Sport

m Vormittag war Frau Rocchigiani noch mit dem Staubsauger zugange BOXEN Agewesen. Nachmittags kam Besuch, und als der in der Türzarge stand, sagte Frau Rocchigiani, es höre sich jetzt viel- leicht blöde an, aber er solle sich bitte die Schuhe ausziehen, „det müssen Se va- „Der Pole hat Schiss“ stehn“. Es ist nämlich so: Die Auslegewa- re ist flammneu und hellbeige, und Schu- he machen hässliche dunkelbeige Streifen. , bekanntester Vertreter des Manchmal, sagt die Hausfrau, ist es so schlimm, dass nur noch der Schrubber hilft. milieuverdächtigen Faustkampfs, boxt noch einmal um Normalerweise lässt Frau Rocchigiani Fremde, Journalisten zumal, gar nicht erst den WM-Titel. Nach dem Sturz des Medienhelden herein in ihre Berliner Neubauwohnung. Nicht wegen der Auslegeware, sondern Witalij Klitschko sehnt sich das Volk nach echten Typen. weil die sowieso nur Müll schreiben. Den Beschluss hat sie gefasst, als sie ein- mal über den jungen Mann, der ihr Sohn ist, lesen musste, er käme „aus der Gosse“. Da hat es ihr gereicht. Gosse. Sieht so vielleicht eine Gosse aus? Pico Wohnzimmer, im Regal die Mut- ter Gottes neben der Freiheitsstatue, auf dem Boden ein Dackel aus Porzellan. Re- nate Rocchigiani, 57, schiebt ein Stück Ei- erlikörmarzipansahnetorte in den Mund, da meldet sich ihr Gatte zu Wort. Zanobio Rocchigiani, 60, ein frühver- renteter Eisenbieger aus Sardinien mit dem Stimmklang heiserer Kampfhunde, hätte auch noch etwas beizutragen zum Thema Gosse. „Immer Akkord gearbeitet, immer fünf-, sechstausend netto nach Hause ge- bracht. Also mindestens viereinhalb.“ Aber das wollte ja nie einer wissen. Zu sehr legte der Sohn, der vormalige Box- Weltmeister Graciano („Rocky“) Rocchi- giani, in den Jahren seines öffentlichen Wirkens den Verdacht nahe, er sei am Ran- de der Gesellschaft zu Hause. Schlug Haus- meister nieder oder beschimpfte Wacht- meister als „Advokatenscheißer“, saß in U-Haft und formulierte eigenwillige An- sprüche ans irdische Leben: „Wat braucht der Mensch außer Glotze gucken, ’n biss- chen bumsen, ’n bisschen Anerkennung?“ Und jetzt? Klingelt bei den Rocchigianis alle naslang das Telefon. Kommenden Samstag kämpft der Sohn in Hannover gegen den Titelträger Dariusz Michal- czewski um die Weltmeisterschaft im Halb- schwergewicht, und die Medien sind aus- getrocknet. Der Herausforderer nähert sich zwar – nach immerhin zwei Jahren Kampfpause – in einem amerikanischen Trainingscamp nach Aussage seines Trainers Emanuel Ste- ward der Höchstform. Rocky sei „scharf wie ein Rasiermesser“ und habe im Auge, den Gegner spätestens nach fünf Runden k. o. zu hauen. Der Kämpfer selbst ist in- des verstummt. „Ick schlafe, tschüs“, fauchte der ge- lernte Glas- und Gebäudereiniger bei-

