Plenarprotokoll 12/108

Deutscher

Stenographischer Bericht

108. Sitzung

Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Inhalt:

Zusatztagesordnungspunkt 5: ordneter und der Fraktion der SPD: Schaf- Abgabe einer Erklärung der Bundesre- fung eines Arbeitsschutzgesetzbuches gierung Aktuelle Entwicklung in der (Drucksache 12/2412) Europapolitik Manfred Reimann SPD 9251 B Dr. , Bundeskanzler . . . . 9217B Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . 9254 A Björn Engholm, Ministerpräsident des Lan Petra Bläss PDS/Linke Liste ...... 9255 C des Schleswig-Holstein ...... 9221 B Dr. Gisela Babel F.D.P...... 9257 A Dr. F.D.P...... 9224 C 9258 C Peter Conradi SPD ...... 9225 D Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA Peter Kittelmann CDU/CSU ...... 9226 B SPD 9261 B Dr. PDS/Linke Liste . . . . 9228A Dr. Alexander Warrikoff CDU/CSU . . 9263 C Ingrid Matthäus-Maier SPD. . . . 9228B, 9242 C Ottmar Schreiner SPD ...... 9265 B Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 9230 C Zusatztagesordnungspunkt 6: Dr. , Bundesminister AA . . 9232 C Beratung der Beschlußempfehlung und Ingrid Matthäus-Maier SPD 9235 A des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Dr. CDU/CSU . . . 9236B Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . 9236 C Liste: Antifaschistische und antirassisti- sche Aufklärungskampagne (Drucksa- CDU/CSU ...... 9238 C chen 12/1193, 12/3268, 12/3292) Dr. Thomas Goppel, Staatsminister des Frei- Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 9266 A staates Bayern ...... 9240 C Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI , 9267 A Dr. Norbert Wieczorek SPD ...... 9242 D - Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 9267 D Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 9244 D Ulrich Irmer F.D.P...... 9246 B Uwe Lambinus SPD 9268 C Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . . 9247 B Dr. PDS/Linke Liste 9269 A Michael Stübgen CDU/CSU 9248 B Wolfgang Lüder F.D.P. 9269 D Ortwin Lowack fraktionslos ...... 9250B Nächste Sitzung ...... 9270 D Tagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Abgeordneten Anlage , Dr. Ulrich Böhme (Unna), Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abge Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 9271* A

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108. Sitzung

Bonn, den 25. September 1992

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Sitzung ist Zweitens. Nicht minder bemerkenswert ist es, daß eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kolle- die Menschen in den französischen Grenzregionen zu gen! Deutschland, im Elsaß und in Lothringen, mit großer Mehrheit mit Ja gestimmt haben. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- Gerade sie, die stets als erste von den Bruderkriegen rung der Vergangenheit betroffen waren, haben ein beson- Aktuelle Entwicklung in der Europapolitik deres Gespür für die historische Bedeutung des euro- Dazu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion päischen Einigungswerkes, für gute Nachbarschaft der SPD sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und offene Grenzen. NEN vor. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä- Meine Damen und Herren, in dieses Bild paßt auch, rung eine Zeit von zweieinhalb Stunden vorgesehen. daß sich die dänische Bevölkerung im Grenzraum zu Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist das so Schleswig-Holstein bei dem Referendum im Juni für beschlossen. Maastricht entschieden hatte. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Drittens. Ich halte es für besonders wichtig, daß sich hat der Herr Bundeskanzler. die junge Generation der 18- bis 35jährigen klar für den Vertrag von Maastricht entschieden hat. Sie hat Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! verstanden, daß es vor allem um ihre Zukunft geht, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Euro- daß Europa für ihr Leben in Frieden und Freiheit päische Gemeinschaft steht in diesen Tagen und entscheidend ist. Wochen in einer für unsere gemeinsame Zukunft entscheidenden Bewährungsprobe. Wenn wir jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. nicht gemeinsam die Ch ance nutzen, die der Vertrag sowie des Abg. Dr. von Maastricht bietet, wird die Gemeinschaft um viele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jahre zurückgeworfen werden. Meine Damen und Herren, es kommt nunmehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) entscheidend darauf an, den Vertrag von Maastricht über die Europäische Union wie vorgesehen bis zum Deshalb muß es unser Ziel sein, den in diesem Vertrag Ende dieses Jahres zu ratifizieren und ihn zum 1. Ja- festgelegten Kurs konsequent zu halten. nuar 1993 in Kraft zu setzen. Wir werden hier im Das Ja Frankreichs zum Vertrag von Maastricht vom Deutschen Bundestag am 8. Oktober Gelegenheit vergangenen Sonntag hat uns hierin bestärkt. Ich haben, eine intensive und eingehende Diskussion möchte auch von dieser Stelle aus die Entscheidung über den Vertrag zu führen. des französischen Volkes bei dem Referendum über Mit der Initiative zu den beiden Regierungskonfe- den Vertrag von Maastricht noch einmal ausdrücklich renzen über die sowie über die begrüßen. Politische Union Wirtschafts - und Währungsunion haben wir uns Dabei möchte ich drei Aspekte, die sich aus der gemeinsam mit Frankreich unserer besonderen Ver- Analyse der Volksbefragung in Frankreich ergeben, antwortung für Europa gestellt. Gerade angesichts des hervorheben: Umbruchs in Mittel - , Ost - und Südosteuropa mit all Erstens. Die ältere Generation, die das Leid und die seinen Risiken war diese Initiative ein klares und Schrecken des Zweiten Weltkrieges — zum Teil noch unmißverständliches Zeichen dafür, daß es in Westeu- des Ersten Weltkrieges — erleben mußte, hat mit ropa kein Zurück zu den machtpolitischen Rivalitäten deutlicher Mehrheit für die Europäische Union vergangener Zeiten geben darf. Die Lehre aus dieser gestimmt. Ihre Stimme hat auch für uns besonderes Erfahrung bestand und besteht in dem immer engeren Gewicht. Zusammenschluß der europäischen Völker. 9218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Jean Monnet, den viele den „Vater Europas " nen- Zweitens die stufenweise Entwicklung einer Wirt- nen, hat 1944 — noch mitten im Zweiten Weltkrieg — schafts - und Währungsunion: Wir können unsere hierzu geschrieben: wirtschaftliche und monetäre Stabilität nur sichern und unseren Wohlstand nur bewahren, wenn wir mit Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn dem Ziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Wäh- Staaten sich nur auf der Grundlage nationaler rungspolitik immer enger zusammenarbeiten. — Kei- Souveränität und der daraus folgenden Politik ner in Europa — ich wiederhole: keiner — sollte sich des Prestiges und des wirtschaftlichen Schutzes der Illusion hingeben, daß er dazu noch allein in der neu gruppieren. Lage ist! Gerade die Ereignisse der letzten Wochen Weiter betonte er: haben dies unterstrichen. — Nur so können wir auch unsere gemeinsamen Interessen in der Weltwirtschaft Europa muß geeint werden, und nicht nur durch wahren. Zusammenarbeit, sondern durch freiwillige Übertragung der Souveränität der europäischen Drittens die Erarbeitung einer gemeinsamen Poli- Nationen an eine Art zentrale Union, eine Union, tik in einem so wichtigen Bereich wie dem der inneren die Macht hat, Zolltarife zu ermäßigen, einen Sicherheit: Immer mehr Menschen machen sich große größeren europäischen Markt zu schaffen und Sorgen wegen der Ausbreitung der internationalen Ich das Wiederaufleben des Nationalismus zu verhin- organisierten Kriminalität und der Drogenmafia. dern. setze mich seit Jahren dafür ein, den Kampf dagegen mit aller Entschiedenheit auch auf europäischer (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Ebene aufzunehmen. Nur mit einer gemeinsamen SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Politik und einer europäischen Polizeiorganisation haben wir eine Chance, diesen Kampf zu gewin- Jean Monnet, Konrad Adenauer, Alcide de Gas- nen. peri, Paul - Henri Spaak und viele andere aus der Gründergeneration haben recht behalten: Das euro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. päische Einigungswerk hat in den letzten 40 Jahren sowie bei Abgeordneten der SPD) für uns alle entscheidend zu Frieden, Stabilität, Meine Damen und Herren, gleichermaßen erfordert Sicherheit und wirtschaftlichem Wohlstand beigetra- die dramatisch zunehmende Zahl von Asylsuchenden gen. Es hat uns Deutschen zugleich die Chance zur aus dem Süden und aus dem Osten, die vor allem aus Wiedervereinigung unseres Vaterlandes eröffnet; wirtschaftlichen Gründen nach Westeuropa — vor denn es schuf jenes Vertrauen in das demokratische allem zu uns nach Deutschland — kommen, dringend Deutschland, das Voraussetzung für die Zustimmung eine europäische Antwort. Die bisherigen Erfahrun- unserer Nachbarn, Partner und Freunde zur deut- gen machen mehr als deutlich, daß nur ein gemeinsa- schen Einheit war. mes europäisches Handeln das Asylproblem erfolg- Meine Damen und Herren, der Vertrag von Maas- reich lösen kann. Wir alle wissen: Bei uns setzt dies die tricht steht voll und ganz in der Kontinuität des Änderung des Grundgesetzes voraus. europäischen Einigungswerkes, einer Kontinuität, Viertens. Der Vertrag von Maastricht vertieft die die von Anfang an eine klare politische Dimension europäische Zusammenarbeit vor allem dort, wo hatte. Mit diesem Vertrag haben wir gleichzeitig die Schwächen in den letzten Jahren sichtbar wurden. Grundlagen dafür geschaffen, mit einer handlungsfä- Dies gilt für den Umweltschutz, dessen Bedeutung higen Europäischen Union die Herausforderungen auch unsere Partner in den letzten Jahren mehr und der Zukunft zu meistern. Jeder in Europa muß sich mehr erkannt haben. Wir alle erinnern uns noch darüber im klaren sein: Alles, was wir bisher gemein- daran, welche Schwierigkeiten wir vor einigen Jahren sam wirtschaftlich erreicht haben, können wir auf hatten, als es um die Durchsetzung des Katalysators in Dauer nur bewahren, wenn wir es auch politisch der EG ging. Heute ist eine entsprechende Ausrü- absichern. Eine Wirtschaftsunion ist nur lebensfähig, stung von Neufahrzeugen im Europa der Zwölf eine wenn sie sich auf eine Politische Union stützen Selbstverständlichkeit. kann. Fünftens. Maastricht bringt auch Fortschritte bei der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Verstärkung der demokratischen Kontrolle durch das SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Europäische Parlament. Aber ich füge hinzu: Diese Fortschritte reichen aus unserer Sicht nicht aus. Wir Meine Damen und Herren, fünf Ziele stehen im haben das auch während der Vertragsverhandlungen Vordergrund des Vertrages von Maastricht: immer wieder deutlich gemacht. Maastricht ist inso- fern nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir Erstens die Entwicklung einer gemeinsamen werden — gerade angesichts der Erfahrungen der Außen- und Sicherheitspolitik: Gerade aus deutscher Sicht — vor dem Hintergrund unserer geographischen letzten Wochen — noch viel Überzeugungsarbeit bei Lage und unserer Geschichte — ist dies eine Schick- unseren Partnern leisten müssen, um in den nächsten salsfrage. Das Ende des Kalten Krieges und des Jahren, spätestens aber im Rahmen der für 1996 Kommunismus bedeutet keineswegs, daß wir jetzt vorgesehenen Regierungskonferenz, die demokrati- weniger wachsam zu sein brauchen. Allein der Krieg sche Kontrolle der europäischen Institutionen durch im früheren Jugoslawien ist eine ernste Warnung für eine weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments durchgreifend zu verbessern. Ich bin uns alle. Es ist wahr, daß aus der Lage und Entwick- lung in Ost- und Südosteuropa Risiken und Unwäg- sicher, dies ist auch die gemeinsame Meinung des barkeiten für ganz Europa entstehen können. Wir Hohen Hauses. können sie nur gemeinsam meistern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9219

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die nach Möglichkeit auf der Ebene ge troffen werden, die Diskussion während der vergangenen Monate in allen ihnen am nächsten steht. Nur dies garantiert zugleich Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Sachnähe und Effizienz. — auch bei uns in Deutschland — hat gezeigt, wie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) viele Mißverständnisse, Unsicherheiten, ja Ängste im Hinblick auf den Vertrag noch bestehen. Beim letzten Europäischen Rat in Lissabon wurde auf unseren Antrag ein Arbeitsprogramm zur Umset- Viele Menschen befürchten ein zentralistisches zung des Prinzips der Subsidiarität beschlossen. Es ist Europa. Sie fragen sogar: Werden wir in einem unbedingt notwendig — auch das ist eine Erfahrung solchen Europa noch Deutsche, Italiener, Belgier oder der letzten Monate —, daß wir diesen Beg riff, der so Franzosen sein? Die Antwort des Vertrages ist eindeu- schwer verständlich ist, in der Praxis rasch mit Leben tig: Wir bleiben fest in unserer Heimatregion verwur- zelt; wir bleiben Deutsche, Italiener, Belgier und erfüllen und damit auch zentralistische Fehlentwick- lungen korrigieren. Es geht insgesamt darum, ein Franzosen — und wir sind zugleich Europäer. vernünftiges Gleichgewicht herzustellen, in dem Wir müssen den Menschen mehr noch als bisher Gemeinde und Region, Nationalstaat und Europäi- nahebringen, daß das Europa von Maastricht für sie sche Gemeinschaft ihre jeweilige Verantwortung da ist, daß Maastricht für ein demokratisches, für ein wahrnehmen und so den Interessen der Bürger am bürgernahes Europa steht, das die nationale Identität besten dienen. — die Kultur, die Traditionen und die Geschichte — aller Mitgliedstaaten und nicht zuletzt auch ihrer Dies bedeutet, daß die höhere Ebene nur dann tätig Landschaften und Regionen achtet und fördert. Wir werden darf, wenn es unabweisbar notwendig ist, und haben mit diesem Vertrag eben nicht den Grundstein daß sie sich nicht anmaßen darf, alles bis ins letzte zu einem europäischen Über-Staat gelegt, der alles Detail regeln zu wollen. Das gilt für alle, natürlich einebnet, sondern wir haben uns auf ein Europa auch für Brüssel. Wir müssen wegkommen von einer verpflichtet, das auf den Grundsatz „Einheit in Viel- Tendenz, alles und jedes dort regeln zu wollen. falt" gegründet ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul Das heißt aber auch — wir sollten dies fairerweise [SPD]) hinzufügen —, daß nationale Verwaltungen ihre Ver- Der Vertrag von Maastricht stärkt zugleich die Rolle antwortung dort, wo sie gefordert ist, wahrnehmen der Regionen, bei uns der Bundesländer. Innerstaat- und die unbequemen Dinge nicht einfach auf die lich tragen wir dem durch die angestrebte Grundge- Gemeinschaft abschieben. setzänderung Rechnung. Durch den zukünftigen Wir alle sollten uns selbstkritisch fragen, welchen Art. 23 werden die Interessen der Länder gesichert Eindruck die oft zu beobachtende Regelungswut bei und zugleich elementare Prinzipien unserer gesamt- den Bürgern hinterläßt, und ob wir nicht Gefahr staatlichen Ordnung als Ziel für die Europäische laufen, das europäische Einigungswerk dadurch in Union festgeschrieben. Aber — und dies möchte ich Mißkredit zu bringen. Dieser Vorwurf richtet sich mit allem Nachdruck hinzufügen — wir müssen in das nicht nur gegen Brüssel; das gilt gleichermaßen auch europäische Einigungswerk weitaus stärker als bisher für die Mitgliedstaaten. auch die Städte und Gemeinden in Deutschland und in Europa einbeziehen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) So manche europäische Regelung, die bei unseren Bürgern Kopfschütteln hervorruft, geht nämlich in Föderalismus — dies ist ein altes Thema, und es hat Wahrheit oft auf nationale Vorstöße zum Schutz eige- mit Parteipolitik nichts zu tun— betrifft ja nicht nur die ner — auch wirtschaftlicher — Interessen zurück. Beziehung zwischen Bund und Ländern, sondern gleichermaßen die Beziehung zwischen Ländern und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Kommunen. Bedeutung und Verantwortung der Län- sowie bei Abgeordneten der SPD — Ingrid der und Gemeinden müssen vor allem in der Zusam- Matthäus-Maier [SPD]: Die Mehrwertsteuer menarbeit im grenznahen Raum sichtbar werden. erhöhung!) Hier wird — jeder kann es erkennen — schon heute Meine Damen und Herren, es wäre für mich- ein ein Stück europäischer Zukunft erfolgreich prakti- leichtes, hier eine ganze Liste von Beispielen vorzu- ziert. Denken Sie nur an die Kooperation zwischen tragen, wo aus allen gesellschaftlichen Gruppen in Baden und dem Elsaß sowie dem Baseler Raum; Deutschland über das Europäische Parlament, über denken Sie an das enge Zusammenwirken zwischen den Deutschen Bundestag — und aus ihm heraus — dem Saarland, Lothringen und Luxemburg oder im sowie über die Parlamente der Bundesländer Vor- Aachener Drei-Länder-Eck — oder auch an die guten schläge gemacht worden sind und werden mit dem Beziehungen zwischen Schleswig-Holstein und dem Ziel, bestimmte Interessen, die ja auch ganz legitim Süden Dänemarks. sind, auf europäischer Ebene durchzusetzen. Ich (Beifall des Abg. [SPD]) wende mich hier nur vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit gegen den pauschalen Vorwurf, „Brüs- Meine Damen und Herren, unsere freiheitliche sel" sei an allem schuld. Demokratie lebt vom Engagement und der Eigenver- antwortung der Bürger. Ihre Teilhabe am politi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. schen Geschehen setzt voraus, daß Entscheidungen sowie bei Abgeordneten der SPD) 9220 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Ich plädiere vielmehr für eine faire Betrachtungs- staaten, die über einen längeren Zeitraum hinweg weise. Wenn man ehrlich ist, muß man zugeben, daß entstanden waren. Trotz dieser Unterschiede blieben hier alle Mitgliedstaaten der EG, auch die Bundesre- die EWS-Wechselkurse über viele Jahre unverändert. publik Deutschland, seit Gründung der Gemeinschaft Wir wissen jedoch, daß es sich um ein System mit immer wieder gesündigt haben. Aus solchen Fehlern festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen han- müssen wir lernen und die notwendigen Konsequen- delt — und nicht um eine vorweggenommene euro- zen ziehen. päische Währungsunion — auch das kann man gar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht oft genug betonen. Der Vertrag von Maastricht hat den Rahmen und (Beifall des Abg. Dr. Norbert Wieczorek die Grundlagen für die Korrektur von Fehlentwick- [SPD]) lungen und eine klare Ausrichtung hin zu einem Dies gilt grundsätzlich bis zum Ende der zweiten Stufe wirklichen Europa der Bürger geschaffen. Es wird der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. eine wesentliche Aufgabe der Sondertagung des Beim Wechselkurs zwischen dem französischen Europäischen Rats im Oktober wie der Arbeit der Franken und der D-Mark besteht, wie beide Regie- kommenden Monate sein, hierfür die Weichen zu rungen und Zentralbanken gemeinsam festgestellt stellen. haben, kein Anpassungsbedarf, weil in Frankreich Der Vertrag von Maastricht ist nach meiner festen überzeugende Stabilitätserfolge erzielt worden sind. Überzeugung eine geeignete und tragfähige Grund- Die Preis- und Kostensituation ist dort heute in wich- lage für die europäische Einigung. Wir werden an ihm tigen Bereichen — auch das sage ich hier gerne einmal festhalten. Es kommt jetzt darauf an, ihn richtig in die — günstiger als bei uns in Deutschland. Tat umzusetzen. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Unterstreichen möchte ich, daß Spannungen im Unruhe an den europäischen Devisenmärkten hat EWS kein Grund sind, das System selbst in Frage zu verständlicherweise zu Fragen nach der weiteren stellen. europäischen Integration und der Umsetzung des Maastrichter Vertrages geführt. Es ist richtig, daß die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Entscheidungen der italienischen und britischen sowie bei Abgeordneten der SPD) Regierung, die Interventionen an den Devisenmärk- Das EWS war eine wichtige Grundlage für die Inte- ten auszusetzen, ungewöhnlich waren. Aber sie grationsfortschritte des letzten Jahrzehnts. waren eine notwendige Reaktion auf die auf gelaufe- nen volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte und die (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat es vom Umfang her bisher nicht gekannten spekulativen gemacht?) Devisenströme. Das gilt insbesondere für die Vollendung des Binnen- Die Gründe für die Spannungen im EWS sind marktes und damit auch für die Investitions- und vielfältig. Einseitige Schuldzuweisungen, wie sie in Wachstumsimpulse, die hiervon ausgegangen sind diesen Tagen gelegentlich in Europa zu hören sind, und noch ausgehen. Das EWS ist zugleich die Grund- gehen an der Sache vorbei. lage, von der aus wir das nächste Ziel — die Wirt- schafts- und Währungsunion — ansteuern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Turbulenzen auf den Devisenmärkten haben zu Die Ereignisse der letzten Wochen waren natürlich einer schwierigen Situation geführt. Aber gerade nicht die Folge der deutschen Stabilitätspolitik. Im diese Erfahrungen haben das Konzept des Vertrags Gegenteil, Stabilitätspolitik ist das Fundament für das von Maastricht für die Wirtschafts- und Währungs- Vertrauen auf den Devisenmärkten und für geordnete union, wie ich denke, eindrucksvoll bestätigt. Währungsverhältnisse. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Schlußfolgerung, meine Damen und Herren, Ich weiß, wie schwierig die Aufgabe der Deutschen lautet einmal mehr: Ein funktionsfähiger einheitli- Bundesbank in den letzten Wochen und Tagen war. cher Währungsraum kann nur durch gleichgerichtete Sie stand immer wieder vor schwierigen Entscheidun- wirtschaftspolitische Anstrengungen, insbesondere gen. Ihre vorrangige Aufgabe als unabhängige über eine entschlossene Stabilitätspolitik jedes einzel- Notenbank ist und bleibt es, die Geldwertstabilität in nen Mitgliedslandes, erreicht werden. Es zeigt- sich Deutschland zu sichern. jetzt, wie wichtig es war und bleibt, daß in den Vertrag (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) von Maastricht klar formulierte Prüfsteine für den Sie hat bei der Erfüllung dieser Aufgabe die volle Eintritt in die Währungsunion aufgenommen wur- den. Unterstützung der Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]) Deutschland leistet damit zugleich einen entschei- denden Beitrag zu einer Stabilitätsgemeinschaft und Wer diese strengen Kriterien aufweichen will, der muß zu dauerhaftem Wachstum in Europa. wissen, daß dies schlimme Folgen hätte. Meine Damen und Herren, die derzeitigen Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bleme im EWS sind Folge unterschiedlicher wirt- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, unge- schaftlicher Entwicklungen zwischen den Mitglied achtet aller Schwierigkeiten in diesen Tagen dürfen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. 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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl wir unser großes Ziel nicht aus den Augen verlieren. Die Mehrheit der französischen Wählerinnen und Es ist und bleibt eine Aufgabe von historischer Bedeu- Wähler hat Europa einen großen Dienst erwiesen. tung für unsere Zukunft, die von uns gewünschte (Beifall bei der SPD) Europäische Union zu vollenden. So will es auch unser Grundgesetz. Es fordert uns auf, „in einem Wenn wir uns erinnern: Drei Tage vor der Kriegser- vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". klärung Deutschlands an Frankreich im Jahre 1914 wurde Jean Jaurès in Frankreich von einem Attentäter Ich weiß, daß der tiefgreifende Wandel in Europa, erschossen. Vorher wurde Jaurès als „Jaurès der dessen Zeuge wir alle seit einigen Jahren sind, viele Deutsche" beschimpft. Menschen in Europa und auch in Deutschland verun- sichert. Sie fragen sich, ob nicht das Tempo der Wenn Sie ein anderes Beispiel nehmen: In den Veränderungen zu schnell sei. Meine Gegenfrage ist: letzten Tagen der Weimarer Republik schrieb Carlo Können wir uns überhaupt eine langsamere Gangart Mierendorff in einem Neujahrsartikel: „Besinnung leisten? Schon einmal, bei der Wiedervereinigung auf Europa tut not". unseres Vaterlandes, haben wir erlebt, daß es darauf Was wäre Europa erspart geblieben, wenn man ankommt, eine einmalige Chance beherzt zu ergrei- damals auf solche französischen und deutschen Euro- fen. Ich bin überzeugt, daß dies auch im Blick auf die päer rechtzeitig gehört hätte! europäische Einigung so gilt. Abwarten wäre die falsche Antwort, und Stillstand wäre Rückschritt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, Besinnung auf Europa tut auch heute wieder not. Es geht dabei inzwischen um viel mehr als Deshalb müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern nur um den Vertrag von Maast richt. Es geht um das mutig nach vorn gehen. Andernfalls bestünde die Zukunfts- und damit das Selbstbewußtsein des neuen Gefahr, daß wir schon bald von den Ereignissen Deutschland, und es geht um die Zukunft des gesam- überrollt werden, ten Kontinents Europa. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts steht die Europäische Gemeinschaft in einer besonderen Ver- In den Tagen, als in Berlin die Mauer fiel, hat antwortung für den ganzen Kontinent. Je schneller Europa in einer unglaublichen Einmütigkeit ja zu wir sie in die Lage versetzen, dieser Verantwortung Deutschland gesagt. Jetzt ist es an der Zeit, daß besser gerecht zu werden, desto erfolgreicher können Deutschland diese Anwort zurückgibt und uneinge- wir die Herausforderungen von Gegenwart und schränkt ja zum wachsenden Europa sagt. Zukunft bestehen. Polen und Ungarn, Tschechen und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Slowaken und viele andere in Mittel-, Ost- und F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Südosteuropa setzen ihre Hoffnung auf die Europäi- NEN) sche Gemeinschaft, auf die Einigung Europas. Wir Allen Kritikern im Ausland — und es gibt inzwi- dürfen diese Hoffnung nicht enttäuschen. schen wieder, wie ich finde, mehr als genug — muß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. man sagen: Wer Furcht hat vor Deutschland, und sei sowie bei Abgeordneten der SPD und des sie noch so unbegründet subjektiv vorhanden, der Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/ muß wissen: Ein integriertes Deutschland in einem DIE GRÜNEN]) integrierten Europa ist in der Zukunft der beste Weg Die Außen-, die Sicherheits- und die Europapolitik für alle Nachbarn und die Deutschen selbst. entscheiden über unser aller Schicksal. Gerade wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschen können uns am wenigsten provinzielles der F.D.P.) Denken und nationalen Egoismus leisten. Ich teile die Auffassung, die auch der Bundeskanz- Die Bundesregierung und ich selbst werden in den ler zum Ausdruck gebracht hat: Nationale Gefühle kommenden Wochen und Monaten deshalb mit aller und europäische Verantwortung, Liebe zur Heimat Kraft dafür arbeiten, daß der Vertrag von Maastricht und Weltoffenheit schließen sich nicht aus. Die politi- wie vorgesehen in Kraft gesetzt wird. Deutschland ist schen Farben des neuen Deutschland in der Zukunft unser Vaterland, Europa unsere Zukunft. müssen republikanisch, sozial und europäisch sein. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Mir scheint in diesen Tagen noch wichtiger zu sein, der F.D.P.) daß die Europäische Gemeinschaft inzwischen der eigentliche Stabilitätsanker des ganzen Europa- ist. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Ob dieser Anker hält oder ob auch Westeuropa in den der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Strudel der osteuropäischen Krise hineingerissen Herr Engholm. wird, auch darüber entscheiden wir mit unserem Votum für Europa. Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Hol- Die Hoffnung, die wir alle hatten, die Dämonen der stein): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vergangenheit würden gebannt werden, hat sich als Auch ich möchte mein erstes Wort an die Freunde und Illusion erwiesen. Überall im Osten Europas ist die Freundinnen in Frankreich richten. Pandorabüchse der Vergangenheit wieder geöffnet. Es gibt abgrundtiefen Völkerhaß im ehemaligen (Zurufe von der CDU/CSU) Jugoslawien, bewaffnete Auseinandersetzungen in — Auch Sie werden es noch lernen. vielen Staaten der GUS. Es gibt Tschechen und (Heiterkeit bei der SPD) Slowaken, die sich trennen. Zahllose alte und neue 9222 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. 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Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) ethnische Konflikte brechen auf. Soziale und ökologi- nischen Medien — über die Lasten der europäischen sche Mißstände treiben Millionen Menschen aus ihrer Einigung geklagt, während über ihre historischen und Heimat heraus. ökonomischen Leistungen nachdrücklich geschwie- Aber auch im Westen stehen die Warnzeichen an gen wird. der Wand. Zu viele Zukunftsängste werden zu leicht- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der fertig umgegossen in antieuropäische Parolen. Das CDU/CSU) Nein zur EG wird stärker, nationalistische Tendenzen wachsen bedrohlich sichtbar. Ich meine, die politisch Dabei haben Völker, die über Generationen blutige einzige Antwort heißt jetzt, Europa vor dem schreck- Kriege gegeneinander führten, erstmals innerhalb der lichen Irrweg in den alten oder in jeden neuen Europäischen Gemeinschaft sichtbar dauerhaften Nationalismus zu bewahren. Frieden geschlossen. Millionen von Menschen in Deutschland, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten leben vom gemeinsamen Markt. Die Wirtschaftsna- der CDU/CSU, der F.D.P. und des BÜNDNIS tion Deutschland ist nicht, wie immer wieder gesagt SES 90/DIE GRÜNEN) wird, der Zahlmeister der EG, sie hat von dieser EG Denen, die heute zögern und skeptisch sind, sage rechenbar und nachweisbar am meisten profitiert. Das ich: Ein Nein muß nicht nur Stagnation der Gemein- müssen die Deutschen jetzt sehen und begreifen. schaft bedeuten; wer nein sagt, riskiert den Zerfall der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Europäischen Gemeinschaft insgesamt und damit der CDU/CSU und der F.D.P.) ihren Rückfall in egoistische Kleinstaaterei mit all den Folgen, die wir aus der Geschichte kennen. Aber die Gemeinschaft ist nicht nur eine große Wirt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaftsmacht. Sie ist auch die erfolgreichste Friedens- organisation, die wir in der Geschichte dieses Konti- der CDU/CSU und der F.D.P.). nents bis zum heutigen Tage gekannt haben. Meine Damen und Herren, ich bitte von dieser Stelle mit Nachdruck auch die britische Präsident- Inzwischen sind Europamüdigkeit und Politikver- schaft, alles zu tun, damit das knappe aber gleichwohl drossenheit eine unheilvolle Allianz eingegangen. Ich deutliche Resultat in Frankreich nicht mißbraucht glaube, dagegen helfen keine Plakate. Ich bin skep- wird, um die EG schleichend in eine Freihandelszone tisch, ob uns der Ruf nach einer Volksabstimmung in zurückzuverwandeln. dieser Frage wirklich weiterhilft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der der CDU/CSU und der F.D.P.) F.D.P.) Dies würde Europa immens schwächen in einer Zeit, Man mag darüber streiten, aber ich glaube, wir in der dieses Europa besonders stark sein muß. Ich bin können unsere gute Verfassung, über deren Reform davon überzeugt, auch unsere britischen — ich darf ja wir gegenwärtig mit Anstand streiten und die vier nicht sagen: Freundinnen und Freunde; oder doch? — Jahrzehnte das Institut des Plebiszits nicht offeriert werden begreifen, daß ein geschwächtes Europa auch hat, nicht im Handumdrehen umstülpen. Ich glaube für Großbritannien keine erstrebenswerte Zukunft deshalb — die, die anderer Meinung sind, mögen es ist. mir nachsehen —: Wenn wir, was ich möchte, plebis- (Beifall bei der SPD) zitäre Elemente in die Verfassung einfügen, sollte der erste plebiszitäre Akt die Abstimmung über die neue Wir können die Zustimmung für Europa erhalten, Verfassung des gesamten Deutschland sein. indem wir zunächst aus den Fehlern der Vergangen- heit lernen. Ich glaube, es ist richtig, deutlich zu sagen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten daß viel zu lange Regierungen, Ministerräte und der PDS/Linke Liste) Bürokraten Europa zu einer geheimen Kabinettssache gemacht haben. Auch der Vertrag von Maas tricht ist Die richtige Antwort auf die Vertrauenskrise sind so entstanden. jetzt vertrauensbildende Maßnahmen zur Reform der Gemeinschaft. Manches davon ist im Vertrag von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Maastricht enthalten. Es ist unverzichtbar, daß wir uns der CDU/CSU) auf den Weg einer gemeinsamen Außen- und Sicher- Ich stimme dem Bundeskanzler zu, daß viel zu lange heitspolitik begeben; denn eine Gemeinschaft, die in Regierungen, auch — das sei deutlich unterstrichen — der Zukunft nicht mit einer Stimme spräche,- wäre in die deutsche Regierung, die EG als Ausrede miß- der heutigen Welt eine Gemeinschaft ohne Gewicht. braucht und Brüssel in die Schuhe geschoben haben, Es ist ein Fortschritt, eine gemeinsame Wirtschafts- was sie selbst zu verantworten hatten. und Währungsunion anzustreben. Die EG wird den Kampf gegen Spekulationen, gegen Herausforderun- (Beifall bei der SPD) gen aus dem Fernen Osten gemeinsam bestehen, oder Und viel zu lange wurden dem Europäischen Parla- sie wird daran untergehen. ment Rechte verweigert, die für dieses Haus eine (Beifall bei der SPD) absolute Selbstverständlichkeit sind. Diesen Zustand müssen wir ändern. Aber: Maastricht ist nur ein Schritt in die richtige Richtung. Ich schlage vor, wie schon in den vergan- (Beifall bei der SPD) genen Monaten auch durch unsere Fraktion zum Ich bedaure auch, daß immer noch — auch in großen Ausdruck gebracht, daß wir im Ratifizierungsverfah- und bedeutenden Blättern der Presse und in elektro ren im Bundestag und Bundesrat drei Sicherungen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9223

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) gegen weitere Fehlentwicklungen der EG ein- Ich meine, ein klares Wort muß auch an die Adresse bauen. des Partners Türkei gesprochen werden. Es gibt viele gute Gründe für eine besondere Beziehung zwischen Erstens. Wir wollen zugrunde legen, daß die künf- Türken und Deutschen. Den Ausbau dieser besonde- tige Europäische Union demokratisch sein muß. Das ren Beziehungen sind wir nicht zuletzt den Menschen heißt: Ein gouvernementales Europa ohne starke aus der Türkei schuldig, die heute bei uns leben und demokratische Beteiligungs- und Kontrollrechte darf arbeiten. Aber eine EG-Mitgliedschaft der Türkei in es mit deutscher Stimme nicht geben. absehbarer Zeit wäre von beiden Seiten, weder von (Beifall bei der SPD) der Türkei noch von der Gemeinschaft, zu verkraf- ten. Zweitens. Wir müssen eine deutliche Trendwende zustande bekommen hin zu mehr und deutlicherer Die Beziehungen sollten konkret verbessert und Subsidiarität. Das heißt, wir müssen zentralistische weiterentwickelt werden. Dabei gilt, glaube ich, am Fehlentwicklungen, die es gegeben hat, in der besten der gute alte sozialdemokratische Grundsatz: Zukunft vermeiden. Wir wollen ein Europa, in dem Wirtschaftshilfe — gerade in bezug auf die Türkei — Identitäten und regionale Eigenständigkeiten ein ist besser als Militärhilfe. unverrückbares Heimatrecht besitzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drittens. Keine Währungsunion kann ohne das der PDS/Linke Liste) Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in eine Ich glaube, sagen zu dürfen: Starke Menschen- gemeinsame Währung wirklich erfolgreich sein. Des- rechte in der Türkei sind der beste Beitrag der Türken halb, Herr Bundeskanzler, glaube ich, daß es ein zu einer engen Partnerschaft mit Europa. Fehler war, in Maastricht eine Art Automatismus für den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe der (Beifall bei der SPD) Wirtschafts- und Währungsunion unterschrieben zu Alles das, was wir jetzt vor uns haben, wird nicht haben. gelingen, wenn wir es nicht schaffen, die ganze (Beifall bei der SPD) Faszination, die mit dem zusammenwachsenden Kon- tinent verbunden ist, gerade auch jungen Menschen Wir schlagen deshalb vor, daß Bundestag und neu zu erschließen. Europa und die Europäische Bundesrat vor dem Übergang zur letzten Stufe erneut Gemeinschaft, das ist wirklich weit mehr als die eine qualifizierte Beratung abhalten. Ich glaube, daß Bürokratien, über die wir manchmal klagen, das ist für die Entscheidung in der Zukunft gilt: Harte Stabi- weit mehr als nächtliche Agrarministersitzungen mit litätskriterien sind wichtiger als abstrakte Zeitpläne. einem nicht so günstigen Ausgang. Europa, das ist (Beifall bei der SPD) eine unglaubliche kulturelle Vielfalt, die sich unseren Eltern nicht erschließen konnte, weil Grenzen sie Und schließlich: Ich glaube, daß die Gemeinschaft daran gehindert haben, sie für sich nutzbar zu ihre sozialpolitische Schlagseite loswerden muß. Es ist machen. Wenn man bedenkt, welche Chancen unsere unerträglich, daß Versicherungsrichtlinien in Europa jungen Menschen in dieser einen Erlebnisgeneration in zwölf Monaten verabschiedet werden können, aber nach dem Kriege heute besitzen, sich Sprachen zu die Mitbestimmung der Arbeitnehmer schmort zwölf erschließen, Dialekte zu pflegen, Lebensweisen zu Jahre in der Schublade. Diese Schlagseite muß been- haben, Landschaften zu erkunden, dann ist es, wie ich det werden. finde, etwas Grandioses, was sich in der letzten (Beifall bei der SPD) Generation auf diesem Kontinent getan hat. Es gibt im übrigen keinen Grund, jetzt nicht auch an (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Erweiterung und der Öffnung der Gemeinschaft der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke festzuhalten. Die EFTA - Staaten sollen, wenn sie es Liste ) möchten, ab 1. Januar 1995 Mitglied der EG sein können. Nach wie vor sollten wir auch für Dänemark, Bedenken wir einmal, was uns an geistigem Rüst- unser Nachbarland, die Tür zur Europäischen Union zeug zur Verfügung steht, von der Fülle der geistigen weit offenhalten. Traditionen des Christentums, von den großen Wur- zeln der Aufklärung, vom jüdischen Geistesleben bis (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hin zu den großen Traditionen der sozialen Demokra- der CDU/CSU) tie: Wir können aus diesem Kontinent noch weit mehr Auch die Länder im Osten Europas, die große machen. Wir stecken, wie ich glaube, erst am Anfang Hoffnungen auf die Europäische Gemeinschaft set- grandioser weiterer Möglichkeiten. zen, dürfen nicht enttäuscht werden. Durch unter- Schauen wir uns die Vielfalt der Künste an: von den schiedlichste Kooperations- und Assoziierungsab- riesigen Architekturen und Philosophien, von dem kommen muß ihre Bindung an die Gemeinschaft Zugang von Kundera und Pavarotti, von den Beatles verstärkt werden. Ich warne jedoch vor leichtfertigen bis hin zu Hermann Hesse, von Bartok zu Feuchtwan- Zusagen über schnelle EG-Beitritte mittel- und osteu- ger, von Wajda zu Günter Grass. ropäischer Reformstaaten. Klar ist für uns: Eine Euro- päische Gemeinschaft, die von Wladiwostok bis nach (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ Lissabon oder vom Nordkap bis nach Nordafrika CSU) reicht, ist weder denkbar noch wünschenswert. — Ich muß jemanden vergessen haben, den Sie besonders schätzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Heiterkeit) 9224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein) Ich will damit folgendes sagen: Die Faszination dieses Wir, glaube ich, würden als Deutsche unsere Kultureuropas müssen wir pflegen, bewahren, för- Geschichte leugnen, wir würden unseren Kindern den dern, erschließen. Ich denke, dies ist für uns allemal falschen Weg weisen, wenn wir diesen Zeichen des faszinierender als jedes „Dallas", jedes „Denver", Mutes in Frankreich nicht ein deutliches deutsches Ja jedes „Tuttifrutti", was immer man sich vorstellen folgen ließen. kann. (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall (Beifall bei der SPD) beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine Entscheidung, die für Europa von höchster Bedeutung ist, wird hier in Bonn getroffen: Es ist die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht über die Steuern und Finanzen in Deutschland. Da die der Abgeordnete Haussmann. Bundesregierung bis heute zu einer soliden Einheits- finanzierung nicht fähig ist, Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Was?) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte damit beginnen, daß ich mich als Europäer über das Ja hat sie die Bundesbank zu einer Hochzinspolitik unseres wichtigsten Nachbarn schlicht freue. Wie es genötigt. Wer heute in Europa, von dieser Hochzins früher eine Unfähigkeit zu trauern gab, gibt es heute olitik belastet, die Bundesbank öffentlich kritisiert, in unserer Gesellschaft manchmal eine Unfähigkeit, meint in Wahrheit die Politik dieser Bundesregie- sich über Dinge zu freuen, die wichtig sind. rung. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sowie bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Mir kommt in der öffentlichen Debatte zuwenig die Ich gehe davon aus, daß Sie z. B. auch die Berichte des Rede darauf, was ein Nein in Frankreich wirklich IWF lesen. bedeutet hätte: Es hätte zu einer Lähmung der euro- päischen Bewegung geführt, es hätte einen weiteren (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ich war wirtschaftlichen konjunkturellen Abstieg vorpro- sogar dabei!) grammiert, und es hätte ein endgültiges Scheitern der GATT-Runde mit katastrophalen Konsequenzen zur Deshalb glaube ich, die wichtigste vertrauensbil- Folge gehabt. Jedem von uns ist hoffentlich klar, daß dende Maßnahme, die man für Europa und weite Teile ein Nein aus Frankreich uns Europäer auf der inter- der Welt in Deutschland ergreifen kann, ist die Rück- nationalen Ebene verhandlungsunfähig gemacht kehr zu einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik in Deutschland. hätte, mit allen Konsequenzen für Wachstum, Arbeits- plätze und soziale Stabilität. (Beifall bei der SPD) Umgekehrt heißt dies jedoch: Wir bringen die Die Sozialdemokraten waren am Aushandeln des Europäische Union und die Wirtschafts- und Wäh- Vertrages von Maastricht nicht beteiligt. Sie hätten rungsunion nur weiter, wenn wir uns jetzt diesem Ja sich in manchen Punkten einen besseren Vertrag unseres wichtigsten Nachbarn auch in Deutschland gewünscht. Gleichwohl, es ist ein akzeptabler Kom- wirklich würdig erweisen. promiß der zwölf beteiligten Partner entstanden, den wir aus Verantwortung für die Zukunft Deutschlands (Beifall bei der F.D.P.) und Europas unterstützen werden. Wir Liberalen sehen hier drei unabdingbare Not- wendigkeiten: (Beifall bei der SPD) Erstens. Wir stimmen mit allen Fraktionen überein: Das Ergebnis in Frankreich, das auch der Bundes- Europa muß demokratischer werden. Es muß mehr kanzler erwähnt hat, ist Anlaß zum Nachdenken und Rechte für das Europäische Parlament, aber auch für zum Lernen aus Fehlern, aber es ist auch ein Anlaß, unseren Bundestag geben. Das ist jedoch keine Kritik wie ich finde, Mut zu schöpfen. an der Regierung. Niemand hat dies so entschieden gefordert, aber wir müssen zunächst einmal unsere (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) Schwesterparteien in Frankreich und in England Es ist einige Jahre her, da lehnte es der Gemeinderat davon überzeugen, daß sie von sich aus bereit sind, an von Bisheim im Elsaß ab, den dort geborenen und im das Europäische Parlament zu übertragen. Widerstand gegen Hitler ermordeten Julius Leber zu (Beifall bei der F.D.P.) ehren, weil er dort als Deutscher in Erinnerung war. Zweitens. Dieses Europa muß konkreter,-p- klarer, Kurz darauf hat sich der Bürgermeister der Gemeinde anfaßbarer, nachvollziehbarer, bürgernäher und di- Bisheim beherzt über diesen Beschluß hinweggesetzt. rekter werden, um nicht das schreckliche Wort von der Seit jener Zeit gibt es für den deutschen Widerstands- Subsidiarität zu gebrauchen, mit dem wir keinen kämpfer in Frankreich einen „Place Jules Leber", Bürger überzeugen können, das unverständlich ist. über dem bei festlichen Anlässen die Europafahne weht. Drittens. Europa muß in die Herzen der Bürger. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß es sich derzeit Am Sonntag haben fast 70 % der Elsässer für Europa nicht nur um eine Europamüdigkeit handelt, sondern gestimmt. Ich finde, das sind Zeichen, die Mut teilweise um eine Europafeindschaft. Europa be- machen. kommt immer mehr eine Sündenbockfunktion für (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Populisten und für überforderte Verbände. F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) NEN) Dies ist fatal. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9225

