Plenarprotokoll 16/70

Deutscher

Stenografischer Bericht

70. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Inhalt:

Begrüßung des Präsidenten der Parlamentari- der Fraktion der FDP: Ratifikation des schen Versammlung des Europarates, Herrn 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen van der Linden ...... 6877 A Menschenrechtskonvention (Drucksache 16/3145) ...... 6878 C Begrüßung des neuen Abgeordneten Hans Peter Thul ...... 6877 D d) Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link (Heilbronn), Christian Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der nung...... 6877 D Fraktion der FDP: Eine Grundrechte- Absetzung der Tagesordnungspunkte 3 g und agentur der EU wird nicht gebraucht 33 a ...... 6878 A (Drucksache 16/3621) ...... 6878 C Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 6878 A e) Antrag der Abgeordneten (Köln), Rainder Steenblock, , weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 3: Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Rechte der Bürgerinnen a) Antrag der Abgeordneten , und Bürger in der EU stärken – Man- Holger Haibach, Carl-Eduard von dat der Grundrechteagentur sinnvoll Bismarck, weiterer Abgeordneter und der ausgestalten Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- (Drucksache 16/3617) ...... 6878 D ordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), , weiterer f) Antrag der Abgeordneten Volker Beck Abgeordneter und der Fraktion der SPD: (Köln), (Bremen), Grietje Stärkung der Menschenrechtspolitik Bettin, weiterer Abgeordneter und der der Europäischen Union Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksache 16/3607) ...... 6878 B GRÜNEN: Pressefreiheit als Funda- ment für die Demokratie b) Antrag der Abgeordneten Erika Steinbach, (Drucksache 16/3613) ...... 6878 D Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der h) Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Ausschusses für Menschenrechte und Hu- ordneten Christel Riemann-Hanewinckel, manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- Christoph Strässer, Klaus Brandner, weite- ordneten , Burkhardt rer Abgeordneter und der Fraktion der Müller-Sönksen, Dr. , weite- SPD: Solidarität mit verfolgten Chris- rer Abgeordneter und der Fraktion der ten und anderen verfolgten religiösen FDP: Für die mandatsgebundene Be- gleitung VN-mandatierter Friedensmis- Minderheiten sionen durch Menschenrechtsbeobach- (Drucksache 16/3608) ...... 6878 C ter c) Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, (Drucksachen 16/226, 16/2733) ...... 6879 A Burkhardt Müller-Sönksen, , weiterer Abgeordneter und in Verbindung mit II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Zusatztagesordnungspunkt 2: b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Antrag der Abgeordneten Volker Beck rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Köln), Josef Philip Winkler und der Fraktion zes zur Umsetzung des Rahmenbe- schlusses des Rates der Europäischen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Glau- bensfreiheit weltweit achten Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kin- (Drucksache 16/3614) ...... 6879 A derpornographie Dr. Frank-Walter Steinmeier, (Drucksache 16/3439) ...... 6911 D Bundesminister AA ...... 6879 B c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 6879 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Florian Toncar (FDP) ...... 6881 C zes zu dem Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen Erika Steinbach (CDU/CSU) ...... 6883 A über die Rechte des Kindes betreffend (DIE LINKE) ...... 6884 B den Verkauf von Kindern, die Kinder- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ prostitution und die Kinderpornographie DIE GRÜNEN) ...... 6885 A (Drucksache 16/3440) ...... 6911 D Christoph Strässer (SPD) ...... 6886 C d) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Markus Löning (FDP) ...... 6888 A Dr. , Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (CDU/CSU) ...... 6888 D der LINKEN: Nach dem Wiener Gipfel – Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 6890 B die Beziehungen zwischen der EU und Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . 6891 B Lateinamerika solidarisch gestalten (Drucksache 16/2602) ...... 6912 A Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 6892 C e) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. , , Tagesordnungspunkt 4: Dr. und der Fraktion der LIN- Antrag der Abgeordneten , Katja KEN: Verbesserung der Statistik zur Kipping, , weiterer Abgeordneter Lohn- und Einkommensteuer, Umsatz- und der Fraktion der LINKEN: Nein zur steuer und Erbschaft- und Schenkung- Rente ab 67 steuer (Drucksache 16/2747) ...... 6894 B (Drucksache 16/3025) ...... 6912 A Volker Schneider (Saarbrücken) f) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, (DIE LINKE) ...... 6894 C Michael Leutert, Dr. Diether Dehm, weite- Franz Müntefering, Bundesminister rer Abgeordneter und der Fraktion der BMAS ...... 6895 B LINKEN: Für einen europäischen zivi- len Friedensdienst Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 6897 D (Drucksache 16/3620) ...... 6912 A Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 6899 D g) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, DIE GRÜNEN) ...... 6902 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion Volker Schneider (Saarbrücken) der LINKEN: Illegitime Schulden von Entwicklungsländern streichen (DIE LINKE) ...... 6902 C (Drucksache 16/3618) ...... 6912 B (CDU/CSU) ...... 6904 C h) Antrag der Abgeordneten , Ulla Oskar Lafontaine (DIE LINKE) ...... 6907 B Jelpke, , weiterer Abgeordneter (SPD) ...... 6908 D und der Fraktion der LINKEN: Zugriff Anton Schaaf (SPD) ...... 6909 D von Geheimdiensten auf das Schenge- ner Informationssystem der zweiten Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 6911 A Generation verhindern (Drucksache 16/3619) ...... 6912 B Tagesordnungspunkt 32: i) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der unabhängigen Experten- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der kommission „Finanzierung Lebenslan- CDU/CSU, der SPD, der FDP und des gen Lernens“ – Der Weg in die Zukunft BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- (Drucksache 15/3636) ...... brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- 6912 C derung des Gesetzes über die Wahl des j) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bundespräsidenten durch die Bundes- Stellungnahme der Bundesregierung versammlung zum Bericht der unabhängigen Exper- (Drucksache 16/3303) ...... 6911 C tenkommission „Finanzierung Lebens- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 III

langen Lernens“ – Der Weg in die Zu- Marion Caspers-Merk, Parl. kunft (Drucksache 15/3636) Staatssekretärin BMG ...... 6923 A (Drucksache 15/5427) ...... 6912 C Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 6925 A (SPD) ...... 6926 A Tagesordnungspunkt 33: Hermann-Josef Scharf (CDU/CSU) ...... 6927 B b) Zweite und dritte Beratung des von den Dr. Margrit Spielmann (SPD) ...... 6928 B Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Christian Kleiminger (SPD) ...... 6929 B FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än- Tagesordnungspunkt 5: derung des Gesetzes zur Errichtung ei- Befragung der Bundesregierung: Arbeitspro- ner Stiftung „Erinnerung, Verantwor- gramm der deutschen EU-Ratspräsident- tung und Zukunft“ (EVZ-StiftG) schaft (Drucksachen 16/3270, 16/3634) ...... 6912 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, c) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesminister AA ...... 6930 B Bundesregierung eingebrachten Ent- (DIE LINKE) ...... 6931 B wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes 2007 Dr. Frank-Walter Steinmeier, (InvZulG 2007) Bundesminister AA ...... 6931 C (Drucksachen 16/3437, 16/3651, Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 6932 A 16/3643) ...... 6913 A Dr. Frank-Walter Steinmeier, – Bericht des Haushaltsausschusses ge- Bundesminister AA ...... 6932 B mäß § 96 der Geschäftsordnung Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/3647) ...... 6913 A DIE GRÜNEN) ...... 6932 D d) Antrag der Abgeordneten Karl-Theodor Dr. Frank-Walter Steinmeier, Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Bundesminister AA ...... 6933 B Klaeden, Dr. , wei- Markus Löning (FDP) ...... 6934 A terer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. Frank-Walter Steinmeier, CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Bundesminister AA ...... 