11 I. Einleitung

1. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann – Komponist versus Dichter

Ich mag mich nicht nennen, indem mein Nahme nicht anders als durch eine gelungene musikalische Composition der Welt bekannt werden soll.1

Während E. T. A. Hoffmann die Publikation seiner Fantasiestücke in Callot’s Manier vorbereitet, schreibt er am 20. Juli 1813 an seinen Verleger Carl Friedrich Kunz die oben zitierten Worte, die tatsächlich sein zentrales Lebensziel zum Ausdruck bringen: Er möchte sich als Komponist, vor allem als Opernkomponist, Ansehen erwerben. Folglich vergißt Hoffmann auch nicht, in demselben Brief, dessen vor- rangiges Thema der Druck seiner Fantasiestücke war, seinem Verleger von seinem aktuellen Opernplan zu berichten: »So wird z. B. die Undine auch in kurzer Zeit beendigt seyn und Härtel wird mit Rezensionen überschüttet«2. Dieses Streben Hoffmanns nach Anerkennung als Opernkomponist wurde nur bedingt erfüllt. Nur zwei seiner acht vollendeten Opern 3 wurden zu seinen Lebzeiten auf die Bühne gebracht:4 Die lustigen Musikanten im Jahr 1805 und Undine im Jahr 1816. Die Aufführung des Die lustigen Musikanten 1805 in Warschau war ein Mißerfolg. Darüber berichtete die Zeitung für die elegante Welt und der Rezensent beschrieb Hoffmann als einen »unbekannten Dilettanten (den man in der Person eines in aller Kunst erfahrnen Mannes, des Regierungsraths H...., entdeckt hat)« 5 . Hoffmanns letzte Oper Undine wurde von 1816 bis 1817 in Berlin mit Erfolg 22-mal aufgeführt und positiv rezensiert, kam jedoch nach 1817 wegen des Brandes im alten Berliner Schauspielhaus, bei dem die gesamte Ausstattung vernichtet wurde, nicht mehr auf die Bühne. Der Wirkungsgeschichte von Hoffmanns erfolgreichster Oper wurde somit durch diese Feuerkatastrophe ein frühes Ende bereitet6. Während Hoffmanns Wirkung als Komponist demnach eine sehr geringe war, verbreitete sich sein Ruf als Musikschriftsteller schon zu seinen Lebzeiten im ge- samten deutschen Sprachraum. 1809 veröffentlichte er sein erstes literarisches Werk, die Erzählung Ritter Gluck, in der Allgemeinen musikalischen Zeitung und rezensierte seitdem in derselben Zeitschrift Symphonien, Ouvertüren, Opern, Klaviertrios, Klaviersonaten, religiöse Musik, Lieder und auch Opernlibretti. Als Hoffmann sich in der Allgemeinen musikalischen Zeitung mit seinen Rezensionen durchsetzen konnte, veröffentlichte er dort auch viele seiner literarischen Texte über Musik. Die Beliebtheit dieser Beiträge zeigt sich darin, daß Hoffmann diese Texte 1814 im Sammelband Fantasiestücke in Callot’s Manier publizierte. Schon zu dieser Zeit war er als

1 HOFFMANN-BW, vol. 1, p. 399. 2 Ibd., p. 401. 3 Diese sind: Die Maske (1799), Scherz, List und Rache (1801, verschollen), Die lustigen Musikanten (1805), Die ungebeteten Gäste oder Der Canonicus von Mailand (1805–1806, verschollen), Liebe und Eifersucht (1807), Der Trank der Unsterblichkeit (1808), Aurora (1811–1812), Undine (1816). 4 Angeblich wurde Hoffmanns Scherz, List und Rache im Jahr 1801 in Posen aufgeführt. Dazu gibt es aber außer einer Notiz von Hoffmann selbst keine näheren Nachweise Cf. HOFFMANN-SZM, p. 171. 5 HOFFMANN-DMB, p. 47. 6 Cf. Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln (Gerig) 1977, p. 69. 12

