Germany. In: Party Politics, Vol. 20, Nr. 6, S. 950-963. Support: Taking Into Account the Institutional Con- Rossteutscher, Sigrid; Bieber, Ina; Scherer, Philipp text. In: Comparative Political Studies, Vol. 40, (2015): Anti-Party Voting in Germany: The Alterna- S. 1511-1532. tive for Germany (AfD) and the Pirate Party. In: Anti- Dalton, Russell J. (2004): Democratic Challenges, Party Parties in Germany and Italy. Protest Movements Democratic Choices. The Erosion of Political Sup- and Parliamentary Democracy, Hrsg. Andrea De Petris port in Advanced Industrial Democracies. Oxford, und Thomas Poguntke. Rom: Luiss University Press. New York: Oxford University Press. Rönsch, Horst-Dieter (1977): Reaktionen auf staatli- Dalton, Russell; Weldon, Steven (2005): Public Im- ches Handeln am Beispiel des Wahlverhaltens. In: ages of Political Parties. A Necessary Evil? In: West Bürgerbeteiligung und Bürgerinitiativen. Legitimation European Politics, Vol. 28, S. 931-951. und Partizipation in der Demokratie angesichts gesell- Dalton, Russell J. (2008): Citizen Politics. Public schaftlicher Konfliktsituationen, Hrsg. Hans Matthöfer, Opinion and Political Parties in Advanced Industrial S. 344-395. Villingen-Schwenningen: Neckar-Verlag. Democracies. Washington, D.C: CQ Press. Scarrow, Susan E. (1996): Politicians against Parties: Gehne, David (2008): Bürgermeisterwahlen in Nord- Anti-Party Arguments as Weapons for Change in Ger- rhein-Westfalen. Wiesbaden: Springer VS. many. In: European Journal of Political Research, Vol. 29. S. 297–317. Gehne, David; Spier, Tim (2010): Krise oder Wandel der Parteiendemokratie? Wiesbaden: Springer VS. Schmitt, Johannes (2018): Zur Wirkung einer Gro- ßen Koalition. Die Renaissance des polarisierten Inglehart, Ronald (1999): Postmodernization Erodes Pluralismus und die Polarisierung des deutschen Par- Respect for Authority, but Increases Support for De- teiensystems. In: MIP. Mitteilungen des Instituts für mocracy. In: Critical Citizens. Global Support for Deutsches und Internationales Parteienrecht und Par- Democratic Governance, Hrsg. Pippa Norris, S. 236- teienforschung, Vol. 24, S. 48–63. 256. Oxford: Oxford University Press. Stöss, Richard (1990): Parteikritik und Parteiver- Newton, Kenneth (1999): Social and Political Trust in drossenheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Established Democracies. In: Critical Citizens: Global Nr. 21. S. 15-24. Support for Democratic Governance, Hrsg. Pippa Norris, S. 169-187. Oxford: Oxford University Press. Tyler, Tom R. (1998): Trust and Democratic Gover- nance. In: Trust and Governance, Hrsg. Valerie Niedermayer, Oskar (2016): Parteimitglieder in Braithwaite und Margaret Levi, S. 269-294. New Deutschland. Version 2016. Arbeitshefte aus dem York: Russell Sage Foundation. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 26. Online verfügbar unter: http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forsch van Biezen, Ingrid; Poguntke, Thomas (2012): Go- ung/systeme/empsoz/schriften/Arbeitshefte/P-PM16- ing, Going, …… Gone? The Decline of Party Mem- NEU.pdf (zuletzt abgerufen am: 20.01.2018). bership in Contemporary Europe. In: European Jour- nal of Political Research, Vol. 51, Nr. 1, S. 24-56. Norris, Pippa (1999): Critical Citizens. Global Sup- port for Democratic Governance. Oxford: Oxford van der Meer, Tom (2010): In What We Trust? A University Press. Multi-level Study into Trust in Parliament as an Eval- uation of State Characteristics. In: International Re- Norris, Pippa (2011): Democratic Deficit: Critical view of Administrative Sciences, Vol. 76, S. 517-536. Citizens Revisited. New York: Cambridge University.

110 MIP 2018 24. Jhrg. Angenendt – Parteienvertrauen in Deutschland 2017 [...] „Aufgespießt“

Wiesendahl, Elmar (2012): Unpopulär aus Tradition. Parteienverachtung in Deutschland und die Folgen. In: Die verstimmte Demokratie. Moderne Volksherr- schaft zwischen Aufbruch und Frustation, Hrsg. Stephan Braun und Alexander Geisler, S. 79-91. Wiesbaden: Springer VS. Zmerli, Sonja; Newton, Kenneth (2008): Social Trust and Attitudes towards Democracy. In: Public Opinion Quarterly, Vol. 72, S. 706-724.

6. Anhang Tabelle A: Vertrauen in öffentliche Einrichtungen in Deutschland (2016) (eher) (eher) nicht vertrauen vertrauen Polizei 78,0 19,5 Bundeswehr 66,0 23,1 Regionale/lokale Behörden 63,0 31,7 Justiz 56,0 40,5 Öffentliche Verwaltung 54,0 39,4 Vereinte Nationen 40,1 44,3 Bundestag 41,1 51,4 Bundesregierung 38,1 56,0 Europäische Union 27,3 61,2 Politische Parteien 21,1 72,7 Eigene Berechnung auf Grundlage des Eurobarometers 2016; Befragte= 1592.

111 „Aufgespießt“ Bäcker – Damit ist kein Staat zu machen [...] MIP 2018 24. Jhrg.

Damit ist kein Staat zu machen: Von Ver- materiell7) rechtskräftiges Urteil eines Verwaltungs- fassungsfeinden und einem weiteren Pro- gerichts gebunden sind. Der materiellen Rechtskraft blem mit der Verfassungstreue fähig sind auch Beschlüsse der Verwaltungsgerichte in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, die

1 zwar nur eine vorläufige Regelung darstellen, die aber Dr. Alexandra Bäcker grundsätzlich endgültig und bindend getroffen werden soll8. Verbindlich sind nach § 31 Abs. 1 BVerfGG Die NPD wollte in der Stadthalle Wetzlar eine Wahl- insbesondere auch die Entscheidungen des Bundes- kampfveranstaltung abhalten … und durfte nicht. verfassungsgerichts, zu denen neben Urteilen auch Das ist keine Seltenheit und bietet normalerweise die Beschlüsse in Verfahren der Hauptsache wie 9 keinen Anlass, sich darüber zu beschweren. Dass es auch des einstweiligen Rechtsschutzes zählen . in diesem Fall anders ist, liegt an dem rechtsstaatliche Als die zuständigen Amtsträger der Stadt Wetzlar sich Bedenken erweckenden Verhalten der mit dieser An- entschlossen, der NPD den Zugang zur Stadthalle gelegenheit betrauten Amtsträger der Stadt Wetzlar. – ungeachtet der im vorgenannten Sinne Bindungs- Die Stadt verweigerte der NPD den Zutritt zur Stadt- wirkung entfaltenden anderslautenden Entscheidun- halle – obwohl sie sowohl verwaltungsgerichtlich2 gen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs10 wie als auch vom Bundesverfassungsgericht3 per Eilbe- auch des Bundesverfassungsgerichts – endgültig zu schluss zur Überlassung der Stadthalle für die Ver- verweigern, haben sie sich zugleich – jedenfalls in anstaltung verpflichtet worden war. diesem einen Fall – von dem Verfassungsprinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verabschiedet. Da- Die mittelhessische „Sonderstatusstadt“4 hat der ur- mit haben sie ein Stück Rechtsstaatlichkeit geopfert sprünglich mit dieser Bezeichnung verknüpften Be- zugunsten einer in der Öffentlichkeit Beifall hei- deutung damit eine weitere hinzugefügt: nämlich in schenden Profilierung als NPD-Gegner und es den dem Sinne, dass sie für sich nach dem Motto „Not Verfassungsfeinden überdies erlaubt, sich in einer kennt kein Gebot“ einen Sonderstatus bei der Opferrolle zu inszenieren. Nicht nur der Glaubwür- (Nicht-)Anerkennung rechtsstaatlicher Bindungen in digkeit des Rechtsstaats, auch dem Bemühen um die Anspruch nimmt. Bekämpfung rechter Tendenzen haben sie damit Die Bindung der vollziehenden Gewalt an Recht und nicht unerheblichen Schaden zugefügt. Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG erfasst sämtliches Verwaltungshandeln und kann auch zu positivem Tun Wegen dieses Einzelfalls das baldige Ende des Rechtsstaats einzuläuten, wäre sicher übertrieben. Er verpflichten. Es ist der Sache nach aber eine Bindung 11 an das Gesetz. Eine Bindung an die Auslegung der rüttelt aber an den Grundfesten der Verfassung . Gesetze durch die Gerichte besteht nur, soweit deren Deshalb müssen sich die handelnden Behördenver- Entscheidungen Verbindlichkeit kraft gesetzlicher treter auch die Frage gefallen lassen, wie es denn um Anordnung zukommt5. Eine solche gesetzliche Rege- die eigene Verfassungstreue bestellt ist. Beamte wie lung findet sich etwa in § 121 Nr. 1 VwGO, wonach Angestellte des öffentlichen Dienstes haben die ge- die Beteiligten eines Rechtsstreits an ein (formell6 und wissenhafte Diensterfüllung und die Wahrung des

1 Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am PRuF. 7 Die Beteiligten sind an eine formell rechtskräftige Entschei- 2 Zu den Einzelheiten der vorangegangenen verwaltungsge- dung auch materiell gebunden, soweit über den Streitgegen- richtlichen Eilverfahren s. Podolski, Das Nein zur Vermietung stand entschieden wurde (materielle Rechtskraft), und zwar der Stadthalle an die NPD: Stadt Wetzlar widersetzt sich dem ohne Rücksicht auf die Frage, ob die Entscheidung des Ge- BVerfG, in: Legal Tribune Online, 26.03.2018, https://www. richts richtig ist, Lindner, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, lto.de/persistent/a_id/27731/ (abgerufen am: 28.03.2018). 44. Edition, Stand: 01.01.2018, § 121 Rn. 9. 3 BVerfG, Beschluss vom 24.03.2018 – 1 BvQ 18/18, online 8 Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichts- veröffentlicht bei juris. ordnung, 33. EL Juni 2017, § 121 Rn. 15 f. 4 Um als Sonderstatusstadt kategorisiert zu werden, muss eine 9 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesver- kreisangehörige Stadt gemäß § 4a HessGO mindestens 50.000 fassungsgerichtsgesetz, 52. EL September 2017, § 31 Rn. 84; Einwohner haben. Der Status bedingt, dass die Stadt mehr von Ungern-Sternberg, in: Walter/Grünewald, BeckOK Aufgaben wahrnimmt als eine „normale“ kreisangehörige Stadt. BVerfGG, 4. Edition, Stand: 01.12.2017, § 31 Rn. 36. 5 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 81. EL 10 VGH Hessen, (unanfechtbarer) Beschluss vom 23.02.2018 – September 2017, Art. 20 Rn. 145. 8 B 23/18, online veröffentlicht bei juris. 6 Formelle Rechtskraft tritt ein, wenn eine Entscheidung nicht 11 So zu Recht Ferreau, Wenn sich die Politik über das Recht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln angegriffen werden erhebt: Der „Stadthallen-Fall“ von Wetzlar und seine Folgen, kann, weil der Rechtsweg erschöpft, eine Rechtsmittelfrist juwissblog vom 29.03.2018, https://www.juwiss.de/26-2018/ verstrichen oder ein Rechtsmittel überhaupt nicht gegeben ist. (abgerufen am 29.03.2018).

112 MIP 2018 24. Jhrg. Bäcker – Damit ist kein Staat zu machen [...] „Aufgespießt“

Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland dert, den Vorfall aufzuklären, notwendige aufsichts- sowie der Gesetze zu geloben. rechtliche Maßnahmen zu ergreifen und das Gericht unverzüglich davon zu unterrichten17. Es bedarf ei- Dieses Gelöbnis wurde in diesem Fall gebrochen. ner öffentlichen Aufklärung und – soweit das kommu- Diesen Eindruck können auch die in der Presse nalrechtliche Instrumentarium reicht – auch Sanktio- nachzulesenden Einlassungen nicht entkräften, wo- nierung von gegebenenfalls nachweisbarem Fehlver- nach „man die Urteile respektiere“ und die Stadt halten. Es liegt in unser aller Interesse an einem „rechtlich richtig gehandelt und alle Entscheidungen funktionierenden Rechtsstaat, dass dem Negativbei- beachtet hat“, aber die NPD nun einmal nicht die üb- spiel Wetzlar nicht andere Kommunen folgen. Dass lichen Voraussetzungen für eine Vermietung erfüllt die gerichtlichen Möglichkeiten der Vollstreckung habe, weil sie bis zuletzt keine gültige Haftpflicht- von Urteilen gegenüber Behörden dank der Missach- versicherung für die Halle und keinen Sanitätsdienst tung ihrer Gesetzesbindung durch die Stadt Wetzlar vorweisen konnte12. Angesichts der in den Entschei- nun als defizitär erachtet werden müssen18, ist eine dungen eindeutig tenorierten Verpflichtung der Stadt weitere bedenkliche Folge dieses bedauerlichen Vor- Wetzlar zur Überlassung der Stadthalle an die NPD gangs. Schon die Tatsache, dass die Stadt mit der und des zur Durchsetzung dieses unbedingten Über- Androhung eines Zwangsgeldes zur Vollstreckung lassungsanspruchs angedrohten Zwangsgeldes, sind der gerichtlichen Eilentscheidung bewegt werden diese Aussagen nicht mehr als Ausflüchte. Entweder sollte19, stellt einen gemeinhin als selbstverständlich wurde dies in den Verfahren des einstweiligen Rechts- geltenden rechtsstaatlichen Grundsatz in Frage, wo- schutzes so nicht vorgetragen oder für unbeachtlich nach von Behörden angesichts ihrer verfassungsmä- erklärt, jedenfalls entbindet eine nachträgliche Gel- ßig verankerten festen Bindung an Recht und Gesetz tendmachung nicht von der Pflicht zur Beachtung die Respektierung von Gerichtsurteilen auch ohne der bindenden Gerichtsentscheidungen13. Offenbar dahinterstehendem Vollstreckungsdruck erwartet – allerdings zu Unrecht – angespornt durch das Ur- werden darf20. teil des Bundesverfassungsgerichts zur zwar als ver- fassungsfeindlich, aber nicht verfassungswidrig ein- Sowohl die Gesetzesbindung der Verwaltung wie gestuften NPD14 hat sich die Stadt Wetzlar um der auch der Gewaltenteilungsgrundsatz, der im demo- politischen Auseinandersetzung mit den Verfas- kratischen Rechtsstaat die verbindliche Anwendung sungsfeinden willen zu einer nicht zu tolerierenden und Auslegung von Recht und Gesetz den unabhän- Überschreitung rechtlich verbindlicher Grenzen hin- gigen Gerichten überantwortet, sind tragende Grund- reißen lassen. So ist die Versagung der Nutzungser- prinzipien unserer rechtsstaatlichen Grundordnung. laubnis zunächst auch damit begründet worden, dass In ihrer Missachtung liegt eine nicht zu unterschät- das NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die zende Gefahr für unser Gemeinwesen21. Primär auf bislang maßgebliche strikte Dichotomie zwischen die Missachtung dieser Grundprinzipien zielten wohl verbotenen und allen anderen Parteien aufweiche15. (hoffentlich) auch die verantwortlichen Behörden- Dass diese Rechtsauffassung offensichtlich unhalt- vertreter nicht ab, als sie sich zur Durchsetzung ihres bar ist, haben insbesondere auch die Verwaltungsge- (politisch motivierten) Standpunkts zu ihren juristi- richte in diesem Rechtsstreit deutlich gemacht16. schen Winkelzügen verstiegen. Sie sind aber jeden- falls deutlich über das Ziel hinausgeschossen und Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht die zu- sollten in der nun folgenden Auseinandersetzung ihrer ständige Kommunalaufsichtsbehörde daher aufgefor- Verantwortung wieder gerecht werden.

12 Voigts, Wetzlars Weigerung auf dem Prüfstand, Frankfurter Rundschau vom 27.03.2018, http://www.fr.de/rhein-main/ 17 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 16/2018 vom 26. März 2018, npd-veranstaltung-wetzlars-weigerung-auf-dem-pruefstand-a- http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemit 1474734 (abgerufen am 29.03.2018). teilungen/DE/2018/bvg18-016.html (abgerufen am 29.03.2018). 13 I.d.S. auch BVerfG, Beschluss vom 24.03.2018 – 1 BvQ 18 Dazu Podolski, Streit um NPD-Auftrittsverbot in Wetzlar: 18/18, juris Rn. 5. Wenn die Politik die Gerichte ignoriert, in: Legal Tribune On- 14 BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, in: NJW 2017, line, 29.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27809/ 611 ff. (abgerufen am 29.03.2018). 19 15 VG Gießen, Beschluss vom 20.12.2017 – 8 L 9187/17.GI, juris VG Gießen, Beschluss vom 22.03.2018 – 8 N1539/18.GI, Rn. 18. nicht veröffentlicht. 20 16 VG Gießen, Beschluss vom 20.12.2017 – 8 L 9187/17.GI, juris So schon BVerwGE 38, 99 (101 f.). Rn. 33; VGH Hessen, Beschluss vom 23.02.2018 – 8 B 23/18, 21 So zu Recht der Richterbund Hessen, Pressemitteilung vom juris Rn. 2 ff.; m.w.N. auch Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der 28.03.2018, http://www.richterbund-hessen.de/hessischer-rich Rechtsprechung: Chancengleichheit, MIP 2018, S. 118 (125). terbund-zum-fall-wetzlar/ (abgerufen am 29.03.2018).

113 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg.

Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- lität, sondern dem allgemeinen Sachlichkeitsgebot chung folge. Dieses habe zum Inhalt, dass sich amtliche Äußerungen am Willkürverbot und Verhältnismäßig- 1. Grundlagen zum Parteienrecht keitsprinzip als Ausprägungen des Rechtsstaats ori- entieren müssten. Eine Bindung erfolge zudem nicht Am Beginn des Jahres 2017 stand das NPD-Urteil allein durch das Rechtsstaats-, sondern auch das De- des BVerfG1. Das Gericht attestierte der rechtsextre- mokratieprinzip, welches eine staatsfreie Willensbil- men Partei eine Wesensverwandtschaft zum Natio- dung des Volkes gewährleiste und so eine lenkende nalsozialismus, ließ den Parteiverbotsantrag des und steuernde Einflussnahme von Amtsträgern auf Bundesrats aber daran scheitern, dass es ihr an dem die Bevölkerung verbiete. Damit seien diese nicht Potenzial fehle, ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu schlechthin vom politischen Diskurs ausgeschlossen, realisieren2. Die verfassungsfeindliche, aber nicht sie müssten dabei aber ihrer Aufgabe zur staatlichen -widrige Partei besteht also weiter fort, was dazu Integration nachkommen. Dem sei der Düsseldorfer führte, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber Oberbürgermeister nicht gerecht geworden. Das gel- nach Hinweis des BVerfG den Art. 21 GG um weite- te sowohl für das vom OVG NRW zu Recht für re Absätze erweiterte, um ihr die staatliche Finanzie- rechtswidrig erachtete Ausschalten der Lichter als rung entziehen zu können3. auch den Aufruf, der einen unzulässigen Eingriff in Der Streit des Oberbürgermeisters der Stadt Düssel- den politischen Meinungskampf dargestellt habe. dorf mit dem dortigen PEGIDA-Ableger, DÜGIDA, Das Urteil des BVerwG markiert einen wichtigen Meilenstein in der Auseinandersetzung um Grundla- fand vor dem BVerwG4 ein Ende. Das Gericht ent- gen und Grenzen der politischen Neutralität von schied, dass der Aufruf zur Teilnahme an einer Ge- Amtsträgern, beendet diese aber keinesfalls. Denn gendemonstration auf der Netzseite der Stadt rechts- obgleich das Ergebnis der Entscheidung wohl als widrig war. Zuvor entschied schon das OVG NRW5, richtig einzustufen ist, bleibt die Begründung zu das Ausschalten der Beleuchtung an den städtischen dünn. So folgt das Gericht in der Frage des Gel- Gebäuden anlässlich einer DÜGIDA-Demonstration tungsbereichs der politischen Neutralität der Vorin- für mit der Versammlungsfreiheit unvereinbar, hatte stanz, wonach diese nur für politische Parteien gel- jedoch den Aufruf für rechtmäßig erachtet und in ten solle. Dafür könnte einiges sprechen7, zumal das diesem Punkt dem VG Düsseldorf6 widersprochen, allgemeine Sachlichkeitsgebot als Schranke zur Ver- das beide Maßnahmen für rechtswidrig erachtet hat- fügung steht. Doch bereits die dogmatische Begrün- te. Das BVerwG hob hervor, dass aus Art. 28 Abs. 2 dung des OVG fällt unbefriedigend aus8. So bleibt S. 1 GG durchaus die Kompetenz des Oberbürger- weiter ungeklärt, wie sich beide Grundsätze qualita- meisters folge, Informations- und Öffentlichkeitsar- tiv unterscheiden. Die Ähnlichkeit der dogmatischen beit als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft zu Wurzeln (partei-)politischer Neutralität und allge- betreiben. Dies sei auch ohne gesetzliche Grundlage meiner Sachlichkeit sind jedenfalls frappierend und möglich, was das BVerwG mit der grundgesetzli- es stellt sich die Frage, ob nicht eine Lösung über chen Aufgabenzuweisung begründet. Die Äuße- eine mehr regulative Anwendung des Neutralitätsge- rungsbefugnis unterliege jedoch Grenzen, die zwar bot bereitsteht9. Man wird vermuten dürfen, dass nicht aus dem allein für politische Parteien i.S.d. hinter der vermeintlichen Klarheit der Urteilsgründe Art. 21 GG geltenden Grundsatz politischer Neutra- die Vorsicht und das Abwarten auf weitere dogmati- 10 1 BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, in: NJW 2017, sche Feinarbeit steht . Es wird jedenfalls nicht die 611 ff. letzte Entscheidung sein, die das BVerwG auf die- 2 Zum Merkmal der Potentialität s. P. Höhner/S. Jürgensen, in: sem Feld zu treffen haben wird. MIP 2017, 103 ff. 3 Dazu S. Jürgensen, Das Parteiverbot ist tot, es lebe der Ent- zug staatlicher Parteienfinanzierung?, am 30.05.2017 auf dem Verfassungsblog (https://verfassungsblog.de/das-parteiverbot- 7 In eine andere Richtung – wenn auch ohne Absicht einer voll- ist-tot-es-lebe-der-entzug-staatlicher-parteienfinanzierung, zu- endeten dogmatischen Aussage – S. Jürgensen/J. Garcia J., letzt abgerufen am 14.03.2018). in: MIP 2016, 70 (77 ff.). 4 BVerwG, Urteil vom 13.09.2017 – 10 C 6.16, in: NWVBl 8 Hierzu schon S. Jürgensen, in: MIP 2016, 148. 2018, 101 ff. 9 So S. Jürgensen, in: MIP 2017, 144 f.; s.a. VerfGH Thüringen, 5 OVG NRW, Urteil vom 04.11.2016 – 15 A 2293/15, in: Urteil vom 08.07.2016 – VerfGH 38/15, das richtungswei- NVwZ 2017, 1316 ff. send für die letzte Grundsatzentscheidung des BVerfG im Fall 6 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, in: „Wanka“ war, BVerfG, Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16. NWVBl 2016, 174 ff. 10 Zuletzt D. Kuch, in: AöR 142 (2017), 491-527.

114 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Die Recherchen eines Investigativjournalisten zu ei- Zweck nicht erforderlich und damit offenbart, dass ner möglichen verdeckten Parteienfinanzierung pro- weniger die Grundrechte als deren Dogmatik oft vozierte eine Entscheidung des BGH11. Ziel des nicht im Bewusstsein der ordentlichen Gerichtsbar- Journalisten war es, mögliche Verstrickungen einer keit verhaftet ist. Das starke Recht der Pressefreiheit von der öffentlichen Hand beherrschten Aktienge- erfordert es, gerade die Frage der Relevanz der be- sellschaft in die Wahlkampffinanzierung des SPD- gehrten Informationen zuvörderst in die Einschät- Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück im Jahr 2013 zung des Grundrechtsträgers zu legen und an die si- aufzudecken. Sein auf § 4 Abs. 1 NRWPresseG ge- cherlich erforderliche Plausibilitätskontrolle nicht stützter Anspruch wurde vom LG Essen12 noch ab- allzu hohe Anforderungen zu stellen. Die besondere gelehnt. Das OLG Hamm13 korrigierte diese Ent- Sensibilität des Bereichs der Parteienfinanzierung scheidung und wurde nun vom BGH bestätigt. Der mit ihrer Demokratierelevanz wird vom BGH zutref- presserechtliche Auskunftsanspruch setze einen fend erkannt und das staatliche Berufen auf den Ge- tauglichen Anspruchsgegner voraus. Nach Ansicht heimnisschutz entsprechend kritisch überprüft. Die des BGH sei das OLG zutreffend davon ausgegan- Ergebnisse der Recherchen könnten für das Parteien- gen, dass sich der Staat durch eine privatrechtliche recht wichtige Fragestellungen aufwerfen, was für Organisation nicht derartiger Pflichten entziehen sich schon als gewichtiger Grund für das Bestehen könne, entscheidend sei vielmehr, ob die jeweilige des Anspruchs gewertet werden konnte. Organisation staatlich beherrscht sei, was hier mit Die vor allem als Kultband des Kölner Karnevals be- einer Konzentration von 92,9 % der Aktien in der öf- kannte Musikgruppe „Die Höhner“ erstritt vor dem fentlichen Hand auch der Fall gewesen sei, und öf- BGH14 einen Sieg gegen die NPD. Die Band wehrte fentliche Aufgaben übernehme, die hier in der Da- sich unter Verweis auf § 14 UrhG gegen die Ver- seinsvorsorge liege. Dem Kläger, der als Redakteur wendung zweier ihrer Lieder durch die verfassungs- Vertreter der Presse sei, stehe der Anspruch zu, da er feindliche Partei im Thüringer Wahlkampf und be- habe darlegen können, dass die begehrten Informati- kam zunächst vor dem LG Erfurt15 Recht, was vom onen notwendig seien, um seinem Auftrag nachzu- OLG Thüringen16 bestätigt wurde. Der BGH wies kommen, die Öffentlichkeit zu unterrichten. In der nun eine Beschwerde der NPD gegen die Nichtzulas- abschließenden Abwägung konnte der BGH auf Sei- sung der Revision durch das OLG zurück. Diese sei ten der Beklagten keine schützenswerten Geheimnis- bereits unzulässig und zudem auch in der Sache interessen ausfindig machen, attestierte demgegen- ohne Aussicht auf Erfolg. Das OLG habe den § 14 über aber dem Verdacht indirekter Partei- oder UrhG zutreffend unter Berücksichtigung der Recht- Wahlkampffinanzierung durch eine Behörde öffent- sprechung des BGH angewendet. Die Norm ver- liches Interesse von erheblichem Gewicht. Das In- schaffe dem Urheber das Recht, eine Entstellung formationsbegehren des Klägers sei also in weiten oder andere Beeinträchtigung seines Werkes zu ver- Teilen begründet gewesen. Dies bedeute im Ergeb- hindern. Dies erfordere keine Veränderung des Wer- nis aber nicht, dass alle Informationen das Licht der kes; es genüge, wenn die urheberpersönlichkeits- Öffentlichkeit erreichen müssten, habe doch der Re- rechtlichen Interessen des Urhebers an seinem Werk dakteur bei der Publikation die der Presse eigenen durch die Form und Art der Wiedergabe und Nut- Sorgfaltspflichten zu beachten. Mit seiner Entschei- zung beeinträchtigt würden. Die NPD habe die Lie- dung ebnet der BGH den Weg für die journalistische der der Höhner auf politischen Veranstaltungen ein- Arbeit in sensiblen Bereichen, was als zukunftswei- gesetzt und in die Dramaturgie der Wahlkampfver- send und richtig einzustufen ist. Das gilt einerseits anstaltungen integriert. Dies rechtfertige es, den In- für die rechtliche Einordnung von privatisierten Ein- teressen des Urhebers in der Abwägung den Vorzug richtungen des Staates als Informationsverpflichtete zu geben, zumal sich die Höhner bereits gegen die wie auch für die Gewichtung von Geheimnisbelan- Ziele der NPD öffentlich ausgesprochen hätten. gen und öffentlichem Interesse. Das LG Essen hatte noch mit haarsträubender Begründung behauptet, die Den Blick in das Nachbarland Österreich veranlasst begehrten Informationen seien für den verfolgten eine Entscheidung des dortigen Obersten Gerichts-

11 BGH, Urteil vom 16.03.2017 – I ZR 13/16, in: NJW 2017, 14 BGH, Beschluss vom 11.05.2017 – I ZR 147/16, in: ZUM 3153 ff. 2018, 50 f. 12 LG Essen, Urteil vom 14. November 2013 – 3 O 217/13, on- 15 LG Erfurt, Urteil vom 25.09.2015 – 3 O 102/15, nicht veröf- line veröffentlicht bei juris. fentlicht. 13 OLG Hamm, Urteil vom 16. Dezember 2015 – I-11 U 5/14, 16 Thüringer OLG, Urteil vom 22. Juni 2016 – 2 U 868/15, in: in: NVwZ 2016, 551 ff. ZUM 2017, 166 ff.

115 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. hofs17 zu einem Parteiausschluss. Ein Parteimitglied gar nicht auf. Generell zeichnet sich die Entschei- äußerte sich auf einem vom ORF übertragenen Par- dung durch einen geringen Normbezug und Verweis teitag abfällig über den Vorstand seiner Landespartei auf einschlägige Literatur aus, was keinesfalls als und nannte diesen eine „Bande, die sich derartig Kritik, sondern als bloße Feststellung der fachspezi- mies […] verhalten habe“. Dieses Verhalten führte fischen Kultur zu verstehen sein soll. zu einem Ausschluss des Mitglieds, welches sich da- In den sogenannten „Äußerungsfällen“ scheint die gegen zunächst an das Bezirksgericht St. Pölten18 rechtsnationale Partei „Alternative für Deutschland“ wandte, welches aber die Klage abwies, und sodann der NPD so langsam den Rang abzulaufen. So hatte an das Landgericht St. Pölten19, welches das Urteil sich der VGH Kassel21 mit einer Äußerung des abänderte und dem klagenden Parteimitglied Recht Frankfurter Oberbürgermeisters zu befassen, der gab. Dies begründete das Landgericht mit der Mei- über seinen Facebookaccount die Einladung der da- nungsfreiheit, welche auch im Programm der Partei maligen AfD-Bundesvorsitzenden in den örtlichen hochgehalten werde, und dem Schutz durch Art. 10 Wirtschaftsclub kritisierte, woraufhin dieser die Ver- EMRK. Der Oberste Gerichtshof folgte dem nicht anstaltung absagte. Die AfD hielt das Verhalten des und erklärte den Ausschluss des Mitglieds für recht- Oberbürgermeisters für rechtswidrig und versuchte mäßig. Dabei stellt es eingangs fest, dass der Partei- zunächst, ihn zu einer strafbewehrten Unterlassungs- ausschluss kein reines Parteiinternum darstelle, das erklärung zu bewegen. Nach Ausbleiben einer Reak- abschließend der Behandlung durch die Partei- tion suchte die Partei Rechtsschutz vor dem VG schiedsgerichtsbarkeit vorbehalten sei. Vielmehr gelte Frankfurt22, das aber den Antrag auf Erlass einer auch im Vereinsrecht, dessen Grundsätze sich auf einstweiligen Anordnung ablehnte, da es an einer die politischen Parteien übertragen ließen, dass sub- Wiederholungsgefahr gefehlt habe, die nicht allein jektive Mitgliedschaftsrechte vor den staatlichen Ge- damit begründet werden könne, dass der Frankfurter richten durchsetzbar seien. Voraussetzung für einen OB die Unterlassungserklärung nicht abgegeben Parteiausschluss sei das Vorliegen eines wichtigen habe. Zudem sei die Äußerung auf Facebook, die Grundes, der insbesondere in der Verletzung von nach wie vor abrufbar war, durch die Absage der Mitgliedschaftspflichten liegen könne. Das ausge- Veranstaltung gegenstandslos geworden. Ohnehin schlossene Parteimitglied habe mit seiner Äußerung fehle es aber an einem Anordnungsgrund, da nach gegen seine innerparteiliche Loyalitätspflicht versto- der Absage keine Dringlichkeit mehr bestehe, die ßen. Die Verwendung des Begriffs „Bande“ rücke Sache im Eilverfahren zu klären. Der VGH Kassel den Parteivorstand begrifflich in die Nähe einer kri- folgte dieser Einschätzung nicht und hob die Ent- minellen Vereinigung; der Beitrag des Klägers sei scheidung der Erstinstanz auf. Der Anordnungsan- also nicht als sachlich-konstruktiver Debattenbei- spruch der AfD folge aus einer Verletzung des trag, sondern als Parteiausschlussgrund einzustufen. Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 Dieser habe auch zu einer Interessenbeeinträchti- i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG und des Persönlichkeits- gung geführt, die sich auch in der Medienberichter- rechts, Artt. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG. Der stattung manifestiert. Damit sei der Kläger zu Recht Oberbürgermeister habe mit seiner Verlautbarung ausgeschlossen worden. Aus der Perspektive des eine amtliche Äußerung getätigt, indem er den offi- deutschen Rechts stellt sich dieses Urteil weniger ziellen Facebookaccount verwendet habe und durch spektakulär als unter rechtsvergleichenden Aspekten die Formulierung der Nachricht Rückgriff auf die interessant dar. So ist die Nachprüfbarkeit von Par- Autorität des Amtes genommen habe. Diese sei auch teiausschlussentscheidungen vor staatlichen Gerich- derart als Positionierung gegen die AfD beschaffen ten hierzulande ein durchaus vieldiskutiertes Pro- gewesen, dass er die Grenzen des Neutralitäts- und blem.20 Die Frage, welcher Kontrollmaßstab bei der Sachlichkeitsgebotes überschritten habe. Dass die Überprüfung dieser parteiinternen Entscheidung an- Veranstaltung abgesagt worden sei, ändere nichts zulegen ist, die stark vom Selbstverständnis der Par- daran, dass der so geschaffene rechtswidrige Zu- tei geprägt ist, wirft der Oberste Gerichtshof indes stand andauere, denn die nach wie vor abrufbare Kritik erschöpfe sich nicht in ihrem Bezug auf die 17 Oberster Gerichtshof Österreich, Entscheidung vom Veranstaltung und sei nach der Entscheidung der 29.04.2017 – 6 Ob 62/17m, online veröffentlicht bei juris. ersten Instanz nochmal aktualisiert worden. Daraus 18 Bezirksgericht St. Pölten, Entscheidung vom 14.04.2016 – 15 C 26/15x, nicht veröffentlicht. 21 VGH Kassel, Beschluss vom 11.07.2017 – 8 B 1144/17, in: 19 Landesgericht St. Pölten, Entscheidung vom 22.12.2016 – 21 HGZ 2017, 289 ff. R 205/16d, nicht veröffentlicht. 22 VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 21.04.2017 – 7 L 20 Zu dieser Frage S. Jürgensen, in: MIP 2015, 13 ff. 3565/17.F, online veröffentlicht bei juris.