6934 C Röspel, Dr. Rolf Mützenich, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 6935 C der SPD: Schutz vor Biowaffen verbes- Dr. Frank-Walter Steinmeier, sern – das Biowaffenübereinkommen Bundesminister AA ...... 6935 D stärken Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/3612) ...... 6913 B DIE GRÜNEN) ...... 6936 B e)–m) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Bundesminister AA ...... 6936 C schusses: Sammelübersichten 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142 und 143 zu Tagesordnungspunkt 6: Petitionen (Drucksachen 16/3527, 16/3528, 16/3529, a) Zweite und dritte Beratung des von der 16/3530, 16/3531, 16/3532, 16/3533, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 16/3534, 16/3535) ...... 6913 C eines Gesetzes zur Änderung telekom- munikationsrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 16/2581, 16/3635) ...... 6937 A Zusatztagesordnungspunkt 3: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- der FDP: Die finanzielle Situation der Pfle- gie zu dem Antrag der Abgeordneten geversicherung , Bärbel Höhn, Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und Heinz Lanfermann (FDP) ...... 6914 C der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 6915 D GRÜNEN: Mehr Wettbewerb und Ver- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 6917 A braucherschutz auf dem Telekommuni- kationsmarkt Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 6918 B (Drucksachen 16/2625, 16/3635) ...... 6937 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin DIE GRÜNEN) ...... 6919 B BMWi ...... 6937 C Willi Zylajew (CDU/CSU) ...... 6920 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 6938 C (Münster) (FDP) ...... 6921 C Martin Dörmann (SPD) ...... 6939 D IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . 6941 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 6942 B Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ rung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und DIE GRÜNEN) ...... 6943 D zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) ...... 6945 B Vorschriften (Drucksache 16/3653) ...... 6964 B Manfred Zöllmer (SPD) ...... 6946 D (CDU/CSU) ...... 6964 B Christoph Waitz (FDP) ...... 6965 C Tagesordnungspunkt 7: Dr. h. c. (SPD) ...... 6966 B – Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 6968 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ eines Gesetzes zur Strafbarkeit beharr- DIE GRÜNEN) ...... 6969 A licher Nachstellungen (... StrÄndG) (Drucksachen 16/575, 16/3641) ...... 6948 A Dr. Klaus Zeh, Minister (Thüringen) ...... 6970 C (FDP) ...... 6971 D – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Stal- Jörg Tauss (SPD) ...... 6972 D king-Bekämpfungsgesetzes Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 6974 B (Drucksache 16/1030, 16/3641) ...... 6948 A Jörg Tauss (SPD) ...... 6974 C , Bundesministerin BMJ . . . . 6948 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Jörg van Essen (FDP) ...... 6949 C (CDU/CSU) ...... 6974 D (CDU/CSU) ...... 6950 D Tagesordnungspunkt 10: Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 6953 B Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Joachim Günther (Plauen), Jens Ackermann, DIE GRÜNEN) ...... 6954 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (SPD) ...... 6955 D FDP: Liberalisierung des Sportwetten- markts in Deutschland einleiten und euro- pakonformes Konzessionsmodell vorlegen Tagesordnungspunkt 14: (Drucksache 16/3506) ...... 6976 B Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Detlef Parr (FDP) ...... 6976 C Margareta Wolf (Frankfurt), , (CDU/CSU) ...... 6977 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Detlef Parr (FDP) ...... 6979 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Partner- Bernd Heynemann (CDU/CSU) ...... 6979 D schaftliche Unternehmenskultur stärken – Mitarbeiterbeteiligung fördern Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 6980 A (Drucksache 16/2653) ...... 6957 C (SPD) ...... 6980 D Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ Detlef Parr (FDP) ...... 6981 D DIE GRÜNEN) ...... 6957 C (BÜNDNIS 90/ Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 6958 C DIE GRÜNEN) ...... 6982 C Rainer Brüderle (FDP) ...... 6960 A Dr. (SPD) ...... 6983 C (SPD) ...... 6961 B Detlef Parr (FDP) ...... 6984 C Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 6962 C Tagesordnungspunkt 11: (SPD) ...... 6963 B – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Tagesordnungspunkt 9: der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Streitkräfte an der EU-geführten Ope- tionen der CDU/CSU, der SPD und des ration „ALTHEA“ zur weiteren Stabili- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- sierung des Friedensprozesses in Bos- brachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes nien und Herzegowina im Rahmen der zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Geset- Implementierung der Annexe 1-A und 2 zes der Dayton-Friedensvereinbarung so- (Drucksachen 16/2969, 16/3638) ...... 6964 A wie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf in Verbindung mit Grundlage der Resolutionen des Sicher- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 V

heitsrates der Vereinten Nationen 1575 Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär (2004) vom 22. November 2004, 1639 BMJ ...... 7003 A (2005) vom 21. November 2005 und 1722 Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 7004 A (2006) vom 21. November 2006 (Drucksachen 16/3521, 16/3636) ...... 6984 D Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 7005 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ulrich Maurer (DIE LINKE) ...... 7006 D (Drucksache 16/3645) ...... 6985 A (BÜNDNIS 90/ Johannes Jung (Karlsruhe) (SPD) ...... 6985 B DIE GRÜNEN) ...... 7007 C Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 6986 C Joachim Stünker (SPD) ...... 7008 C (CDU/CSU) ...... 6987 A Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Dr. , Bundesminister DIE GRÜNEN) ...... 7009 B BMVg ...... 6988 A Dr. (DIE LINKE) ...... 6989 A Tagesordnungspunkt 8: Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 6989 D a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Gerd Höfer (SPD) ...... 6990 D , weiteren Abgeordneten Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ (CDU/CSU) ...... 6992 A DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Namentliche Abstimmung ...... 6994 B Opferentschädigung bei Gewalttaten Ergebnis ...... 6994 D (Drucksache 16/1067) ...... 7010 C b) Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Tagesordnungspunkt 12: Dr. , Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva der FDP: Opferentschädigung bei Ter- Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer rorakten im Ausland sicherstellen Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: (Drucksache 16/585) ...... 7010 D Heizkostenzuschüsse für einkommens- schwache Privathaushalte ermöglichen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/3351) ...... 6993 A DIE GRÜNEN) ...... 7010 D Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 6993 B Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... 7011 D (CDU/CSU) ...... 6996 B Jörg van Essen (FDP) ...... 7010 C Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 6998 A Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 6998 D BMAS ...... 7013 B Sören Bartol (SPD) ...... 6999 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 7014 B Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 7001 A Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 7015 A Sören Bartol (SPD) ...... 7001 B Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7001 D Tagesordnungspunkt 15: a) Zweite und dritte Beratung des von den Tagesordnungspunkt 13: Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes – Zweite und dritte Beratung des von der über die Festsetzung der Beitragssätze Bundesregierung eingebrachten Entwurfs in der gesetzlichen Rentenversicherung eines Zweiten Gesetzes zur Modernisie- und der Beiträge und Beitragszuschüsse rung der Justiz (2. Justizmodernisie- in der Alterssicherung der Landwirte rungsgesetz) für das Jahr 2007 (Drucksachen 16/3038, 16/3640) ...... 7002 D (Drucksachen 16/3268, 16/3637) ...... 7016 A – Zweite und dritte Beratung des von dem b) Beschlussempfehlung und Bericht des Abgeordneten Jerzy Montag und der Ausschusses für Arbeit und Soziales Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk zes zur Verlängerung von Befristungsre- Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens gelungen im Gesetz zur Entlastung der Ackermann, weiterer Abgeordneter Rechtspflege und im Einführungsgesetz und der Fraktion der FDP: Über- zur Zivilprozessordnung (Justizmoder- schüsse der Bundesagentur für Ar- nisierungsauskopplungsgesetz) beit für weitere Beitragssenkungen (Drucksachen 16/3282, 16/3640) ...... 7002 D verwenden VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

– zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 18: Brigitte Pothmer, Priska Hinz Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Petra (Herborn), Markus Kurth, weiterer Pau, Kersten Naumann, weiterer Abgeordne- Abgeordneter und der Fraktion des ter und der Fraktion der LINKEN: Entschä- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: digung für Opfer nationalsozialistischer Überschüsse der Bundesagentur für Verfolgung Arbeit für Ausbildung, Qualifizie- (Drucksache 16/3536) ...... 7035 B rung und Progressiv-Modell ver- wenden Tagesordnungspunkt 19: (Drucksachen 16/3091, 16/2509, 16/3637) 7016 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär schusses für Arbeit und Soziales BMAS ...... 7016 B – zu der Unterrichtung durch die Bundesre- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 7017 C gierung: Bericht der Bundesregierung Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 7018 D über die Beschäftigung schwerbehin- derter Menschen im öffentlichen Dienst Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 7019 B des Bundes Volker Schneider (Saarbrücken) – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus (DIE LINKE) ...... 7021 D Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Britta Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Haßelmann, weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN) ...... 7023 A der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Recht statt Pflicht – Ein- Gregor Amann (SPD) ...... 7024 A schränkungen behinderter Menschen Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) ...... 7025 A bei der Teilhabe am öffentlichen Leben entgegenwirken Tagesordnungspunkt 16: – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. , Christian Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der (Rems-Murr), , Mechthild Fraktion der FDP: Teilhabe von Men- Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der schen mit Behinderungen am öffentli- Fraktion der FDP: Fortentwicklung der In- chen Leben konsequent sichern ternationalen Rechnungslegungsstandards im Rahmen der Präsidentschaft Deutsch- (Drucksachen 16/1100, 16/1476 Nr. 1.3, 16/949, lands in EU und G 8 thematisieren 16/853, 16/2840) ...... 7035 C (Drucksache 16/3341) ...... 7026 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 7026 C Tagesordnungspunkt 20: (CDU/CSU) ...... 7027 C Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BMJ ...... 7029 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine wirksame Bleiberechtsregelung für lang- Tagesordnungspunkt 17: jährig in Deutschland geduldete Personen (Drucksache 16/3340) ...... 7036 A Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ desregierung eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN) ...... 7036 B Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments (CDU/CSU) ...... 7037 B und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 7038 D Harmonisierung der Transparenzanforde- Rüdiger Veit (SPD) ...... 7040 A rungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Han- del auf einem geregelten Markt zugelassen Tagesordnungspunkt 21: sind, und zur Änderung der Richtlinie Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 2001/34/EG (Transparenzrichtlinie-Umset- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- zungsgesetz – TUG) torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- (Drucksachen 16/2498, 16/2917, 16/3644) . . 7031 A ten Marie-Luise Dött, , Nina Hauer (SPD) ...... 7031 B (Potsdam), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- Frank Schäffler (FDP) ...... 7032 C wie der Abgeordneten , Marco (CDU/CSU) ...... 7033 B Bülow, , weiterer Abgeordne- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 VII ter und der Fraktion der SPD: Sensible Öko- Anlage 1 systeme in der Tiefsee besser schützen Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7045 A (Drucksachen 16/3089, 16/3624) ...... 7042 A

Anlage 2 Tagesordnungspunkt 22: Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten a) Beschlussempfehlung und Bericht des Jürgen Koppelin (FDP) zur Abstimmung über Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Än- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- derung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Tages- neten Hans-Michael Goldmann, Patrick ordnungspunkt 9) ...... 7045 D Döring, (Bayreuth), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Defizite im Kampf gegen Trun- Anlage 3 kenheitsfahrten in der Seeschifffahrt beseitigen Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten (Drucksachen 16/1158, 16/2736) ...... 7042 B Detlef Parr (FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung b) Antrag der Abgeordneten Rainder des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Tagesord- Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton nungspunkt 9) ...... 7046 A Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Umweltfreundliche Strom- Anlage 4 versorgung von Schiffen in Häfen un- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung terstützen des Antrags: Fortentwicklung der Internatio- (Drucksache 16/2791) ...... 7042 B nalen Rechnungslegungsstandards im Rah- men der Präsidentschaft Deutschlands in EU und G 8 thematisieren (Tagesordnungspunkt 16) Tagesordnungspunkt 23: (SPD) ...... 7046 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Europä- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 7047 A ischen Union zu der Unterrichtung durch die Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Bundesregierung: Vorschlag für eine Ver- DIE GRÜNEN) ...... 7048 B ordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäi- schen Fonds für die Anpassung an die Glo- Anlage 5 balisierung (inkl. 7301/06 ADD 1, 7301/06 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung ADD 2 und 7301/06 ADD 3) KOM (2006) 91 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung endg.; Ratsdok. 7301/06 der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen (Drucksachen 16/1207 Nr. 1.12, 16/3639) . . . 7042 D Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzan- forderungen in Bezug auf Informationen über Tagesordnungspunkt 24: Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel Erste Beratung des von der Bundesregierung auf einem geregelten Markt zugelassen sind, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG Vereinfachung des Insolvenzverfahrens (Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz – (Drucksache 16/3227) ...... 7043 A TUG) (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 7049 A Tagesordnungspunkt 25: Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7049 D Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Frak- Anlage 6 tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate des Antrags: Entschädigung für Opfer natio- Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der nalsozialistischer Verfolgung (Tagesord- Fraktion der SPD: Den Fahrradtourismus in nungspunkt 18) Deutschland umfassend fördern (Drucksache 16/3609) ...... 7043 B Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 7050 C Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 7051 B Nächste Sitzung ...... 7043 D Maik Reichel (SPD) ...... 7052 A Berichtigung ...... 7043 B, D Dr. Max Stadler (FDP) ...... 7053 A VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Jan Korte (DIE LINKE) ...... 7053 A – Antrag: Umweltfreundliche Stromversor- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ gung von Schiffen in Häfen unterstützen DIE GRÜNEN) ...... 7054 C (Tagesordnungspunkt 22 a und b) (CDU/CSU) ...... 7067 A Anlage 7 Annette Faße (SPD) ...... 7068 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Dr. (SPD) ...... 7069 C – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 7070 D rung über die Beschäftigung schwerbehin- Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 7072 A derter Menschen im öffentlichen Dienst Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ des Bundes DIE GRÜNEN) ...... 7072 C – Antrag: Recht statt Pflicht – Einschrän- kungen behinderter Menschen bei der Anlage 11 Teilhabe am öffentlichen Leben entgegen- wirken Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: – Antrag: Teilhabe von Menschen mit Be- Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- hinderungen am öffentlichen Leben kon- schen Parlaments und des Rates zur Einrich- sequent sichern tung des Europäischen Fonds für die Anpas- (Tagesordnungspunkt 19) sung an die Globalisierung (inkl. 7301/06 Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 7055 B ADD 1, 7301/06 ADD 2 und 7301/06 ADD 3) (Tagesordnungspunkt 23) Karin Evers-Meyer (SPD) ...... 7056 C (CDU/CSU) ...... 7073 B Jörg Rohde (FDP) ...... 7057 B Dr. Martin Schwanholz (SPD) ...... 7074 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 7058 D Markus Löning (FDP) ...... 7075 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 7076 D DIE GRÜNEN) ...... 7059 C Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) ...... 7077 C BMAS ...... 7060 B