Schriftsteller erfolgreicher denn als Komponist. Seine postume Wirkung sollte aller- dings noch seinen Erfolg zu Lebzeiten weit über die Grenzen des deutschen Sprach- raums hinaus übertreffen. »Seine Kunst der Fantasie gehört zur Weltliteratur«7, heißt es in einer Monografie jüngeren Datums. Die Tatsache, daß »weniger der hochbegabte Musiker Hoffmann die Welt weiterbewegte« als vielmehr »der ungleich genialere Dichter«8, rücke allerdings Hoffmanns »Kompositionstätigkeit in die Sphäre des Dilettantismus, der Liebhaberei, der Nebenbeschäftigung«9, so die weitverbreitete Meinung. Zwischen diesen beiden Identitäten Hoffmanns, dem Komponisten und dem Dichter, besteht zweifellos ein Spannungsverhältnis, das zu geringem Interesse an Hoffmanns Opernschaffen geführt hat. Die vorliegende Arbeit will deutlich machen, daß für Hoffmann zwischen seiner literarischen und seiner kompositorischen Tätigkeit eine enge Wechselwirkung für sein Opernschaffen bestand, die sich vorrangig an der Ästhetik der damals aufkommenden romantischen Strömungen in der Literatur orientierte. Problematik, Methodik und Zielsetzung dieser These werden in den nächsten Kapiteln näher dargestellt.

2. Hoffmann als Opernkomponist: Problemstellung, Methodik, Zielsetzung

Vor allem unter einem Aspekt wird E. T. A. Hoffmann als für die Musikgeschichte wichtiger Opernkomponist betrachtet: im Zusammenhang mit der deutschen roman- tischen Oper. In der Musikgeschichtsschreibung besitzt Hoffmanns Undine eine besondere Stellung als Schlüsselwerk innerhalb der Entwicklung der deutschen romantischen Oper. Wenn also sein Opernschaffen in diesem Kontext besprochen werden soll, muß dieser zuerst geklärt werden. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreitete die italienische Oper ihre Wirkung unangefochten in ganz Europa. Bis zum frühen 19. Jahrhundert beeinflusste die erfolgreiche französische Opéra comique ebenfalls die europäische Bühne. Um die Wende zum 19. Jahrhundert begannen im deutschen Sprachraum Bemühungen, eine eigene deutschsprachige Operntradition zu begründen10. Dieser Wunsch verband sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit sich gleichzeitig abzeichnenden romantischen Strömungen in Literatur, Musik und bildender Kunst und in den nationalen Emanzipationsbewegungen11. In diesem Kontext wird der Erfolg von Carl Maria von Webers Der Freischütz (1821) in der Musikgeschichtsschreibung allgemein als der Anfang der deutschen romantischen Oper angesehen12 und mit dem späteren

7 Hartmut Steinecke, Die Kunst der Fantasie. E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk, Frankfurt am Main (Insel) 2004, p. 9. 8 Paul Greeff, E. T. A. Hoffmann als Musiker und Musikschriftsteller, Köln (Staufen) 1948, p. 201. 9 GERHARD ALLROGGEN, Der Komponist E. T. A. Hoffmann, in: HOFFMANN-SW, vol. 2/2, p. 706. 10 Cf. Michael Fend, »Es versteht sich von selbst, daß ich von der Oper spreche, die der Deutsche und Franzose will …«. Zum Verhältnis von Opéra comique und deutscher romantischer Oper, in: Herbert Schneider/Nicole Wild (edd.), Die Opéra comique und ihr Einfluß auf das europäische Musiktheater im 19. Jahrhundert (Bericht über den Internationalen Kongreß, Frankfurt, 1994), Hildesheim (Olms) 1997, pp. 299–322, hier p. 299. 11 Cf. Sieghart Döhring/Sabine Henze-Döhring, Oper und im 19. Jahrhundert, Laaber (Laaber) 1997, p. 109. 12 Cf. Ludwig Finscher, Weber’s »Freischütz«: Conceptions and Misconceptions, in: Proceedings of the Royal Music Association 84/1983, pp. 79–90, hier p. 79.