116 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung ergebe sich auch der notwendige Anordnungsgrund, wechslungsgefahr ergebe sich sowohl durch die weswegen der Antrag begründet sei. Der VGH greift Kurzbezeichnung der Partei als auch durch ihr Auf- in der Folge zu drastischen Maßnahmen. So folgt treten, das vom Design her stark dem der CDU ähne- das Gericht dem Antrag der AfD auf Erlass einer le und eine organisatorische Verbindung der CDSU Androhung eines Ordnungsgeldes für den Fall der zur CDU evoziere. Diese Entscheidung verletze die Zuwiderhandlung, das auf 250.000 € beziffert wird. CDSU auch nicht in ihrem Recht auf Meinungsfrei- Die Entscheidung zeigt erneut, das eine eigentlich heit und Parteigründung, da es jedem offenstehe, klassisch gewordene Fallkonstellation immer wieder eine christlich-konservative Partei zu gründen, sie Probleme aufwirft. Dem VG Frankfurt ist wegen der müsse sich allein vom Auftreten her von bestehen- prozessualen Umstände keineswegs eine Übervortei- den Parteien unterscheiden. lung der AfD vorzuwerfen; die Entscheidung zeigt Namensrechtliche Streitigkeiten haben im Parteien- aber, wie sehr noch um die Reichweite des Neutrali- recht Konjunktur. Nach der soeben besprochenen tätsgebotes gerungen wird. und der Entscheidung des LG Augsburg aus dem Nachdem einem NPD-Funktionär die Waffenbesitz- vergangen Jahr27, hatte auch das LG Köln28 über die karte und andere waffenrechtliche Erlaubnisse ent- Verwechslungsgefahr von Kurzbezeichnungen poli- zogen wurden, kam es zu einem Rechtsstreit, der, tischer Parteien zu entscheiden. Dort ging die AfD nachdem das VG Gießen23 dem klagenden Partei- gegen die „Allianz Deutscher Demokraten“, die die mitglied in erster Instanz noch teilweise Recht gab, Kurzbezeichnung ADD führt, vor. Das LG bestätigt sein Ende vor dem VGH Kassel24 fand. Das Gericht eine zuvor ergangene einstweilige Verfügung. Die befand, dass die Behörde die Einschätzung der Un- Ähnlichkeiten der Kurzbezeichnungen führe zu einer zuverlässigkeit mit § 5 Abs. 2 Nr. 3 lit. a WaffG a.F. Verwechslungsgefahr, die nicht durch verschiedene begründen durfte, wonach die notwendige Zuverläs- Mittelbuchstaben aufgehoben werde, zumal beide sigkeit in der Regel dann fehlt, wenn die fragliche klanglich mit einem „e“ endeten und sich daher sehr Person als Mitglied einer Vereinigung Bestrebungen ähnelten. Auch die durch das Gerichtsverfahren her- verfolgt oder unterstützt, die sich gegen die verfas- vorgerufene Öffentlichkeit ändere nichts an der Ge- sungsmäßige Ordnung richten. Das während des fahr der Verwechslung, sei doch gesichert, dass die- Verfahrens ergangene NPD-Urteil des BVerfG be- se tatsächlich von allen potentiellen Wählern wahr- stätige, dass es sich bei der NPD um eine verfas- genommen worden sei, vor allem da die klangliche sungsfeindliche Organisation handele. Der Kläger Ähnlichkeit fortbestehe. Die Allianz müsse sich so- sei dabei nicht allein Mitglied, sondern auch Funkti- mit eine neue Kurzbezeichnung suchen. onär der Partei und habe sich wiederholt einschlägig Über das Verhältnis von Informationsfreiheits- und für die Partei und deren Ziele öffentlich eingesetzt. Parteiengesetz hatte das VG Berlin29 zu befinden. Die Behörde habe angesichts dessen auf die waffen- Die Entscheidung findet bereits erhebliche Aufmerk- rechtliche Unzuverlässigkeit schließen dürfen. samkeit in der parteienrechtlichen Öffentlichkeit und Vor dem OLG Köln25 stand das Namensrecht politi- geht dem Vernehmen nach in die nächste Instanz. scher Parteien im Fokus. Im Streit standen die in Das im letzten und diesem Heft30 besprochene Ver- Bayern gegründete „Union der Christlichen und So- fahren wird also weiter zu verfolgen sein. zialen Demokraten“ (CDSU) und die CDU, die sich Die Partei DIE RECHTE klagte vor dem VG Gelsen- in ihrem Namensrecht verletzt sah und aus § 12 kirchen31 gegen ein Versammlungsverbot. Die an- BGB und § 4 PartG gegen die CDSU vorging. Das lässlich einer Kommunalwahl im Jahre 2014 ange- Gericht gab der CDU Recht und hob eine Entschei- meldete Versammlung wurde von der zuständigen dung des LG Bonn26 – in der Sache ging es um ein Behörde untersagt, da sie angesichts ihrer Erfahrun- Ordnungsgeld wegen Zuwiderhandlung gegen ein Unterlassungsgebot – auf. Die notwendige Ver- 27 LG Augsburg, Urteil vom 28.04.2016 – 91 O 3606/15, online veröffentlicht bei juris; dazu S. Jürgensen, in: MIP 2017, 150. 23 VG Gießen, Urteil vom 09.03.2015 – 4 K 1295/14.GI, nicht 28 LG Köln, Urteil vom 04.04.2017 – 31 O 44/17, online veröf- veröffentlicht. fentlicht bei juris. 24 VGH Kassel, Urteil vom 12.10.2017 – 4 A 626/17, online 29 VG Berlin, Urteil vom 08.05.2017 – 2 K 69.16, online veröf- veröffentlicht bei juris. fentlicht bei juris. 25 OLG Köln, Beschluss vom 17.11.2017 – 1 W 17/17, online 30 S. Schönberger, in: MIP 2017, 5 ff.; in diesem Heft S. Leh- veröffentlicht bei juris. mann, in: MIP 2018, 79 ff. 26 LG Bonn, Entscheidung vom 05.04.2017 – 10 O 384/16, 31 VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.02.2017 – 14 K 2217/14, nicht veröffentlicht. online veröffentlicht bei juris.

117 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. gen mit der politischen Partei eine unmittelbare Ge- des öffentlichen Raumes mit Wahlwerbung“35 entge- fährdung für die öffentliche Sicherheit, insbesondere genzuwirken, gerät dabei in Konflikt mit der Not- durch Parolen wie „Ausländer raus“ oder „Ali, Meh- wendigkeit einer der Parteienfreiheit und dem Chan- met, Mustafa – geh zurück nach Ankara“ – prognos- cengleichheitsgrundsatz gerecht werdenden Vertei- tizierte. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschut- lung der Plakatierungsflächen. zes konnte sie mit ihrer Argumentation allerdings Recht lange dauerte es, bis das OVG Greifswald36 nicht überzeugen und DIE RECHTE konnte die Ver- eine Entscheidung in der Hauptsache über einen Pla- sammlung – unter Auflagen – durchführen. Erfolg- katierungsstreit zwischen dem Landesverband einer reich war die rechtsradikale Partei nun auch in der politischen Partei und der Stadt Wolgast anlässlich Hauptsache. Das Versammlungsverbot als Idealtyp des schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampfs im eines sich schnell erledigenden und schwerwiegen- Jahr 2011 fällte. Dieser Entscheidung in der Hauptsa- den Grundrechtseingriffs rechtfertigt auch in den che ging ein Ping-Pong-Spiel rechtlicher Auseinan- Augen des VG Gelsenkirchen ein Fortsetzungsfest- dersetzungen voraus. Zunächst hatte die Stadtvertre- stellungsinteresse. Materiell konnte die vorgebrachte tung durch Beschlüsse geregelt, dass im Stadtgebiet Gefahrenlage von der Verwaltung nicht substantiiert von Wolgast lediglich das Anbringen von jeweils werden. Im Rahmen der Abwägung sei das Parteien- zwei Plakaten auf elf städtischen Wahlplakattafeln privileg, das zwar kein Freibrief für politische Par- erlaubt sei. Die klagende politische Partei hatte teien zur Folge habe, in Ansatz zu bringen und ver- gleichwohl die Erteilung einer Sondernutzungser- biete pauschale Sanktionen gegenüber Parteien. laubnis für das Anbringen von insgesamt 119 Wahl- Das Engagement der Oberbürgermeisterin der Stadt plakaten beantragt. Diesen Antrag lehnte die Stadt Köln gegen den in ihrer Stadt stattfindenden Bundes- Wolgast ab, wogegen die Partei Widerspruch einleg- parteitag der AfD zog gleich zwei Verfahren vor dem te und um einstweiligen Rechtsschutz nachsuchte. VG Köln nach sich. Zum einen ging es um eine Das VG Greifswald37 lehnte den Antrag auf einst- Presseinformation32, in der sie sich einschlägig äu- weiligen Rechtsschutz ab, aber das OVG Greifs- ßernd an die relevante Lokalpresse wandte, zum an- wald38 verpflichtete in der Beschwerdeinstanz die deren um eine Mitteilung auf ihrer offiziellen Home- Stadt Wolgast, eine Sondernutzungserlaubnis für das page33. In beiden Fällen nahm das VG eine Bindung Anbringen weiterer 28 (und damit für insgesamt 50) der Amtsträgerin durch das Neutralitätsgebot an, wel- Plakate zu erteilen und mindestens 14 zusätzliche ches die Oberbürgermeisterin in beiden Fällen nicht Aufstellungsorte zu benennen. Die Stadt Wolgast er- wahren konnte, weswegen sie die Nachricht von ihrer teilte daraufhin eine entsprechende Erlaubnis. Statt Homepage zu entfernen und es zu unterlassen habe, es dabei zu belassen, beschied die Stadt Wolgast drei die Presseinformation weiter zu verbreiten. Tage nach dem Wahltag noch den – vermeintlich noch offenen – Widerspruch des Landesverbandes Sven Jürgensen der politischen Partei gegen die Ablehnung des ur- 2. Chancengleichheit sprünglichen Antrags. In dem Widerspruchsbescheid gab die Stadt dem ursprünglichen Antrag im Umfang In Wahlkampfzeiten gerät die Wahlsichtwerbung po- der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erstritte- litischer Parteien auf öffentlichen Straßen immer nen Plakatierungserlaubnis statt, wies ihn hinsicht- wieder in die Diskussion. Dabei steht in den gericht- lich der für weitere 69 Plakate beantragten Sonder- lichen Auseinandersetzungen immer wieder das Be- nutzungserlaubnis aber zurück. Dagegen wiederum mühen der Kommunen im Fokus, als „übermäßig“ erhob der Landesverband der Partei am 04.10.2011 empfundenes Plakatieren im Wahlkampf ordnungs- Klage zum VG Greifswald, das die Klage jedoch am rechtlich einzuschränken. Das Bestreben, etwa einer 35 34 U.a. damit begründete die Stadt Wahlstedt die Beschränkung „Verschandelung der Stadt“ oder auch einer „Reiz- der Wahlsichtwerbung in einem Verfahren vor dem OVG überflutung der Bevölkerung durch Überfrachtung Schleswig, Beschluss vom 13.09.2017 – 4 MB 52/17, juris Rn. 8; in diese Richtung ist wohl auch die Stadt Wolgast zu verstehen, s. OVG Greifswald, Urteil vom 11.07.2017 – 1 LB 32 VG Köln, Beschluss vom 30.03.2017 – 4 L 750/17, online 92/15, juris Rn. 9. veröffentlicht bei juris. 36 OVG Greifswald, Urteil vom 11.07.2017 – 1 LB 92/15, on- 33 VG Köln, Beschluss vom 12.10.2017 – 4 L 4065/17, online line veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris. 37 VG Greifswald, Beschluss vom 29.07.2011 – 6 B 726/11, 34 So etwa das Vorbringen der Stadt Wolgast in einem Verfah- nicht veröffentlicht. ren vor dem OVG Greifswald, Urteil vom 11. Juli 2017 – 38 OVG Greifswald, Beschluss vom 23.08.2011 – 1 M 145/11, 1 LB 92/15, juris Rn. 9. online veröffentlicht bei juris.

118 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

04.02.2015 abwies. Der Landesverband der Partei zeuginsassen gesehen werden sollten. Keinen straßen- stellte daraufhin einen Antrag auf Zulassung der Be- rechtlichen Bezug hat die Erwägung des Beklagten, rufung, dem das OVG Greifswald dann am dass die Beschränkung der Plakatierungsmöglichkei- 11.04.2017 stattgab. ten der Abfallvermeidung diene. Der Verschmutzung In der Hauptsache entschied das OVG Greifswald des Straßenraums durch herabfallende Wahlplakate dann immerhin recht zügig (nur drei Monate später) kann durch Nebenbestimmungen zur Erlaubnis und überwiegend zugunsten des klagenden Landesver- ordnungsbehördlich begegnet werden. Soweit der bandes der Partei. Richtigerweise hätte die Stadt Beklagte darauf abstellt, dass Wahlsichtwerbung Wolgast das Widerspruchsverfahren einstellen müs- durch das Aufkommen von Sozialen Medien an Be- sen, da es sich mit dem Ende des Wahltages durch deutung verloren hat, verkennt er, dass es in erster Zeitablauf erledigt hatte. Nach Erledigung durfte im Linie Sache der Parteien ist, die Art und den Stil ih- Widerspruchsbescheid keine Entscheidung in der rer Wahlpropaganda zu bestimmen.“40 Bleibt zu hof- Sache mehr getroffen werden, jedenfalls soweit der fen, dass die Stadt Wolgast die bisherige Praxis der ursprüngliche Antrag zurückgewiesen wurde. Der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen für Wahl- Widerspruchsbescheid war daher rechtswidrig und sichtwerbung überdenkt und sich dabei an den recht- aufzuheben. Soweit der Landesverband der Partei lichen Maßstäben orientiert, die das OVG Greifs- mit der Klage positiv feststellen lassen wollte, dass wald schon in dem Verfahren des einstweiligen die Stadt Wolgast verpflichtet war, eine Sondernut- Rechtsschutzes41 entfaltet und in diesem Hauptsa- zungserlaubnis für das mit dem Widerspruchsbe- cheverfahren noch einmal verdeutlicht hat. scheid abgelehnte Anbringen von weiteren 69 Wahl- Die Entscheidungen des OVG Schleswig-Holstein42 plakaten zu erteilen, hat das OVG Greifswald jedoch und vorgängig des VG Schleswig43 in einem Verfah- lediglich auf eine Verpflichtung der Stadt zur Neu- ren des einstweiligen Rechtsschutzes, in dem zwi- bescheidung erkannt. Art und Umfang einer ange- schen der SPD und der Stadt Wahlstedt der Umfang messenen Wahlsichtwerbung im Gemeindegebiet nä- der für die Wahlwerbung zur Bundestagswahl 2017 her auszugestalten stand danach zwar im Ermessen zur Verfügung zu stellenden Plakatierungsmöglich- der Stadt Wolgast. Das Ermessen wurde aber nicht keiten in Streit stand, vermögen weniger zu überzeu- dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausge- gen. Die Stadt hatte im Stadtgebiet 100 Laternen- übt. Plakatierungsmöglichkeiten müssen – so das masten für Wahlwerbung zur Verfügung gestellt und OVG Greifswald – hinreichend dicht sein, um den damit die Gesamtzahl der für alle Parteien zur Ver- Parteien „gewissermaßen flächendeckend“ Wahl- fügung stehenden Plakatstandorte auf je eine Laterne werbung im gesamten Gemeindegebiet zu ermögli- pro 100 Einwohner begrenzt. Die Gesamtzahl der chen und den nötigen Raum zur Selbstdarstellung zu Plakatstandorte wurde dann „streng formal“ unter geben. „Was als Mindestmaß einer angemessenen den in Wahlstedt werbenden Parteien, zehn an der Wahlwerbung anzusehen ist, lässt sich nicht abstrakt Zahl, gleichmäßig aufgeteilt, so dass jeder Partei beantworten. Es hängt vielmehr von den Umständen zehn Laternenpfähle zugesprochen wurden, an denen des Einzelfalls ab, unter welchen Voraussetzungen jeweils zwei Wahlplakate angebracht werden durf- den Parteien eine nach Umfang (Anzahl der Plakat- ten. Der SPD-Landesverband beantragte die Geneh- plätze) und Aufstellungsort (Werbewirksamkeit des migung weiterer 74 Plakate, was die Stadt vor allem Anbringungsortes) angemessene Werbemöglichkeit aus Gründen der Verkehrssicherheit ablehnte. eingeräumt wird, um ihnen wirksame Wahlpropa- Im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes ist für ganda zu ermöglichen.“39 Zu Recht hat das OVG die Frage, wer bis zur Hauptsacheentscheidung das Greifswald geurteilt, dass sich die Stadt Wolgast bei Fehlentscheidungsrisiko zu tragen hat, eine summari- der im Rahmen der Ermessensausübung vorzuneh- sche Prüfung der Sach- und Rechtslage geboten. Da- menden Gesamtbetrachtung u.a. von sachfremden bei sind sowohl erstinstanzlich das VG Schleswig als Erwägungen leiten ließ: „So gibt es keinen allgemei- auch in der Beschwerdeinstanz das OVG Schleswig- nen Erfahrungssatz, dass das Anbringen von Werbe- plakaten an Lichtmasten generell die Sicherheit und 40 OVG Greifswald, Urteil vom 11.07.2017 – 1 LB 92/15, juris Leichtigkeit des Straßenverkehrs beeinträchtigt. Eine Rn. 27. Gemeinde darf die Erteilung von Sondernutzungser- 41 OVG Greifswald, Beschluss vom 23.08.2011 – 1 M 145/11, laubnissen deshalb nicht mit der Begründung ableh- juris Rn. 35 f. nen, dass Wahlplakate überhaupt nicht von Fahr- 42 OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13.09.2017 – 4 MB 52/17, online veröffentlicht bei juris. 39 OVG Greifswald, Urteil vom 11.07.2017 – 1 LB 92/15, juris 43 VG Schleswig, Beschluss vom 17.08.2017 – 3 B 110/17, on- Rn. 17. line veröffentlicht bei juris.

119 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg.

Holstein von eher geringen Anforderungen an die rungsmöglichkeiten daraufhin offensichtlich ergänzt Prüfungsdichte im Eilverfahren ausgegangen – nicht und aufgezeigt, dass weitaus mehr Laternenmasten nur hinsichtlich der Sach-, sondern auch der Rechts- im Stadtgebiet vorhanden und als Plakatstandorte lage. Die Rechtmäßigkeit der Beschränkung der Pla- nutzbar sind, so im Bereich des Marktplatzes, des katierungsmöglichkeiten beurteilt sich danach, ob im Schwimmbades, der Sportanlagen und weitere 300 Hinblick auf die Anzahl der an der Wahl teilneh- bis 400 Laternen in etwa 80 Wohnstraßen. Das OVG menden Parteien eine ausreichende Anzahl von Pla- Schleswig-Holstein räumte ein, dass diese Argumen- katierungsmöglichkeiten insgesamt zugelassen wird, te zwar Gewicht haben, es ihnen aber für eine recht- sowie danach, ob die Gesamtzahl der Plakatierungen liche Bewertung des Plakatierungskonzeptes der in einem angemessenen Verhältnis auf die Parteien Stadt Wahlstedt als rechtwidrig an Überzeugungs- verteilt worden ist. In beiderlei Hinsicht sind hier kraft fehle. Dies wiederum begründete das OVG durchaus Bedenken angebracht. Schleswig-Holstein mit wenig überzeugenden Argu- Auch das VG Schleswig bewertet die zahlenmäßige menten. So könne der SPD-Landesverband nicht Beschränkung der Wahlplakate als „restriktiv“ und pauschal in Abrede stellen, dass durch die Anbrin- will „nicht von der Hand weisen“, dass „angesichts gung von Plakaten unter Umständen in private Rech- der Größe der Stadt (9450 Einwohner bei rund 16 te eingegriffen wird, aber die Behauptung der Stadt qkm) und der großen Bedeutung von Bundestags- Wahlstedt, in den Wohnstraßen befänden sich die wahlen eine weitergehende Wahlwerbemöglichkeit Masten in der Regel unmittelbar auf der Grenze des angemessen wäre“44, belässt es dann aber bei der Bürgersteigs zu einem angrenzenden Privatgrund- Feststellung, offensichtlich rechtswidrig sei das bis- stück, sodass das Anbringen einer Werbetafel in pri- herige Konzept der Stadt jedoch nicht. Für eine ab- vate Rechte Dritter eingreifen würde, wird aufgrund schließende Beurteilung, ob das Plakatierungskonzept der Inaugenscheinnahme von wenigen mit der Be- der Stadt Wahlstedt gemessen an den örtlichen Ver- schwerdeerwiderung eingereichten Fotos akzeptiert, hältnissen tatsächlich angemessen ist, stünde in dem wobei lediglich diejenigen auf Seite 3 und 4 (oben) Eilverfahren nicht hinreichend Zeit zur Verfügung. die Behauptung der Stadt Wahlstedt belegen sollen, Das VG Schleswig traf seine Entscheidung deshalb hingegen das Foto auf Seite 6 der Beschwerdeerwi- ausschließlich im Wege einer Folgenabschätzung, derung jedenfalls nicht zweifelsfrei46. Eine grund- ohne auf die auch in einem Eilverfahren zur Verfü- sätzlich bestehende Möglichkeit der Plakatierung an gung und zu Gebote stehenden Möglichkeiten der 300-400 Laternen in Wohnstraßen deshalb auszu- Beweiserhebung zurückzugreifen. Zwar kann der schließen, erscheint wenig plausibel. Darüber hinaus Amtsermittlungsgrundsatz in einem Eilverfahren folgt das OVG Schleswig-Holstein der Argumentati- nicht uferlos sein, da anderenfalls zeitnahe Entschei- on der Stadt Wahlstedt, wonach eine Sondernut- dungen kaum mehr möglich sind. Deshalb kann sich zungserlaubnis für weitere Wahlplakate auch daran das Gericht bei der Ermittlung der Tatsachengrund- scheitere, dass die Auflage, Wahlwerbung nicht in- lage auch auf glaubhaft gemachte Tatsachen, eventu- nerhalb des Lichtraumprofils der Straße und der ell präsente Beweismittel und überwiegend wahr- Rad- und Gehwege anzubringen, „nicht durchgängig scheinliche Tatsachen stützen. Davon, dass der beachtet“ werde, was ebenfalls durch Inaugenschein- Sachvortrag der Stadt Wahlstedt zu den tatsächlich nahme einzelner Fotos der Beschwerdeerwiderung vorhandenen Plakatierungsmöglichkeiten mit über- für erwiesen erachtet wurde47. In der Tat kann auch wiegender Wahrscheinlichkeit richtig ist, war aber die Unzuverlässigkeit ein zulässiger Gesichtspunkt offensichtlich auch das VG Schleswig nicht über- für die Ermessensausübung bei der Entscheidung zeugt, wenn es von „erstaunlich wenig in Frage kom- über die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis menden Laternenmasten“45 spricht. Nichtsdestotrotz darstellen, sofern sie aus straßenbezogenen Ge- geht es – erneut unter Hinweis auf die mangelnde sichtspunkten hergeleitet wird. Dann aber müssten Aufklärungsmöglichkeit im Eilverfahren – von der zumindest konkrete Anhaltspunkte für die Annahme Richtigkeit dieser Behauptung aus. In dem Be- bestehen, der Antragsteller – also der SPD-Landes- schwerdeverfahren vor dem OVG Schleswig-Holstein verband – werde sich nicht an die straßenrechtlichen hat der antragstellende Landesverband der SPD sei- Anforderungen im Zusammenhang mit der Sonder- nen Sachvortrag zu weiteren vorhandenen Plakatie- nutzung von öffentlichen Straßen, Wegen und Plät-

44 VG Schleswig, Beschluss vom 17.08.2017 – 3 B 110/17, juris 46 OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13.09.2017 – 4 MB Rn. 20. 52/17, juris Rn. 12 f. 45 VG Schleswig, Beschluss vom 17.08.2017 – 3 B 110/17, juris 47 OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13.09.2017 – 4 MB Rn. 26. 52/17, juris Rn. 15.

120 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung zen halten. Dazu findet sich in der Entscheidungsbe- tragenden Erwägungen des VG in tatsächlicher oder gründung jedoch nichts. Dem geltend gemachten in rechtlicher Hinsicht für falsch oder unvollständig Anspruch des SPD-Landesverbandes auf Erteilung gehalten werden und weshalb die Überlegungen des einer weitergehenden Sondernutzungserlaubnis kann VG falsch sind, welche Rechtsfolgen sich daraus er- dieses Argument deshalb so nicht entgegengehalten geben und was richtigerweise zu gelten hat50. Um werden. Zwar ist es geeignet, ein grundsätzlich be- diesen Anforderungen zu genügen, bedurfte es im rechtigtes Interesse an einer zahlenmäßigen Begren- vorliegenden Verfahren allerdings allein eines blo- zung der allen Parteien erlaubten Wahlsichtwerbung ßen Hinweises auf die vom VG in Bezug genomme- zu begründen, aber zur Beantwortung der Frage, wie ne Entscheidung des BVerwG, aus der sich unmiss- weit diese Begrenzung reichen kann und ob 10 Pla- verständlich ergibt, dass es nicht nur zulässig, son- katstandorte für jeweils 2 Plakate pro Partei noch an- dern sogar notwendig ist, die Parteien bei der Ertei- gemessen sind, trägt es nichts bei. lung von Sondernutzungserlaubnissen für die Wahl- In der Frage der Zulässigkeit der von der Stadt sichtwerbung ungleich zu behandeln: Eine „absolute, Wahlstedt praktizierten „formalen Gleichbehandlung“ formale Gleichbehandlung aller Parteien [brächte] aller wahlwerbenden Parteien bei der Verteilung der eine Verfälschung mit sich […], weil mit einer sol- Gesamtzahl der Plakatierungsmöglichkeiten wich chen Gleichbehandlung der Anschein des gleichen das VG Schleswig von der bisherigen gefestigten Gewichts der verschiedenen Parteien erweckt und Rechtsprechung ab. Es erschien dem VG Schleswig der Wähler über die wahre Bedeutung der einzelnen rechtlich vertretbar, dass die Stadt Wahlstedt bei der Parteien getäuscht würde; die formale Gleichbe- Ausübung des in § 5 Abs. 1 PartG geregelten Ermes- handlung würde damit das Recht der größeren Par- sens allen Parteien, ungeachtet ihrer tatsächlichen teien auf Achtung auch ihrer Chancengleichheit zu- Bedeutung, die gleiche Anzahl von Plakatierungs- gunsten der kleineren Parteien und damit zugleich möglichkeiten zugedacht hat. Ein Widerspruch zur das Neutralitätsgebot der Träger öffentlicher Gewalt Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lie- im Wahlkampf verletzen […]; die formale Gleichbe- ge darin nicht. Diese Rechtsansicht stützt das VG handlung hätte mithin eine nicht zu billigende Un- Schleswig maßgeblich auf eine fragwürdige Inter- gleichbehandlung zur Folge“51. Die tragende Erwä- pretation eines Urteils des BVerwG aus dem Jahre gung des VG Schleswig zur Zulässigkeit der forma- 1974. In diesem Urteil seien zwar deutlich die Ge- len Gleichbehandlung aller Parteien ist danach ganz sichtspunkte hervorgehoben, die für die Gewährleis- offensichtlich in rechtlicher Hinsicht falsch, weil sie tung einer abgestuften Chancengleichheit sprechen, den in Bezug genommenen Inhalt des Urteils des es ließe sich der Entscheidung jedoch nicht entneh- BVerwG falsch wiedergibt, wonach richtigerweise men, so das VG Schleswig, dass von der gesetzli- der Grundsatz abgestufter Chancengleichheit zu gel- chen Möglichkeit einer formalen Gleichbehandlung ten hat. Ein Mehr an Darlegung war vom Beschwer- der Parteien nicht Gebrauch gemacht werden dürfe48. deführer mit Blick auf die verfassungsrechtlich ge- Das OVG Schleswig-Holstein wiederholt diese Ent- botene Gewährleistung eines effektiven Rechtsschut- scheidungsgründe, unterlässt eine eigene rechtliche zes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) nicht zu fordern. Selbst Bewertung aber mit dem Hinweis darauf, dass der falls die Beschwerdebegründung des SPD-Landes- SPD-Landesverband dies in der Beschwerdebegrün- verbandes noch dahinter zurückblieb, ist die Ent- dung zwar angreife, sich aber nicht argumentativ mit scheidung des OVG, sich auf den Standpunkt zu- der angegriffenen Entscheidung auseinandersetze rückzuziehen, es sei nach § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO und daher seinen Darlegungsanforderungen nicht ge- im Prüfungsumfang auf die in der Beschwerdebe- nüge49. Tatsächlich stellt § 146 Abs. 4 S. 3 VwGO gründung dargelegten Gründe beschränkt, wenig ein- recht hohe Anforderungen an die Darlegungslast bei sichtig. Die Beschränkung soll eine zeitnahe Ent- einer Beschwerde in einem verwaltungsgerichtlichen scheidung ermöglichen, sie hindert das OVG aber Eilverfahren. Danach muss der Beschwerdeführer nicht, sich auch mit nicht vorgetragenen Gründen die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung auseinanderzusetzen, soweit es zu keiner Verfah- abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der an- rensverzögerung kommt und sich der Streitgegen- gefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Dies stand nicht ändert52. In diesem Fall bedurfte es ganz verlangt grundsätzlich Ausführungen dazu, welche 50 S. statt Vieler Kaufmann, in: Posser/Wolff (Hrsg.), BeckOK 48 VG Schleswig, Beschluss vom 17.08.2017 – 3 B 110/17, juris VwGO, 44. Edition, Stand: 01.01.2018, § 146 Rn. 14. Rn. 20. 51 BVerwGE 47, 280 (289). 49 OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13.09.2017 – 4 MB 52 S. statt Vieler Kaufmann, in: Posser/Wolff (Hrsg.), BeckOK 52/17, juris Rn. 16. VwGO, 44. Edition, Stand: 01.01.2018, § 146 Rn. 17.