Dr. Helmut Haussmann Ich kann der Regierung den Vorwurf nicht ersparen, Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Vielen D ank, Herr daß es ein Riesenfehler war, die Aufklärungskam- Präsident. pagne über Maastricht erst jetzt, nach dem Referen- Wir müssen unsere Stabilitätserfahrung, unsere dum in Frankreich, zu starten und nicht sofort nach Stabilitätseinrichtungen, nämlich die unabhängige dem Tag, an dem der Vertrag von Maastricht Bundesbank, und Frankfurt am Main als Sitz der beschlossen wurde. Europäischen Zentralbank in Europa einbringen, Aber täuschen wir uns nicht: Politiker, Parteien, damit aus unserer stabilen Deutschen Mark eine Informationsämter allein haben keine Chance. Wir ebenso stabile europäische Mark als die Währung der brauchen dringend die Gesellschaft, wir brauchen Europäer wird. Davor braucht sich niemand zu fürch- angesehene Bürger wie Wissenschaftler, Künstler, ten. Sportler, Publizisten, die für Europa in unserer Gesell- (Beifall bei der F.D.P.) schaft einstehen. Wir müssen mit der Schizophrenie in Ich stimme weitgehend mit den Sozialdemokraten unserem Alltag aufräumen: Bei der Arbeit sind die überein: Natürlich gibt es keine Automatik. Aber Menschen überwiegend Profiteure von Europa und umgekehrt ist auch richtig: Wir Deutschen, die Regie- am Stammtisch Europagegner. Es ist doch absurd: rung, das Parlament, die Deutsche Bundesbank, Man produziert tagsüber Autos für Frankreich, man haben die stabilsten Kriterien in Maastricht verankert. protzt mit den Urlaubsbildern aus Spanien, man Wenn europäische Länder diese Voraussetzungen fiebert dem Europacup-Endspiel entgegen, macht erfüllen, kommt es in der Tat zu einer Automatik, die aber am Stammtisch weiter Stimmung gegen wir ja wollen. Europa. Aber umgekehrt, meine Damen und Herren, müs- Noch absurder ist für mich folgendes. Viele Medien- sen Sie sich die Feststellung gefallen lassen: Wenn vertreter und Manager, die in Talkshows die Europa- Deutschl and und andere Länder diese Stabilitätskrite- müdigkeit schüren, machen tagsüber das große Geld rien erfüllen, darf es aus deutscher Sicht keinen mit Europamarketing und mit Europavisionssendun- Ausstieg, kein Opting Out geben. gen. Diese Schizophrenie im Denken muß aufhören, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wenn wir in Europa vorankommen wollen. Diese Diskussion ist in Engl and und leider auch in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dänemark längst angelaufen. Wir müssen uns als Ich finde, so wie es heute in jedem großen Unter- Deutsche darüber im klaren sein: Entweder gibt es nehmen, in jedem Verband oder in den Gewerkschaf- eine europäische Währung mit der D-Mark, oder es ten eine Task Force für den Umweltschutz gibt — und gibt keine europäische Währung. Insofern ist der das ist richtig so —, so notwendig wird es in Zukunft Parlamentsvorbehalt relativ klar: Entweder sind die sein, daß die Europavision in Großunternehmen, in Voraussetzungen gegeben — dann wird das Parla- Gewerkschaften, in großen Verbänden auch organi- ment mit Ja stimmen —, oder die Voraussetzungen satorisch und personell verankert sein muß. sind nicht gegeben; dann gehe ich davon aus, daß jede deutsche Regierung bereits bei der Regierungskonfe- (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro renz mit Nein stimmen wird. So einfach ist das. nenberg) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wie geht es nach dem Ja in Frankreich weiter? Ich Ich bitte die Sozialdemokraten, nicht in Populismus hoffe, wir werden wie geplant ratifizieren, sicher mit zu verfallen und in der Bevölkerung die Illusion zu Ergänzungen, mit Verklarungen — das ist okay —, schüren, man behalte sich das ja zur Europawährung aber nicht mit einem anderen Vertragstext. Dies bis zum letzten Zeitpunkt offen und steige eventuell können wir den kleinen Ländern, die bereits ratifiziert aus. haben, aber auch dem französischen Ja nicht antun. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Meine Damen und Herren, ich will etwas zur Zurufe von der SPD) Europawährung sagen. Die D-Mark ist heute schon der Stabilitätsanker. Die jetzigen Ereignisse im Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr EWS sind letztlich ein großes Kompliment an die Dr. Haussmann, der Abgeordnete Conradi möchte D-Mark. eine Zwischenfrage stellen. (Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/ CSU) Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Bitte schön. Nicht nur wegen des hohen Zinses ist die D-Mark so - stabil, sondern weil unverändert eine gute Wirt- Peter Conradi (SPD): Herr Kollege, hält die Koali- schaftspolitik das Fundament dafür ist. Ich bin gegen tion an der Forderung nach der Unabhängigkeit der eine Kunstwährung. europäischen Notenbank fest, insbesondere nachdem der französische Präsident in klarer Abweichung vom Vertrag deren Unabhängigkeit in Frage gestellt hat? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Haussmann, entschuldigen Sie, wenn ich Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Ja, sie hält unver- Sie unterbreche. — Ich wäre dankbar, wenn die ändert daran fest, unterstützt durch die Fraktionen. privaten Sprechstunden an der Regierungsbank auf Ich freue mich, daß Ihre Fraktion von ihrem früheren ein Minimum beschränkt würden. Man kann es auch Antrag abgegangen ist. Noch am 9. November 1991 übertreiben. wollten Sie ja, daß die unabhängige Währungsbank Herr Dr. Haussmann, Sie können fortfahren. gesamtwirtschaftlichen Zielen in Europa verpflichtet 9226 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Dr. Helmut Haussmann wird. Heute sind Sie auf unserer Linie, indem Sie ständlicher Form vorlegen, werden die Bürger nicht in sagen: Sie ist ausschließlich der Preisstabilität ver- dieses Haus einziehen; sie sind zum Teil dabei, wieder pflichtet. ausziehen zu wollen. (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: So ist (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das es!) gilt ja sogar für den Bundestag!) Ich will für die Freien Demokraten wiederholen: Die Kommissionspräsident Jacques Delors hat uns vor D-Mark wird nicht auf dem Altar Europas geopfert, wenigen Tagen bei einem Besuch des EG-Ausschus- sondern es ist im Grunde umgekehrt, die stabile ses gesagt, daß es sich bei der jetzigen Krise um ein D-Mark wird europäischer Stabilitätsanker, sie wird wesentliches Verhaltensmuster unserer Gesellschaft zur europäischen Mark. Für die Bevölkerung in handelt. Man mag Delors zustimmen, aber das entbin- Deutschland ist entscheidend, daß die deutsche det die Europapolitik nicht von ihrer Verantwortung. Regierung in Edingburgh den engen Zusammenhang Im Gegenteil, sie wird zur Verantwortung gerufen. zwischen europäischer Währung und Währungsbank Europa wird damit zu einem Prüfstein für die Frage, in Frankfurt am Main herstellt. wie es uns Politikern gelingen kann, die immer (Beifall bei der F.D.P.) deutlicher werdende Kluft zwischen Bürgern und Nur in Frankfurt am Main gibt es eine Bankenwelt, Politik zu schließen. Ich denke, wir sollten gemeinsam gibt es eine Stabilitätskultur. Daher kann nur Frank- — Herr Engholm, Ihre Rede war dazu ein wesentlicher furt am Main Sitz der europäischen Währungsbank Beitrag über die Parteigrenzen hinweg — in den werden. Bereichen, in denen wir gemeinsame Vorstellungen haben, auch zu einer gemeinsamen Sprache finden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Diese gemeinsame Sprache ist letztlich die Vorausset- sowie bei Abgeordneten der SPD) zung für die eingeforderte Durchschaubarkeit euro- Zum Schluß möchte ich sagen: Wir nehmen die päischer Entscheidungsprozesse. Bedenken der Bürger sehr ernst, aber wir dürfen uns In diesem Zusammenhang, Herr Engholm, ist Ihnen in Europa unseren Schneid nicht von den Populisten die CDU/CSU auch dankbar für die Klarstellung, daß abkaufen lassen. Ohne weitere Fortschritte beim Bau auch für die Sozialdemokraten ein Referendum über des europäischen Hauses würden wir vor der Maas tricht nicht zur Frage steht. Geschichte versagen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Es ist wichtig, daß die von Außenseitern in Ihrer Partei immer wieder aufgeworfene Frage damit vom Tisch ist. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort In Zeiten, in denen sich die politischen Ereignisse hat der Abgeordnete Peter Kittelmann. überschlagen und die Bürger vehement gegen politi- sche Entwicklungen demonstrieren, neigt man zu Vereinfachungen. Lassen Sie mich darum kurz auf (CDU/CSU): Herr Präsident! Dr. Peter Kittelmann zwei scheinbar gegensätzliche Grundstimmungen in Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler Kohl, der Bevölkerung eingehen, die die Europäische ich darf Ihnen im Namen der CDU/CSU für Ihr Gemeinschaft in ihren Grundfesten be treffen. Auf der engagiertes und unbeirrbares Eintreten für die euro- einen Seite bemerken die Bürger tagtäglich die unseren allerherzlichsten Dank päische Einigung Unmenge an internationalen Abhängigkeiten, die sagen. das politische und gesellschaftliche Leben in mannig- (Beifall bei der CDU/CSU) facher Weise bestimmen. Diese Abhängigkeiten sind Wir werden uns in den nächsten Wochen und Mona- so vielfältig und teilweise auch so überraschend, daß ten gemeinsam — nicht nur der Bundeskanzler, nicht sie für viele Bürger — aber auch Politiker — nicht mehr nur die Mitglieder der Regierung, nicht nur Herr überschaubar und vor allen Dingen nicht mehr beein- Engholm, der heute hier eine engagierte Rede gehal- flußbar erscheinen. Daraus resultieren Unsicherhei- ten hat, sondern wir alle gemeinsam — der Aufgabe ten, Unbehagen, Sorgen und Ängste. Was zu kompli- nicht entziehen können, mit dem Bürger zu diskutie- ziert erscheint, wird abgelehnt oder zumindest igno- ren. riert. Auf der anderen Seite aber wissen doch auch Als wir am vergangenen Sonntag auf die ersten viele, wie wichtig das Netz europäischer oder gar Hochrechnungen beim französischen Referendum weltweiter Verknüpfungen ist, damit man in der warteten, war uns allen unabhängig von dem knap- modernen Welt überhaupt existieren oder wirkungs- pen Ausgang, der ja erwartet wurde, klar — ich bin voll handeln kann. sicher, Sie stimmen mit mir überein —: Die Europa- Entscheidend wird es darum sein, das Netz so zu politik muß in Zukunft engagierter, offener, transpa- knüpfen, daß sich die Knoten an der richtigen Stelle renter und durchaus auch kontrovers gestaltet wer- finden. Ratlosigkeit und Unbehagen machen sich ja den. Desinteresse und Desinformationen bilden eine bei vielen auch deshalb breit, weil sie ein gemeinsa- unheilige Allianz, die zu unbegründeten Ängsten mes- europäisches Handeln vermissen: in der Außen führt und im Nachkarten nur sehr schwer auszuräu- und Sicherheitspolitik am Beispiel Jugoslawien, in men ist. der Innen - und Rechtspolitik am Beispiel Asyl oder Wir Europapolitiker bemühen sehr gern das Bild am Beispiel organisierter Kriminalität. Ich bin der vom europäischen Haus. Ich kann nur sagen: Wenn Überzeugung, daß die Bürger nicht gegen Europa wir die Baupläne nicht übersichtlicher und in ver- sind, sondern gegen ein Europa, das sie nicht fassen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9227

Dr. Peter Kittelmann können, das abstrakt bleibt, das scheinbar nationale den die unterzeichnenden Staaten, die Wirtschaftsge- und regionale Interessen ignoriert, die Einflußnahme meinschaft gegründet zu haben — ich zitiere — einzelner Länder beschneidet, viel Geld kostet, in der in dem festen Willen, die Grundlagen für einen Außenwirkung wenig überzeugend ist und sich nur immer engeren Zusammenschluß der europäi- mäßig demokratischer Kontrolle verpflichtet fühlt. schen Völker zu schaffen. Das ist der Tatbestand, aber eben nur die eine Hälfte. Diesem Ziel will der Vertragstext näherkommen, und er bereichert damit die Gemeinschaft um eine neue Die andere Hälfte des Tatbestandes ist der Vertrag Qualität. Die CDU/CSU folgt genau in ihrer Politik zur Europäischen Union. Der Herr Bundeskanzler hat dieser Richtlinie und wird auch dabei bleiben. eben in der Regierungserklärung den Inhalt noch einmal sehr plastisch dargestellt. Es handelt sich dabei (Beifall bei der CDU/CSU) um ein Kompromißpapier, das zwölf Länder mit ihren Meine Damen und Herren, ich bin ein überzeugter je eigenen Interessen und Wünschen mittragen sollen. Europäer und möchte mithelfen, daß jeder Bürger die Die Gretchenfrage lautet nun also: Reagiert der Ver- Vorteile Europas auch erkennt. Es muß uns wieder trag auf den von mir skizzierten Tatbestand, nämlich gelingen, das persönliche Interesse des Bürgers für einer Grundstimmung, die sich aus Angst vor einem sein eigenes Wohlergehen mit der Unabdingbarkeit Zuviel an Abhängigkeit und dem Wunsch auch nach einer erfolgreichen Zukunft Europas zu verbinden. enger Zusammenarbeit in ganz bestimmten Berei- Die Argumente liegen auf der Hand, aber sie müssen chen begründet? Der Vertrag reagiert darauf; aber es auch genannt und vermittelt werden. Der jetzige gibt zwei Schwierigkeiten, erstens: Wohlstand — der Bundeskanzler hat das klar heraus- gestellt — resultiert aus einem europabedingten Auf- Er reagiert nicht in dem Maße, in dem es sich die schwung. Der Binnenmarkt vernichtet nicht Arbeits- Bundesregierung und wir alle erhofft haben. Er tut es plätze; er schafft zahlreiche neue. Der Absatzmarkt für deshalb nicht, weil andere Länder dies bisher verhin- unsere Waren wird nur durch ein gemeinsames star- dert haben, z. B. daß es mehr Demokratie und eine kes Europa gesichert. Offene Märkte und den Abbau gemeinsame Innen- und Sicherheitspolitik so gibt, wie von Protektionismus gibt es nur bei Vollendung des wir es erwartet haben und erwarten. Binnenmarktes und eines gemeinsamen Europas. Nur Zweitens: Die tatsächlich erreichten positiven eine gemeinsame Asylpolitik wird verhindern kön- Ansätze konnten bisher nicht genügend vermittelt nen, daß langfristig mehr und mehr Wirtschaftsflücht- werden. linge in unser Land kommen. Die Wirtschafts- und Währungsunion macht unser Geld nicht schwächer; Für uns, die CDU/CSU, wird es nun also in den sie schafft bei Einhaltung der s trengen Kriterien nächsten Wochen und Monaten darauf ankommen, vielmehr eine stabile und sichere Währung. deutlich zu machen, daß der Vertrag genau in den Punkten die ersten Schritte macht, wo sich die Bürger Eine solche Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Das auch gemeinschaftliche Schritte erhoffen. gemeinsame Europa ist im Interesse eines jeden einzelnen Bürgers, im persönlichen Interesse des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kumpels an der Ruhr, des Landwirts in Mecklenburg- Vorpommern, des Feinmechanikers in Baden-Würt- So müssen sie wissen, daß ein Mandat für die gemein- temberg und des Angestellten in der Porzellanmanu- same Außen- und Sicherheitspolitik erst mit der Rati- faktur in Meißen. Vor allen Dingen müssen wir fizierung gegeben ist. Dazu wird der Kollege Lamers unseren Mitbürgern in den östlichen Bundesländern gleich sehr ausführlich Stellung nehmen. Über Klar- klarmachen, daß, auch wenn sie im Moment viele, stellung oder Präzisierung wird zu reden sein. Aber viele andere Sorgen haben, die Zukunft Europas auch dies muß öffentlich geschehen. Schlimmer nämlich ihre Zukunft ist. noch als Fehlurteile sind Vorurteile, weil sie sich vernünftiger Argumentation verschließen. Der Bürger (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. wird sich nur mit dem identifizieren, was er zuvor sowie bei Abgeordneten der SPD) nachvollzogen hat. Teil Europas kann er nur sein, Zur Integration — das heißt: zusammenwirken, wenn er am Entstehungsprozeß teilnimmt. Dies ist zusammenarbeiten und zusammenfassen — gibt es bisher nicht so geschehen, wie wir es uns gewünscht keine Alternative. Desintegration bedeutet Abschot- haben. Das gilt übrigens genauso für die Abgeordne- tung, Protektionismus, Neid, Unruhe, Unfrieden. ten des Deutschen Bundestages, und ich habe auch - Verständnis dafür, daß die Länder hier ihr Recht Die Gegner des Maastrichter Vertrages sind äußerst einfordern. emotionalisiert. Die Vorteile des gemeinsamen Euro- pas werden wir deshalb zwar sachlich aufzeigen; man Die Präambel des Vertrages zur Europäischen Wirt- muß aber als Befürworter nicht nur Rede und Antwort schaftsgemeinschaft, meine Damen und Herren, stehen, sondern dies auch mit einer gewissen Leiden- beruht auf der leidvollen Erfahrung zweier Welt- schaft tun. Ich füge hinzu: Wir haben allen Grund, kriege. Der österreichische Vizekanzler Busek hat vor unsere Leidenschaft für Europa wieder zu entdecken kurzem gesagt: Der Mosaikteppich der inneren Kon- und zu leben. flikte kann eine Art Dritter Weltkrieg sein, aber es könnte statt dessen eben auch eine neue Welt entste- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hen. Genau an dieser Nahtstelle zwischen Risiko und Unser aller Anliegen muß es sein, die wirtschaftli- Chance entsteht der Vertrag zur Europäischen Union chen Chancen der Gemeinschaft und ihre friedenstif- — um die Chancen zu nutzen. Die Präambel des tenden Vorteile aufzuzeigen. Die Angst, sein nationa- EWG-Vertrages hat dies angekündigt. In ihr bekun les Profil zu verlieren und zu einem europäischen 9228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Dr. Peter Kittelmann Homunkulus zu werden, muß allen Bürgern genom- und Rechtsextremisten zusammen für das Nein men werden. Tatsache ist, daß es bisher einzelne gestimmt haben? Nationalstaaten waren, die einander bekämpft haben. (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU — Die Europäische Gemeinschaft hingegen basiert [CDU/CSU]: Das ist eine sehr gerade darauf, nationale Profile, Kulturen, Eigenhei- gute Frage!) ten, Sprachen und auch Ansprüche zu akzeptieren und aus ihrem Zusammenspiel zu profitieren. Ich darf mit einem Zitat Erich Kästners, der in Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich bedanke meiner Heimatstadt Berlin besonders beliebt ist, mich deshalb für die Frage, weil sie es mir ermöglicht, enden: gleich auf das Problem einzugehen, daß es nämlich Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, ein, wie ich meine, unsägliches Nein von rechts gibt, entsteht. aber ein positives Nein von links. Ich will versuchen, Nehmen wir die Fragen der Bürger ernster, disku- das zu begründen. tieren und beantworten sie und gründen damit eine (Lachen bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Europäische Union, die von allen getragen und gelebt der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Sie wird. sitzen in einem Boot!) Danke schön. — Hören Sie doch erst einmal zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Gysi und Schönhuber! — Zurufe von der SPD: Ganz Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- schwach! — Schwächer als schwach!) teile ich dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi das Sehen Sie, das Nein von rechts versucht, an Wort. Instinkte der Menschen zu appellieren und Angst vor der Aufgabe nationaler Souveränität zu schüren, d. h. Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! ist nationalistischer Natur, und zwar von Grund auf. Meine Damen und Herren! Es ist vielleicht für die (Zuruf von der SPD: Das kommunistische gegenwärtige Politik in der Bundesrepublik Deutsch- nicht?) land bezeichnend, daß der Kanzler eigentlich auch die Rede des SPD-Vorsitzenden und der SPD-Vorsitzende Ich füge hinzu, daß es insofern nicht richtig ist, wenn die Rede des Kanzlers hätte halten können. der Bundeskanzler hier heute erklärt, daß die Natio- nalstaaten überhaupt nicht beeinträchtigt sind und (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Warum daß sich an der Nationalstaatlichkeit nichts verändern nicht?) wird. Das heißt, nicht die Wahrheit zu sagen, und das Abgesehen von wenigen Nuancen, bestand eigentlich heißt, die Auseinandersetzung, die auf diesem Gebiet Identität. unbedingt geführt werden muß, nicht zu führen. Denn (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]:Das ist doch natürlich wird es schrittweise einen Abbau von Natio- nicht schlimm! — Zuruf von der CDU/CSU: nalstaatlichkeit geben. Das ist in Anbetracht der Das ist bei Europa auch gut!) ökologischen, ökonomischen und sozialen Entwick- lung auch richtig und wichtig. Dazu muß man sich Ich frage mich — es muß ja wohl gestattet sein, sich deutlich bekennen. das zu überlegen —, wieso es in Frankreich, in Großbritannien, in Dänemark und in vielen anderen Ich füge weiter hinzu, daß von uns aus ein klares Ja Ländern auf ganz breiter Front kritische Stimmen zu Europa kommt. Aber ein klares Ja zu Europa gegen Maastricht gibt und gerade in Deutschland so bedeutet kein Ja zu Maastricht; denn Maastricht ist breite Übereinstimmung herrscht und kritische Stim der falsche Weg. Das ergibt sich aus mehreren Grün- men sofort diskreditiert werden, nämlich als antieuro- den. Wir lehnen den Vertrag wegen grundlegender päisch. Unzulänglichkeiten ab. Sie betreffen sowohl die Art seines Zustandekommens als auch den Inhalt. In (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Und was ist Ihre diesem Europa könnte eine soziale, ökologische und Antwort?) nicht militärische Europäische Gemeinschaft, die ihrer internationalen Verantwortung mit zivilen Mit- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- teln gerecht wird, dabei insbesondere die ost- und geordneter Dr. Gysi, die Abgeordnete Frau Matthäus südosteuropäischen Staaten einbezieht und- sich den Maier möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind sind Problemen der sogenannten Dritten Welt nicht ver- bereit, zu antworten? schließt, eine bedeutende Rolle spielen. Ich finde es verheerend, wenn der Ministerpräsi- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Selbstverständ- dent von Schleswig-Holstein hier erklärt, daß eine lich. Gemeinschaft von Wladiwostok bis zum Kap der Guten Hoffnung weder denkbar noch wünschenswert Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte ist. schön. (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Das Kap der Guten Hoffnung ist aber woanders! Es ist mehr im Süden!) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Gysi, fänden Sie, da Sie diese Einigkeit kritisieren, es denn besser, Wenn wir nicht anfangen, wirklich planetar zu den wenn es so liefe wie in Frankreich, wo Kommunisten ken, werden wir die globalen Probleme dieser Erde Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9229

Dr. Gregor Gysi nicht lösen können und damit die Zivilisation gefähr- Asylbewerber. Aber das Wofür ist überhaupt nicht den. deutlich geworden. Wir sind für eine europäische Einigung, akzeptieren Besonders bedauerlich sind auch die Versäumnisse aber die Ansätze von Maastricht nicht. Ich will das in der Agrarpolitik; denn es wird weiterhin ein Weg begründen. Wir akzeptieren erstens nicht, daß der beschritten, der davon ausgeht, daß Agrarflächen Maastrichter Vertrag einen Integrationstyp erneut stillgelegt werden und daß man den Abbau von festschreibt und vertiefen soll, der ausschließlich die Überschüssen finanziert — und das in einer Welt, in währungspolitische Vergemeinschaftung zum Ziel der Millionen Menschen hungern oder verhungern. hat. Schon 1970 hatte der sogenannte Werner-Plan Es gibt eben auch in diesem Vertrag keinen einzigen einen Stufenplan zur Errichtung einer Wirtschafts- Schritt, der hier etwa eine Lösung anpeilen würde. und Währungsunion enthalten, damals aber eine gleichgewichtige Vergemeinschaftung der Wäh- Ferner wurde der Vertrag hinter verschlossenen rungs- und Wirtschaftspolitik angestrebt. Selbst der Türen auf völlig undemokratische Art und Weise Delors-Plan aus dem Jahre 1989 betonte noch diese zusammengezimmert. Weder die Parlamente der Mit- Notwendigkeit und forderte dazu auf, parallel die gliedstaaten, geschweige denn die Völker wurden Strukturpolitik und den Finanztransfer in entwick- beteiligt. In Dänemark, Irland und Frankreich fanden lungsschwache Regionen zu verstärken. immerhin Volksentscheide bzw. Volksbefragungen statt. Koalition und SPD lehnen — wenn ich das heute Das mit Maastricht vorgelegte Integrationskonzept richtig verstanden habe — gemeinsam einen Volks- wird nun ausschließlich auf einen währungspoliti- entscheid hier in der Bundesrepublik Deutschland ab. schen Kern beschränkt, dem sich alle anderen Politik- Ich frage mich, weshalb in einer Frage, die für die bereiche unterzuordnen haben. Eine aktive Struktur- Lebensverhältnisse der Menschen in den künftigen politik wird völlig vernachlässigt. Damit ist absehbar, Jahren und Jahrzehnten von so ausschlaggebender daß Binnenmarkt und Währungsunion die regionalen Bedeutung ist, die Menschen eigentlich nicht beteiligt Gefälle erheblich vertiefen und mit Sicherheit sogar werden sollen. Art. 20 des Grundgesetzes sieht geographisch verschieben werden. Das jetzige Inte- Abstimmungen durch das Volk vor. Es ist nicht wahr, grationsprojekt reduziert sich letzten Endes auf einige daß die Verfassung geändert werden muß. Es müßte wenige Kernländer, die sich — um welchen Preis auch nur ein Ausführungsgesetz beschlossen werden. immer — durch eine stabile Geldwertentwicklung auszeichnen. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ach, reden Sie doch nicht so einen Stuß, Herr Gysi! Das Damit ist Blockbildung verbunden. Damit ist Abschottung gegenüber Osteuropa verbunden. Damit ist doch Stuß!) ist auch Abschottung gegenüber der sogenannten Wir werden einen Entwurf einbringen. Dritten Welt vorgezeichnet. Das wird hier ja auch gesagt. Es kommt hinzu, daß es die Vormachtstellung Ich füge hinzu, daß ich die Begründung des Mini- der starken Staaten eindeutig unterstreicht. Das sehen sterpräsidenten von Schleswig-Holstein wenig über- Sie bereits am Umgang mit dem Nein von Dänemark. zeugend finde, die lautet: Wenn schon, dann soll der In Maastricht ist zwingend vereinbart, daß alle Staa- erste Volksentscheid der über die Verfassung sein. ten den Vertrag zu ratifizieren haben; sonst kann er Das ist doch wohl kein inhaltliches Argument gegen nicht in Kraft treten. Jetzt gibt es ein Nein von einen Volksentscheid über die Maastrichter Verträge. Dänemark, und nun interessiert es die anderen Staa- Ich frage mich: Wer fürchtet hier eigentlich die Bevöl- ten schon nicht mehr, daß es dieses Nein gibt. Sie kerung? machen das Ganze trotzdem. Das heißt, sie verletzen den eigenen Vertrag, eben weil Dänemark aus ihrer (Dr. [CDU/CSU]: Herr Gysi, Sicht nicht so wichtig ist, da es ein kleinerer Staat Sie haben keine Ahnung von der Verfas ist. sung! — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Vom Volk schon gar nicht!) Ich glaube auch, daß aus dem Vertrag von Maas- tricht ein bißchen das Plagiat der deutschen Einigung — Ich bin den Menschen zumindest teilweise sehr viel hervorsticht. Ich finde, das ist eher ein schlechtes näher als Sie. Das hat seine Ursache darin, Beispiel und sollte nicht europäisch nachgeahmt wer- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Daß Sie ein den. typischer Arbeiterführer sind!) - (Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) daß ich wesentlich mehr durchs Land fahre. Auch hier soll nämlich überhastet zusammengenagelt Das Undemokratische an den Maastrichter Verträ- werden, was man in der neuen Weltordnung bean- gen besteht noch in einem weiteren Element — da sprucht oder was gegen Ansprüche anderer — seien werden Sie mir vielleicht zustimmen —, sie nun berechtigt oder nicht — abgeschottet werden (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Mal sehen!) soll. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Also, vernagelt nämlich darin, daß Befugnisse und Macht von den nationalen Parlamenten verlagert werden, was ich sind Sie!) nicht kritisieren würde, wenn die Befugnisse auf das Es ist schon hochinteressant, daß der Bundeskanzler Europäische Parlament verlagert werden würden. Sie im wesentlichen eine Abwehrbegründung gegeben werden aber auf die Kommission und auf den EG- hat: Maastricht gegen Verbrechen, Maastricht gegen Ministerrat verlagert. Das ist eine Verlagerung von 9230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Dr. Gregor Gysi der Legislative auf die Exekutive und damit an sich attraktiver zu gestalten, werden permanent die Forde- schon undemokratisch. rungen zunehmen, Sozialleistungen abzubauen und Rechte der Gewerkschaften einzuschränken. Diese (Karl Lamers [CDU/CSU]: Die werden auch Art von demagogischer Argumentation erleben wir ja ihr Recht bekommen!) nun schon seit Wochen und Monaten. Das ist auch ein In diesem Zusammenhang werden auch noch Befug- Ergebnis von Maastricht. nisse der Lander auf die Bundesregierung und die Ich füge abschließend hinzu, daß der Versuch, über EG-Kommission verlagert. Maastricht auch den Kündigungsschutz abzubauen, (Karl Lamers [CDU/CSU]: Umgekehrt! Sie Lohnabschlüsse unterhalb der Tarifabschlüsse zu sind nicht ganz up to date, Herr Kollege!) ermöglichen, die Arbeitszeit zu verlängern und Arbeitsschutzrechte, die in der DDR schon sehr weit Das ist ein weiterer undemokratischer Akt; denn wir entwickelt waren, wieder auf einen europäischen leben in einer Zeit, in der wir in erster Linie die Macht Minimalstandard zu reduzieren, die Konflikte schüren und die Machtbefugnisse so weit wie möglich dezen- muß. Wer so handelt, diskreditiert die Idee von tralisieren sollten — das hat der Bundeskanzler heute Europa, statt sie zu stärken. Daraus ergibt sich unser auch gesagt; aber er hat das Gegenteil davon in Nein zu Maastricht. Maastricht vereinbart — und die Zentrale mit den Aufgaben betrauen sollten, die sie unbedingt wahr- (Beifall bei der PDS/Linke Liste und des Abg. nehmen muß, aber nicht mit anderen. Andernfalls Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE wird das Nein zu Europa tatsächlich in eine Gegner- GRÜNEN]) schaft umgemünzt. Das ist genau der falsche Weg. Ich füge schließlich hinzu, daß ich glaube, daß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort gerade dann, wenn Nationalstaatlichkeit abgebaut hat nun der Abgeordnete Gerd Poppe. wird, die Stärkung der Regionen von besonderer Bedeutung ist. Auch das ist versäumt worden. Das gilt für Städte und Gemeinden gleichermaßen. Da hilft Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr auch das Subsidiaritätsprinzip und anderes nicht, um Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ergebnis diese Grundrichtung etwa aufzuheben. des Referendums in Frankreich hat zwar die Furcht, Allerdings gibt es eine Ausnahme, und die finde ich das große Projekt eines vereinigten Europa könne bei schon interessant: Das Subsidiaritätsprinzip wird negativem Ausgang auf lange Sicht zum Scheitern gerade bei der Ökologie angewandt, d. h. gerade auf verurteilt sein, für den Augenblick gemindert; ande- dem Gebiet, wo es ganz klar ist, daß eine kleine rerseits aber führt uns das französische Ja ebenso Region große Schwierigkeiten hat, einen Be trieb zu eindringlich wie das dänische Nein die mangelnde schließen, der umweltpolitisch nicht vertretbar ist. Akzeptanz durch die EG-Bevölkerung vor Augen. Auf Dort wird die Verantwortung auf die Region gelenkt solch dünnem Eis läßt sich kein festes Fundament für und damit festgelegt, daß in der Ökologie wenig das europäische Haus bauen. passieren wird. Wenn wir das ganze Europa der Völker und nicht nur ein Europa der zwölf Regierungen meinen, müs- Wir kritisieren auch die sicherheitspolitische sen wir uns die Frage stellen, ob es tatsächlich so Grundlage des Maastrichter Vertrages, und zwar entstehen kann, wie es der Maastrichter Vertrag deshalb, weil hier der militärische Einsatz durch eine vorzeichnet, und ob das Einverständnis der Hälfte der eurpopaweite Armee geplant ist, in der die Bundes- Bürgerinnen und Bürger des halben Europa dafür eine republik die führende Rolle spielen soll. Ich sage, die ausreichende Grundlage bildet. Und wir müssen uns EG kann die Probleme nur lösen, wenn sie friedenstif- fragen, welche Nachbesserungen notwendig, in wel- tend ist, und nicht, wenn sie sich militärisch stärkt, und chem Zeitraum und auf welchem Weg sie jeweils schon gar nicht, wenn die Bundesrepublik Deutsch- möglich sind und wie dieser Weg einsichtiger und die land daran beteiligt wird. Schritte für die Bevölkerung nachvollziehbarer wer- Noch verheerender ist, daß versucht wird, das den können. Am letzten Sonntag konnte Erleichte- Flüchtlingsproblem durch Mauern und auch durch rung aufkommen, Begeisterung kaum, am ehesten Polizei und Militär zu lösen. Ich glaube, das ist der Nachdenklichkeit angesichts der Überlegung, wie falsche Weg. Was wir brauchen, ist eine gerechtere wohl die Deutschen abgestimmt hätten, wären sie an Weltwirtschaftsordnung, die das Elend und den Hun- Stelle der Franzosen zu den Wahlurnen gerufen ger in der sogenannten Dritten Welt beseitigt und die worden. sozialen Probleme in Osteuropa lösen hilft. Sie, meine Damen und Herren, werden sich keine Wir dürfen nicht vergessen — und das scheint mir Illusionen darüber machen: Das Ergebnis in der Bun- von besonderer Bedeutung zu sein —, daß die globa- desrepublik wäre vermutlich dem französischen recht len Probleme nicht nur ökologischer, sondern auch nahegekommen. In den ostdeutschen Bundesländern sozialer Natur sind und gemeinsam angegangen wer- wäre — so ist zu befürchten — auf Grund der bedrük- den müssen. Deshalb sage ich Ihnen: Der gravierend- kenden Gemengelage von berechtigten und unbe- ste Grund für unsere Ablehnung und für unsere gründeten Ängsten, die auf die voreiligen Verspre- Forderung nach Volksentscheid ist die Tatsache, daß chungen der letzten zwei Jahre und die daraus fol- die Europäische Sozialunion auf den Sankt-Nimmer- gende Ungeduld angesichts der tatsächlichen Pro- leins-Tag verschoben worden ist. Damit wird ein bleme zurückzuführen sind, die Ablehnung wohl noch beispielloser Sozialabbau verbunden sein; denn mit deutlicher ausgefallen als in den Umfrageergebnissen dem Argument, den Wirtschaftsstando rt Deutschland für die alten Bundesländer. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9231