Anlage 12 Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfa- Antrags: Für eine wirksame Bleiberechtsrege- chung des Insolvenzverfahrens (Tagesord- lung für langjährig in Deutschland geduldete nungspunkt 24) Personen (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 7078 A (DIE LINKE) ...... 7061 B Dirk Manzewski (SPD) ...... 7079 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Anlage 9 (FDP) ...... 7080 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 7081 C des Antrags: Sensible Ökosysteme in der Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Tiefsee besser schützen (Tagesordnungs- DIE GRÜNEN) ...... punkt 21) 7082 C Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Ingbert Liebing (CDU/CSU) ...... 7062 A BMJ ...... 7083 A Gabriele Groneberg (SPD) ...... 7063 B Dirk Becker (SPD) ...... 7063 C Anlage 13 (FDP) ...... 7064 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 7065 C des Antrags: Den Fahrradtourismus in (BÜNDNIS 90/ Deutschland umfassend fördern (Tagesord- DIE GRÜNEN) ...... 7066 A nungspunkt 25) Jürgen Klimke (CDU/CSU) ...... 7084 A Anlage 10 Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 7086 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: (FDP) ...... 7088 A – Beschlussempfehlung und Bericht: Defi- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 7089 A zite im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten Dr. (BÜNDNIS 90/ in der Seeschifffahrt beseitigen DIE GRÜNEN) ...... 7089 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6877

(A) (C) Redetext

70. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : häufigsten Gewaltakte gegen Frauen geschehen von Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kol- Männern in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld. legen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns ei- Darum begrüßen die Mitglieder des Deutschen Bun- nen guten Morgen sowie gute Beratungen. destages das Ziel dieser Kampagne ausdrücklich, Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Parla- nämlich jede Form häuslicher Gewalt vorbehaltlos zu mentarischen Versammlung des Europarates, Herr verurteilen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für van der Linden, Platz genommen. das Problem der häuslichen Gewalt zu schärfen, die Maßnahmen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt auch (Beifall) auf Ebene der nationalen Regierungen, Parlamente und Ich begrüße Sie, lieber Kollege van der Linden, und Ihre Regional- sowie Kommunalbehörden auf den Prüfstand Delegation herzlich im Namen aller Kolleginnen und zu stellen und ihr mit allen zu Gebote stehenden parla- Kollegen des Deutschen Bundestages. mentarischen Mitteln entgegenzutreten. (B) (Beifall) (D) Herr Präsident van der Linden, wir freuen uns, dass Sie kurz vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Lieber Kollege van der Linden, wir freuen uns, dass Gelegenheit zu einem offiziellen Besuch in Berlin ge- Sie trotz Ihres sehr dichten Programms Gelegenheit fin- funden haben. Wie Sie wissen, befasst sich der Deutsche den, unserer Sitzung beizuwohnen. Wir wünschen Ihnen Bundestag nicht allein dank der regelmäßigen Bericht- weiterhin interessante Gespräche und einen angenehmen erstattung der Mitglieder der deutschen Delegation bei Aufenthalt in Berlin. Wir freuen uns auf die weitere in- der Parlamentarischen Versammlung des Europarates tensive Zusammenarbeit. mit den wichtigen und aktuellen Themen der Organisa- tion. Bereits gestern ist Ihnen in den Gesprächen mit (Beifall) Mitgliedern verschiedener Ausschüsse deutlich gewor- Der Kollege Friedbert Pflüger hat am 25. November den, wie eng die parlamentarischen Beratungen Ihrer auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver- Versammlung thematisch mit denen des Bundestages zichtet. Als Nachfolger begrüße ich herzlich den Kolle- verknüpft sind. gen Hans Peter Thul. Als aktueller Beleg der engen Kooperation dient die (Beifall) Kampagne der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zum Thema „Parlamentarier vereint im Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Kampf gegen die häusliche Gewalt gegen Frauen“, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ- am Montag unter großer Medienbeachtung und in Ihrem ten Punkte zu erweitern: Beisein im spanischen Parlament feierlich gestartet ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU wurde. und der SPD: Stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Erfolg und Häusliche Gewalt ist eine der unauffälligen, aber weit Kapital von Unternehmen verbreiteten Verletzungen der Menschenrechte und muss (siehe 69. Sitzung) in allen Mitgliedstaaten des Europarates bekämpft wer- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), den. Josef Philip Winkler und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ (Beifall) DIE GRÜNEN Glaubensfreiheit weltweit achten Nach den vom Europarat zusammengetragenen Daten – Drucksache 16/3614 – haben in allen Ländern ein Viertel aller Frauen – völlig Überweisungsvorschlag: unabhängig von Alter und sozialen Milieus – mindestens Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) einmal in ihrem Leben physische Gewalt erfahren. Die Auswärtiger Ausschuss 6878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika (C) Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bis- ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser- marck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Schnarrenberger, Jörg van Essen, Mechthild Dyckmans, wei- der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Christel terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Riemann-Hanewinckel, Christoph Strässer, Klaus Justizpolitische Agenda für die deutsche EU-Ratspräsi- Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak- dentschaft 2007 tion der SPD – Drucksache 16/3622 – Solidarität mit verfolgten Christen und ande- Überweisungsvorschlag: ren verfolgten religiösen Minderheiten Rechtsausschuss (f) Innenausschuss – Drucksache 16/3608 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 3 g Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss und 33 a abzusetzen sowie die Tagesordnungspunkte 8 und 14 zu tauschen. Von der Frist für den Beginn der Be- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian ratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Jens Acker- mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus- der FDP schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- merksam: Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention Die in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich – Drucksache 16/3145 – dem Finanzausschuss (7. Ausschuss) zur Mitberatung Überweisungsvorschlag: überwiesen werden. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Unterrichtung durch die Bundesregierung Rechtsausschuss Bericht der Bundesregierung zur Modernisie- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus rungsstrategie für die deutsche Wasserwirt- Löning, Michael Link (Heilbronn), Christian Ah- schaft und für ein stärkeres internationales rendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Engagement der deutschen Wasserwirtschaft der FDP – Drucksache 16/1094 – Eine Grundrechteagentur der EU wird nicht (B) gebraucht (D) überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) – Drucksache 16/3621 – Finanzausschuss Überweisung: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Auswärtiger Ausschuss Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos- Beck (Köln), Rainder Steenblock, Omid Nouri- sen. pour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f und 3 h BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie Zusatzpunkt 2 auf: Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in der 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika EU stärken – Mandat der Grundrechteagen- Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bis- tur sinnvoll ausgestalten marck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 16/3617 – der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Chris- Überweisungsvorschlag: toph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Niels Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Auswärtiger Ausschuss der SPD Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Stärkung der Menschenrechtspolitik der f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Europäischen Union Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 16/3607 – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Pressefreiheit als Fundament für die Demo- Auswärtiger Ausschuss kratie Innenausschuss Verteidigungsausschuss – Drucksache 16/3613 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Entwicklung Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6879

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir verfolgen als Vertreter unseres Landes die Förde- (C) richts des Ausschusses für Menschenrechte und rung und die Verteidigung der Menschenrechte konse- Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag quent sowohl in unseren bilateralen Beziehungen als der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt auch in multilateralen Gremien ebenso wie in der Euro- Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Ab- päischen Union; darauf komme ich gleich zurück. Wir geordneter und der Fraktion der FDP dürfen miteinander feststellen: Im Laufe der Jahre hat die deutsche Menschenrechtspolitik durchaus unver- Für die mandatsgebundene Begleitung VN- wechselbare Markenzeichen entwickelt. Wir treten für mandatierter Friedensmissionen durch Men- die Universalität der Menschenrechte ein. Wir wenden schenrechtsbeobachter uns gegen Versuche, diese mit Hinweisen auf kulturelle – Drucksachen 16/226, 16/2733 – Traditionen oder niedrige Entwicklungsstände zu relati- vieren. Wir setzen uns für die Unteilbarkeit der Men- Berichterstattung: schenrechte, für politische, wirtschaftliche, soziale wie Abgeordnete Holger Haibach kulturelle, ein. Christoph Strässer Florian Toncar Ein aktuelles Beispiel dafür ist etwa die deutsch-spa- Michael Leutert nische Initiative zum Recht auf Wasser für alle Men- Volker Beck (Köln) schen, über die berichtet worden ist. Erst vor wenigen Tagen hat der neue Menschenrechtsrat der Vereinten Na- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker tionen diese Forderung mit großer Unterstützung aus al- Beck (Köln), Josef Philip Winkler und der Frak- len Weltregionen im Konsens angenommen. tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wir treten darüber hinaus mit Nachdruck gegen Dis- Glaubensfreiheit weltweit achten kriminierungen jeglicher Art sowie gegen Rassismus – Drucksache 16/3614 – und religiös bzw. anderweitig motivierte Intoleranz ein. Überweisungsvorschlag: Wir wollen konkrete Menschenrechtsprobleme so weit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) wie möglich auf dem Wege des Dialogs und der Zusam- Auswärtiger Ausschuss menarbeit lösen. Das funktioniert – das wissen Sie alle – Herr Kollege van der Linden, Sie sehen, wir haben nicht immer auf dem Marktplatz. Aber klar ist natürlich uns große Mühe gegeben, auch bei der Gestaltung der ebenso: Schwerwiegende und systematische Menschen- Tagesordnung den besonderen Schwerpunkten des Euro- rechtsverletzungen müssen wir offen beim Namen nen- parates Rechnung zu tragen. nen. (B) (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall im ganzen Hause) die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Mit Übernahme der Ratspräsidentschaft in der Euro- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. päischen Union übernimmt Deutschland ab dem 1. Ja- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort nuar 2007 zum einen auch dort eine gewisse Leitfunk- zunächst dem Bundesaußenminister Frank-Walter Stein- tion im Rahmen des Menschenrechtsschutzes. Ich darf meier. Ihnen versichern, dass wir alles dafür tun werden, damit die Europäische Union der Europäischen Konvention (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte bei- tritt, wie wir das im Rahmen der Diskussion um den Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des europäischen Verfassungsvertrag vorgesehen haben. Auswärtigen: Zum anderen geht es natürlich um die Schaffung ge- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und eigneter Rahmenbedingungen für die Arbeit der neuen Herren Abgeordneten! Dass die Debatte über die Lage Europäischen Grundrechteagentur. Ich darf sagen: Es der Menschenrechte heute in der Kernzeit der Parla- hat lange Diskussionen gegeben. Am Ende tragen wir, mentswoche stattfindet, ist ein Signal, das in der Öffent- die Bundesregierung, die Entscheidungen zur Schaffung lichkeit verstanden werden wird. Ich darf Ihnen versi- dieser Grundrechteagentur mit. Aber wir nehmen die chern, dass es auch von der Bundesregierung und dem Bedenken des Deutschen Bundestages sehr ernst – da- Bundesaußenminister verstanden wird. rum erwähne ich dies hier – und drängen in diesem Kofi Annan hat vor kurzem versucht, eine griffige Sinne auch in Brüssel darauf, dass sich keine Über- Formel für die Bedeutung der Menschenrechtspolitik zu schneidungen mit Menschenrechtsgremien anderer Her- finden. Er hat gesagt: ohne Sicherheit keine Entwick- kunft ergeben und vor allen Dingen kein Wirrwarr an lung, ohne Entwicklung keine Sicherheit und weder Zuständigkeiten entsteht. Ich bin der Meinung – ich Sicherheit noch Entwicklung ohne Beachtung der Men- weiß, dass viele hier im Hause dieselbe Auffassung ver- schenrechte. – Diese Zusammenhänge sind auch Leit- treten –: Die Grundrechteagentur muss den Europarat und Richtschnur für die Menschenrechtspolitik der Bun- sinnvoll ergänzen, ihn in seinen Zuständigkeiten aber desregierung und des Bundesaußenministers. nicht verdoppeln wollen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN) 6880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Die internationale Menschenrechtspolitik der EU Besuch immerhin einen Journalisten, um den wir uns be- (C) ist sichtbares Zeichen und sichtbare Auszeichnung euro- müht haben – er war zu sechs Jahren Gefängnis verur- päischer Politik geworden. Die Europäische Union teilt –, freigelassen. Sie hat jetzt angekündigt, dass das spricht heute fast überall gegenüber dritten Staaten mit Internationale Rote Kreuz wieder Zugang zu den usbeki- einer Stimme in Menschenrechtsfragen. schen Gefängnissen erhalten soll. Schließlich hat sie der Aufnahme eines Menschenrechtsdialoges mit der EU zu- Das lässt sich glaubwürdig nur dann machen, wenn gestimmt. Nicht, dass Sie mich missverstehen: Das min- wir zunächst bei uns selbst um Menschenrechtsschutz dert nicht die Vorwürfe hinsichtlich der Ereignisse von bemüht sind. Darum schicken wir zum Beispiel bei Ein- Andischan, aber immerhin: Wenn sich bewahrheitet, sätzen im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und dass aus diesen Ankündigungen Politik wird, dann wäre Verteidigungspolitik auch Menschenrechtsbeobachter das ein Schritt nach vorn. mit. Sie kümmern sich um die Beachtung der Menschen- rechte nicht nur durch Dritte, sondern auch durch das eu- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP ropäische Personal. Wir werden im Rahmen der deut- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen Ratspräsidentschaft weiter für die Abschaffung der Todesstrafe, die Bekämpfung der Folter und gegen Die dritte und vielleicht wichtigste Aufgabe steht uns den Einsatz von Kindersoldaten eintreten. bei dem neu gegründeten Menschenrechtsrat der Ver- einten Nationen bevor. Sie wissen, dass Deutschland (Beifall im ganzen Hause) auf den Wunsch vieler „Mitglied der ersten Stunde“ ge- worden ist und damit die Rahmenbedingungen der Ar- Dazu gehört, dass wir auch in Bezug auf den Schutz der beit des Menschenrechtsrates mit gestalten kann. Dann Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung klare kann die Chance bestehen, dass sich dieses neue Gre- Positionen