121 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. offensichtlich keiner weiteren verfahrensverzögern- Straßenraum angebrachten „Nazi-Kiez-Dorstfeld“- den gerichtlichen Nachprüfung, sondern lediglich ei- Plakate wieder zu entfernen. Die Stadt Dortmund nes Blickes in das vom VG zur Entscheidungsbe- war der Ansicht, dass die Plakate keine Wahlwerbung gründung herangezogenen Urteils des BVerwG. für die Landtagswahl enthielten und deshalb nicht von der erteilten Sondernutzungserlaubnis für das Aufstel- Erfolglos bleiben muss demgegenüber zwangsläufig len von Wahlplakaten gedeckt seien, da der Wortlaut ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, wenn des Plakats nicht erkennen lasse, dass die Partei zur eine Sondernutzungserlaubnis für das Aufstellen von Wahl antrete und dass um Stimmen für die Partei Plakatständern beantragt und erteilt wurde, aber des- „Die Rechte“ geworben wird. Das VG Gelsenkir- sen ungeachtet erstmalig im Verfahren des einstwei- chen entschied, dass es sich um eine Wahlplakatie- ligen Rechtsschutzes eine Sondernutzungserlaubnis rung im Rahmen der erteilten Sondernutzungserlaub- für das Anbringen von Wahlplakaten an Lichtmas- nis handelte. Die Nutzung wäre erst dann eine nicht ten, Laternenpfosten oder in ähnlicher Weise im erlaubte andere, also ein aliud, wenn die Plakatierung Luftraum begehrt wird. Die antragstellende politi- keinen Bezug zur Landtagswahl mehr hätte. Dies sei sche Partei wehrte sich vor dem VG München53 ge- jedoch nicht der Fall. Für die rechtliche Beurteilung gen eine behördliche Auflage für das bewilligte Auf- sei eine wertende Gesamtbetrachtung maßgeblich, bei stellen von Plakatständern, wonach die Anbringung der sich eine isolierte Würdigung einzelner textli- der Plakatierung nicht höher als 30 cm über dem Bo- cher oder bildlicher Elemente des Plakats verbiete. den erfolgen darf. Zu Recht wies das VG München Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs könne dem darauf hin, dass für den gerichtlich geltend gemach- Plakat in Zeiten des Landtagswahlkampfes neben ten Anspruch auch mit Blick auf das Verfassungs- Plakaten von Mitbewerbern unzweifelhaft ein wer- recht stets der konkrete Inhalt des Antrags auf Ge- bender Charakter für die Partei „Die Rechte“ und nehmigung für Wahlwerbung im öffentlichen Stra- zwangsläufig auch für ihre Kandidaten zur Land- ßenraum maßgeblich ist54. Eine beantragte und be- tagswahl entnommen werden. Darüber hinaus könn- willigte Sondernutzungserlaubnis zum Aufstellen ten ausdrückliche Hinweise auf ein Kandidieren im von Plakatständern berechtigt nicht zum Aufhängen Wahlgebiet und die Aufforderung zur Stimmabgabe von Plakaten im Luftraum über den öffentlichen nicht gefordert werden. Anderenfalls müsste – was Straßen, wenn – wie vorliegend – die einschlägige sicherlich zutreffend ist – nicht nur die Beseitigung kommunale Plakatierungsverordnung in rechtlich auch der anderen fünf verwendeten Plakatvarianten nicht zu beanstandender Weise zwischen den Plaka- der Partei „Die Rechte“, sondern insbesondere auch tierungsformen unterscheidet. Der Antrag auf Erlass der Plakate vieler Mitbewerber veranlasst werden. der begehrten einstweiligen Anordnung könnte da- her nur dann Erfolg haben, wenn keine andere Ent- Gerade in Zeiten des Wahlkampfes bietet nicht nur scheidung rechtmäßig wäre als die Erteilung der Er- die Wahlsichtwerbung politischer Parteien Anlass zu laubnis ohne die in dem Verfahren des einstweiligen gerichtlicher Auseinandersetzung, sondern insbeson- Rechtsschutzes allein streitbefangene Auflage. Diese dere auch die chancengleiche Teilhabe an Sendun- war allerdings aus Gründen der öffentlichen Sicher- gen in Hörfunk und Fernsehen, von denen eine er- heit im Straßenraum gerechtfertigt, insbesondere um hebliche Breitenwirkung ausgeht, auf die politische ein standfestes, windsicheres und blendungsfreies Parteien wegen der Möglichkeit zur Beeinflussung Aufstellen von Plakatständern zu gewährleisten. der öffentlichen Meinung nicht verzichten können und wollen. Politische Parteien haben nicht nur ei- Das VG Gelsenkirchen55 stellte die aufschiebende nen Anspruch auf Zuteilung von Sendezeiten für die Wirkung des Widerspruchs der rechtsradikalen, unter eigene Wahlwerbung nach dem Grundsatz der abge- Beobachtung des Verfassungsschutz stehenden Par- stuften Chancengleichheit (§ 5 Abs. 1 S. 2 PartG), tei „Die Rechte“ gegen eine Ordnungsverfügung der sondern aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG Stadt Dortmund wieder her, mit der die Partei aufge- unter Berücksichtigung der sich für die öffent- fordert worden war, die von ihr im nordrhein-westfä- lich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus Art. 5 Abs. 1 lischen Landtagswahlkampf 2017 im öffentlichen S. 2 GG ergebenden Gestaltungsfreiheit auch auf chancengleiche Teilnahme an redaktionell gestalte- 53 VG München, Beschluss vom 05.09.2017 – M 2 E 17.4006, ten Rundfunk- und Fernsehsendungen. Die öffent- online veröffentlicht bei juris. lich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben sich bei 54 VG München, Beschluss vom 05.09.2017 – M 2 E 17.4006, der Auswahl des Teilnehmerkreises an sachgerech- juris Rn. 20. ten, tragfähigen Differenzierungskriterien zu orien- 55 VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 02.05.2017 – 14 L 1316/17, online veröffentlicht bei juris. tieren, die sich zwar nicht in direkter Anwendung

122 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung des § 5 Abs. 1 PartG – es handelt sich nicht um öf- lem dort, wo sie wie bei redaktionell gestalteten Sen- fentliche Leistungen im Sinne der Norm –, aber in dungen ihre grundrechtliche, von Art. 5 Abs. 1 SVerf Anlehnung an die dort genannten Kriterien aus der geschützte Freiheit der Kommunikation [...] wahr- Bedeutung der jeweiligen Partei ergeben.56 nehmen, die Bedeutung von politischen Parteien be- rücksichtigen und ihnen nach dem Prinzip der abge- In Anwendung dieser Grundsätze hat der VerfGH stuften Chancengleichheit […] unterschiedlichen des Saarlandes57 den Antrag auf Erlass einer einst- Raum gewähren“60. Insbesondere bei der Auswahl weiligen Anordnung und die zeitgleich eingereichte der Teilnehmer für eine redaktionell gestaltete Sen- Verfassungsbeschwerde des NPD-Landesverbandes dung sind die Wahlerfolgsaussichten einer politischen Saarland zurückgewiesen, mit denen die NPD eine Partei ein zulässiges Differenzierungskriterium. Ob Teilnahme ihrer Vertreter an der zur Ausstrahlung eine politische Partei realistische Chancen auf den anstehenden Sendung des Saarländischen Rundfunks Einzug in den Landtag hat, ist in einer Gesamtbe- „Endspurt – Spitzenkandidaten der Landtagswahl trachtung zu beurteilen, bei der nicht nur die bei vor- diskutieren“ (sog. Elefantenrunde) erreichen wollte. angegangenen Wahlen desselben Parlaments, sondern Mit diesem Ansinnen war der NPD-Landesverband auch die Ergebnisse aus zeitnahen Wahlen in anderen bereits vor dem OVG des Saarlandes58 wie auch Bundesländern wie auch auf Bundesebene und insbe- vor dem VG des Saarlandes59 gescheitert, die dem sondere auch aktuelle Wahlprognosen berücksichtigt Saarländischen Rundfunk ebenfalls eine der Bedeu- werden müssen. Neben den Spitzenkandidaten der tung der NPD gerecht werdende Auswahl der Teil- bereits parlamentarisch im Saarland vertretenen Par- nehmer attestierten. Der Saarländische Rundfunk teien auch die Spitzenkandidaten der FDP und der hatte zu der „Elefantenrunde“ die Spitzenkandidaten AfD, nicht aber der NPD, in die Sendung einzula- der Parteien CDU, SPD, Die Linke, Bünd- den, war danach nicht zu beanstanden. Zwar hatten nis 90/Die Grünen, FDP und AfD eingeladen. Der NPD und FDP bei den letzten Landtagswahlen im NPD-Landesverband monierte, dass die Nichtbe- Saarland annähernd den gleichen Stimmenanteil er- rücksichtigung des Spitzenkandidaten der NPD ei- rungen und alle drei Parteien waren aktuell nicht im nen Verstoß gegen den Chancengleichheitsgrundsatz Landtag des Saarlandes vertreten. Unter Berücksich- darstelle. Dies verneinten die Gerichte zu Recht. Der tigung der weiteren Kriterien war allerdings den Programmgestaltung des Saarländischen Rundfunks Wahlerfolgsaussichten der NPD im Vergleich mit lag ein konsistentes und kohärentes Konzept zugrun- denjenigen der FDP und der AfD eine deutlich ge- de, das eine gleichheitsgerechte redaktionelle Be- ringere Bedeutung beizumessen. Für die AfD spra- rücksichtigung aller politischen Parteien in der Vor- chen sowohl ihre Erfolge in den verschiedenen wahlzeit gewährleistete: „Zum Schutzbereich des Landtagswahlen des vorangegangenen Jahres wie Rechts auf Chancengleichheit politischer Parteien auch die Voraussage eines sicheren Einzugs in den zählt, dass öffentlich-rechtlich organisierte Rund- Landtag des Saarlandes in den Wahlprognosen ange- funkanstalten – vor allem in Vorwahlzeiten – in sehener Meinungsforschungsinstitute. Zwar nicht in ihrem Gesamtprogramm in angemessener Weise gleichem Maße, aber immer noch mit hinreichendem über alle politischen Parteien ausgewogen, inhaltlich Abstand zur NPD galt dies auch für die FDP. zutreffend und sachlich informieren und von jedem Versuch einer eigenen Beeinflussung der Meinungs- Dass selbstverständlich auch eine Landeseinrichtung bildung der Wählerinnen und Wähler Abstand neh- bei der Ausrichtung einer Reihe von Podiumsdiskus- men. Öffnen sie ihr Programm für eine Selbstdarstel- sionen den Grundsatz abgestufter Chancengleichheit lung politischer Parteien oder ihrer Kandidatinnen zu berücksichtigen hat und sich bei ihrem Auswahl- und Kandidaten, so muss das zwar nicht in streng konzept nicht ausschließlich auf die bereits parlamen- formal gleicher Weise, gar zum gleichen Zeitpunkt tarisch vertretenen Parteien beschränken darf, stellte und mit derselben Dauer, geschehen. Öffentlich- das OVG Münster61 in einem Eilverfahren fest und rechtliche Rundfunkanstalten dürfen nämlich vor al- hob den Beschluss des VG Düsseldorf62 auf, das eine solche Auswahlentscheidung der Landeszentra- 56 S. statt Vieler Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG – Kom- le für politische Bildung für rechtens erklärt hatte. In mentar, 10. Aufl. 2017, § 1 Rn. 71. 57 VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 16.03.2017 – Lv 60 VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 16.03.2017 – Lv 3/17, online veröffentlicht bei juris. 3/17, juris Rn. 24. 58 OVG des Saarlandes, Beschluss vom 13.03.2017 – 2 B 61 OVG Münster, Beschluss vom 21.04.2017 – 5 B 467/17, on- 340/17, online veröffentlicht bei juris. line veröffentlicht bei juris. 59 VG des Saarlandes, Beschluss vom 24.02.2017 – 3 L 261/17, 62 VG Düsseldorf, Beschluss vom 20.04.2017 – 20 L 1740/17, online veröffentlicht bei juris. online veröffentlicht bei juris.

123 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. der Sache wehrte sich die Partei „Die Linke“ gegen vorangegangenen Wahlen vernachlässigt würden; ihre Nichtberücksichtigung bei der von der Landes- insbesondere neu entstandene Parteien wären von zentrale für politische Bildung vor den Landtagswah- vornherein von einer Teilnahme ausgeschlossen. len in Nordrhein-Westfalen veranstalteten „It’s your Deshalb müssen, um die Bedeutung einer Partei zu choice“-Schultour. Dabei sollten an insgesamt elf Ter- ermitteln, noch andere Faktoren außer den Ergebnis- minen für über 30 Berufsschulen in Nordrhein-West- sen der letzten Parlamentswahlen berücksichtigt falen Podiumsdiskussionen durchgeführt werden. Die werden, wie die Zeitdauer des Bestehens einer poli- Landeszentrale für politische Bildung rechtfertigte ihr tischen Partei, ihre Kontinuität, ihre Mitgliederzahl Auswahlkonzept mit dem Argument, die Berufsschüle- und der Umfang und Ausbau ihres Organisationsnet- rinnen und -schüler sollten „die im Landesparlament zes.“64 Wahlergebnissen aus der Vergangenheit gelebte Diskussionskultur“ nacherleben, indem sie kommt nur eine begrenzte Aussagekraft zu, wie sich mit den Repräsentanten der im Landtag vertretenen gerade auch am Beispiel der Piratenpartei erweist: Fraktionen (SPD, CDU, Grüne, FDP, Piraten) auf Au- Diese war zwar im Landtag Nordrhein-Westfalen genhöhe politische Themen diskutieren. Dem darauf vertreten und deshalb zur Teilnahme an den Podi- aufbauenden Vorbringen der Landeszentrale für po- umsveranstaltungen eingeladen worden. Schon zu litische Bildung, es handele sich bei den Podiums- diesem Zeitpunkt ließen allerdings aktuelle Umfra- diskussionen dem zugrundeliegenden Konzept nach gewerte einen Wiedereinzug in den Landtag kaum eher um eine Informationsveranstaltung über die erwarten, während für die Partei „Die Linke“ in 19 Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie, von 20 Umfragen Werte von 5 % und mehr ermittelt womit wohl ein Bezug zur Landtagswahl in Abrede wurden. Die in dem Ausschluss eines Vertreters der gestellt werden sollte, trat das OVG Münster zu Partei „Die Linke“ zu sehende Ungleichbehandlung Recht entgegen: Daraus folge nicht, dass die Partei wog nach zutreffender Auffassung des OVG Müns- „Die Linke“ an den Veranstaltungen „nicht ihrer Be- ter umso schwerer, als möglicherweise bereits ge- deutung entsprechend zu beteiligen wäre. Es ist ge- ringfügige Stimmenunterschiede über deren Einzug rade Ziel der Veranstaltungen, Erstwählerinnen und in das Parlament entscheiden können. Eine realisti- -wähler zur Ausübung ihres Wahlrechts zu motivieren sche Chance auf den Einzug in den Landtag war der und die Wahlbeteiligung junger Menschen zu erhö- Partei „Die Linke“ nicht abzusprechen und auch hen. Hierbei ist vor dem Hintergrund, dass eben nicht nach ihrem Organisationsgrad sowie dem Wählerzu- nur abstrakt über die Landtagswahl informiert wird, spruch in Nordrhein-Westfalen bei vorangegangenen sondern Parteimitglieder auftreten, die ihre jeweilige Wahlen, insbesondere bei den Kommunal- und den Partei vertreten, zu berücksichtigen, dass diese zur Bundestagswahlen, musste sie als auch im nord- Meinungsbildung der Zuhörerinnen und Zuhörer bei- rhein-westfälischen Parteienspektrum etabliert im tragen. Auswirkungen auf das Wahlverhalten und da- Auswahlkonzept der Landeszentrale für politische mit auch auf das Wahlergebnis können somit nicht Bildung berücksichtigt werden. ausgeschlossen werden; sie erscheinen vielmehr nahe- Im Falle einer von der Landeszentrale für politische liegend, zumal die Veranstaltungen in unmittelbarer Bildung Baden-Württemberg für Jugendliche veran- zeitlicher Nähe zu der Landtagswahl stattfinden“63. stalteten „Du und Deine Wahl“-Podiumsdiskussion Deshalb waren nach dem Grundsatz der Chancen- zur Bundestagswahl war der beantragten einstweiligen gleichheit bei der im Vorfeld der Landtagswahl statt- Anordnung der „Freien Wähler“, ihren Direktkandi- findenden „It’s your choice“-Schultour die Parteien daten ebenso einzuladen wie die bereits eingeladenen ganz unzweifelhaft entsprechend ihrer Bedeutung zu Direktkandidaten von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grü- berücksichtigen. Dabei durfte nicht ausschließlich nen, Linke, AfD und FPD, vor dem VG Stuttgart65 auf das Differenzierungskriterium abgestellt werden, und nachgängig dem VGH Mannheim66 allerdings ob eine politische Partei in Fraktionsstärke im nord- kein Erfolg beschieden. Auch nach dem VGH Mann- rhein-westfälischen Landtag vertreten ist. „Für die heim sind für die Beurteilung, welche „Bedeutung“ Bestimmung der Bedeutung einer Partei ausschließ- eine Partei aufweist, nicht nur Ergebnisse vorausge- lich an den vorhergehenden Wahlerfolg anzuknüp- gangener Wahlen, sondern weitere Kriterien zu be- fen, ist mit dem Grundsatz der Chancengleichheit nicht vereinbar, weil hierdurch einer Aufrechterhal- 64 OVG Münster, Beschluss vom 21.04.2017 – 5 B 467/17, juris tung des Status quo Vorschub geleistet und damit Rn. 30. Veränderungen im politischen Kräftefeld seit den 65 VG Stuttgart, Beschluss vom 19.09.2017 - 9 K 14955/17, nicht veröffentlicht. 63 OVG Münster, Beschluss vom 21.04.2017 – 5 B 467/17, juris 66 VGH Mannheim, Beschluss vom 20.09.2017 – 1 S 2139/17, Rn. 30. in: NVwZ-RR 2018, 174 ff.

124 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung rücksichtigen, darunter fundierte Wahlprognosen. In nach wie vor uneingeschränkte Geltung des Partei- einer Gesamtschau konnte die danach zu bewertende enprivilegs bekräftigt69, das es verbietet, staatliche Bedeutung der Partei „Freie Wähler“, die weder in Sanktionen an die inhaltliche Ausrichtung einer Par- Baden-Württemberg parlamentarisch vertreten war, tei zu knüpfen. Daran hat sich auch mit der vom bei der Bundestagswahl 2013 nur 1 % sowie der BVerfG70 initiierten Verfassungsänderung nichts ge- Landtagswahl 2016 in Baden-Württemberg nur 0,1 % ändert, mit der Art. 21 GG weitere Absätze hinzuge- der Stimmen erreicht hatte und der auch von aner- fügt wurden, um verfassungsfeindlichen Parteien die kannten Meinungsforschungsinstituten für die anste- staatliche Finanzierung entziehen zu können71. Nach hende Bundestagswahl keine besseren Ergebnisse wie vor ist die Entscheidung über die Verfassungs- prognostiziert wurden, keinen Anspruch auf Teilnah- widrigkeit und eben auch neuerdings die Verfas- me an der Podiumsdiskussion begründen. Auch mit sungsfeindlichkeit einer politischen Partei exklusiv ihrem Versuch, sich über ihre Einordnung als „eta- dem BVerfG vorbehalten und für den Fall einer fest- blierte“ Partei i.S.d. § 18 Abs. 2 S. 1 BWahlG einen gestellten Verfassungsfeindlichkeit betrifft die allein Teilnahmeanspruch zu erstreiten, standen die „Freien vorgesehene Sanktionsfolge ausschließlich die Teil- Wähler“ – unbestreitbar – auf verlorenem Posten. habe an der staatlichen Finanzierung. In allen ande- „Die Vorschriften aus dem Bundeswahlgesetz treffen ren Belangen besteht die Pflicht zur Gleichbehand- für das Verfahren zur Vorbereitung der Bundestags- lung uneingeschränkt fort72. Gleichwohl scheint sich wahl eine Differenzierung zwischen Parteien, die im nicht nur bei den anspruchsverpflichteten kommuna- Deutschen Bundestag oder einem Landtag seit deren len Trägern öffentlicher Einrichtungen73, sondern letzter Wahl auf Grund eigener Wahlvorschläge un- auch mitunter in der verwaltungsgerichtlichen unterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten ver- Rechtsprechung eine Bereitschaft zu entwickeln, um treten waren (so genannte etablierte Parteien), und der politischen Auseinandersetzung mit den Verfas- solchen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen. sungsfeinden willen rechtlich verbindliche Grenzen 'Etablierte' Parteien sind in diesem Rahmen von be- zu überschreiten74. Sich bei der Bekämpfung derer, stimmten Anforderungen bei der Vorbereitung der die die freiheitliche demokratische Grundordnung Bundestagswahl befreit. [...] Für die Unterscheidung untergraben wollen, selbst ins Unrecht zu setzen, ist zwischen ‚etablierten‘ und ‚nicht etablierten‘ Partei- aber kein geeigneter Hebel, um aufkeimende verfas- en stellt § 18 Abs. 2 S. 1 BWahlG ausschließlich auf sungsfeindliche Tendenzen abzuwehren, denn es die Vertretung von Parteien im Bundestag oder in schwächt die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats. Landtagen ab. Dieses Kriterium kann jedoch zur Be- Dies hat auch das OVG des Saarlandes75 erfreulich urteilung der für Auswahlentscheidungen maßgebli- deutlich gemacht, als es einen Anspruch der NPD chen Frage, welche „Bedeutung‘ eine Partei i.S.d. § auf Überlassung kommunaler Räumlichkeiten für 5 Abs. 1 S. 2 PartG aufweist, gerade nicht allein ent- eine Kandidatenaufstellungsversammlung bejahte und scheidend sein. [...] Denn nach dieser Vorschrift be- misst sich die Bedeutung einer Partei ‚insbesondere‘ 69 BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, in: NJW 2017, – also auch, aber nicht nur – nach den Ergebnissen 611 (618). vorausgegangener Wahlen zu Volksvertretungen“ 67. 70 BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, in: NJW 2017, 611 (618, 629). Die sog. „Stadthallenfälle“ sind nach wie vor Dauer- 71 Dazu Jürgensen, Das Parteiverbot ist tot, es lebe der Entzug brenner in der gerichtlichen Auseinandersetzung. staatlicher Parteienfinanzierung?, Beitrag vom 30.05.2017 auf Die Verweigerung kommunaler Räume gegenüber https://verfassungsblog.de/das-parteiverbot-ist-tot-es-lebe-der vor allem rechten Parteien hat seit Jahren Hochkon- -entzug-staatlicher-parteienfinanzierung, zuletzt abgerufen am junktur und wurde im Jahr 2017 durch das Urteil des 23.03.2018. BVerfG zur zwar als verfassungsfeindlich, aber 72 So auch Kluth, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grund- nicht verfassungswidrig eingestuften NPD68 weiter gesetz, 35. Edition, Stand: 15.11.2017, Art. 21 Rn. 212c. 73 belebt. Schon zuvor, aber auch seitdem, scheinen Besonders erwähnenswert ist die Weigerung der Stadt Wetzlar, der NPD eine Stadthalle zu überlassen, obgleich nicht nur die sich Fälle zu häufen, in denen staatliche Maßnahmen Verwaltungsgerichte, sondern auch das BVerfG sie hierzu ver- an die als verfassungsfeindlich bewerteten Zielset- pflichtet hatte, dazu Bäcker, Damit ist kein Staat zu machen: zungen einer Partei anknüpfen. Auch das NPD-Urteil Von Verfassungsfeinden und einem weiteren Problem mit der des BVerfG hat allerdings unmissverständlich die Verfassungstreue, in diesem Heft (MIP 2018, S. 112 f.). 74 In diese Richtung m.w.N. aus der Rechtsprechung auch 67 VGH Mannheim, Beschluss vom 20.09.2017 – 1 S 2139/17, Heusch, Demokratischer Wettbewerb auf kommunaler Ebene, in: NVwZ-RR 2018, 174 (175). in: NVwZ 2017, 1325 (1325 ff., insb. 1330 f.). 68 BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, in: NJW 2017, 75 OVG des Saarlandes, Beschluss vom 10.07.2017 – 2 B 611 ff. 554/17, in: NVwZ 2018, 183 f.

125 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. damit einen anderslautenden Beschluss des VG des terbinden. Ein durchaus gangbarer Weg, soweit da- Saarlandes76 abänderte. Der Regionalverband Saar- bei eben nicht rechtlich verbindliche Grenzen über- brücken hatte die Überlassung eines Konferenzsaal- schritten werden. Grundsätzlich haben zunächst ein- es im Saarbrücker Schloss an die NPD unter Hin- mal ortsansässige kommunale Gebietsverbände von weis auf eine am 29.06.201777 beschlossene Ände- Parteien einen originären Anspruch auf Zugang zu rung der Richtlinien für die Benutzung der Säle und öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde, es sei der Außenflächen des Saarbrücker Schlosses abge- denn, die Zweckbestimmung mittels Widmung lehnt. Die geänderte Richtlinie enthielt nunmehr eine schließt einen solchen Anspruch für politische Ver- Passage, wonach „Parteien/Vereinigungen, die unter anstaltungen wirksam aus81. Ein solcher Ausschluss Missachtung der Menschenwürde erkennbar verfas- kann generell oder (rechtlich komplizierter) für im sungsfeindliche Ziele verfolgen oder gegen den Kern Einzelnen näher bezeichnete Zwecke erfolgen. Eine des Demokratieprinzips verstoßen oder Elemente der Beschränkung in letzterem Sinne auf ausschließlich Wesensverwandtschaft mit dem historischen Natio- Parteiveranstaltungen von örtlicher Bedeutung und nalsozialismus aufweisen, von der Nutzung der Ge- mit örtlichem Bezug glaubte die Stadt Münster mit bäude am Schlossplatz ausgeschlossen“ werden78. ihrer Vergabeordnung vorgenommen zu haben, in- Das VG des Saarlandes hielt diese Regelung für ver- dem sie dort regelte, dass „Schulräume für öffentli- fassungskonform. „In der Begründung heißt es im che Informationsveranstaltungen zugelassener politi- Wesentlichen, der NPD stehe kein Anspruch auf scher Parteien, Ratsfrauen und Ratsherren kostenfrei vollständige Gleichbehandlung mit den sonstigen überlassen werden“82. Dass dem nicht so ist, hat das Parteien zu, da es sich bei ihr um die einzige deut- VG Münster83 entschieden. Zwar ist der Kreisver- sche Partei handele, die seitens des Bundesverfas- band Münster der AfD mit seinem Antrag auf Erlass sungsgerichts zwar nicht verboten, aber für verfas- einer einstweiligen Anordnung wegen dessen Unzu- sungsfeindlich erklärt worden sei. Dieses vom Bun- lässigkeit gescheitert, das VG Münster hat ihm aber desverfassungsgericht ausgesprochene Verdikt kön- gleichwohl „vorsorglich“ in der Sache Recht gege- ne als Differenzierungskriterium gegenüber den an- ben. Die Stadt Münster hatte dem AfD-Kreisverband deren politischen Parteien aber nicht außer Betracht antragsgemäß die Aula des Freiherr-vom-Stein- bleiben“79. Dieser Rechtsauffassung erteilte das Gymnasiums (ein 300-Personen-Saal) in Münster für OVG des Saarlandes kurz und bündig eine deutliche eine Informationsveranstaltung zur Landtagswahl Absage: „Bis zur Feststellung der Verfassungswid- Nordrhein-Westfalen überlassen. Am darauffolgen- rigkeit einer Partei durch das BVerfG und das damit den Tag hat die Stadt von ihrem „Rücktrittsrecht“ einhergehende Parteiverbot ist dessen Verfassungs- wegen einer Täuschung über den Zweck der Veran- feindlichkeit kein zulässiges Differenzierungskriteri- staltung Gebrauch gemacht, weil sie wohl erst dann um, das eine Ungleichbehandlung bei der Überlas- realisierte, dass auf der Internetseite des AfD-Lan- sung von kommunalen Räumlichkeiten zum Zwecke desverbandes die Veranstaltung als Wahlkampfab- von parteiinternen Veranstaltungen, die als Aufgabe schluss der Landespartei angekündigt wurde84, der es einer politischen Partei in Artikel 21 GG festgelegt – nach Überzeugung der Stadt Münster – an dem in sind, rechtfertigt“80. der Vergabeordnung vorausgesetzten örtlichen Be- zug fehlte. Um sein Rechtsschutzziel zu erreichen, Nicht selten versuchen die Städte und Gemeinden, nämlich Zugang zur Aula des Freiherr-vom-Stein- „unliebsame“ Parteiveranstaltungen über Vergabe- Gymnasiums, hätte der AfD-Kreisverband Anfech- richtlinien, Benutzungsordnungen oder sonstige For- tungsklage gegen den Widerruf der Nutzungserlaub- men der Widmung öffentlicher Einrichtungen zu un- nis einreichen müssen, die aufschiebende Wirkung gehabt hätte (§ 80 Abs. 1 S. 1 VwGO), weshalb die 76 VG des Saarlandes, Beschluss vom 06.07.2017 – 3 L ursprünglich erteilte Nutzungserlaubnis wieder wirk- 1108/17, nicht veröffentlicht. 77 Wenige Tage nach Beschlussfassung des Bundestages über 81 Dazu näher Schoch, Rechtsprechungsentwicklung: Zugang zu die Änderung des Art. 21 GG und das Gesetz zum Ausschluss kommunalen öffentlichen Einrichtungen, in: NVwZ 2016, verfassungsfeindlicher Parteien von der Parteienfinanzierung 257 (261 f.); s.a. Heusch, Demokratischer Wettbewerb auf am 22.06.2017. kommunaler Ebene, in: NVwZ 2017, 1325 (1330 f.). 78 OVG des Saarlandes, Beschluss vom 10.07.2017 – 2 B 82 http://www.muenster.de/stadt/presseservice/pressemeldungen/ 554/17, in: NVwZ 2018, 183 (183). web/frontend/show/961420, zuletzt abgerufen am 26.03.2018. 79 OVG des Saarlandes, Beschluss vom 10.07.2017 – 2 B 83 VG Münster, Beschluss vom 11.05.2017 – 1 L 836/17, online 554/17, juris Rn. 5. veröffentlicht bei juris. 80 OVG des Saarlandes, Beschluss vom 10.07.2017 – 2 B 84 http://www.muenster.de/stadt/presseservice/pressemeldungen/ 554/17, in: NVwZ 2018, 183 (Leitsatz, 183). web/frontend/show/961420, zuletzt abgerufen am 26.03.2018.

126 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung sam geworden wäre. Der stattdessen beantragte Er- wird allerdings dann sinnlos, wenn eine konkludente lass einer einstweiligen Anordnung ist in diesem Fall Widmungserweiterung durch die tatsächliche Verga- jedoch nicht statthaft und deshalb als unzulässig ab- bepraxis erfolgt, wie nun das VG Bayreuth88 der gelehnt worden. Gleichwohl bescheinigte das VG Stadt Bamberg bescheinigte. Die AfD Bamberg hatte Münster dem AfD-Kreisverband, dass einiges dafür erfolglos mehrfach die Saalnutzung für eine öffentli- spreche, dass der Widerruf der Nutzungsgenehmi- che Informationsveranstaltung zum Thema „Volksbe- gung rechtswidrig ist und den AfD-Kreisverband in gehren Bürgerrundfunk“ beantragt und war stets mit seinen Rechten verletzt, demnach eine gegebenen- Hinweis auf die Hallenbenutzungssatzung gescheitert. falls noch einzureichende Anfechtungsklage erfolg- Das VG Bayreuth gestand zu, dass die von der AfD reich sein würde. Nach der Vergabeordnung seien Bamberg geplante öffentliche Veranstaltung keinen die streitgegenständlichen Räumlichkeiten nicht ge- rein parteiinternen Zweck erfüllt und damit nicht dem nerell einer Nutzung durch politische Parteien entzo- in der Hallenbenutzungssatzung schriftlich fixierten gen, vielmehr werden als mögliche Nutzer ausdrück- Widmungszweck entsprach. Allerdings war die tat- lich auch zugelassene politische Parteien benannt. sächliche Vergabepraxis eine andere, woran sich die Ein örtlicher Bezug werde – so das VG Münster zu Stadt Bamberg festhalten lassen musste. Recht – dem Wortlaut nach nicht vorausgesetzt. Auch das VG Minden89 musste sich im Vorfeld der Selbst sofern die Vergabeordnung dahingehend aus- NRW-Landtagswahlen mit einem bis dahin geschei- gelegt werden könnte, wäre diese Voraussetzung er- terten Versuch der Anmietung von öffentlichen Ver- füllt: „Dieser Bezug folgt schon daraus, dass nicht anstaltungsräumen durch die AfD – hier des AfD- die Bundespartei, sondern der Kreisverband als Ver- Kreisverbands Minden-Lübbecke – befassen. Korres- anstalter auftritt und sich die Veranstaltung – zu der pondierend zu dem grundsätzlich nach dem Grund- maximal 300 Teilnehmer erwartet werden – erkenn- satz der Chancengleichheit gegebenen Zulassungsan- bar an Parteimitglieder, Interessenten und potentielle spruch zu öffentlichen Einrichtungen im Rahmen der Wähler aus Münster und Umgebung richtet“85. Die jeweiligen Kapazitäten stehe der AfD als politischer Tatsache, dass auf der Veranstaltung auch prominen- Partei auch ein Auskunftsanspruch zu, wann welche te Redner (u.a. die Bundes- und der Landesvorsit- öffentliche Räumlichkeiten der Stadt Minden im zende der Partei) zu Wort kommen sollen, nimmt der Rahmen des Wahlkampfes zur Anmietung zur Ver- Veranstaltung nicht ihren örtlichen Bezug. „Es ist fügung stehen. „Dieser Auskunftsanspruch ist erfor- vielmehr bei allen Parteien allgemein üblich, dass derlich, um die Stellung sachgerechter Zulassungs- die lokalen Kandidaten durch prominente Parteimit- anträge zu ermöglichen, da die Antragstellerin ande- glieder bei Veranstaltungen unterstützt werden“86. renfalls Gefahr liefe, Zulassungsanträge zu stellen, Ebenfalls über eine satzungsrechtliche Widmung die schon wegen nicht mehr verfügbarer Kapazitäten versuchte die Stadt Bamberg die Nutzungsberechti- abgelehnt werden müssten“90. gung politischer Parteien für die in ihrem Eigentum Im Zusammenhang mit dem Bundestagswahlkampf stehenden Harmoniesäle zu beschränken, und zwar zog die AfD erneut vor das VG Minden91, diesmal indem in § 2 Abs. 3 der Hallenbenutzungssatzung eine um einen Anspruch auf Überlassung der Aula einer Vergabe der Räumlichkeiten nur für solche Veranstal- Gesamtschule (Ilex-Halle Hüllhorst) für eine partei- tungen vorgesehen ist, die organisatorischen und in- politische Veranstaltung, genauer einen Wahlkampf- ternen Zwecken i.S.d. § 9 PartG dienen87 und die ei- auftritt ihres AfD-Spitzenkandidaten für die Bundes- nen konkreten regional- oder landespolitischen Bezug tagswahl, Dr. Alexander Gauland, durchsetzen. Die zur Stadt Bamberg, zum Bezirk bzw. Regierungsbezirk Stadt Hüllhorst lehnte einen entsprechenden Nut- Oberfranken oder zum Freistaat Bayern aufweisen. zungsantrag mit der Begründung ab, dass am glei- Eine grundsätzlich mögliche Limitierung der Nut- chen Tage eine Einschulungsfeier stattfinde und Si- zungszwecke über eine satzungsrechtliche Widmung cherheitsbedenken bestünden. Um einen Zulassungs-

85 VG Münster, Beschluss vom 11.05.2017 – 1 L 836/17, juris 88 Rn. 11. VG Bayreuth, Beschluss vom 26.06.2017 – B 5 E 17.424, on- line veröffentlicht bei juris. 86 VG Münster, Beschluss vom 11.05.2017 – 1 L 836/17, juris 89 Rn. 10. VG Minden, Beschluss vom 14.03.2017 – 2 L 493/17, online veröffentlicht bei juris. 87 Für die gesetzlich vorgeschriebenen Parteitage nach § 9 Abs. 1 90 S. 3 PartG bzw. für Wahlkampfveranstaltungen unmittelbar aus VG Minden, Beschluss vom 14.03.2017 – 2 L 493/17, juris Art. 21 Abs. 1 GG einen originären Zugangsanspruch bejahend Rn. 9. Schoch, Rechtsprechungsentwicklung: Zugang zu kommuna- 91 VG Minden, Beschluss vom 09.08.2017 – 2 L 1635/17, on- len öffentlichen Einrichtungen, in: NVwZ 2016, 257 (262). line veröffentlicht bei juris.