Gerd Poppe Es gibt viele Gründe, die Maastrichter Beschlüsse len, sollten Bundesregierung und Bundestag sich über zu kritisieren, keineswegs nur von ganz links oder eine veränderte Vorgehensweise verständigen, die ganz rechts, was immer man von diesen Kategorien innerhalb eines vertretbaren Zeitraums zu mehr halten mag. Ein Nein muß keineswegs gleichbedeu- Transparenz, zur Beseitigung der entscheidenden tend sein mit einem Nein zu Europa. Es gibt ebenso Defizite des Vertragswerks und demzufolge zu größe- viele Argumente für eine Zustimmung trotz aller rer Akzeptanz bei der Bevölkerung führen soll. Drei- Defizite, wie sehr oft gesagt wird. Auffällig ist doch, erlei scheint uns dafür erforderlich: erstens eine Atem- daß bei den bisherigen Abstimmungen oftmals pause, eine Denkpause, eine Verlangsamung der Gründe für die Zustimmung oder Ablehnung aus- Gangart auf dem Wege zur Europäischen Union; und schlaggebend waren, die mit der Vision eines geein- das ist keineswegs so etwas wie Stillstand, wie der ten Europa nur bedingt zu tun haben. Bundeskanzler meinte. Seit den jüngsten Entschei- Der Bundeskanzler hat heute diejenigen genannt, dungen der dänischen und der britischen Regierung die in Frankreich mit Ja gestimmt haben. Wo wurde gibt es keinen so großen Zeitdruck mehr für eine denn nun mit Nein gestimmt? In jenen Departements, Ratifizierung der Maastrichter Verträge im Deut- in denen die ländliche Bevölkerung sich um ihre schen Bundestag. Die gerade erst in Gang gekom- Zukunft sorgt, und in jenen, in denen die Arbeitslo- mene Debatte darf nicht durch eine überhastete sigkeit sehr hoch ist. In Dänemark kam das Nein u. a. parlamentarische Entscheidung wieder blockiert wer- durch die Befürchtung zustande, soziale Standards den. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, besonders für Frauen und Umweltstandards kämen sich mit den elf Partnern der EG auf einen neuen ins Wanken. Zeitplan für den weiteren Ablauf zu verständigen. Eine der ersten Verpflichtungen einer gemeinsa- Zweitens. Auch in der Bundesrepublik Deutschland men europäischen Politik müßte demnach sein, auf muß die Zustimmung zu einer Europäischen Union solche berechtigten Sorgen stärker einzugehen, vor durch das Votum des Volkes abgedeckt werden. Mir allem durch Verbesserung der sozial-, struktur- und sind die Bedenken gegen eine Volksabstimmung regionalpolitischen Regelungen des Vertragswerkes. wohlbekannt und durchaus verständlich, vor allem Das ist um so mehr von Bedeutung, als diese ungelö- das Argument, daß durch eine auf Ja oder Nein zu sten Probleme den wiedererstarkten nationalistischen Maastricht verkürzte Fragestellung der auf Europa Strömungen und der dumpfen Ausländerfeindlich- bezogene Wille des Volkes nicht zum Ausdruck kom- keit, die uns in letzter Zeit so stark beschäftigt, men kann und eher die Freisetzung europafeindlicher weiteren Auftrieb geben, was die Entwicklung zu nationalistischer Emotionen zu befürchten wäre. einem friedlichen und demokratischen Europa aufs Wenn wir diese Gefahr erkennen, dann können wir ihr höchste gefährdet. auch begegnen, indem wir die vorgeschlagene Atem- pause im Sinne der schon erwähnten Beseitigung der Solange die ärmeren und sozial verunsicherten bisherigen Defizite und der Klärung der dazu erfor- EG-Europäer aus dem Zusammenwachsen für sich derlichen Schritte und Zeiträume nutzen. keine neuen Perspektiven ableiten, werden sie unzu- frieden bleiben mit den Unternehmungen zur Rettung Für eine Entscheidung von solcher Tragweite, die von Maastricht aus wirtschaftlich motivierten, für die zum Teil jetzt schon Verfassungsrang besitzt und Betroffenen aber undurchsichtigen Zwecken. Da wer- letztendlich auf die Zustimmung zu einer europäi- den auch keine Werbekampagnen helfen, keine Post- schen Verfassung hinauslaufen muß, reicht auch eine wurfsendungen der Bundesregierung, die deren Vor- überzeugende parlamentarische Mehrheit nicht aus. stellungen von der europäischen Zukunft unter dem Dies gilt erst recht angesichts der aktuellen Umfra- schönstmöglichen Blickwinkel von Ansichtskarten geergebnisse. wiedergeben. Ein unre flektiertes „Weiter so!" wird Wer die Forderung nach einem Referendum als den Bürgerinnen und Bürgern ihre Sorgen und Ängste unverantwortlich bezeichnet — das wird uns gegen- nicht nehmen, sondern eher ihre Skepsis erhöhen. über hin und wieder getan —, hat meines Erachtens Die anhaltenden Währungsturbulenzen, meine nicht nur seine demokratischen Grundsätze — sprich: Damen und Herren, tragen das Ihre zur Verunsiche- die Umsetzung des Willens seiner Wähler — dem rung bei. Es ist anzunehmen, daß sie nicht durch reinen Pragmatismus der Macht unterworfen, sondern Maastricht verursacht sind; aber was soll die Bevölke- auch bereits vor den populistischen Gegenströmun- rung davon halten, wenn sich Befürworter und Geg- gen kapituliert. ner der Währungsunion durch den Währungscrash (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)- gleichermaßen bestätigt sehen? Wie anders als zwei- felnd sollen sie reagieren, wenn das Phantombild Im übrigen würde ein überhastetes Durchziehen einer scheinbaren Währungsstabilität über Nacht ver- der Verträge die Diskussionen auf Stammtischniveau schwindet und den Befürwortern des unverminderten nicht beenden und die populistischen Argumente der Tempos dann keine andere Lösung zur Einhaltung Europagegner nicht schwächen; vielmehr gäbe es ihnen neue Nahrung. des Fahrplanes einfällt, als nur noch den kleineren Teil der Passagiere mitzunehmen? Wenn Maastricht (Detlev von Larcher [SPD]: Aber das ist die sogenannte kleine Währungsunion als Über- Zweierlei! — Weiterer Zuruf des Abg. gangslösung auch nicht ausschließt, so ist diese doch Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Listel) zum gegenwärtigen Zeitpunkt die denkbar unglück- — Wir wünschen ein Referendum vielleicht aus ande- lichste Werbung für Europa. ren Motiven als Sie, Herr Gysi, der Sie damit gleich Anstatt die aktuellen Schwierigkeiten mit Zweck- den Wunsch nach einer Ablehnung des Vertragswer- optimismus und hilflosen Spekulationen zu überspie kes verbinden. Wir wünschen uns, daß das Vertrags- 9232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Gerd Poppe werk verbessert wird und daß ein größeres Verständ- intensiven öffentlichen Diskurses. Wer diesen nicht nis für den Weg nach Europa erreicht wird. Dazu, wünscht, braucht mit einer breiten Zustimmung der meinen wir, sind diese Atempause und diese Diskus- Bevölkerung nicht zu rechnen. sion, die letztendlich zu einem Referendum führt, Ich danke für die Aufmerksamkeit. notwendig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir wünschen das Referendum auch nicht heute sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke und nicht in wenigen Wochen, sondern wir legen Liste) Ihnen heute einen Antrag vor, nach dem es am Ende einer öffentlichen Debatte steht, durch die allein die erforderliche Akzeptanz der europäischen Einheit zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Bundesminister des Auswärtigen, erreichen ist. Dr. Klaus Kinkel. Drittens. Der Vertrag muß — da hilft ja nun alles nichts — wirklich verbessert oder, wenn Sie so wollen, nachgebessert werden. Einige Probleme habe ich Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: schon angedeutet. Ich möchte mich jetzt auf ganz Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal wenige weitere Beispiele beschränken, da wir ja in ist es gut, die europäischen Belange aus etwas größe- Kürze Gelegenheit haben, das Thema weiterzudisku- rer Entfernung zu sehen; das ist jedenfalls der Ein- tieren. druck, den ich von der Vollversammlung der Verein- ten Nationen in New York heute mitbringe. In all den Erwähnen möchte ich wenigstens folgende Punkte: zahlreichen Gesprächen, die ich in den letzten Tagen Die Kompetenzen der Organe der Gemeinschaft und geführt habe, ist mir das überaus große Interesse das Subsidiaritätsprinzip müssen präziser bestimmt deutlich geworden, mit dem man weltweit die Euro- werden. Die Menschen müssen wissen, über welche päische Gemeinschaft und ihre weitere Entwicklung Bereiche europäisch, über welche national und über verfolgt. welche regional entschieden wird und von wem die Das gilt ganz besonders für die mittel - und osteuro- Entscheidungen kontrolliert werden. Das Dickicht der päischen Staaten, die in diese Gemeinschaft aufge- verschiedenen, von der Unterrichtung bis zur parla- nommen werden wollen. Mir wurde erneut sehr mentarischen Mehrheitsfindung gestaffelten Verfah- bewußt, welch große Hoffnungen gerade diese Staa- ren über das Zusammenwirken von Kommission und ten mit der Gemeinschaft verbinden. Europäischem Parlament soll gelichtet werden. Nicht weniger interessiert am weiteren Fortgang Das Europäische Parlament sollte mehr Entschei- Europas sind die Entwicklungsländer, mit denen die dungsbefugnisse in den Bereichen gemeinsamer Gemeinschaft neue Formen der Zusammenarbeit und Sozial- und Umweltpolitik erhalten. Der Ministerrat der Partnerschaft erschlossen hat. sollte öffentlich tagen, nachdem zuvor Debatten der Daraus ergibt sich für mich eine zentrale Schlußfol- nationalen Parlamente über die Absichten der jewei- gerung: Wir müssen uns trotz des knappen Nein der ligen Regierungen stattgefunden haben. Die sozialen Dänen und des knappen Ja der Franzosen jetzt davor Rechte müssen auf einem hohen Niveau verankert cht zu zerreden bzw. werden, wobei sich kein Staat ausschließen darf. hüten, das Europa von Maastri zerreden zu lassen. Einwande- Sicher muß auch für eine europäische (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rungs - und Flüchtlingspolitik ein gemeinsames Kon- zept entwickelt werden, dies aber nicht auf dem Während viele Menschen in Europa, sicherlich nicht kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern verbunden ganz zu Unrecht, von Zweifel und Unsicherheiten mit der Durchsetzung der unveräußerlichen Men- geplagt sind, gilt die Gemeinschaft weltweit als Hort schenrechte. der Stabilität und — das kam heute schon mehrfach zum Ausdruck — als Hoffnungsanker. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft Schließlich will ich zum wiederholten und wahr- haben nach dem französischen Referendum in New scheinlich nicht zum letzten Male die Unterbelichtung York vor zwei Tagen mit Nachdruck eines hervorge- der politischen Union erwähnen. Die Entwicklung hoben: Das Ratifizierungsverfahren muß nun in allen seit 1989 muß endlich berücksichtigt und eine klare Mitgliedstaaten ohne Neuverhandlungen des Vertra- Perspektive für die Erweiterung auf Gesamteuropa ges und im vorgesehenen Terminplan vorangetrieben gefunden werden. Dazu gehört ein Konzept der abge- werden. Dies gilt auch für uns. Unsere Verfassung stuften Integration für Osteuropa. sieht nun einmal keine Volksabstimmung vor. Dabei sollte es auch bleiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Herr Engholm, wir haben überhaupt nicht von Wladiwostok gesprochen; aber wir sprechen sehr Es darf aber andererseits auch kein „Augen zu und wohl beispielsweise von Polen, der Tschechoslowakei durch" geben. In einzelnen Mitgliedstaaten, darunter und Ungarn. in Großbritannien, sind wir ganz zweifellos noch nicht über den Berg. Noch gilt es auch, eine Lösung für das (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat er dänische Problem zu finden. auch gesagt!) Was an Unzufriedenheit, Unsicherheit und auch Die Klärung dieser nur beispielhaft erwähnten Fra- Unverständnis in vielen Ländern der Gemeinschaft, gen bedarf wie die der vielen anderen nicht nur uns eingeschlossen, aufgekommen ist, kann nicht weiterer Regierungsverhandlungen, sondern eines einfach beiseite geschoben werden. Das Europa der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9233

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Bürger entsteht eben nicht nur durch Verträge; es muß der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern, aus den Herzen der Menschen und aus Verständnis wodurch wir im Herzen Europas in besonderer Weise geborener Akzeptanz erwachsen. betroffen sind, die Schaffung eines globalen und regionalen kollektiven Sicherheitssystems und die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Welt- Deshalb müssen wir in den vor uns liegenden Wochen markt eben nicht mehr national bewältigt werden und Monaten alles tun, um das Vertrauen der Men- können. schen in eine gemeinsame europäische Zukunft zu Drittens. Die Unabwägbarkeit der Entwicklungen stärken. Dies ist jetzt die wichtigste Aufgabe der in den mittel- und osteuropäischen Ländern macht die Gemeinschaftspolitik. Gemeinschaft als Stabilitätsanker in stürmischer See Vor allem geht es um eine Antwort auf die Frage: notwendiger denn je. Dies erfordert auch, daß wir die Wie können wir das Unbehagen und die Zweifel Gemeinschaft mit der Vertiefung gleichzeitig erwei- unserer Bürger an diesem Vertragswerk auffangen, tern. Festen Halt und Orientierung kann die Gemein- ohne daß wir die Verträge verändern? Eine Neuver- schaft Europa aber nur dann geben, wenn sie sich über handlung würde eine Gefährdung alles bisher den jetzigen Integrationsstand hinaus zur Schicksals- Erreichten bedeuten. Und ob es in absehbarer Zeit zu gemeinschaft der Europäischen Union verbindet. einer neuen Einigung kommen würde, ist in meinen Hierzu genügt ein gemeinsamer Binnenmarkt und Augen zumindest fraglich. Angesichts der anhalten- eine bloße Koordinierung nationaler Außenpolitiken den politischen Verwerfungen östlich von uns müßte unserer Meinung nach eben nicht. dies zu politischer Unsicherheit auf unserem Konti- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nent führen. ten der CDU/CSU) Eine Vertragsänderung wäre ferner — auch das Eine solche Schicksalsgemeinschaft entsteht nur muß man deutlich sagen — eine Prämie für diejenigen durch eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Partner, die die Ratifizierung hinausschieben, und Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Und eine Benachteiligung der Länder, die bereits, zum Teil darum geht es ja beim Maastrichter Vertragswerk. unter nicht unerheblichen Mühen, ratifiziert haben. Dabei wurde auch die WEU in den Rahmen der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Europäischen Union eingefügt und damit ein ent- Zudem — das wird meines Erachtens sehr leicht scheidender Schritt zur Schaffung einer zukünftigen übersehen — wäre sie auch ein Affront gegenüber gemeinsamen europäischen Verteidigung getan. dem Europäischen Parlament, das sich trotz mancher Richtig ist: Dieser Maastrichter Vertrag mußte die Bedenken mit Mehrheit zur Zustimmung durchgerun- Interessen von zwölf Mitgliedstaaten in Einklang gen hat. bringen; das war wahrhaftig nicht einfach. Er weist Nein, jetzt ist unsere politische und juristische Unzulänglichkeiten auf. Auch wir Deutsche hätten Phantasie gefragt. Es muß eine andere Lösung geben. uns bei der Vertragsgestaltung manches anders Die Sondertagung des europäischen Rats am 16. Ok- gewünscht. tober 1992 in Birmingham kann sie aufzeigen. (Zurufe von der F.D.P.: Natürlich!) Ja, auch in Deutschland gibt es verbreitete Sorge Trotzdem ist dieser Vertrag mehr als ein „kleinster um die Stabilität einer zukünftigen europäischen gemeinsamer Nenner" . In seiner Gesamtheit gesehen Währung, um den Verlust der nationalen und kultu- stellt er einen erheblichen Fortschritt im europäischen rellen Identität, Sorge vor Überbürokratisierung und Einigungsprozeß dar. Man konnte jedenfalls bisher vor Machtlosigkeit gegenüber einer alles entschei- — hoffentlich auch weiterhin — den Eindruck gewin- denden, parlamentarisch nicht ausreichend kontrol- nen, daß sich die Zwölf im Grunde in diesem Vertrag lierten Brüsseler Zentrale. Auf diese Sorgen und wiederfinden. Fragen müssen wir eingehen und uns zugleich ins Dieser Vertrag steht im übrigen nicht am Ende, Gedächtnis zurückrufen, was eigentlich der Kern der sondern am Anfang einer weiteren Entwicklung. Die europäischen Einigung ist, weshalb wir die Europäi- Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft hat sich sche Union wollen und weshalb wir sie auch brau- immer stufenweise vollzogen. Auch jetzt springen wir chen. Es gibt drei, wie ich meine, herausragende nicht einfach in das kalte Wasser der Währungsunion; Gründe, die dafür sprechen. diese Befürchtung ist unbegründet. Zunächst müssen Erstens. Der unseligen europäischen Vergangen- sich die Wirtschaften der Mitgliedstaaten einander- heit der Rangstreitigkeiten, Eifersüchteleien, der nähern. Erst dann werden die Währungen zusammen- Hegemonie- und Allianzpolitik setzen wir nur geführt. dadurch ein Ende, daß wir die Gefahr eines unguten, (Dr. [F.D.P.]: So ist es!) übersteigerten Nationalismus durch ein noch engeres Zusammengehen endgültig überwinden. Gerade die Das Europäische Währungssystem hat trotz der letzten Tage und Wochen haben uns doch eigentlich Turbulenzen in der vergangenen Woche seine Funk- klar gezeigt: Ein Stillstand der Integration bringt die tions- und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Wenn der Gefahr einer Auflösung des bereits Erreichten. Vertrag von Maastricht bereits in Kraft gewesen wäre und die Märkte über diese Sicherheit verfügt hätten, Der zweite Grund ist, daß die großen Herausforde- wäre es wahrscheinlich nicht zu den jüngsten Wäh- rungen unserer Zeit wie die Erhaltung des ökologi- gekommen. schen Gleichgewichts, die Ernährung einer explosiv rungsturbulenzen anwachsenden Weltbevölkerung, die Bedrohung Ich habe dies bei unserem Zwölfer-Treffen in New durch organisiertes Verbrechen und Drogenhandel, York auch den Kollegen, die jetzt etwas in Schwierig- 9234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel keiten geraten sind, deutlich gesagt und darauf hin- Wohlstand auf dem gemeinsamen europäischen gewiesen, daß wir natürlich bei der bisherigen Argu- Markt beruht, daß wir bisher am meisten von Europa mentation und der Logik verbleiben müssen. Deshalb profitiert haben. Ich versuche immer wieder nach bleibt das Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion draußen zu argumentieren: Wir Deutsche würden im weiterhin richtig. Wir müssen aber verstärkt an den übrigen auch diejenigen sein, die von der Europäi- wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirkli- schen Union à la Maas tricht in Zukunft am meisten chung arbeiten. profitierten. Auch am Fahrplan für ihre stufenweise Verwirkli- Die Europäische Union bringt für uns Bürger kein chung brauchen wir nichts zu ändern. Es können nur Weniger, sondern ein Mehr an Rechten im gesamten diejenigen Mitgliedstaaten von Anfang an eine Wäh- Raum der Europäischen Gemeinschaft. Unionsbür- rungsunion bilden, die die wirtschafts- und finanzpo- gerschaft, Niederlassungsfreiheit, kommunales Wahl- litischen Konvergenzvoraussetzungen erfüllen. Vor recht, stärkere Freizügigkeit sind Beispiele. den vom Europäischen Rat von 1996 bis 1998 zu treffenden Entscheidungen werden Bundestag und Auch künftig werden die Menschen in Europa Bundesrat erneut damit befaßt werden. Es kann ja jedoch ihrer eigenen Geschichte und Kultur treu wohl kein Zweifel bestehen, daß eine Bundesregie- bleiben können. Es wird keinen europäischen Schmelztiegel geben; das will auch niemand. Einheit rung, die nicht die Mehrheit des Deutschen Bundes- tages hat, diesen Dingen nicht zustimmen könnte. in Vielfalt ist vielmehr das Ziel. Die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ist im Ver- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der trag ausdrücklich festgehalten. SPD) Meine Damen und Herren, allein schon die durch Wir haben uns insbesondere gemeinsam mit Bel- den Zerfall der Sowjetunion auf Europa zukommende gien und Italien dafür eingesetzt, daß das Europäische Herausforderung zeigt, wie dringlich eine größere Parlament die Rechte erhält, die für ein nationales außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Parlament selbstverständlich sind, und sind dabei der Europäischen Gemeinschaft ist. Dies ist nur durch durchaus ein gutes Stück weitergekommen. Das letzte eine neue Qualität der Zusammenarbeit erreichbar. Wort hat nicht mehr stets der Rat — mehr war in Der Maastrichter Vertrag bringt eben den Einstieg in Maastricht nicht zu erreichen. diese neue Qualität. In zentralen Fragen gemeinsa- (Zuruf von der F.D.P.: Leider wahr!) men Interesses wird die Europäische Union nicht nur mit einer Stimme sprechen, sondern in Zukunft hof- Auf der Revisionskonferenz im Jahre 1996, also noch fentlich auch gemeinsam handeln. vor Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, werden wir auf weitere Fortschritte Mit Blick auf den Jugoslawien-Konflikt ist die drängen. Gemeinschaft oft kritisiert worden. Man muß sich aber fragen und auch fragen dürfen: Was wäre eigentlich Die Sorge unserer Bürger, Europa könne sich zu geschehen, wenn es den jetzigen Integrationsstand einem bürokratischen Moloch entwickeln, ihre natio- nicht gegeben hätte? Ohne die Bindung durch die nale und kulturelle Identität würde verlorengehen, Gemeinschaft hätte Europa in diesem Konflikt muß zweifellos ernstgenommen werden. Ganz sicher womöglich vor einer gefährlichen politischen Zerreiß- müssen — das kam heute schon mehrfach zum Aus- probe gestanden. druck — auch die Brüsseler Prozeduren transparenter gestaltet werden. Der Mann auf der Straße vor allem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU muß besser verstehen können, wer wie über seine sowie bei Abgeordneten der SPD) Zukunft Entscheidungen trifft. Das wird zu oft von den Euroskeptikern übersehen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Roland Dumas hat auf der Londoner Jugoslawien Richtig ist sicher auch, daß man in der Vergangen- Konferenz in einem beschwörenden Appell die heit bei dem Ziel der Harmonisierung manchmal deutsch-französische Versöhnung und Freundschaft etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Ein Umden- als beispielhaft auch für die Konfliktparteien im ehe- ken hat eingesetzt. Jacques Delors selber hat das maligen Jugoslawien bezeichnet. Die enge Verbin- Subsidiaritätsprinzip als neue Leitlinie in der Kom- dung zwischen Deutschen und Franzosen ist in der Tat missionsarbeit erklärt. Was von den Mitgliedstaaten, das eigentliche Unterpfand für die Überwindung des von den Ländern, den Regionen, den Gemeinden Nationalismus in ganz Europa. Sie stand am Anfang geleistet werden kann, wird auch dort geregelt wer- der nunmehr 40jährigen Erfolgsgeschichte -der Euro- den und nicht zentral von Brüssel aus. päischen Gemeinschaft. Ohne den deutsch-französi- schen Schulterschluß geht in Europa wenig; mit ihm Was ebenfalls noch viel deutlicher werden muß: Die geht sehr viel. Dies wird eine Grundmaxime unserer Gemeinschaft wurde nicht gegründet, um Ämter zu Europapolitik bleiben. schaffen. Sie ist keine Angelegenheit nur von Spezia- listen. Sie ist für die Bürger zur Sicherung ihrer 40 Jahre europäische Einigung haben stets auch Zukunft und der ihrer Kinder geschaffen. den nationalen deutschen Interessen gedient. Bitte nicht vergessen: hat Das Maß an wirtschaftlichen Zukunftschancen, an Europa Deutschland den Weg zur gleichberechtigten Partnerschaft Freizügigkeit sowie sozialer und innerer Sicherheit, in Europa und der Welt eröffnet. Ohne die Europäische Gemeinschaft das wir durch die Europäische Gemeinschaft erreicht wäre an eine Wiedervereinigung im Einklang mit haben, nehmen wir inzwischen allzuoft als pure Selbstverständlichkeit hin. Gerade uns Deutschen unseren Nachbarn nicht zu denken gewesen. muß aber bewußt bleiben, wie entscheidend unser (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9235

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Es wäre ein großes historisches Versagen, wenn wir schon das EWS nicht funktioniere. Das Gegenteil ist jetzt innehalten würden. Die letzten Wochen haben richtig, meine Damen und Herren. gezeigt: Wer in Europa Fortschritte verhindert, fordert zwangsläufig den Rückschritt heraus. Seien wir uns (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sehr gut!) bewußt: Als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungs- Das Europäische Währungssystem ist eine Erfolgs- reichstes Land in der Mitte Europas ist Deutschland in geschichte: nicht nur, daß wir zwei Drittel unseres besonderer Weise auf die fortschreitende europäische Exports seit Jahren auf vergleichsweise berechenba- Integration angewiesen. ren Währungsrelationen abwickeln können, auch die Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Fragen, anderen Länder haben wegen des Wunsches, in der sondern in erster Linie um die Sicherung eines fried- Bandbreite des EWS zu bleiben, ganz erhebliche lichen und harmonischen Zusammenlebens mit unse- Stabilitätsanstrengungen unternommen. ren Nachbarn. Dies ist eben nur dann auf Dauer (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gewährleistet, wenn wir uns mit diesen Nachbarn ten der CDU/CSU) möglichst eng verbinden. Ergreifen wir jetzt die Jahrhundertchance zur Schaffung einer solchen Die Abwertungen der letzten Woche sind kein engen, dauerhaften und prosperierenden Gemein- Gegenargument. Es gehört zur Philosophie des EWS, schaft der europäischen Völker. daß es angesichts unterschiedlicher Finanz- und Wirt- Ich behaupte nach wie vor: Die Menschen in Europa schaftspolitiken ab und zu zu Wechselkursanpassun- wollen Europa, wenn wir ihnen ihre nationale Identi- gen kommt. tät lassen. Das sollten wir tun, das sollte unsere Politik (Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) sein. Nein, Ursache für die Währungsturbulenzen war Ich danke Ihnen. nicht die Schwäche des Europäischen Währungssy- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) stems, sondern die Schwäche der nationalen Regie- rungen: der britischen Regierung, die mit dem Pfund zu hoch in das EWS eingestiegen ist und dann aus Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nationalen Prestigegründen nicht abwerten wollte; hat nunmehr die Abgeordnete Frau Ingrid Matthäus- die Schwäche der italienischen Regierung, ihre Haus- Maier. halts- und Finanzpolitik in Ordnung zu bringen; und auch die Schwäche der deutschen Bundesregierung mit ihrer ausufernden Schuldenpolitik. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Es muß uns alle (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten betroffen machen, wie sehr Europa seit Maastricht ins des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Dr. Gerede gekommen ist. Einer der Gründe ist sicher, Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Was?) daß die Menschen Errungenschaften wie Frieden, Der Schlüssel für die notwendige Zinssenkung liegt, Freizügigkeit und Wohlstand als etwas völlig Selbst- wie jeder weiß, in Bonn. Wer aber ein solches Finanz- verständliches hinnehmen. Dies alles ist aber nicht chaos veranstaltet wie diese Bundesregierung, der selbstverständlich. Nur wenn man Europa weiter aktiv darf sich nicht wundern, daß die Zinsen nicht weiter gestaltet, wird man Rückfälle in Nationalismus auf sinken, und der ist mitverantwortlich dafür, daß die Dauer vermeiden, wie wir sie in anderen Teilen Turbulenzen im Europäischen Währungssystem ein Europas doch sehen. solches Ausmaß angenommen haben. Auch Sie, Herr Bundeskanzler, haben leider zu einer gewissen Europaverdrossenheit beigetragen. (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wenn die Welt so einfach (Widerspruch bei der CDU/CSU und der wäre!) F.D.P.) Befürchtung Nr. 2: die Deutschen verschenkten die Niemand spricht dem Herrn Bundeskanzler den guten Mark, ohne etwas dafür zu bekommen. Ich sage Willen für Europa ab. Aber haben Sie nicht im dagegen: Wenn wir es richtig machen, dann wird November 1991 erklärt, „die Politische Union ist das unsere Währung noch sicherer und stabiler. Die unerläßliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Wäh- Bürde, Weltreservewährung Nr. 2 zu sein, ist leichter rungsunion"? Damit hat der Bundeskanzler wieder zu tragen, wenn sie nicht nur von der Mark alleine, einmal Erwartungen erweckt, die später nicht einge- - löst wurden; das war schon nicht gut für die deutsche (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!) Einheit, und das ist auch nicht gut für Europa. sondern von den breiten Schultern eines stabilen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Währungsblocks getragen wird. Nur auf diese Weise des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) können wir auch verhindern, daß die Spekulanten Wir dürfen Europa auch nicht an unseren Bürgern weiter an Oberwasser gewinnen. vorbei entwickeln. Wir müssen die Sorgen und Ängste Der Bonner „General-Anzeiger" schrieb über die der Menschen aufgreifen und ausräumen: wo sie Währungsspekulanten: „Die kostspielige Wechsel- unbegründet sind, durch beharrliche Aufklärung, wo kursvielfalt der EG-Staaten ist deren liebste Spiel- sie begründet sind, durch eine bessere Politik. wiese. Kein Wunder, daß sie", — die Spekulanten — Befürchtung Nr. 1: Eine europäische Währungs- „der Gedanke an eine einheitliche Währung in Panik union könne nicht funktionieren, die Turbulenzen im versetzt". Ich glaube, der „General-Anzeiger" hat es Europäischen Währungssystem hätten gezeigt, daß auf den Punkt gebracht. 9236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Ingrid Matthäus-Maier Befürchtung Nr. 3: eine Gemeinschaftswährung Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. könne nicht so hart sein wie die D-Mark. Ich stelle klipp und klar fest: Die gemeinschaftliche europäi- Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Frau Kollegin sche Währung kommt für uns nur dann in Be tracht, Matthäus-Maier, könnten Sie verifizieren, in welcher wen sie mindestens so stabil ist wie die Mark. Ist das Form ich irgendwo in diesem Zusammenhang etwas nicht der Fall, dann wird es eine gemeinschaftliche gesagt habe, was nicht korrekt gewesen wäre und europäische Währung schlicht und einfach nicht auch im Zeitablauf mit der Bundesbank in allen geben. Einzelheiten abgestimmt war? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Waigel, Im Vertragstext sind die Voraussetzungen erfüllt. das ist ganz einfach — und alle haben es am Fernse- Bundesbankpräsident Schlesinger hat es selbst bestä- hen mitbekommen —: Sie haben einen Tag, bevor der tigt, als er sagte: „Alle für den Erfolg der Währungs- Zentralbankrat die Senkung der Zinsen überhaupt union unverzichtbaren Hauptforderungen sind erfüllt erst beschlossen hat, dieses im Fernsehen verkündet. worden." Es kommt jetzt darauf an, daß von dem Mein Eindruck, daß das eine Desavouierung der Vereinbarten nicht abgewichen wird. Bundesbank war, ist nicht der Eindruck der Sozialde- mokraten alleine, sondern es ist in allen öffentlichen Wir werden peinlich genau darauf achten, daß die Publikationen von rechts bis links — selbst bei regie- formal garantierte Unabhängigkeit der Europäischen rungsfreundlichen — dieser Eindruck ausdrücklich Zentralbank nicht in Frage gestellt wird. Deswegen bestätigt und kritisiert worden. weisen wir die Äußerung von Präsident Mitterrand zurück, der gesagt hat, die Europäische Zentralbank (Beifall bei der SPD) sei nur für technische Abläufe zuständig. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine (Beifall bei der SPD, der F.D.P. sowie bei Zusatzfrage? Abgeordneten der CDU/CSU)

Erst recht aber müssen wir verlangen, daß die Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. deutsche Bundesregierung keinen Zweifel an der Unabhängigkeit der Zentralbank aufkommen lassen Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Sind Sie bereit, zur darf. Kenntnis zu nehmen, daß sich die finanzpolitische (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist Sprecherin der SPD nicht von Eindrücken, sondern klar!) von klaren Erkenntnissen leiten lassen sollte? Sind Sie Die Art und Weise — da sind wir uns, glaube ich, alle bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Deutsche einig —, wie der deutsche Finanzminister in der Bundesbank selber durch ihre Vertretung im Wäh- letzten Woche die Senkung der Leitzinsen im Fernse- rungsausschuß die Senkung am Sonntag nachmittag hen hinausposaunt hat, noch bevor der Zentralbank- angekündigt hat und hat verbreiten lassen, daß ich rat dieses am nächsten Tag beschlossen hat, war in der dies erst danach bestätigt habe, ich tatsächlich also 40jährigen Geschichte der Bundesbank eine noch nie erst nach der Sitzung des Zentralbankrats etwas über dagewesene Desavouierung. die Höhe ausgesagt habe? (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Es ist schlichtweg falsch, was Sie sagen!) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Über die Höhe haben Sie in der Tat erst nach der Sitzung etwas ausge- Dies darf sich nicht wiederholen. sagt. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Erste Korrek Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus tur! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- — Das habe ich auch nicht anders behauptet. ordneten Faltlhauser? Herr Kollege, ich nehme zur Kenntnis, daß es offensichtlich nicht Ihre Absicht war, die Deutsche Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Bitte, Herr Faltlhau- Bundesbank und ihre Autonomie in Frage zu stellen. ser. Aber dann sollten Sie in Zukunft vermeiden, daß sich ein solcher Vorgang wiederholt, dann sind wir alle ein Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Kollegin, Stück weiter, Herr Waigel. - würden Sie bitte meine Empfehlung annehmen, sich (Beifall bei der SPD) über die präzisen Abläufe zu informieren, bevor Sie das vor dem Plenum des Deutschen Bundestages so Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine behaupten? Würden Sie akzeptieren, daß eine ent- weitere Zusatzfrage? sprechende Resolution der Bundesbank die Öffent- lichkeit bereits erreicht hat, bevor der Finanzminister (SPD): Wir können das noch Entsprechendes in der Öffentlichkeit gesagt hat? Ingrid Matthäus-Maier eine Weile so weitermachen, gerne. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat gesessen!) Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Präsident der Bundes- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus- bank in Washington und an anderer Stelle ausdrück- Maier, gestatten Sie auch gleich noch eine Zwischen- lich zum Ausdruck gebracht hat, daß sich der Finanz- frage des Abgeordneten Waigel? minister und die Regierung im Ablauf zu jedem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9237

Dr. Theodor Waigel Zeitpunkt korrekt und in Abstimmung mit der Bun- gen. " Dies heißt, daß ein Automatismus nicht in Frage desbank verhalten haben? kommen kann. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Melden Ich verweise darauf, daß die SPD in der Verfas- Sie sich doch in der Debatte zu Wort!) sungskommission ausdrücklich ihren Vorbehalt zu Protokoll gegeben hat. Ich bin Herrn Außenminister Kinkel dafür dankbar, daß er heute hier die Klarstel-

Ingrid Matthäus - Maier (SPD): Herr Waigel, erstens lung vorgenommen hat, daß vor dem Beginn der scheint es Sie wirklich getroffen zu haben; dritten Stufe Bundestag und Bundesrat erneut ent- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Man scheiden müssen. Wir fordern Sie auf, dies den ande- läßt sich ungern verleumden!) ren Mitgliedstaaten in Europa mitzuteilen. sonst würde dieses Zwischenspiel nicht stattfinden. (Beifall bei der SPD) (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Ihre Ant Fünftens schließlich wird befürchtet, der Zeitraum worten werden immer schlimmer!) für eine Europäische Währungsunion bis 1999 sei zu Zweitens. Sie werden mir sicherlich bestätigen, daß kurz bemessen; es wird gefordert, am besten solle der es nach diesem Durcheinander am Wochenende wirk- Vertrag überhaupt keine Jahreszahl enthalten. Ich lich die Höhe gewesen wäre, wenn das Durcheinan- sehe das anders. Man mag das für ehrgeizig halten. der zwischen Bonn und Frankfurt auch noch in aller Aber ohne ehrgeizige Ziele kommen wir doch nicht voran. Das ist doch auch die Erfahrung des täglichen Öffentlichkeit in Washington bestätigt worden Lebens: Nur ein konkreter, überschaubarer Termin wäre. übt den Disziplinierungsdruck auf alle EG-Länder (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Erst aus, ihre Haushalts- und Finanzpolitik in Ordnung zu verleumden und dann noch sagen, es hat bringen. getroffen!) Ich weiß aus vielen Gesprächen, z. B. mit Italienern, Erst recht werden wir darüber wachen müssen, daß Spaniern, Portugiesen und Griechen, daß sie das sich an einer Währungsunion nur solche Länder genauso wie wir sehen. Nur das Wissen, daß man jetzt beteiligen dürfen, die die notwendige Stabilitätspoli- das Ruder in der Finanz- und Wirtschaftspolitik her- tik betreiben. Wenn am Tag X nur einige EG- umreißen muß, um in Europa nicht auf Dauer ins Mitgliedstaaten die Voraussetzungen erfüllen, dann Abseits zu geraten, zwingt z. B. Italien dazu, ernsthaft wird die Währungsunion zunächst nur in kleinerem an die Sanierung der Staatsfinanzen heranzugehen. Kreis starten. Höchste Zeit ist es ja mittlerweile. Ohne Druck, auch Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß man mit zeitlichen Druck, geht in Europa leider viel zu wenig. einer Kernwährungsunion der stabilsten EG - Länder Übrigens habe ich den Eindruck, daß auch der Bun- beginnt, wie ich es bereits seit April 1991, z. B. in desregierung ein solcher Stabilitätsdruck aus Brüssel einem Aufsatz im „Handelsblatt" , gefordert habe. Aus guttun würde, um auf den Pfad stabilitätspolitischer heutiger Sicht könnten das z. B. Deutschland, Frank- Solidität zurückzufinden. reich, die Benelux-Staaten und auch Dänemark sein, (Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek wenn die Dänen sich anders besinnen. Wenn Öster- Zeul [SPD]) reich und die Schweiz beigetreten sein werden, gehö- ren auch diese sicher dazu. Denn Deutschland erfüllt ja heute leider nicht die Voraussetzungen, um selber an der Europäischen Ein solches Europa der zwei Geschwindigkeiten Währungsunion teilzunehmen. Das muß sich bald wäre kein Beinbruch. Das ist doch auch bisher für die ändern. Entwicklung in der EG kennzeichnend gewesen. 1957 haben erst einige mit der EG begonnen; auch 1979 (Beifall bei der SPD) fingen mit dem EWS erst einige an. Andere stießen Viele Menschen fühlen sich verunsichert, wenn sie später hinzu. den Namen ECU für die neue Gemeinschaftswährung Schließlich ist für die Stabilität der Währung wich- hören. Wir sollten dieses Gefühl der Menschen ernst tig, daß auch die dafür verantwortliche Zentralbank in nehmen. Warum können wir uns nicht darauf einigen, einem Umfeld der Stabilität tätig ist, bei der gemeinschaftlichen europäischen Währung (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: In Frank mit den gewohnten Währungsbezeichnungen weiter- furt, nicht in Bonn!) zumachen, also z. B. in Frankreich vom Euro-Franc, in Holland vom Euro-Gulden oder in Deutschland- eben Ich meine, das ist ein entscheidender Grund dafür, daß von der Euro-Mark zu sprechen. Ich glaube, das wäre die Europäische Zentralbank nach Deutschland kom- eine gute Sache. men muß. (Zuruf von der CDU/CSU: Das war Waigels Viertens fürchten viele Menschen den im Maas- Vorschlag!) trichter Vertrag festgelegten Automatismus, demzu- folge 1999 die Gemeinschaftswährung kommen soll. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen auch den Wir Sozialdemokraten wollten diesen Automatismus Mißmut ernst nehmen, der sich bei den Bürgern in nie. Wir haben ihn abgelehnt. Herr Bundeskanzler, bezug auf Europa aufgestaut hat. Da kann man nicht ich frage Sie, warum Sie sich nicht an Ihre Worte vom nur aufklären; da gibt es auch echte Mißstände, die 6. November 1991 hier im Bundestag gehalten haben. man ändern muß. Der Bundeskanzler hat jetzt selber Dort haben Sie gesagt: „Kein Mitgliedstaat wird über die sogenannte Regelungswut von Brüssel gegen seinen Willen zur Mitgliedschaft in der End- gesprochen. Ich finde das gut. Aber daß die Bundes- stufe zur Wirtschafts- und Währungsunion gezwun regierung das tut, ist doch ein bißchen erstaunlich; 9238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Ingrid Matthäus-Maier denn wir wissen alle, daß es eine Frage nicht nur der Unterlassen Sie das! Wir müssen der Kritik an Europa Kommission, sondern aller nationalen Regierungen den Boden entziehen, damit Leute wie Schönhuber, ist. Gauweiler von der CSU und Brunner von der F.D.P. (Karl Lamers [CDU/CSU]: Unter anderem!) (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Und Mat Ich gebe Ihnen einen Vorschlag mit, damit endlich thäus-Maier!) das Schwarze-Peter-Spiel aufhört: Ist nun die Kom- mit ihren antieuropäischen Parolen keinen Zulauf mission an der Regelungswut schuld, oder sind es die erhalten. nationalen Regierungen? Ich komme zum Schluß. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Oder ist es die (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Sehr gut!) Opposition?) Wir Sozialdemokraten haben den Maastrichter Ver- trag nicht ausgehandelt. Er enthält Mängel und Feh- Da gibt es eine einfache Lösung. Setzen Sie beim ler. Trotz dieser Mängel ist er ein Fortschritt auf dem kommenden Gipfel in England durch, daß die Mini- Weg zu einem geeinten Europa. Deshalb werden wir sterräte künftig öffentlich tagen! Dann wissen wir, an Sozialdemokraten dem Vertrag zustimmen. wem es liegt. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD — Peter Conradi [SPD]: (Beifall bei der SPD) Damit die Mauschelei aufhört!)

