Marie-Amélie zu Salm-Salm Fritz von Uhdes Näherinnen und die Suche nach Spiritualität im Alltäglichen

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in Zeiten der aufblühenden Industrie, wurden in Europa Stimmen gegen die Macht der Maschine und die serielle Massenproduktion laut. Die damit einhergehende Rückbesinnung auf die Qualitäten des Handwerks spiegelte sich auch in der Motivwahl vieler Gemälde. Insbesondere das Motiv der Näherin fand vor diesem Hintergrund Verbreitung. Künstler wie , Édouard Vuillard, und eben Fritz von Uhde widmeten sich diesem beliebten Sujet. Zeitgleich hatte die Genremalerei, die im 17. Jahrhundert in den Niederlanden ihre erste Blüte erlebte, ein Revival. So erlangten die Inszenierung des Alltags sowie die Bedeutung von Textilien und Licht mit den Freilichtmalern im 19. Jahrhundert eine erhöhte Aufmerksamkeit und neue Erscheinungsform. In dem Gemälde „Holländische Nähstube“ aus dem Jahr 1882 von Fritz von Uhde verschmelzen ein Genre und ein Interieur mit dem Motiv der Näherin. In stille Arbeit versunken, sitzen im Vordergrund des Ölgemäldes vier Frauen, die nähen, um einen Tisch in einer lichtdurchfluteten Stube. Eine blickt von der Arbeit auf und wendet sich einer stehenden Frau zu, die vom linken Bildrand angeschnitten ist. Rechts im Bild öffnet sich der Blick auf ein Nebenzimmer, in dem eine weitere Näherin – umgeben von weißen Textilien – am Tisch sitzt. Das Auge des Betrachters ertastet die einzelnen Elemente des Bildes: die Figuren, den Krug auf dem Wandschrank mit seinen Lichtreflexen, den Vogelkäfig, die Blu- menarrangements, die Katze, die Schuhe und die weißen Stoffmassen. Die Kom- position wirkt wie ein Stillleben, in dem jedes Element seinen Platz hat und doch in der Gesamtheit zu verschwinden scheint. So wie sich auch das Individuum in der Gemeinschaft der kollektiven Arbeit verliert. Wer näht, schafft etwas Neues oder repariert etwas Altes, in diesem Sinne kann Nähen auch sinnbildlich für ein Streben nach Ganzheit und Heilung gesehen werden. Das Bild von Uhde zielt zudem auf koloristische Werte. Das durch das Fenster scheinende Sonnenlicht erleuchtet nicht nur den Innenraum und wirft Lichtstreifen an die Wand, sondern lässt auch die weißen, durch den Raum verteilten Wäschestücke hell aufschim- mern. Das Fenster gewährt zudem einen Blick in die Natur und verbindet somit die Außen- mit der Innenwelt. Uhde, der heute für seine Szenen des „gewöhnlichen“ Lebens, religiöse The- men und Kinderporträts bekannt ist, kam über Umwege zur Malerei. Nach einem ersten Lehrjahr an der Akademie in schlug er eine zehnjährige Offiziers- laufbahn beim Militär ein. Als später seine Versuche scheiterten, bei Makart in Wien und bei Piloty in München zu studieren, beschloss er, sich selbst künstlerisch weiterzubilden, und studierte die Werke der alten Holländer in den Museen. 1878 reiste er nach , wo er zwei Jahre im Atelier des Ungarn Mihály von Munkácsy, der der Schule von Barbizon nahestand, tätig war. Seit 1880 lebte Uhde in München, wo er Liebermann kennenlernte und Mitbegründer der Münchener (1892) wurde und ab 1899 ihr erster Vorstand. Als königlicher Professor erhielt er einen Lehrauftrag an der Kunstakademie. Uhde verwitwete früh und war alleinerziehen- der Vater von drei Töchtern, die ihm oft als Inspiration für seine Bilder dienten. Das Bild „Holländische Nähstube“ jedoch soll unter anderem durch Gemälde Liebermanns von Näherinnen inspiriert worden sein, noch bevor Uhde im Som- mer 1882 auf Anraten des Kollegen nach Holland reiste und vor Ort die Motive studierte. Uhde stellte dieses Gemälde der Näherinnen auf dem Pariser Salon aus und erhielt dafür positive Kritik. Neben Max Liebermann, und zählt Fritz von Uhde heute zu den Protagonisten der impressionistischen Richtung in Deutschland. Obgleich die französischen Impressionisten, die ihnen als Vorbilder dienten, die Pleinairmalerei bevorzugten, sind bei Vertretern des deutschen Impressionismus auch Interieur-Darstellungen zu finden. Allen gemein ist das Interesse an der atmosphärischen Wirkung des Lichts.

Grisebach — Frühjahr 2019 95 94 N 179 Fritz von Uhde werke des neunzehnten Jahrhunderts. 4 Bände. Wolkenburg 1848 – 1911 München Dritter, unveränderter Nachdruck, Hofheim am Taunus, H. Schmidt & C. Günther, 1979 (zuerst Fr. v. Boetticher's Verlag, Dresden 1891–1901), hier 2. Band Holländische Nähstube. 1882 (Zweite Hälfte), S. 907, Nr. 8 / Fritz von Ostini: Uhde. Öl auf Leinwand. Doubliert. 101,5 × 136,5 cm Bielefeld/Leipzig, Verlag von Velhagen & Klasing, 1902 (40 × 53 ¾ in.). Oben rechts signiert: F Uhde. (= Künstler-Monographien, hrsg. v. H. Knackfuß, Bd. [3244] Gerahmt. LXI), S. 25-26 / Official Illustrations of Selected Works Provenienz in the Various National Sections of the Department of Privatsammlung, England (1886) / L. Christ Delmonico, Art. St. Louis, Universal Exposition, Art Palace, 1904, New York (1893) / Museum of Fine Arts, Saint Louis doppelseitige Abb. vor S. 31 / Anton Springer u. 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