127 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. antrag aus ordnungs- und polizeirechtlichen Grün- Dass auch befürchtete „Unruhen“ wegen gewalttäti- den abzulehnen, sind allerdings recht hohe rechtliche ger Gegendemonstrationen anlässlich einer geplan- Hürden zu nehmen. Bloße „Sicherheitsbedenken“ ten Veranstaltung einer politischen Partei eine Nut- reichen dafür nicht. Es muss vielmehr eine ernste zungsversagung nicht rechtfertigen können, hat das Gefahr für die durch die öffentliche Sicherheit und VG München94 entschieden. Im zu entscheidenden Ordnung geschützten Rechtsgüter bestehen und dro- Fall hatte die Stadt Dachau der AfD zunächst den hende Schäden dürfen nicht auf andere Weise abge- Stockmann-Saal im Ludwig-Thoma-Haus in Dachau wehrt werden können92. Stützt sich die Gefahrenpro- für eine Vortragsveranstaltung mit dem ehemaligen gnose auf befürchtete Ausschreitungen von Dritten stellvertretenden Chefredakteur der Bild-Zeitung und (Gegendemonstranten), darf einer politischen Partei scharfen Islamkritiker Nicolaus Fest überlassen, die die Benutzung einer öffentlichen Einrichtung im Re- Genehmigung dann aber widerrufen, als sie Kenntnis gelfall nicht verweigert werden, sondern nur aus- von einer seitens der AfD vorsorglich angemeldeten nahmsweise, wenn sich die Lage so ernsthaft zuge- Gegendemonstration zu einer erwarteten Gegende- spitzt hat, dass mit einer erheblichen Gefährdung ge- monstration des Vereins „Runder Tisch gegen Rassis- rechnet werden muss, und die drohenden Schäden mus Dachau e.V.“ erlangt hatte. Die Stadt befürchtete, nicht mit anderen, die politische Partei minder dass es erneut – wie bereits anlässlich einer Veranstal- schwer berührenden Mitteln abgewendet werden tung mit dem Publizisten Hamed Abdel-Samad im kann93. Dabei gilt, dass behördliche Maßnahmen pri- Oktober 2015 – zu körperlichen Auseinandersetzun- mär gegen die Störer zu richten sind und nur für den gen zwischen den Demonstranten beider Seiten vor Fall, dass dies keinen Erfolg verspricht, unter den dem Ludwig-Thoma-Haus kommen könnte. Das VG strengen Voraussetzungen der Inanspruchnahme von München bekräftige unter Bezugnahme auf die inso- Nichtstörern gegen die veranstaltende Partei gerich- weit gefestigte, auch höchstgerichtliche Rechtspre- tet werden können. An konkreten belastbaren An- chung, dass selbst wenn es wegen gewalttätiger Ge- haltspunkten für eine zu befürchtende Störung der gendemonstrationen zu Unruhen kommen würde, öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die ge- „behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer plante Veranstaltung wie auch durch etwaige Gegen- zu richten sind, soweit sich der Veranstalter und die demonstranten fehlte es indes auch nach den von der Versammlungsteilnehmer grundsätzlich friedlich Stadt Hüllhorst vorgebrachten Argumenten. Eine verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit pauschale, nicht durch konkrete Anhaltspunkte be- vorwiegend aufgrund des Verhaltens Dritter, wie legte Annahme, es werde – wie üblicherweise bei Gegendemonstranten, zu befürchten sind [...]. Die AfD-Veranstaltungen – zu gewalttätigen Gegende- mit der Veranstaltung verbundenen Risiken liegen monstrationen kommen, genügt weder den Anforde- im Bereich dessen, was in einer auf Demokratie und rungen an eine belastbare Gefahrenprognose, noch Meinungsfreiheit beruhenden Rechtsordnung als Be- zeigt es einen Mangel an Möglichkeiten auf, etwai- gleiterscheinung öffentlicher politischer Auseinan- gen von Dritten ausgehende Gefahren auf andere dersetzungen in Kauf genommen werden muss [...]. Weise zu begegnen als durch eine Nutzungsversa- Gegen friedliche Versammlungs- bzw. Veranstal- gung, da es Aufgabe der Polizei ist, diese Störungen tungsteilnehmer kann nur unter den besonderen Vor- zum Schutz der friedlichen Veranstaltungsteilneh- aussetzungen des polizeilichen Notstandes einge- mer und der friedlichen Versammlungsteilnehmer zu schritten werden [...]. Dafür indes, dass die Polizei unterbinden. Eine ernste Gefahr konnte insbesondere etwaigen Störungen der streitgegenständlichen Vor- nicht damit begründet werden, dass es die Stadt tragsveranstaltung nicht wirksam begegnen könnte, Hüllhorst für zwingend notwendig hielt, eine zeitli- geben die berichteten Vorkommnisse der Polizeiin- che Überschneidung zwischen dem Verlassen des spektion Dachau nicht ansatzweise etwas her“95. Veranstaltungsortes durch die Einschulungs-Kinder Erfolg hatte die AfD auch mit einem an das VG mit ihren Angehörigen und einem unberechtigten Ansbach96 gerichteten Eilantrag auf Überlassung der Zugang zur Halle deutlich vor Veranstaltungsbeginn Meistersingerhalle in Nürnberg für eine Wahlkampf- auszuschließen. Die Einschulungsfeier sollte bereits veranstaltung. Erneut wurde eine der AfD zunächst um 14.00 Uhr enden und die geplante AfD-Veran- staltung erst um 18.30 Uhr beginnen. 94 VG München, Beschluss vom 11.04.2017 7 – M 7 S 17.1453, online veröffentlicht bei juris. 95 VG München, Beschluss vom 11.04.2017 7 – M 7 S 17.1453, 92 So schon früh BVerwGE 32, 333 (337). juris Rn. 23. 93 So die gefestigte Rechtsprechung seit BVerwG, Beschluss 96 VG Ansbach, Beschluss vom 07.09.2017 – AN 4 S 17.01868, vom 23.02.1976 – VII B 45.75, juris Rn. 4. online veröffentlicht bei juris.

128 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung erteilte Genehmigung widerrufen, in diesem Fall desverbandes lautendes Konto verfügt, genügt hier- nach Bekanntwerden der Äußerung des auch bei der für nicht. Darüber hinausgehende Nachteile sind Wahlkampfveranstaltung in Nürnberg als Redner ge- nicht ersichtlich. Weder hat die Antragstellerin sub- planten Spitzenkandidaten Alexander Gauland, der stantiiert dargelegt, dass Einbußen bei der Spenden- zuvor bei einer Wahlkampfveranstaltung im thürin- akquise aufgrund des Fehlens eines eigenen Kontos gischen Eichsfeld davon gesprochen hatte, die Inte- eingetreten oder zu befürchten sind, noch kann grationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan ihrem Vortrag entnommen werden, dass ihr keine Özoguz in der Türkei zu „entsorgen“. Der Aufforde- sonstigen Konten – wie beispielsweise die in der rung seitens der Stadt Nürnberg, zu versichern, dass Antragsschrift aufgeführten Konten einzelner Unter- Gauland bei der Veranstaltung nicht sprechen wird, gliederungen – zur Verfügung stehen, um die von ihr kam die AfD nicht nach, weshalb die Nutzungser- beabsichtigten Finanzaktivitäten durchzuführen“100. laubnis widerrufen wurde. Das VG Ansbach räumte Unabhängig davon, dass der Antrag auf einstweili- ein, dass „die inkriminierten, in ihrem Wortlaut [...] gen Rechtsschutz nach § 32 Abs. 1 BVerfGG bereits auch nicht bestrittenen Äußerungen von Dr. Gauland unzulässig war101, konnte er auch der Sache nach da- [...] als grob unangemessen, schwer ehrverletzend, her keinen Erfolg haben. hetzerisch bzw. rassistisch empfunden werden kön- Dr. Alexandra Bäcker nen und in der Öffentlichkeit auch so empfunden worden sind“, sah sich aber angesichts der verfas- 3. Parteienfinanzierung sungsrechtlichen bzw. höherrangigen einfachgesetz- lichen Vorgaben an einer anderslautenden Entschei- Das VG Berlin102 hatte sich mit der Rücknahme eines dung gehindert97. Es könne nicht mit hinreichender Bewilligungsbescheides über die Gewährung staatli- Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass cher Parteienfinanzierung und der Festsetzung eines bei der Veranstaltung Äußerungen getätigt werden, Sanktionsbetrages an die Partei „Die PARTEI“, we- die Personen verächtlich machen, schmähen, in der gen Unrichtigkeiten des Rechenschaftsberichtes im Menschenwürde verletzten oder gegen § 130 Straf- Zusammenhang mit „Einnahmen aus Unternehmens- gesetzbuch (StGB) verstoßen. Alexander Gauland tätigkeit“ im Sinne des § 24 Abs. 4 Nr. 5 PartG 2004 habe zwischenzeitlich öffentlich erklärt, dass er die zu beschäftigen. Im Jahr 2014 bot Die PARTEI ge- kritisierte Formulierung „entsorgen“ in Zukunft so gen eine Überweisung von 105 €, 55 €, oder 25 € die nicht mehr verwenden werde. Übersendung bzw. den „Kauf“ jeweils eines 100 €-, 50 €- oder 20 €-Geldscheins inklusive zweier Post- Die Partei „Die Rechte“ hat einen Girokontenfall als karten an. Daraus ergab sich in der Summe ein Be- weiteren Klassiker der gerichtlichen Auseinanderset- trag von ca. 204.225,01 €, wovon 191.875 € auf den zung um eine chancengleiche Teilhabe politischer bloßen Austausch von Geld entfielen. Parteien an öffentlichen Leistungen im Eilverfahren 98 Anlass des sog. Geldhandels war für Die PARTEI der bis vor das BVerfG gebracht, unterlag dort aber, sog. Goldhandel der AfD. Auslöser dieser Geschäfts- wie auch bereits in den fachgerichtlichen Eilverfah- 99 modelle ist die im PartG für die staatliche Parteienfi- ren . In einem Eilverfahren reicht ein überwiegend nanzierung geregelte sog. relative Obergrenze. Da- wahrscheinlicher Anordnungsanspruch auf Einrich- nach darf der staatliche Anteil der Parteienfinanzie- tung eines Kontos einer politischen Partei bei einer rung nicht mehr als 50 % im Verhältnis zu Spenden Sparkasse für sich genommen nicht, sofern nicht und anderen Eigeneinnahmen betragen, § 18 Abs. 5 auch ein Anordnungsgrund gegeben ist. Letzterer S. 1 PartG. Liegen die nichtstaatlichen Eigeneinnah- setzt voraus, dass das subjektive Recht des Be- men der Parteien unter dem errechneten staatlichen schwerdeführers bei Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes mehr als nur unerheblich beeinträch- 100 BVerfG, Beschluss vom 21.03.2017 – 2 BvQ 2/17, juris Rn. 3. tigt wird. Daran fehlte es, wie auch das BVerfG fest- 101 Ein Antrag nach § 32 Abs. 1 BVerfGG ist zulässig, sofern stellte: „Die Tatsache, dass sie [die Partei „Die nachfolgend ein Hauptsacheantrag gestellt werden könnte, der Rechte“] derzeit über kein auf den Namen des Bun- nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegrün- det wäre. Für eine Verfassungsbeschwerde gegen die im Ver- fahren des fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes ergangenen 97 VG Ansbach, Beschluss vom 07.09.2017 – AN 4 S 17.01868, Beschlüsse hatte die Partei „Die Rechte“ bereits die Monats- juris Rn 19. frist versäumt (§ 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Eine auf das 98 BVerfG, Beschluss vom 21.03.2017 – 2 BvQ 2/17, online Hauptsacheverfahren bezogene Verfassungsbeschwerde wäre veröffentlicht bei juris. derzeit wegen mangelnder Erschöpfung des Rechtswegs ge- 99 Vorgehend VG Schwerin, Beschluss vom 07.07.2015 – 1 B mäß § 90 Abs. 2 BVerfGG unzulässig. 2549/15 SN, und OVG Greifswald, Beschluss vom 06.12.2016 102 VG Berlin, Urteil vom 21.09.2017 – 2 K 413.16, online ver- – 2 M 302/15, jeweils online veröffentlicht bei juris. öffentlicht bei juris.

129 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg.

Parteienfinanzierungsanteil, wird dieser entsprechend sie vorgesehenen Stelle einzusetzen und in der Ver- gekürzt. Um diesem drohenden Effekt entgegenzuwir- mögensbilanz zu berücksichtigen. Es gelte daher das ken, generierte die AfD, als zwar wählerstimmenstarke Bruttoprinzip und das Saldierungsverbot104. aber eigeneinahmenschwache Partei, im Jahre 2014 Bezugnehmend auf die Begründung zur Änderung Einnahmen durch den An- und Verkauf von Gold. des Parteiengesetzes, durch die das Saldierungsverbot Eine derartige wirtschaftliche Betätigung einer Partei von Einnahmen und Ausgaben eingeführt wurde, war nach dem damals gültigen Parteiengesetz nicht zu stellte das Verwaltungsgericht fest, dass der parteien- beanstanden. Seit einer Gesetzesänderung im Jahre rechtliche Einnahmebegriff nicht auf einen tatsächli- 2002 waren für alle Einnahmen die Bruttobeträge ein- chen Geldfluss abstelle, sondern die Summe aller zusetzen, d.h. die Einnahmen und Ausgaben werden Einzahlungen umfasst, zuzüglich der Forderungen, in voller Höhe und getrennt veranschlagt. Im Rahmen die während einer Periode entstanden seien105. Die der Festsetzung für das Jahr 2015 hat sich der Gold- Anlehnung an das Handelsrecht diene einer mög- handel für die AfD in der Tat deutlich anspruchserhö- lichst umfassenden Rechenschaftslegung der Partei- hend ausgewirkt. Ohne diese Einnahmen in Höhe von en, solle aber keine Einschränkung darstellen. 2,6 Millionen Euro wäre der staatliche Parteienfinan- Nur ein weiter parteienrechtlicher Einnahmebegriff zierungsanspruch in Höhe von 6,3 Millionen Euro be- entspreche dem verfassungsrechtlichen Transparenz- reits bei 4,56 Millionen Euro durch das Erreichen der gebot aus Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG. Wie das Brutto- relativen Obergrenze gekappt worden. prinzip und auch das Saldierungsverbot zeigen, solle Die PARTEI hat im Rahmen ihrer Rechnungslegung der Einnahmebegriff dazu beitragen, ein präzises für das Jahr 2014, dem Modell des Goldhandels der und unverfälschtes Bild von der Finanzlage einer AfD folgend, in der Kategorie „Einnahmen aus Un- Partei wiederzugeben. Der handelsrechtliche Begriff ternehmenstätigkeit und Beteiligungen“ die Einnah- erfülle diese Funktion nicht. men aus dem Geldhandel in voller Höhe ausgewiesen. Die historische Auslegung von § 26 PartG 2004 zei- Die Bundestagsverwaltung als mittelverwaltende Stelle ge, dass es unerheblich sei, ob der Einnahme eine erkannte die Einnahmen aus dem Geldhandel nicht als Gegenleistung gegenüberstehe oder nicht. Eine der- anrechenbare Eigeneinnahmen an. Gestützt auf ein artige Regelung bestand in der Fassung von 1967, Gutachten des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) wurde aber bereits 1984 abgeschafft106. Die Tatsa- führte sie aus, dass der Verkauf von Geld derselben che, dass durch künstlich erzeugte Einnahmen die Währung keinen Ertrag und folglich keine Einnahmen relative Obergrenze verschoben wird – wie durch zur Folge habe. Geld stelle ein reines Zahlungsmittel den Verkauf von Waren zu Beschaffungspreisen dar und sei vollkommen austauschbar. Abgesehen von ohne Gewinnerzielungsabsicht –, führe nicht dazu, den Postkarten fehle es an einem Leistungsaustausch dass solche Geschäfte keine Einnahmen darstellen. und einer Vermögensmehrung. Daher lägen im Sinne Abhilfe schaffte der Gesetzgeber für die Zukunft der Einnahme-Kategorien aus dem Parteiengesetz kei- durch die Änderung der Berechnung der relativen ne „Unternehmenstätigkeit oder betriebliche Tätig- Obergrenze nach § 19a Abs. 4 Satz 2 PartG, wonach keit“ vor. Es sei vom handelsrechtlichen Ertragsbe- nunmehr die Einnahmen nur noch abzüglich der griff auszugehen. Daraus folge eine zu hoch ange- Ausgaben berücksichtigt werden, die Beträge aber setzte relative Obergrenze der staatlichen Teilfinan- weiterhin auszuweisen sind. zierung, weshalb die Bundestagsverwaltung ca. Die Bundestagsverwaltung hat gegen das Urteil mit 383.000 € für das Jahr 2015 gemäß § 31 b PartG, der der Begründung Berufung eingelegt, die vom VG eine doppelte Sanktionierung des fehlerhaft ausge- Berlin vorgenommene Auslegung des Einnahmebe- wiesenen Betrages vorsieht, zurückforderte. griffes führe dazu, dass jeder Vorgang des Geld- Entscheidungstragend war die Auslegung des Ein- wechselns nunmehr vollumfänglich als Einnahme nahmebegriffs des Parteiengesetzes in der Fassung und Ausgabe erfasst werde107. Das OVG Berlin-Bran- aus dem Jahre 2004. Der Begriff sei in § 26 Abs. 1 denburg108 hat laut Pressemitteilung109 vom 07.03.2018 S. 1 PartG 2004 legaldefiniert. Danach sei eine Ein- nahme, soweit für einzelne Einnahmearten nichts 104 VG Berlin, Urteil vom 21.09.2017 – 2 K 413.16, juris Rn. 16. Besonderes gelte, jede von der Partei erlangte Geld- 105 VG Berlin, Urteil vom 21.09.2017 – 2 K 413.16, juris Rn. 17. oder geldwerte Leistung.103 Für Einnahmen aus Un- 106 VG Berlin, Urteil vom 21.09.2017 – 2 K 413.16, juris Rn. 19. ternehmenstätigkeit bestehe keine besondere Rege- 107 Siehe dazu auch BT-Drucks. 17/10710, S. 113 f. lung, so dass diese Definition auch dort gelte. Alle 108 Urteil vom 07.03.2018 – 3 B 26.17, (noch) nicht veröffentlicht. Einnahmen seien mit ihrem vollen Betrag an der für 109 https://www.berlin.de/gerichte/oberverwaltungsgericht/presse/ pressemitteilungen/2018/pressemitteilung.682480.php, zuletzt 103 VG Berlin, Urteil vom 21.09.2017 – 2 K 413.16, juris Rn. 16. abgerufen am 19.03.2018.

130 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung die Berufung zwischenzeitlich als unbegründet zu- schauungen benachteiligt werden. Eine zulässige rückgewiesen. Es hat aber wegen der grundsätzli- Durchbrechung dieses Diskriminierungsverbots we- chen Bedeutung der Sache die Revision an das Bun- gen politischer Anschauungen zu Lasten einer Partei desverwaltungsgericht zugelassen. sei erst dann gegeben, wenn die erkennbare Verfas- sungsfeindlichkeit zu einem Verbot der Partei durch Die drei nachfolgenden Urteile sind im Zusammen- das Bundesverfassungsgericht nach Art. 21 Abs. 2 hang mit staatlichen Zuwendungen an Fraktionen, GG beziehungsweise zu einem behördlichen Ver- Gruppen und Wählergemeinschaften ergangen und einsverbot geführt habe. Bis dahin sei selbst eine er- betreffen daher nicht im eigentlichen Sinne die Fi- kennbare Verfassungsfeindlichkeit kein zulässiges nanzierung politischer Parteien. Die Abgrenzung der Differenzierungskriterium. An dieser Rechtslage Bereiche ist allerdings nicht immer ganz eindeutig habe sich auch durch das jüngste Urteil des BVerfG und daher bringen die Urteile mitunter durchaus zum NPD-Verbotsverfahren112 nichts geändert. Das auch einen Erkenntnisgewinn für den Bereich der BVerfG hatte in einem obiter dictum auf die Mög- Parteienfinanzierung. lichkeit des verfassungsändernden Gesetzgebers zur Der VGH Kassel110 hatte in einem Normenkontroll- Ausgestaltung der Parteienfinanzierung hingewie- antrag über eine in Kraft getretene Änderung der sen. Diesem Hinweis ist der verfassungsändernde Entschädigungssatzung der Stadt B. zu entscheiden, Gesetzgeber zwischenzeitlich gefolgt und hat Art. 21 der zufolge eine Fraktion einer erkennbar verfas- GG um ein Verfahren vor dem BVerfG zum Aus- sungsfeindlichen Partei in der Stadtverordnetenver- schluss verfassungsfeindlicher Parteien von der sammlung von der Teilhabe an den kommunalen staatlichen Parteienfinanzierung erweitert. Fraktionszuschüssen ausgeschlossen wird. Darüber hinaus stellte der VGH Kassel fest, dass der Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt B. hatte Ausschluss von Fraktionszuwendungen nach Ziel- am 27.01.2017 beschlossen, ihre Entschädigungssat- richtung und Wirkung die dem staatlichen Bereich zung zu ändern, die jährliche Zahlungen an die Frak- zuzurechnende Fraktion in der Stadtverordnetenver- tionen für den bei der Fraktionsarbeit entstehenden sammlung betreffe und eben nicht die dem gesell- Aufwand vorsieht. Fraktionen bestehend aus Vertre- schaftlichen Bereich zuzuordnende Partei oder Wäh- tern erkennbar verfassungsfeindlicher Parteien soll- lergruppe. Fraktionszuwendungen seien zweckge- ten danach von den jährlichen Zahlungen mit Wir- bunden und sollten den Finanzierungsbedarf für die kung ab dem 01.02.2017 ausgenommen sein. Unver- Fraktionsgeschäftsführung ganz oder teilweise de- züglich nach Bekanntmachung dieser Änderung der cken. Für eine Finanzierung oder eine sonstige Un- Entschädigungssatzung am 31.01.2017 leitete die terstützung der „hinter“ den Fraktionen stehenden von der Regelung betroffene NPD-Fraktion und de- Parteien stünden sie gerade nicht zur Verfügung113. ren Mitglieder unverzüglich ein Normenkontrollver- Die politische Anschauung von gewählten Stadtver- fahren ein. ordneten, die sich zu Fraktionen zusammengeschlos- Nach Auffassung des 8. Senats des VGH Kassel ver- sen hätten, sei daher auch kein sachgerechtes Merk- stößt der Ausschluss von Fraktionen bestehend aus mal für die Zuteilung von Fraktionszuwendungen. Vertretern erkennbar verfassungsfeindlicher Parteien Die politische Auffassung von gewählten Stadtver- von Fraktionszuwendungen gegen den allgemeinen ordneten dürfe erst nach dem Verbot der Partei Man- Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Ein solcher datsrelevanz haben. Ausschluss stelle eine Ungleichbehandlung der be- Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht in troffenen Fraktionen gegenüber den vom Ausschluss Leipzig wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der nicht betroffenen Fraktionen in der Stadtverordne- Rechtssache zugelassen. tenversammlung dar, wofür es an einer sachlichen 114 Rechtfertigung fehle111. Auch das OVG Münster hatte sich im Rahmen ei- Bereits das gewählte Differenzierungskriterium der ner kommunalverfassungsrechtlichen Feststellungs- erkennbaren Verfassungsfeindlichkeit der Partei, de- klage mit der Gewährung von Zuwendungen an ren Vertreter sich in der Fraktion zusammengeschlos- Fraktionen und Gruppen auseinanderzusetzen. Nach sen hätten, sei unzulässig. Denn nach Art. 3 Abs. 3 der Kommunalwahl 2014 hatte der beklagte Rat der S. 1 GG dürfe niemand wegen seiner politischen An- 112 BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, in: NJW 2017, 611 ff. 110 VGH Kassel, Urteil vom 05.04.2017 – 8 C 459/17.N, in: 113 VGH Kassel, Urteil vom 05.04.2017 – 8 C 459/17.N, in: NVwZ 2017, 886 ff. NVwZ 2017, 886 (888). 111 VGH Kassel, Urteil vom 05.04.2017 – 8 C 459/17.N, in: 114 OVG Münster, Urteil vom 17.02.2017 – 15 A 1676/15, in: NVwZ 2017, 886 (887). KommJur 2017, 410 ff.

131 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg.

Stadt Köln beschlossen, die finanziellen Zuwendun- 1.650 € und im Fall der Zusammenveranlagung bis gen an Ratsfraktionen und -gruppen wegen der ge- zur Höhe von 3.300 € im Kalenderjahr abzugsfähig. stiegenen Anforderungen an die Wahrnehmung des Nehmen Wählervereinigungen aber nicht an den kommunalen Mandats anzupassen. Dabei hatte er Bundestags- oder Landtagswahlen teil, sind sie keine u.a. die Personalkostenzuschüsse an Ratsfraktionen Parteien im Sinne des PartG. Ein Spendenabzug ab einer Größenklasse von vier bis sechs Mitgliedern nach § 10b EStG ist damit ausgeschlossen. Spendern angehoben. Die kleinstmögliche Größenklasse von steht dann lediglich die Steuerermäßigung nach § 34g Fraktionen mit drei Mitgliedern wurde in die Erhö- S. 1 Nr. 2 lit. a EStG zu. Der Kläger sah in dieser hung nicht einbezogen. Dementsprechend nahmen unterschiedlichen Behandlung eine Verletzung der auch die aus nur zwei Mitgliedern bestehenden Rats- Chancengleichheit von Parteien und Wählergemein- gruppen nicht an der verbesserten Finanzausstattung schaften auf kommunaler Ebene. teil. Die deswegen erhobene Klage der Gruppe Pro Der BFH setzte sich in seiner Entscheidung intensiv Köln im Rat der Stadt Köln wies das Verwaltungs- mit dem Begriff der politischen Parteien auseinan- gericht Köln ab115. Die vor dem OVG Münster ein- der. § 10b Abs. 2 EStG verweise ausdrücklich auf gelegte Berufung hatte jedoch Erfolg. den Parteibegriff des PartG. Die Ansicht, der Partei- Das OVG hatte den angefochtenen Ratsbeschluss begriff sei unmittelbar Art. 21 GG zu entnehmen, daraufhin zu prüfen, ob die sich daraus ergebenden weshalb eine Teilnahme an Bundestags- oder Land- Zuwendungen an Fraktionen und Gruppen im Rat tagswahlen nicht zu fordern sei, gehe fehl. Auch das der Stadt Köln den gesetzlichen Vorgaben der Ge- Bundesverfassungsgericht habe deshalb für den in- meindeordnung (§ 56 Abs. 3 S. 1 GO NW) und dem soweit inhaltsgleichen § 10b Abs. 2 EStG 1983 eine allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ent- solche über den Wortsinn hinausgehende Auslegung sprechen. Letzterer erfordere ein in sich schlüssiges angesichts des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift Zuwendungssystem, in dem jede ungleiche Behand- nicht für möglich erachtet. Dem stimmte der Bun- lung von Fraktionen oder Gruppen durch sachliche desfinanzhof für die hier maßgebliche Fassung des Gründe gerechtfertigt sein müsse. Diese sachlichen § 10b Abs. 2 EStG zu119. Dies gelte selbst dann, Gründe hat der Senat im Hinblick auf verschiedene wenn man die Beschränkung des Parteienbegriffs an Positionen des 2014 beschlossenen Zuwendungssys- sich auf § 2 PartG und damit die dortige Festlegung tems nicht erkennen können116. Insbesondere er- auf eine Teilnahme bei Bundestags- oder Landtags- schließe sich nicht, warum eine Fraktion der Grö- wahlen für nicht mit Art. 21 Abs. 1 GG vereinbar ßenordnung zwischen vier und sechs Mitgliedern na- halte. Auch in einem solchen Fall seien die Grenzen hezu das Dreifache an Personalkostenzuschüssen er- der verfassungskonformen Auslegung zu beachten, halte wie eine dreiköpfige Fraktion. deren Ausgangspunkt ebenfalls das Gesetz und die von ihm verwandte Begrifflichkeit sei. Nur dann, Der BFH117 hatte in einem Revisionsverfahren über wenn eine Norm unter Berücksichtigung von Wort- Zuwendungen an kommunale Wählervereinigungen laut, Entstehungsgeschichte, Zweck und Gesetzeszu- zu entscheiden. Im der Entscheidung zugrundelie- sammenhang mehrere Deutungen zulasse, von denen genden Fall erhielt eine kommunale Wählervereini- nur eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis gung Beträge, die ihrer Höhe nach die nach § 34g führt, sei eine verfassungskonforme Auslegung ge- EStG begünstigten Ausgaben überstiegen. Der nicht boten und auch erlaubt. Wortlaut und Gesetzes- begünstigte Teilbetrag sollte als Spende nach § 10b zweck ziehen ansonsten einer solchen verfassungs- Abs. 2 EStG berücksichtigt werden. Das Finanzamt konformen Auslegung Grenzen. So kann ein Norm- lehnte den Spendenabzug mit der Begründung ab, verständnis, das mit dem Wortlaut und Zweck der die kommunale Wählervereinigung sei keine Partei anzuwendenden Normen sowie dem Gesetzeszusam- im Sinne des § 2 PartG. Klage118 und Revision blie- menhang nicht mehr in Einklang zu bringen ist, ben erfolglos. Spenden an politische Parteien im Sin- durch eine verfassungskonforme Auslegung ebenso ne von § 2 PartG sind bis zur Höhe von insgesamt wenig gewonnen werden wie ein solches, das in Wi- 115 VG Köln, Urteil vom 17.06.2015 – 4 K 5818/14, online ver- derspruch zu dem klar erkennbaren Willen des Ge- öffentlicht bei juris. setzgebers treten würde. Dies sei vorliegend der Fall, 116 OVG Münster, Urteil vom 17.02.2017 – 15 A 1676/15, in: da § 10b Abs. 2 EStG ausdrücklich den Parteienbe- KommJur 2017, 410 (413). griff auf den des PartG begrenzt. Die in § 2 Abs. 2 117 BFH, Urteil vom 20.03.2017 – X R 55/14, in: DStRE 2017, PartG genannten Voraussetzungen erfülle eine kom- 1162 ff. 118 FG Düsseldorf, Urteil vom 10.09.2014 – 15 K 1532/13 E, in: 119 BFH, Urteil vom 20.03.2017 – X R 55/14, in: DStRE 2017, DStRE 2015 1484 ff. 1162 (1163).