Sie tun Europa keinen Gefallen, wenn Sie sich bei Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht unbequemen Entscheidungen wahrheitswidrig hinter der Abgeordnete Karl Lamers. Europa verstecken. Es war nicht gut für Europa, daß (Dr. [CDU/CSU]: Jetzt Sie die Erhöhung der Mehrwertsteuer wahrheitswid- kommt endlich Niveau in die Debatte!) rig den angeblichen Zwängen der europäischen Har- monisierung in die Schuhe geschoben haben. Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ver- (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Das stimmt ehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis der nicht!) teilweise turbulenten Ereignisse der letzten Wochen Bis heute gibt es die Richtlinie nicht. ist ohne jeden Zweifel: Für den weiteren Fortgang des europäischen Einigungsprozesses kommt auf die Bun- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Das desrepublik Deutschland, vor allem auf die Bundesre- stimmt!) gierung, eine noch größere Verantwortung zu. In einer solchen Situation ist es gut, feststellen zu Glauben Sie etwa, meine Damen und Herren von können, daß die Rede des Vorsitzenden der Sozialde- der Regierungskoalition, daß Sie Europa bei unseren mokratischen Partei signalisiert und deutlich gemacht Bürgern in ein gutes Licht rücken, wenn die Men- hat, daß es hier einen Konsens zwischen den großen schen lesen, daß Milliarden und Abermilliarden von Fraktionen des Bundestages gibt. Steuergeldern für europäische Agrarexportsubven- tionen aus dem Fenster geworfen werden? Die Men- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schen werden doch zu Recht wütend, wenn sie z. B. Ich bedauere ein wenig, daß der Ministerpräsident lesen, daß die Europäische Gemeinschaft hundert- von Schleswig-Holstein uns hat verlassen müssen. tausend Tonnen Rindfleisch an Brasilien für eine Mark Das ändert nichts daran, daß diese Feststellung pro Kilo verkauft, selber aber sechs Mark pro Kilo zutrifft. zahlt, so daß der Steuerbürger in Europa pro Kilo Ich bedauere etwas mehr, Frau Kollegin Matthäus Rindfleisch fünf Mark Subventionen dazuzahlt. Maier, daß Sie glaubten, in dieser Situation auf eine etwas billige und polemische Art den Versuch unter- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Bitte ohne nehmen zu müssen, dem Bundesfinanzminister und Emotionen!) dem Bundeskanzler europäische Unzulänglichkeiten Glauben Sie, daß bei den Menschen die Europa- vorzuwerfen. Begeisterung ausbricht, wenn die Europäische Ge- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ja!) meinschaft im sogenannten Delors -II- Paket völlig Das ist in beiden Fällen so offenkundig unsinnig,- daß überzogene Finanzforderungen aufstellt, während zu es in ihrem eigenen Interesse und dem ihrer Fraktion Hause hinten und vorne das Geld fehlt und den besser gewesen wäre, wenn Sie darauf verzichtet Bürgern dauernd mit Steuer- und Abgabenerhöhun- hätten. gen in die Tasche gegriffen wird? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nein, meine Damen und Herren; sorgen Sie dafür, Über den Bundeskanzler brauche ich hier wirklich daß auch in Brüssel, wenn neue Aufgaben finanziert nichts zu sagen. werden müssen, erst einmal gespart wird! Vertreten Sie dort die Interessen der deutschen Bürger! Glauben (Uwe Lambinus [SPD]: Sehr wahr!) Sie etwa, daß diese Schnapsidee mit der neuen Aber was den Bundesfinanzminister angeht, will ich Bananensteuer die Freude der Bürger an Europa feststellen: Es war eine mutige, weitsichtige und wachsen läßt? erfolgreiche Tat des Vorsitzenden der CSU, dem Vertrag über die Währungsunion zuzustimmen. (Unruhe bei der CDU/CSU) Denn die Voraussetzungen, die wir zur Gültigkeit in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9239

Karl Lamers diesem Vertrag formuliert haben, zweifellos so restrik- Antrag formulieren. Ich finde, wir sollten das unter tiv sind, daß ich es, offen gestanden, vorher nicht für allen Umständen vermeiden. möglich gehalten habe, sie durchzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es kann in der Tat keine Frage sein, daß auf diesem Wir sollten auch etwas anderes unseren Bürgern Feld der Währungspolitik die besondere deutsche klar sagen: Wenn die Voraussetzungen stimmen — ich Verantwortung am klarsten zum Ausdruck kommt. wiederhole: nur dann wird es die Währungsunion Die Bundesbank, ja die Bundesrepublik Deutschland geben —, dann ist sie kein Geschenk an die anderen, — auch dieses Parlament und die Bundesregierung — sondern dann liegt sie nicht zuletzt im deutschen treffen bei allen ihren finanzpolitisch relevanten Ent- Interesse. scheidungen zugleich europäische Entscheidungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich halte es für notwendig, uns allen, besonders den Kritikern, die Frage vorzulegen, was die Alternative Wir betreiben diese Politik nicht, um anderen einen zu dieser Währungsunion wäre. — Die Alternative der Gefallen zu tun, auch nicht des verständlichen Pre- Währungsunion ist schon in der Reaktion der interna- stigebedürfnisses anderer wegen. Wir betreiben eine tionalen Finanzmärkte auf das Referendum in Däne- Politik im deutschen Interesse. Aber wir wissen eben, mark sehr deutlich geworden. daß die Interessen aller unserer Partner, vor allem derjenigen, mit denen wir in der Europäischen (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: So ist Gemeinschaft verbunden sind, schon heute nicht von es!) den deutschen Interessen zu trennen sind. Das Ergebnis war, daß ganz Europa für das interna- Es wird viel von der mangelnden Zustimmung der tionale Anlagekapital uninteressanter geworden ist, Bürger gesprochen, und es wird nach den Ursachen daß die ohnehin schwächeren Währungen noch gesucht. Dabei wird die „Regelungswut" genannt. schwächer geworden sind und daß die Führungs- und Aber der Bundeskanzler hat hier selber zugegeben Ankerfunktion der D-Mark noch stärker betont wor- — ich erinnere Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, den ist — ein den Dänen in der Tat bekanntes daran —, daß wir manchmal selber daran schuld sind, Ergebnis, wenn in Brüssel geregelt wird, was nicht unbedingt (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Ja, und für geregelt werden muß. Aber wir wollen doch nicht so die Engländer!) tun, als wäre der Bürger von der Regelungswut in die nicht zuletzt aus Furcht vor der Vormacht der Brüssel mehr betroffen als von der Regelungswut in D-Mark in einem vereinten Europa so gestimmt seiner Gemeinde. Ich selber habe in einem Jahr drei haben. Wenn wir von „Führungs- und Ankerfunktion widersprüchliche Müllbescheide bekommen. Von der D-Mark" sprechen, hören unsere europäischen Brüssel habe ich noch überhaupt keine Regelung Partner natürlich noch etwas anderes heraus und erfahren. benutzen dann weniger freundliche Ausdrücke. (Peter Conradi [SPD]: Die geben auch keine Wir müssen uns darüber im klaren sein: Daß die Bürgerbescheide heraus!) Bundesbank und die Bundesrepublik Deutschland entscheiden und daß die anderen folgen müssen, ist — Herr Kollege, die Bürger wissen in der Regel doch auf Dauer nicht durchzuhalten. überhaupt nicht, woher die neue Regelung kommt. Manchmal wird etwas auf Europa geschoben, was (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr nachweislich nicht das geringste damit zu tun hat. wahr!) Deswegen, so wiederhole ich, war es eine wahrhaft (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kluge, weitsichtige, ich scheue mich nicht zu sagen: Ich möchte davor warnen, bei der Kritik zu kurz zu weise Entscheidung, der Währungsunion in dem analysieren. In Wirklichkeit geht es um etwas ganz Augenblick zuzustimmen, als wir unsere Bedingun- anderes. Die Ängste, die bei den Bürgern aller euro- gen für sie durchsetzen konnten. päischen Länder vorhanden sind, haben in der Regel (Beifall bei der CDU/CSU) gar nichts mit Europa zu tun. Diese Angst sitzt viel tiefer. Die Menschen haben das Gefühl, sie würden Ich möchte mit Nachdruck an uns alle, vor allem von den gewaltigen neuen Herausforderungen in aber an die Frau Kollegin Matthäus-Maier, appellie- ihrem Land und außerhalb dieser Europäischen ren — Sie selbst haben es gesagt; der Kollege Hauss- Gemeinschaft überwältigt. Es gibt die allgemeine mann hat es ganz klar gesagt —: Es wird keine Tendenz, sich ins nationale Schneckenhaus zurück- Währungsunion geben, wenn die Bedingungen nicht ziehen zu wollen. stimmen. Aber wir als das Parlament, wir als Bundes- republik Deutschland dürfen zu allerletzt den Ein- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Das ist das druck erwecken, als wollten wir nur konditioniert Problem! — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: zustimmen. Wir müssen sie da rausholen!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wenn die Es ist uns bewußt, daß die Probleme damit vollends Vorbehaltsfrage geklärt ist!) unlösbar werden. Aber die Bürger fühlen sich unsi- Das kann nicht unserer Verantwortung entsprechen. cher und glauben, sich in das Schneckenhaus — bei Frau Matthäus-Maier, Sie wissen, daß dieser Eindruck uns in die D-Mark-Festung -- zurückziehen zu kön- entsteht, und zwar je nachdem, wie Sie das in Ihrem nen. Das ist, wie wir alle wissen, eine Illusion; das ist 9240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Karl Lamers Flucht vor der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit heißt Wir wollen weitergehen. Wir wollen, wenn es Europa. irgendwie geht, mit allen weitergehen. Aber weiter- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr gehen müssen wir in jedem Fall. gut!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn wir jetzt also um die Zustimmung der Bürger kämpfen müssen — ich bin sicher, daß wir das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht gemeinsam tun werden —, dann müssen wir auch die Herr Staatsminister für Bundes- und Europaangele- wirklichen Ursachen dieser Ängste kennen. Ich sage genheiten, Herr Dr. Goppel. nochmals: Sie stecken viel tiefer, als das manche sehen. Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Frau Wir reden nur noch über Wirtschaft und Geld. Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Engholm hat Bundeskanzler! Vielen herzlichen Dank, daß ich Gelegenheit habe, in Ihrer so wichtigen Debatte zu von Kultur geredet!) einem so entscheidenden Zeitpunkt, eine knappe — Darüber habe ich mich auch besonders gefreut, Woche nach der französischen Abstimmung, für den Frau Kollegin Matthäus-Maier. Im allgemeinen aber Bundesrat ein kurzes Wort zu sagen. reden wir über Geld und Wirtschaft. Wir sind ein föderativer Bundesstaat mit zwei Kam- Wir brauchen uns hier nicht gegenseitig zu versi- mern. Da ist es schade, wenn die Zeiten so eng chern, wie wichtig dieser Bereich ist, wie sehr er die werden, daß wir gleichzeitig tagen müssen. Das wird Grundlage ist. Aber wir reden viel zu wenig über die in den nächsten Wochen öfters der Fall sein. Es ist ideelle Ausrichtung und über die ideelle Basis dieses bedauerlich, daß wir — ich bitte um Verständnis, daß Europas. ich das auch deutlich sage — in einer solchen Lage zeitgleich im Bundesrat über einen anderen Schwer- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr punkt, den Art. 23, debattieren und einander nicht richtig!) etwas mehr zuhören können. Ich sage das frei von Wir reden überhaupt nicht über die Aufgaben, die beißender Kritik und von Spott, einfach mit der Bitte, über dieses Europa hinausreichen. Es wäre gut, wenn ein wenig mehr aufeinander zuzugehen. wir ein wenig mehr von den Aufgaben, die dieses Lassen Sie mich als zweites vielleicht mit einem Europa hat, redeten und vor allem danach handel- Außeneinstieg versuchen, den richtigen Ansatz für ten. unsere Diskussion zu finden, auch aus der Sicht des Es ist schon zu Recht darauf hingewiesen worden: Bundesrates. Wenn wir im Konflikt um das frühere Jugoslawien Die Österreicher sind auf dem Weg nach Europa; einen größeren Beitrag zur Wiederherstellung des Sie wissen das. Sie wissen auch, daß am vorigen Friedens hätten leisten können, dann gäbe es manche Dienstag in der entsprechenden österreichischen Kritik nicht. Aber auch was der Kollege Haussmann Kammer die Regierung eine positive Haltung einge- gesagt hat, ist richtig: Das ist nicht so leicht, wie sich nommen und das Parlament positiv abgestimmt hat, das manche vorstellen. daß aber die Meinung in der Bevölkerung eher gegenteilig ist. Wenn wir heute abstimmen würden, Wenn die Gemeinschaft in Rio ein noch überzeu- dann hätten auch wir — wir wissen es alle —, so sehr genderes Bild geboten hätte — ich nenne das Stich- wir Europa beschwören, womöglich keine Mehrheit wort der globalen Umweltprobleme —, dann wäre die dafür. Zustimmung von manchen jungen Menschen, auch in Frankreich, noch etwas eindeutiger ausgefallen. Aber (Widerspruch der Abg. Heidemarie Wieczo es ist in der Tat eine der besten Nachrichten gewesen, rek-Zeul [SPD]) daß in Frankreich die junge Generation mit der ganz — Die Frage ist, wie lange wir vorher diskutiert haben, überwältigenden Mehrheit zugestimmt hat, Frau Wieczorek. Bei dem jetzigen Stand der Dinge ist (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der es ausgesprochen schwierig. SPD) (Zuruf der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Wir brauchen also konkrete Erfolge. Wir müssen auch mehr über die ideellen Grundlagen und über die — Das ändert nichts daran, daß ich mit Ihnen einer weiterführenden Ziele der Gemeinschaft mehr spre- positiven Meinung bin. Was soll's? - chen. Wir sind uns alle einig — ich stelle das mit großer In Österreich ist die Vorgabe so gewesen, daß die Genugtuung fest —, daß dieses Europa nicht stillste- Regierung den Kultusminister gebeten hat, für die hen bleiben kann. Europäische Gemeinschaft vorzuarbeiten und den Schulklassen beizubringen, was eine Europäische Ich bitte die Briten, ihr Herz über die Hürde zu Gemeinschaft sei. werfen. Der Lehrer, selber nicht informiert, fragt die Kinder, (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Die brau was sie für Antworten wüßten. Da sie keine wissen, chen den Tunnel!) schickt er sie nach Hause und sagt: Fragt die Das insulare Bewußtsein, das Gefühl, in diesem natio- Eltern! nalen Schneckenhaus die Entscheidung selber treffen Am nächsten Morgen ist die Klasse voll besetzt. Der zu können, ist wieder gewachsen. Aber es ist eine erste meldet sich, der Max. Und der Max sagt: Herr Illusion. Lehrer, mein Vater hat gesagt, Europäische Gemein- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9241

Staatsminister Dr. Thomas Goppel schaften ist, wenn alle aus einem Topf Brei essen, nur als Vertragsteil weiterverhandelt wird, dann müssen einem jeden schmeckt er anders. die Voraussetzungen für die Währungsunion ste- hen. Da fragt er den zweiten. Der sagt: Mein Vater hat gesagt, die Europäische Gemeinschaft ist, wenn alle Der Herr Bundeskanzler hat gesagt: Ohne politische an einem Strick ziehen, nur jeder in einer anderen Union gibt es keine Währungsunion. Dies muß vorbe- Richtung. reitet werden; es ist bis dato offen. Die dritte, eine Schülerin, sagt: Es ist so wie ein Lassen Sie mich dazusagen: Ich bin dabei sehr blauer Strauß von Iris mit goldenen Sonnenblumen, dankbar; denn die deutsche Bundesregierung hat mit umgeben vom rot-weiß-roten Band der Vaterlands- den Regierungschefs zusammen in Lissabon einen liebe. Da sagt er: Sehr schön; auch recht. entscheidenden Schritt getan, um zu belegen, daß das europäische Vertragswerk von Maast richt nicht eine Da meldet sich einer, der sagt: Europäische endgültig festgeschriebene Masse ist. Gemeinschaft ist ein großer Dampfer auf einem gro- ßen Meer bei einem großen Sturm. — Warum? Da sagt Herr Gysi ist nicht mehr da. Er ist wahrscheinlich er: Allen ist zum Speien, aber keiner kann ausstei- wieder dabei, die Volksabstimmung vorzubereiten, gen. die unzulässig ist. (Heiterkeit im ganzen Hause) (Horst Kubatschka [SPD]: Mit dem Gauwei Ich glaube, das artikuliert das, was unsere Bürger ler zusammen!) empfinden. Sie sehen, daß in der Frage Jugoslawien — Nein; das ist nicht wahr. die Einheit, die wir brauchen, nicht hergestellt ist. Sie sehen, daß in der Frage einer Europäischen Gemein- (Heiterkeit) schaft nicht absehbar ist, daß wir wirklich ganz stabil Ich darf Ihnen sagen: Der große Unterschied zwischen bleiben und daß unsere Währung stabil bleibt. Und sie beiden ist folgender. Wenn Sie Herrn Gysi nachlesen, sehen, daß in der politischen Union vieles nicht dann werden Sie all das, was er jetzt gesagt hat, bei erledigt ist. Auswechslung von EG und RGW in seinen Reden von früher wiederfinden. Beim Peter Gauweiler werden Was will ich damit sagen? Ich bin damit schon beim Sie durchgängig die Entwicklung einer Position auf dritten Gesichtspunkt: Was immer wir in der Zukunft Grund einer einzigen Überzeugung finden, die er tun, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, hat. das Allerwichtigste ist, daß wir das Vertrauen der Bürger zu Europa erwerben und uns überall erdisku- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Die ist tieren, der Bundesrat ebenso wie die Bundesregie- trotzdem nicht richtig!) rung und der Bundestag. Wir sind weit weg von dem, — Frau Hellwig, den Streit fechte ich noch leicht was die Menschen bei uns bewegt. Wir täten uns den aus. größten Tort an, wenn wir uns in der Debatte so verhielten, als ob wir nun mit „Helm auf und durch" Die wesentliche Frage für mich an dieser Stelle ist, quer durch das Gelände könnten und das Thema dann daß die Regierungschefs bereits im Juni dieses Jahres am Ende mit der Rückendeckung unserer Bürger in Lissabon erklärt haben, daß der Art. 3 b des Ver- erledigten. trags, die Subsidiarität, was ich hier nicht zu erläutern brauche, nicht eine Einbahnstraße von den nationalen Wenn am 16. Oktober in London verhandelt wird, Staaten hin zur Zentrale ist. Also, die Aufgaben, die muß aus deutscher Sicht gesagt werden, wie die noch nicht bei der EG sind, werden geprüft, ob sie bei Spielräume, die das Maastrichter Vertragswerk läßt, Beachtung des Subsidiaritätsprinzips überhaupt ver- genutzt werden sollen. lagert werden können. Es wird von den Regierungs- (Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek chefs und der Kommission ausdrücklich erklärt, daß Zeul [SPD]) sie auch bereit sind, die schon bei der EG geregelten Materien daraufhin zu prüfen, ob sie denn nicht besser Es geht nicht um Nachbesserungen. Das ist eine zur Nation oder zu den Ländern — je nachdem, wie es fehlerhafte, unschöne, unsaubere und, ich würde intern geregelt ist — zurückkehren. sogar sagen, fast scharlatanische Diskussion derer, die in dieser Debatte immer so tun, als ob alles bis zur (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Die Land Abgabe von Souveränität festgelegt wäre. Es geht wirtschaft!) darum, zu sagen, wie Spielräume, die vorhanden sind, Ich halte das für einen ganz wesentlichen Ansatz,- die die Regierungschefs bzw. die Außenminister den unsere Neinsager hervorheben, die die Volksab- eigens gelassen haben, genutzt werden können. stimmung wollen, weil sie sonst ihre Mehrheit nicht Ich habe das am Anfang kritisch bewertet. Mittler- kriegen. Das ist der einzige Grund. Ich finde, es ist das weile bin ich der Meinung: Gott sei Dank ist das alles Unfaire in der Diskussion, daß Sie nie bereit sind, offen. Da bleibt eine Menge zur Veränderung von zuzugeben, daß Sie entlang des Grundgesetzes Europa, auch im Sinn der eigenen nationalen Souve- — sage ich jetzt vorsichtig — ränität, auch der regionalen Identität. Es bestehen hier (Gerd Poppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: also viele Möglichkeiten. Sie haben nicht dem zugehört, was ich gesagt Die Liste muß in London bekanntgemacht werden, habe!) damit unsere Partner wissen, was in der Zukunft in der Debatte immer nur einfordern, daß man zu entfaltet werden kann. In Edinburgh muß es ein Stück etwas, was noch nicht geregelt ist, nein sagen können weitergehen. Wenn 1996 über eine politische Union muß. Überlegen Sie, was Sie dem Volk zumuten! Eine 9242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Staatsminister Dr. Thomas Goppel Ermächtigungsklausel, daß das Volk beschließen oder Es gibt eine Reihe von Beispielen, die bis in die CSU verneinen soll, ist im Vertrag nicht festgelegt, hineingehen, das möchte ich gar nicht bestreiten. Der Bundeskanzler hat heute früh vor Ihnen aus- (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) drücklich gesagt, daß es notwendig ist, die politische — Das ist der kleine Unterschied für diejenigen, die Union mit der Währungsunion im Einklang zu sehen. sich in der Diskussion befinden. — Ich sehe überhaupt Ich stimme ihm zu. Ich bin dankbar, daß es so gesagt keinen Grund, etwas zu verteidigen, was nicht zu worden ist. verteidigen ist. Dafür bin ich um so hartnäckiger in Ich komme zur letzten Bemerkung. In den nächsten anderem. Da ich heute früh zugehört habe, wie oft Sie Wochen steht als eine unserer gemeinsamen Aufga- etwas verteidigt haben, Frau Matthäus-Maier z. B., was sich als nicht richtig herausgestellt hat, ben der Art. 23 GG zur Abstimmung an, zusammen mit unserer Ratifizierung. Ich bin der Bundesregie- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was denn?) rung und dem Bundestag dankbar, daß wir diese muß ich sagen, da bin ich der Hehrere von uns beiden. Diskussion aufgeschlossen führen konnten. Sie ist die Die Diskussion mit dem Herrn Bundesfinanzminister Meßlatte, an der föderative Ordnung in der Zukunft in zeigt es. der EG gemessen wird. Deswegen ist der Art. 23 von Bedeutung. Was wir hier gemeinsam an Aufteilung Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatsminister, von Zuständigkeit rechtzeitig finden, wird eines gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Tages auch in anderen Staaten Maßstab für die Frau Matthäus-Maier? Zusammenarbeit auf nationaler und anderer Ebene sein. Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Ja. In dem Zusammenhang ist auch wichtig, daß wir das als Meßlatte für die Form der Beteiligung betrachten, Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Da ich meine Rede die wir uns jeweils auf den unterschiedlichen Ebenen von vor einer halben Stunde noch sehr gut im Kopf zugestehen. Was zwischen Bund und Ländern mög- habe, lich ist, muß auch zwischen Ländern und Kommunen (Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der möglich sein. Finanzen: So sicher ist das nicht!) (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) frage ich Sie, an welchem konkreten Beispiel ich heute morgen etwas verteidigt habe, was sich als Aber es muß eben als Aufgabe gemeinsam gemacht falsch erwiesen hat. werden. Ich höre das „Aha!" mit Wohlgefallen, weil es bestätigt, daß ich mit meiner Meinung so falsch nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Alles!) liege. Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Frau (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Wie ist das Kollegin Matthäus-Maier, Sie haben dem Herrn Bun- mit dem Regionalausschuß, Herr Staatsmi desminister der Finanzen etwas unterstellt, was der nister?) Herr Bundesfinanzminister in konkreten Daten — Frau Hellwig, Sie wollen viel, viel mehr als das, was zurückzuweisen imstande war. Sie haben daraufhin Sie mir zugestehen. Das ist ganz etwas anderes. Aber Ihre Behauptungen wiederholt, und das ist die Art, die das ist selbstverständlich jeder Dame unbenommen. ich nicht schätze. Dies sage ich, auch wenn das vielleicht für manche (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei schon wieder eine sexistische Bemerkung gewesen der SPD) sein mag. Ich bin derjenige, der an der Stelle sagt: Gut, es tut mir (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Ich habe es leid, das habe ich nicht genau gewußt, ich freue mich, nicht so verstanden!) daß es anders ist. Warum auch nicht? (Zuruf von der SPD) Lassen Sie mich schließen. Unsere Hauptaufgabe ist es, nach außen zu dritt, nämlich aus den drei Ebenen, Ich habe das sehr genau angehört. Ich meine, unsere Abgeordneten im Europarat, Sie im Bundes- unsere europäische Position muß sein, daß wir tag, wir aus der Sicht der Länder, an einem S trang zu gemeinsam in einer klaren und geschlossenen Front ziehen und dafür zu sorgen, daß die deutsche Position, aus deutscher Sicht unsere föderative Ordnung als die in Maastricht eine in der Währungsunion, Herr Modell für eine europäische Einigung vortragen, weil Bundesfinanzminister, exzellente Ergebnislage vor- das zur Folge hat, daß Zentralismus abnimmt,- Vielfalt findet, in der Politischen Union für die nächsten Jahre zunimmt und Einheit daraus wächst. eine Ausgangsbasis erhält, die viel Gestaltungsraum Vielen Dank. läßt, den wir allerdings nutzen müssen, um das auch (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der gegenüber den elf Partnern zu vertreten. CDU/CSU: Stimmt!) Im Moment besteht die Gefahr, daß uns überall do rt, wo wir auftreten, diejenigen, die uns mahnen, wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht sollten das alles bleibenlassen, einen großen Strich der Abgeordnete Dr. Wieczorek. durch die Rechnung machen, weil die anderen elf uns nachsagen, es sei doch wohl nicht der glücklichste Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Frau Präsidentin! Fall, daß in Deutschland zwar insgesamt immer wie- Meine Damen und Herren! Das französische „Ja" zur der gesagt werde, man wolle Europa, wenn es aber Ratifizierung erlaubt es, den Maastricht-Prozeß fort- ans Eingemachte gehe, beginne man, sich zu drücken. zusetzen. Ich sage ausdrücklich den Prozeß. Das ist zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9243

Dr. Norbert Wieczorek begrüßen. Es hat aber auch deutlich gemacht, daß das besteht darin, daß für den geldwirtschaftlichen Teil dänische „Nein" kein Zufallsergebnis war und daß per saldo gute Regelungen gefunden sind, daß aber das Motto, das danach ausgegeben wurde „Augen zu das, was die Lebensinteressen der Bürger berührt, und durch", wahrscheinlich falsch war. nämlich Arbeitsplätze und ökonomische Sicherheit, im Vertrag nicht direkt zu finden ist, sondern eigent- Wenn ein Mann wie Jacques Delors, wie am Mitt- lich nur über die abstrakten Formulierungen zur woch gegenüber dem Europa-Ausschuß, seine tiefe Währungsunion vermittelt wird, da allerdings mit Besorgnis über die Krise in der EG zum Ausdruck einem Inhalt, der erst einmal wachstumsdämpfende gebracht hat, ist das ernst zu nehmen. Es ist wohl auch Wirkungen hat, sonst ist Konvergenz in den In flations- kein Zufall, daß der Kanzler und Präsident Mitterrand ländern nicht möglich. Das muß man klar sehen. jetzt von einem „Interpretationspapier zum Vertrag" sprechen. Wenn ein Sondergipfel ansteht, ist wohl Es ist richtig, daß bei der gegebenen wirtschaftli- auch klargeworden, daß die Kritik am Vertrag nicht chen Integration in der EG, aber auch bei der welt- unberechtigt ist. Die Krise mag insofern nützlich sein, wirtschaftlichen Verflechtung nationale Wirtschafts- wenn sie offenkundige Schwächen in der Demokra- politik ihre Grenzen erreicht hat. Der Vertrag bleibt tieentwicklung der EG, in der Transparenz der Ent- aber recht vage, wenn es darum geht, z. B. eine scheidungsprozesse, in der Entbürokratisierung und koordinierte Beschäftigungspolitik zu betreiben. Zu Dezentralisierung und bei einzelnen Regelungen zu Recht ist das nicht an Brüssel überwiesen worden. Das beseitigen hilft. Weitere Integration ist im Interesse sehe ich auch so. Nur, die Koordinierung in dieser der Wirtschaft, der Friedenssicherung und der Selbst- Politik ist sehr vage beschrieben, aber sie ist notwen- behauptung Europas notwendig. Sie wird aber dig. Der Bürger muß sich daher fragen, was ihm der gefährdet, wenn legitime Kritik nicht aufgenommen Vertrag bringt. Denn Währungspolitik ist für ihn wird. Dies ist die Lehre sowohl aus dem dänischen wie schlechthin abstrakt, auch wenn die D-Mark in der aus dem franzöischen Referendum. Bundesrepublik Teil unserer Identität ist. Der Wäh- rungspolitiker kritisiert diese Asymmetrie zwischen (Beifall bei der SPD) Währungs- und Wirtschaftsunion unter dem Gesichts- Diese Lehre muß gezogen werden, wenn wir das punkt der Währungspolitik. Der Bürger aber sieht sein rechtlich klare Nein in Dänemark, das den Vertrag Sicherheitsbedürfnis, seine Zukunftsaussichten nicht eigentlich erst einmal nicht existent gemacht hat, hinreichend berücksichtigt. Ich glaube daher, daß der überwinden wollen. Das gilt erst recht auch für die Maastricht-Prozeß politisch besser abgesichert wer- sehr kritische Situation hinsichtlich der Ratifizierung den muß. Das gilt nicht nur für die angesprochene in Großbritannien. Sie wird von Tag zu Tag unwahr- Wirtschaftspolitik, sondern auch für die Bereiche scheinlicher. Hier muß man die Kritik aufnehmen. Außen- und Verteidigungspolitik und andere politi- sche Bereiche. Die Zeit, in der sich unter dem Druck Ich glaube nicht, daß das allein mit Aufklärung des Ost-West-Verhältnisses die politische Überein- getan ist. Das mag notwendig sein, da stimme ich zu. stimmung in weiten Bereichen relativ einfach errei- Aber es ist bemerkenswert, daß in Frankreich jeder chen ließ, ist vorbei. Bürger diesen Vertrag zugesandt bekam und anschließend in den Umfragen das Nein-Votum stieg. (Beifall bei der SPD) In Dänemark sind ebenfalls 500 000 Exemplare ver- Die weitere Integration muß damit nach meiner tiefen teilt worden. Da mag es auch einen Zusammenhang Überzeugung im politischen Bereich ansetzen und geben. kann nicht nur über die Wirtschaftspolitik vorange- (Zurufe von der CDU/CSU) trieben werden. Ich meine das nicht ganz so spöttisch, wie ich es Wenn jetzt Anlaß und Möglichkeit besteht, auf gesagt habe. Ich glaube nämlich, daß es vielmehr verschiedenen Wegen nachzubessern — darüber darf daran liegt, Kollege Faltlhauser, daß wir in einer Zeit ja jetzt geredet werden, ohne daß man verdächtigt wirtschaftlicher Schwäche nicht nur in Europa, son- wird, man wolle den Vertrag in die Luft sprengen —, dern auch in Japan und in den USA den bisherigen dann ist das für die Interpretation der Vertragsabsich- wirtschaftlichen und politischen Prozeß nicht so fort- ten, für seine Durchführung, aber auch für seine setzen können wie bisher. Akzeptanz gut. Der Bürger, der gewohnt war, Integration mit Wir haben in den letzten Wochen ein weiteres Wohlstandsmehrung zu verbinden, erlebt diese zur Problem erlebt, nämlich, daß ein Teil bestehender Zeit nicht. Die ersten konkreten Auswirkungen des Integration plötzlich stark gefährdet ist. Ich meine das, Binnenmarktes sind für ihn — ob er nun recht hat oder was wir im EWS erlebt haben. Das EWS ist in die Krise nicht, ist unerheblich, es kommt auf sein Empfinden gekommen, weil sich die Volkswirtschaften der Part- an — eher negativ: die Mehrwertsteuererhöhung von nerländer realwirtschaftlich auseinanderentwickelt Herrn Waigel, die Diskussion in den Bet rieben über haben, aber aus politischen Prestigegründen die im Arbeitsplatzverlagerungen nach Südeuropa, die ho- Währungssystem vorgesehenen Wechselkursanpas- hen Zinsen mit ihren negativen Beschäftigungswir- sungen nicht durchgeführt haben. Ein Punkt, den kungen. Er steht daher aus diesen materiellen Grün- übrigens die Bundesbank seit Jahren kritisiert. den der Wirtschafts- und Währungsunion skeptisch (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten gegenüber. der CDU/CSU) Es ist auch die Asymmetrie des Maastrichter Ver- Das Prestigedenken, wie auch immer es motiviert trages im wirtschafts- und währungspolitischen Teil, war, ist wirtschaftlich und politisch teuer geworden. die für mich im Vordergrund steht. Diese Asymmetrie Der Versuch einiger Partnerländer, ihre Währungen 9244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Dr. Norbert Wieczorek trotz ihrer inneren wirtschaftlichen Schwächen zu Aber das bekommen wir noch hin, ich sehe die halten, ist gescheitert. Mit dem Nein der Dänen haben Tendenzen bei Ihnen. die Märkte gemerkt, daß sie diese Schwäche ausnut- Aber mir kommt es auf etwas anderes an. Mir zen können. Deswegen beschimpfe ich nicht die kommt es darauf an, daß man sich darüber im klaren Spekulanten. Sie haben ihre Rolle gespielt, sie haben sein muß, daß bei einer Währungsunion, an der nur diese Schwächen schonungslos offengelegt — ich wenige teilnehmen, die Struktur der EG geändert glaube, das muß man deutlich sagen —, sie haben als werden muß. Dies gilt für den Ministerrat, das gilt für Korrektiv gewirkt. Es hat sich aber auch exemplarisch die Kommission, und das gilt auch für das Parlament. gezeigt, daß Währungspolitik allein wirtschaftliche Sonst kann das Ganze nicht funktionieren. Deswegen Differenzen im realwirtschaftlichen Bereich nicht warne ich davor, jetzt so locker vom Hocker — wie wir beheben kann und daß, wenn die Krise offenbar wird, es in den Zeitungen lesen können — zu sagen: im Gegenteil die politische und wirtschaftliche Machen wir doch aus dem EWS eine vorgezogene Zusammenarbeit um so mehr gefährdet wird. Das ist Währungsunion. Man sollte daraus nicht wieder den die gegenwärtige Lehre aus der Situation des Euro- Fehlschluß ziehen, man könne über die Wirtschaft und päischen Währungssystems, auch für Maastricht und erst recht nur über die Währung als Teil der Wirtschaft die geplante Währungsunion. die europäische Integration voranbringen. Davor Ich bin übrigens dafür, daß wir das Währungssystem warne ich ausdrücklich, denn das führt zu nichts. Wer fortsetzen. Ich kann mir auch Verbesserungen vorstel- — sollte es anders kommen — sagt, dann gehen wir len. Ich würde es begrüßen, wenn im Zuge der aber danach vor, der muß dies im Rahmen der Diskussion um eine Neukonzipierung des Währungs- Gemeinschaft tun, mit gemeinschaftlichen Regelun- systems z. B. die Partnerländer ihre Zentralbanken in gen und mit Zustimmung aller Partnerländer. Sonst die Unabhängigkeit entließen. Das wäre hilfreich. kann das nicht funktionieren. Das EWS ist es wert, gerettet zu werden. Die dafür (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! Sehr notwendige Anpassung der Wechselkurse hat zum gut!) Teil stattgefunden. Wir wünschen uns, daß wir ein Ich könnte mir auch vorstellen, daß man die unbe- vernünftiges Realignment bekommen, und zwar des- schränkte Interventionspflicht, die praktisch eine halb, weil dadurch Ruhe auf den Märkten einkehren Interventionsverpflichtung nur für die Bundesbank würde, weil damit die rezessiven Wirtschaften, die wir ist, vielleicht beschränkt. Immerhin sind nach meinem überall in Europa haben, die mit für dieses Europa Kenntnisstand von der Bundesbank über 90 Milliar- mißtrauen, für diese leichte Abneigung, die wir ver- den DM in den letzten 14 Tagen in Interventionen spüren, verantwortlich sind, überwunden werden geflossen. Das ist verbesserungsfähig. könnten. Dies würde den entscheidenden Vorteil bringen, daß die Bundesbank in ihrer Hoheit die (Zustimmung des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser Zinssenkungen vornehmen kann, die sie durch die [CDU/CSU]) Wirkung einer Aufwertung, die die Inflation dämpft, Aber ich möchte mit aller Deutlichkeit vor einer vertreten kann. Damit ist aber nicht der Teil geregelt, Tendenz warnen, die man aus der Presse entnehmen lieber , den Sie als Finanzminister noch konnte und auch sonst hörte, daß man überlegt, wenn im Rahmen Ihrer Haushalts- und Finanzpolitik regeln es mit Maastricht nicht so richtig weitergeht, aus dem müssen. Aber dies wäre ein gutes Signal für die EWS eine vorgezogene Währungsunion zu machen weitere Entwicklung in Europa, weil dann die Chance und dann die Integration über die Währungsunion besteht, im Laufe der nächsten zwölf Monate die voranzutreiben. Das halte ich für gefährlich. Ich kann gegenwärtige Krisensituation zu überwinden und mir vorstellen — der Vertrag sieht das auch vor —, daß dadurch eine größere Zustimmung für Europa zu nach den Kriterien nur eine kleine Gruppe von Län- bekommen, als dies jetzt der Fall ist. dern mit der Währungsunion 1999 beginnt. Seit der (Beifall bei der SPD) Stellungnahme von Herrn Kinkel ist klar, daß dies nicht mehr automatisch geschieht, sondern daß der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Redner Deutsche Bundestag und der Deutsche Bundesrat spricht Herr Abgeordneter Faltlhauser. dazu etwas zu sagen haben. (Beifall bei der SPD) Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem vorübergehen- Nur, die Partnerländer müssen dies auch rechtlich den Ausstieg Englands aus dem Europäischen- Wäh- anerkennen. Dies bleibt noch zu leisten, Herr Kin- rungssystem — ich hoffe vorübergehend — rief der kel. stellvertretende Parteivorsitzende der Konservativen, (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das haben wir Tim Smith, in die bereitstehenden Mikrophone: „Die doch schon einmal im Plenum beschlossen! Deutschen haben gegen das Pfund Sabotage betrie- — Widerspruch bei der SPD) ben. " Diese eilfertige Schuldzuweisung ist ökono- misch falsch, und sie ist politisch, wie ich meine, — Das haben wir beschlossen, aber die Partnerländer unanständig! Wir müssen sie ausdrücklich zurückwei- müssen es rechtlich anerkennen. Sehen Sie sich sen. einmal den Vertrag an, Herr Kollege. Danach können Die Anpassung des EWS war — das hat der Kollege wir zwar Nein sagen, aber die anderen können über Wieczorek schon betont — das notwendige und folge- uns bestimmen. Das ist noch nicht geregelt. richtige Ergebnis ökonomischer Grundtatsachen. Die (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Da nickt auch Leistungskräfte der verschiedenen Volkswirtschaften Herr Faltlhauser!) innerhalb der EG liegen noch sehr weit auseinander. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9245