O. WINTER / WENDE O. spielsweise in den Hörer, als ihn ein deut-

Herausforderer Rocchigiani „Scharf wie ein Rasiermesser“ scher Reporter morgens um elf Uhr Ortszeit am Telefon zu fas- sen kriegte. Der Kollege von „Bild am Sonntag“ war sogar ex- tra angereist, kam aber mit ver- gleichsweise dürftigem Ergebnis nach Hause. Rocky hatte ihn mit dem Hinweis verjagt, ein Inter- view koste 50000 Dollar. Rocchigianis Skepsis gegen- über der Außenwelt wird von der Überzeugung genährt, dass seine Laufbahn von Beschiss und Betrug gepflastert wurde. Zwar tut der 36-jährige Rechts- ausleger nun schon seit 17 Jahren Dienst im Profilager und ist da- mit der dienstälteste Promi- boxer des Landes. Aber je mehr er darüber nachdenkt, wie sehr dieses Metier die Leute und im Speziellen ihn selbst „ver- scheißert“ hat, desto stärker packt ihn die Wut. Genau genommen ist der West-Berliner im Zuge der deut- schen Vereinigung unter die Rä- der gekommen. Mit Henry Mas-

ke aus an der Oder AP wechselte das deutsche Berufs- Boxprofi Klitschko*: Immer nur rechte Hasenfüße verhauen boxen von der Currywurst zum Schalentier; was früher von Achselschweiß den Geschäftsgang in Schwung gehalten, Denn dass der Gegenentwurf eines Aus- umflort war, verzauberte der Salonlöwe die höflichen Söhne eines Sowjetgenerals tern-Boxers auf einmal wieder schwer ge- von RTL in den Duft des Haarwassers, für wurden in einer ausgekochten PR-Insze- fragt ist und für den anstehenden Kampf das er Reklame lief. nierung zu Wahl-Deutschen umgemendelt dem Vernehmen nach sechs Millionen Deutsche Boxer hatten Manieren, aber – bloß Graciano Rocchigiani kippte meis- Mark Gage überwiesen bekommt, hat auch weil ihre Schlagkraft rückständig war, gab tens vom Karussell. Dass er überhaupt damit zu tun, dass die Konjunktur im Lan- es die Green Card für Fachkräfte aus Ost- noch mitspielt, verdankt Rocky seiner Ehe- de dämmert. Zuletzt sahen noch schlappe europa. Dariusz Michalczewski, „der Ti- frau Christine. Die tatkräftige Branchen- vier Millionen Menschen zu, als der „Tiger“ ger“, kam aus Polen, zeigte Talent für die kennerin, die in Boxhallen nicht nur in ro- seinen Gegner ins Knock-out schickte. deutsche Zunge und hat inzwischen auch safarbenen Stiefeletten mit weißem Flam- Vorletzten Samstag passierte dann der den richtigen Pass. Die Brüder Wladimir menmuster, sondern gelegentlich auch Totalschaden: Witalij Klitschko, bis dahin und Witalij Klitschko reisten aus der Ukrai- durch anschauliche Zurufe („Schweine!“) Inhaber einer fleckenlosen Bilanz von ne an, und vor allem Witalij, der ältere, ist auffällt, stützt den Gatten unentwegt bei 27 K.-o.-Siegen in 27 Profikämpfen, verlor blitzgescheit. Kürzlich brachte er es bis hin- seinem Feldzug wider die schrägen Ma- gegen einen 14 Zentimeter kleineren Kerl auf zum Doktorhut. chenschaften: „Allet Betrüjer.“ aus Amerika. Das Schlimme daran ist, dass Ein sorgsam komponiertes Zusammen- Es scheint fast so, als habe er mit seiner die Vermarkter von „Doktor Faust“, als spiel von Körper und Geist hat über Jahre Sicht der Dinge nicht ganz falsch gelegen. der er durch die „Bild“-Zeitung schwirr- te, nicht nur ihre Pläne vom Sturm auf die USA zu Grabe tragen müssen. Ein Mann, von dem das amerikanische Fern- sehen vermutet, er habe „no balls“, ist in Las Vegas schwer zu vermitteln. Auch der deutschen Ge- meinde wird allmählich klar, dass hier etwas grundsätzlich nicht stimmen kann: Wenn der Held verliert, sobald er mit ei- nem Gegner beschäftigt ist, der ausnahmsweise auch mal selbst zuhaut, dann heißt das im Umkehrschluss, dass er vorher immer nur rechte Hasenfüße