beziehen. Gerade weil wir den Terrorismus mium mehr Glaubwürdigkeit erarbeitet, als die alte uneingeschränkt verurteilen, müssen wir bei seiner Be- Menschenrechtskommission, die aufgelöst worden ist, kämpfung auf die Einhaltung von Menschenrechten und zum Ende ihrer Arbeit hin hatte. rechtsstaatlichen Verfahren achten. Ich will mit aller Vorsicht sagen, dass sich bei der jet- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP zigen Arbeit im Menschenrechtsrat zeigt, wie viel Über- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zeugungsarbeit wir für unser Verständnis der Menschen- Als deutscher Außenminister muss ich und werde ich rechte noch zu leisten haben. Im Augenblick erleben wir, im kommenden Halbjahr sehr viele Menschenrechtsdia- wie eine Gruppe von Staaten, bei denen wir eher Defizite loge, Konsultationen zwischen der Europäischen Union im Bereich des Schutzes der Menschenrechte sehen, zu- und Drittstaaten führen. Dabei werden wir – das sage ich nehmend selbstbewusst auftritt und damit unser Ver- (B) gerade mit Blick auf die Anträge, die heute behandelt ständnis von Menschenrechten herauszufordern versucht. (D) werden – natürlich auch die Situation von Christen und Für unser Verständnis der Menschenrechte haben wir im religiösen Minderheiten auf den Tisch zu bringen und Menschenrechtsrat – das müssen Sie mit Blick auf die zu- zu verhandeln haben. Ich jedenfalls werde mich darum rückliegenden Abstimmungen klar sehen – häufig ganz bemühen – wir wollen dafür arbeiten –, dass wir nach einfach keine Mehrheit. dem Menschenrechtsdialog der EU mit China, der jetzt im Gange ist, einen solchen Dialog auch mit anderen An dieser Entwicklung sehen Sie, dass mit der Globa- Staaten zustande bringen, vielleicht am Ende auch mit lisierung Machtverschiebungen einhergehen, wodurch dem Iran, einem Staat, mit dem uns im Augenblick eher die Arbeit zum Schutz der Menschenrechte gerade in in- Konflikte und tiefe Probleme verbinden. ternationalen Gremien nicht leichter geworden ist. Das schränkt unsere Bemühungen aber nicht ein, sondern Bei den hoffentlich doch stattfindenden Verhandlun- veranlasst uns eher dazu, mit den anderen europäischen gen über eine strategische Partnerschaft mit Russland Staaten, die Mitglied des Menschenrechtsrates sind – sie – darüber wird im Augenblick in Europa gesprochen; gehören ihm allesamt an –, noch konkreter für den das wissen Sie – wird das Thema Menschenrechte eben- Schutz der Menschenrechte zu arbeiten. falls nicht ausgespart und nicht ausgespart werden kön- nen. Wir werden natürlich aussprechen, dass zu einem Präsident Dr. Norbert Lammert: Ausbau der strategischen Partnerschaft zwischen Europa Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der und Russland auch der Ausbau von Demokratie und Kollegin Däubler-Gmelin? Rechtsstaat gehört. Dasselbe gilt – das sage ich mit Blick auf meine zu- Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des rückliegende Zentralasienreise – natürlich auch für die Auswärtigen: Initiative, die Europa im Bereich seiner Zentralasien- Ja. politik vorhat. Ich hoffe, dass wir im Rahmen der deut- schen Ratspräsidentschaft dazu kommen werden, einen Menschenrechtsdialog mit Usbekistan aufzunehmen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich kann Ihnen versichern: Ich habe bei meiner Zentral- Bitte schön. asienreise selbst erlebt, wie schwierig solche Gespräche sind und wie hartnäckig man sie führen muss. Aber ich Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): habe auch festgestellt, dass sich solche Gespräche loh- Herr Bundesaußenminister, Sie beobachten wahr- nen können. Die usbekische Regierung hat nach meinem scheinlich mit der gleichen Sorge wie wir, dass eines der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6881

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Probleme des neuen Menschenrechtsrates im Abstim- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (C) mungsverhalten liegt: Es wird stärker nach Regionen ab- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gestimmt, wobei sich die Regionen an dem im Sinne un- seres Verständnisses der Menschenrechte „Langsamsten“ Präsident Dr. Norbert Lammert: und nicht an den Menschenrechten selbst, gleich ob es um Ich erteile das Wort dem Kollegen Florian Toncar, unsere oder eine globale Definition geht, orientieren. FDP-Fraktion. Nun stellen wir fest, dass die Europäische Union dieses (Beifall bei der FDP) blockweise Abstimmungsverhalten ebenfalls praktiziert. Sehen Sie eine Möglichkeit, diese Verfahren innerhalb Florian Toncar (FDP): der EU-Präsidentschaft Deutschlands im kommenden halben Jahr etwas aufzulockern, zu etwas mehr europäi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das schem Selbstbewusstsein in der Menschenrechtspolitik Thema, das wir heute diskutieren, ist ein wichtiges. Ich zu kommen? Sehen Sie, wie beispielsweise bei der Aus- möchte hinzufügen: Es ist nicht nur für das heimische handlung des Römischen Statutes, eine Möglichkeit, mit Publikum, das gewisse Erwartungen hegt, ein wichtiges like minded, mit ähnlich gesinnten Ländern aus anderen Thema, sondern für viele Menschen auf der Welt. Wir Kontinenten zu einer Abstimmung zu kommen, die sich artikulieren Menschenrechtsthemen manches Mal – so an den Menschenrechtsfragen und nicht an der Politik ein- habe ich das Gefühl – stark mit Rücksicht auf das heimi- zelner Regionen orientiert? sche Publikum, auf aktive Nichtregierungsorganisatio- nen und wir konzentrieren uns zu wenig darauf, Ergeb- nisse zu kontrollieren und zu hinterfragen. Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen: (Beifall bei der FDP) Frau Abgeordnete, das war ein zentraler Anker mei- Menschenrechte sind universelle Werte, die wir ver- ner Rede zur Eröffnung des Menschenrechtsrates, die ich treten und in deren Rahmen wir international an Min- in Genf gehalten habe. Ich kann Ihnen versichern, dass deststandards festhalten wollen. Sie sind aber auch in ich mich in dem nächsten Halbjahr deutscher Ratspräsi- unserem Interesse. Denn es ist doch jedem einsichtig, dentschaft in der Europäischen Union sehr darum bemü- dass Flüchtlingsströme und politische Instabilität, die hen werde. Ich hoffe, dass es gelingt, die manchmal auf- durch schlechte Menschenrechtssituationen in vielen tretende Nähe einzelner europäischer Staaten zu einigen Ländern auf der Welt entstehen, uns sehr schnell einho- Regionen, die eine geschlossene Abstimmung der euro- len können. Das Beispiel der USA mit deren Unterstüt- päischen Staaten im Menschenrechtsrat verhindert, auf- zung der Taliban oder anderer sehr fragwürdiger Organi- zubrechen und in Zukunft eine geschlossenere Haltung (B) sationen zeigt, dass eine menschenrechtlich blinde (D) der europäischen Staaten hervorzubringen. Politik die eigenen Sicherheitsinteressen schnell gefähr- Das ist eine der Voraussetzungen; es gibt aber noch den kann. Auch das sollte uns eine Lehre sein. andere. Frau Abgeordnete, wir müssen auch dafür kämp- (Beifall bei der FDP) fen, dass das System der Sonderberichterstatter erhal- ten bleibt, damit wir durch diese Sonderberichterstatter Wir diskutieren in Deutschland zu wenig über die eine verlässliche Beschreibung der Menschenrechts- Konsequenzen, die sich durch globale Veränderungen situation in einzelnen problematischen Ländern bekom- der jüngeren Zeit für unsere Menschenrechtspolitik erge- men. Wir müssen ein verlässliches Verfahren für eine ben. Diese Veränderungen bieten große Chancen für die regelmäßige Beschreibung der Menschenrechtslage in Menschenrechte. Das will ich gar nicht bestreiten. Das allen Staaten entwickeln. – Ich danke Ihnen. Internet, der globale Informationsaustausch, macht es Diktaturen schwerer, die eigene Bevölkerung zu kontrol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lieren und zu unterdrücken. Der internationale wissen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaftliche Austausch funktioniert auf dem Prinzip der Wenn ich noch eine letzte Bemerkung machen darf: Freiheit. Auch das ist weltweit ein großer Fortschritt. In In dem Menschenrechtsrat müssen wir gemeinsam mit vielen Ländern, die wirtschaftlich aufstreben, beispiels- den anderen europäischen Staaten die Voraussetzungen weise China, entsteht eine Art Mittelschicht, die Freiheit dafür schaffen. Das kann nur dann gelingen – das betrifft heute noch nicht so artikuliert und so versteht, wie wir auch die letzte Frage –, wenn die Tagesordnung nicht das in Europa