132 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung munale Wählergemeinschaft aber eben nicht. Die Richterin des Verfassungsgerichtshofs wegen einer umfassende Aufgabenbreite der Parteien im Sinne Besorgnis der Befangenheit für begründet122. Aus des § 2 PartG, die auch zu Bundestags- und Land- Sicht eines verständigen Dritten bestehe Anlass, an tagswahlen antreten, reiche aus, um eine steuerliche der Unvoreingenommenheit der Richterin zu zwei- Besserstellung gegenüber kommunalen Wählerverei- feln, weil sie zugleich Büroleiterin eines Abgeordne- nigungen zu rechtfertigen. Schließlich bliebe diese ten der AfD-Fraktion war. Auch wenn sich die be- Aufgabenbreite unabhängig vom Parteienbegriff bei troffene Richterin selbst nicht für befangen hielt und kommunalen Wählergemeinschaften auf den kom- es sich (nur) um eine Teilzeitstelle handele, habe sie munalen Bereich und damit in seiner finanziellen einen Anteil an der politischen Meinungsbildung des Auswirkung begrenzt. Nach Ansicht des BFH sei die Abgeordneten. Denn die Tätigkeit als Büroleiterin fehlende Begünstigung von Spenden und Beiträgen setze typischerweise ein nicht unerhebliches Maß an an kommunale Wählervereinigungen verfassungs- politischer Übereinstimmung und Vertrauen voraus. rechtlich unbedenklich und verletze deren Chancen- Das Gericht verweist auf das durch Art. 27 Abs. 3 der gleichheit auf kommunaler Ebene nicht. Dies entspre- Landesverfassung geschützte freie Mandat. Hiernach che der Rechtsprechung des BVerfG, welches wieder- sei es für dessen Unabhängigkeit unerlässlich, Perso- holt zu dieser Frage entschieden habe. Die geltenden nen als Mitarbeiter beauftragen zu können, die in po- Höchstbeträge stimmten inflationsbedingt im Wesent- litischer und fachlicher Hinsicht das persönliche Ver- lichen mit den vom BVerfG überprüften Beträgen trauen des Abgeordneten besitzen. Die erforderliche überein. Auch habe sich das rechtliche Umfeld auf Freiheit des Abgeordneten bei der Auswahl seiner kommunaler Ebene nicht wesentlich verändert. Mitarbeiter dürfe weder unmittelbar noch mittelbar Schließlich sei zu berücksichtigen, dass der Gesetz- beschränkt werden. Schon deshalb, weil die streitge- geber bei der sog. mittelbaren Parteienfinanzierung genständlichen Maßnahmen einen Machtkampf in die besonderen Aufgaben der Parteien auf regionaler der AfD-Fraktion beträfen, bestünden Zweifel, ob die wie überregionaler Ebene zu beachten habe. Richterin in diesem Verfahren einen unparteiischen und von dem Abgeordneten oder dessen Fraktion un- Dr. Heike Merten abhängigen Standpunkt einnehmen könne. In dem 4. Parteien und Parlamentsrecht Verfahren sei zudem deutlich geworden, dass die Fraktion der AfD von ihren Abgeordneten nachdrü- In gleich drei Entscheidungen hatte sich der Verfas- cklich verlange, dass sich deren persönliche Mitar- sungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg beiter auch gegenüber der Fraktion loyal verhielten. (VerfGH BW) mit der Abberufung eines Landtags- Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgeordneten aus Parlamentsausschüssen zu beschäf- wies der VerfGH BW als unbegründet zurück123, weil tigen. Die AfD-Fraktion hatte eines ihrer Mitglieder es an dem gesetzlich erforderlichen dringenden Be- nach § 19 Abs. 2 S. 1 der Geschäftsordnung dem Land- darf für die begehrte vorläufige Regelung fehle. We- tag zur Abwahl als Mitglied des Innenausschusses gen der anstehenden Sommerpause wäre die Wahr- und des Untersuchungsausschusses Rechtsterroris- nehmung der Rechte des Antragstellers, sollten sie mus/NSU BW II vorgeschlagen und hierdurch im Er- durch die angegriffenen Maßnahmen der Antragsgeg- gebnis auch die Abwahl durch Beschlüsse des Land- nerin verletzt werden, nur für einen vergleichsweise tags bewirkt. Darüber hinaus verbot die Fraktion geringfügigen Zeitraum beeinträchtigt. Demgegen- ihrem Abgeordneten pauschal, für sie im Landtag zu über bedeutete es einen erheblichen Eingriff in eine sprechen. Einen zunächst angedachten Fraktionsaus- kontinuierliche Ausschussarbeit, wenn der Landtag schluss vollzog sie jedoch nicht. Gegen die Maßnah- auf Vorschlag der Antragsgegnerin den Antragsteller men seiner Fraktion wendete sich der Abgeordnete vor vorübergehend in die Ausschüsse wählen würde, zu- dem VerfGH BW120 im Organstreitverfahren und stell- mal andere Landtagsabgeordnete für diese Zeit ihre te hinsichtlich der Abberufung aus den Ausschüssen Mitgliedschaft in den Ausschüssen verlören. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung121. Im Ergebnis stellte der VerfGH BW eine Verletzung Das Gericht entschied in beiden Verfahren in kleine- der Rechte des Antragstellers fest124. Die Maßnahmen rer Besetzung als üblich. Es erklärte ein Ableh- nungsgesuch des Antragstellers gegenüber einer 122 VerfGH BW, Beschluss vom 03.07.2017 – 1 GR 35/17, on- line veröffentlicht bei juris. 120 VerfGH BW, Urteil vom 27.10.2017 – 1 GR 35/17, online 123 VerfGH BW, Beschluss vom 02.08.2017 – 1 GR 35/17, on- veröffentlicht bei juris. line veröffentlicht bei juris. 121 VerfGH BW, Beschluss vom 02.08.2017 – 1 GR 35/17, on- 124 VerfGH BW, Urteil vom 27.10.2017 – 1 GR 35/17, online line veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris.

133 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. beträfen das Spannungsverhältnis der Mandatsfreiheit Für eine gerichtliche Auseinandersetzung zweier eines Abgeordneten zur gleichberechtigten Mandats- Landtagsfraktionen über die Zulässigkeit von Äuße- freiheit der übrigen Fraktionsmitglieder und der Not- rungen in Informationsschriften zur Öffentlichkeits- wendigkeit einer strukturierten und an den Mehr- arbeit ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerich- heitsverhältnissen im Landtag ausgerichteten Arbeit. ten gegeben. Dies hat das OLG Dresden125 entschie- Nach Auffassung des VerfGH BW verletzte insbe- den. Die Fraktion der AfD im Sächsischen Landtag sondere auch die Abberufung aus den Ausschüssen nahm die Fraktion Die Linke wegen eines Flugblatts den Antragsteller in seinen Rechten. Das Gericht auf Unterlassung verschiedener Äußerungen in An- setzt sich mit der in Teilen der Literatur vertretenen spruch. Das OLG hob das erstinstanzliche Urteil des Auffassung, die Ausschussabberufung unterliege LG Dresden126, mit dem die zuvor erlassene einstwei- keinen rechtlichen Grenzen, auseinander und kommt lige Verfügung aufrechterhalten wurde, auf. Der Klä- unter Verweis auf die Verfassungsbindung des gerin stehe ein Anspruch auf Unterlassung nicht zu, Landtags aus Art. 25 Abs. 2 LV zu dem Ergebnis, weil eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlich- dass dieser Auffassung nicht gefolgt werden könne. keitsrechts durch die Beklagte nicht vorliege. Aus- Die innere Ordnung der Fraktionen müsse demokra- führlich setzt sich das Gericht mit der Frage des tischen Grundsätzen entsprechen und rechtsstaatli- Rechtswegs auseinander. Zwar seien die Parteien beide chen Anforderungen genügen. Daraus folge die Gel- als Teile des Parlaments der organisierten Staatlich- tung des Gebots rechtlichen Gehörs, dem Betroffe- keit eingefügt und damit als Verfassungsorgane an- nen einer beabsichtigten Maßnahme sei diese mit ei- zusehen. Der streitige Lebenssachverhalt betreffe je- ner Begründung schriftlich vorab zu übermitteln, da- doch nicht ihre Stellung als Verfassungsorgane im mit er sich gegenüber seinen Fraktionskollegen äu- innerparlamentarischen Raum, sondern eine außer- ßern könne. Eine etwaige Äußerung müsse den Frak- parlamentarische Rechtsbeziehung, weil es um die tionsmitgliedern bekannt gemacht werden, damit sie Frage der Zulässigkeit von Öffentlichkeitsarbeit gehe. in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden Das OVG Münster127 hatte sich mit einem Ord- könne. Materiell sei „zumindest“ das allgemeine nungsruf gegenüber einem Ratsmitglied auseinan- Willkürverbot zu beachten. Vorliegend habe es derzusetzen. Die Klägerin äußerte anlässlich eines schon an der Beachtung der Verfahrensanforderun- Antrags, in dem die Einführung einer Sperrklausel gen gefehlt, weil der Antragsteller nicht im Vorfeld für Kommunalwahlen befürwortet wurde: „ja, da ha- über die Abberufung aus den Ausschüssen infor- ben wir es ja endlich, das wahlpolitische Ermächti- miert worden war. Mangels ausreichender Informati- gungsgesetz der Altparteien, die vor allem auf der on über die geplante Maßnahme habe er keine Gele- Verteidigung ihrer Pfründe bedacht sind.“ Der Bür- genheit gehabt, sich zu dieser zu äußern. germeister rief die Klägerin wegen dieser Aussage Auch das Redeverbot verletze den Antragsteller in zur Ordnung. Auf die Klage des Ratsmitglieds stellte seinen Rechten, namentlich in dem Recht, im Land- das OVG fest, dass dies rechtswidrig war. Bei der tagsplenum das Wort zu ergreifen. Zwar unterliege Ausübung der Ordnungsgewalt habe der Bürger- das Rederecht den vom Landtag kraft seiner Ge- meister der Bedeutung des Rederechts für die Demo- schäftsordnungsautonomie gesetzten Schranken. Das kratie und die Funktionsfähigkeit des Rats angemes- Präsidium könne Redezeiten für die Fraktionen und sen Rechnung zu tragen. Sie sei kein Instrument zur die einzelnen Redner festlegen, die Fraktionen hät- Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen ten aber auch dann kein ausschließliches Verfü- aus der Debatte und diene nicht der Sicherstellung gungsrecht über die Redezeit. Das freie Mandat der „Richtigkeit" oder Korrektheit bestimmter in- schütze die parlamentarische Mitwirkung in einer haltlicher Positionen oder der Sicherung eines ge- und durch eine Fraktion. Ein pauschales und unbe- sellschaftlichen Konsenses. Die Grenze zur Verlet- fristetes Redeverbot beeinträchtige die im freien zung der Ordnung in der Volksvertretung „Rat" sei Mandat angelegte Mitwirkungsmöglichkeit, als Mit- erst dort erreicht, wo es sich nicht mehr um eine in- glied einer Fraktion von dieser als Redner in Be- haltliche Auseinandersetzung handelt, sondern eine tracht gezogen zu werden. Auch hier war der An- bloße Provokation im Vordergrund steht oder wo es tragsteller vor dem Beschluss über das Verbot aller- dings nicht angehört worden. Unabhängig davon, so 125 OLG Dresden, Urteil vom 09.05.2017 – 4 U 102/17, online der VerfGH BW, ob ein Redeverbot wie im vorlie- veröffentlicht bei juris. genden Fall überhaupt zulässig sein könne, stelle be- 126 LG Dresden, Urteil vom 21.12.2016 – 3 O 2205/16 EV, nicht reits das fehlende rechtliche Gehör eine Verletzung veröffentlicht. organschaftlicher Rechte dar. 127 OVG NRW, Urteil vom 14.09.2017 – 15 A 2785/15, online veröffentlicht bei juris.

134 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung um die schiere Herabwürdigung anderer oder die ten. Der Beklagte als Leiter der Sitzung wies darauf Verletzung von Rechtsgütern Dritter geht. Das Ge- hin, dass nach einer Absprache im Ältestenrat nur richt ist der Auffassung, es bestehe ein sachlich-in- ein Redner pro Fraktion vorgesehen und eine weitere haltlicher Bezug, die Aussagen seien nicht auf eine Rede der Fraktion nicht möglich sei. Das Gericht äu- reine Diffamierung des politischen Gegners gerich- ßerte zwar Zweifel daran, ob die Geschäftsordnung tet. Den sachlich-politischen Bezug ihres Wortbei- des Rates die Vorgehensweise des Beklagten, die trags habe die Klägerin erzeugt, indem sie dem Wort Redereihenfolge nach Fraktionen vorzunehmen, „Ermächtigungsgesetz“ das Adjektiv „wahlpolitisch“ überhaupt zuließ. Aber selbst wenn der Beklagte voranstellte. Hiermit mache sie deutlich, dass sie nicht befugt gewesen wäre, die Redeordnung in die- sich in scharfer Form gegen den von ihr als undemo- sem Sinne anzuwenden, hätte die Beklagte keinen kratisch erachteten Ausschluss kleiner Fraktionen Anspruch darauf gehabt, eine Haushaltsrede zu hal- und Gruppen aus den Gemeinderäten aussprechen ten. Denn in diesem Fall wäre den Ratsmitgliedern, wollte, den eine Sperrklausel absehbar zur Folge ha- die eine Grundsatzrede hielten, das Recht hierzu ben würde. Von einer reinen Diffamierung des poli- ebenfalls nicht zugekommen, ohne dass die Klägerin tischen Gegners könne auch deshalb nicht die Rede hieraus etwas für sich ableiten könnte. Ungeachtet sein, weil die Aussage der Klägerin nicht den Be- der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der geüb- klagten unmittelbar betraf, sondern ein – von diesem ten Praxis sei die Klägerin nach den Kriterien dieser befürwortetes – Gesetzesvorhaben des Landtags. Praxis jedenfalls nicht gleichheitswidrig, sondern gemäß dem danach maßgeblichen Unterscheidungs- Dieser Rechtsprechung des OVG Münster schloss kriterium behandelt worden. Diese Differenzierung sich das VG Düsseldorf128 in einer weiteren Ent- nach Fraktionen sei nicht zu beanstanden. scheidung an. Die Klägerin ging in einer Ratssitzung auf ihrer Auffassung nach Linksautonomen zuzuord- Eine auf die Feststellung gerichtete Klage einer nende Straftaten ein, zog einen Vergleich zu von der Ratsfraktion, dass sie „weiterhin existiert, seit dem SA während des Nationalsozialismus angewandte … unter dem Namen … handelnd“ ist im Kommu- Methoden und warf dem Vorsitzenden der Fraktion nalverfassungsstreit mangels Klagebefugnis unzuläs- Die Grünen vor, die „roten SA-Kampfgruppen“ me- sig. Das gerichtliche Verfahren dient, so das VG dial zu unterstützen. Weiter führte die Klägerin aus: Düsseldorf130, nicht der Feststellung der objektiven „Und auch der Herr Dr. L. sieht keine Veranlassung, Rechtswidrigkeit eines Aktes eines Organs oder Or- das autonome Zentrum zu schließen. Das spricht ein- ganteils der Gemeinde – etwa eines Beschlusses des mal mehr für sich und zeigt so offenkundig, dass Rates – oder der Klärung einer abstrakten Rechtsfra- nicht nur Teile der Politik, sondern auch der Verwal- ge, sondern dem Schutz der dem klagenden Organ tung das faschistische Treiben autonomer Kreise oder Organteil durch das Innenrecht zugewiesenen womöglich goutieren.“ Das Gericht beurteilte den Rechtspositionen. Ob die Klägerin mit der ursprüng- Ordnungsruf als rechtswidrig, weil die beanstande- lich gegründeten Fraktion rechtsidentisch sei, habe ten Äußerungen „erkennbar nicht ausschließlich der jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung keine Provokation oder der Herabwürdigung anderer“ Auswirkungen auf die subjektiven Organrechte der dienten. Hierfür spreche die Einbindung in einen po- Klägerin und deren Ausübung, unter anderem weil litischen Sachzusammenhang. ihr Status als Fraktion von der Beklagten nicht be- zweifelt werde. Eine Regelung, wonach jeweils ein Ratsmitglied je- der Fraktion und die Ratsmitglieder, die keiner Frak- Das VG Köln131 hat entschieden, dass einem Presse- tion angehören, im Zusammenhang mit der jährli- vertreter gegenüber dem Bundesrechnungshof ein chen Beratung des Haushalts der Gemeinde eine Anspruch auf Akteneinsicht in die abschließenden Haushaltsrede halten dürfen, ist – gemessen am Prüfergebnisse der Fraktionen im Deutschen Bundes- Gleichheitsgrundsatz – nicht zu beanstanden. Dies tag zusteht. Der Bundesrechnungshof kann Dritten hat das VG Düsseldorf129 entschieden. Die Klägerin, gem. § 96 Abs. 4 S. 1 BHO Zugang zu Prüfergebnis- die einer aus Ratsmitgliedern verschiedener Parteien sen gewähren, soweit diese abschließend festgestellt gebildeten Fraktion angehörte, wollte neben einem wurden. Nachdem die Behörde den Antrag eines weiteren Fraktionsmitglied eine Haushaltsrede hal- Journalisten im Vorfeld der Bundestagswahl abge-

128 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.10.2017 – 1 K 15366/17, on- 130 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.10.2017 – 1 K 8645/16, online line veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris. 129 VG Düsseldorf, Urteil vom 31.03.2017 – 1 K 15544/16, on- 131 VG Köln, Beschluss vom 09.02.2017 – 6 L 2426/16, online line veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris.

135 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. lehnt hatte, begehrte dieser erfolgreich eine Ver- Beschwerde in drei Teile: Der Beschwerdeführer pflichtung zur Gewährung der Akteneinsicht im rügte erstens die in § 6 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 BWahlG Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Nach Auf- normierte 5 %-Sperrklausel, zweitens den Verzicht fassung des VG Köln war das Ermessen des Bundes- des Gesetzgebers auf die Einführung eines Eventual- rechnungshofs auf Null reduziert. Es verweist auf stimmrechts und drittens die „verschleierte Staats- die Pressefreiheit und das Transparenzgebot, demge- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien genüber lägen keine vorrangigen berechtigten Inter- durch ihre Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und essen vor. Weder Persönlichkeitsrechte der Abge- parteinahen Stiftungen“. Zwar war der Beschwerde ordneten noch die Freiheit des Mandats (Art. 38 kein Erfolg beschieden, doch bot sie nichtsdestowe- Abs. 1 S. 2 GG) stünden dem Anspruch entgegen. niger den Karlsruher Richtern die Möglichkeit, zu Durch den Zugang zu der abschließenden Prüfung den aufgeworfenen Fragen auf 119 Randnummern des Bundesrechnungshofes sei nicht die Ebene der ausführlich Stellung zu nehmen. Hinsichtlich der Zu- Mandatsausübung betroffen, sondern die Kontrolle lässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde verbleibt auf einer darauffolgenden, zeitlich späteren Ebene. der 2. Senat bei der bereits eingeübten zweigliedri- Hinsichtlich der Möglichkeit, dass diese Kontrolle gen Struktur: Demnach nimmt der Beschwerdeführer bereits in die Mandatsausübung vorwirke, sei zu be- die Hürde der Zulässigkeit immer dann, wenn er ne- rücksichtigen, dass die Abgeordneten sich im Sys- ben der Möglichkeit eines Wahlfehlers auch die tem der parlamentarischen Demokratie an der Art ih- Mandatsrelevanz eben jenes Fehlers substantiiert rer Mandatsausübung messen lassen müssten. Auch darzulegen weiß. Betreffend den Nachweis der Man- einen Anordnungsgrund sah das Gericht als gegeben datsrelevanz hat zudem der Maßstab der potentiellen an, weil sich aus der anstehenden Bundestagswahl Kausalität Bestand: Die Auswirkung des Wahlfehlers ein gesteigertes öffentliches Interesse und ein starker auf die Verteilung der Sitze im Bundestag muss eine Gegenwartsbezug der Berichterstattung ergebe. Für nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und die Wahlentscheidung der Bürger sei das Verhalten nicht ganz fernliegende Möglichkeit darstellen. der gewählten Abgeordneten bei der Ausübung ihres Nicht weniger interessant sind die sich daran an- Mandats von großer Bedeutung. Da die Abgeordne- schließenden Ausführungen zur Verfassungsmäßig- ten ihr Mandat auch über den Zusammenschluss in keit der 5 %-Hürde zur Wahl des Deutschen Bundes- Fraktionen ausübten, sei auch das Verhalten der tages, wobei die Richter dabei auch explizit auf die Fraktionen und damit auch der Umgang der Fraktio- jüngeren Urteile, betreffend die 5 %- bzw. 3 %- nen mit den ihnen zur Verfügung gestellten öffentli- Sperrklausel bei den Wahlen zum Europäischen Par- chen Geldern wichtig. lament, des BVerfG eingehen. Der Antragsteller ver- Jasper Prigge wies dabei u.a. auf den „sperrklauselbedingten Aus- fall“ von 15,7 % der abgegebenen Stimmen. Für das 5. Parteien und Wahlrecht BVerfG ist und bleibt die Funktionsfähigkeit des Parlaments allerdings oberste Maxime; wie viele Zwei Tage vor der Wahl zum 19. Deutschen Bundes- Stimmen oder Parteien der Sperrklausel, die das Par- tag im September 2017 befasste sich der 2. Senat des lament vor einer Zersplitterung bewahren soll, zum BVerfG132 noch mit einer Wahlprüfungsbeschwerde, Opfer fallen, spielt grundsätzlich keine Rolle. Zu- die die vorangegangene Wahl zum 18. Deutschen dem fordert auch der Grundsatz des milderen Mittels Bundestag im September 2013 betraf, insgesamt keine Absenkung oder gar Abschaffung der Sperr- aber erfolglos blieb. In derselben Angelegenheit war klausel. Bemerkenswert ist dabei, dass das Gericht vom BVerfG133 zuvor bereits ein Ablehnungsgesuch neben diesem klaren Bekenntnis zur Verfassungsmä- gegen den Richter am BVerfG Müller, Ministerprä- ßigkeit der Sperrklausel Hinweise liefert, wann eine sident des Saarlands a.D., als offensichtlich unzuläs- Sperrklausel der Verfassung nicht mehr gerecht sig abgelehnt worden. Nach Ansicht des 2. Senats wird. Nämlich dann, wenn durch den „sperrklausel- begründen weder ein Berichterstatterschreiben, noch bedingten Ausfall“ an Stimmen die Integrationsfunk- die Behauptung, Müller sei verfassungswidrig zum tion der Wahl beeinträchtigt würde. Im selben Atem- Ministerpräsidenten gewählt worden, die Besorgnis zug spricht das BVerfG dem Gesetzgeber in Berlin der Befangenheit. Inhaltlich untergliedert sich die zudem auch eine Mahnung aus: Dieser sei nämlich grundsätzlich dazu angehalten, sicherzustellen, dass 132 BVerfG, Beschluss vom 19.09.2017 – 2 BvC 46/14, online keine gewichtigen Anliegen im Volk von der Volks- veröffentlicht bei juris. vertretung ausgeschlossen bleiben würden. Dieser 133 BVerfG, Beschluss vom 15.08.2017 – 2 BvC 67/14, online Grundsatz, begründet in der Funktion der Wahl als veröffentlicht bei juris.

136 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Integration der politischen Kräfte des gesamten Vol- nicht immer leicht zu beantworten ist, erkennen auch kes, gelte auch bei der Ausgestaltung und Anwen- die Verfassungsrichter. Zur Veranschaulichung, wann dung der Sperrklausel. Genauere Hinweise, etwa in von einer unzulässigen Verwendung der staatlichen Form konkreter Zahlenwerte etc., bleibt das BVerfG Ressourcen zu Parteizwecken und dementsprechend den Abgeordneten jedoch schuldig. Es ist also davon einem Wahlfehler wegen der Verletzung der Chan- auszugehen, dass das letzte Wort in der Causa Sperr- cengleichheit der Parteien auszugehen ist, bilden sie klausel noch nicht gesprochen ist. Im Kontext der einen Fall: Unzulässig sei es etwa, wenn ein Abge- Sperrklausel erörterten die Richter außerdem die ordnetenmitarbeiter während der Dienstzeit an schon seit langem134 diskutierte Möglichkeit einer Wahlkampfeinsätzen teilnimmt und der Abgeordnete Pflicht des Gesetzgebers zur Einführung einer Even- den dabei entstandenen Aufwand ersetzt bekommt. tualstimme135. Diese solle immer dann zum Tragen Im selben Atemzug erklären die Richter aber auch, kommen, wenn die mit der Hauptstimme gewählte dass selbst wenn ein solcher Verstoß vorliegt, eine Partei an der 5 %-Sperrklausel scheitert. Auch in Wahlprüfungsbeschwerde nicht zwangsläufig be- diesem Kontext richten die Karlsruher Richter wie gründet ist. Vielmehr sei auch hier auf den Grund- schon zuvor einen Appell an die Abgeordneten in satz der potentiellen Mandatsrelevanz verwiesen. Berlin: Das Gericht gesteht zu, dass die Einführung Die Ausführungen zu diesem Themenkomplex en- einer Eventualstimme zwar dazu geeignet ist, den den mit der Feststellung, dass die derzeitigen Rege- durch die Sperrklausel bedingten Eingriff in den lungen im AbgG der besonderen Missbrauchsanfäl- Grundsatz der Gleichheit der Wahl abzumildern; je- ligkeit hinsichtlich des Einsatzes von Abgeordneten- doch würde – so das Kernargument – die Eventual- mitarbeitern im Wahlkampf nicht ausreichend Rech- stimme die Komplexität der Wahl erhöhen. Eine hö- nung tragen. Der vom Gericht in besonderer Weise here Wahlenthaltung und Zunahme von ungültigen herausgearbeitete hinreichende Mandatsbezug sei Stimmen könne nicht ausgeschlossen werden. Das demnach nicht in gebotener Weise sichergestellt, so- Mittel Eventualstimme ist im Ergebnis also nicht dass das Heft des Handelns nunmehr in der Hand der gleich geeignet, wenn auch milder, sodass die Rich- Abgeordneten liegt. Ebenso wie im Bereich der ter verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Sperrklausel und der Diskussion um eine Ersatzstim- Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Wahl sowie me sind auch hier etwaige Reformvorschläge aus eine etwaige Unvereinbarkeit mit Blick auf das De- Berlin mit Spannung zu erwarten. mokratieprinzip gar nicht erst erörtern. Zuletzt hält Das BVerfG hatte darüber hinaus nach der Premiere das BVerfG das Parlament auch in Bezug auf die im Jahr 2013 inzwischen bereits zum zweiten Mal vorgeworfene „verschleierte Staats- und Wahlkampf- über die erst im Jahre 2012 eingeführten Beschwer- finanzierung der Bundestagsparteien durch ihre Frak- deverfahren für Vereinigungen gegen die Nichtaner- tionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahen Stif- kennung als Partei für die Wahl zum Deutschen Bun- tungen“ zu einer gesetzgeberischen Tätigkeit an. Kon- destag gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG zu entscheiden. kret ging es dabei um die Bestimmung des § 12 Vor der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag suchten Abs. 3 S. 1 AbgG, der den Anspruch von Bundes- sieben Vereinigungen Rechtsschutz vor dem Bun- tagsabgeordneten auf Ersatz der Aufwendungen für desverfassungsgericht – fünf weniger, als noch vor die Beschäftigung von Mitarbeitern zum Regelungs- der vergangenen Bundestagswahl 2013136. Von den gegenstand hat. Der 2. Senat hat die Norm dahinge- sieben Beschwerden war keine erfolgreich, wobei hend konkretisiert, dass von ihr auch der Einsatz von sechs bereits als unzulässig verworfen wurden. Im Mitarbeitern im Wahlkreis umfasst ist, allerdings nur Einzelnen verwarf das BVerfG die Beschwerde der Tätigkeiten, die den Abgeordneten bei der Ausübung Vereinigung Konvent zur Reformation Deutschlands seines Mandats unterstützen. Grundsätzlich ist dem- – Die Goldene Mitte (KRD)137 wegen mangelnden nach der Einsatz von Abgeordneten zu wahlkreisbe- Rechtsschutzinteresses. Die Vereinigung hatte es zogenen Aktivitäten auch in Wahlkampfzeiten zuläs- versäumt, im Rahmen der Frist des § 19 BWahlG sig, soweit ein hinreichender Mandatsbezug erkenn- Kreiswahlvorschläge oder Landeslisten dem Bundes- bar vorliegt. Dass die Frage, wann ein „hinreichen- der Mandatsbezug“ vorliegt – und wann nicht? – 136 S. zu der Wahl 2013 E. Sokolov, Parteienrecht im Spiegel der 134 S. die Nw. bei M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Kom- Rechtsprechung: Wahlrecht, in: MIP 2014, 205 (205); die Ver- mentar, Bd. II, 3. Auflage, Tübingen 2015, Art. 38 Rn. 112. fahren aus 2017 analysiert auch R. Frau, Nochmals zum Rechts- 135 Zuletzt auch diskutiert vom VerfGH Baden-Württemberg, Be- schutz für Kleinstparteien: Nichtanerkennungsbeschwerden schluss vom 09.05.2016 – 1 VB 25/16, online veröffentlicht bei bei der Bundestagswahl 2017, in: DÖV 2018, 152 ff. juris. S. dazu A. Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- 137 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 1/17, online chung: Parteien und Wahlrecht, in: MIP 2017, 165 (165 f.). veröffentlicht bei juris.

137 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. wahlleiter einzureichen. Die Richter wiederholten vor gesetzten Frist befreie. Ebenso sei die Behauptung, diesem Hintergrund, dass das Verfahren nach Art. 93 die Deutsche Post betreibe eine systematische Dis- Abs. 1 Nr. 4 c GG nicht einer von der Wahl losge- kriminierung, „ins Blaue hinein“ erfolgt und mit kei- lösten Feststellung der Parteieigenschaft diene, ein nerlei Tatsachen belegt. Ebenso wenig wie die PS Rechtsschutzbedürfnis der Vereinigung KRD im Er- hat sich die Vereinigung Einiges Deutschland mit gebnis somit nicht gegeben sei. Ebenso verfristet den Erwägungen des Bundeswahlausschusses aus- und im Ergebnis unzulässig war der Antrag der Ver- einandergesetzt, die der Nichtanerkennung als Partei einigung Deutsche Tradition Sozial (DTS)138: Zwar zugrunde lagen. Dementsprechend wurden auch kei- hat die Vereinigung innerhalb der Frist von vier Ta- nerlei erforderliche Beweismittel vorgelegt. Zuvor gen nach Bekanntgabe der Entscheidung in der Sit- hatte der Wahlleiter festgestellt, dass die Vereini- zung des Bundeswahlausschusses gem. § 96a Abs. 2 gung aufgrund des fehlenden Parteitagsbeschlusses BVerfGG, § 18 Abs. 4a S. 1 i.V.m. § 18 Abs. 4 S. 2 über das eingereichte Programm die formellen Vor- BWahlG Beschwerde erhoben – diese allerdings so- aussetzungen des § 18 Abs. 2 BWahlG nicht erfüllt. dann nicht begründet. Gleichfalls an der genannten Die Vereinigung Einiges Deutschland hatte dem Frist ist auch die Vereinigung DER BLITZ139 geschei- zum einen entgegnet, dass das Wahlprogramm be- tert. Ihre Beschwerde war aus Sicht des BVerfG eben- reits am Tag der Gründung bzw. bei einer späteren so, in diesem Fall um mehr als vier Tage, verfristet. Mitgliederbefragung „mit einigen Enthaltungen ein- Zwar nahmen die Richter den Hinweis, dass der stimmig“143 angenommen worden sei. Außerdem ar- Drucker des Vorsitzenden der Vereinigung defekt gumentierte die Vereinigung dahingehend, dass die gewesen sei, zur Kenntnis, wiesen aber zu Recht Bundeswahlkommission auf Grund des BWahlG darauf hin, dass dies an der Verfristung nichts ändert. handelt, welches nicht vom „gesetzlichen Gesetzge- Ins Auge stachen darüber hinaus im Besonderen die ber“ erlassen wurde. Nach Ansicht der Vereinigung Begründungen der Beschwerden der Vereinigung Einiges Deutschland können sowohl das BWahlG Plattdüütsch Sassenland – Allens op Platt (PS)140 als auch die Bundeswahlkommission keine staatliche und der Vereinigung Einiges Deutschland141. Dabei Legitimation beanspruchen, da nach dem Ersten räumte zunächst die PS sogar ein, dass sie die Anzei- Weltkrieg kein Friedensvertrag geschlossen wurde, gefrist des § 18 Abs. 2 S. 2 BWahlG nicht gewahrt die Haager Landkriegsordnung i.E. weiter gelte. Für hat, wobei sie in der Begründung ihrer Beschwerde den juristisch geschulten Beobachter wenig überra- darauf verweist, dass es keine andere Partei gebe, schend, geht das BVerfG auf die zuletzt vorgetrage- die die Plattdeutsche Bevölkerung vertrete, was nach nen Argumente gar nicht mehr ein. Vielmehr stellt Ansicht der beschwerdeführenden Vereinigung auf es in erneut nüchternem Ton fest, dass gegen den die systematische Ausgrenzung und Verfolgung der Parteitagsvorbehalt verstoßen wurde, dies einen Man- Plattdeutschen zurückzuführen sei. Dementsprechend, gel i.S.v. § 18 Abs. 3 S. 4 Nr. 3 BWahlG darstellt so führt die PS weiter aus, sei auch die Deutsche und dieser in der gesetzten Frist nicht geheilt wurde. Post „eines von vielen Unternehmen, das systemati- Erneut an einem formellen Mangel ist, wie schon vor sche Rassendiskriminierung von Plattdeutschen be- vier Jahren, die Vereinigung SustainableUnion – die treibe“142. Die zur Begründung der Nichtanerken- Nachhaltigkeitspartei (SU)144 gescheitert. Sie hatte nungsbeschwerde gesetzte Frist sei für sie somit es zunächst versäumt, dem Bundeswahlleiter ein Pro- nicht zu wahren gewesen. Der 2. Senat zeigte sich gramm und eine Satzung vorzulegen. Gegen die von dieser Argumentation jedoch unbeeindruckt. Nichtanerkennung erhob sie sodann via E-Mail „Ver- Nüchtern stellt das BVerfG klar, dass selbst wenn fassungsbeschwerde“, deren Begründung sie drei die plattdeutsche Bevölkerung einer systematischen Tage später noch einmal per E-Mail und Fax wieder- Diskriminierung ausgesetzt sein sollte, dies nicht die holte und teilweise ergänzte. Nach Auffassung des Vereinigung PS von der in § 18 Abs. 2 S. 1 BWahlG Gerichts hat die Vereinigung dadurch die nach § 96a i.V.m. § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG geforderte Schrift- 138 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 3/17, online form nicht gewahrt, da die E-Mail nicht erkennen veröffentlicht bei juris. ließ, von welcher die Vereinigung vertretenden Per- 139 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 7/17, online son sie stammt. Deutlich umfangreicher, wenn auch veröffentlicht bei juris. aus Sicht der beschwerdeführenden Vereinigung eben- 140 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 5/17, online so fruchtlos, waren die Ausführungen des BVerfG veröffentlicht bei juris. 141 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 4/17, online 143 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 4/17, juris Rn. 4. veröffentlicht bei juris. 144 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 6/17, online 142 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 5/17, juris Rn. 3. veröffentlicht bei juris.