Dr. Kurt Faltlhauser Konvergenz und Harmonie der wirtschaftlichen Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist fest ent- Grunddaten sind in Europa bei weitem noch nicht schlossen, auf die strikte Einhaltung der Konvergenz- erreicht. Der Druck, der zur Anpassung der Lira und kriterien auf dem Wege in die dritte Stufe der Wäh- auch des Pfundes geführt hat, hat dokumentiert, daß rungsunion zu drängen. eine solide Währung nicht auf Konferenzen beschlos- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen werden kann, sondern daß sich jedes Land selbst eine solide Währung erarbeiten muß. Wir werden dies in einem Entschließungsantrag — ich hoffe gemeinsam mit der Opposition — noch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD — einmal ausdrücklich unterstreichen. Wir wollen nicht, Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) daß politische Willenskundgebungen und nationales Die Probleme sowohl der Italiener als auch der Prestigedenken ökonomische Sachverhalte überdek- Briten sind weitgehend hausgemacht. Dies muß auch ken. Herrn Smith gesagt werden, wobei bei England — das (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der hat die Kollegin Matthäus-Maier schon angedeutet — SPD) noch der zu hohe Eintritt des Pfundes in das EWS vor Drittens. Was uns im übrigen nach diesen Turbulen- zwei Jahren hinzukommt. Die notwendigen Wäh- zen besorgt machen muß, sind die von mir bereits rungsanpassungen sind, wie ich meine, zu lange genannten Schuldzuweisungen über die Grenzen verzögert worden. Wir haben in den letzten zwei hinweg. Der monetäre Fremdenhaß — wie ihn Wil- Wochen erlebt, daß sich notwendige Korrekturen der helm Hankel in einem „Handelsblatt"-Beitrag ge- Wechselkurse durch politische Festlegungen — und nannt hat — ist nicht der Geist, mit dem man eine seien sie noch so kategorisch — auf Dauer nicht Währungsunion macht und der eine Währungsunion verhindern lassen. zusammenhält. Wir brauchen nicht nur eine Konver- (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Völlig rich genz der ökonomischen Ergebnisse, sondern auch tig!) eine Konvergenz des ökonomischen Denkens und des ökonomischen Strebens. Wenn die Bestrebungen Dies sollten unsere Freunde in England erkennen. einzelner Länder darin bestehen, eigene Versäum- Hier von Sabotage zu reden, zeugt von wirtschaftspo- nisse durch unsinnige Schuldzuweisungen zuzudek- litischer Selbstgefälligkeit. Wir müssen die Bundes- ken, verspricht dies nichts Gutes für den Bestand einer bank, die ihre gesetzliche Pflicht zur Wahrung der Währungsunion. Stabilität erfüllt, ausdrücklich vor unsachlichen Angriffen in Schutz nehmen. Nun ist in allen politischen Lagern mode rn gewor- den, noch eine Volksabstimmung über die Verträge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) von Maastricht zu wollen. Ich hielte eine Volksabstim- mung über die Maastrichter Verträge für einen gra- Für die Stabilität oder Instabilität der Wechselkurse vierenden Fehler. kommt es auf die Realitäten des wirtschaftlichen Zustandes der einzelnen Mitgliedsländer an. Mir (Zuruf von der CDU/CSU: Wohl wahr!) persönlich sind deshalb die Spekulationen gegen den Dabei möchte ich nicht schlicht auf die Gegebenhei- Franc völlig unverständlich. Frankreich betreibt eine ten des Grundgesetzes verweisen. Dieser Hinweis hervorragende und vorbildliche Stabilitätspolitik und würde auch viele Bürger nicht befriedigen, die von hat beste Ergebnisse vorzuweisen. Dies sollte bei den dem Wunsch nach unmittelbarer Beteiligung beseelt Spekulationen gesehen werden, diese sollten sich an sind. Ich möchte vielmehr auf einen politischen den Grundtatsachen orientieren. Aspekt hinweisen. Viele Franzosen, Politiker und Welche Schlußfolgerungen müssen wir aus den andere, haben sich im Frühsommer immer wieder Erfahrungen mit der Anpassung des EWS und den gefragt, was Präsident Mitterrand veranlaßt haben Unruhen in den letzten Tagen ziehen? mag, ohne Not das Risiko des Referendums zu Maas- tricht einzugehen. Wie groß dieses Risiko war, hat das Erstens. Wir müssen alles tun, um das EWS zu „petite oui" in Frankreich gezeigt. Man stelle sich vor, erhalten. Es ist das richtige System. Es muß nur richtig welches Signal die Bundesrepublik Deutschland gehandhabt werden. Es ist punktuell falsch gehand- ihren Partnern in Europa geben würde, wenn wir nach habt worden. Dies hat zu entsprechenden Verzerrun- dem riskanten französischen Spiel, das gerade noch gen geführt. gutgegangen ist, unsererseits ohne Verpflichtung und Zweitens. Mit Blick auf die Maastrichter Verträge ohne rechtliche Grundlage das Risiko des plebiszitä-- möchte ich eine positive Schlußfolgerung aus diesen ren Scheiterns eingehen würden. Unruhen ziehen. Die von den Märkten erzwungenen (Karl Lamers [CDU/CSU]: Verrückt und Realignments sind eine nachhaltige Mahnung für alle unverantwortlich!) Maastrichter Vertragspartner, die in diesem Vertrag Das wäre ein Signal der Resignation, das wäre ein festgelegten Konvergenzkriterien tatsächlich ernst zu Signal des Versteckten Nein und ein Signal fahrlässi- nehmen und intensiv daran zu arbeiten, diese Krite- gen Populismus. Nein, eine Volksabstimmung kön- rien zu erfüllen. Die ständigen Appelle des Finanzmi- nisters Theo Waigel, die Konvergenzkriterien des nen und sollten wir nicht machen! Maastrichter Vertrages müßten eng und streng inter- Bundestag und Bundesrat als Organe einer reprä- pretiert werden, sind jetzt durch die Wechselkursge- sentativ verfaßten demokratischen Ordnung sind die- schehnisse nachhaltig bestätigt worden. Politische jenigen, die die ausreichende demokratische Legiti- Beschlüsse und guter Wille allein können diese mation geben können und müssen. Um so wichtiger ist gewünschten Wechselkursrelationen nicht halten. eine angemessene Beteiligung des Bundestages zu 9246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Dr. Kurt Faltlhauser den einzelnen im Vertrag vorgesehenen Entschei- drin. Insofern war das überhaupt kein Votum zu dungszeitpunkten auf dem Weg in die dritte Stufe. Die Maastricht. Aber es ist ganz klar: Wir müssen in der Fraktion der SPD hat hierzu bereits eine Formulierung weiteren Entwicklung unserer EG auch die EG- vorgelegt. Darüber müssen wir noch diskutieren. Agrarpolitik gründlich reformieren. Wir stehen dabei in einem Abwägungsprozeß: Ich nenne einen zweiten Punkt. Es wird mit Recht Einerseits müssen wir den Ideen einer Volksbefra- beklagt, daß die EG nicht in der Lage gewesen ist, das gung das Element einer qualifizierten Mitsprache des Blutvergießen in Jugoslawien zu verhindern. Das ist deutschen Parlaments deutlich gegenüberstellen. Wir außerordentlich bedauerlich. Aber es wäre ein völli- sollten aber andererseits auch vor einer einseitigen ger Fehlschluß, daraus jetzt abzuleiten, daß die EG Opting-out-Klausel zurückweichen. Ich empfehle, nichts tauge und auch in Zukunft nichts taugen könne, daß sich die Ideenfinder einmal die Erklärung zur oder auf Grund dessen etwa gegen Maas tricht zu Rolle der nationalen Parlamente im Vertragstext von reden. Der Vertrag von Maastricht ist ja gerade darum Maastricht anschauen. Hier könnte der Anknüpfungs- bemüht, diesen bedauerlichen Zustand zu ändern und punkt für weitere Formulierungen liegen. der EG endlich die Möglichkeiten zu geben, die sie Auf dem Sondergipfel am 16. Oktober sollten mei- braucht, um in Zukunft eine überzeugende gemein- ner Ansicht nach neue positive Ansätze und Ideen same Außen- und Sicherheitspolitik betreiben zu entwickelt werden. Bundeskanzler Kohl hat damit können. unter Hinweis auf die Entschlackung bürokratischer (Wolfgang Mischnick [F.D.P.]: Sehr richtig!) Anmaßung auf europäischer Ebene schon begon- nen. Insofern ist die Kritik, die hier an Maas tricht ansetzt, auch falsch. Wir werden die Zustimmung der Bevölkerung für unseren Weg nach Europa nicht durch Farbbroschü- Dann wird gesagt: Da in Brüssel bildet sich ein ren erlangen, sondern nur durch verständliche politi- undurchschaubarer Wasserkopf. Die Menschen mö- sche Entscheidungen und durch mutiges Eintreten gen das nicht. Sie wollen nicht den Zentralismus. Sie aller Führungspersönlichkeiten innerhalb und außer- befürchten, ihre nationale Identität zu verlieren. Auch halb dieses Hauses für Europa. diese Sorgen sind außerordentlich ernst zu nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie Nur, auch da versuchen wir ja, durch Maastricht etwas bei Abgeordneten der SPD — Eduard zu ändern. Oswald [CSU/CSU]: Sehr beeindruckend!) Es gibt dieses wirklich schreckliche Wort Subsi- diaritätsprinzip. — Jetzt ist es mir, glaube ich, zum erstenmal gelungen, dieses Wort sogar ohne Stottern Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile als näch- richtig auszusprechen. Da hatte vorhin sogar der stem Redner unserem Kollegen Ul rich Irmer das Bundeskanzler gewisse Schwierigkeiten. Wort. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Das ist ein fast unaussprechliches Wort, das aus Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen diesem Grunde ja auch niemand versteht. Wir müssen und Herren! Ich knüpfe an das an, was der Kollege das begreiflich machen. Soll ich Ihnen einmal sagen, Faltlhauser soeben zur Volksabstimmung gesagt hat. was damit gemeint ist? Mein Eindruck ist, daß sowohl in Dänemark als auch in Frankreich viele Menschen überhaupt nicht richtig Es lohnt sich, einen Blick in die Tagesordnung gewußt haben, was eigentlich zur Abstimmung dieses Hauses vom gestrigen Tage zu werfen. Da stand. haben wir uns, zwar nicht in Form einer Aussprache — Gott sei Dank —, aber durch Abstimmung mit so (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: So ist es!) atemberaubenden Themen wie den folgenden befaßt: Ich habe ferner den Eindruck, daß viele der Kritiker „Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates bei uns auch sagen: Wir lehnen Maast richt ab, obwohl über bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit, maxi- sie in Wahrheit etwas ganz anderes meinen. males Drehmoment und maximale Nutzleistung des (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Motors von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahr- SPD) zeugen". Viele bei uns sind mit der EG, wie sie sich heute (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist zu hoch für präsentiert, unzufrieden. Es gibt in der Tat verschie- Sie! — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Soll- ich dene Kritikpunkte, die durchaus berechtigt sind. Aber Ihnen das erklären?) das ist genau der Grund, weshalb wir Maast richt Es geht weiter: „Vorschlag für eine Verordnung umsetzen wollen. Die Logik, die hinter Maastricht (EWG)- des Rates über den Einbau der Beleuchtungs steht, ist ja, daß wir die jetzige EG aus ihrer Unvoll- und Lichtsignaleinrichtungen für zweirädrige oder kommenheit heraus zu einem Gebilde weiterentwik- dreirädrige Kraftfahrzeuge". — Dann geht es weiter keln wollen, das uns allen besser gefällt, als das heute — das ist eine ganz lange Liste; ich wähle nur der Fall ist. Beispiele aus —: Ich will ein paar Beispiele geben. Die französischen Bauern z. B. — das wurde hier vorhin gesagt — haben (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Die Redezeit mehrheitlich zwar gegen Maastricht gestimmt, aber reicht nicht aus!) sie haben eigentlich dagegen gestimmt, daß die „Legislative Entschließung (Verfahren der Zusam Agrarpreise in ihren Augen zu niedrig sind. Davon menarbeit: Erste Lesung) mit der Stellungnahme des steht im Vertrag von Maast richt aber überhaupt nichts Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kom- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9247

Ulrich Irmer mission an den Rat für eine Richtlinie über die schütten, indem wir all diese Harmonisierungsbestre- vorstehenden Außenkanten bungen nur deshalb wieder über Bord werfen, weil (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Aufhören!) Kritik an Maastricht geübt wird? vor der Führerhausrückwand an Kraftfahrzeugen der Klasse N". Ulrich Irmer (F.D.P.): Nein, Herr Kollege Hitschler, Meine Damen und Herren, damit hat sich dieses mit Sicherheit nicht. Ich will hier auch nicht den Hohe Haus gestern beschäftigt. Nun behaupte ich ja Eindruck erwecken -- das liegt mir nämlich sehr nicht, daß die nationale Identität der Dänen oder der fern —, als ob ich die EG wegen solcher Auswüchse Italiener oder der Belgier oder der Deutschen daran insgesamt kritisierte. Ich sage nur: Maastricht ist ein zugrunde ginge, daß die EWG einen solchen Unsinn Schritt in genau die richtige Richtung. Hier wird regelt. Das ist sicher keine Frage der nationalen nämlich zum erstenmal festgelegt, daß wirklich in Identität, aber es zeigt, auf welchem gefährlichen jedem Einzelfall überprüft werden muß oder über- Wege wir uns bisher befunden haben. prüft werden sollte, ob es vernünftig ist, dies auf der Darauf gibt jetzt genau das Subsidiaritätsprinzip europäischen Ebene zu regeln. Wir sollten es selbst- — ich habe es schon wieder geschafft! — die Antwort. verständlich immer tun, wenn es wirklich unaus- Es besagt nämlich: In Zukunft soll auf der EG-Ebene weichlich ist. Aber wir sollten uns eben davor hüten, wirklich nur das geregelt werden, was absolut dort es auch in Fällen zuzulassen, in denen keine drin- hingehört. Der britische Premierminister Major — die gende Notwendigkeit dafür ersichtlich ist. Das ist Briten sind ja sehr pragmatische Menschen — hat damit gemeint, und nur das wollte ich erklären. kürzlich einen Ausdruck gebraucht, den ich heute Wir sollten einmal überlegen, ob wir hier im Bun- früh in der Zeitung gelesen habe. Er hat gesagt, destag nicht vielleicht einen Ausschuß einsetzen, der Nichteinmischung sei das Prinzip. Vielleicht können auch einmal überprüft, was bisher alles schon an wir einmal darüber nachdenken, ob das ein geeigne- Europa gegangen ist oder von dort genommen worden teres Wort sein könnte. ist und ob wir es vielleicht wieder zurückholen kön- Die EG soll sich nicht in Dinge einmischen, die die nen. Das halte ich für einen vernünftigen Vor- Nationen, die die Regionen oder die auch die Gemein- schlag. den besser regeln können. Der Bundesratsminister Meine Damen und Herren, ganz wichtig ist noch Goppel, der dankenswerterweise noch hier ist, hat ja eines: Viele kritisieren Maas tricht, weil sie sagen, das vorhin gesagt, daß die Regionen eine solche bedeu- alles reiche nicht aus, das sei unzulänglich. Aber wenn tende Rolle spielen sollen. Auch das steht übrigens im ich in Verhandlungen über einen Arbeitsvertrag stehe Vertrag von Maastricht, und zwar zum erstenmal; das und mir nicht so viel geboten wird, wie ich gerne hätte, hat es früher in der Form nicht gegeben. Herr Goppel, dann werde ich doch nicht sagen, dann nehme ich die ich möchte nur an Sie appellieren: Der Freistaat Stelle überhaupt nicht, sondern ich bin arbeitslos und Bayern ist ja im Inneren bedauerlicherweise außeror- warte darauf, daß mir jemand mehr bietet. Maas tricht dentlich zentralistisch. ist ein Prozeß. Es ist ein wesentlicher, wichtiger Schritt (Karl Lamers [CDU/CSU]: Aha!) in die richtige Richtung. Wir wollen ja gar nicht stehenbleiben. Wenn in dem Regionalausschuß, der jetzt gegründet wird, nur Vertreter der Bundesländer, aber keine Hier ist schon gesagt worden: Wenn Maastricht Oberbürgermeister oder Kreisvertreter sitzen, dann ratifiziert ist, muß weiterverhandelt werden. Dann finde ich das außerordentlich bedauerlich. Die Regio- muß insbesondere über die Demokratisierung der nalisierung hört nämlich nicht auf der Ebene der Gemeinschaft verhandelt werden. Ich habe schon vor Bundesländer auf, sondern sie sollte auch weiter Jahren gesagt — das war damals richtig —: Die EG, die unten angesiedelt werden. von Beitrittskandidaten verlangt, daß sie demokra- tisch strukturiert sind, müßte, wenn sie bei sich selbst (Beifall des Abg. Wolfgang Mischnick einen Beitrittsantrag stellen würde, wegen undemo- [F.D.P.]) kratischer Umtriebe abgelehnt werden. (Wolfgang Mischnick [F.D.P.]: Sehr richtig!) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Das habe ich vor Jahren gesagt. Leider ist das heute Dr. Hitschler? immer noch richtig. Jetzt wollen wir deshalb aber nicht jammern; Maastricht bringt da schon gewisse Fortschritte. Aber die haben nicht ausgereicht.- Ulrich Irmer (F.D.P.): Ja. Es ist ja ein hochinteressanter Vorgang, daß nun, nach dem knappen Ergebnis des französischen Refe- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. rendums, ausgerechnet die Franzosen und die Briten sagen: Wir müssen das Demokratiedefizit in der Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Kollege Irmer, Gemeinschaft bekämpfen. Herzlichen Glückwunsch sind Sie mit mir aber auch der Auffassung, daß es sehr zu dieser Erkenntnis! Besser spät als nie. Darum hat viele Bereiche gibt, in denen die Harmonisierung doch die Bundesregierung letztes Jahr in Maastricht bestimmter technischer Vorschriften wie beispiels- gekämpft. Da ist sie doch nicht müde geworden. weise solcher, die Sie hier vorgelesen haben, durch- aus notwendig ist und einen Fortschritt für die Produk- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tion im gemeinsamen Europa und für die europäische Wir können sie nur dazu beglückwünschen, daß sie Wirtschaft bedeuten kann, und daß wir jetzt nicht den erklärt hat, sie werde sich schon in Birmingham und Fehler machen sollten, das Kind mit dem Bade auszu dann auf allen Folgekonferenzen weiterhin dafür 9248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Ulrich Irmer einsetzen, daß endlich demokratische Zustände in der verschlossenen Türen, Papers und Nonpapers, EG eintreten, daß die Rechte des Europäischen Parla- geschnürten Maßnahmen- und Richtlinienpaketen ments gestärkt werden. betrieben wird. Diese Handlungsweise ist für den Meine Damen und Herren, eine ganz wichtige Bürger und manchmal auch für den interessierten Perspektive sollten wir in dieser Debatte nicht aus Politiker, selbst den Bundespolitiker, undurchschau- dem Auge lassen: Der Ost-West-Konflikt ist überwun- bar. Der Bürger will die Möglichkeit der Mitgestal- den, aber die Welt ist dadurch nicht sicherer gewor- tung haben. Schließlich betrifft Europa die Lebensge- den. Rings um uns herum — wir sehen es — sind staltung eines jeden einzelnen Bürgers. wieder Probleme möglich, an die man vorher nicht Ich glaube, wir alle oder fast alle in diesem Hause gedacht hatte. Kriege sind in Europa wieder möglich sind uns über die Notwendigkeit des Zusammen- geworden. Da sollten doch wir diejenigen sein, die mit wachsens Europas auf der Grundlage der Maastrich- allem Ernst und mit aller Zuversicht an den Institutio- ter Verträge einig. Doch diese Notwendigkeit muß nen festhalten, die sich bisher bei uns bewährt haben auch von den Bürgern erkannt werden. Es reicht nicht, und die ein Maß an Stabilität für uns und unsere in der Politik das Richtige zu tun, z. B. den europäi- Miteuropäer gewährleisten, an das ohne diese Institu- schen Einigungsprozeß durch Maastricht voranzutrei- tionen nun überhaupt nicht zu denken wäre. Was ben und zu lenken, sondern diese richtige Politik muß würden unsere Nachbarn im Osten, die neuen, jungen von den Bürgern, für die sie schließlich gemacht wird, Demokratien dort, froh sein, wenn sie etwas Ver- auch als richtig erkannt und mitgetragen werden. gleichbares hätten wie unsere Europäische Gemein- Dazu müssen die Strukturen der Gesetzgebung trans- schaft, die auf dem Wege zur Europäischen Union parent sein. Demokratische Strukturen müssen für ist. alle erkennbar sein. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Eines sollten wir hier auch sagen: Wer die Europäi- Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher eine Vorreiterrolle bei der sche Gemeinschaft oder die Europäische Union nur als Entwicklung demokratischer westeuropäische Union begreift, der springt zu kurz. Strukturen in der europäischen Gesetzgebung Wir dürfen die jungen, neuen Demokratien östlich von gespielt. Eigenartigerweise ist Deutschland bei der Frage der parlamentarischen Kontrolle der Politik des uns nicht vergessen. Wir müssen sie einbeziehen in diesen Prozeß. Ministerrats und der parlamentarischen Kontrolle der Politik der Regierung im Ministerrat Schlußlicht in (Beifall des Abg. [CDU/CSU] Europa. Dies entspricht in keiner Weise den Vorstel- — Ortwin Lowack [fraktionslos]: Wo steht das lungen des Bürgers von Demokratie. Der Staat sind im Maastricht-Vertrag?) die Bürger. Das heißt, politische Entscheidungspro- Gerade das ist die innere Logik, weshalb wir auf zesse müssen von der Öffentlichkeit nachvollziehbar diesem Wege weitergehen müssen, um auch dort und beobachtbar sein. Als Ostabgeordneter kann ich Stabilität anzubieten und auf Dauer herzustellen. nur darauf hinweisen, daß gerade in den neuen Ich danke Ihnen. Bundesländern, in denen das Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis noch jung und ausgespro- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) chen sensibel ist, die Angst vor der vermeintlich übermächtigen, bürgerfernen Brüsseler Bürokratie Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- — und damit meine ich nicht nur die Kommission— ten Damen und Herren, nach unserer Übersicht dauert besonders groß ist und das Interesse — ich spreche gar diese Debatte noch etwa 15 Minuten. Als nächster hat nicht von Akzeptanz — für Europa besonders klein unser Kollege Michael Stübgen das Wort. ist. Wie sollen nun die so nötige Transparenz und Michael Stübgen (CDU/CSU): Herr Präsident! Demokratisierung erfolgen? Das ist heute schon von Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ergeb- vielen angesprochen worden. Ich möchte auf zwei nisse der Referenden in Dänemark und Frankreich, Punkte aufmerksam machen: welche weltweit für Schlagzeilen gesorgt haben, Der Einfluß des Europaparlaments und des deut- andererseits auch viele Sorgen ausgelöst und zumin- schen Parlaments, des Deutschen Bundestages, muß dest am Sonntag zu einer großen Erleichterung gestärkt werden; denn beide repräsentieren die par- geführt haben, haben für mich deutlich aufgezeigt, lamentarische Kontrolle, die entscheidendes Element daß Europa und die europäische Politik neben dem der Demokratie ist. vieldiskutierten Demokratiedefizit, wogegen wir et- was unternehmen und wogegen auch schon in Maas- In den Verträgen von Maastricht sind einige Rechte tricht Schritte unternommen worden sind, noch zwei des Europäischen Parlaments erweitert worden. andere Defizite hat, die heute auch schon angespro- Innerhalb der Organisationsstruktur des Deutschen chen wurden und gegen die wir ebenfalls etwas Bundestages ist ein Ausschuß für Europaangelegen- unternehmen müssen. Ich würde sie formulieren als heiten besonders geeignet zur koordinativen, feder- ein Öffentlichkeitsdefizit und ein Legitimationsdefi- führenden Beratung und Kontrolle europäischer Ent- zit der gegenwärtigen europäischen Politik. scheidungsabläufe, um eine optimale Unterrichtung und Einbindung des Parlaments zu gewährleisten. Die Bürger Europas sind — das hat sich in den Selbstverständlich bleibt er auf unterstützende Mitar- vergangenen Monaten gezeigt — mittel- und langfri- beit der jeweiligen Fachausschüsse angewiesen. stig nicht bereit, Europa anzunehmen, solange Euro- papolitik nach den Gepflogenheiten der klassischen Da wir hier das Rad nicht noch einmal erfinden Außenpolitik in Gestalt von Vereinbarungen hinter müssen, könnte ich mir vorstellen, daß dieser Europa- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9249

Michael Stübgen oder Unionsausschuß der Form nach mit dem däni- müssen der Regierung gemeinsam ein Votum vor- schen Marktausschuß und dem Inhalt, der Kompetenz schlagen. Ich würde mich freuen, mit dem Bundesrat nach mit dem Europaausschuß des britischen Parla- in einer ähnlichen Form zusammenarbeiten zu kön- mentes vergleichbar ist. nen. Wie gesagt, darüber muß diskutiert werden, denn es ist auch wichtig, daß die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU) natürlich handlungsfähig bleiben muß. Die zu benennenden Mitglieder sollen kompetente, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge vom Bundestag beauftragte Verhandlungspartner ordneten der F.D.P.) gegenüber der Bundesregierung sein. Zwischen Par- lament und Unionsausschuß müssen ein ständiger Noch ein Wort zur Verbesserung der Transparenz: Dialog und eine ständige Zusammenarbeit stattfin- Frau Matthäus-Maier, ich würde mich freuen, wenn den. Selbstverständlich ist der Ausschuß dem Parla- Sie mir jetzt zuhörten. ment gegenüber rechenschaftspflichtig und muß ihm (Zuruf von der CDU/CSU: Er spricht Sie an, in regelmäßigen Abständen Bericht erstatten. Der Frau Matthäus-Maier!) Ausschuß muß von der Bundesregierung über bevor- stehende Beschlüsse auf Europaebene rechtzeitig und — Danke schön. — Ich hätte mich gefreut, wenn Sie umfassend informiert werden, damit dieser die Mög- vorhin einen konkreten Vorschlag gemacht hätten, lichkeit hat, eine fundierte Stellungnahme abzuge- wie wir z. B. im Bereich des Öffentlichkeitsdefizits ben, welche die Bundesregierung bei ihren Verhand- Verbesserungen beim EG-Ministerrat erreichen kön- lungen zu berücksichtigen hat. Ein Abweichen soll nen. Es reicht nicht aus, pauschal zu sagen, er solle nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe, z. B. außen- jetzt öffentlich tagen; die Bundesregierung solle das und integrationspolitischer Gründe, möglich sein, durchsetzen. worüber der Bundestag ebenso zu unterrichten ist wie (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warum denn über die gesamten Verhandlungsergebnisse. nicht?) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr gut!) — Lassen Sie mich ausreden. — Wir haben dieses Die Zuständigkeit und Arbeitsmöglichkeiten der Thema gestern im Europaausschuß beraten, und ich Fachausschüsse für EG-Vorlagen wären auf ihren habe mir überlegt, wie man das praktizieren könnte. Gebieten, wenn wir die Konstruktion dieses Unions- Das ist an sich nicht so schwer, denn wir haben andere ausschusses hätten, nicht geschmälert — das möchte Vorbilder. Man braucht nur darauf zu verweisen, wie ich allen denen sagen, die da wohl etwas Bedenken es woanders funktioniert. Ich sehe ein, daß die Fach- haben —, sondern diese Aktivitäten sollen von dem ausschüsse — wie auch im Bundestag und im Bundes- Unionsausschuß politisch gestützt und koordiniert rat — nicht öffentlich tagen sollen. Aber die abschlie- werden. Der Unionsausschuß wäre demnach eine Art ßenden Verhandlungen und Abstimmungen im Mini- Clearingstelle des Parlaments — dieser Ausdruck sterrat sollten meines Erachtens öffentlich sein. Das ist stammt übrigens nicht von mir. ein konkreter Vorschlag, über den wir, wie gesagt, diskutieren müssen. Der 1. Ausschuß dieses Hauses berät zur Zeit über eine dazu notwendige Grundgesetzergänzung und (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja p rima, das die Formulierung der Art. 23 und 45. Die Koalitions- habe ich doch auch vorgeschlagen! — Heide- fraktionen wollen einen dementsprechenden Antrag marie Wieczorek-Zeul [SPD]: Es geht darum, im Parlament einbringen. Dies muß meines Erachtens daß die Leute die Willensbildung sehen!) zwingend zeitgleich mit der Ratifizierung der Maas- Sie haben gesagt, es solle öffentlich getagt werden. trichter Verträge erfolgen. Wie eigentlich? Die abschließenden Sitzungen des Es sei darauf hingewiesen, daß dem Bundesrat Ministerrats könnten, wie die Sitzungen des Bundes- derartige Rechte, wie ich sie jetzt für den Bundestag rates, den wir in Deutschland haben und der eine einfordere, schon seit langer Zeit zuerkannt worden ähnliche Konstruktion hat wie der EG-Ministerrat, sind bzw. er sie sich schon vor langer Zeit geholt hat, öffentlich stattfinden. Mir ist nicht bekannt, daß diese nämlich 1987 bei der Ratifizierung der Einheitlichen Struktur die Effizienz der Arbeit des Bundesrates Europäischen Akte. Wir wollen nur nachziehen und bisher beeinträchtigt hat. Deswegen sollte man versu- nehmen uns ein Beispiel an dem, was Sie vor einigen chen, diese Öffentlichkeit herzustellen. Jahren geschafft haben. Zum Schluß möchte ich noch kurz zu einem für mich besonders wichtigen Thema kommen. Allerdings, meine sehr verehrten Damen und Her- - ren, muß auch auf etwas anderes geachtet werden: Es darf nicht passieren, daß bei einer Ausweitung der Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat die Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, aber Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in den Ihre Redezeit ist längst abgelaufen. europäischen Gremien beeinträchtigt wird. Sich gegenseitig ausschließende Voten der Europaaus- schüsse von Bundesrat und Bundestag könnten mög- licherweise — ich meine, darüber müssen wir disku- Michael Stübgen (CDU/CSU): Ja, entschuldigen tieren — durch eine Besetzung des neuen Unionsaus- Sie, ein Satz noch, weil das für mich besonders wichtig schusses nach dem Vorbild des britischen Systems von ist. Die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern Unter- und Oberhaus verhindert werden. In Großbri- erwarten auch, daß ich das sage. Es h andelt sich um tannien ist der Europaausschuß mit Mitgliedern des die 18 Beobachter aus den neuen Bundesländern im Oberhauses und des Unterhauses besetzt, und diese Europäischen Parlament. 9250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Michael Stübgen Zu meinem großen Erstaunen ist in den Maastrich- ortbestimmung für Deutschland, eine Definition ter Verträgen diese Angelegenheit mit keinem Wort unserer langfristigen Interessen und Prioritäten? Müs- erwähnt, sen wir nicht einmal erst die deutsche Einheit geistig (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein großer und wenigstens ansatzweise wirtschaftlich vollzie- Fehler!) hen? Wahrscheinlich übersteigt das den Horizont des Bundeskanzlers. Aber brauchen wir nicht vor allem obwohl sich die Bundesregierung intensiv dafür ein- erst einmal eine Politik, an deren Ende — ich sage das gesetzt hat, daß sie den Status der ordentlichen ganz offen, vor allem an junge Menschen gerichtet — Mitglieder bekommen. Es hat offensichtlich unter den Deutschland als eine Hoffnung und Zukunft für Gipfelteilnehmern Differenzen und heimliche Ab- Europa steht? Wer sonst soll denn unsere Probleme sprachen gegeben. Dies ist ein schlechtes Beispiel für lösen und Perspektiven vor allem auch für unsere die Art und Weise, wie manchmal europapolitisch jungen Menschen geben? Wir können doch eine agiert wird und wie es eigentlich nicht sein darf, Lösung unserer Probleme nicht von England, Frank- (Beifall im ganzen Hause) reich, Portugal, Spanien oder Irland erwarten. Wir da eine solche Handlungsweise jedes demokratische müssen unsere Probleme zuerst bei uns selbst lösen. Prinzip negiert. Es wäre erbärmlich, wenn Europa nicht das des (Ortwin Lowack [fraktionslos]: Welche Kon Geistes, der Freiheit und großer Ideen, sondern das sequenz ziehen Sie denn daraus?) einer immer mächtiger werdenden und unkontrollier- Deshalb sage ich mit großem Ernst und großem baren zentralen Institution würde. Maastricht ist lei- Nachdruck: Es ist für mich von fundamentaler Bedeu- stungsfeindlich. Es schöpft Wirtschaftskraft ab und tung — ich glaube, auch für Deutschland —, daß leitet sie in viele dunkle Kanäle. Es treibt die Inflation spätestens auf dem Gipfel in Edinburgh, besser noch an, wie ich Ihnen gerne an vielen Einzelbeispielen auf dem Sondergipfel in Birmingham die entspre- erläutern würde, wenn ich dazu einmal die Zeit chende Entschließung des Europäischen Parlaments eingeräumt bekäme. Es treibt die Inflation an und zu diesem Thema auch umgesetzt wird. bedeutet neue Leistungen Deutschlands, die wir über- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. haupt nicht mehr erbringen können. Es ist undemo- kratisch und perspektivlos gegenüber neuen wichti- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. gen Mitgliedsländern. Ich frage Sie hier im deutschen sowie bei Abgeordneten der SPD) Parlament: Wo ist denn eigentlich die für uns Deutsche besonders wichtige atlantische Perspektive? Wo ist Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und beispielsweise die Perspektive für Ost - und Mittelost Herren, als letztem Redner erteile ich das Wort unse- sowie für Südosteuropa, die hier beschworen wurde, rem Kollegen Ortwin Lowack. ohne daß darüber ein einziges Wort in Maastricht gefallen ist? Wo ist der Aufschrei aus der Fraktion, der einmal Ludwig Erhard angehört hat, daß in Zukunft Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! die Industriepolitik einer Planifikation, einer Regle- Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler mentierung unterworfen ist? Oder gibt es die Markt- hat angekündigt, er werde eine große Informations- wirtschaftler in dieser Fraktion nicht mehr? Und wo ist kampagne zu Maastricht starten. Nur, es kann doch die Perspektive für die in der Zwischenzeit längst wohl nicht darum gehen, daß man eine große Infor- todkranke deutsche Landwirtschaftspolitik? mationskampagne zu Lasten des deutschen Steuer- zahlers startet, um über eigene Versäumnisse und (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen, daß wir Fehler hinwegzutäuschen. Die Bürger haben es längst uns bis zuletzt dagegen gewehrt haben!) satt, hinter das Licht geführt und manipuliert zu werden. Leistung muß überzeugen, nicht teure, vom Offenbar wissen die Leute gar nicht mehr, was sich Steuerzahler zu bezahlende Werbung. Der Herr Bun- draußen bei uns abspielt. deskanzler will eine interpretierende Erklärung zu Wenn der Herr Bundeskanzler den miserablen Maastricht abgeben. Er will sogar die Regelungswut Zustand unserer inneren Sicherheit beklagt und auf auf europäischer Ebene abstellen. Ich halte das für Europa hinweist: Die ungeheure Zunahme von Ver- einen schlechten Witz. Hat nicht der Bundeskanzler gehen und Verbrechen in Deutschland hat mit Europa gerade im französischen Fernsehen Maastricht als ein nichts oder am allerwenigsten zu tun. Hier wird doch Nonplusultra verteidigt? Was soll denn dann eine nur von den eigenen Versäumnissen und der eigenen interpretierende Erklärung, wo soll sie hinführen, was Unfähigkeit abgelenkt. - soll mit ihr erreicht werden? Wer ist denn verantwort- lich für die Regelungswut auf der europäischen Ich freue mich, daß vorhin der Herr Bundesaußen- Ebene, wenn nicht der Bundeskanzler, der die Richt- minister klargestellt hat, daß das, was der Bundes- linien der Politik bestimmt oder zumindest bestimmen kanzler gemeint hat, zum 1. Januar 1993 könnte sollte. Maastricht in Kraft treten, so nicht haltbar ist. Aber (Zuruf von der CDU/CSU: So stellt sich der immerhin, das ist eine offenbare Diskrepanz in der kleine Max Politik vor!) Regierung. Viele Mißstände müßten wir erst einmal in Deutschland und in Europa beseitigen, bevor wir uns Es muß vermieden werden, daß Deutschland ein neuen Verpflichtungen zuwenden. unverdaulicher Klotz in Europa würde, meint der Bundeskanzler. Ich frage Sie, meine lieben Kollegin- Ich komme politisch aus der europäischen Bewe- nen und Kollegen: Ist das wirklich das wichtigste gung, habe an unzähligen europäischen Initiativen Problem? Brauchen wir nicht vielmehr erst eine Stand- und bei der Bildung von europäischen Gruppen mit- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9251