tun. Sie braucht noch Entfaltungschancen vorsieht, dass wir in jeder Menschenrechtsratssitzung und wird diese auch einfordern. Das sind ermutigende dauerhaft und ausschließlich über den Nahostkonflikt Entwicklungen. streiten. Wir müssen das Spektrum der Befassung des Ich glaube auch, dass sich Machtverschiebungen er- Menschenrechtsrats in den nächsten Wochen und Mona- geben haben, die unsere heutigen Einflussmöglichkeiten ten deutlich erweitern. in verschiedenen Bereichen schmälern. Es handelt sich Bei all diesen Bemühungen – das gilt auch für die Be- um wirtschaftliche Machtverschiebungen, wie wir sie mühungen um die Etablierung geeigneter Rahmenbedin- beispielsweise in China erleben. Früher war es so, dass gungen für die Arbeit des Menschenrechtsrates – setze China bei der technischen Partnerschaft und Zusammen- ich auf Ihre, auf die Unterstützung des Deutschen Bun- arbeit eindeutig auf Europa angewiesen war. Das ist im- destages. mer weniger der Fall und wird sich in einigen Jahren komplett geändert haben. Dies betrifft aber nicht nur Ich danke Ihnen. China, sondern beispielsweise auch Afrika, wo viele 6882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Florian Toncar (A) Rohstoffe vorhanden sind. Länder wie der Sudan haben Drittens. Ein Aspekt wird für unsere Menschenrechts- (C) Interesse an technischer Zusammenarbeit. Hier ist es so, politik immer wichtiger, über den oft nur im wirtschafts- dass mit China eine Alternative zur Verfügung steht, die politischen Zusammenhang diskutiert wird: Wenn wir es technisches Know-how liefern kann, die investiert und nicht schaffen, unsere Rohstoffabhängigkeit, unsere Ab- keine lästigen Fragen zu den Menschenrechten stellt. hängigkeit von Importen von Öl und Gas zu verringern, Das schmälert den europäischen Einfluss dort. Wenn wir dann werden wir nicht den politischen Einfluss haben, ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir noch keine den wir in Menschenrechtsfragen gerne hätten. Insofern Lösung für dieses Problem gefunden haben. ist die Entwicklung anderer Energien, aber allerdings auch – das muss man im Hinblick auf die Grünen sagen – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ein Festhalten an Technologien wie der Kernenergie der SPD) wichtig, damit wir den Schritt weg vom Öl und weg vom Gas gehen können und außenpolitisch und menschen- Wenn man sich Deutschland anschaut, muss man ei- rechtspolitisch Fortschritte erzielen können. nes feststellen: Unsere Rohstoffabhängigkeit von ande- ren Ländern nimmt zu. Wir sind hinsichtlich unserer (Beifall bei der FDP – [BÜND- Rohstoffimporte beispielsweise von Russland und vielen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit Men- zentralasiatischen Ländern abhängig. Das ist eine Re- schenrechten zu tun?) gion, in der sich bezüglich der Menschenrechte auch im Ich will abschließend auf einen Antrag eingehen, über Jahr 2006 vieles dramatisch verschlechtert hat. Gerade den heute abgestimmt werden soll. Es geht um die Be- in Russland ist es so, dass der dortige Präsident nun gleitung von VN-Friedensmissionen durch Menschen- wahrlich kein lupenreiner Demokrat ist, sondern dass er rechtsbeobachter. Der Bundesaußenminister hat völlig bei jeder Gelegenheit alles tut, um auch nur die kleinsten zu Recht darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Ansätze von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivil- ESVP bereits Menschenrechtsbeobachter zum Einsatz gesellschaft zu zerstören. kommen. Dabei handelt es sich um Zivilisten, die die Mission begleiten und darauf achten sollen, dass das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Thema Menschenrechte bei einem Militäreinsatz im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausland angemessen berücksichtigt wird und dass die Truppen, die im Ausland eingesetzt werden, die Men- Die jüngsten Mordfälle müssen aufgeklärt werden. Man schenrechte einhalten. sollte sich vor vorschnellen Urteilen hüten, aber es ist unbestreitbar, dass kritische Geister in Russland nicht si- Ich glaube, das ist ein sehr sinnvoller Ansatz. Denn cher sind. Wer auch immer dahintersteckt, es ist zumin- egal, ob wir Truppen im Rahmen der VN oder im Rah- dest so, dass Teile der Staatsgewalt, Teile des Geheim- men der EU ins Ausland schicken, so ist eindeutig: Wir (B) dienstes offensichtlich eine Eigendynamik entwickeln, haben ein vitales Interesse daran, dass sie sich einwand- (D) die schädlich ist und auch nur Ansätze einer freiheitli- frei verhalten. Allerdings frage ich mich: Wenn wir chen Kultur in Russland zerstört. dann, wenn europäische Truppen zum Einsatz kommen, Menschenrechtsbeobachter mitschicken, warum können Wenn wir das sehen, müssen wir gleichzeitig zuge- und sollen wir das nicht auch bei einem Einsatz im Rah- ben: Wir können aufgrund unserer Rohstoffabhängigkeit men der Vereinten Nationen tun? weniger dazu sagen, als nötig wäre. Auch das ist ein stra- tegisches Problem für unsere Menschenrechtspolitik, das In diesem Zusammenhang wundert mich sehr, was wir angehen müssen. Wir müssen uns einfach einmal der Menschenrechtsausschuss zu unserem Antrag auf über das, was wir kennen, hinaus unterhalten. Es ist im- Begleitung von VN-Missionen durch Menschenrechts- mer gut, Resolutionen zu verabschieden, die Lage anzu- beobachter beschlossen hat. Das muss man sich einmal sprechen oder zu verurteilen. Aber wenn man am Ende auf der Zunge zergehen lassen: Der Verteidigungsaus- keinen politischen Druck entfalten kann, dann haben all schuss stimmt unserem Antrag zu. Im Auswärtigen Aus- schuss ist die Stimmung gemischt. Ausgerechnet der diese Deklarationen nicht den Wert und nicht den Effekt, Menschenrechtsausschuss ist der Ausschuss, der den den sie haben sollten. Insofern müssen wir uns damit be- Einsatz von Menschenrechtsbeobachtern im Rahmen schäftigen. von VN-Missionen bremst. Ich glaube, das ist kein Ruh- (Beifall bei der FDP) mesblatt für diesen Ausschuss und auch nicht für die deutsche Menschenrechtspolitik. Ich glaube, dass es drei Ansatzpunkte gibt, wie man (Beifall bei der FDP – Jörg van Essen [FDP]: Das diesem Problem begegnen kann. ist wirklich peinlich! Mehr als peinlich!) Erstens. Die deutsche Menschenrechtspolitik muss In der Beschlussempfehlung heißt es, dieser Antrag sei endlich Schwerpunkte setzen. Das tut sie bisher nicht. „von vorgestern“. Ich habe den Eindruck, diese Aussage Wenn man den Menschenrechtsbericht der Bundesregie- verdeutlicht, dass manche Kollegen nicht auf der Höhe rung liest, stellt man fest, dass er ein Gemüsegarten ist, der Zeit sind. Denn all diejenigen, die sich mit solchen in dem alle Themen gleichrangig abgehandelt werden Einsätzen beschäftigen, machen immer wieder darauf auf- und keine Priorisierung stattfindet. merksam, wie wichtig die Nutzung dieses Instruments wäre. Ich bitte Sie herzlich, in dieser Frage zu einer Zweitens. Wir müssen uns stärker auf Europa konzen- konstruktiven Menschenrechtspolitik zurückzukehren. trieren. Ich glaube, unilateral ist immer weniger mög- lich. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6883

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: der Menschenrechte dort unter den Vorbehalt der Scharia (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Steinbach, gestellt worden ist. CDU/CSU-Fraktion. Mit Saudi-Arabien, dem Iran, Somalia, den Maledi- (Beifall bei der CDU/CSU) ven und dem Jemen finden sich fünf islamische Länder auf den ersten zehn Plätzen des Weltverfolgungsindexes Erika Steinbach (CDU/CSU): der Organisation „Open Doors“. Missionierungstätigkeit Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der wird in ihnen selbstverständlich untersagt. In Saudi- Tag der Menschenrechte am 1. Dezember, also morgen, Arabien, im Jemen und im Iran steht auf den Abfall vom mahnt vor allem uns Politiker, sich an die Seite unter- Islam die Todesstrafe. Die christlichen Minderheiten drückter und verfolgter Menschen zu stellen. Der Bun- werden als ein Sicherheitsrisiko für den Staat angesehen desaußenminister hat das eben sehr eindrucksvoll getan und daher durch Einschüchterung nach Möglichkeit zur und deutlich gemacht, wie die große Koalition Men- Aufgabe ihres Glaubens oder aber zur Flucht gezwungen schenrechtspolitik betreibt. bzw. gedrängt. Es ist unübersehbar, dass in mehreren Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung die Tagtäglich werden wir alle über die Bildschirme und in Radikalisierung des Islam zu einer sehr viel stärkeren den