138 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung betreffend die Vereinigung der Sächsischen Volks- schon geeignet, ihr den Status als Partei abzuspre- partei (SVP)145. Diese war vom Bundeswahlleiter chen. Allerdings sei, so ergänzte es das BVerfG, zu ebenfalls nicht zur Bundestagswahl zugelassen wor- beachten, dass die Vereinigung sich nicht mehr in den, wobei bei der SVP kein formaler Mangel zum der Gründungsphase befinde, kein größerer Mitglie- Disput führte, sondern vielmehr – wie es auch das derzuwachs seit der Gründungsphase zu verzeichnen erkennende Gericht annahm – die mangelnde Partei- sei und die bereits gewonnenen Mitglieder allesamt eigenschaft i.S.d. § 2 PartG eine Teilnahme an der aus Meißen und Umgebung stammen. Auch das von Bundestagswahl verhinderte. Die SVP wurde im der SVP dargelegte öffentliche Auftreten könne die- Jahr 2015 in Meißen gegründet, besteht aus 30 Mit- se Defizite im Ergebnis nicht mehr ausgleichen. gliedern und verfügt darüber hinaus über eine eigene Ebenfalls im Zusammenhang mit der Bundestagswahl Internetseite mit Satzung und Programm. Aus der 2017 hat das BVerfG147 eine Verfassungsbeschwer- Sicht des Bundeswahlausschusses erfüllte die SVP de gar nicht erst zur Entscheidung angenommen, die damit die Kriterien des § 2 PartG nicht, da die Verei- die Frage der Wählbarkeit der CDU auch in Bayern nigung bereits im Dezember 2015 gegründet wurde betraf. Geklagt hatte ein Anwaltsehepaar aus Nürn- und somit „nur“ über 30 Mitglieder verfügt, zudem berg, das gerne die CDU auch in Bayern wählen kaum in der Öffentlichkeit auftritt und wenn, dann wollte, mit diesem Begehren aber schon im Jahr zu- vorwiegend nur regional. Dem entgegnete im weite- vor bereits vor dem VG Wiesbaden148 gescheitert ist. ren Verlauf des Rechtsstreits die SVP, dass sie eine Schon damals beschäftigte sich das VG eingehend mit junge „Partei“ sei und es zentral auf ihren Willen an- der Frage, ob die Klage gegen den Bundeswahlleiter komme, sich an der Vertretung des Volkes auf Bun- – der Bundeswahlleiter ist der Präsident des Statisti- des- und Landesebene zu beteiligen. Außerdem ar- schen Bundesamtes, sodass sich die hessische Verwal- beite man mit „Hochdruck“ an der Gründung von tungsgerichtsbarkeit des Falles annehmen musste – Kreisverbänden. Das BVerfG ließ jedoch das von überhaupt zulässig sei. Im konkreten Fall ließen die der SVP angeführte Argument, dass es allein auf den Richter die Frage dahinstehen, da die Klage in jedem Willen der Vereinigung ankommt, nicht gelten. Viel- Fall unbegründet war. Betreffend die Zulässigkeit mehr stellte es – wie aus vorherigen Entscheidungen wiesen sie allerdings explizit und auch zu Recht dar- bereits bekannt – auf das „Gesamtbild der tatsächli- auf hin, dass Rechtsschutz im Wahlverfahren grund- chen Verhältnisse“ zur Beurteilung der Parteieigen- sätzlich erst nach der Wahl zu erlangen ist. Sollte schaft ab, wobei den in § 2 Abs. 1 S. 1 PartG ge- der rechtspolitische Wunsch danach bestehen, auch nannten Kriterien die Funktion als Indizien zu- vor der Wahl umfassenden Rechtsschutz zu gewäh- kommt. Der Wille der Parteien bleibt dabei selbst- ren, so müssten die entsprechenden Vorschriften im verständlich nicht unberücksichtigt; er tritt aber, so BWahlG angepasst werden149. Allerdings kann davor nun ausdrücklich vom BVerfG formuliert, mit zu- nur gewarnt werden: Wahlen sind ein Massenpro- nehmenden Alter einer Vereinigung mehr und mehr zess150, in dem der Wille des Volkes zum Ausdruck zurück: „Während es in der Phase des Beginns mehr kommt. Ermöglicht man Rechtsschutz – ggf. schon auf den sich in der Gründung als Partei artikulieren- bei kleinen Fehlern – vor dem Urnengang, riskiert den Willen zur Mitwirkung an der politischen Wil- man ggf. einen immer weiteren Aufschub der Wahl, lensbildung ankommen mag, muss sich mit fort- da bei der Masse von Personen, die bei einer Wahl schreitender Dauer des Bestehens der politischen mitwirken, kleinere Fehler wohl unvermeidbar Vereinigung die Ernsthaftigkeit ihrer politischen sind151. Im vorliegenden Fall stellten die Wiesbade- Zielsetzung vor allem auch anhand objektiver Krite- rien bestätigen, die ihre Fähigkeit zur Erfüllung der 147 BVerfG, Kammerbeschluss ohne Begründung vom Aufgaben einer Partei erkennen lassen.“146 Vereini- 06.06.2017 – 2 BvR 417/17, online veröffentlicht bei juris. gungen müssen sich also evolutionär wandeln, um 148 VG Wiesbaden, Urteil vom 30.12.2016 – 6 K 1805/16.WI, in: Parteien zu werden, wobei mit zunehmender Dauer NVwZ 2017, 902 f. die objektiven Kriterien immer gewichtiger werden. 149 Zu diesem Problem auch A. Schwerdtfeger, Vereinbarungen Diesen Anforderungen ist die SVP nicht gerecht ge- zwischen Schwesterparteien im Parteienrecht, in: NVwZ worden. Allein die Tatsache, dass die Vereinigung 2017, 841 (845 f.). 150 nur 30 Mitglieder umfasse, sei zwar nicht für sich Von einem fehlerträchtigen „Massenverfahren“ spricht M. Morlok, Kleines Kompendium des Wahlrechts, in: NVwZ 2012, 913 (913). 145 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 2/17, in: NVwZ 151 Zum Für und Wider des Rechtsschutzes vor Wahlen, hier in Be- 2017, 1450 ff. zug auf das Wahlzulassungsverfahren, s. M. Morlok/A. Bäcker, 146 BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 2/17, in: NVwZ Zugang verweigert: Fehler und fehlender Rechtsschutz im 2017, 1450 (1451). Wahlzulassungsverfahren, in: NVwZ 2011, 1153 (1158 f.).

139 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. ner Richter fest, dass für das Begehren des bayeri- satz der Unmittelbarkeit der Wahl darin verletzt, schen Ehepaars schon gar keine Anspruchsgrundlage dass ein Wahlbewerber sich auf Platz 31 der Liste besteht. Ganz konkret können Parteien an der politi- einer Partei nominieren ließ – sich insgeheim aber schen Willensbildung mitwirken, indem sie einen vorbehielt, im Falle eines Wahlerfolgs das Mandat Landesverband gründen und Landeslisten aufstellen gar nicht wahrzunehmen. Bei der Wahl im Jahr 2015 – müssen dies aber nicht. Somit gilt richtigerweise: errang der Kandidat, des hinteren Listenplatzes zum Wer als Bayer die CDU wählen möchte, muss in ei- Trotz, tatsächlich ein Mandat – und verzichtete, so- nes der übrigen 15 Länder ziehen. dass eine andere Person von der Liste nachrückte. Die hanseatischen Richter konnten darin keinen Ver- Dem VerfGH Berlin152 lag ein Einspruch gegen die stoß gegen die Verfassung erkennen. Sie verwiesen Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof- darauf, dass die Verfassung zum einen sogar explizit Schöneberg im September 2016 zur Entscheidung zulässt, dass ein Kandidat die Wahl nicht annimmt; vor. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob der Ge- zum anderen ergibt sich die Person des Nachrückers setzgeber unter Berücksichtigung der tatsächlichen aus der Landesliste und war dem Wähler somit auch Gegebenheiten dazu verpflichtet werden kann, das zum Zeitpunkt der Stimmabgabe bekannt. Es bleibt Wahlrecht mit Blick auf ein bestimmtes Wahlverfah- somit festzuhalten: Bei der Nachprüfung von Wah- ren zu ändern. Bei der in Frage stehenden Wahl wur- len kommt es auf die inneren Motive des Kandidaten de die Sitzverteilung nach dem Höchstzahlverfahren nicht an. Nimmt ein Kandidat die Wahl nicht an, so nach d’Hondt festgestellt, wodurch dem Beschwerde- mag dies zwar bedauerlich sein – ist für die Beurtei- führer nur 6 Sitze zuteilwurden – anstatt 7, wenn das lung der Wahl aus rechtlicher Sicht aber irrelevant.154 Verfahren nach Hare-Niemeyer angewendet worden wäre. Zwar bestätigt auch der VerfGH Berlin, dass In Münster fand darüber hinaus der Streit um eine der Gesetzgeber in der Pflicht steht, das Wahlrecht 2,5 %-Sperrklausel auf Ebene der Landesverfassung ggf. zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche NRW für die Wahl der Gemeinderäte und Kreistage Rechtfertigung einer Norm nunmehr in Frage steht vor dem VerfGH NRW ein Ende. Vor das Verfas- oder sich die tatsächlichen oder normativen Grundla- sungsgericht zogen hier ein bunter Strauß von Partei- gen gewandelt haben; diese Voraussetzungen waren en und Vereinigungen jeglicher politischen Couleur, vorliegend allerdings nicht gegeben. Vielmehr stellte namentlich die Piraten155, Die Linke156, Die PAR- auch der VerfGH Berlin, der dabei mehrfach auf die TEI157, die ÖDP und die Tierschutzpartei158, Pro jüngere Rechtsprechung des BVerfG verwies, fest, NRW159, die Freie Bürger-Initiative/Freie Wähler160 dass eine absolute Erfolgswertgleichheit von keinem sowie die NPD161. Mit von der Partie waren zudem Zuteilungsverfahren tatsächlich gewährleistet wer- die Partei Volksabstimmung162 sowie die Sauerlän- den kann. Darüber hinaus widerlegten sie mit Blick der Bürgerliste e.V.163, die allerdings beide bereits an auf die Wahlgesetze der übrigen Länder den vom formellen Hürden scheiterten: Erstere ließen sich in Einspruchssteller vorgebrachten Mythos, dass das Verfahren nach d’Hondt bundesweit nicht mehr tole- 154 Zu diesem Ergebnis kommt auch S. Jürgensen, Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung: Wahlrecht, in: MIP 2016, riert wird, indem sie ausführlich die Wahlgesetze 151 (156). verschiedener Länder – mit dem Verfahren nach 155 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 11/16, on- d’Hondt – rezitieren. Schlussendlich belegte das Ge- line veröffentlicht bei juris. richt noch einmal die These, wonach eine absolute 156 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 15/16, on- Erfolgswertgleichheit illusorisch ist, durch Verweis line veröffentlicht bei juris. auf die Angaben des Bezirkswahlleiters, wonach 157 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 16/16, on- auch die Anwendung des Verfahrens nach Sain- line veröffentlicht bei juris. te-Laguë/Schepers zu demselben Ergebnis wie nach 158 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 17/16, on- dem d’Hondtschen-Verfahren geführt hätte. line veröffentlicht bei juris. 159 153 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 18/16, on- Das HVerfG beschäftigte sich mit der Frage, in- line veröffentlicht bei juris. wieweit eine „Scheinkandidatur“ zur Ungültigkeit, 160 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 21/16, on- in diesem Fall einer Bürgerschaftswahl in Hamburg, line veröffentlicht bei juris. führen kann. Der Beschwerdeführer sah den Grund- 161 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 09/16, on- line veröffentlicht bei juris. 152 VerfGH Berlin, Beschluss vom 08.03.2017 – 160/16, in: NVwZ- 162 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 13/16, on- RR 2017, 633 ff. line veröffentlicht bei juris. 153 HVerfG, Urteil vom 23.01.2017 – 8/15, in: NordÖR 2017, 163 VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 14/16, on- 271 ff. line veröffentlicht bei juris.

140 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung dem Verfahren nicht korrekt vertreten, letztere ist kommt das Gericht zu dem Schluss, dass „das nach keine Partei und somit im Organstreitverfahren nicht Art. 28 Abs. 1 S. 1 erforderliche Legitimationsni- beteiligtenfähig. Die Entscheidung aus Münster war veau [...] den Volksvertretungen in den Ländern, auch abseits von Rhein und Ruhr mit Spannung er- Kreisen und Gemeinden wegen Art. 28 Abs. 1 Satz 2 wartet worden, schließlich entschied sich das Parla- GG im Wege der Volkswahl vermittelt werden ment in Düsseldorf im Juni 2016 zu einem bis heute [muss] und [...] nur dann erreicht [wird], wenn das in der gesamten Republik einmaligen Sonderweg: Wahlverfahren denselben demokratischen Grundsät- Statt einfachgesetzlich tätig zu werden, verabschie- zen genügt, wie sie für die Wahlen zum Bundestag dete der Landtag als landesverfassungsändernder Ge- gelten, was insbesondere die Einhaltung der Wahl- setzgeber das sog. „Kommunalvertretungsstärkungs- rechtsgrundsätze erfordert“165. Kurzum: Auch der gesetz“, wodurch fortan die Landesverfassung verfassungsändernde Gesetzgeber ist an die Wahl- (Art. 78 Abs. 1 S. 3 LV NRW) – und nicht wie rechtsgrundsätze gebunden. Auf welcher Sprosse der schon zuvor das einfache Wahlrecht – eine Sperr- Normenhierachie die das Wahlrecht regelnden Nor- klausel von 2,5 % betreffend die Wahlen der Räte men stehen, ist für die Geltung und Direktionskraft der Gemeinden und Kreistage enthält. Als Ziel die- der Wahlrechtsgrundsätze somit nicht von Belang. ser Maßnahme nannte der Gesetzgeber eine Verhin- Die bereits für die im einfachen Recht angesiedelten derung der – so sah es 2016 eine Mehrheit im Land- Sperrklauseln entwickelten Maßstäbe sind somit tag NRW 2016 als erwiesen an – „merklichen und auch auf solche anwendbar, die im (Landes-)Verfas- sich fortwährenden verstärkenden Zersplitterung der sungsrecht wurzeln. Dies ist im Ergebnis auch rich- Kommunalvertretungen“164. Bevor der VerfGH sich tig. Zwar haben die Fürsprecher der Verfassungsän- mit diesen Erwägungen befasste, galt es allerdings derung darauf verwiesen, dass vor dem Hintergrund zu klären, an welchem Maßstab die in der Landes- der Idee der Bundesstaatlichkeit Art. 28 Abs. 1 S. 2 verfassung verankerte Sperrklausel zu messen ist. GG gewisse Spielräume bei der Auslegung durch die Der VerfGH kann als „Hüter der Landesverfassung“ Länder bereithalten müsse. Gerade diese Annahme einen Verstoß gegen die Landesverfassung nur dann würde aber – so auch das Gericht – dazu führen, feststellen, wenn die Sperrklauselregelung höherran- dass die von Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG bezweckte Ein- giges Landesverfassungsrecht verletzt. Als Prüfungs- heitlichkeit der demokratischen Legitimationsgrund- maßstab, der höheres Landesverfassungsrecht dar- lage geradezu konterkariert würde. Entsprechend hat stellt, zogen die Richter sodann die in Art. 69 Abs. 1 der Gesetzgeber zwar einen Entscheidungsspielraum S. 2 LV NRW niedergelegten materiellen Grenzen bei der Frage der Ausgestaltung des Wahlrechts, der Verfassungsänderung („Änderungen der Verfas- wird dabei aber – wie im Falle einer Sperrklausel – sung, die den Grundsätzen des republikanischen, de- die Erfolgswertgleichheit der Stimmen beeinträch- mokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne tigt, so bedarf dies der Rechtfertigung. Diese könnte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutsch- bspw. im Nachweis konkreter Beeinträchtigungen land widersprechen, sind unzulässig“) heran. Aus der lokalpolitischen Arbeit liegen. Dies wurde bei Sicht der Münsteraner Richter findet die genannte den Beratungen des Änderungsgesetzes so auch Norm ihr Vorbild in der Ewigkeitsgarantie des noch behauptet, konnte aber keine zwei Jahre später Art. 79 Abs. 3 GG und normiert gleich ihres Pen- vor Gericht nicht (mehr) konkret bewiesen werden. dants auf Bundesebene inhaltliche Schranken der Ebenso wenig ließen die Richter das Argument gel- Verfassungsänderung – und ist dementsprechend ge- ten, dass eine Sperrklausel eine interkommunale genüber der Sperrklauselregelung als höherrangiges Gleichstellungswirkung entfalte, da dies keinen Recht anzusehen. Im Anschluss daran stellte sich je- „zwingenden“ Grund für die Einführung einer Sperr- doch auch die Frage, ob Art. 69 Abs. 1 S. 2 LV klausel darstellt. Summa summarum bestätigen die NRW neben Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG auch Art. 28 Urteile des VerfGH, der zunächst exotischen wir- Abs. 1 S. 2 GG in die Landesverfassung miteinbe- kenden Verankerung der Sperrklausel auf Landes- zieht. Dies bejahten die Richter mit Überlegungen, verfassungsebene zum Trotz, die bereits vom die sich auf den Wortlaut stützen sowie den systema- BVerfG betriebene kritische Betrachtung von Sperr- tischen Zusammenhang der Norm wie auch deren klauseln.166 Dies ist gerade aus der Sicht von kleine- Sinn und Zweck berücksichtigen. Dementsprechend ren Parteien bzw. Vereinigungen begrüßenswert und

165 164 S. zu den Motiven den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU, VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – VerfGH 17/16, juris SPD und Bündnis 90/Die Grünen: Landtag Nordrhein-West- Rn. 62. falen, Drucks. 16/9795 (22.09.2015), 1 ff. (abrufbar unter: 166 Darauf verweist auch L. Michael, Verfassungsunmittelbare www.landtag.nrw.de). Sperrklauseln auf Landesebene, Baden-Baden 2015, S. 16 ff.

141 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2018 24. Jhrg. fördert auf lokaler Ebene den politischen Wettbe- recht für Ausländer in Schleswig-Holstein171 habe werb. Darüber hinaus wirft das nun abgeschlossene – so die Richter des VerwGH Baden-Württemberg – Verfahren aber weitere Fragen auf. Zum einen: Wie weiterhin Bestand. Demnach gehören auch Minder- wird der Landesgesetzgeber in Düsseldorf mit der jährige zum Volk i.S.v. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG und vom VerfGH für unvereinbar mit der Landesverfas- die Koppelung des Wahlrechts an ein bestimmtes sung erklärten Norm umgehen? Und werden andere Alter sei eine Durchbrechung des Grundsatzes der Landtage dem nordrhein-westfälischen Modell fol- Allgemeinheit der Wahl, der „verträglich“ ist, wenn gen oder nun Abstand davon nehmen, Sperrklauseln dafür zwingende Gründe vorliegen. Darüber hinaus auf Verfassungsebene zu verankern? Gesichert kann die in Frage stehende Norm aus der GemO scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur eine Er- auch nicht gegen Art. 38 Abs. 2 GG verstoßen, da kenntnis zu sein: Sollte es zu weiteren Verfahren Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG nicht auf die Altersgrenze in kommen, werden die Entscheidungen aus Münster Art. 38 Abs. 2 GG verweist. Dementsprechend sind dabei sicherlich nicht unberücksichtigt bleiben. die Länder bei dem Erlass von Regelungen betref- fend das Wahlrecht zwar an die Wahlrechtsgrundsät- Kein Erfolg beschieden war außerdem der Anfechtung ze gebunden – bei der konkreten Ausgestaltung des einer Bürgermeisterwahl in einer baden-württember- Wahlsystems aber frei. gischen Gemeinde, sowohl vor dem VG Karlsruhe167 als auch nachgehend vor dem VerwGH Baden- Langer Ausführungen zur Rolle der Parteien im Sta- Württemberg168. Der Kläger machte hier geltend, dium der Vorbereitung einer Wahl bediente sich das dass ein Plakat der am Wahltag siegreichen Kandi- OVG Sachsen-Anhalt172. Der Anlass hierfür lag in datin im Format A1 weniger als 20 Meter entfernt dem Vorbringen des Klägers, wonach bei der Be- von einem Wahllokal hing. Beide Gerichte hielten stimmung der Wahlbewerber durch eine Partei, die den Einspruch bereits für unzulässig. Schließlich später auch bei der Stadtratswahl antrat, gegen den habe der Kläger die Situation „erkannt“, sich dar- Grundsatz der Geheimheit der Wahl verstoßen wur- über im Wahllokal „moniert“ und dadurch für sich de. Aus der Sicht eben jenes Klägers lagen zwei persönlich „kompensiert“. Entsprechend war auch Verstöße vor: Zum einen monierte er, dass die Teil- für den Verwaltungsgerichtshof die Möglichkeit der nehmer bei der Kandidatenaufstellung so nah beiein- Auswirkung auf die Stimmabgabe nicht erkennbar. andersaßen, dass ein Blick auf den Stimmzettel des jeweils anderen möglich gewesen wäre; zum ande- Vor dem VerwGH Baden-Württemberg169 wurde ren rügte er den Umstand, dass die Stimmzettel zudem die Frage verhandelt, inwieweit die Absen- handschriftlich ausgefüllt werden mussten. Ehe aber kung des aktiven Wahlalters bei Kommunalwahlen die Richter die genannten technischen Mängel auf- mit Landes- und Bundesrecht vereinbar ist. Stein des arbeiteten, entwickelten sie – ohne dabei nennens- Anstoßes war hierfür eine Gemeinderatswahl der wert von der gewohnten Dogmatik abzuweichen173 – Stadt Heidelberg, bei der im Jahre 2014 erstmals den für das Verfahren gebotenen Prüfungsmaßstab, auch 16- und 17-Jährige wählen durften. Der Kläger der im Spannungsfeld zwischen Parteiautonomie und argumentierte, dass zum Volk i.S.d. Art. 20 Abs. 2 der Sicherung des freien Wahlvorschlagsrechts der S. 1 GG nur die volljährigen Deutschen gehörten, die Stimmberechtigten zu verorten ist. Dementsprechend nicht unter rechtlicher Betreuung stehen und denen gelten für die innerparteiliche Kandidatenaufstellung das Wahlrecht nicht anderweitig entzogen wurde. andere Maßstäbe als für das sich anschließende Sowohl vor dem VerwGH als auch schon in der Vor- staatliche Wahlverfahren: Gerade auch mit Blick auf instanz vermochte diese Argumentation die Richter das Gebot des größtmöglichen Bestandsschutzes für nicht zu überzeugen. Vielmehr sahen weder das VG 170 das gewählte Organ wirken die für das staatliche Karlsruhe noch der VerwGH in der Stimmberech- Wahlverfahren maßgeblichen Gebote (hier konkret tigung der 16- bzw. 17-Jährigen einen Wahlfehler. die Wahlrechtsgrundsätze) nur in ihrem Kerngehalt Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahl- auf das Verfahren der innerparteilichen Kandidaten- aufstellung ein. Im Ergebnis war die Klage unter Be- 167 VG Karlsruhe, Urteil vom 13.04.2017 – 10 K 6725/16, online rücksichtigung dieses Prüfungsmaßstabes somit un- veröffentlicht bei juris. begründet: Die bloße Möglichkeit, auf den Zettel des 168 VerwGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.08.2017 – 1 S 1367/17, online veröffentlicht bei juris. 171 BVerfGE 36, 139 (141 ff.). 169 VerwGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.07.2017 – 1 S 172 OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.10.2017 – 4 L 88/16, 1240/16, in: VBlBW 2018, 63 ff. online veröffentlicht bei juris. 170 VG Karlsruhe, Urteil vom 11.05.2016 – 4 K 2062/14, online 173 S. dazu nur M. Morlok, Kleines Kompendium des Wahlrechts, veröffentlicht bei juris. in: NVwZ 2012, 913 (914 f.).

142 MIP 2018 24. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Nachbarn zu schauen, reiche für einen Verstoß ge- einen solchen Anspruch auf Grundlage von §§ 823, gen den Grundsatz der Geheimheit der Wahl nicht 1004 BGB i.V.m. §§ 21, 22, 23, 27 Abs. 5 BWahlG aus, zumal durch entsprechende Körperhaltungen, so noch bejaht, das OLG hingegen verneint, mit dem führt das OVG weiter aus, das Geschriebene hätte Argument, dass § 22 BWahlG eine umfassende Ver- abgedeckt werden können. Auch das handschriftli- tretungsmacht statuiert, die nur im Außenverhältnis che Ausfüllen der Stimmzettel stelle keinen Wahl- gegenüber dem Landeswahlleiter besteht; im Innen- fehler dar, schließlich wurde kein Schriftvergleich verhältnis seien die Vertrauensleute aber an die Ent- durchgeführt und die betreffenden Personen hätten scheidungen des Landesverbandes der Partei gebun- ihr Schriftbild verzerren oder in Druckbuchstaben den. Ergo habe der Kläger nur einen Anspruch dar- schreiben können. auf, dass der Verfügungsbeklagte seine Vertrauens- leute anweist, die (unrichtig) aufgestellte Liste qua Gestritten über eine eingereichte Kandidatenliste, in Beschluss gem. §§ 27 Abs. 5, 23, 22 BWahlG zu- diesem Fall aber zur Bundestagswahl 2017, wurde rückzunehmen. auch vor dem LG Saarbrücken174 und nachgehend vor dem OLG Saarbrücken175. In materieller Hin- Bereits unzulässig war außerdem eine Wahlprüfungs- sicht kamen beide Gerichte übereinstimmend zu dem klage, die vor dem VG Hannover176 erhoben wurde. Ergebnis, dass die Kandidatenaufstellung gesetzes- Der Kläger hat es hierbei bereits versäumt, die ein- widrig vonstattenging. Die Kandidatenliste wurde von monatige Klagefrist zu wahren. Nach §§ 57 Abs. 2 einem Delegiertenparteitag und nicht von einer all- VwGO, 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 gemeinen Vertreterversammlung i.S.v. § 21 Abs. 1 Abs. 2 BGB fiel das Ende der Frist auf einen Sams- S. 4 BWahlG aufgestellt, worin eine Gesetzeswidrig- tag. Nach Ansicht des Klägers habe sich die Frist da- keit zu sehen ist, die auch ein einfaches Parteimit- her gem. §§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 2 ZPO auf glied als Kläger geltend machen kann. Bemerkens- Ablauf des nächsten Werktages verlängert, womit werterweise bestätigte das OLG die Ansicht, dass die Frist gewahrt worden wäre. Das VG vertrat – zu- für die Klärung der Angelegenheit der bürgerliche treffenderweise – eine andere Auffassung. Die Frist Rechtsweg eröffnet sei. Dabei verwiesen die saarlän- ergebe sich aus der wahlrechtlichen Spezialregelung dischen Richter auf den Umstand, dass grundsätzlich in § 49 Abs. 2 NKWG. Dementsprechend komme ein parteiinternes Schiedsgerichtsverfahren vorzu- auch der Ausschluss der Fristverlängerung in § 52b schalten sei – dieser Vorrang der Parteischiedsge- NKWG zur Anwendung, sodass die Klagefrist be- richtsbarkeit aber immer dann ausgeschlossen sei, reits verstrichen war. wenn ein Abwarten aus der Perspektive des Ratsu- Frederik Orlowski chenden unzumutbar bzw. effektiver Rechtsschutz in einem solchen Verfahren nicht zu erwarten sei. Pro- zessual gab das OLG in der Berufung dem Antrags- gegner aber insoweit Recht, als dass der vor dem LG gestellte Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit der aufgestellten Kandidatenliste unzulässig sei. Die Richter des OLG führten dazu aus, dass ein zulässi- ger Gegenstand im einstweiligen Verfügungsverfah- ren vor den Zivilgerichten nur ein Anspruch sein könne, der auch im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden kann – was auf den gestellten Feststellungsantrag aber nicht zutrifft. Davon könne nur abgewichen werden, wenn auf anderem Wege effektiver Rechtsschutz nicht erreicht werden kann. Zuletzt wich das OLG auch in anderer Sache von der Rechtsauffassung des LG ab: nämlich in der Frage, inwieweit dem Kläger gegen die Vertrauensleute i.S.d. §§ 22, 27 BWahlG ein persönlicher Anspruch auf Rücknahme der Landesliste zusteht. Das LG hat

174 LG Saarbrücken, Urteil vom 01.06.2017 – 15 O 78/17, online veröffentlicht bei juris. 175 OLG Saarbrücken, Urteil vom 12.07.2017 – 1 U 80/17, online 176 VG Hannover, Urteil vom 21.06.2017 – 1 A 454/17, online veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris.