Ortwin Lowack gewirkt. Ich warne vor Maastricht, ich warne vor meinen sollte, die Bundesregierung hätte daraus einem falschen Weg nach Europa. etwas entwickeln können. Sie hat aber nichts daraus entwickelt; das ist sehr bedauerlich. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Nun drängt die Zeit. Die Regierung wird mit den Herren, ich schließe die Aussprache. Zeitvorgaben der EG, zum 1. Januar 1993 ein einheit- Die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD liches Arbeitsschutzrecht zu schaffen, endlich aus auf der Drucksache 12/3311 und der Gruppe BÜND- ihrem Dornröschenschlaf herausgerissen. Leider steht NIS 90/DIE GRÜNEN auf der Drucksache 12/3310 zu befürchten, daß auf Grund der jahrelangen Ver- sollen zur federführenden Beratung an den EG- säumnisse in dieser Regierung zu diesen zentralen Ausschuß, der Entschließungsantrag der Gruppe Fragen wegen des Drucks seitens der EG jetzt geflick- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zusätzlich zur Mitbera- schustert wird, was ich sehr bedauern würde und was tung an den Rechtsausschuß überwiesen werden. wir als Sozialdemokraten auch verhindern möchten. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. — Dann sind Deshalb haben wir unseren Antrag für heute vorbe- die Überweisungen so beschlossen. reitet und eingebracht. Im Hinblick auf die europäischen Anforderungen Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 14 an den Arbeitsschutz muß gesagt werden, daß die von auf: der EG vorgegebenen Richtlinien teilweise auch Lük- Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd ken in unserem nationalen Recht schließen. So wurde Andres, Dr. Ulrich Böhme (Unna), Hans Büttner z. B. in diesem Frühjahr hier im Plenum über drei (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation Fraktion der SPD debattiert. Ich rufe in Erinnerung: Schutz der Arbeit- Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches nehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverun- reinigungen, Lärm und Vibration am Arbeitsplatz, — Drucksache 12/2412 — Sicherheit bei der Verwendung von Asbest und Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Arbeitsschutz im Bauwesen schlechthin. Aussprache 90 Minuten vorgesehen. — Ich höre und sehe auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so Inzwischen wurden diese Gesetzentwürfe ohne beschlossen. Aussprache durch die zweite und dritte Lesung gebracht. Im Prinzip wäre daran nichts auszusetzen, Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort außer: Die genannten Verordnungen und Richtlinien unserem Kollegen Manfred Reimann. sind nicht weitgehend genug, und sie vergrößern den vorhandenen Vorschriftendschungel. Solche Richtli- Manfred Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine nien — das ist unsere Meinung — sollten wir als sehr geehrten Damen und Herren! Es ist ein kleines Elemente in ein strukturiertes Regelwerk einbrin- Wunder, daß wir jetzt endlich, zehn Jahre nach Beginn gen. der Diskussion 1982, hier im Bundestag die Debatte über die Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches Trotzdem muß in diesem Zusammenhang ganz beginnen. Daß die Regierungskoalition in dieser ele- deutlich davor gewarnt werden, sich nur mit den mentaren Angelegenheit so weit hinter den Gegeben- Anforderungen des EG-Rechts — welche Lücken heiten der Arbeitswelt herhinkt, ist teilweise schon ein auch immer es ausfüllen mag — zufriedenzugeben. Armutszeugnis. Ich frage: Warum weigert sich die Wir haben die Möglichkeit, über die EG-Anforderun- Bundesregierung eigentlich seit ihrer Amtsüber- gen hinaus unsere eigenen Arbeitsschutzrechte zu nahme 1983 so beharrlich, einem schon damals vor- gestalten, und wir müssen dies zum Wohle der arbei- liegenden guten Gesetzentwurf und Ansatz der SPD tenden Bevölkerung der Bundesrepublik auch tun. entsprechende Taten folgen zu lassen? Viele Aspekte im Bereich Arbeitsschutz, Arbeitssi- Der Beschluß des Bundestages im Jahre 1981 wollte cherheit und Gesundheitsvorsorge sind in anderen die in diversen Gesetzen, Verordnungen und Richtli- Ländern, auch in EG-Mitgliedstaaten, bereits er- nien aufgesplitterten Einzelregelungen zum Arbeits- forscht worden oder werden zur Zeit bearbeitet. Hier schutz — dies sind mittlerweile über 1 000, die selbst erfolgt die Zusammenarbeit — wir reden immer von einem Fachmann den Überblick verwehren — zu diesem großen Europa — bedauerlicherweise nur sehr einem einheitlichen, grundlegenden Gesetz zusam- sporadisch. Viele wichtige Forschungsarbeiten wer- menfassen. den hier nur per Zufall bekannt. Dabei müßten sie Es war damals ein einstimmiger Beschluß; ich manchmal einfach nur übersetzt werden, und es möchte das in Erinnerung rufen. Wir alle, meine bräuchte nicht in jedem Land gesondert geforscht zu Damen und Herren, waren uns darüber einig, daß der werden. Mit einer konstruktiven Kooperation über die deutsche Arbeitsschutz den neuen Erkenntnissen Grenzen hinweg wären einerseits Millionen an For- angepaßt gehört, auch weil z. B. der öffentliche Dienst schungsgeldern einzusparen, andererseits ist zum und die Landwirtschaft weitgehend ausgeschlossen Wohle der arbeitenden Menschen der Zeitfaktor von waren und weil in der Wirtschaft arbeitsschutzrechtli- nicht zu unterschätzender Bedeutung. che Bestimmungen — man mag es glauben oder Um ein Arbeitsschutzrecht aus einem Guß zu nicht — auch von der Größe eines Unternehmens bekommen, plädieren wir für die Schaffung eines abhängig sind. Arbeitsschutzgesetzbuches, analog dem Sozialge- Zum Einstieg wurden von der sozialliberalen Koali- setzbuch, welches sich in mehreren Büchern der tion 1983 SPD-Referentenentwürfe hinterlassen. Problematik stellt und diese Problematik regelt. Vor Diese bildeten eine gute Arbeitsbasis, so daß man allem rechtlich verbindliche Bestimmungen über die 9252 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Manfred Reimann Pflichten der Arbeitgeber beim Gesundheitsschutz, Neue Erkenntnisse werden nur sehr langsam in der Gesundheitsvorsorge, der Gesundheitsförderung gesetzliche Regelungen umgesetzt. Bis die Liste der sowie der Kontrolle zur Einhaltung der Schutzmaß- anerkannten Berufskrankheiten urn einen weiteren nahmen und die Schaffung institutioneller Vorausset- Punkt ergänzt werden kann, fließt jeweils noch viel zungen für die Umsetzung des Arbeitsschutzes sollen Wasser den Rhein hinunter. Es ist ein aufwendiger Inhalt des Gesetzbuches werden. und schwieriger Weg, um im Einzelfall eine Erkran- kung als berufs- oder arbeitsbedingt anerkannt zu Unter dem Beg riff Arbeitsschutz ist mehr als nur der bekommen. Für manche Witwe kommt es noch viel Schutz vor schweren oder gar tödlichen Unfällen zu schlimmer, wenn der Lebensgefährte verstorben ist: verstehen. Allein in der Europäischen Gemeinschaft Es geht bis zum Wiederausgraben von Menschen, um wurden bei mehr als 4,5 Millionen Arbeitsunfällen Berufskrankheiten feststellen zu können. jährlich nach Aussage der Kommission an die 40 Mil- liarden für soziale Folgeleistungen ausgegeben. Die geschätzten Folgekosten arbeitsbedingter, aber nicht als solcher erfaßter Krankheiten und Unfälle Wir wissen, daß an Arbeitsunfällen jährlich ca. 8 000 belaufen sich auf etwa 80 Milliarden DM jährlich — Personen sterben. Die jährlich betroffene Zahl von ebenfalls eine Schätzung für die alten Länder der Personen, die am Arbeitsplatz Unfälle oder Berufs- Bundesrepublik Deutschland. krankheiten erleiden, wird EG-weit auf ca. 10 Millio- Bei der Einführung neuer Technologien, neuer nen geschätzt. Arbeitsverfahren oder neuer Arbeitsstoffe sind ganz Auf Deutschland bezogen — ich beziehe mich auf besondere Anforderungen zu beachten. Erprobte Pro- die Statistiken der alten Länder —, muß man feststel- blemlösungen können mit Einführung neuer Verfah- len, daß sich die arbeitende Bevölkerung in drei ren sehr schnell hinfällig werden. Dann müssen neue Drittel aufteilt: Ein Drittel erreicht das Rentenalter Lösungen parat stehen. Neue Arbeitsstoffe müssen nach dem Arbeitsleben ohne nennenswerte Beein- sich hinsichtlich ihrer chemischen Zusammensetzung trächtigungen, ein Drittel wird vor Erreichen der oder Strahleneinwirkung genauestens auf etwaige Altersgrenze berufs- oder erwerbsunfähig, und ein gesundheitsschädigende Effekte überprüfen lassen. Drittel stirbt vor Erreichen der Altersgrenze weg. Das Die bestehenden Schutzbestimmungen müssen macht die Dramatik dieser Arbeitsschutzgesetzge- neuen Arbeitsstoffen fortlaufend angepaßt werden, bung im Grunde genommen deutlich. nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Verwaltung und in Dienstleistungsbetrieben. Der Ziel des Arbeitsschutzes muß es aber sein, allen Arbeitsschutz in Deutschland ist bisher viel zu sehr auf berufstätigen Menschen einen Ruhestand ohne den technischen Bereich eingeengt. berufsbedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen Auch der psychische Bereich darf auf keinen Fall zu ermöglichen. Es ist erfreulich, daß wir bei den unterschätzt werden. In unserer hochtechnisierten Arbeitsunfällen mit tödlichem Ausgang einen Rück- Welt wird in zunehmenden Maße durch den vermehr- gang zu verzeichnen haben. Bedauerlich ist es aber, ten Einsatz von Maschinen körperliche Arbeit redu- daß wir im Laufe des Jahres 1989 wieder einen ziert. Es entstehen nichtkörperliche Arbeitsarten mit Anstieg registrierten, und zwar bei den angezeigten neuartigen Anforderungen an die menschliche Psy- Berufsunfällen um 4,8 %, bei den Anzeigen auf Ver- zugleich aber auch mit zusätzlichen Belastun- dacht einer Berufskrankheit um 6 % und bei den che, gen. Kosten der gesetzlichen Unfallversicherung um 9,5 %. Dabei ist erstaunlich, daß im gleichen Zeitraum die Kenntnis und guter Wille der Arbeitnehmerinnen Zahl der erstmals entschädigten Berufskrankheiten und Arbeitnehmer reichen häufig nicht aus, um nur um 1,2 % stieg. Das ist ein Problem, das uns seit sicherzustellen, daß Arbeit am Arbeitsplatz und in der Jahren begleitet. Wir sollten uns einmal der Überprü- Arbeitsumgebung nicht krank macht. Deshalb müs- fung dieser Zahlen stellen und festzustellen versu- sen in angemessenem Maße Normen zur Stützung chen, ob restriktive Auslegungen bei den Ärzten und gesundheitsfördernden Verhaltens entwickelt wer- medizinischen Einrichtungen die Ursache dafür sind, den. Hier ist auch die Eigeninitiative der Belegschaft daß die Zahlen so weit auseinanderklaffen. gefordert. Aber selbst diese Zahlen sind eigentlich geschönt, Eine viel zu häufig unterschätzte Belastung stürmt weil nur solche Krankheiten als Berufskrankheiten in den letzten Jahren auf die Betroffenen ein und wirkt gelten, die in die Berufskrankheitenliste aufgenom- kontraproduktiv auf deren eigenes, gesundheitlich men sind und damit anerkannt und statistisch erfaßt orientiertes Engagement: die Angst vor der steigen- werden. Viele Arbeitsstoffe, deren Schädlichkeit auch den Arbeitslosigkeit. Es ist dringend davor zu war- hinsichtlich Spätfolgen längst nachgewiesen ist, feh- nen, daß sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer len immer noch in der Liste der Gefahrstoffe, und viele unter Druck setzen lassen, so daß die Qualität des Krankheiten, die durch den Umgang mit gerade Arbeitsschutzes am Arbeitsplatz zu ihren eigenen diesen Stoffen ausgelöst werden, gelten dementspre- Lasten geht. Wir brauchen letztlich eine ganzheitliche chend nicht — noch nicht — als Berufskrankheiten. Betrachtung der Arbeitssituation, eine Betrachtung Dieser Rest geht zu Lasten der allgemeinen Sozialver- also, die sowohl die betriebliche als auch die private sicherung. Ich nenne an dieser Stelle einmal eine Lebenswirklichkeit der arbeitenden Bevölkerung Auswahl der bisher nicht erfaßten Bereiche: Erkran- berücksichtigt. kungen der Gelenke und des Stützapparates, Meine Damen und meine Herren, ohne unser heuti- Rheuma, Gefährdungen durch Mehrfachbelastungen, ges Thema zu verlassen, möchte ich Sie an die aktuelle schlechte Arbeitsorganisation, Leistungsdruck, Debatte zur Gesundheitsreform erinnern. Gestatten Schichtarbeit, Streß und vieles mehr. Sie mir den Hinweis: Auch verantwortungsbewußte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9253

Manfred Reimann Arbeitsschutzbestimmungen leisten in erheblichem Sechstens. Das neue Gesetzbuch muß einheitlich Maße ihren Beitrag zur Entlastung des Gesundheits- für alle abhängig Beschäftigten gelten, also auch für systems. Denn eine humane Arbeitswelt und ein den öffentlichen Dienst, Beamtinnen und Beamte, ökonomischer Erfolg schließen sich nicht gegenseitig aber auch für Berufsausbildungen und berufsausbil- aus, sondern im Gegenteil, sie ergänzen einander dungsähnliche Verhältnisse, Heimarbeit und Prak- notwendig und stärken letztlich den Wirtschaftsstand- tika. Ferner müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- ort Deutschland, dessen angebliche Gefährdung in nehmer von Fremdfirmen den eigenen Arbeitern im letzter Zeit so leichtfertig geradezu herbeigeredet Arbeitsschutz gleichgestellt werden, falls die Arbeits- wird. Vorbeugender Gesundheitsschutz ist kein Lu- bedingungen der Fremdfirma schlechter sind. xusartikel. Das muß an dieser Stelle noch einmal ganz Siebtens. Verpflichtung des Arbeitgebers zur syste- klar und deutlich betont werden. matischen Erfassung betrieblicher Belastungsdaten Unser Antrag, im stichwortartigen Überblick darge- und deren Auswertung und Umsetzung in betriebli- stellt, heißt: che Arbeitsschutzprogramme. Die systematische Er- fassung der betrieblichen Belastungsdaten ist im Hin- Erstens. Das Arbeitsschutzrecht muß — ähnlich wie blick auf die Zunahme chronischer Gesundheits- das Sozialgesetzbuch — zu einem Arbeitsschutzge- schädigungen oder Langzeitgesundheitsschädigun- setzbuch, das aus mehreren Einzelbüchern besteht, gen der Beschäftigten ein Mittel der Prävention. Dies zusammengefaßt werden. Ich sagte dies schon am wird zu einer zentralen Frage der Bekämpfung der Anfang. Nach einem allgemeinen Teil sollen in Ursachen von Krankheiten am Arbeitsplatz. jeweils eigenen Büchern folgende Bereiche normiert werden: innerbetriebliche Organisation des Arbeits- Achtens. In bestimmten Arbeitsbereichen — beson- schutzes und der Gesundheitsförderung; Geräte- und dere Gefahren, hohe Belastungen usw. — muß ein Anlagensicherheitsrecht; Arbeitszeitrecht; Gesund- Verbot mit Erlaubnisvorbehalt eingeführt werden. heitsschutz für besonders schutzbedürftige Personen- Neuntens. Die Aufhebung der besonderen Geheim- gruppen sowie Gesundheitsschutz der Beschäftigten haltungspflicht soll Behörden und Wissenschaft vor besonderen Gefahren, Gefahrstoffen und Einwir- ermöglichen, Datendokumentationen auszuwerten. kungen. Zehntens. Bündelung der Gewerbeaufsichtsdien- Zweitens. Ausweitung des betrieblichen Gesund- ste der Länder und der Technischen Aufsichtsdienste heitsschutzes über die engen Grenzen des traditionell der Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaf- technisch orientierten Arbeitsschutzes hinaus in Rich- ten) zur Effektivierung der Überwachungstätigkeit in tung auf Gesundheitsförderung und Gesundheitsvor- den Betrieben. sorge. Elftens. Einführung der Beweislastumkehr bei der Die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie Leben Anerkennung von Berufskrankheiten durch die und körperliche Unversehrtheit stehen unter dem Unfallversicherungsträger. Die Liste der anerkannten besonderen Schutz der Verfassung. Diese elementa- Berufskrankheiten ist in ein- bis zweijährigen Abstän- ren Grundrechte sollte der Gesetzgeber mit einem den dem jeweiligen Stand der arbeitsmedizinischen umfassenden Schutz des Lebens und der Gesundheit und epidemiologischen Erkenntnisse anzupassen. Ich in der Arbeitswelt gewährleisten, und zwar auf der bin mir sicher, daß bei uns gerade dieser Punkt noch Basis des jeweils neuesten Standes der Sicherheits- lebendige Debatten auslösen wird. Ich glaube, es ist technik, Arbeitsmedizin und Arbeitshygiene plus son- die einzige Chance für den sozial Schwachen, zu stigen aktuellen arbeitswissenschaftlichen Erkennt- seinem Recht zu kommen, wenn die Beweislastum- nissen. kehr zugunsten des sozial Schwachen eingeführt wird. Drittens. Informations - und Mitbestimmungsrechte Zwölftens. Neuregelung des Arbeitszeitrechts mit der Arbeitnehmer in allen Fragen des bet rieblichen einer Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Gesundheitsschutzes, einschließlich des Rechts auf Stunden, der wöchentlichen Arbeitszeit auf 38 Stun- Verweigerung der Arbeitsleistung bei begründetem den und fünf Tage sowie der Beschränkung von Verdacht auf eine Pflichtverletzung des Arbeitgebers, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. die zu Gefahren für Leben oder Gesundheit der Arbeitnehmer führen könnte. Darüber hinaus müssen spezielle Regelungen in bezug auf Dritt- und Umweltschutz — z. B. Chemika- Viertens. Schaffung von mit Arbeitgebern und lienrecht, Gentechnikrecht — ihre Gültigkeit behal- Arbeitnehmern paritätisch besetzten Arbeitsschutz- ten. Es muß eine Integration des existierenden Gerä- beiräten. Außerdem haben die unteren Landesbehör- tesicherheitsgesetzes in ein Buch über Geräte- und den Vertrauensbeamte für die Zusammenarbeit mit Anlagensicherheitsrecht erfolgen. den Betriebsräten und Gewerkschaften zu bestel- Diese zwölf Punkte machen klar, daß sich die len. bundesdeutsche Gesetzgebung im Arbeitsschutz auf Fünftens. Es ist eine der EG-Rahmenrichtlinie ent- Dauer keinesfalls mit den jetzigen Lösungen zufrie- sprechende Generalklausel der Arbeitgeberver- dengeben darf. Wie sollen wir denn jemals wirksa- pflichtung für die Sicherheit und den Gesundheits- mere Maßnahmen in unserem Land — von einer schutz der Beschäftigten aufzunehmen. Die bisherige europäischen Lösung ganz abgesehen — in den Griff Generalklausel in § 120a Gewerbeordnung, die den bekommen, wenn nicht endlich die Arbeitsschutznor- Gesundheitsschutz der Beschäftigten unter die wirt- men an die veränderten Realitäten der Arbeitswelt schaftliche Prämisse der „Natur des Betriebs" stellt, ist angepaßt werden? Lassen Sie mich noch einmal zu streichen. sagen: Bei einer ausreichenden Prävention im 9254 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Manfred Reimann Arbeitsleben lassen sich nicht nur Millionen, sondern tag nicht immer wieder über Entschließungen debat- Milliarden einsparen, abgesehen von dem sozialen tiert, wo es uns darauf ankam, daß der hohe deutsche Elend, welches man den arbeitenden Menschen, die Standard bei einer europäischen Norm nicht abge- von Unfällen und Krankheit verschont bleiben, erspa- senkt wird. Im übrigen ist die Zahl der meldepflichti- ren kann. gen Unfälle bei den gewerblichen Berufsgenossen- Wir als Vertreter der Legislative haben eine sozial- schaften zwischen 1970 und 1990 immerhin um politische Fürsorgepflicht gegenüber den arbeiten- 679 000 gesunken, und das bei einer Zunahme der den Menschen. Wir sollten dieser Fürsorgepflicht Zahl der Berufstätigen. gerecht werden. Ich bin mir darüber im klaren, daß Hier wird in der Praxis sehr viel geleistet. Ich meine, diese schwierige Materie, die sicherlich nicht ganz so es steht uns Politikern sehr gut an, wenn wir den strittig ist wie vieles andere in der politischen Debatte, Beteiligten dafür dankbar sind. einer Regelung zugeführt werden muß, die vielen Warum kommen so viele Ausländer und wollen vom Millionen arbeitenden Menschen und ihren Familien deutschen Arbeitsschutz etwas lernen? Wenn schon so in der Bundesrepublik dient. Dies hat oft einen viele Ausländer kommen und unser hohes Niveau als wesentlich höheren politischen Stellenwert und ist von einer höheren politischen Brisanz als manches, vorbildlich einschätzen, warum sind manche in Deutschland dann selbst so pessimistisch? Gerade die über das wir hier oft und viel diskutieren. Gewerkschaften sollten auf das Erreichte stolz sein, Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. denn sie haben es schließlich mitgeschaffen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Ottmar Schreiner [SPD]: War das richtig: Die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Asylbewerber kommen wegen des Arbeits Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen schutzes?) Hans-Joachim Fuchtel. Trotzdem sind natürlich Verbesserungen denkbar. Wir wollen auch eine weitere Entwicklung des Arbeitsschutzrechts. Wir wollen das vor allem im Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Präsident! gesamten Europa. Denn es kann nicht akzeptiert Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zum Kolle- werden, daß die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Rük- gen Manfred Reimann bin ich der Meinung, daß die ken der Arbeitnehmer — egal, ob in Deutschland, in Koalition und die Opposition bezüglich der Bewer- Italien oder sonstwo in der EG — ausgetragen wird. tung und der Einordnung des Arbeitsschutzes gar nicht so weit auseinanderliegen. Sie formulieren das (Beifall bei der CDU/CSU) Wünschenswerte und noch etwas darüber hinaus; das Es ist das Verdienst der deutschen Bundesregie- ist auch die Aufgabe einer Opposition. Wir realisieren rung, daß sie 1988 die soziale Dimension in Europa das Machbare; das ist die Aufgabe der Koalition. eingebracht hat. Daraus ist die Europäische Sozial- (Beifall bei der CDU/CSU) charta entstanden. Dies führt zu der Rahmenrichtlinie Sie wünschen etwas mehr Planung und damit auch Arbeitsschutz, vor deren Umsetzung in nationales etwas Bürokratie. Das liegt im Wesen der Sozialdemo- Recht wir im Augenblick stehen. Da frage ich: Sollen kraten. Wir machen es etwas weniger planerisch und wir ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit der Ent- dafür mittelstandsfreundlicher. Das ist eben die wicklung eines neuen Arbeitsschutzgesetzbuches Stärke dieser Koalition. beginnen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, genau!) Für den Arbeitnehmer ist es im übrigen zweitran- gig, ob alles in einem schönen Buch zusammenge- oder wollen wir nicht besser erst einmal die inhaltli- schrieben ist. Es kommt nur darauf an, daß es in der chen Entwicklungen zum Abschluß bringen, um dann Praxis auch wirkt, und dafür wollen wir sorgen. das Ganze neu zu kodifizieren? Niemand kann behaupten, daß sich in Deutschland (Manfred Reimann [SPD]: Nochmals zehn in den letzten Jahren nichts getan hat. Ich nenne nur Jahre warten?) die Gefahrstoffverordnung, das Chemikaliengesetz, Heute sagt uns die Opposition — diese . Erfahrung das Gerätesicherheitsgesetz und die Ratifikation der machen wir mit Ihnen —, daß wir ein neues Gesetz- internationalen Abkommen. Deutschland gehört in buch machen sollen. Morgen hält uns die- gleiche der Zwischenzeit unter den 154 Mitgliedstaaten der Opposition vor, daß wir die europäischen Richtlinien IAO zur Spitzengruppe der 15 Staaten, die die meisten nicht rechtzeitig umgesetzt haben. Ratifikationen vorgenommen haben. 90 % der Staaten haben weniger Übereinkommen unterschrieben. Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Spezielle in Deutschland ist auch noch, daß hier die der F.D.P.) unterschriebenen Abkommen tatsächlich umgesetzt Da kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion der werden. Regierung nur empfehlen, den Kurs zu halten. Dieser Manche versuchen trotzdem, den deutschen Kurs heißt: zunächst das breit angelegte Arbeits-

Arbeitsschutz mit Hinweis auf Statistiken herunterzu- schutzrahmengesetz — wobei mit der Novelle zum reden. Vergleiche in Europa hinken deswegen, weil Gerätesicherheitsgesetz bereits ein wichtiger Aspekt es keinen einheitlichen Begriff des Arbeitsunfalls in verwirklicht ist —, dann ein neues Arbeitszeitgesetz, der EG gibt. So schlecht kann es auch gar nicht sein. Beibehaltung der Spezialgesetze wie Chemikalienge- Sonst hätten wir in den letzten Jahren hier im Bundes setz oder Gefahrstoffverordnung. Wir wissen alle: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9255

Hans-Joachim Fuchtel Arbeitsschutz ist ein Gebot der Humanität und der sowohl der einzelnen Arbeitnehmer als auch der wirtschaftlichen Vernunft. In erster Linie geht es um Volkswirtschaft Rechnung getragen wird. Mit dem den Menschen. Hinter den nüchternen Zahlen verber- Arbeitsschutzrahmengesetz wird die Koalition nach gen sich Schicksale und menschliches Leid, das soweit den erfolglosen Versuchen zur Schaffung eines sol- wie möglich verhindert werden muß. chen Gesetzes in den Jahren 1928, 1959 und 1981 erstmals eine umfassende Grundlage schaffen. Wir Am besten geschieht das durch Maßnahmen der werden uns davon nicht durch eine langatmige Dis- Prävention. Hier sind wir uns einig: Der präventive kussion über ein später einmal sicher sinnvolles Gedanke muß im künftigen Arbeitsschutzbegriff stär- Arbeitsschutzgesetzbuch abhalten lassen. ker verankert sein. Denn er ist der Schlüssel für die Verwirklichung eines Arbeitsschutzes, der bewußt auf Vielen Dank. den sozialen Aspekt der Marktwirtschaft abhebt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Im neuen Arbeitsschutzrahmengesetz muß Arbeits- schutz daher alle Maßnahmen zur Abwehr arbeitsbe- Vizepräsident Helmuth Becker: Jetzt hat unsere dingter Gesundheitsgefahren und zur menschenge- Kollegin Petra Bläss das Wort. rechten Gestaltung der Arbeit umfassen und gibt damit eine Definition dessen, was geschehen muß. Ich denke, daß wir wenigstens von der Tendenz her hier Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! ähnlich denken. Meine Damen und Herren! Es gibt immer mehr Menschen in der Bundesrepublik, die krank werden, Die Aufgabe besteht darin, vernünftige und prakti- weil ihnen ihre Arbeit fehlt, weil sie sich nutzlos und sche Abgrenzungen zu finden. Wir brauchen nicht ausgegrenzt fühlen. Doch das Paradoxe ist, daß auch allzuviel Kleingedrucktes, aber wir brauchen die die Zahl derjenigen wächst, die trotz eines relativ Motivation vor Ort, um einen wirksamen Arbeits- gesicherten Arbeitsplatzes gesundheitliche Probleme schutz durchzuführen. Man kann nicht alles zur Chef- haben, ihre Arbeitsumwelt als Belastung empfinden sache machen. Aber die Qualität der betrieblichen und oft vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden Verantwortung wird sehr wohl auch am Dialog zwi- müssen. Also auch Arbeit macht krank. schen allen Beteiligten in der Firma sichtbar. Dazu gehört zweierlei: erstens die konsequente Verpflich- Der DGB geht davon aus, daß gesundheitsschädi- tung des Arbeitgebers zur Ermittlung und Bewertung gende Arbeitsbedingungen Hauptursache für Kran- von Gefahrensituationen und die Durchführung der kenstand, Schwerbehinderung, Frühinvalidität und erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen und zwei- Frühsterblichkeit sind. Schätzungen zufolge sterben tens eine klare Aussage zu den Rechten und Pflichten jährlich 200 000 Menschen an den langfristigen Fol- des einzelnen Arbeitnehmers im Blick auf sein gen einer krankmachenden Arbeitsumwelt. Seit lan- Gesundheitsinteresse. gem ist bekannt, daß etwa zwei Drittel der Beschäf- tigten im gewerblichen Bereich wegen Erwerbsunfä- Für unsere Betriebe ist es aber auch sehr wichtig, higkeit, Frühverrentung oder Tod das Rentenalter daß Behörden und Institutionen ihre Besuche koordi- nicht erreichen. nieren und daß die Zahl dieser Besuche begrenzt ist. Die Gesundheitsrisiken im Arbeitsleben sind größer Wenn an einem Tag die Berufsgenossenschaft kommt geworden, sie haben sich qualitativ verändert, und sie und am nächsten Tag die Gewerbeaufsicht zum glei- treten als Mehrfachbelastungen auf. Zusammenge- chen Problem, haben wir die Fälle der Verärgerung, nommen hat das in den letzten Jahren eine deutliche die sicher nicht zur Kooperation beitragen. Deswegen Zunahme arbeitsbedingter Erkrankungen bewirkt. werden wir alle Vorschriften auf das Ziel einer verbes- 1990 haben sie mit fast 58 000 Anzeigen einen vorläu- serten Kooperation und Koordination im Arbeits- figen Höchststand erreicht. Zugenommen haben vor schutz überprüfen müssen. Das ist im Antrag der SPD allem psychische Erkrankungen und Gesundheits- weniger enthalten, dafür ist ihr Wunschkatalog natür- schäden an Bindegewebe, Muskeln und Skelett. lich noch etwas länger. Allein 58 % der Frühverrentungen gehen heute auf Es ist nicht unsere Absicht, den Betrieben Pro- derartige Erkrankungen zurück. Frauen sind dabei gramme zur betrieblichen Gesundheitsförderung vor- überdurchschnittlich stark betroffen. zuschreiben. Sie verlangen von Beamten doch auch Zusammengenommen haben aber auch Hauter- nicht, daß sie Sturzhelme zum Schutz gegen herunter- krankungen und Erkrankungen des Nervensystems fallende Aktenordner tragen. und der Sinnesorgane durch Lärmbelästigungen,- (Ottmar Schreiner [SPD]: War das ein Witz Stäube, Gifte und ähnliches. Obwohl empirische versuch?) Untersuchungen und arbeitsmedizinische Forschung den Zusammenhang arbeitsbedingter Gesundheits- Wir können auch nicht erkennen, wieso das gut gefahren und tatsächliche Erkrankung immer besser funktionierende Arbeitsschutzwesen weiterer Beiräte nachweisen können, gibt es in der BRD die erschrek- bedarf. Die Leute sollen ihrer Verantwortung im kende Tendenz, daß trotz erhöhter Anzeigen die Betrieb gerecht werden. Heute braucht alles Beiräte, Anerkennung von Berufskrankheiten und ihre Ent- und niemand denkt daran, welche Ressourcen das schädigung weiter rückläufig ist. 1990 wurden nur alles in Anspruch nimmt, die an anderer Stelle feh- noch 7,9 % aller angemeldeten arbeitsbedingten len. Krankheiten auch wirklich entschädigt. Ich fasse zusammen: Wir werden das Niveau des (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wie sah das in Arbeitsschutzes weiterentwickeln, konsequent und Bitterfeld aus? — Hans-Joachim Fuchtel zügig, national und europäisch, wobei den Belangen [CDU/CSU]: Und Wismut AG!) 9256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Petra Bläss Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die äußerst starre und Schichtarbeit zu einem der gravierendsten Anerkennungspraxis in der Bundesrepublik, der arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken gerechnet wird zufolge Tausende Beschäftigte trotz schwerer Exposi- — natürlich nicht nur bei Frauen, aber bei ihnen tion gegenüber krankmachenden Arbeitsbedingun- besonders. Ich hätte mir entsprechend der Quer- gen an ihrem Arbeitsplatz aushalten müssen. schnittsaufgabe des Frauenministeriums gewünscht, Mit dieser bedrückenden Situation sind jetzt auch daß von dort Druck wenigstens zur Aktualisierung die Beschäftigten in den neuen Bundesländern kon- und zur zeitgemäßen Gestaltung des Frauenarbeits- frontiert — und dies unter dem ohnehin riesigen Druck schutzes entwickelt wird. des drohenden Arbeitsplatzverlustes. Meine Damen und Herren, mindestens Art. 30 des (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist un Einigungsvertrages hätte ausreichend Anlaß geboten, glaublicher Unsinn, was Sie da reden! — die Neuregelung des Arbeitsschutzes in Angriff zu Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das ist nehmen, und die Aufforderung, den — ich zitiere — wirklich toll!) „Arbeitsschutz in Übereinstimmung mit dem Recht — Ich denke, über Arbeitsschutz in der Deutschen der EG und dem damit konformen Teil des Arbeits- Demokratischen Republik muß man eine sehr kriti- schutzrechts der ehemaligen DDR zeitgemäß (...) zu sche Diskussion führen, aber diese ist heute im Bun- regeln", hätte zudem dafür wichtige Impulse liefern destag nicht angesagt. Es liegt ein Antrag der SPD können. zum Arbeitsschutz in der Bundesrepublik Deutsch- land vor. Im alten DDR - Arbeitsschutzrecht — die Praxis, das betone ich durchaus, mag davon weit entfernt gewe- (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Eduard sen sein — war neben einem umfassenden Gesund- Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich solch ein heitsziel auch die Pflicht zur Prävention und Gesund- Unsinn!) heitsförderung festgeschrieben. Auch der Berufs- Anders als etwa in Dänemark gibt es in der BRD krankheitenkatalog konnte sich sehen lassen. Neue keine Bewertungskriterien zur Erfassung arbeitsbe- Volksseuchen wie die Erkrankungen von Stütz- und dingter Gesundheitsgefahren, sonst sähe die Bilanz Bewegungsapparaten waren darin ebenso aufgeführt arbeitsbedingter Erkrankungen vermutlich noch be- wie krankmachende chemische, physikalische und drohlicher aus. biologische Risikofaktoren. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es ist schade, daß man sich das anhören muß!) Ein Hauptproblem der gegenwärtigen Arbeits- schutzregelungen besteht nicht nur in dem defizitären — Sie können j a hinausgehen, wenn Sie nicht zuhören Regelungsbereich, sondern vor allem da rin, daß ganz wollen. unterschiedliche Zuständigkeits- und Verantwor- Das Ausmaß von im Arbeitsumfeld erworbenen tungsebenen bestehen. Für die Betroffenen ist dieses chronischen oder tödlich ausgehenden Gesundheits- Gewirr kaum zu durchschauen, geschweige denn schäden kann so lange kaschiert werden, wie es keine handhabbar. Notwendig erscheint es mir — wie es Institution gibt, wo zentral und systematisch arbeits- auch im Antrag der SPD gefordert wird —, ein bedingte Gesundheitsrisiken erfaßt, dokumentiert einheitliches Gesetz zu schaffen mit dem Ziel, Präven- und ausgewertet werden. Das ist für mich kein fal- tion, Gesundheitsförderung und Abbau gesundheits- scher Zentralismus. gefährdender Stoffe im Arbeitsumfeld umfassend zu Zur Verschleierung trägt auch der enggefaßte regeln und sich nicht nur an europäischen Mindest- Berufskrankheitenkatalog bei, wie er bis heute in der standards zu orientieren, wie die Bundesregierung BRD existiert, und schließlich der Umstand, daß bei das zu beabsichtigen scheint. Im Zentrum müßte bestehenden Arbeitsschutzregelungen ganze Berei- dabei die Reform der Berufskrankheitenregelung ste- che der Arbeitswelt gar nicht erfaßt werden, so der hen. öffentliche Dienst und die Landwirtschaft. Gerade was den öffentlichen Dienst be trifft, ist dies absolut unzeit- Aber auch der Frauenarbeitsschutz hat dringenden gemäß: Durch die technologische Entwicklung — La- Reformbedarf. Insbesondere seine ein Jahrhundert serdrucker, Bildschirmarbeit usw. — haben gerade alten Schutzkriterien bedürfen einer Aktualisierung hier die arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken enorm entsprechend technologischer und sozialer Entwick- zugenommen. lung. - Meine Damen und Herren, der Handlungsbedarf Die Aufsichtskompetenz über den Vollzug von für die Neuordnung des Arbeitsschutzes ist riesen- Arbeitsschutzregelungen müßte grundsätzlich beim groß. Daß die Bundesregierung offensichtlich erst Gesetzgeber liegen, der die dafür erforderlichen Insti- internationalen Druck braucht, um sich hier zu rühren, tutionen entsprechend großzügig auszustatten hätte. ist wirklich verantwortungslos. Statt den seit langem Diese Bereiche sollten mit der eindeutigen Aufgaben- angekündigten Gesetzentwurf endlich auf den Tisch stellung „Prävention und Arbeitsschutz" ausgebaut zu legen, beglückt uns Bundesarbeitsminister Blüm werden. Gemeinsam mit den Berufsgenossenschaften mit einer neuen Arbeitszeitordnung, die mit der Fest- ist eine entsprechende Aufsichts- und Kontrollkompe- schreibung des Zehn - Stunden - Tages allen Gesund- tenz einzuräumen. Gleichzeitig halte ich es für unab- heitsschutzüberlegungen ins Gesicht schlägt. dingbar, daß Entscheidungen über Arbeitsschutz- Frau Ministerin Merkel freut sich im Frauenaus- maßnahmen auch im Mitbestimmungsrecht betriebli- schuß über die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots cher Interessenvertretungen festgeschrieben wer- für Arbeiterinnen, wohl wissend, daß gerade Nacht- den. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9257

Petra Bläss Ich danke. Die SPD kann nichts dafür, daß sie immer die Unter- stützung der PDS hier im Hause erhält. Da muß man (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD) sie in Schutz nehmen. (Widerspruch bei der SPD) — Ich wollte Ihnen eigentlich einen Gefallen tun. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Dr. Gi- Ein solcher Gedanke mag insbesondere Juristen, sela Babel das Wort. die sich an großen Kodifikationen wie dem BGB orientieren, verlockend erscheinen. Aber früher gemachte Erfahrungen mit ähnlich großen Vorhaben Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine müßten mehr als nachdenklich stimmen. Es besteht Damen und Herren! Ich begrüße die heutige Debatte, die Gefahr, daß um des großen Wurfes willen notwen- denn sie gibt Gelegenheit, die Bedeutung des Arbeits- dige Fortentwicklungen nicht oder nur verzögert schutzes in unserer Sozialen Marktwirtschaft hervor- kommen. Für eine solche umfassende Kodifikation zuheben. Arbeitsschutz ist und darf kein Stiefkind der müßten mehrere sehr strittige Fragen gelöst werden. wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion sein. Es Ich nenne die von der SPD geforderte Erweiterung der geht um ein hohes und schützenswertes Gut: Mitbestimmung sowie die Umkehr der Beweislast bei Anerkennung von Berufskrankheiten. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der PDS/Linke Liste) Auch Überlegungen auf Länderseite, Gesetze, die sowohl den Arbeits- als auch den Verbraucher- und die Gesundheit und Sicherheit aller Beschäftigten an Umweltschutz betreffen, zu zergliedern und teilweise ihrem Arbeitsplatz, auf Baustellen, in Fabriken oder in in einem solchen Gesetzbuch zusammenzufassen, den Büros. zeigen die Schwierigkeiten, die einer solchen Kodifi- (Konrad Gilges [SPD]: Aber daraus muß man kation im Wege stehen. die politischen Konsequenzen ziehen, Frau Das ganze Vorhaben wäre aber verfehlt, wenn es Kollegin!) nicht alle Bereiche umfaßte. Skepsis erscheint um so — Darüber sind wir uns sicher einig. mehr angebracht, als der Arbeitsschutz, wie ich ihn Zeitgemäßer Arbeitsschutz bedarf fortwährend sehe, eine typische Querschnittsaufgabe ist, die in gemeinsamer Anstrengung auf betrieblicher Ebene, allen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung aber auch darüber hinaus. Diese Anstrengungen lei- Anwendung finden muß. Ich halte es daher für viel sten heute Betriebs- und Personalräte ebenso wie wichtiger, daß wir uns auf Regelungen beschränken, Unternehmer, die Fachkräfte für Arbeitssicherheit, wie sie das BMA im Arbeitsschutzrahmengesetz plant, Betriebs- und Werksärzte, Unfallversicherungsträger um die Frist bis Beginn des Jahres 1993 auch wirklich und Gewerbeaufsichtsämter. Diese Arbeit, die heute einhalten zu können. geleistet wird, verdient unsere Anerkennung. Um die EG-Richtlinien auch für kleinere und mitt- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU lere Betriebe umsetzen zu können, bedarf es noch sowie bei Abgeordneten der SPD) einer Menge Arbeit. Sie hat für die Gesundheit und die Sicherheit der Selten denkt der Gesetzgeber über das, was er Arbeitnehmer am Arbeitsplatz vielfach eine größere anrichtet, in letzter Konsequenz genügend nach. Dem Antrag entnehme ich, daß jeder Arbeitgeber — ich Bedeutung als andere öffentlichkeitswirksame Aktio- nen, wenngleich sie sich oftmals eher im Hintergrund, wiederhole: jeder — Programme und Handlungskon- in den Regelwerken, in Unfallverhütungsvorschriften zepte für eine umfassende betriebliche Gesundheits- förderung zu erarbeiten und durchzuführen hat. und praktischen Anweisungen der Betriebe, vollzieht. Arbeitsschutz ist ein eigenständiger wichtiger Bereich (Zuruf von der SPD: Haben Sie etwas dage und kein Anhängsel des Verbraucher- und Umwelt- gen?) schutzes. Meine Damen und Herren, meine lieben Kollegen, Das Bemühen um sichere und gesunde Arbeits- eine solche Forderung müßten ja auch wir Abgeord- plätze in Deutschland und in der EG wird sicherlich nete als Mini-Arbeitgeber mit unseren ein oder zwei jedermann in diesem Hohen Hause unterstützen. Mitarbeitern unmittelbar wahrnehmen und erfüllen. Selbstbewußt können wir sagen, daß in der Bundes- Und jetzt würde es mich schon sehr interessieren, wie die Kollegen von der Opposition, die dies formuliert republik ein hoher Sicherheitsstandard vorhanden ist, - obwohl in der Diskussion gelegentlich der Eindruck haben, z. B. den Faktor Streß, unter dem nicht nur die erweckt wird, als befänden wir uns auf dem Niveau Abgeordneten, sondern gelegentlich auch die Mitar- eines Entwicklungslandes. Natürlich ist nichts so gut, beiter zu leiden haben, aus ihren Büros hinausbekom- als daß es nicht noch verbessert werden könnte. Neue men, wie sie ihn abbauen wollen. Oder haben die Gefahren oder Gefährdungen, die aus der technolo- SPD-Mitarbeiter keinen Streß? Wir sind da gern gischen Entwicklung und der Umgestaltung der bereit, von Ihnen zu lernen, wie Sie diese Belastungs- Arbeitsbedingungen resultieren, müssen ebenso strukturen bei uns abbauen und den vorbeugenden energisch angepackt werden wie die seit langem betrieblichen Gesundheitsschutz verbessern wollen. bekannten Gefahren. Sicher ist es richtig — und durch die EG-Richtlinie Nun plädiert die SPD mit dem heute vorgelegten auch vorgegeben —, daß im Rahmen des vom BMA Antrag für ein umfassendes Arbeitsschutzgesetz- geplanten Arbeitsschutzrahmengesetzes einheitliche buch. Regelungen für alle Arbeitnehmer, also auch für den (Zuruf von der SPD: Richtig!) öffentlichen Dienst, geschaffen werden. Aber ich 9258 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Dr. Gisela Babel meine, wir sollten gerade beim Arbeitsschutzrahmen- Arbeitsschutzes zu sensibilisieren. Ein gemeinsames gesetz darauf achten, daß in allen Bereichen minde- Zusammenwirken kann dazu nur hilfreich sein. stens auf das gleiche Niveau im Arbeitsschutz und in Ich bedanke mich. der Überwachung hingearbeitet wird. Ich persönlich hätte nichts dagegen, wenn Bund, Länder und Kom- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) munen hier mit gutem Beispiel vorangehen würden. Der Kollege Reimann hat in der Debatte vom Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und 29. April nachhaltig gefordert, daß die Überlagerung Herren, ich erteile nun dem Herrn Parlamentarischen nationalen Rechts durch EG - Recht nicht zu einer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Verschlechterung der Arbeitsschutzsituation in der Sozialordnung, unserem Kollegen Horst Günther, das Bundesrepublik führen darf. Darin sind wir uns sicher- Wort . lich einig.