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Schaffen Richard Wagners in Beziehung gesetzt, wie dies Hermann Kretzschmar in seiner Geschichte der Oper darstellt: »Mit dem Freischütz tut Deutschland den entscheidenden Schritt in der Geschichte der Oper; es beginnt eine Bewegung, die mit und mit der Vorherrschaft deutschen Geistes im internationalen Musikdrama endet.« 13 Solch ein nationalistischer Ton bei der Betrachtung des Gegenstands ist auch deutlich im Titel von Siegfried Goslichs Dissertation Beiträge zur Geschichte der deutschen romantischen Oper von Spohrs Faust zu Wagners Lohengrin14 aus dem Jahr 1937 zu erkennen und wiederholt sich in seinem Buch Die deutsche romantische Oper von 1975 15 , worin der Verfasser behauptet: »Der romantische Stoff der Operndichtung ist in Deutschland zu Hause und dringt von hier aus ins Ausland vor.« 16 Eine derartige Geschichtsschreibung über die deutsche romantische Oper wurde offenbar von der NS-Propaganda beeinflußt, erweist sich als ideologisch verengt und auf diese Weise verfälschend. Carl Dahlhaus hat dagegen in seinem Aufsatz Die romantische Oper als Idee und als Gattung gezeigt, daß die Stoffwahl der romantischen Oper sowie der Geltungsbereich der Gattung, vom Singspiel zur großen Oper, national übergreifend waren17. Die vormals der deutschen romantischen Oper als spezifisches Merkmal zugeschriebene Erinnerungsmotivik kommt ursprünglich aus der französischen Opéra comique18. Aus diesem Grunde sollte die romantische Oper nicht als spezifisch deutsche Entwicklung angesehen werden. Darüber hinaus war sie zum anderen laut Dahlhaus auch keine eigenständige Gattung der Oper, denn er kommt zur Einsicht: »Was immer die romantische Oper sein mag – eine Gattung ist sie, wie es scheint, jedenfalls nicht.«19 Interessanter erscheint die sich als nächstes ergebende Frage: Wenn die romantische Oper keine Gattung, sondern eine Idee war, worin besteht dann das Romantische der romantischen Oper? Im Bemühen um eine Antwort auf diese Frage weist Dahlhaus darauf hin, daß, da »der Terminus Romantik aus der Literatur und der Literaturtheorie stammt, […] die Versuchung, eine Charakteristik der romantischen Oper aus der Librettogeschichte zu entwickeln, nahezu unausweichlich« sei20. Er unternimmt einen Bestimmungsversuch, die romantischen Elemente in den Libretti zu differenzieren und glaubt zunächst feststellen zu können,

daß [François-René de] Chateaubriands literaturtheoretisch fundamentale Unter- scheidung zwischen dem bloß »Romanesken«, das durch stofflich-vulgäre Reize besticht, und dem wahrhaft »Romantischen«, das einer erhabenen Einbildungskraft entspringt, in der Librettogeschichte ins Leere geht. Denn die Mehrzahl der Texte, die romantischen Opern zugrundeliegen und ohne die deren Geschichte schlechterdings nicht vorstellbar ist – vom Freischütz über Robert le diable bis zu Hans Heiling –, gehört zweifellos dem von Chateaubriand der ästhetischen Verachtung preisgegebenen Genre des »Romanesken« an – man kann auch sagen: der »Trivialromantik«.21

13 Hermann Kretzschmar, Geschichte der Oper, Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1919, p. 255. 14 Cf. Siegfried Goslich, Beiträge zur Geschichte der deutschen romantischen Oper von Spohrs »Faust« zu Wagners »Lohengrin«, Leipzig (Fr. Kistner & C. W. Siegel) 1937. 15 Cf. Siegfried Goslich, Die deutsche romantische Oper, Tutzing (Schneider) 1975. 16 Ibd. p. 143. 17 Carl Dahlhaus, Die romantische Oper als Idee und als Gattung, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Göttingen (Ruprecht) 1983, pp. 52–64, hier p. 53 sq., p. 56. 18 SIEGHART DÖHRING/SABINE HENZE-DÖHRING, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, p. 99. 19 CARL DAHLHAUS, Die romantische Oper als Idee und als Gattung, p. 56. 20 Ibd., p. 53. 21 Ibd., p. 54. 14