* Oben: bei seiner Niederlage im WM- Kampf gegen Chris Byrd am 1. April in B. WENDE M. GEYER / KÖLNER STADTANZEIGER M. GEYER / KÖLNER ; unten: als Ringgast beim Klitschko- Eltern Renate und Zanobio Rocchigiani, Ehefrau Christine (l.)*: „Mit die Beene zuerst“ Kampf.

der spiegel 15/2000 147 Sport verhauen haben muss. Nun sagt der Dok- als ein Mensch mit windelweichem Kern Maske zum Beispiel. 1995 forderte Rocky tor zwar, er habe wegen einer abgerisse- aufscheinen müssen. Weiß zum Beispiel den schönen Henry zum ersten Mal, und nen Supraspinatussehne in der linken einer, wie es um die Psyche dieses Mannes bei dieser Gelegenheit hat er den Weltmeis- Schulter höllische Schmerzen gelitten, was bestellt ist, sobald ein Tier seine Wege ter dermaßen gefoltert, dass dem um ein ihn zur Aufgabe zwang. Aber vom Tisch kreuzt? Wie ein roter Faden ziehen sich Haar die Beine weggeknickt wären. Sieger ist die Angelegenheit deshalb noch lan- diesbezüglich bewegende Geschichten nach Punkten: Maske. Zanobio Rocchigia- ge nicht. durch sein Leben, aber auch hierbei immer ni saß direkt am Ring. Er weiß: „Wenn der Überhaupt: Supraspinatussehne. Was dasselbe Spiel: Er ist vom Glück verlassen. Kampf über 15 Runden geht, ist Maske im soll der Quark? Zanobio Rocchigiani hat Einmal lief ihm eine Katze zu, die zog er Koma.“ Mindestens. „Oder vielleicht tot.“ mittlerweile seinen Trainingsanzug am Hals groß. Dann wurde sie von epileptischen Oder Michalczewski. Michalczewski war gelüftet und eine Flasche 98er Valpolicella Anfällen heimgesucht, und eines Nachts der Gipfel. Michalczewski, „dieser Idiot“ entkorkt. Das Thema bringt ihn in Rage. Er kippte sie vom Kratzbaum. Später kam (Zanobio Rocchigiani), hängt, 1996 am war schließlich auch mal Boxer, 1959 wur- eine Ratte des Wegs, Rocky nahm sie auf Hamburger Millerntor, ausgepumpt am de er Italienischer Meister im Welterge- und gab ihr den Namen „Clay Junior“. Es Gegner, Rocky hat sich in ihn verkeilt, und wicht, er weiß also schon sehr genau, wo- kam der Tag, an dem die Ratte mit dem der Ringrichter, „die dicke Schwein“ (Za- von er spricht: Wer ein richtiger Champ ist, Haushund, einem Huskie, allein in der nobio Rocchigiani), gibt einen merkwürdi- der kneift die Arschbacken zusammen. Wohnung zurückblieb. Rocky fand Clay gen Laut von sich. Rocky haut noch einmal Einer wie sein Graciano zum Beispiel. Junior schließlich mit gebrochenem Ge- zu, Michalczewski fällt wie auf Komman- Zu Amateurzeiten sei der mal zur Deut- nick auf – „da hätt er fast jeheult“. do hin und bleibt erst mal liegen. Sieger durch Disqualifikation: Michalczewski. Rocky soll ein Trennkommando ignoriert und unrechtmäßig nachgeschlagen haben. Nun ist es an der Zeit, eine Schande der Boxgeschichte gerade zu rücken. Nicht mal im „Rockys Inn“, einer Gaststätte neben Bahngleisen, die sich etwas irreführend als „Das Berliner Boxsport-Café“ ausgibt, sind noch Karten zu haben. Der Pächter, Rockys Bruder Ralf, ist in Berlin zwar noch an einem anderen Etablissement beteiligt (nach Auskunft von Renate Rocchigiani handelt es sich dabei um eine „reine Pennerkneipe“, die jedoch schon deshalb gut läuft, „weil Pen- ner immer Durst haben“), aber er küm- mert sich zurzeit vorwiegend um sach- gerechte Ausstattung des Hauptlokals. Die Fenster hat er zugehängt, mit einem Welt- meistergürtel zum Aufkleben und Plakaten („Die Abrechnung“), von denen der Bru- der finster herniederguckt. In welcher Gefühlslage Graciano Rocchigiani seinem Gegner bei der Re- vanche gegenübertritt, ließ er erahnen, als der ihm neulich bei einer ersten Präsenta- tion unter die Augen trat. „Hör mal, Da-