143 Rezensionen MIP 2018 24. Jhrg.

Rezensionen hang mit Äußerungen von Staatsorganen bestehen. Dabei bietet sie auch Anlass für kritische Diskussio- Eder, Christian: „Rote Karte“ gegen „Spinner“? nen. So will Eder die Neutralitätsverpflichtung im Bedeutung und Reichweite staatlicher Neutrali- Grundsatz auch gelten lassen, wenn Mitglieder der tätspflichten in der politischen Auseinanderset- Bundesregierung in der parteipolitischen Sphäre zung, Duncker & Humblot, Berlin 2017, 215 S., handeln. Zwar werden Regierungsmitglieder immer ISBN 978-3-4281-5281-0, € 74,90. auch in dieser Funktion wahrgenommen, im partei- politischen Kontext muss allerdings berücksichtigt Vermehrt waren in den vergangenen Jahren werten- werden, dass sie auch Spitzenfunktionäre ihrer Partei de Äußerungen von Staatsorganen über politische sind und als solche die Möglichkeit haben müssen, Parteien Gegenstand verfassungsgerichtlicher Ent- für deren Positionen einzustehen. Insbesondere in scheidungen. Eine Aufarbeitung des Streitstandes Wahlkampfzeiten würden Regierungsmitglieder in zur Bedeutung und Reichweite staatlicher Neutrali- eine passive Rolle gedrängt, müssten sie im partei- tätspflichten in der politischen Auseinandersetzung politischen Zusammenhang eine größere Zurückhal- hat Christian Eder vorgelegt. tung üben. Es ist zu überlegen, ob der von Eder be- Der Titel seiner Dissertation – „Rote Karte“ gegen nannten Gefahr einer „missbräuchlichen Nutzung „Spinner“? – spielt in diesem Zusammenhang auf parteipolitischer Plattformen“ nicht vorrangig bei zwei Entscheidungen des BVerfG an: Das Urteil zur der Bestimmung des Äußerungskontextes Rechnung Bewertung der NPD als „Spinner“ durch den früheren getragen werden muss. Bundespräsidenten Joachim Gauck und das Verfahren „Rote Karte“ gegen „Spinner“? Ob diese und ähnli- gegen die frühere Bundesministerin für Wissenschaft che Äußerungen von Staatsorganen verfassungs- und Forschung, Johanna Wanka, die in einer Presse- rechtlich zulässig sind, ist nicht einfach zu beant- mitteilung dazu aufforderte, der AfD die „rote Karte“ worten. Christian Eder trägt mit seinem Werk dazu zu zeigen. Damit ist ein Schwerpunkt des Werks iden- bei, die Debatte zu systematisieren und gibt eine tifiziert. Der Autor setzt sich mit den unterschiedli- Vielzahl spannender Impulse für die weitere Diskus- chen Maßstäben, die das BVerfG an die Zulässigkeit sion. Wer einen strukturierten Überblick über die von Äußerungen durch den Bundespräsidenten und Reichweite staatlicher Neutralitätspflichten sucht, Mitglieder der Bundesregierung anlegt, auseinander. wird hier fündig. Nach einer kurzen Darstellung der aktuellen verfas- Jasper Prigge sungsrechtlichen Problematik, nimmt Eder eine ver- fassungsrechtliche Verortung des Prinzips staatlicher Neutralität im Kontext parteipolitischer Auseinander- Gehlen, Andreas von: Parteiendemokratien – Zur setzungen vor. Er plädiert im Anschluss für eine strik- Legitimation der EU-Mitgliedstaaten durch poli- te parteipolitische Neutralität von Bundespräsident tische Parteien, De Gruyter, Oldenbourg 2017, und Bundesregierung und macht dies insbesondere an 117 S., ISBN 978-3-11056412-9, € 99,95. ihren verfassungsrechtlichen Aufgaben und Funktio- Vor dem Rezensenten liegt ein Exemplar einer unge- nen fest. Er stimmt der „scharfen Herangehensweise“ wöhnlichen Gattung wissenschaftlicher Literatur, des BVerfG in Bezug auf die Äußerungsbefugnisse nämlich der zu einer selbständigen Publikation aus- der Bundesregierung zu, kritisiert aber die demgegen- gearbeitete erste Teil der Dissertationsschrift des über abweichende Rechtsprechung in Bezug auf den Autors aus dem Jahr 2005, die den Titel „Europäi- Bundespräsidenten. Diesem weist er die Rolle eines sche Parteiendemokratie? Institutionelle Vorausset- parteipolitisch neutralen „Wächters“ zu, dessen Auf- zungen und Funktionsbedingungen der europäischen gabe die Erhaltung der Verfassung und ihrer Werte Parteien zur Minderung des Legitimationsdefizits sowie die Sicherung der Funktionsfähigkeit des der EU“ trägt. Eigene Themen zu variieren und neu staatlich-politischen Apparats sei. Der Autor spricht zu fassen, ist aber ein nicht nur in der Kunst, son- sich letztlich gegen eine Differenzierung zwischen dern auch in der Wissenschaft legitimer und oft auch den Staatsorgangen aus und konkretisiert in einem sinnvoller Arbeitsmodus, weil er Spezialisierungsge- letzten Teil, welche Handlungsspielräume für eine winne zum Tragen kommen lässt. die staatliche Neutralität wahrende (partei-)politi- sche Auseinandersetzung eröffnet sind. Der Band will – so lässt sich der Einleitung entneh- men – die Frage klären, „warum [...] politische Par- Die Darstellung führt eindringlich vor Augen, wie teien in der EU Funktionen wahrnehmen, die einen vielfältig die Problemlagen sind, die im Zusammen- maßgeblichen Beitrag zur demokratischen Legitima-

144 MIP 2018 24. Jhrg. Rezensionen tion nationalstaatlicher Herrschaftsausübung leis- schiedenen Stränge der Untersuchung in Form eines ten“. Auffällig ist, dass ein solcher wesentlicher Bei- Fazits zusammen, das in doppelter Hinsicht positiv trag zur Legitimation bereits in der Frage vorausge- ausfällt: Das Legitimationsproblem sieht von Gehlen setzt wird, welche die Untersuchung leitet. Die das durch die Parteiendemokratie befriedigend gelöst vorgefundene System rekonstruierende, letztlich und ist auch für die Zukunft zuversichtlich, dass die- apologetische Richtung der Arbeit wird bereits hier se Form der Legitimation weiter funktionieren wird. erkennbar. Dass die Untersuchung in ihrem weiteren An dieser Stelle wird das Alter des Ausgangstextes Verlauf plausible Argumente für eine solche legiti- – die Dissertation stammt wie gesagt aus dem Jahr mierende Wirkung der Parteien bringt, sei hier vor- 2005 – spürbar, denn die Legitimationswirkung der weggenommen, ebenso jedoch auch, dass sie wenige Parteiendemokratie scheint mittlerweile in vielen Ansatzpunkte für eine Kritik an der Parteiendemo- Staaten der Europäischen Union nachzulassen, jeden- kratie oder gar für eine Entwicklung von Alternati- falls wird sie zunehmend bestritten und gerät so von ven bietet: Der Blick richtet sich nicht von außen auf einer Rahmenbedingung demokratischer Politik selbst das Untersuchungsobjekt, sondern es dominiert die zu einem Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Binnenperspektive. Zwar dürfte nach wie vor, wenn auch gemindert, zu- Aber auch unter dieser Einschränkung ist eine Be- treffen, dass staatliche Herrschaft in den Mitgliedstaa- handlung des Themas zu begrüßen. Politische Partei- ten von den Bürgern als rechtmäßig anerkannt wird. en sind zentrale Faktoren in der Politik der Mit- Aber – und hier ist Kritik zu üben – zur tatsächlichen gliedstaaten der Europäischen Union. Ihre Leistung Akzeptanz staatlicher Herrschaft als dem praktischen für die Legitimation moderner staatlicher Herrschaft Test für Legitimation hätte man für die verschiedenen wird von der fleißigen, empiriefreudigen, aber theo- Mitgliedstaaten gerne mehr erfahren. retisch bisweilen etwas unterzuckerten Parteienfor- Der Aufbau der Arbeit überzeugt in guter sozialwis- schung nicht immer hinreichend beachtet. senschaftlicher Tradition durch Folgerichtigkeit und Von Gehlen geht das große Thema in einem Einlei- Nachvollziehbarkeit. Die Schwächen liegen im De- tungs- und vier Hauptkapiteln an: Während in der tail und rühren wohl auch von den interdisziplinären Einleitung nach gutem Brauch das Thema entwickelt Anforderungen, die das gewählte Arbeitsprogramm und der Forschungsstand dargestellt wird, widmet stellt. So überzeugt die Behandlung der Legitimati- sich das erste Kapitel den für die untersuchte Frage onstheorien im zweiten Kapitel nur teilweise, was zentralen, gesamteuropäisch geteilten Vorstellungen auch daran liegt, dass kaum auf die Quellen und nur von Legitimation staatlicher Herrschaft, die in der recht begrenzt auf die einschlägige Forschungslitera- Forderung nach gleicher und freier Partizipation al- tur zurückgegriffen wurde.1 ler Bürger bei der inhaltlichen und personellen Be- Im zweiten und dritten Kapitel bewegt sich der Au- stimmung von Herrschaft zusammenlaufen. Das Ziel tor dann spürbar auf besser vertrautem Terrain. sei letztlich die freiwillige Akzeptanz staatlicher Wenn man die vom Autor als Ausgangspunkt ge- Herrschaftsentscheidungen. Nachdem so der norma- wählte These teilt, dass die Parteien politische Ent- tive Maßstab geklärt wurde, behandelt das zweite scheidungen faktisch von den parlamentarischen Or- Kapitel zwei Themen, nämlich die historische Ent- ganen abziehen, dann ist es für die Beantwortung der wicklung der europäischen Parteien bis hin zur Eta- Legitimationsfrage notwendig, zu prüfen, ob die Par- blierung des „Parteienstaates“ und – parallel dazu – teien den Verlust an legitimatorischer Leistung bei die Entwicklung der Parteienforschung, beginnend den Parlamenten durch die demokratische Qualität bei den Gründungsvätern Ostrogorski, Michels und ihrer internen Abläufe und durch ihre Leistungen für Weber, wobei vor allem die von der Forschung ent- deckten und entwickelten Parteifunktionen und 1 So geht die klassische Typologie der Herrschaftsformen mit -merkmale behandelt werden. Im dritten Kapitel ihrer Gegenüberstellung von Monarchie und Tyrannei, Aristo- werden die verfassungsrechtlichen und sonstigen kratie und Oligarchie sowie Demokratie und Ochlokratie nicht, wie Fußnote 29 jedoch angibt, auf Wilfred Nippel zu- Rahmenbedingungen für die Tätigkeit von Parteien rück, sondern auf Polybios und letztlich auf Aristoteles. Auch in den Mitgliedstaaten sowie die Wahrnehmung der bleibt unklar, wie sich etwa „das Abendland“ dem „okzidenta- verschiedenen, unter Legitimationsgesichtspunkten len Rationalismus“ verschließen konnte, so aber auf S. 11 zu wesentlichen Parteifunktionen – nämlich der Perso- lesen. Dass von Gehlen in Fußnote 98 als Beleg für die säku- lare Ausprägung des Prinzips der Volkssouveränität in der nalauslese, der Programmformulierung, der Politik- Europäischen Union auf Art. 13 EGV zurückgreift, eine gestaltung und der Kontrolle der Regierung – unter- Norm, die seit geraumer Zeit außer Kraft gesetzt ist, sei hier sucht. Das vierte Kapitel schließlich führt die ver- als letztes Beispiel für eine Reihe von Ungereimtheiten im ersten Kapitel genannt.

145 Rezensionen MIP 2018 24. Jhrg. den demokratischen Willensbildungsbildungsprozess forscht. Als übergeordnetes Ziel der Arbeit benennt kompensieren können. Allerdings wäre dabei die sie die Entwicklung einer „normativ begründete[n] Frage genauer zu klären, ob und unter welchen Heuristik zur Untersuchung von politischer Online- Bedingungen die demokratische Partizipation einer kommunikation“ (S. 34). im Vergleich zur Gesamtbürgerschaft kleinen Zahl Die empirische Analyse bezieht sich auf „top-down- von Parteimitgliedern die legitimatorische Einbuße initiierte, deutsche, konsultative Partizipationsinstru- ausgleichen kann, die durch die Bedeutungsminde- mente, die komplett oder mehrheitlich online statt- rung der aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen finden und die sehr ähnliche Beteiligungsmodi vor- Parlamente entstanden ist. sehen“ (S. 18). Konkret als Fallbeispiele gewählt wer- Auch leidet die Untersuchung daran, allzu sehr in die den (1) die öffentlichen E-Petitionen am Deutschen Breite zu gehen: Anstatt die Parteiensysteme aller Bundestag, (2) der Bürgerhaushalt Frankfurt am Main Mitgliedstaaten notgedrungen nur an der Oberfläche 2014 und (3) der Bürgerhaushalt Köln 2013/2014. Be- abzutasten, wäre es für die Frage nach der Legitimati- grüßenswert ist, dass die Stichprobe mit den beiden on durch Parteien gewinnbringender gewesen, tiefer Bürgerhaushalten zwei Verfahren in den Blick nimmt, zu schürfen und sich exemplarisch auf einen oder die sich im Aufbau sowie thematisch sehr ähnlich und zwei Staaten zu konzentrieren, vor allem angesichts jeweils wenig institutionalisiert sind und diesen mit von lediglich 93 Seiten Text, auf denen die gesamte den E-Petitionen ein Verfahren gegenüberstellt, das Untersuchung ausgebreitet wird. Das, was geboten sich in wesentlichen Merkmalen unterscheidet. So- wird, ist dabei beileibe nicht uninteressant, man erhält mit werden an einigen Stellen Unterschiede sichtbar, vielmehr einen Überblick über normative Rahmen- die mit der Art des Verfahrens in Zusammenhang bedingungen von Parteitätigkeit und über Basisdaten stehen könnten, wie im vierten Kapitel zu den Er- der inneren Strukturen politischer Parteien in den 28 gebnissen näher beschrieben wird. Mitgliedstaaten,2 der für sich genommen oder als Zu Beginn stellt die Autorin fest, die Vielfalt delibe- Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen seinen rativer Demokratietheorien erschwere ihre empiri- Wert hat. Ob aber die in ihren Grundrissen darge- sche Überprüfung. In der Folge werde bei empiri- stellten normativen Strukturen mit demokratischem schen Untersuchungen häufig nicht ausreichend klar Leben gefüllt werden und so auch legitimierend wir- zwischen Ursachen und Wirkungen unterschieden ken können, bleibt weitgehend im Dunkel. und die bislang vorliegenden empirischen For- Auch wenn sich der schmale Band an der gewählten schungsergebnisse seien oft zirkulär. Dieser Kritik Frage ein wenig verhebt, bleibt es das Verdienst der abhelfen soll das von ihr entwickelte, schlanke Mo- Arbeit, mit der Kombination von Legitimation und dell, mit dem die Qualität des jeweils betrachteten, politischen Parteien eine moderne Antwort auf die deliberativen Online-Prozesses in formaler und ma- „ewige Frage“ nach der Rechtmäßigkeit staatlicher terieller Hinsicht untersucht werden soll. Als Bewer- Herrschaft zu skizzieren. tungsmaßstab in materieller Hinsicht, also zur Be- wertung der inhaltlichen Qualität, dienen die Dichte Dr. Sebastian Roßner, M.A. und Güte von Information und Argumentation. Die formale Qualität wird anhand des Umgangs der Teil- Kolleck, Alma: Politische Diskurse online. Einfluss- nehmenden miteinander (in respektvoller, neutraler faktoren auf die Qualität der kollektiven Mei- bzw. ablehnender/missachtender Weise) beurteilt. nungsbildung in internetgestützten Beteiligungs- Um die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Verfahren verfahren, Nomos, Baden-Baden 2017, 312 S., zu erleichtern, lassen sich mit Kolleks Modell ein ISBN 978-3-8487-3734-5, € 64. formaler wie inhaltlicher Qualitätsindex berechnen Alma Kolleck entwickelt in ihrer politikwissen- (näher dazu S. 88 f.). Begründet grenzt die Autorin schaftlichen Dissertationsschrift ein schlankes Modell diese Indizes im zweiten Kapitel von dem Discourse zur empirischen Datenerfassung, mit dem sie anhand Quality Index (DQI) von Steenberg u.a. ab, dem dreier ausgewählter Fallbeispiele die inhaltliche und wohl bekanntesten Instrument solcher Art in der em- formale Qualität der jeweiligen Online-Diskussion er- pirischen Deliberationsforschung. Anders als der DQI stützen sich Kolleks Indizes nicht auf die deli- 2 Wobei auch hier die Informationen mit Vorsicht zu genießen berative Theorie Habermas´, sondern auf die Defini- sind: So ergibt sich die für die Niederlande in Tabelle 2 auf tion deliberativer Qualität von Peters. Dieser unter- Seite 41 angegebene wahlrechtliche Sperrklausel von 0,67 % teilt – ebenso wie Habermas – Politikherstellung in einfach rechnerisch aus dem Umstand, dass 150 Parlaments- sitze im Wege der reinen Verhältniswahl zu vergeben sind. zwei Sphären: die „Peripherie“ und das „Zentrum“

146 MIP 2018 24. Jhrg. Rezensionen

(Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, fen hätten, aber regelmäßig weder über die konkrete 1993; Habermas, Faktizität und Geltung, 1992). Der Gestaltung des Beteiligungsverfahrens informiert in Teilöffentlichkeiten stattfindende deliberative seien, noch die online geführten Debatten selbst mit- Austausch kann danach die staatliche Entscheidung läsen und auch den Großteil der Inhalte der zur Dis- nur dann beeinflussen, wenn er aus der Peripherie kussion gestellten Vorlagen nicht kennen würden. ins Zentrum transportiert wird. Der wesentliche Un- Relativ zu dieser großen methodischen Bandbreite terschied beider Theorien besteht aber darin, dass erscheint der Umfang des Werks moderat, um das nach Peters´ Auffassung öffentliche Diskurse nicht Versprechen der Kombination aus quantitativen und typischer oder gar notwendiger Weise zu Konsens qualitativen Zugängen einzulösen: dem Leser einen führen, sondern vielmehr verschiedene Standpunkte besonders umfassenden und vielschichtigen Blick problematisieren und häufig einen Dissens sichtbar auf den Untersuchungsgegenstand zu geben. machen (Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, 1994). Die Anforderungen, die Peters an eine Diskussion Am Ende des dritten (Methoden-)Kapitels stellt Kolleck stellt, um als Deliberation betrachtet werden zu kön- ihr Vorgehen noch einmal plausibel dar und spart nen, sind damit wesentlich geringer als bei Haber- auch die sich auf der jeweiligen Analyseebene erge- mas. Somit ergibt sich ein weiter Definitionsrahmen, benden Schwierigkeiten und Grenzen des gewählten in dem Deliberation als Kontinuum verstanden wird, Vorgehens nicht aus. Insbesondere im Rahmen der in welchem einzelne Diskussionen von höherer oder Befragung der Teilnehmenden stellen geringe Ab- niedrigerer diskursiver Qualität sein können. schöpfungsquoten und Repräsentativitätseinbußen eine – für Online- Befragungen typische – Restrikti- Nach der theoretischen Anknüpfung ihres Modells on dar. Die konkrete Ausgestaltung der Analysekri- diskutiert die Autorin unterschiedliche, den aktuel- terien wird durch die methodische Beschreibung und len Forschungsstand aufgreifende, Hypothesen zu das ausführliche vierte Kapitel zu den Ergebnissen den Bedingungsfaktoren von kollektiver Meinungs- ausreichend klar und nachvollziehbar, sodass un- bildung. Aus diesen leitet sie diverse Einflussfakto- schädlich ist, dass die Arbeit keinen Anhang mit den ren ab, die für die im dritten Kapitel näher beschrie- eingesetzten Erhebungsinstrumenten vorweist. benen Analyseebenen als unabhängige Variablen an- genommen werden (Überblick S. 74). Schließlich Zu den Ergebnissen: Auf Ebene der Diskussionen beschäftigt sie sich kurz mit den besonderen delibe- und ihrer Vorlagen stellt Kolleck einen negativen rativen Potentialen und Risiken des Internets, wie Zusammenhang zwischen der Anzahl der Teilneh- dem so genannten „digital divide“. Ihre Einschätzun- mer und der inhaltlichen Qualität der Diskussion gen bringen hier jedoch keine neuen Erkenntnisse, fest. Zuträglich für inhaltlich qualitätsvolle Diskussi- sondern wiederholen Altbekanntes. Inwiefern das onen sei die beständige Teilnahme der Diskutieren- Medium Internet einen deliberativen Austausch er- den. Wünschenswert sei daher, dass der einzelne möglichen könne, hinge maßgeblich von den jeweili- nicht nur einen, sondern mehrere Kommentare ver- gen Kontextfaktoren ab (vgl. S. 65). fasse und dabei auf die Kommentare anderer Bezug nehme und auf deren Inhalte eingehe. Interessant ist, Aufwendig und vergleichsweise selten in der empiri- dass nach den Ergebnissen dieser Untersuchung der schen Politikwissenschaft ist aber der triangulatori- Grad der Anonymität (Klarname oder Pseudonym, sche Ansatz des Modells, auf den Kolleck im dritten also Verwendung eines frei gewählten personalen Kapitel näher eingeht. Unter Anwendung verschie- oder anonymen Nutzernamens) keinerlei Einfluss dener Methoden werden drei Analyseebenen in den auf die Diskussionsqualität hat, weder in formaler, Blick genommen und miteinander vernetzt: (1) die noch inhaltlicher Hinsicht. In Bezug auf das Verhält- Ebene der (1a) Diskussion und (1b) ihrer Vorlagen nis zwischen der Qualität der Vorlage und der Quali- durch eine quantitative Inhaltsanalyse, (2) die Ebene tät der Diskussion lässt sich laut Kolleck ganz allge- der Teilnehmer durch eine quantitative geschlossene mein sagen, je hochwertiger die Vorlage, desto Befragung der jeweiligen Teilnehmenden und (3) die hochwertiger die Diskussion. Gestützt wird dies vor Ebene der Verfahren und ihrer Betreuenden (die allem durch den Befund, dass die E-Petitionen des hauptsächlich Teil der Verwaltung und teilweise An- Bundestages innerhalb der Stichprobe als am quali- gehörige externer Dienstleistungsunternehmen sind) tativ hochwertigsten einzustufen sind. Dieses Ver- durch leitfadengestützte, qualitative Interviews mit fahren sei im Vergleich zu den Bürgerhaushalten den Betreuenden und Initiierenden. Nicht Teil der hochgradig institutionalisiert, was zur Folge habe, dass Betrachtung sind die politischen Entscheidungsträ- rund 80 % der Einreichungen ausgesondert, also ger, die zwar die letztendliche Entscheidung zu tref- nicht veröffentlicht würden (vgl. S. 248). Zur Dis-

147 Rezensionen MIP 2018 24. Jhrg. kussion gestellt werden also von vornherein nur sol- übernimmt die Bundestagsverwaltung selbst. Leider che – guten – Vorlagen, die den Qualitätsanforde- wird die konkrete Rolle der Moderation nur rand- rungen und der politischen Zuständigkeit des Petiti- ständig untersucht. Keine Gelegenheit zur Stellung- onsausschusses entsprächen. Bemerkenswert ist, nahme erhalten die für die Letztentscheidung verant- dass besonders polarisierte Themen (etwa Rauchen wortlichen Politiker, denen von den Vertretern der oder Tierschutz) zwar den formalen Qualitätsindex Kommunalverwaltungen in Frankfurt und Köln eine der Diskussion zu senken, also vermehrt zu einem passive und desinteressierte Rolle vorgeworfen wird. respektloseren Umgang unter den Teilnehmenden zu Auch an dieser Stelle besteht sicher weiterer For- führen scheinen. In Bezug auf die inhaltliche Dis- schungsbedarf. Inhaltlich fällt die übereinstimmende kussionsqualität hält Kolleck aber fest, diese werde Einschätzung der Kommunalverwaltungen auf, nach weniger von der Art des Themas beeinflusst, son- der sich das Thema „kommunale Haushaltspolitik“ dern hinge vielmehr von der Qualität der zugrunde- als ungeeignet für Beteiligungsverfahren erwiesen liegenden Vorlage ab, wobei hier das Thema wieder- habe, da es auf Seiten der Bürger an Interesse und um ein signifikanter Prädikator sei. Vorlagen zu so- Kenntnis mangele (vgl. S. 253). Kolleck fokussiert genannten „heiklen Themen“ seien signifikant ihre Auswertung auf das Verhältnis zwischen der schlechter als zu „nicht-heiklen Themen“, was sich Schnittstelle des Beteiligungsprozesses zu den Bür- mittelbar dann auf die inhaltliche Qualität der Dis- gern auf der einen und zur Politik auf der anderen kussion auswirke. Zwischen dem formalen und in- Seite. Dabei lasse sich ein grundsätzlicher „Zielkon- haltlichen Index als abhängige Variablen stellt sie flikt zwischen größtmöglicher partizipativer Offen- fest, dass sie sich gegenseitig bedingen: „Wo der heit eines Verfahrens einerseits und hoher Selektivi- Umgangston respektvoller ausfällt, steigt auch die tät im Sinne der politischen Anschlussfähigkeit ande- Zahl und Überzeugungskraft der genannten Infor- rerseits“ ausmachen, die Ausdruck des „klassischen mationen und Argumente“ (S. 244). demokratischen Wertekonflikts zwischen Legitimität und Effektivität“ sei (S. 177). In Bezug auf die Teilnehmenden wurde nach der Art und Intensität der Teilnahme, ihrer Motivation, der Im fünften Kapitel schließlich ordnet die Autorin Zufriedenheit mit dem Verfahren und soziodemogra- ihre Erkenntnisse durch die Rückkopplung der Em- phischen Merkmalen gefragt. Wie in den meisten pirie an die wissenschaftliche Theorie und die Her- wissenschaftlich evaluierten Online-Partizipations- leitung praktischer Handlungsempfehlungen in den verfahren ist auch in den von Kolleck untersuchten größeren Kontext ein, bevor sie ihre Arbeit mit ei- Fallbeispielen der „typische Teilnehmer“ überdurch- nem Fazit in Kapitel 6 beendet. Anzurechnen ist schnittlich häufig männlich, gut gebildet, im mittle- Kolleck, dass ihr nicht nur die Darstellung der jewei- ren Alter und politisch stark interessiert bzw. bereits ligen Ergebnisse gelingt, sondern sie auch immer politisch aktiv. Auch, dass die meisten Befragten zu wieder – und schließlich zusammenfassend am Be- ihrer Motivation angeben, „ein wichtiges Anliegen“ ginn des fünften Kapitels – auf das Zusammenwir- zu haben und „wirklich etwas verändern“ zu wollen, ken der einzelnen methodischen Zugänge eingeht. überrascht nicht. Heraus sticht aber, dass über 40 % Insgesamt vermittelt das methodisch solide Vorge- der dazu in den drei Verfahren insgesamt Befragten hen einen differenzierten Blick auf den Bereich kon- (n=180) motivierter seien, sich zu beteiligen, wenn sultativer Onlinebeteiligung, wodurch Kolleck weiter in der Diskussion persönliche Erfahrungen geschil- zu der Strukturierung eines bislang noch sehr frag- dert würden, während dies auf der Diskussionsebene mentarischen Forschungsfeldes beiträgt. lediglich ein „für die inhaltliche und formale Quali- Theresa Witt tät unerhebliches Stilmerkmal“ (S. 119) darstelle. Auf der Ebene der Betreuenden und Initiierenden Meier, Horst/Leggewie, Claus/Lichdi, Johannes: der jeweiligen Verfahren wird durch die qualitativen Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD – Interviews ein intimer Einblick „hinter die Kulissen“ Analyse, Prozessreportage, Urteilskritik, Recht möglich. Interviewpartner sind einerseits Mitarbei- und Politik Beiheft 1, Duncker & Humblot, Ber- tende der Kommunal- bzw. Bundesverwaltung(en) lin 2017, 107 S., ISBN 978-3-4281-5303-9, € 34,90. und andererseits Angestellte externer Dienstleister, die bei den kommunalen Bürgerhaushalten – in un- Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD hat viel terschiedlichem Umfang – für die technische Umset- Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die die Diskussi- zung und vor allem die Moderation des Verfahrens on um die Sinnhaftigkeit eines Parteiverbots befeu- zuständig waren. Die Moderation der E-Petitionen ert, und es hat zu einer ganzen Reihe von Bespre-

148 MIP 2018 24. Jhrg. Rezensionen chungen des Urteils vom Januar 2017 geführt; selbst chen Verhandlung dargestellt, gründlich, kenntnis- eine Änderung des Art. 21 GG, des Bundesverfas- reich, mit Mut zu eigenem Urteil und auch mit Sinn sungsgerichtsgesetzes und des Parteiengesetzes wur- für Situationskomik. Offenbar scheint die Atmo- den durch die Entscheidung angestoßen. Der hier zu sphäre der mündlichen Verhandlung gut erfasst zu besprechende Band gilt dem Problem des Parteiver- sein, so dass sich das spätere Urteil auch aus dem botes schlechthin, exemplifiziert am Beispiel des Verlauf der mündlichen Verhandlung erklären lässt. zweiten Verbotsverfahrens gegen die NPD. Der Bericht zeigt, welchen Einfluss mündliche Ver- handlungen haben können. Allein schon um dieses Es enthält fünf Beiträge, die zu unterschiedlicher Beitrags willen lohnt sich der Griff zu diesem Heft. Zeit entstanden sind und sämtlich in der Zeitschrift „Recht und Politik“ erschienen waren. Die ersten Den längsten Beitrag bildet eine Kritik des Urteils drei Beiträge stammen sämtlich aus der Feder von unter dem Titel: „Hohe Hürden sehen anders aus“. H. Meier, C. Leggewie und J. Lichdi, im Anhang Die Auseinandersetzung mit der Urteilsbegründung findet sich ein zuerst 2013 erschienener Beitrag un- ist getragen von einer ausgeprägten Verbotsskepsis, ter dem sprechenden Titel „Endlosschleife NPD- die durchaus sympathisch ist und immer wieder die Verbot“, der offenbar nach Einreichung des Verbots- Einbußen an Freiheitlichkeit für den demokratischen antrages durch den Bundesrat verfasst worden war politischen Prozess, die mit einem Verbot verbunden und die Grundprobleme eines Parteiverbots an- sind, vor Augen führt. Ihr sachlicher Leitgesichts- spricht. Aus der Feder von H. Wassermann folgt punkt liegt, wie bereits im ersten Beitrag herausgear- schließlich die Rezension eines von H. Meier her- beitet, darin, dass ein Verbot nicht nur an politischen ausgegebenen Sammelbandes zum Verbot der NPD Zielen anknüpfen dürfe, vielmehr bedürfe es des (H. Meier (Hrsg.), Verbot der NPD – ein deutsches strafbaren Handelns, der Gewalttätigkeit zumal. Kri- Staatstheater in zwei Akten, 2015). Eine Litera- tisiert wird eine (historisch vielleicht verständliche, turauswahl zum Thema beschließt das Heft. aber nicht hinreichend aufgearbeitete) Dominanz des Präventionsdenkens. Jenseits der verfassungsrechtli- Der Einführungsbeitrag „Vom Verbotsantrag bis zum chen Dogmatik, aber nicht minder wichtig, ist das Eröffnungsbeschluss“ aus dem Jahr 2016 wurde wäh- Herausarbeiten einer dominierenden „Feindschafts- rend der ersten Phase des Verbotsverfahrens geschrie- rhetorik“. Dass die verfassungsrechtliche Auseinan- ben und erläutert die Grundlinien der Auffassung der dersetzung zu sehr im Banne eines Freund/Feind- Autoren. Das Dilemma eines Parteiverbots in einer Denkens stehe, wird mit zahlreichen Belegen des freiheitlichen Demokratie wird deutlich herausgear- Feindes-Vokabulariums belegt. Tatsächlich hat das beitet und am Beispiel der NPD die Frage gestellt, Urteil des Bundesverfassungsgerichts ja auch zu einer was schädlicher sei für die Demokratie, die Existenz Verfassungsänderung geführt, als deren Ergebnis sich dieser Partei oder ihr Verbot. Wegen des freiheits- drei von fünf Absätzen des Parteienartikels des einschränkenden Charakters eines Parteiverbots wird Grundgesetzes jetzt mit verfassungswidrigen und ver- für eine restriktive Interpretation der Verbotsvoraus- fassungsfeindlichen Parteien beschäftigen, hier mag setzungen plädiert. Der zentrale Punkt ihrer Auffas- man in der Tat von einer neurotischen Obsession sung liegt darin, dass ein Verbot nicht allein auf die sprechen. „Ziele“ einer Partei abheben dürfe, sondern auf die Gefahren, die durch das „Verhalten“ von Mitglie- An Defiziten werden neben der genannten fehlenden dern und Anhängern einer Partei begründet werden. Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte des Ver- Es gehe also nicht um die Inhalte der Äußerungen botsartikels das Unterlassen einer Rechtsverglei- von Parteien, die grundrechtlich geschützt seien, chung genannt, welche nach der Auffassung der Au- sondern um eine im Handeln der Organisation sich toren zu mehr Gelassenheit gegenüber extremisti- äußernde spezifische Gefährlichkeit. Dabei sich stel- schen Parteien führen könne, und die fehlende Aus- lende Fragen wie die nach der Zurechnung des Ver- arbeitung eines Begriffs der Opposition. haltens von Anhängern und der Problematik des Ein- Ausführlich setzt sich die Urteilskritik mit der we- satzes von V-Leuten werden angesprochen. sentlichen Innovation der Entscheidungsbegründung Der zweite Beitrag verdient besondere Beachtung. auseinander, dem Konzept der „Potentialität“, wo- Er stellt den Bericht über die mündliche Verhand- nach eine Partei nur verboten werden könne, wenn lung im Verbotsverfahren gegen die NPD dar und ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, überaus lesenswert, ja er stellt ein Kleinod der Ge- dass sie tatsächlich ihre politischen Ziele erreichen richtsberichterstattung dar. Ausführlicher als es die könne. Diese „Potentialität“ wird als zu unbestimmt Tagespresse konnte, wird hier der Gang der mündli- kritisiert und als eine zu niedrige Schwelle vor ei-

149 Rezensionen MIP 2018 24. Jhrg. nem Verbot. Eine minimale Möglichkeit bei Reali- Die praktische Grenzziehung zwischen erlaubter, sierung der Ziele einer Partei könne bereits zu deren auch extremer Opposition und verfassungswidriger Verbot führen, das Konzept der Potentialität biete Aktivität wird immer eine Sache des Einzelfalles keine greifbare Gefahrenbeschreibung. Sie stelle viel- bleiben müssen. Wenn die Autoren eine „praxistaug- mehr ein Surrogat für eine objektive Gefahrenlage dar. liche Eingriffsschwelle mit Augenmaß“ (S. 76) for- dern, wer möchte ihnen da widersprechen? Allein, Dankenswerterweise werden alternative Kriterien für wie soll eine solche Konstruktion ex ante genau aus- die Bestimmung einer verbotswürdigen Gefahr ge- sehen? Eine am in seinen Einzelheiten nicht vorher- nannt. So wird statuiert, es gibt keine Potentialität un- sehbaren Fall orientierte „empirisch gesättigte Pro- terhalb der Fünfprozentschranke, weiter bedürfe es gnose“ (S. 76) ist gefragt, ja, diese Grenzziehung keines Verbotes, so lang der politische Wettbewerb kann aber erst am je gegebenen Fall vorgenommen zwischen den Parteien die antidemokratischen Kräfte werden. Abstrakte Kriterien führen hier nur sehr be- kleinhalte. Ein Verbot komme nur als ultima ratio in grenzt weiter. Erst für den jeweiligen Fall ist die Ba- Betracht, wenn eine antidemokratische Partei „so lance zwischen Freiheitssicherung und vorsorglicher stark und dauerhaft im Bundestag vertreten ist, dass Sicherheitsbemühung zu leisten. Auch die Autoren sich die konkrete politische Gefahr abzeichnet, sie dieses Heftes vermögen dem Dilemma des Parteiver- könnte als Koalitionspartnerin an der Regierung be- botes nicht durch abstrakte Formeln zu entkommen. teiligt werden oder gar allein die Regierungsmacht erlangen“ (S. 83). Die eigene Position wird auch in Prof. Dr. Martin Morlok Vorschläge zur textlichen Neufassung der Verbots- norm des Grundgesetzes gefasst, die Minimalreform ersetzt das „oder“ zwischen den Verbotsalternativen „Ziele“ oder „Verhalten“ durch ein „und“. Einen Schritt weiter gehe eine Lösung, die auf die strafbare Verletzung der Regeln des politischen Wettbewerbs abhebe, am weitesten eine Streichung von Art. 21 Abs. 2 GG. Die Beiträge dieses Heftes stellen in ihrer Gesamt- heit eine gründliche Auseinandersetzung mit der Frage des Parteiverbots in einer freiheitlichen Demo- kratie dar. Entsprechend ihrem Charakter einer Sammlung von Beiträgen derselben drei Autoren sind Wiederholungen unvermeidlich. Auch in der Wiederholung geben sie aber wichtige Denkanstöße für die gebotene restriktive Auslegung der Grundge- setzbestimmung über das Parteiverbot. Dieser positi- ve Gesamteindruck bleibt festzuhalten, auch wenn die Ausführungen von Meier, Leggewie und Lichdi nicht ausnahmslos zu überzeugen vermögen. Die Dominanz eines Präventionsdenkens mag man zu Recht kritisch sehen, zumal in einer gefestigten Demokratie. Der Präventionsgedanke selbst ist aber dem Grundgesetz zu eigen und nicht in Abrede zu stellen – was die Autoren richtigerweise auch nicht tun. Ihre Einwände gegen die Entscheidung des Bun- desverfassungsgerichts haben manches für sich, gleichwohl ist – antikritisch – festzuhalten, dass das Gericht die Regelung des Art. 21 Abs. 2 GG aktuali- siert hat und sich dabei bemüht hat, die Verbotsvor- aussetzungen restriktiv auszulegen, zugleich aber sie anwendungsfähig zu halten. Das kann man dem Ge- richt nicht vorwerfen.