Indem Hoffmann in seinem zur Darlegung seiner Idee der romantischen Oper verfaßten Aufsatz Der Dichter und der Komponist aus dem Jahr 1813 diejenigen Opern, »in denen läppische, geistlose Geister erscheinen, und ohne Ursache und Wirkung Wunder auf Wunder gehäuft werden, nur um das Auge des müßigen Pöbels zu ergötzen«22 von der »wahrhaften romantischen Oper«23 abgrenzt, gehört seine Opernästhetik nicht zu jener von Dahlhaus genannten Trivialromantik. Eindeutig orientiert Hoffmann seine Idee der romantischen Literatur an den deutschen literarischen Frühromantikern. Er war mit Jean Paul befreundet, las nachweislich die Werke der Gebrüder Schlegel sowie Ludwig Tiecks Schriften und vertonte Clemens Brentanos Libretto Die lustigen Musikanten. Ausdrücklich beschreibt er Tieck als »echt romantische[n] Dichter« 24 . Hoffmanns literarische Orientierung an diesen Frühromantikern spiegelt sich nicht nur in seinen eigenen Schriften wider25, sondern auch in seiner Konzeption einer romantischen Oper. Dahlhaus zeigt eine Entwicklungslinie der deutschen romantischen Oper aus der Idee der Frühromantiker auf: Demnach hätten Wackenroder und Tieck die romantische Musikästhetik begründet und zwar als »primär eine Metaphysik der Instrumental- musik«, die von Hoffmann »in eine publizistisch wirksame Form gebracht« worden sei:26 »In dem Epitheton ›romantisch‹ war latent die Idee der absoluten Musik, also eine der Oper entgegengesetzte Idee, enthalten.«27 Daher gebe es in Hoffmanns Idee der romantischen Oper einen inhärenten Gegensatz zwischen dem Romantischen und der Oper, den »erst Wagner dadurch auflöste, daß er das Musikdrama als symphonische Oper konzipierte«28. Bezogen auf Hoffmann basiert diese Beschreibung der Entwicklung der deutschen romantischen Oper offenkundig auf zwei Anhaltspunkten: Erstens identifiziert Hoffmann 1810 aufgrund seiner Rezeption von Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 die Instrumentalmusik als die »romantischste aller Künste«29 und deren thematisch-motivische Struktur als das »technische Korrelat zum romantischen Wesen«30. Zweitens beschreibt Hoffmann das »romantische Sein« in der Oper als einen Bereich, »wo selbst Handlung und Situation in mächtigen Tönen und Klängen« erfolgen sollte31. Zu Recht weist Thomas Betzwieser aber darauf hin, daß die Idee der absoluten Musik geradezu »inkommensurabel« zu der Vorstellung einer Oper mit gesprochenem Dialog erscheine: »Die Durchdringung der frühromantischen Ästhetik mit der absoluten Musik legt die Annahme nahe, daß ein romantisches Bühnenwerk nur in einer durchgehend musikalisierten Form bestehen könne.«32 Auch wenn in Hoffmanns Opernschaffen eine Tendenz vorliegt, wie Gerhard Allroggen beobachtet, »große dramatische Zusammenhänge in weit ausgreifenden Nummern

22 HOFFMANN-SB, p. 83. 23 Ibd., p. 83. 24 Ibd., p. 92. 25 Hoffmanns literarische Orientierung an Tieck sei so stark, daß Tieck dazu neige, so Wulf Segebrecht, Hoffmann als »einen seiner Epigonen zu betrachten«. Cf. Wulf Segebrecht, Ludwig Tieck an E. T. A. Hoffmann. Ein bisher unpublizierter Brief vom 12. August 1820, in: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft, 32/1986, pp. 1–11, hier p. 6. 26 Carl Dahlhaus/Norbert Miller, Europäische Romantik in der Musik, vol. 2, Stuttgart (Metzler), 2007, p. 281. 27 Ibd. 28 CARL DAHLHAUS, Die romantische Oper als Idee und als Gattung, p. 59. 29 HOFFMANN-SZM, p. 34. 30 CARL DAHLHAUS/NORBERT MILLER, Europäische Romantik in der Musik, vol. 2, p. 282. 31 HOFFMANN-SB, p. 84. 32 Thomas Betzwieser, Sprechen und Singen: Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper, Stuttgart (Metzler) 2002, p. 76.