BONGARTS riusz, es gibt schlaue Deutsche und schlaue Gegner Michalczewski, Rocchigiani (1996): „Du bist ein dummer Pole“ Polen. Du bist ein dummer Pole.“ Mehr weiß selbst die Mutter nicht. Vor- schen Meisterschaft gefahren, obwohl er Rocky ist nun mal nicht der Charakter, letzten Sonntag hat sich der Sohn aus dem eine Wunde am Arm trug, die noch mit der so etwas an die große Glocke hängen fernen Trainingscamp zwar mal gemeldet. Nähten zusammengehalten wurde. Zum würde. Quatscht nicht groß rum wie diese Zu erfahren war im Laufe des Gesprächs Finale konnte er nicht mehr antreten, weil Schöngeister der neuen Zeit, die immer so allerdings nur, dass ihm der ständige Ge- die ganze Chose wieder aufgerissen war tun, als sei Boxen eine Körperertüchtigung sundheitsfraß gehörig aufs Gemüt schlägt. und alles mordsmäßig geblutet hat. Und für Studierte. Deshalb, meint Frau Rocchi- Renate Rocchigiani hat trotzdem keine warum? Weil er im Halbfinale nicht Ruhe giani, würden viele Menschen glauben, ihr Bange. Diesmal nicht. gab, bis der Gegner „k. o. jekloppt“ war, Junge „wär doof. Aber der is nich doof“. Wenn sie dem Jungen in vorangegange- wie die Mutter noch im Gedächtnis hat. Bloß etwas eigenwillig, was sich bereits ner Zeit mal beim Boxen zusah, dann hielt Oder: Hat Rocky vielleicht aufgegeben, in der Stunde seiner Geburt anzukündi- sie es für gewöhnlich so, dass sie nach ei- damals, als es um die Europameisterschaft gen schien. „Der kam mit die Beene zu- ner Runde aus der rannte. Sie er- ging und schon nach der zweiten Runde ein erst“ – die Mutter wertet das als Signal trägt das einfach nicht, „ick werd dann im- Auge zugeschwollen war? „Hätt er machen dafür, dass Rocky schon immer gemacht mer janz kalt“. können, sah ja nüscht mehr“, meint Re- hat, was er wollte. „Multimillionär“ könn- Letzte Woche war sie extra beim Fri- nate Rocchigiani. Hat er aber nicht. So ist te der Junge nach ihrer Ansicht sein, hät- seur. Denn am Samstag hat sie etwas vor. er eben. Schreibt bloß keiner. te er es sich bloß gestattet, zwischendurch Morgens fährt sie mit der Bahn nach Han- Und warum nicht? Weil es keiner hören auch mal „gegen ein paar Flaschen“ in den nover, und abends wird sie hingucken, will, leider. Wenn es in diesem Geschäft um Ring zu gehen. Was war stattdessen? Woll- bis zum Ende. Ihr dräut da nämlich et- die Wahrheit ginge, lehrt die Mutter, dann te immer nur die Großen. Der Lohn? Be- was: „Ick nehm mal an, der Pole hat hätte Graciano Rocchigiani längst einmal trug. Wo man hinguckt: Betrug. Schiss.“ Matthias Geyer

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