Was jedoch die Überlegungen der SPD zum Ver- Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- hältnis Unfallversicherungsträger und Staat betrifft, nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! so können wir diese nicht teilen. Gerade bei der hohen Meine lieben Kolleginnnen und Kollegen! Arbeits- Bedeutung, die die F.D.P.-Bundestagsfraktion dem schutz sollte das gemeinsame Anliegen aller sein, die dualen System und darin den Berufsgenossenschaften Verantwortung für die Gesundheit der arbeitenden mit ihrer Selbstverwaltung von Arbeitnehmern und Menschen tragen. Ich gehe davon aus, daß wir uns da Arbeitgebern beimißt, lehnen wir die Überlegungen alle einig sind. Eine wirksame Prävention muß vor der ab, die letztlich auf eine Einschränkung und Gänge- Heilbehandlung, vor der Rehabilitation und natürlich lung der berufsgenossenschaftlichen Selbstverwal- vor der Entschädigung stehen. tung hinauslaufen. Zwar halten wir eine möglichst enge Kooperation zwischen Berufsgenossenschaften Frau Kollegin Bläss, lassen Sie mich schon hier sagen: Ich bin froh, daß die 16 bis 17 Millionen und Ländern vor Ort für notwendig, sie ist aber in einigen Bereichen heute durchaus schon vorhanden; Menschen in der ehemaligen DDR endlich einen vernünftigen Arbeitsschutz genießen. man müßte sie verbessern. Die SPD-Vorschläge schie- ßen jedoch über das Ziel hinaus, wie überhaupt Staat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Bürokratie in diesen Vorschlägen fröhlich Das, was in der ehemaligen DDR in Gesetzen, Verord- wuchern. nungen oder Büchern stand, war das eine, die grau- Die Umsetzung der einschlägigen EG-Richtlinien same Wirklichkeit war das andere. Das hat nun durch staatliches Recht macht es meines Erachtens endlich ein Ende! unerläßlich, den Präventionsauftrag der Berufsge- (Konrad Gilges [SPD]: Das gibt es auch bei nossenschaften auch auf die Verhütung arbeitsbe- uns! Schauen Sie sich doch einmal an, was in dingter Gesundheitsgefahren auszudehnen und ih- den Sozialgerichten los ist!) nen auch die Kontrolle staatlicher Arbeitsschutzvor- — Kollege Gilges, ich würde die Situation in unseren schriften mit Ausnahme des sozialen Arbeitsschutzes Betrieben nicht mit den katastrophalen Zuständen zu übertragen. vergleichen, die dort geherrscht haben. Meine Damen und Herren, arbeitsmedizinisch früh- (Konrad Gilges [SPD]: Das hat doch keiner zeitige und rechtzeitige Prävention ist gerade bei den getan!) großen Volkskrankheiten, die zum Teil auch arbeits- bedingte Ursachen haben können, unerläßlich. Die — Sie erweckten aber soeben den Eindruck. Im dafür aufgewandten Gelder zahlen sich aus, vielfach übrigen werden unsere Vorschläge auch dem Auftrag schon im Betrieb, wenn krankheitsbedingte Fehlzei- des Einigungsvertrages gerecht werden. ten gemindert und Unfälle vermieden werden kön- Versäumnisse bei der Prävention schaden nicht nur nen, aber erst recht gesamtwirtschaftlich in unseren den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Sie füh- sozialen Sicherungssystemen. Sparen am verkehrten ren auch — Kollege Reimann, da sind wir uns völlig Ende kommt letztlich allen teuer zu stehen. Manches, einig — zu Folgekosten in Milliardenhöhe in den was wir heute durch teure Kuren „reparieren", könnte sozialen Sicherungssystemen, einschließlich der durch sachgerechte Prävention vermieden werden. Krankenversicherung. Fehlzeiten, Krankheitskosten, Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten und Produk- (Ottmar Schreiner [SPD]: Endlich hat es tionsausfälle — das wären die Folgen mangelhaften geklickt! — Weitere Zurufe von der SPD: Arbeitsschutzes. Richtig, so ist es!) Wir müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen Ich nehme an, daß wir uns da einig sind. hierfür neu gestalten. Deshalb muß diese Legislatur- Den Appell des Kollegen Reimann, möglichst periode auch eine Legislaturperiode des Arbeits- gemeinsam Lösungen anzustreben, nehme ich positiv schutzes werden. auf. Wir haben in Deutschland ein hohes Niveau im Arbeitsschutz; das ist wohl unbestritten. Unsere tech- (Zuruf von der SPD: Also nicht nur den von nischen Anlagen zählen zu den sichersten der Welt. der PDS?!) Unser System genießt im Ausland hohes Ansehen, — Nicht nur den von der PDS! — Denn wichtiger als und deutsche Hilfe im Auf- und Ausbau eigener alle formalen Änderungen ist es, Arbeitnehmer und Arbeitsschutzsysteme wird ständig in Anspruch Arbeitgeber, die Wirtschaft und die Politik für die genommen. Wie hätte sonst die Zahl der tödlichen wachsende Bedeutung und den Stellenwert des Arbeitsunfälle in den letzten zehn Jahren um 40 % und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9259

Parl. Staatssekretär Horst Günther seit 1970 um 63 % sowie die Zahl der schweren hieran maßgeblich mitgewirkt. Deutschland hat wäh- Arbeitsunfälle ohne Todesfolge seit 1970 um 45 % rend seiner EG-Präsidentschaft Anfang 1988 die zurückgehen können? soziale Dimension der europäischen Einigung ins Zentrum der politischen Diskussion gebracht; Kollege Auch in den letzten Jahren hat es bei unseren Fuchtel hat soeben schon darauf hingeweisen. Ich will Bemühungen keinen Stillstand gegeben. Es gab, noch hinzufügen: Unter Leitung von Bundeskanzler Kollege Reimann, keinen Dornröschenschlaf! Helmut Kohl hat die Verwirklichung der sozialen 1986 ist die Gefahrstoffverordnung grundlegend Dimension des Europäischen Binnenmarktes an Kon- erneuert und seitdem mehrfach angepaßt worden. Wir turen gewonnen. Dementsprechend haben die Staats- haben uns in diesem Rahmen dafür eingesetzt, die und Regierungschefs auf dem Straßburger Gipfel Verwendung von Asbest immer weiter einzuschrän- 1989 die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grund- ken. Wir wollen ein europaweites Verbot, auch gegen rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer", den Willen einiger EG-Mitgliedstaaten. also die Europäische Sozialcharta, angenommen. Wir haben 1990 das Chemikaliengesetz novelliert Damit das Anliegen des Arbeitsschutzes europaweit mit dem Ziel, Chemikalien am Arbeitsplatz intensiver Unterstützung findet, haben die Arbeits- und Sozial- als bisher auf gefährliche Eigenschaften prüfen zu minister das Jahr 1992 zum „Europäischen Jahr für können. Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz" Wir haben Vorschläge zur Einbeziehung von Klein- erklärt. In vielen Aufklärungskampagnen und -veran- und Mittelbetrieben in die Betreuung durch Betriebs- staltungen arbeitet auch die Bundesregierung daran ärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit erarbei- mit, den Arbeitsschutz verstärkt ins Bewußtsein der tet. Bürger unseres Landes zu bringen. Wir haben die Arbeitsschutzforschung durch die Mittlerweile liegt ein ganzes Bündel von europäi- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und im Rahmen des schen Richtlinien zum Arbeitsschutz vor. Kernstück Forschungsprogramms „Arbeit und Technik" konti- ist die sogenannte Rahmenrichtlinie zum betriebli- nuierlich gefördert. chen Arbeitsschutz. Diese Richtlinie ist von Deutsch- land maßgeblich mitgestaltet worden. Sie geht von Im Rahmen der deutschen Einigung haben wir die einem modernen Arbeitsschutzbegriff aus. Arbeits- Bundesanstalt für Arbeitsmedizin in Berlin errichtet. schutz ist heute mehr als Verhütung von Arbeitsunfäl- Bei der Einführung des westdeutschen Arbeits- len und Berufskrankheiten; Arbeitsschutz umfaßt alle schutzsystems in den neuen Bundesländern ist sehr Maßnahmen zur Abwehr arbeitsbedingter Gesund- gute Aufbauarbeit geleistet worden. Hier möchte ich heitsgefahren und zur menschengerechten Gestal- besonders den Arbeitsschutzbehörden der Bundes- tung der Arbeit. länder und den Berufsgenossenschaften noch einmal Darüber hinaus gibt es bislang neun Einzelrichtli- ein herzliches Wort des Dankes sagen. nien zu speziellen Sachgebieten. Ich nenne z. B. nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Richtlinie über Bildschirmarbeitsplätze. Wir haben durch Förderung von Modellmaßnah- Auch national bedarf unser Arbeitsschutzrecht der men in den neuen Ländern Anstöße gegeben und Neuordnung. Die Regelungen sind teilweise zersplit- Beratungshilfen geleistet, 1992 mit über 20 Millionen tert, wie im betrieblichen Arbeitsschutz, und teilweise DM. veraltet, wie die Arbeitszeitordnung aus dem Jahre In Dortmund entsteht die Deutsche Arbeitsschutz 1938. Darüber sind wir uns im Grundsatz völlig Ausstellung, ein wichtiges Projekt, um das Thema einig. „Arbeitsschutz" im Bewußtsein einer breiteren (Wolfgang Roth [SPD]: Sie haben zehn Jahre Öffentlichkeit fester zu verankern. Das ist ganz wich- Zeit gehabt!) tig. Darin sind wir uns sicherlich einig. — Davor gab es auch noch 13 Jahre, Kollege Roth. Die Fortschritte im Arbeitsschutz sind aber nicht nur durch die Arbeit der staatlichen Stellen und der Nach Verabschiedung der wesentlichen EG-Richt- Selbstverwaltung zustande gekommen. Ich habe hier linien haben wir ein Konzept für die Neuordnung besonders den zahlreichen Vertretern von Arbeitge- entwickelt. Es wird in Form von Thesenpapieren bern und Arbeitnehmern sowie vielen Wissenschaft- schon seit dem letzten Jahr mit den Sozialpartnern, den Fachkreisen, den Bundesländern und den Berufs- lern zu danken, die — zumeist ehrenamtlich — in - zahlreichen Ausschüssen mitgewirkt haben und diese genossenschaften fach- und sachgerecht und einge- Arbeit sicherlich auch fortsetzen werden. Ich denke hend erörtert. Dieses Konzept enthält drei Bausteine: z. B. an die Fachausschüsse der Berufsgenossenschaf- die Novelle zum Gerätesicherheitsgesetz, eine Neu- ten, den Gefahrstoffausschuß, die Ausschüsse für ordnung des Arbeitszeitrechts und ein Gesetz über überwachungsbedürftige Anlagen und den Ausschuß Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit. für technische Arbeitsmittel, aber auch an die Beiräte Der erste Baustein betrifft die Neuregelung der bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und der Bun- technischen Sicherheit von Geräten, Maschinen und desanstalt für Arbeitsmedizin. Dort wird gute Arbeit Anlagen. Die entsprechende Novelle zum Geräte- geleistet. sicherheitsgesetz ist vom Deutschen Bundestag schon Meine Damen und Herren, der Arbeitsschutz hat verabschiedet und steht im Gesetzblatt. Wir haben sich in den letzten Jahren zu einem Bereich entwik- damit in diesem Bereich die notwendigen Vorausset- kelt, der wie kein anderer sozialpolitischer Bereich zungen für den Europäischen Binnenmarkt geschaf- von Europa beeinflußt wird. Die Bundesregierung hat fen. 9260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Parl. Staatssekretär Horst Günther Die Novelle bringt eine stärkere Einbeziehung des dazu beitragen, Leben und Gesundheit der arbeiten- Handels in die Verantwortung für die Abgabe sicherer den Menschen zu schützen, ihre Arbeitskraft zu erhal- Geräte. Sie verbessert Eingriffsmöglichkeiten der ten und die Arbeit menschengerechter zu gestalten. Gewerbeaufsichtsbehörden, wenn sie unsichere Ge- räte antreffen, und enthält eine Neuregelung des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Prüfwesens. § 120a der Gewerbeordnung wird dann nach Der zweite Baustein ist ein modernes Arbeitszeit- 100 Jahren ausgedient haben. Damit wird auch die gesetz. Den Referentenentwurf hat der Minister in der dort enthaltene Einschränkung entfallen, daß der letzten Woche vorgestellt. Arbeitgeber den Gesundheitsschutz nur so weit zu gewährleisten hat, „wie es die Natur des Betriebes Die Modernisierung und Flexibilisierung der gestattet". — Das freut Sie besonders, Kollege Rei- Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938 ist in der Tat mann; Sie haben das soeben auch angesprochen. schon seit langem überfällig. Mit dem neuen Arbeits- zeitgesetz wollen wir neue Weg gehen. Künftig soll es zu den grundlegenden Pflichten des Arbeitgebers gehören, die Gefahrensituation in sei- Der Staat legt den gesundheitlich notwendigen nem Betrieb zu ermitteln und zu bewerten, für Sicher- Rahmen fest; die Tarifpartner füllen diesen Rahmen heit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen aus. Das bedeutet konkret ein Ja zu mehr Flexibilität und Arbeitnehmer unter Berücksichtigung aller und Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit, aber ein Aspekte der Arbeit zu sorgen, den Arbeitsschutz Nein zur Sonntagsarbeit. In der Vergangenheit haben schon in der Planungsphase mit einzubeziehen, wir den Sonntag als gemeinsamen Ruhetag der Arbeitsplätze und Arbeitsverfahren menschengerecht Arbeitnehmer erfolgreich verteidigt. 82,2 % aller zu gestalten und bei technischen Maßnahmen den Beschäftigten in den alten Bundesländern müssen an aktuellen Stand der Technik, also nicht nur die allge- Sonn- und Feiertagen nie arbeiten, 9,1 % nur gele- mein anerkannten Regeln der Technik, zu berück- gentlich. Wir meinen, daran sollte sich auch nichts sichtigen. ändern. Hinzu kommen Rechte, sich mit Vorschlägen zu (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheits- SPD) schutzes an den Arbeitgeber und bei Verletzung von Ich begrüße es, daß auch in der europäischen Arbeitsschutzpflichten an die Behörden zu wenden. Arbeitszeitrichtlinie der Sonntag im Prinzip als Um eine Schutzvorschrift zu nennen: Die Beschäftig- wöchentlicher Ruhetag vorgesehen ist. Daran haben ten dürfen dadurch keine Nachteile erleiden. wir maßgeblich mitgewirkt. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf wird Unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen die auch klarstellen, daß Arbeitnehmer im Falle einer Probleme der Nachtarbeit. Nicht Nachtarbeitsverbote Arbeitseinstellung bei erheblicher und unmittelbarer für bestimmte Personengruppen sind der richtige Gefahr nicht benachteiligt werden dürfen. Weg, sondern besondere Schutzvorschriften für alle, Zweitens werden die Arbeitsschutzregelungen die Nachtarbeit leisten. Hierbei werden wir auch dem grundsätzlich einheitlich für alle abhängig Beschäf- Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Nachtarbeit tigten gelten, also für Arbeiter, Angestellte und Rechnung tragen. Beamte gleichermaßen. Damit werden wir in der Ich kenne, wenn auch nicht ganz vollständig, seit Bundesrepublik Deutschland erstmals ein einheitli- gestern einige Vorschläge, die, glaube ich, die sozial- ches Recht im betrieblichen Arbeitsschutz für Wirt- demokratische Fraktion vorgelegt hat. Dazu will ich schaft und Verwaltung haben. nur grundsätzlich sagen: Überreglementierung lohnt Drittens. Wir wollen den Auftrag der Unfallversi- sich auch in diesem Falle sicherlich nicht und wird cherungsträger auch auf die Verhütung arbeitsbe- nicht immer von Vorteil sein. Ich lese da z. B., daß dingter Erkrankungen ausdehnen. Bisher haben sie nachts leichte Mahlzeiten angeboten werden sollen. eine Zuständigkeit nur für Arbeitsunfälle und Berufs- Das ist eine Überreglementierung, die man nicht in krankheiten. Konkrete Fortschritte sind also ge- ein Gesetz hineinschreiben sollte. Wofür haben wir plant. die Tarifpartner, wofür haben wir das Betriebsverfas- sungs- und das Personalvertretungsgesetz? Mit dieser Neuordnung werden wir den Arbeits- schutz in Deutschland ein großes Stück nach vorne (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bringen. Mir sind konkrete Fortschritte für die Arbeit- Der dritte Baustein bei der Neuordnung des nehmer wichtiger als eine lange Diskussion über die Arbeitsschutzes ist ein Gesetzentwurf über Sicherheit Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches. Wenn und Gesundheitsschutz bei der Arbeit, den wir in wir erst die Probleme ausdiskutieren, die mit der Kürze vorstellen werden. Mit diesem Gesetz betreten Festlegung des Inhalts eines Arbeitsschutzgesetzbu- wir in der Gestaltung des Arbeitsschutzrechts in ches verbunden sind, werden wir die dringend not- dreierlei Hinsicht Neuland: wendige Neuordnung verzögern und auch die Umset- zungsfristen für EG-Richtlinien weit überschreiten. Erstens werden die grundlegenden Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern für den Arbeits- Diese Diskussion sollten wir im Anschluß an die jetzt schutz im Betrieb umfassend gesetzlich geregelt. notwendigen Gesetzesvorhaben führen. Mit der von Diese Regelungen werden über den klassischen mir vorgeschlagenen Neugestaltung ist für die Arbeitsschutzbegriff hinausgehen und Aspekte der Zukunft überhaupt nichts verbaut. Humanisierung der Arbeit mit einbeziehen. Der Ein besonderes Kennzeichen des Arbeitsschutzes in Gesetzentwurf wird alle Maßnahmen umfassen, die Deutschland ist das duale System mit seiner einer- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9261

Parl. Staatssekretär Horst Günther seits staatlichen und andererseits selbstverwalteten So Ludger Reuber, Pressesprecher von Bundesarbeits- Ausprägung. Wir haben damit gute Erfahrungen minister Norbert Blüm, am Freitag vor Journalisten. gemacht. Ich denke, es muß auch in Zukunft erhalten (Lachen bei der SPD — Horst Günther [Duis werden. Das heißt auch, daß die Berufsgenossenschaf- burg] [CDU/CSU]: Das sind alles Falschmel ten weiterhin die Möglichkeit haben müssen, bran- dungen! — Weitere Zurufe von der CDU/ chenspezifische Unfallverhütungsvorschriften zu er- CSU) lassen, mit denen sie staatliche Regelungen konkreti- sieren bzw. darüber hinausgehende Anforderungen Die Verwirrung scheint auf dieser Seite des Hauses stellen können. komplett zu sein. Eine parallele Rechtsetzung durch staatliche und (Zustimmung bei der SPD) Unfallverhütungsvorschriften sollte allerdings unter- Schade ist, daß die Führung des Ministe riums das bleiben. Die Berufsgenossenschaften sollen vielmehr Thema nicht angemessen ernst nimmt. Täte sie dies, auch die Einhaltung des staatlichen Rechts überwa- wäre sie aus vielen Kompensationsnöten in der Pfle- chen können. Dafür brauchen wir beim Vollzug eine gesicherung heraus. noch bessere Koordinierung der Überwachungstätig- keit beider Aufsichtsdienste. Es geht um eine funktio- (Beifall bei der SPD) nierende Kooperation. Ich setze darauf, daß die Betei- Ich will versuchen, Ihnen dies zu belegen. ligten hierfür vernünftige Lösungen finden werden. Das Thema „Arbeitsschutz" führt in Deutschland Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und ein öffentliches Schattendasein. Die interessierte Herren, ein guter Arbeitsschutz besteht nicht nur in Fachwelt beklagt immer wieder, der Schutz der Rechtsvorschriften; alle am Arbeitsleben Beteiligten Arbeitsumwelt habe in der Bundesrepublik keine müssen mitmachen. Jeder gute Unternehmer weiß: politische Lobby. Tatsächlich weist der Arbeitsschutz Sein wertvollstes Kapital sind die Leistungsfähigkeit, dramatisch schlechtere Schutzmaßstäbe für den die Motivation, die Kreaktivität und natürlich auch die Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer auf als der all- Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. gemeine Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Die Das Schlagwort „Arbeit macht krank" — ich habe das Folgen sind verheerend und von beträchtlichem soeben schon einmal in anderer Form gehört, Frau Umfang. Von dem, was von den Koalitionsrednern Bläss — darf keine Gültigkeit haben. Ich appelliere ständig vorgetragen wurde, kann angesichts der Fak- deshalb an die Betriebe: Bauen Sie einen wirksamen ten und der Zahlen überhaupt keine Rede sein. auf! Wer haben Arbeitsschutz gesunde Unternehmen Ich will einige wenige Beispiele herausgreifen. möchte, muß für gesunde Mitarbeiter sorgen. Kollege Reimann hat in seinem Vortrag bereits Vielen Dank. darauf hingewiesen, daß ein Drittel der deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Arbeitnehmerschaft vor Erreichen der Altersgrenze berufsunfähig wird, ein weiteres Drittel vorher stirbt und nur ein restliches Drittel das Rentenalter arbei- tend und einigermaßen gesund erreicht. Es ist Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und erschreckend genug, daß Lebenserwartung und Herren, jetzt erteile ich unserem Kollegen Ottmar gesundheitlicher Zustand in hohem Maße von der Schreiner das Wort. Schichten- und Berufszugehörigkeit des Menschen abhängig sind. Wir sind auf diesem Gebiet tatsächlich eine Zweiklassengesellschaft. Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- Im Endbericht der Enquete-Kommission „Struktur- leginnen und Kollegen! Wie ernst der Bundesarbeits- reform der gesetzlichen Krankenversicherung" der minister das Thema „Verbesserung des Arbeitsschut- 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages heißt es zes" nimmt, kann man schon daran ablesen, daß er dazu einmütig — ich zitiere —: hier heute gar nicht da ist. Das ist ein erstaunlicher Personen in der unteren sozialen Schicht geben Vorgang. Er hat zwar jeden Tag Zeit, ein neues etwa doppelt so häufig einen schlechten Gesund- „sozialpolitisches Ferkel durchs Dorf zu jagen": heitszustand an wie Personen in der obersten Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sozialen Schicht. Es deutet nichts darauf hin, daß Abschaffung der Entgeltzahlung bei Feiertagen, dieses Ergebnis auf eine höhere Klagsamkeit der Streichung von Feiertagen — als nächster Vorschlag Betroffenen zurückzuführen ist. - fehlt nur noch die Zusammenlegung von Weihnach- ten und Ostern. Es ist ja erstaunlich, wie weit die Und weiter: Phantasiewelt des Arbeitsministers reicht —, aber In der Arbeitswelt befinden sich im Gegensatz zu hier, bei einer so entscheidenden Debatte, ist Fehlan- anderen europäischen Ländern umfassende Stu- zeige. dien über den Zusammenhang von Arbeitsbela- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Er wurde her stungen und Gesundheitszustand erst im An- vorragend durch seinen Staatssekretär ver fangsstadium, die Gesundheitsberichterstattung treten!) ist wenig entwickelt und kaum institutionali- siert . . . Wenn Sie die Schlagzeilen der Boulevardpresse darüber verfolgen, was der Blüm alles plant und Dann kommt man zu der Schlußfolgerung: alles vorhat, dann müßten Sie annehmen, er hätte Die Gesundheitsprobleme sind schichtabhängig sie nicht mehr alle. unterschiedlich verteilt. 9262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Ottmar Schreiner Wie Sie es allein schon vor diesem Hintergrund wagen Unternehmungen aus. Das ist sogar übereinstimmen- können, an der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei der Erkenntnisstand in der Europäischen Gemein- Arbeitnehmern zu rütteln, ist geradezu abenteuer- schaft. Selbst Großbritannien wirkt an der Festsetzung lich. von höheren EG-Normen zum Arbeitsschutz aktiv (Beifall bei der SPD) mit. Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund Wir Sozialdemokraten beteiligen uns sehr gerne an dieser Kritik ist es völlig unbegreiflich, daß ausgerech- der Diskussion über die ökonomisch-sozialen Bedin- net das Forschungs - und Entwicklungsprogramm gungen des Wirtschaftsstandortes Deutschland. „Arbeit und Technik" des Bundesforschungsministe- Der betriebliche Krankenstand ist ohne Zweifel riums, in dem auch das Bundesarbeitsministerium yolks- und betriebswirtschaftlich ein ganz erheblicher „seine Füße" hat und das gerade der Humanisierung Kostenfaktor; ich habe die Zahlen soeben genannt. des Arbeitslebens dienen soll, in 1993 und den Folge- Auf der anderen Seite ist der Krankenstand beeinfluß- jahren weiter drastisch reduziert werden soll. So soll bar und damit auch veränderbar. z. B. im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes die sogenannte Wirkungsforschung, d. h. Forschun- Betrachtet man die Arbeitsunfähigkeit etwas näher, gen zur Wirkung von Arbeitsmaterialien und Arbeits- so zeigt sich, daß Ihre Strategie, Pflegeversicherung stoffen, zur Arbeitsverdichtung usw. hinsichtlich Bela- durch Wiedereinführung von Karenztagen im Krank- stungen, Krankheiten bzw. gesundheitlichen Gefähr- heitsfall, auch aus nachfolgenden Gründen völlig dungen, ganz gestrichen werden. Ohne Kenntnis abwegig ist und den noch einzuführenden Straftatbe- dieser Zusammenhänge aber ist präventiver Arbeits- stand der versuchten Vollksverdummung erfüllt. und Gesundheitsschutz nicht möglich. Die Kurzzeitarbeitsunfähigkeiten bis zu einer Erklären Sie mir nicht, daß die Bundesregierung Woche machen lediglich ca. 7 % bis 10 % des Tages- dabei ist, ihre Bemühungen im Bereich des Arbeits- volumens der Arbeitsunfähigkeiten aus. Bei ein bis schutzes zu intensivieren, wenn die praktischen drei Tagen Abwesenheit sind es bei den Betriebskran- Schritte genau auf das jeweilige Gegenteil abzie- kenkassen gerade noch 1,5 % und bei den Ortskran- len! kenkassen ca. 3 % des Krankenstandsvolumens. Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: Tatsa- Das heißt im Klartext: Selbst wenn unterstellt che ist auch, daß zwischen den zugelassenen Grenz- würde, daß die von Ihnen erfundenen Blaumacher belastungswerten für Gefahrstoffe innerhalb und — noch einmal: 1,5 % bzw. 3 % des Krankenstandsvo- außerhalb der Betriebe gewaltige Unterschiede beste- lumens — hier zu finden wären, so wäre dennoch hen. So beträgt z. B. der Grenzwert für Asbestbela- völlig klar, daß damit der betriebliche Krankenstand stungen außerhalb der Betriebe 400 Fasern/cm 3 inner- nicht im geringsten erklärt werden könnte. Ganz im halb des Betriebes beläuft sich der gleiche Wert auf Gegenteil: Betriebsbezogene Untersuchungen zum 250 000 Fasern/cm 3 liegt also um ein Vielfaches Arbeitsunfähigkeitsgeschehen haben zu der Erkennt- höher. nis geführt, daß insbesondere typische Belastungs- konstellationen am Arbeitsplatz und in bet rieblichen Den Arbeitnehmern und ihrer Gesundheit nützt Arbeitsbereichen mit spezifischen Erkrankungen ver- auch der beste Umweltschutz nichts, wenn in man- bunden sind. chen Bereichen der Arbeitsumwelt steinzeitähnliche Verhältnisse herrschen. Das Ziel eines verbesserten Meine Damen und Herren, allein diese wenigen Arbeitsschutzes ist klar: menschengerechte Arbeits- Zahlen zeigen, daß Sie mit der von Ihnen angezettel- gestaltung. ten Karenztagedebatte hoffnungslos hinter dem Mond sind. Mir ist schleierhaft, aus welchen sachli- Die Forderung nach wirksamen Präventionsmaß- chen Gründen die Fortsetzung dieser Diskussion noch nahmen hat ein weiteres Ziel, nämlich die Steigerung Sinn macht. Ich nehme an, daß nach mir noch einer der Arbeitsproduktivität. Nach Schätzungen der Bun- dieser Koalitionsfreaks reden wird. Er müßte mir desanstalt für Arbeitsschutz erreichte das Ausfallvolu- einmal erklären, wie die Fortsetzung dieser Debatte men des Produktionsfaktors Arbeit infolge von krank- angesichts der Zahlen, die von der Bundesanstalt für heits- und unfallbedingten Fehltagen allein im Jahr Arbeitsschutz und den betroffenen Kassen veröffent- 1990 eine Höhe von knapp 90 Milliarden DM. Das ist, licht werden, inhaltlich begründet wird. ganz nebenbei bemerkt, mehr als das Dreifache dessen, was die Pflegeversicherung kosten würde, (Zuruf von der SPD: Das können die nicht!) wobei die „Reparaturkosten am Menschen" bei Das Gebot der Stunde heißt Prävention, wirksamerer Krankheit und Unfällen nicht eingerechnet sind. Ver- Arbeitsschutz, nicht die Bestrafung von Kranken. mutlich wäre der Betrag dann um ein Wesentliches Der Arbeitsschutz kann und muß ein zentraler höher anzusetzen. Hebel werden, die Gesundheit der Arbeitnehmer zu Wenn Sie also ernsthaft Kompensationsfelder zur erhalten und zu fördern und gleichzeitig einen erheb- Finanzierung der Pflege suchen: Hier bietet sich ein lichen Beitrag zur Förderung der betrieblichen Pro- Feld — im Interesse der Menschen und im Interesse duktivität zu leisten. Wir wollen den Standort der Verbesserung der Arbeitsproduktivität — gera- Deutschland stärken. Wir wollen vor allem und gleich- dezu an. zeitig eine humane Arbeitsgestaltung für und mit den Zwischen Ökonomie und Gesundheitspolitik wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. häufig ein Spannungsverhältnis gesehen. Gesundheit Meine Damen und Herren, gerade wir Sozialpoliti- und Wohlbefinden aber machen Produktivitätsreser- ker wissen, daß die hohe Abgabenlast — Steuern und ven frei und zahlen sich mittelfristig auch für die Sozialversicherungsbeiträge — die Arbeitnehmer in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9263

Ottmar Schreiner besonderem Maße bedrückt. Alle Vorschläge der Tagesordnungspunkt unserem Kollegen Dr. Alexan- Koalitionsfraktionen zur Finanzierung der Pflegever- der Warrikoff das Wort. sicherung laufen auf eine zusätzliche und zudem (Zuruf von der SPD: Ein Koalitionsfreak!) völlig einseitige Belastung der Arbeitnehmerschaft hinaus. (Beifall bei der SPD) Dr. Alexander Warrikoff (CDU/CSU): Herr Präsi- Dabei müßte auch Ihnen bekannt sein, daß das dent! Meine Damen und Herren! Ich wollte meine Ausweichen in Schwarzarbeit und legale, nicht von Bemerkungen, wie es diesem Thema angemessen ist, der Sozialversicherung erfaßte Tätigkeiten um so sehr friedlich beginnen. attraktiver wird, je stärker der Ertrag aus regulärer Erwerbsarbeit geschmälert wird. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das würde ich nicht tun!) (Beifall bei der SPD — Dr. Gisela Babel — Das kann ich in der Tat jetzt nicht mehr tun. Sie [F.D.P.]: Das ist wahr!) haben, Herr Kollege Schreiner, von den Koalitions- Wir wissen als Sozialdemokraten gleichermaßen, freaks gesprochen. Ich nehme an, daß Sie das engli- daß die Höhe der Lohnnebenkosten die Wettbewerbs- sche Wort meinen. Sie haben damit ein Wort benutzt, fähigkeit der Betriebe beeinflußt. Die Sozialversiche- das in etwa in die Gegend von „Mißgeburten" geht. rung der Bundesrepublik rutscht vor allem durch die Ich finde, das ist ein Höhepunkt der Geschmacklosig- hohen Kosten der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland keit. Ein Höhepunkt der Geschmacklosigkeit! Es ist in die roten Zahlen. Ohne diese Folgelast der Verei- unglaublich, was Sie da gesagt haben! nigung wäre nach Sicht des Deutschen Ins tituts für (Ottmar Schreiner [SPD]: Ein deutscher Wirtschaftsforschung ausreichener finanzieller Spiel- Freak ist etwas völlig anderes!) raum vorhanden, um die Einführung einer Pflegever- sicherung sogar ohne zusätzliche Belastung der Bei- — Wer hat denn englisch geredet, Sie oder ich? tragszahler zu verkraften. Als Konsequenz aus dieser (Ottmar Schreiner [SPD]: Das liegt an dem Erkenntnis schlägt das Institut vor, die Beiträge zur deutschen Sprachgebrauch!) Arbeitslosenversicherung wieder zu senken und statt dessen die Kosten der ostdeutschen Arbeitslosigkeit Der zweite Gesichtspunkt, auf den ich hinweisen anders zu finanzieren. möchte, ist der, Wir Sozialdemokraten haben immer wieder die (Ottmar Schreiner [SPD]: Wo sind wir denn Einführung einer Arbeitsmarktabgabe gefordert, um hier zu Hause?) die sozialen Lasten gerechter zu verteilen. daß wir hier ein sehr ernstes Thema besprechen, (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) nämlich das Thema des Arbeitsschutzes. Noch viel sinnvoller aber wäre es, die Arbeitslosigkeit, (Zuruf von der SPD: Seltene Einsichten!) vor allen Dingen in Ostdeutschland, entschiedener zu Diese Einsicht wäre beim Kollegen Schreiner überaus bekämpfen. wertvoll gewesen, denn er hat sich veranlaßt gefühlt, zur Pflege und zur Arbeitslosigkeit in den neuen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Ländern zu reden. Liste) (Ottmar Schreiner [SPD]: Das hängt doch Auch dazu haben wir dem Parlament zahllose Vor- alles miteinander zusammen!) schläge unterbreitet. — Wenn Sie den Zusammenhang zwischen Arbeits- Meine Damen und Herren, zum Schluß: Das Grund- schutz und Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern gesetz des Arbeitsschutzes, nämlich die deutsche sehen, kann ich Ihnen auch nicht helfen. Gewerbeordnung, stammt aus dem Jahre 1869. Im Gegensatz dazu hat der Umweltschutz ein modernes, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn auch in manchen Fragen nicht ausreichendes Zurück zur Sache. Wir sind uns in der Tat — Grundgesetz, nämlich das Bundesimmissionsschutz- deswegen hatte ich gehofft, daß es eine Diskus- gesetz, das in den späten 70er Jahren verabschiedet sion — — worden ist. Dies bedeutet, daß im Bereich des Arbeits- schutzes mit mittelalterlichen Instrumenten gegen (Zuruf von der SPD: Tun Sie doch was!) moderne, neuzeitliche Gefahren gearbeitet wird. Das — Nein, eine Diskussion hat einen versöhnlichen ist die Lage. Charakter; deswegen bin ich besonders enttäuscht, Wir fordern Sie mit großem Nachdruck auf, das daß das so eröffnet wurde. Aber wir sind uns im Ziel europäische Jahr des Arbeitsschutzes gemeinsam mit einig, und zwar nicht nur bei der Verhütung der uns für eine durchgreifende Modernisierung und Unfälle, sondern auch beim Gesundheitsschutz; da Verbesserung des Arbeitsschutzes zu nutzen. besteht also vollkommenes Einvernehmen. Schönen Dank. Wir sind auch der Auffassung, daß es sich hier um ein sich bewegendes Ziel handelt, daß also Gesund- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke heitsschutz und Unfallschutz nie das Ziel erreichen Liste) können, das wir wollen, sondern daß wir eine Dyna- mik haben und wir dauernd verbessern müssen und nie das Ziel erreichen können. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Wir sind uns allerdings mit der Opposi tion in der Herren, ich erteile jetzt als letztem Redner zu diesem Bewertung des gegenwärtigen Zustands nicht einig. 9264 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Dr. Alexander Warrikoff Das ist nicht ganz unwichtig; denn wenn man Politik Aber die Tatsache, daß wir jetzt mehr Berufskrank- für die Zukunft machen will, muß man auch den heiten entdecken, spricht nicht notwendig dafür, daß gegenwärtigen Zustand betrachten. Da zitiere ich aus es mehr Berufskrankheiten gibt, sondern sie spricht Ihrem Antrag, „daß außerordentlich große Defizite im auch dafür, daß sich die Methoden der Erkennung Vollzug vorhanden sind", „daß ein unkoordiniertes verbessert haben. Nebeneinander existiert" . In Ihrem Redebeitrag, Herr Übrigens ist Ihr Hinweis — ganz erstaunlich —, daß Kollege Schreiner, haben Sie die Ausdrücke „verhee- der Arbeitsschutz in der Landwirtschaft und im öffent- rend" und „steinzeitlich" benutzt. lichen Dienst weitgehend ausgeklammert ist, natür- (Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch so!) lich vollkommen falsch. Selbstverständlich gibt es im öffentlichen Dienst und in der Landwirtschaft Arbeits- Ich muß sagen, wer sich so mit der Wirklichkeit schutz. unseres Arbeitsschutzes befaßt, beleidigt die vielen, vielen Menschen, die mit großem Erfolg und großem Aber Ihr Hauptpunkt ist der Gesichtspunkt, daß Sie Engagement ununterbrochen an dieser Aufgabe sagen: Die Zersplitterung muß beseitigt werden. arbeiten. (Ottmar Schreiner [SPD]: Ich habe gar nichts (Zurufe von der SPD) zur Landwirtschaft gesagt!) Er beleidigt die Betriebsräte, er beleidigt die Gewerk- Sie verlangen daher ein einheitliches Arbeitsschutz- schaften, er beleidigt die Berufsgenossenschaften, er recht für alle Beschäftigten. Daher — das ist der beleidigt die Arbeitgeber und die Unfallschutzbeauf- Grund — dieses Arbeitsgesetzbuch. tragten. Meine Damen und Herren, eine Einheitlichkeit des (Beifall bei der SPD und der F.D.P. — Ottmar Arbeitsschutzes ist per se nicht denkbar, weil wir uns Schreiner [SPD]: Jetzt beleidigen Sie sogar an außerordentlich verschiedene Risiken wenden. mich!) Selbstverständlich sind die Arbeitsschutz-Detailvor- schriften in einem Bergwerk vollkommen anders als in — Dem möchte ich ungern widersprechen. einer Automobilfabrik. In Chemiefabriken gibt es (Lachen bei der SPD) noch nicht einmal innerhalb einer Branche dieselben Vorschriften, sondern es gibt ein sehr weit gefächertes — Der Kollege Schreiner kann Behauptungen aller Programm verschiedener Richtlinien. Art aufstellen; ich muß dem ja nicht widersprechen. Deswegen ist sehr wohl zu überlegen, ob m an nicht Es ist sehr wohl ein Wort der Anerkennung am möglichst wenig in Gesetze hineinschreibt und statt Platze, das ich hiermit aussprechen möchte. Ich dessen — wie das auch bisher der Fall ist — möglichst möchte auch darauf hinweisen, daß sehr viele Länder, viel in untergesetzlicher Form regelt, z. B. in Verord- die die neue Arbeitsschutzorganisation aufbauen, sich nungen, Unfallverhütungsvorschriften, allgemeinen hilfesuchend und in voller Anerkennung an uns Verwaltungsvorschriften, technischen Regeln und wenden; ich erwähne die Länder Osteuropas, von Normen, auch deswegen, weil die sehr viel schneller Rußland bis zur Tschechoslowakei; neuerdings hat als Gesetze — das brauche ich nicht zu erläutern — auch die Türkei darum gebeten, daß wir beim Aufbau technischen, gesundheitlichen Erkenntnissen anpaß- helfen. bar sind. Wir sind uns in der Tendenz, möglichst viel in Jetzt kommt ein Gedanke, bei dem wir offenbar das Gesetz hineinzuschreiben, nicht ohne weiteres verschieden bewerten, bei dem ich aber dankbar einig, u. a. wegen dieses Gesichtspunktes. wäre, wenn Sie ihn zur Kenntnis nehmen würden. Die Aber es gibt noch einen zweiten, sehr ernsten Unfälle — da besteht Einvernehmen; das hatten Sie Gesichtspunkt, von dem ich mich freuen würde, wenn auch zitiert — gehen zurück, insbesondere die schwe- Sie sich damit auseinandersetzen würden. Wir haben ren Unfälle, worüber wir uns freuen. Spezialgesetze, z. B. das Gentechnikgesetz oder auch (Konrad Gilges [SPD]: Das sind immer noch das Chemikaliengesetz, das Gerätesicherheitsgesetz. 8 000 Tote!) Diese Gesetze enthalten eine Fülle von Vorschriften zum allgemeinen Gesundheitsschutz, zum Schutz — Jeder einzelne ist zuviel. u. a. der Verbraucher, zum Schutz der Umwelt und Aber die Zahl der Probleme mit dem Gesundheits- zum Arbeitsschutz. Mir scheint — ich bin gern bereit, schutz am Arbeitsplatz wird größer. Meine Damen im einzelnen darüber zu diskutieren — aber die und Herren, das hat nur sehr vordergründig seinen Herausnahme des Arbeitsschutzes aus dem Chemika- Grund darin, daß etwa die Arbeitsplätze weniger liengesetz oder aus dem Gentechnikgesetz, wo es in gesund wären. Es hat, wenn man ehrlich ist, seinen einem Spezialgebiet in sich geschlossen mit ande- Grund darin, daß wir die Zusammenhänge zwischen ren — — Arbeit und Krankheit sehr viel besser als früher (Zurufe von der SPD) erkennen. Über Jahrzehnte haben Menschen in — Nein. Ich habe Ihren Antrag gelesen. Ich habe Asbestfabriken gearbeitet, sind krank geworden, und gefürchtet, daß Sie einsprechen; deswegen habe ich keiner hat gewußt, woran es liegt. Ihren Antrag extra mitgebracht und lese ihn Ihnen (Manfred Reimann [SPD]: Aber als sie es vor. gewußt haben, haben sie noch lange darin (Ottmar Schreiner [SPD]: Lesen Sie einmal gearbeitet!) ganz vor!) — Das muß dann abgestellt werden, und da sind wir — Ich lese den SPD-Antrag vor. Nach einem allgemei- auch vollkommen einig. nen Teil sollte folgendes geregelt werden: „Gesund- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9265