15 zusammenhängend zu vertonen«, schuf er jedoch keine einzige durchkomponierte »symphonische Oper«33. Nach dem Wesen der Romantik in der romantischen Oper fragt auch Joachim Reiber in seinem Aufsatz Wie romantisch ist die romantische Oper? Literatur- geschichtliche Überlegung zu einem Problem der deutschen Operngeschichte. Dazu verweist er auf zwei methodische Vorgehensweisen, die aber, wie Reiber selbst bemerkt, beide ihre Schwierigkeiten haben: »Auf dem induktiven Weg hätte man zunächst ohne Wenn und Aber all das zusammenzutragen, was unter dem Etikett ›romantisch‹ auf den Bühnen des Musiktheaters gespielt worden ist. [...] Aus diesem Fundus wäre dann das allgemein Gültige, verbindlich Verbindende abzuleiten – ein uferloses, ja hoffnungsloses Unterfangen bei so disparaten Werken wie dem Lohengrin und dem Donauweibchen, der Elfenkönigin, einem ›romantischen Singspiel‹ aus dem Jahr 1793, Hans Pfitzners Rose vom Liebesgarten oder Wenzel Müllers Geist vom Hafnerberg.« 34 Demgegenüber müsse bei einem deduktiven Vorgehen »zunächst einmal grundsätzlich geklärt werden, was denn überhaupt ›romantisch‹ zu nennen sei, bevor die Definition dann auf einzelne Kunstwerke angewandt wird.«35 An Siegfried Goslichs bereits erwähntem Buch Die deutsche romantische Oper kritisiert Reiber: »Seine Wesensbestimmung der Romantik würfelt freilich Ideen und Stoffe, dichterische Motive und musikalische Erscheinungen bunt durcheinander und zeigt damit vor allem eines: daß auch der deduktive Weg ohne klare Bestimmung seines Ausgangspunkts in einen willkürlichen Zickzackkurs abdriften muß.«36 Reiber selbst verortet diesen Ausgangspunkt mit dem um 1800 entstandenen literarischen Programm von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel und von Hoffmann und weist auf »Progression« und »Transzendenz« als Leitbegriffe einer »die Schranken des Rationalismus« sprengenden und zu »neuen, unbekannten Ufern« aufbrechenden Idee hin37. So bewertet er das Libretto des Freischütz wie folgt:

Um das Ergebnis der Librettointerpretation gleich vorwegzunehmen: Der Freischütz ist tatsächlich kein romantischer Text im Sinn der einleitend dargelegten Welt- und Kunstanschauung. Mit Progression und Transzendenz, Entgrenzung und Erschließung eines romantischen Seins hat dieser Text nichts zu tun – ganz im Gegenteil: Es geht um Begrenzung, Bescheidung und die Bestätigung einer prästabilierten, hierar- chischen Weltordnung. »[...] ich wünsche«, schreibt Friedrich Kind selbst in einem Kommentar zu seinem Textbuch, »daß Hörer und Schauer die Lehre mit sich nähmen [...], Bewahre treu die Reinheit deines Herzens, so wird der Allmächtige dich bewahren!«38

Der Freischütz werde damit, so Reiber, als Lehrstück definiert, der Schlußchor verkünde die Moral. Mit dem Lehrstück hätten sich Kind und Weber von der

33 Gerhard Allroggen, E. T. A. Hoffmanns Kompositionen: Ein chronologisch-thematisches Verzeichnis seiner musikalischen Werke mit einer Einführung, Regensburg (Gustav-Bosse) 1970, p. 37. 34 Joachim Reiber, Wie romantisch ist die romantische Oper? Literaturgeschichtliche Überlegungen zu einem Problem der deutschen Operngeschichte, in: Marianne Sammer (ed.), Leitmotive: Kulturgeschichtliche Studien zur Traditionsbildung. Festschrift für Dietz-Rüdiger Moser, Kallmünz (Laßleben) 1999, pp. 307–319, hier p. 307 sq. 35 Ibd., p. 308. 36 Ibd. 37 Ibd., p. 309. 38 Ibd., p. 313. 16