150 MIP 2018 24. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

Rechtsprechungsübersicht

1. Grundlagen zum Parteienrecht BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, in: NJW 2017, 611 ff. (Antrag auf Verbot der NPD nicht er- folgreich – NPD verfassungsfeindlich, jedoch fehlende Potentialität der Zielerreichung) BVerwG, Urteil vom 13.09.2017 – 10 C 6.16, in: NWVBl 2018, 101 ff. (Rechtswidrigkeit der „Licht-Aus- Aktion“ des Düsseldorfer Oberbürgermeisters und des Aufrufs zur Teilnahme an einer Gegendemonstration) BGH, Urteil vom 16.03.2017 – I ZR 13/16, in: NJW 2017, 3153 ff. (Presserechtlicher Auskunftsanspruch gegen Behörde bei Verdacht einer indirekten Partei- oder Wahlkampffinanzierung) BGH, Beschluss vom 11.05.2017 – I ZR 147/16, in: ZUM 2018, 50 f. (Verwendung von Musikwerken im Wahlkampf einer politischen Partei ist besonders geeignet, die Interessen der Urheber zu beeinträchtigen) Oberster Gerichtshof Wien, Entscheidung vom 29.04.2017 – 6 Ob 62/17m, online veröffentlicht bei juris (Rechtsschutz in Österreich: Zur Wirksamkeit eines Parteiausschlusses wegen Beleidigung von Parteikolle- gen und -organen) VGH Kassel, Beschluss vom 11.07.2017 – 8 B 1144/17, in: HGZ 2017, 289 ff. (Neutralitätspflicht für Face- book-Account des Oberbürgermeisters von Frankfurt) VGH Kassel, Urteil vom 12.10.2017 – 4 A 626/17, online veröffentlicht bei juris (Waffengesetzliche Unzu- verlässigkeit eines NPD-Kandidaten und -funktionärs) OLG Köln, Beschluss vom 17.11.2017 – 1 W 17/17, online veröffentlicht bei juris (Beschwerde gegen Fest- setzung eines Ordnungsgeldes wegen Verstoßes gegen eine den Parteinamen betreffende Verbotsverfügung) LG Bonn, Beschluss vom 05.04.2017 – 10 O 384/16, nicht veröffentlicht (Festsetzung eines Ordnungsgeldes aufgrund des Verstoßes gegen die einen Parteinamen betreffende Verbotsverfügung) LG Köln, Urteil vom 04.04.2017 – 31 O 44/17, online veröffentlicht bei juris (Anspruch auf Unterlassung der Benutzung der Kurzbezeichnung einer politischen Partei aufgrund einer Verwechslungsgefahr) VG Berlin, Urteil vom 08.05.2017 – 2 K 69.16, online veröffentlicht bei juris (Anwendungsbereich des In- formationsfreiheitsgesetzes wird nicht durch Parteiengesetz verdrängt) VG Frankfurt, Beschluss vom 21.04.2017 – 7 L 3565/17.F, online veröffentlicht bei juris (Neutralitätspflicht für Facebook-Account des Oberbürgermeisters von Frankfurt) VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.02.2017 – 14 K 2217/14, online veröffentlicht bei juris (Versammlungs- verbot einer Veranstaltung der Partei "Die Rechte") VG Köln, Beschluss vom 30.03.2017 – 4 L 750/17, online veröffentlicht bei juris (Untersagung von Äuße- rungen von kommunalen Mandatsträgern) VG Köln, Beschluss vom 12.10.2017 – 4 L 4065/17, online veröffentlicht bei juris (Verstoß gegen Neutrali- tätspflicht durch Veröffentlichung von Äußerungen eines Bürgermeisters auf Internetseite)

2. Chancengleichheit BVerfG, Beschluss vom 21.03.2017 – 2 BvQ 2/17, online veröffentlicht bei juris (Fehlen eines auf den Bun- desverband einer politischen Partei eingetragenen Girokontos für sich genommen kein schwerer Nachteil) VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 16.03.2017 – Lv 3/17, online veröffentlicht bei juris ( Zum An- spruch von Parteien auf Teilnahme an Fernsehsendungen vor einer Landtagswahl – „Elefantenrunde“) VGH Mannheim, Beschluss vom 20.09.2017 – 1 S 2139/17, in: NVwZ-RR 2018, 174 ff. (Gebot der abge- stuften Chancengleichheit gilt auch für Zulassung zu einer Podiumsdiskussion anlässlich der Bundestags- wahl 2017)

151 Rechtsprechungsübersicht MIP 2018 24. Jhrg.

OVG Greifswald, Urteil vom 11.07.2017 – 1 LB 92/15, online veröffentlicht bei juris (Zum Anspruch einer politischen Partei auf Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis für das Anbringen von Wahlplakaten) OVG Münster, Beschluss vom 21.04.2017 – 5 B 467/17, online veröffentlicht bei juris (Zum Anspruch einer Partei auf Teilnahme an Veranstaltungen der Landeszentrale für politische Bildung) OVG des Saarlandes, Beschluss vom 13.03.2017 – 2 B 340/17, online veröffentlicht bei juris (Zum An- spruch von Parteien auf Teilnahme an Fernsehsendungen vor einer Landtagswahl – „Elefantenrunde“) OVG des Saarlandes, Beschluss vom 10.07.2017 – 2 B 554/17, , in: NVwZ 2018, 183 f. (Überlassung von kommunalen Räumlichkeiten zur Durchführung einer Kandidatenaufstellungsversammlung der NPD) OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13.09.2017 – 4 MB 52/17, online veröffentlicht bei juris ( Ableh- nung einer Sondernutzungserlaubnis für das Aufstellen von weiteren Wahlplakaten zur Bundestagswahl VG Ansbach, Beschluss vom 07.09.2017 – AN 4 S 17.01868, online veröffentlicht bei juris (Wiederherstel- lung der aufschiebenden Wirkung der Klage bzgl. Widerruf der Zulassung der Nutzung einer städtischen Halle für eine Wahlkampfveranstaltung der AfD) VG Bayreuth, Beschluss vom 26.06.2017 – B 5 E 17.424, online veröffentlicht bei juris (Anspruch auf Zu- gang zu öffentlicher Einrichtung für die Durchführung einer politischen Veranstaltung) VG Düsseldorf, Beschluss vom 20.04.2017 – 20 L 1740/17, online veröffentlicht bei juris (Ablehnung des Antrags einer Partei auf Teilnahme an Veranstaltungen der Landeszentrale für politische Bildung) VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 02.05.2017 – 14 L 1316/17, online veröffentlicht bei juris (Rechtswidri- ge Beseitigungsanordnung für Wahlplakat) VG Minden, Beschluss vom 14.03.2017 – 2 L 493/17, online veröffentlicht bei juris (Auskunftsanspruch ei- ner politischen Partei zu Verfügbarkeit öffentlicher Räumlichkeiten im Rahmen des Landtagswahlkampfes) VG Minden, Beschluss vom 09.08.2017 – 2 L 1635/17, online veröffentlicht bei juris (Anspruch auf Über- lassung der Aula einer Gesamtschule für eine parteipolitische Veranstaltung im Rahmen des Bundestags- wahlkampfes) VG München, Beschluss vom 11.04.2017 7 – M 7 S 17.1453, online veröffentlicht bei juris (Widerruf der Überlassung von Räumlichkeiten an eine politische Partei) VG München, Beschluss vom 05.09.2017 – M 2 E 17.4006, online veröffentlicht bei juris (Ablehnung einer Sondernutzungserlaubnis für das Anbringen von Wahlplakaten im öffentlichen Straßenraum) VG Münster, Beschluss vom 11.05.2017 – 1 L 836/17, online veröffentlicht bei juris (Anspruch einer politi- schen Partei auf Zugang zu kommunalen Räumlichkeiten) VG des Saarlandes, Beschluss vom 24.02.2017 – 3 L 261/17, online veröffentlicht bei juris (Zum Anspruch von Parteien auf Teilnahme an Fernsehsendungen vor einer Landtagswahl – „Elefantenrunde“) VG des Saarlandes, Beschluss vom 06.07.2017 – 3 L 1108/17, nicht veröffentlicht (Überlassung von kom- munalen Räumlichkeiten zur Durchführung einer Kandidatenaufstellungsversammlung der NPD) VG Schleswig, Beschluss vom 17.08.2017 – 3 B 110/17, online veröffentlicht bei juris (Ablehnung einer Sondernutzungserlaubnis für das Aufstellen von weiteren Wahlplakaten zur Bundestagswahl) VG Stuttgart, Beschluss vom 19.09.2017 - 9 K 14955/17, online veröffentlicht bei juris (Ablehnung eines Antrags auf Zulassung zu einer Podiumsdiskussion anlässlich der Bundestagswahl 2017)

3. Parteienfinanzierung BFH, Urteil vom 20.03.2017 – X R 55/14, in: DStRE 2017, 1162 ff. (Zuwendungen an kommunale Wähler- vereinigungen) VGH Kassel, Urteil vom 05.04.2017 – 8 C 459/17.N, in: NVwZ 2017, S. 886-889 (Teilhabe von Fraktionen verfassungsfeindlicher Parteien an Fraktionszuwendungen der Gemeinde)

152 MIP 2018 24. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

OVG Münster, Urteil vom 17.02.2017 – 15 A 1676/15, in: KommJur 2017, 410 ff. (Rechtswidrigkeit eines Ratsbeschlusses über die Anpassung der Zuwendungen für die Ratsfraktionen) VG Berlin, Urteil vom 21.09.2017 – VG 2 K 413.16, online veröffentlicht bei juris („Kauf kein' Scheiß [Gold] [bei der AfD], kauf GELD [bei uns]!“-Aktion der PARTEI führt weder zu Rückzahlung der staatli- chen Parteienfinanzierung noch zu Strafzahlung)

4. Parteien und Parlamentsrecht VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.07.2017 – 1 GR 35/17, online veröffentlicht bei juris (Or- ganstreit eines Abgeordneten der AfD-Fraktion des Landtages Baden-Württemberg gegen Fraktionssanktio- nen – Ablehnung Befangenheitsantrag) VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.08.2017 – 1 GR 35/17, online veröffentlicht bei juris (Or- ganstreit eines Abgeordneten der AfD-Fraktion des Landtages Baden-Württemberg gegen Fraktionssanktio- nen – Zurückweisung eines Antrages auf einstweilige Anordnung mangels Dringlichkeit) VerfGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.10.2017 –1 GR 35/17, online veröffentlicht bei juris (Organ- streit eines Abgeordneten der AfD-Fraktion des Landtages Baden-Württemberg gegen Fraktionssanktionen) OVG Münster, Urteil vom 14.09.2017 – 15 A 2785/15, online veröffentlicht bei juris (Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Ordnungsrufs gegenüber einem Ratsmitglied) OLG Dresden, Urteil vom 09.05.2017 – 4 U 102/17, online veröffentlicht bei juris (Zuständigkeit der Zivil- gerichte für Rechtsstreit zwischen zwei Landtagsfraktionen über die Zulässigkeit von Äußerungen in Infor- mationsschriften zur Öffentlichkeitsarbeit) VG Düsseldorf, Urteil vom 31.03.2017 – 1 K 15544/16, online veröffentlicht bei juris (Zur Sitzungslei- tungsfunktion des Bürgermeisters bei der Verteilung von Redezeiten) VG Düsseldorf, Urteil vom 20.10.2017 – 1 K 8645/16, online veröffentlicht bei juris (Fehlende Klagebefug- nis für Feststellungsklage, welche die abstrakte Frage zum Gegenstand hat, ob eine als solche anerkannte Fraktion im Rat einer Gemeinde rechtsidentisch mit einer ursprünglich gegründeten Fraktion ist) VG Düsseldorf, Urteil vom 20.10.2017 – 1 K 15366/17, online veröffentlicht bei juris (Ordnungsruf des Ratsvorsitzenden ist kein Instrument zur Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der Debatte) VG Köln, Beschluss vom 09.02.2017 – 6 L 2426/16, online veröffentlicht bei juris (Anspruch auf Zugang zu abschließenden Prüfungsmitteilungen des Bundesrechnungshofes betreffend Fraktionen)

5. Parteien und Wahlrecht BVerfG, Beschluss vom 19.09.2017 – 2 BvC 46/14, online veröffentlicht bei juris (Wahlprüfungsbeschwerde: Einführung einer Eventualstimme ist verfassungsrechtlich nicht geboten) BVerfG, Beschluss vom 15.08.2017 – 2 BvC 67/14, online veröffentlicht bei juris (Unzulässigkeit eines Be- fangenheitsantrages im Wahlprüfungsverfahren gegen Richter am BVerfG) BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 1/17, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde: Fehlendes Rechtsschutzinteresse wegen Versäumnis fristgerechter Einreichung von Kreiswahl- vorschlägen oder Landeslisten) BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 2/17, in: NVwZ 2017, 1450 ff. (Nichtanerkennungsbeschwerde: Fehlende Parteieigenschaft einer Vereinigung, die nach Organisationsgrad und Aktivitäten zur Einflussnah- me auf politische Willensbildung nicht imstande ist) BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 3/17, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde: Fehlender Nachweis der Beschlussfassung eines Parteitags über das vorgelegte Parteiprogramm) BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 4/17, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde: Fehlende Beschwerdebegründung)

153 Rechtsprechungsübersicht MIP 2018 24. Jhrg.

BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 5/17, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde: Verspätete Wahlbeteiligungsanzeige beim Bundeswahlleiter) BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 6/17, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde: Nichteinhaltung der Schriftform bei Einreichung per E-Mail) BVerfG, Beschluss vom 25.07.2017 – 2 BvC 7/17, online veröffentlicht bei juris (Nichtanerkennungsbe- schwerde: Unzulässigkeit wegen Nichteinhaltung der Beschwerdefrist) BVerfG, Kammerbeschluss (ohne Begründung) vom 06.06.2017 – 2 BvR 417/17, online veröffentlicht bei juris (Wählbarkeit der CDU bei Bundestagswahlen in Bayern) VerfGH Berlin, Beschluss vom 08.03.2017 – 160/16, in: NVwZ-RR 2017, 633 ff. (Wahlprüfungsverfahren: Wahl der Mitglieder einer Bezirksverordnetenversammlungen nach Höchstzahlverfahren d'Hondt zulässig) HVerfG, Urteil vom 23.01.2017 – 8/15, in: NordÖR 2017, 271 ff. („Scheinkandidatur“ eines Wahlbewer- bers begründet keinen beachtlichen Wahlfehler) VerfGH NRW, Beschluss vom 27.06.2017 – 13/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel: Zur ordnungsgemäßen Vertretung im Organstreitverfahren) VerfGH NRW, Beschluss vom 27.06.2017 – 14/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel: kommunale Wählervereinigungen im landesrechtlichen Organstreit nicht beteiligtenfähig) VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – 9/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel für Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage verfassungswidrig) VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – 11/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel für Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage verfassungswidrig) VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – 15/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel für Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage verfassungswidrig) VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – 16/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel für Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage verfassungswidrig) VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – 17/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel für Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage verfassungswidrig) VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – 18/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel für Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage verfassungswidrig) VerfGH NRW, Urteil vom 21.11.2017 – 21/16, online veröffentlicht bei juris (Verfassungsunmittelbare Sperrklausel für Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage verfassungswidrig) VerwGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.08.2017 – 1 S 1367/17, online veröffentlicht bei juris (Wahlbeeinflussung durch Wahlwerbung am Wahllokal) VerwGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.07.2017 – 1 S 1240/16, in: VBlBW 2018, 63 ff. (Zulässigkeit der Absenkung des aktiven Wahlalters für Kommunalwahlen in Baden-Württemberg auf 16 Jahre) OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.10.2017 – 4 L 88/16, online veröffentlicht bei juris (Anforderungen an politische Parteien für die Bestimmung der Bewerber für Kommunalwahl) OLG Saarbrücken, Urteil vom 12.07.2017 – 1 U 80/17, online veröffentlicht bei juris (Ungültige Kandida- tenliste zur Bundestagswahl wegen Aufstellung durch unzuständiges Gremium) LG Saarbrücken, Urteil vom 01.06.2017 – 15 O 78/17, online veröffentlicht bei juris (Verletzung individuel- ler Rechte des Parteimitglieds durch Entscheidung eines unzuständigen Gremiums über die Landesliste) VG Hannover, Urteil vom 21.06.2017 – 1 A 454/17, online veröffentlicht bei juris (Wahlrechtliche Spezial- regelung in § 52b NKWG gilt auch für Frist zur Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Wahlprüfungsklage) VG Karlsruhe, Urteil vom 13.04.2017 – 10 K 6725/16, online veröffentlicht bei juris (Wahlbeeinflussung durch Wahlwerbung am Wahllokal)

154 MIP 2018 24. Jhrg. Literaturübersicht

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung Dieser Literaturüberblick schließt an die in Heft 23 der „Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Inter- nationales Parteienrecht und Parteienforschung“, S. 188 ff., aufgeführte Übersicht an. Auch hier handelt es sich um eine Auswahlbibliographie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Im Wesentlichen wurden Publikationen des Jahres 2017 berücksichtigt. Entsprechend der Konzeption kann und soll im Rah- men der reinen Übersicht keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Publikationen geleistet werden.

Achenbach, Jelena von: Parlamentarische Informationsrechte und Gewaltenteilung in der neueren Recht- sprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl 2017, S. 491-515. Alex, Karsten: Patt im Ausschuss, Peter Lang, Frankfurt a.M. u.a. 2017. Anan, Deniz: Parteiprogramme im Wandel – Ein Vergleich von FDP und Grünen zwischen 1971 und 2013, Springer VS, Wiesbaden 2017. Apitz, Wilfried: Zuwendungen an kommunale Wählervereinigungen als Spenden? (Zugleich Entscheidungs- besprechung zu BFH vom 20.03.2017 – X R 55/14), in: EStB 2017, S. 351-352. Arnim, Hans Herbert von: Selbstbedienung in Südwest-Manier: Die Diätencoups in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Eine Streitschrift, Duncker & Humblot, Berlin 2017. Arnim, Hans Herbert von: Politische Parteien: Populismus von oben?, in: DVBl 2017, S. 1057-1065. Backes, Uwe: Parteiverbote im demokratischen Verfassungsstaat – Das Urteil im zweiten NPD-Verbotsver- fahren in vergleichender Perspektive, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 2017, S. 13-26. Backes, Uwe/Gallus, Alexander/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Nomos, Baden-Baden 2017. Bammerlin, Ralf: Direkte Demokratie ist kein Hexenwerk, in: Berliner Republik 2017, S. 58-59. Barczak, Tristan: Verfassungswidrigkeit der verfassungsunmittelbaren Sperrklausel für Kommunalwahlen, in: NWVBl 2017, S. 133-141. Basakoglu, Nina: Die Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz – Eine Untersuchung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit unter Einbeziehung europarechtlicher Aspekte, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2017. Baumann, Markus/Debus, Marc/Gross, Martin: Strenght of weakness? Innerparteiliche Heterogenität, diver- gierende Koalitionspräferenzen und die Ergebnisse von Koalitionsverhandlungen in den deutschen Bundes- ländern, in: Politische Vierteljahresschrift 2017, S. 179-204. Bechler, Lars: Verdeckte staatliche Parteienfinanzierung – Kein Fall für das Bundesverfassungsgericht?, in: Scheffczyk, Fabian/Wolter, Kathleen (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Bd. 4, De Gruyter, Berlin 2017, S. 387-412. Behnke, Joachim/Decker, Frank/Grotz, Florian/Vehrkamp, Robert/Weinmann, Philipp: Reform des Bundes- tagswahlsystems – Bewertungskriterien und Reformoptionen, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2017. Belafi, Matthias: Der Erfolg der FPÖ: Österreichs Parteien- und Regierungssystem unter Druck, in: ZfP 2017, S. 364-383. Berge, Benjamin von dem/Poguntke, Thomas: Varieties of Intra-Party Democracy: Conceptualisation and In- dex Construction, in: Scarrow, Susan E./Webb, Paul D./Poguntke, Thomas (eds.): Organizing Political Par- ties: Representation, Participation and Power, Oxford University Press, Oxford 2017, pp. 136-157. Bergmann, Knut/Diermeier, Matthias/Niehus, Judith: Die AfD: Eine Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener?, in: ZParl 2017, S. 57-75.

155 Literaturübersicht MIP 2018 24. Jhrg.

Bértoa, Fernando Casal/van Biezen, Ingrid:: The Regulation of Post-Communist Party Politics, Routledge, 2018. Beyme, Klaus von: Parteien und Populismus, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 2017, S. 27-41. Bickenbach, Christian: Kampf gegen eine Hydra – Rechtliche Mittel gegen den Rechtsextremismus, in: DVBl 2017, S. 149-157. Bieber, Christoph: Online-Wahlkampf zur Bundestagswahl, in: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 2017, S. 471-478. Blätte, Andreas/Wüst, Andreas M.: Der migrationsspezifische Einfluss auf parlamentarisches Handeln: Ein Hypothesentest auf der Grundlage von Redebeiträgen der Abgeordneten des Deutschen Bundestages 1996 – 2013, in: Politische Vierteljahresschrift 2017, S. 205-233. Bloch Rubin, Ruth: Building the Bloc, Cambridge University Press, Cambridge 2017. Boehl, Henner Jörg: Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2017, S. 197-201. Boehme-Neßler, Volker: Gekaufte Aufmerksamkeit? Verfassungs- und parteienrechtliche Überlegungen zum Sponsoring von politischen Parteien, in: NVwZ 2017, S. 528-531. Bolin, Niklas/Aylott, Nicolas/Berge, Benjamin von dem/Poguntke, Thomas: Patterns of Intra-Party Democra- cy across the World, in: Scarrow, Susan E./Webb, Paul D./Poguntke, Thomas (eds.): Organizing Political Parties: Representation, Participation and Power, Oxford University Press, Oxford 2017, pp. 158-184. Braml, Josef: The Party Is Over: Zum Zustand der Parteien und des politischen Systems in den USA, in: ZParl 2017, S. 423-439. Brüning, Christoph/Schmidt-Jortzig, Edzard: Fünf Jahre Legislaturperiode? Pro und contra, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2017, S. 250. Buchholtz, Gabriele: Demokratie und Teilhabe in der digitalen Zeit, in: DÖV 2017, S. 1009-1017. Bukow, Sebastian/Jun, Uwe (Hrsg.): Parteien unter Wettbewerbsdruck, Springer VS, Wiesbaden 2017. Cancik, Pascale: „Effektive Opposition“ im Parlament – eine ausgefallene Debatte?, in: ZParl 2017, S. 516-534. Cyr, Jennifer: The fates of political parties. Institutional crisis, continuity, and change in Latin America, Cambridge University Press, Cambridge 2017. Däubler, Thomas: Das Einstimmen-Mischwahlsystem bei baden-württembergischen Landtagswahlen: Wie fehlende Listen zur ungleichen deskriptiven Repräsentation von Stadt und Land in den Fraktionen beitragen, in: ZParl 2017, S. 141-156. Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl., Springer VS, Wiesbaden 2017. Diehl, Andrea: Parlamentarische Minderheiten- und Oppositionsrechte, in: Scheffczyk, Fabian/Wolter, Kathleen (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissen- schaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Bd. 4, De Gruyter, Berlin 2017, S. 491-517. Ebert, Björn P./Karaosmanoğlu, Cem: Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 (2 BvB 1/13) – Zum Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschland, in: DVBl 2017, S. 375-378. Eder, Christian: „Rote Karte“ gegen „Spinner“? Bedeutung und Reichweite staatlicher Neutralitätspflichten in der politischen Auseinandersetzung, Duncker & Humblot, Berlin 2017. Edinger, Florian: Zum Recht einer Fraktion auf eine Anhörung im Ausschuss. Urteil des Verfassungsge- richtshofs Sachsen vom 27. Oktober 2016, in: ZParl 2017, S. 157-162. Emek, Seyda: Die Europäisierung des Parteiverbots – dargelegt am NPD-Urteil des Bundesverfassungsge- richts, in: RuP 2017, S. 174-185. Enzensperger, Daniel: Zum Recht der Abgeordnetenentschädigung in Baden-Württemberg, in: VBlBW 2017, S. 451–454.

156 MIP 2018 24. Jhrg. Literaturübersicht

Ferreau, Frederik: Die Sanktionierung von Parteien und das Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb – Eine verfassungsdogmatische und -theoretische Betrachtung angesichts der beabsichtigten Änderung des Artikels 21 GG, in: DÖV 2017, S. 494-500. Ferreau, Frederik: Grenzen staatlicher Beteiligung am politischen Diskurs, in: NVwZ 2017, S. 1259-1263. Finke, Patrick/Souris, Antonios: Die Veralltäglichung von Parteipolitik im Bundesrat? Ein neuer Datensatz zu den Voten in den Ausschüssen, in: ZParl, 2017, S. 773-784. Franz, Manuel/Gawehns, Florian: Drittbewerber bei US-Präsidentschaftswahlen: chancenlos, aber wahlent- scheidend?, in: ZParl 2017, S. 311-328. Frau, Robert: Nochmals zum Rechtsschutz für Kleinstparteien: Nichtanerkennungsbeschwerden bei der Bundestagswahl 2017, in: DÖV 2018, S. 152-157. Frick, Verena/Lembcke, Oliver W./Lhotta, Roland (Hrsg.): Politik und Recht. Umrisse eines politikwissen- schaftlichen Forschungsfeldes, Nomos, Baden-Baden 2017. Gadinger, Jan: Verfassungswidriges Verfassungsrecht? Die Änderung des Art. 21 Abs. 3 GG und ihre Aus- wirkungen auf die Chancengleichheit der Parteien, in: KommP Wahlen 2017, S. 134-142. Gassert, Philipp/Hennecke, Hans Jörg (Hrsg.): Koalitionen in der Bundesrepublik – Bildung, Management und Krisen von Adenauer bis Merkel, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017. Gehlen, Andreas von: Parteiendemokratien – Zur Legitimation der EU-Mitgliedstaaten durch politische Par- teien, De Gruyter, Oldenbourg 2017. Glauben, Paul: Wahlprüfung als Garantie des unverfälschten Willens des Souveräns, in: NVwZ 2017, S. 1419-1424. Green, Jane/Jennings, William J.: The politics of competence. Parties, public opinion and voters, University Printing House, Cambridge et al. 2017. Grigat, Stephan (Hrsg.): AfD & FPÖ: Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder, Nomos, Baden-Baden 2017. Grunden, Timo/Janetzki, Maximilian/Salandi, Julian: Die SPD – Evolution einer Partei, Nomos, Baden- Baden 2017. Grzeszick, Bernd: Fraktionsautonomie als Teil des verfassungsrechtlichen Status der Bundestagsfraktionen, in: NVwZ 2017, S. 985-992. Güllner, Manfred: Der vergessene Wähler – vom Aufstieg und Fall der Volksparteien, Tectum, Baden- Baden 2017. Gusy, Christoph: Justiz als Hüterin „politischer Neutralität“ der Wissenschaft?, in: RuP 2017, S. 36-45. Gusy, Christoph: Verfassungswidrig, aber nicht verboten!, in: NJW 2017, S. 601-604. Hagevi, Magnus/Enroth, Henrik (eds.): Cartelisation convergence or increasing similarities. Lessons from parties in parliament, ECPR, Colchester 2017. Hamdorf, Kai: Auskunftsrechte des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung, in: Scheffczyk, Fabian/Wolter, Kathleen (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Bd. 4, De Gruyter, Berlin 2017, S. 467-489. Hans, Barbara: Inszenierung von Politik. Zur Funktion von Privatheit, Authentizität, Personalisierung und Vertrauen, Springer VS, Wiesbaden 2017. Harfst, Philipp/Kubbe, Ina/Poguntke, Thomas (Hrsg.): Parties, Governments and Elites: The Comparative Study of Democracy, Springer VS, Wiesbaden 2017. Heeß, Katja: Einschränkung der Mehrheitsdemokratie? Institutioneller Wandel und Stabilität von Vetopunk- ten, Nomos, Baden-Baden 2017.

157 Literaturübersicht MIP 2018 24. Jhrg.

Heidelberger, Anja: Die Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz – Psychologische und soziale Einflüsse auf die Abstimmungsneigung, Nomos, Baden-Baden 2017. Heinisch, Reinhard/Holtz-Bacha, Christina/Mazzoleni, Oscar: Political populism. A handbook, Nomos, Baden-Baden 2017. Heisterkamp, Ulrich: Think Tanks der Parteien? – Eine vergleichende Analyse der deutschen politischen Stiftungen, 2. Aufl., Springer VS, Wiesbaden 2017. Helms, Ludger/Wineroither, David M.: Die österreichische Demokratie im Vergleich, Nomos, Baden-Baden 2017. Henneke, Hans-Günter: Sieben Überhangsmandate der CSU haben zu mehr als 100 Ausgleichsmandaten der anderen Parteien geführt, in: DVBl. 2017, S. 1414-1415. Hentschke, Janine: Diskursangebote und Anschlussdiskurse – Kleinparteien im Bundestagswahlkampf 2013, Nomos, Baden-Baden 2017. Hettlage, Manfred C.: BWahlG Gegenkommentar, Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2017. Heusch, Andreas: Demokratischer Wettbewerb auf kommunaler Ebene, in: NVwZ 2017, S. 1325-1332. Heußner, Hermann: Die gravierenden Rechtsstaatsmängel der schweizerischen Direktdemokratie. Das frag- würdige Verhältnis der AfD zu Volksabstimmungen, in: NVwZ-Extra 17/2017, S. 1-6. Höhmann, Daniel: Delegationsprobleme in Koalitionsregierungen. Ausschutzvorsitzende als Instrument der gegenseitigen Kontrolle von Regierungsparteien in den deutschen Bundesländern, in: Politische Vierteljah- resschrift 2017, S. 593-617. Hornig, Eike-Christian: Mythos direkte Demokratie – Praxis und Potentiale in Zeiten des Populismus, Budrich, Opladen u.a. 2017. Ignazi, Piero: Party and democracy. The uneven road to party legitimacy, Oxford University Press, Oxford 2017. Ipsen, Jörn: Fraktionswechsel, Landtagsauflösung und Neuwahlen – eine Nachlese, in: NdsVBl 2017, S. 328-330. Ipsen, Jörn: Verfassungswidrig, aber nicht verboten – Das NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: RuP 2017, S. 3-8. Issacharoff, Samuel: Die Defizite der Demokratie, in: Der Staat 3/2017, S. 329-355. Jacob, Peter: Türkische Wahlen und türkischer Wahlkampf in Deutschland. Rückblick und Ausblick, in: NVwZ 2017, S. 1173-1174. Jesse, Eckhard: Nach der Bundestagswahl 2017: AfD und Die Linke – Wieviel Populismus steckt in ihnen?, in: Politische Studien 2017, S. 41–51. Joseph, Manuel: Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Besoldung von kommunalen Wahlbeamten, in: NVwZ 2017, S. 750-755. Jungblut, Jens/Weber, Regina: Karriereschmieden und Jugendorganisationen?, in: ZfP 2017, S. 115-142. Jürgensen, Sven: Anmerkung zu dem Urteil des BSG vom 18.2.2016 – B 3 KS 1/15 R (Künstlersozialversi- cherung, Einkünfte von Kommunalpolitikern), in: SGb 2017, S. 151-155. Jürgensen, Sven: Wahlsystem und Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Sokolov, Ewgenij/Roßner, Sebastian (Hrsg.), Durchsetzbarkeit von Verfassungsrecht – Didaktik und Durchführung eines internationa- len Moot Courts,Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2017, S. 111-120. Jürgensen, Sven/Sokolov, Ewgenij: Anfängerklausur – Öffentliches Recht: Staatsorganisationsrecht – Freund, Feind, Fraktionsfreund, in: JuS 2018, S. 36-41.

158 MIP 2018 24. Jhrg. Literaturübersicht

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159 Literaturübersicht MIP 2018 24. Jhrg.

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163 Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter MIP 2018 24. Jhrg.

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter Angaben zu den wissenschaftlichen Publikationen sowie den Vorträgen der Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter des PRuF auf den Gebieten des Parteienrechts und der Parteienforschung finden sich auf den Internetsei- ten des PRuF (www.pruf.de).

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