Dr. Alexander Warrikoff heitsschutz der Beschäftigten vor besonderen Gefah- seiter, und im Duden steht: jemand, der sich nicht in ren, Gefahrstoffen und Einwirkungen". Das ist also das normale Leben integ rieren will. spezifisch. Wir sagen, daß dies nicht notwendiger- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) weise in einem Arbeitsgesetzbuch geschehen sollte, sondern Z. B. in anderen spezifischen Gesetzen. Meine Damen und Herren, dagegen gibt es in der Dr. Alexander Warrikoff (CDU/CSU): Herr Kollege Tat Dinge, die allgemein geregelt werden können, Schreiner, ich hatte den Eindruck, daß Sie, wenn Sie und zwar die Dinge, die für alle Bet riebe, auch für alle sich der englischen Sprache befleißigen, dann auch Arbeitnehmer identisch sind. Deswegen sagen wir zu die englische Bedeutung benutzen, aber Sie haben dem Arbeitsschutzrahmengesetz ja, das der entspre- eine Transformation vorgenommen. chenden EG-Richtlinie entspricht. (Zuruf von der SPD: Im deutschen Parlament Wenn Sie jetzt, Herr Reimann, der Bundesregierung wird deutsch geredet!) Untätigkeit vorwerfen, darf ich darauf hinweisen, daß Ich meine aber sehr ernsthaft, meine Damen und die EG-Richtlinie zum Arbeitsschutz ganz besonders Herren, wenn Kollege Schreiner dies hier als eine Art auch auf die nachdrückliche Arbeit der Bundesregie- Entschuldigung anbringt, bin ich gern bereit, sie rung zurückzuführen ist. Daß wir hier jetzt eine entgegenzunehmen. EG-Richtlinie haben, ist auch der Bundesregierung zu verdanken, bei der auch ich mich bei dieser Gelegen- (Beifall bei der CDU/CSU) heit dafür bedanken möchte, und zwar im Namen der Ich möchte noch über einen letzten Punkt sprechen. Arbeitnehmer. Herr Kollege Reimann, Sie haben von der Beweis- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lastumkehr gesprochen. Wir haben keine Beweis- pflicht des Arbeitnehmers. Sie wissen doch hoffent- In diesem allgemeinen Arbeitsschutzrahmenge- lich, daß wir das Offizialprinzip haben und die Berufs- setz, das wir einigermaßen— das nehme ich jedenfalls genossenschaften von Amts wegen ermitteln. Eine an, Herr Staatssekretär — rechtzeitig verabschieden Beweislastumkehr kann also nicht in Frage kommen. werden, werden die Dinge stehen, die sich in der Tat Trotzdem kann man darüber nachdenken, ob sich das für alle Betriebe eignen, nämlich die allgemeinen verbessern läßt. Pflichten der Arbeitgeber, Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer, Vorsorgeuntersuchungen und vieles Meine Damen und Herren, Sie haben ja große andere mehr. Worte über das Arbeitsgesetzbuch gefunden. Das ist aber doch nur ein formaler Mantel. Wir müssen darum Von einzelnen Punkten, die Sie angesprochen ringen, daß wir einen besseren Arbeitsschutz bekom- haben, möchte ich nur zwei herausgreifen. Sie wollen men; das ist eine Aufgabe, die nie aufhören wird. Aber die außerordentliche Fülle von Institutionen, die es im wir sollten keine Energie dararuf verwenden, das in Arbeitsschutz schon jetzt — zum größten Teil zu irgendwelchen Büchern zu machen. Es kommt darauf Recht — gibt, auch noch durch Arbeitsschutzbeiräte an, daß der Arbeitsschutz verbessert wird, nicht aber erweitern, also eine zusätzliche Bürokratie einführen, darauf, in welchen Gesetzbüchern das steht. von der wir prinzipiell wenig halten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte auch den Gesichtspunkt der allgemei- nen Gesundheitsförderung im Betrieb herausgreifen. Ich wäre dankbar, wenn Sie darüber noch einmal Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und nachdenken würden. Irgendwo sind wir ja nicht nur Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell Arbeitnehmer, sondern auch Menschen. Die allge- wird die Überweisung der Vorlage in Drucksache meine Gesundheitsförderung der Arbeitsnehmer ist 12/2412 an die in der Tagesordnung aufgeführten nicht Sache des Betriebs, sondern gehört in andere Ausschüsse vorgeschlagen. — Ich höre und sehe Bereiche. Wir wollen ja nicht den vollkommen „ver- keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. betriebten" Menschen haben. Ich habe keine Lust, mit meinem Mitarbeiter — wir haben ja alle Mitarbeiter — früh einige Runden um den Langen Eugen zu drehen, Ich rufe den letzten Punkt unserer heutigen Tages- weil ich mich für seine Gesundheit verantwortlich ordnung auf, den Zusatzpunkt 6: fühle. Das sollte wirklich den Mitarbeitern selbst Beratung der Beschlußempfehlung und des überlassen werden. Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten - und Vizepräsident Helmuth Becker: Würden Sie eine der Gruppe der PDS/Linke Liste Zwischenfrage des Kollegen Schreiner gestatten? Antifaschistische und antirassistische Aufklä- rungskampagne Dr. Alexander Warrikoff (CDU/CSU): Ja, bitte. — Drucksachen 12/1193, 12/3268, 12/3292 — Berichterstattung: Ottmar Schreiner (SPD): Ich will nur versuchen, die Abgeordnete Monika Brudlewski anfänglichen Mißverständnisse zwischen uns beiden Wolfgang Lüder auszuräumen, und Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, Uwe Lambinus daß das Wort Freak im Deutschen nicht, wie Sie Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünf- angenommen haben, Mißgeburt oder ähnliches Minuten-Runde vereinbart worden. — Ich höre und bedeutet; denn nach dem Wörterbuch der deutschen sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so Umgangssprache bedeutet Freak Sonderling, Außen beschlossen. 9266 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Vizepräsident Helmuth Becker Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst die nicht nur nationalistisch ist, sondern zudem auch unserem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort. für die Entwicklung der Kultur dieses L andes ganz großen Schaden nach sich ziehen wird, wenn nämlich Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Ausländerinnen und Ausländer nicht mehr zu uns Meine Damen und Herren! An sich könnte man in kommen, weil sie vor dieser Bundesrepublik Deutsch- Anbetracht der Zahlen hier im Hause etwas lockerer land Angst haben. Und machen wir uns nichts vor, reden, wenn das Thema nicht so ernst wäre. Das diese Angst ist schon ziemlich verbreitet, und zwar auf Thema ist leider sehr ernst, und ich finde es schon ein Grund der Bilder, die über dieses Deutschland durch bißchen erschreckend, daß sich der Deutsche Bundes- die Welt gehen, und sie ist ja auch nicht unbegründet. tag im letzten Tagesordnungspunkt am Freitag, vor- Ich kann Ihnen aus eigenem Erleben und aus Gesprä- her wissend, daß da natürlich kaum noch jemand hier chen sagen, daß inzwischen auch israelische Bürge- ist und wir fast allein unter uns sein werden, rinnen und Bürger wieder Angst haben, neue Angst (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das war nicht haben, nicht nur die alte, nach Deutschl and zu kom- der Grund! Fragen Sie Ihren Geschäftsfüh men. rer!) Hier ist eine ganz breite Kampagne notwendig, in mit einer so wichtigen Frage beschäftigt. Außerdem der wir die Vorzüge dieser multikulturellen Gesell- bestand ja sogar die Absicht, nicht einmal eine Aus- schaft deutlich machen. Wir müssen zeigen, weshalb sprache darüber zu führen. wir uns ganz entschieden gegen Rassismus wenden, Wir haben vor einem Jahr, nach den ungeheuerli- welche Gefahren damit verbunden sind, welche Vor- chen Ausschreitungen von Hoyerswerda, beantragt, urteile dahinterstecken, daß man soziale Probleme in der gesamten Bundesrepublik Deutschland eine lösen kann, aber mit Sicherheit nicht auf Kosten der Kampagne durchzuführen, die sozusagen aus den Schwächsten in dieser Gesellschaft. Wir müssen deut- Erfahrungen der Anti-Aids-Kampagne schöpft, ohne lich machen, daß wir, auch wenn es keine einzige etwa gleich zu sein. Damals haben sich Bundestag und Ausländerin und keinen einzigen Ausländer in die- Bundesregierung entschlossen, in einer wirklich brei- sem Land gäbe, das Wohnungsproblem immer noch ten Kampagne die Menschen einfach aufzuklären, nicht gelöst hätten, auch nicht die Frage der Arbeits- ihnen Ängste zu nehmen und Schutzmaßnahmen zu losigkeit. Hier werden Angriffe in einer Richtung empfehlen. Ich glaube, das hat durchaus Wirkung gestartet, die zumindest hinsichtlich der zum Teil erzielt. dahinterstehenden sozialen Ursachen völlig falsch ist Nun bin ich mir darüber im klaren, daß man und keine Lösung bringt. Neonazitum, Rechtsextremismus, Gewalttaten und Das aber läßt sich nicht durch eine Bundestagsde- Rassismus und entsprechende Ausschreitungen nicht batte machen. Hier bedarf es einer breiten Aufklä- allein mit einer Aufklärungskampagne wirksam rung. Deswegen sage ich Ihnen mit aller Entschieden- bekämpfen kann. Das ist völlig klar. Aber es wäre ein heit: Daß es ein Jahr gedauert hat, bis über diesen wichtiges Element, und es würde vor allem, wenn es Antrag überhaupt im Ausschuß beraten wurde, ist in im Auftrag der Bundesregierung geschehen und diese Anbetracht der Entwicklung, die es in Deutschland die finanziellen Mittel dafür bereitstellen würde, gab, bereits eine Schande. bedeuten, daß das Legitimationsgefühl abgebaut wird, das bei vielen Täterinnen und Tätern vorhanden (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ist, die meinen, daß sie sich eigentlich auf einer Woge Dieser Antrag soll jetzt abgelehnt werden, und ein bewegen, die durchaus partiell Zustimmung findet. Es völlig verschwommener, verwaschener Antrag soll würde ganz deutlich werden: Hier geschieht etwas, dagegengesetzt werden, der die Bundesregierung was gegen den Willen des Bundestages und der überhaupt nicht bindet, der uns von diesem Anliegen Bundesregierung ist. Wir könnten auch einen Beitrag weit entfernt. Eine massenhafte Kampagne wird es leisten, Vorurteile abzubauen. Vorurteile sind mas- dann nicht geben, die wenigstens in Ansätzen der senhaft vorhanden, und sie sind sehr kompliziert Anti-Aids-Kampagne gleichwertig wäre. Das bedeu- abzubauen. Ich sage immer: Eine Kernspaltung ist tet, daß das Problem des Rassismus in Deutschland leichter als der Abbau eines Vorurteils. — zumindest fahrlässig — wahnsinnig unterschätzt In der Aufklärungsarbeit muß man Qualität anbie- wird, wenn es nicht sogar einige gibt, die ganz ten; sie muß breit angelegt sein. Wir müssen dazu zufrieden sind, daß die Entwicklung so läuft, wie sie übergehen, die Vorzüge einer multikulturellen läuft. Davor möchte ich hier mit aller Entschiedenheit warnen. Gesellschaft zu erörtern. Wir müssen erklären, wie - dieses Deutschland sich in der Geschichte entwickelt Danke. hat, wenn wir nur die Zeit vom Mittelalter an nehmen. Wir müssen erklären, welche große Bedeutung die (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Zuwanderung der Hugenotten für die Entwicklung Deutschlands hatte, welche große Bedeutung die Zuwanderung der osteuropäischen Juden für die Entwicklung Deutschlands hatte, d. h. welche Vor- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege teile dieses Land dadurch hatte, daß es sich eigentlich Dr. Gysi, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß schon seit Jahrhunderten multikulturell zu organisie- die Tagesordnung und der Ablauf im Ältestenrat ren begann. einstimmig festgelegt worden sind. Es gab dann ab 1933 einen furchtbaren Tiefschlag in Ich rufe nun den nächsten Redner auf. Es ist der dieser Richtung. Das ist klar. Wir dürfen jetzt nicht Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesmini- zulassen, daß wieder eine solche Stimmung entsteht, ster des Innern, der Kollege Eduard Lintner. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9267

Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Geplant sind auf dieser finanziellen Grundlage minister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen u. a.: die Fortsetzung der erwähnten Anzeigenkam- und Herren! Herr Dr. Gysi, bereits vorweg kann ich pagne in Jugendzeitschriften und ihre eventuelle Ihnen versprechen: Sie haben vorschnell geurteilt, Ausdehnung auf Tageszeitungen, Fensehspots, die denn das, was Sie verlangen, ist in dem Handlungs- Durchführung von Seminaren für Lehrkräfte und bericht, den ich für die Bundesregierung jetzt zu Jugendbetreuer sowie die Ausarbeitung eines Leitfa- geben habe, enthalten. dens, der Lehrern, Ausbildern, Mitarbeitern von Sie wissen, meine Damen und Herren, daß die Jugendämtern und anderen denkbaren Multiplikato- Bundesregierung die Übergriffe auf Ausländer- und ren einen möglichst guten Überblick über die vorhan- Asylunterkünfte stets auf das schärfste verurteilt hat. denen Materialien und ihre Eignung für unterschied- Wie wir ebenfalls alle wissen, können diese eben nicht liche Einsatzmöglichkeiten gibt. allein mit polizeilichen Mitteln und Strafverfolgungs- Desweiteren hat das Presse- und Informationsamt maßnahmen beendet werden, so wichtig die konse- der Bundesregierung in enger Abstimmung mit dem quente Bekämpfung dieser Dinge durch Polizei und Bundesinnenministerium ein Faltblatt mit dem Titel Justiz sicherlich auch ist. Unerläßlich erscheinen uns „Ausländer und Asyl in Deutschland" sowie Fernseh- vor allem die Beseitigung der Ursachen für diese spots und Anzeigenmotive mit dem Logo „Halt! Keine Ausschreitungen und die Aufklärung über die Unsin- Gewalt" entwickelt. nigkeit und Schädlichkeit fremdenfeindlicher Aktio- Auch in der Bundeszentrale für politische Bildung nen wie auch, ihre Beeinflussung durch rechtsextre- wird das Thema Fremdenfeindlichkeit intensiv mistische Propaganda und Haßtiraden aufzuzeigen. behandelt. Ich verweise hierzu z. B. auf die PZ vom Entsprechend dem Beschluß der Innenministerkon- Juli dieses Jahres mit dem Titel „Nachbarn mit dem ferenz und der Justizministerkonferenz vom Oktober Fremdenpaß". Weitere spezielle Ausgaben zum des vergangen Jahres appelliert die Bundesregierung Thema Fremdenfeindlichkeit sind in Vorbereitung. daher an die demokratischen Parteien, an Schulen, an Eine ressortübergreifende Bund-Länder-Arbeits- Kirchen, an Jugendorganisationen und an alle demo- gruppe, die durch Beschluß der Innenministerkonfe- kratischen Kräfte, vor allem auch an die Medien, sich renz vom Mai dieses Jahres eingesetzt worden ist, an der beschlossenen gesamtgesellschaftlichen Auf- führt gegenwärtig eine Bestandsaufnahme durch, die klärungskampagne nach Kräften zu beteiligen. darauf abzielt, alle Aktivitäten zu erfassen, die in den (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Bereichen der Fachministerkonferenzen sowie von Reicht der Appell aus?) den Ländern selbst ergriffen, gefördert oder geplant sind, um der Fremdenfeindlichkeit und den auf ihr — Lassen Sie mich erst zum Ende kommen. Dann basierenden gewalttätigen Ausschreitungen durch können Sie immer noch urteilen. — Die Aufklärungs- Aufklärung und Ursachenbeseitigung entgegenzu- kampagne muß sich an die Öffentlichkeit insgesamt wirken. wenden, vor allem aber an die Jugend, und über eine bessere Kenntnis der Zusammenhänge und der not- Diese gemeinsamen Anstrengungen, meine Damen wendigen politischen Maßnahmen hinaus auf eine und Herren, sind nicht nur nötig, sie sind geradezu Betonung von Werten der Humanität, der Menschen- unentbehrlich. Ich möchte an dieser Stelle deshalb würde und der Toleranz abzielen. Dies sind die Ziele insbesondere an die Länder appellieren, sich darauf der vom Bundesinnenministerium ergriffenen Maß- für die nächsten Jahre konkret einzustellen. nahmen. Wenn Sie nun Ihre Kritik überdenken, Herr Jetzt zu den Maßnahmen selbst. Noch in diesem Dr. Gysi, dann, so glaube ich, werden Sie feststellen, Jahr sollen in Zusammenarbeit mit einem Verlag daß das, was von Ihnen so nachhaltig gefordert Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe I aller worden ist, von der Bundesregierung größtenteils Schularten in einer Auflagenhöhe von 500 000 Exem- bereits in die Wege geleitet wurde. plaren und ein Lehrerbegleitheft erarbeitet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Um auch im außerschulischen Bereich möglichst viele Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Jugendliche anzusprechen, werden in einer Medien- Das ist ein Antrag von vor einem Jahr! Da ist kooperation mit mehreren Jugendzeitschriften, die überhaupt nichts in die Wege geleitet!) auch in der entsprechenden Szene gelesen werden — dies ist sehr wichtig —, redaktionelle Beiträge und Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Anzeigen entwickelt, die noch in diesem Jahr veröf- Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Hartmut fentlicht werden. Büttner das Wort. Ich war bei den Gesprächen selbst dabei, und ich darf mich bei dieser Gelegenheit für die wirklich Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Herr große Bereitschaft der Redaktionen bedanken, die Präsident! Meine Damen und Herren! Die jüngsten unserem Anliegen und dann den gemeinsamen Übergriffe auf Asylbewerber und andere Ausländer Anstrengungen entgegengebracht worden sind. in allen Teilen unseres L andes sind in der Tat ein Für das Haushaltsjahr 1993 sind 6 Millionen DM, für alarmierendes Zeichen. Es erfüllt mich mit Scham, daß 1994 3 Millionen DM im Haushaltsplanentwurf des Gewalt erneut zu einem Mittel der politischen Ausein- BMI für diese Aufklärungskampagne vorgesehen. Die andersetzung in Deutschland geworden ist. Die Mittel sind durch den Haushaltsausschuß des Bundes- Angriffe gegenüber Andersdenkenden, der Sturm auf tages allerdings qualifiziert gesperrt. Sie sollen nur Unterkünfte von Asylbewerbern, auf Ausländerheime entsperrt werden, wenn sich auch die Länder in den und Aussiedlerwohnungen sind ein Schlag gegen die entsprechendem finanziellen Umfang beteiligen. politische Kultur in Deutschland. 9268 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Hartmut Büttner (Schönebeck) Der Deutsche Bundestag hat die Verpflichtung, die dieser Aufgabe nicht entziehen. Sie sollten sich ange- Ursachen dieser schlimmen Entwicklung zu ergrün- messen personell und finanziell an dieser echten den und gezielte Maßnahmen einzuleiten. In der Tat: Gemeinschaftsaufgabe beteiligen. Notwendig sind Verbesserungen im gesetzgeberi- Unsere Fraktion geht davon aus, daß der Deutsche schen Bereich. Notwendig sind wirksame Mittel für Bundestag seinerseits für die Fortsetzung und Aus- Polizei, Justiz und Strafverfolgung. Notwendig ist weitung seiner Aktion gegen Fremdenfeindlichkeit auch eine Verbesserung von sozialen und wirtschaft- und Extremismus die notwendigen Mittel zur Verfü- lichen Rahmenbedingungen, verstärkter Wohnungs- gung stellen wird. Ich denke, unstrittig dürfte sein: bau und eine sinnvolle Jugendarbeit. Gemeinsam wollen wir dafür sorgen, daß nicht Intole- Aber ebenso notwendig ist die geistige Auseinan- ranz und Haß, sondern Toler anz und demokratische dersetzung mit dem politischen Extremismus. Dabei Mittel das Markenzeichen der deutschen Jugend ist es, meine Damen und Herren, völlig unerheblich, sind. ob wir es mit linkem oder rechtem Extremismus zu tun Herzlichen Dank. haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jede politische Ideologie, die Gewalt gegenüber Sachen oder Personen in Kauf nimmt oder anwendet, Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und muß auf den energischen Widerstand aller Demokra- Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Uwe Lam- ten treffen. binus das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Lieber Herr Gysi, nach dem Antrag der PDS sollen (SPD): Verehrter Herr Präsident! wir nun eine „antifaschistische Aufklärungskam- Uwe Lambinus Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die menschenver- pagne" durchführen. Die PDS hat ja mit dieser Art achtenden Übergriffe auf Ausländer, Asylbewerber offizieller Kampagnen aus den 40 Jahren ihrer Exi- und ihre Unterkünfte fordern staatliches Handeln. stenz erhebliche Erfahrungen gesammelt, als sie noch Dies darf sich jedoch nicht in notwendigen polizeili- den Namen SED führte. chen Maßnahmen und dem Tätigwerden der Justiz (Beifall der Abg. Angela Stachowa [PDS/ erschöpfen. Linke Liste]) Heute, so meine ich, rächen sich fürchterlich: — Wer jetzt voreilig klatscht, muß sich natürlich erstens die zum Teil völlig unglaubwürdige, unwahr- fragen lassen, wie wirksam denn diese Art von Volks- haftige, antifaschistische Agitation in der früheren aufklärung gewesen ist. Mehr Toleranz, Nächsten- DDR und zweitens das jahrzehntelange Leugnen und liebe und Achtung vor dem Leben anderer sind dabei das Nicht-für-wahr-haben-wollen vieler wissen- leider nicht unbedingt herausgekommen. schaftlicher Studien über das latente Vorhandensein (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: faschistoider Tendenzen bei einem Teil unserer Mit- Jetzt widersprechen Sie dem Staatssekre bürgerinnen und Mitbürger, auch im Westen. tär!) (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ — Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion Linke Liste und beim BÜNDNIS 90/DIE begrüßt sehr wohl, was der Staatssekretär für die GRÜNEN) Bundesregierung vorgetragen hat. Wir begrüßen, daß In einer Zeit zunehmender geistig-moralischer sich die Bundesregierung bereits seit Monaten um Orientierungslosigkeit und stärkster sozialer Verun- eine wirksame Ursachenbeseitigung bemüht. sicherung sind schändliche Ausbrüche und deren beschämende Begleitumstände, wie wir sie an vielen (Uwe Lambinus [SPD]: Fristgemäß!) Orten unseres Landes — nicht nur in den fünf neuen Das gilt für das gesamte Parlament. Bund und Bundesländern — erleben müssen, fast eine zwangs- Länder haben eine gesamtgesellschaftliche Aktion läufige Entwicklung. gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit ge- Ich sagte, staatliches H andeln ist gefordert. Aus startet, die wir alle insgesamt unterstützen sollten. diesem Grund schlägt der Innenausschuß einmütig Dabei ist es richtig und gut, daß Schulen, Kirchen, — gegen die Stimmen der PDS, die einen eigenen Verbände und Jugendorganisationen daran beteiligt Antrag eingebracht hatte — die Annahme eines werden; denn Lehrer, Jugendleiter, Kirchenvertreter, - Antrags vor, der nicht nur die Bundesregierung und aber gerade auch die Idole der jungen Generation die Bundesländer ermutigen soll, ihre Aufklärungs- müssen in diese Diskussion einbezogen werden. maßnahmen über den Rechtsextremismus verstärkt Die inhaltliche Diskussion mit jungen Menschen fortzusetzen, sondern auch an alle demokratischen über Schädlichkeit und Unsinnigkeit extremistischer Kräfte, die Parteien, die Gewerkschaften, die politi- Ausschreitungen muß dort geschehen, wo sie sich schen Stiftungen, die freien Träger und die Kirchen, aufhalten. Sie muß in und mit den Medien der jungen appelliert, sich dieser Problematik verstärkt anzuneh- Generation geführt werden. men. Deshalb sollten wir die Aktivitäten der Regierung in Darüber hinaus wird in diesem Antrag gefordert, diesem Fall schon unterstützen, jugendnahe Materia- daß sich die Bundesländer finanziell stärker an den lien zu erstellen und 144 Einzelprojekte in ca. Programmen der Jugendhilfe beteiligen. Wir Sozial- 30 Brennpunktaktionen zu verwirklichen. Ich denke, demokraten stimmen dieser Beschlußempfehlung es ist aber auch wichtig, daß sich die Bundesländer nachdrücklich zu. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9269

Uwe Lambinus Aber, meine Damen und Herren, damit ist es nicht und an jeder Brandstiftung und an jedem Mordver- getan. Es muß auch ein Ende haben, daß prominente such. Politiker argumentative Steilvorlagen für randalie- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste rende Rechtsextremisten und verführte Jugendliche — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist ja liefern. unglaublich, was Sie hier sagen!) (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Ich füge hinzu: Wenn man so redet, dann ist dies der F.D.P.) geistige Wegbereitung des rechten Terrors. (Beifall der Abg. Andreas Lederer [PDS/ Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Lam- Linke Liste] — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/ binus, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau CSU]: Herr Kollege, das nehmen Sie jetzt Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann? sofort zurück!) Wir müssen mitmenschliche Barmherzigkeit för- dern und vernünftig organisieren. Wir dürfen sie nicht Uwe Lambinus (SPD): Bitte. zur politischen Untugend erklären. Darum geht es. Nur wenn wir als Abgeordnete — bei aller Notwen- digkeit der Auseinandersetzung — auch unsere Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Frau Enkel- mann. eigene Sprache und unser Handeln disziplinieren, sind unsere Appelle glaubwürdig. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das hätten Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Trifft es Sie gerade besser einmal gemacht!) zu, daß sich der Innenausschuß nur deshalb mit diesen — Das habe ich getan. Fragen beschäftigt hat, weil vorher ein Antrag der PDS/Linke Liste in den Bundestag eingebracht Danke schön. wurde? Ich möchte gern durch diese Frage die Ver- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke hältnisse klarstellen. Liste)

Uwe Lambinus (SPD): Frau Kollegin Dr. Enkel- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und mann, ich habe im Innenausschuß bereits zum Aus- Herren, als letztem Redner zu diesem Tagesordnungs- druck gebracht, daß ich es sehr bedauere, daß der punkt erteile ich unserem Kollegen Wolfgang Lüder Innenauschuß oder auch die anderen Parteien — das das Wort. habe ich sehr selbstkritisch gesagt — nicht von sich aus initiativ geworden sind, sondern daß es eines Antrags Ihrer Fraktion bedurft hat. Wolfgang Lüder (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lege Gysi, nur um der geschäftsordnungsmäßigen Ich habe gesagt, daß prominente Politiker argumen- Wahrheit willen wollen wir doch festhalten, daß bis tative Steilvorlagen für randalierende Rechtsextremi- heute nur die Anmahnung Ihrer Gruppe, dieses sten und verführte Jugendliche liefern. Diesbezüglich Thema aufzunehmen, auf der Tagesordnung stand. erinnere ich beispielsweise an den skandalösen Vor- Diese Anmahnung kam verdammt spät. Sie haben gang, daß der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, aber dieses Recht, und davon haben Sie Gebrauch unser Kollege Dr. Wolfgang Bötsch, seinem stellver- gemacht. tretenden Fraktionsvorsitzenden Heiner Geißler vor- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: warf, daß dieser sich parteischädigend verhalten Das ist ja unerhört! Wo gibt es denn so habe, weil er anläßlich einer Veranstaltung der Jun- etwas?) gen Union dazu aufgefordert hat, daß sich junge Leute schützend vor Asylbewerberheime stellen sollten, und Wir müssen dabei aber folgendes festhalten: Als wir darüber hinaus auf die Fluchtursachen hinwies. erinnert wurden — dafür bin ich dankbar —, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das Es ist schade, daß Sie daran erinnert werden müssen!) haben Sie mißverstanden, Herr Kollege!) - — Nein, die Presseveröffentlichung ist sehr eindeu- haben wir sehr schnell zu einer Resolution gefunden, tig. die von allen drei Fraktionen dieses Hauses getragen wurde. Ichglaube, dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sie glau wir demokratische Kultur in unserem Staat wahrneh- ben doch nicht alles, was in der Presse men. steht?) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Ich habe kein Dementi gesehen, Herr Kollege. Ein solches würde ich aber sehr begrüßen. Aber, meine Damen und Herren, ich sage auch folgendes sehr deutlich: Mit dem allein, was wir hier (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Nun regen fordern, kann es sein Bewenden nicht haben. Das ist Sie sich doch nicht so auf!) kein Wort für eine Kampagne. Der Kampagnestaat der — Nein, da rege ich mich auf; den wer so redet, wie es DDR hat nur dazu geführt, daß der rechtsradikale in der Zeitung mit wörtlichen Zitaten wiedergegeben Bodensatz gezüchtet wurde, der in Rostock dann an wurde, macht sich mitschuldig an jedem Steinwurf der Straße st and. Auch dies ist eine Kausalitätsfrage, 9270 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992

Wolfgang Lüder der wir in der Enquete-Kommission sicher noch näher Ich fordere auch die Länder auf, daran mitzuwirken. nachgehen werden. Ich habe Verständnis für den Haushaltsausschuß, der (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Aber sagt: Dies kann ja wohl gerade im Bildungsbereich Herr Kollege Lüders, es findet doch z. B. eine nicht eine alleinige Aufgabe des Bundes sein. Nein, Kampagne größten Ausmaßes gegen Asyl hier darf keiner kneifen. bewerber statt!) Aber wir sind gefordert, darauf zu achten, daß die Meine Damen und Herren, wenn wir zutreffend Maßstäbe, mit denen wir in der freiheitlichen Demo- bewerten wollen, was an Rechtsradikalismus in den kratie den Mitmenschen ohne Rücksicht auf seinen letzten Wochen sichtbar geworden ist, wenn wir Paß beurteilen, stimmen. Mir reicht es nicht aus, zu richtig einschätzen wollen, welche Gefahr von der sagen: Wir sind gegen Ausländerfeindlichkeit. Nein, Gewalttätigkeit gegen ausländische Bürger in Ost- Leute, laßt uns doch besser sagen: Wir sind für die und jetzt auch in Westdeutschland ausgeht, wenn wir Freundlichkeit gegenüber den Menschen mit dem die Dimensionen der Demokratiegefährdung sehen fremden Paß. Wir sollten nicht nur eine Abwehrhal- wollen, die von den beifallklatschenden Randtätern, tung gegenüber den Ausländern einnehmen. die sich sonst als friedliche Bürger gebärden, ausge- (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] und bei hen, dürfen wir nicht übersehen, was früher in den Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der 30er Jahren in Deutschland möglich war. Wir sollten SPD und dem Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/ die Lehren aus dieser Zeit ziehen. Linke Liste]) Lieber Herr Lintner, ich sage Ihnen in aller Offen- Ignatz Bubis hat in einer seiner ersten Presseerklä- heit: Nur mit „Unsinnigkeit" zu argumentieren, wenn rungen nach seiner Wahl zum Vorsitzenden des es darum geht, zu bewerten, was dort geschah, das ist Zentralrats der Juden darauf hingewiesen, daß Aus- mir zu kurz gegriffen. Hier sind Elemente der unde- länderfeindlichkeit und Antisemitismus dieselben mokratischen Auseinandersetzung sichtbar gewor- rechtsradikalen Wurzeln haben. Ich glaube, er hat den, die ich nicht akzeptieren kann und die wir durch recht. Das sollte uns mahnen. politische Erklärungen und politisches Handeln deut- licher als bisher zurückweisen müssen. (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] und der CDU/CSU sowie bei der SPD und der PDS/ (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] sowie Linke Liste) bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wenn sich z. B. im Innenausschuß der Innenminister des Landes Meck- lenburg-Vorpommern hinstellt und sagt, in Rostock Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und habe Gott sei Dank keiner Schaden erlitten Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich (Konrad Gilges [SPD]: Das ist ein politischer schließe die Aussprache. Versager!) Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache — und das in Anbetracht einer Situation, in der für 12/3292, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste einige Vietnamesen Lebensgefahr bestand, weil sie abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- eingeschlossen waren und zu verbrennen drohten, lung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — und in der Polizeibeamte Schaden an ihrer Gesund- Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen. heit und an ihrer körperlichen Integ rität genommen Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung empfiehlt haben —, so zeigt dies, daß auch hier noch Nachhilfe der Innenausschuß die Annahme einer Entschließung. notwendig ist. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] sowie — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltungen der bei Abgeordneten der SPD) Gruppe PDS/Linke Liste ebenfalls angenommen. Meine Damen und Herren, wir sollten anfangen, an Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. dem, was wir beschlossen haben, zu arbeiten. Das, Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- was die Bundesregierung bisher eingeleitet hat, destages auf Mittwoch den 7. Oktober 1992, 13 Uhr begrüße ich dankbar. ein. (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] und des Die Sitzung ist geschlossen. Abg. Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/ - CSU]) (Schluß der Sitzung: 14.09 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9271*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Lühr, Uwe F.D.P. 25. 09. 92 entschuldigt bis CDU/CSU 25. 09. 92 Abgeordnete(r) Magin, Theo einschließlich Meckelburg, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Adam, Ulrich CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Mescke, Hedda CDU/CSU 25. 09. 92 Andres, Gerd SPD 25. 09. 92 Dr. Modrow, Hans PDS/LL 25. 09. 92 Antretter, Robert SPD 25. 09. 92* Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 25. 09. 92 Bayha, Richard CDU/CSU 25. 09. 92 Neumann (Gotha), SPD 25. 09. 92 Blank, Renate CDU/CSU 25. 09. 92 Gerhard Bleser, Peter CDU/CSU 25. 09. 92 Oesinghaus, Günther SPD 25. 09. 92 Brandt, Willy SPD 25. 09. 92 Oostergetelo, Jan SPD 25. 09. 92 Bredehorn, Günther F.D.P. 25. 09. 92 Ostertag, Adolf SPD 25. 09. 92 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 25. 09. 92 Paintner, Johann F.D.P. 25. 09. 92 Dr. von Büllow, Andreas SPD 25. 09. 92 Peters, Lisa F.D.P. 25. 09. 92 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 25. 09. 92 Pfeffermann, Gerhard O. CDU/CSU 25. 09. 92 Herta Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 25. 09. 92 Deß, Albert CDU/CSU 25. 09. 92 Raidel, Hans CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Eckardt, Peter SPD 25. 09. 92 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92* CDU/CSU 25. 09. 92 Eichhorn, Maria Rempe, Walter SPD 25. 09. 92 Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. 25. 09. 92 Rennebach, Renate SPD 25. 09. 92 Eylmann, Horst CDU/CSU 25. 09. 92 Reuschenbach, Peter W. SPD 25. 09. 92 Formanski, Norbert SPD 25. 09. 92 Sauer (Salzgitter), CDU/CSU 25. 09. 92 Gallus, Georg F.D.P. 25. 09. 92 Helmut F.D.P. 25. 09. 92 Gattermann, Hans H. Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 25. 09. 92 Geißler, Heiner CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Scheu, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. von Geldern, CDU/CSU 25. 09. 92 Schmalz, Ulrich CDU/CSU 25. 09. 92 Wolfgang Schmalz-Jacobsen, F.D.P. 25. 09. 92 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Cornelia Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 25. 09. 92 Schmidt (Nürnberg), SPD 25. 09. 92 25. 09. 92 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU Renate Großmann, Achim SPD 25. 09. 92 Dr. Schmude, Jürgen SPD 25. 09. 92 Harries, Klaus CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Schneider CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 25. 09. 92 (Nürnberg), Oscar Hauser CDU/CSU 25.09.92 Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 25. 09. 92 (Rednitzhembach), Andreas Hansgeorg Dr. Soell, Hartmut SPD 25. 09. 92** Hollerith, Josef CDU/CSU 25. 09. 92 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 25. 09. 92 Ibrügger, Lothar SPD 25. 09. 92 Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 25. 09. 92 Terborg, Margitta SPD 25. 09. 92 Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 25. 09. 92 Kampeter, Steffen CDU/CSU 25. 09. 92 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 25. 09. 92 Keller, Peter CDU/CSU 25. 09. 92 Titze, Uta SPD 25. 09. 92 Klein (München), Hans CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Voigt (Northeim), CDU/CSU 25. 09. 92 Hans-Peter Kolbe, Regina SPD 25. 09. 92 CDU/CSU 25. 09. 92 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Warnke, Jürgen Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 25. 09. 92 Weis (Stendal), Reinhard SPD 25. 09. 92 Günther Weißgerber, Gunter SPD 25. 09. 92 Kretkowski, Volkmar SPD 25. 09. 92 Welt, Jochen SPD 25. 09. 92 Leidinger, Robert SPD 25. 09. 92 Wissmann, Matthias CDU/CSU 25. 09. 92 Lennartz, Klaus SPD 25. 09. 92 Wohlleben, Verena SPD 25. 09. 92 Dr. Leonhard-Schmid, SPD 25. 09. 92 Ingeburg Elke Zierer, Benno CDU/CSU 25. 09. 92 Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 25. 09. 92 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 25. 09. 92 lung des Europarates Klaus W. ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union