»fatalistischen Tendenz« ihrer Vorlage abgesetzt 39 . Für Reiber erweist sich der Freischütz mit der exemplarischen Bekräftigung einer wiedergefundenen Ordnung als repräsentatives Stück der Restaurationszeit40. Als Gegenbeispiel beschreibt Reiber mit den künstlerischen Kriterien »Progression« und »Transzendenz« Wagners Der Fliegende Holländer, an dessen Ende »eine stumme, ratlose Gesellschaft« stehe und kein Schlußchor »eine allgemein- gültige Moral« verkünde, als »ein Werk der Durchbrechung und des Durchbruchs auch im Sinn der romantischen Welt- und Kunstanschauung«41. Als ein weiteres Beispiel führt Reiber Hoffmanns Oper Undine an, an deren Ende der Liebestod der Figur Huldbrand in der Geisterwelt im Vordergrund stehe; hier begegne der Zuschauer tatsächlich einer Vorahnung des »romantischen Seins«, wovon Hoffmann als Wesensmerkmal der romantischen Oper gesprochen habe42. In den genannten Libretti der deutschsprachigen Musiktheaterwerke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die allgemein als romantische Opern gelten, untersucht Reiber die Ideen aus der deutschen Romantik. Aber in welchem Verhältnis stehen diese romantischen Ideen mit der Gestaltung der Oper hinsichtlich der Musik? Eine Antwort gibt die Untersuchung Sprechen und Singen: Ästhetik und Erscheinungs- formen der Dialogoper von Thomas Betzwieser, der darin feststellt:

Aufgrund der spezifischen strukturellen Disposition der Dialogoper stellt die Funktionalität von Musik eine zentrale ästhetische und dramaturgische Kategorie der Gattung dar. Nicht nur die Frage, wann Musik statthat, sondern auch weshalb, wird für die Dialogoper relevant. Mit anderen Worten: dem Drama respektive dessen gesprochenen Teil muß eine Motivation für die musikalische Komponente des Werks innewohnen.43

Die Art und Weise, wie in der Dialogoper die Musik legitim motiviert werden soll, ist also hier das entscheidende Moment beim Erstellen eines Librettos. Während diese Motivation zur Musik im deutschen Singspiel des 18. Jahrhunderts vorwiegend von der Kategorie der verständlichen »Wahrscheinlichkeit« abhängt, ist diese gewisser- maßen realitätsbezogene Veranlassung zur Musik in der Dialogoper für die nach der Poesie des Wunderbaren verlangenden Romantiker nicht mehr relevant44. An der romantischen Opernästhetik als einer Kategorie des Wunderbaren beobachtet Betzwieser eine Aporie im »Gestaltwerden einer solchen poetischen Idee im Werk selbst [...]. Dieses Paradoxon konnte im konkreten Werk nur durch die Stoffwahl respektive die Kategorie des Wunderbaren (partiell) aufgelöst werden«45. Eine differenzierte Darstellung der Kategorie des Wunderbaren für die Oper im Sinne des Romantischen bietet Hoffmanns Aufsatz Der Dichter und der Komponist aus dem Jahr 1813. Darin liefert Hoffmann das Konzept für eine »wahrhaft romantische Oper«, in der »die wunderbaren Erscheinungen des Geisterreichs ins Leben« geführt werden sollten46. Hoffmanns Idee der romantischen Oper spiegelt unverkennbar das zunehmende Interesse an übernatürlichen Elementen für die Oper am Anfang des 19. Jahrhunderts wider. Im genannten Aufsatz gibt es jedoch noch

39 Ibd. 40 Ibd., p. 314. 41 Ibd., p. 318. 42 Ibd., p. 318 sq. 43 THOMAS BETZWIESER, Sprechen und Singen, p. 19. 44 Cf. ibd., pp. 70–76, hier zitiert von p. 71. 45 Ibd., p. 76. 46 HOFFMANN-SB, p. 84.

17 weitere Perspektiven, die mit Hoffmanns Gedanken des Romantischen und der Oper zusammenhängen. Dahlhaus sieht den »Begriff des Romantischen« als »das Zentrum der Hoffmannschen Ästhetik« an. Dieser Begriff sei

allerdings, wie fast alle fundamentalen Kategorien der Kunsttheorie, so weitgespannt, daß es fast unmöglich erscheint, zwischen den extrem verschiedenen Bedeutungen, die er umfaßt, einen inneren Zusammenhang zu entdecken.47

Dahlhaus’ Beobachtung von Hoffmanns Begriff des Romantischen erklärt letzt- lich die vielfaltige Natur der Romantik um 1800. Diese Vielfalt ist genau der Aspekt, unter dem die deutschsprachigen Opern vor dem Freischütz betrachtet werden können. Norbert Miller bemerkt:

Der breite Enthusiasmus, wie er durch den Erfolg des Freischütz beim Publikum wie bei der Kritik, bei der deutschen wie bei der europäischen Avantgarde, hervorgerufen wurde, hat bis heute die Musikgeschichte darüber hinweggetäuscht, daß durch die vaterländische Identifikation von Deutschtum und Romantik in der Musik mit dem Freischütz der freien Weiterentwicklung der romantischen Oper alle Möglichkeiten beschnitten wurden.48

Hoffmann komponierte alle seine Opern vor der Entstehung des Freischütz. Sein Opernschaffen bietet für die Untersuchung den Idealfall an, die von Miller angesprochenen weiteren »Möglichkeiten« der romantischen Oper zu entdecken. Ein umfassendes Verständnis der romantischen Ästhetik Hoffmanns erhält man durch seine Libretti, seine zahlreichen Rezensionen und schließlich auch durch die ästhetischen Ausführungen in seinen literarischen Werken. Dabei erweist sich Hoffmanns Doppelbegabung als Komponist und Schriftsteller nicht als Hindernis, sondern als Notwendigkeit. Wie Steven-Paul Scher darlegt, ist »eine kritische Betrachtung Hoffmanns als Musiker, Komponist und Musikkritiker [...] ohne Bezug auf sein literarisches Werk (und umgekehrt) einfach nicht zu denken«49. Klaus-Dieter Dobat beobachtet, daß sich Hoffmanns Entwicklung vom Musiker zum Schriftsteller über eine »Fiktionalisierung seiner musikalischen Überlegungen« 50 vollzog. So übertrug Hoffmann auch in seine literarischen Werke diese »musikalischen Über- legungen«, die er mit seiner romantischen Idee in der Oper teilweise realisierte. Hoffmanns Weg zur Oper als Genese der romantischen Oper kann nur umfassend diskutiert werden, wenn man seine ausformulierten Gedanken zum Romantischen berücksichtigt. Sein gedanklicher Weg zu einem Begriff des Romantischen verlief indes nicht geradlinig, sondern über Umwege, Sackgassen und Abschweifungen und zeigt ihn als einen Komponisten, der sich intensiv mit den vielfältigen und vielgestaltigen romantischen Strömungen seiner Zeit beschäftigt hat und der versuchte, diese für seine Vorstellung von Oper zu verwerten. Hoffmanns Opernschaffen aus diesem Blickwinkel darzulegen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.

47 Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber (Laaber) 1988, p. 111 sq. 48 Norbert Miller, Hoffmann und Spontini. Vorüberlegungen zu einer Ästhetik der romantischen seria, in: Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, Regensburg (Bosse) 1980, pp. 451–468. 49 Steven-Paul Scher, E. T. A. Hoffmann: Der Dichter als Komponist, in: Alain Montandon (ed.), E .T. A. Hoffmann et la musique, Bern (Peter Lang) 1987, pp. 193–203, hier p. 194. 50 Klaus-Dieter Dobat, Musik als romantische Illusion, Tübingen (Niemeyer) 1984, p. 284.