Zeitungen mit fundamentalen Menschenrechtsverlet- Unterdrückung der dort lebenden Christen geführt hat zungen unterschiedlichster Art konfrontiert. In unserem und immer noch führt. vorliegenden Antrag widmen wir uns einer besonders verfolgten Gruppe: allen religiös verfolgten Menschen Besonders erschütternd und so desolat wie in keinem weltweit. Da die Situation der Christen heutzutage teil- anderen Land ist die Situation von Christen in der atheis- weise dramatisch ist, will ich mich heute in Solidarität mit tischen Diktatur Nordkorea. Dieses Land steht das unseren Glaubensgeschwistern in erster Linie ihrer Lage vierte Jahr in Folge an der Spitze des Weltverfolgungs- annehmen. indexes. Über 2 000 christliche Gemeinden mit 300 000 Gläubigen sind dort einfach spurlos verschwun- (Beifall bei der CDU/CSU) den. Man weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Immer wieder sickern erschreckende Berichte über öffentliche Die Religionsfreiheit ist ein Teil der individuellen Hinrichtungen von Gläubigen, Inhaftierung in Zwangs- Menschenwürde und daher ein in vielen internationalen erziehungslagern und auch über Folter durch verschie- Konventionen verankertes Menschenrecht. Die Reli- dene Kanäle zu uns durch. Allerdings sind die Informa- gionsfreiheit ist ein zentrales Ziel der Charta der Verein- tionen spärlich. ten Nationen. Sie ist festgeschrieben in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der Europäischen Auch der Blick nach China kann nicht beruhigen. (B) Menschenrechtskonvention und im Internationalen Pakt Insgesamt hat sich die Lage wohl etwas gebessert. Aber (D) über bürgerliche und politische Rechte. die Behörden unterdrücken weiterhin alle religiösen Ak- tivitäten, die über das hinausgehen, was das vom Staat Papier ist aber leider geduldig. Die Realität sieht oft- kontrollierte religiöse System zulässt. Die Mehrheit der mals völlig anders aus. Der traurige Alltag vieler Chris- Christen, die sich nicht der Kontrolle der staatlich regis- ten hat mit den schriftlich verankerten Garantien nicht trierten Kirche unterordnen will, muss ihren Glauben in mehr viel gemein. der Illegalität, in so genannten Hauskirchen ausüben. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider wahr!) Aber auch in unserer geografischen Nähe gibt es Vielmehr ist er gekennzeichnet von Diskriminierung im Handhabungen von Religionsfreiheit, die wir zumindest privaten Umfeld, von Behinderung der Religionsaus- als problematisch werten müssen. Mit besonderer Auf- übung, von Bedrängnis, von Schikane und strafrechtli- merksamkeit muss hier die Situation der Christen in der cher Verfolgung, die sogar in einem Todesurteil enden Türkei betrachtet werden. Innerhalb der letzten 90 Jahre kann. Dies machte das Gerichtsverfahren gegen den zum ist der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung Christentum konvertierten Afghanen Abdul Rahman im der Türkei durch Verfolgung und Genozid von März dieses Jahres deutlich. 30 Prozent auf 0,2 Prozent geschrumpft. Die Religions- freiheit wird zwar heute verfassungsrechtlich garantiert Religiöse Verfolgung findet heutzutage in vielen nicht und ihre Behinderung im neuen Strafgesetzbuch sogar demokratischen Gesellschaftssystemen statt; das gilt für unter Strafe gestellt – was wir sehr begrüßen –; doch die alle Religionen, insbesondere allerdings für Menschen alltägliche Diskriminierung von Christen, insbesondere christlichen Glaubens. Aber sie lässt sich nicht auf eine der syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei, bestimmte Staats- oder Gesellschaftsform begrenzen. wird dadurch nicht verhindert. Verfolgt wird sowohl in atheistischen Diktaturen als auch in religiös-totalitären Gesellschaften. In mindestens Die Gewalttätigkeiten gegenüber katholischen Geist- 50 der 200 Staaten der Welt werden heute Menschen lichen nehmen sogar zu. Trauriger Höhepunkt war die christlichen Glaubens diskriminiert oder verfolgt. Unter Ermordung des katholischen Priesters Andrea Santoro den religiös Verfolgten macht allein die Gruppe der im Februar dieses Jahres. Erzbischof Padovese hat be- Christen 80 Prozent aus. Neueste Schätzungen gehen so- richtet – das konnte man gestern im Fernsehen sehen –, gar von 90 Prozent aus. Mit der Kairoer Erklärung der dass in diesem Jahr bereits ein zweiter Anschlag auf ei- Menschenrechte der Organisation der Islamischen Kon- nen Priester verübt wurde. Der Besuch von Papst ferenz wurde der Schutz der Religionsfreiheit in islami- Benedikt machte deutlich, dass christenfeindliche schen Ländern völlig entwertet, indem die Einhaltung Demonstrationen und christenfeindliche Töne an der 6884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Erika Steinbach (A) Tagesordnung sind. Äußerst problematisch ist zudem, Einrichtung einer neuen Institution im Bereich der Men- (C) dass Kirchen in der Türkei keine Rechtspersönlichkeit schenrechte, in der immerhin 100 Mitarbeiter tätig wer- haben, also in ihrem Handeln nicht unmittelbar gesichert den sollen und die über ein Budget von 30 Millionen sind. Sie müssen vielmehr als Stiftung oder Verein ge- Euro verfügen soll. So weit, so gut. Allerdings muss ich gründet werden. In diesem Zusammenhang haben sie oft zugeben, dass ich mich einer gewissen Skepsis nicht er- mit vielfachen bürokratischen Hindernissen zu kämpfen. wehren kann. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass es auch unab- Die FDP hat heute einen Antrag vorgelegt, mit dem hängig von Beitrittsverhandlungen nötig ist, die Situa- sie versucht, diese Grundrechteagentur in letzter Minute tion der Christen gegenüber der Türkei zu thematisieren. zu verhindern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr stärkstes Argument ist, dass diese Grundrech- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- teagentur nicht unabhängig und letztendlich Teil der neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Exekutive sein wird. Dieses Argument könnte uns dazu SES 90/DIE GRÜNEN) verführen, Ihrem Antrag zuzustimmen. Aktuelle Beispiele für den oft lebensbedrohlichen Alltag (Beifall des Abg. Markus Löning [FDP]) von Christen gibt es leider viel zu viele, als dass die Zeit ausreichen würde, sie alle aufzuzählen. Ihr schwächstes Argument ist allerdings, dass diese Grundrechteagentur zu teuer ist und dass doch alles viel Abschließend will ich den Fokus nach innen, auf uns preiswerter und effektiver mit anderen Institutionen zu in Deutschland richten. Dabei geht es um unser christli- haben ist. ches Selbstverständnis. Wir leben in Deutschland auf dem Fundament des christlichen Abendlandes. Unsere (Jörg van Essen [FDP]: So ist es! – Markus Werte sind vom christlichen Glauben und von der Auf- Löning [FDP]: Lesen Sie unseren Antrag ein- klärung geprägt und Toleranz gegenüber anderen Reli- mal richtig!) gionen ist bei uns selbstverständlich. Das Bekenntnis zu Lassen Sie mich hier feststellen: Für eine Politik, die den eigenen Wurzeln gehört aber genauso nötig dazu. auf die Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte Deshalb gehören christliche Symbole unverzichtbar ausgerichtet ist, sind uns auch 30 Millionen Euro nicht nicht nur in die Privatheit in unserem Land, sondern zu viel. auch in das öffentliche Leben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme nicht darum herum, hier noch einmal zu sa- Das Verbot von Kreuzen in Gerichten oder Schulen gen, dass das Verhältnis betrachtet werden muss: (B) widerspricht unseren eigenen kulturellen Wurzeln. Das 30 Millionen Euro sind nicht einmal 10 Prozent der Kos- (D) Kreuz ist nicht politisch unkorrekt, sondern ein Symbol ten für den derzeit laufenden Militäreinsatz in Afghanis- unserer eigenen Werteordnung und Kultur. tan. Und dort geht es angeblich ja auch um Menschen- (Beifall bei der CDU/CSU) rechte. Diese 30 Millionen Euro können für uns also nicht zu viel sein. Durch diese Werteordnung ist uns auch aufgegeben, an der Seite verfolgter Christen weltweit zu stehen. Das dis- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) kriminiert andere Religionen überhaupt nicht. Aus dem Antrag der Grünen weht der Geist hervor: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen, nun müs- neten der SPD – Dr. [CDU/ sen wir sehen, was wir noch verbessern können. Die CSU]: Dieser Bekennermut ist sehr gut!) Bundesregierung soll aufgefordert werden, sich für die Schaffung dieser Institution einzusetzen. In der Zeit, in der die Grundrechteagentur auf den Weg gebracht Präsident Dr. Norbert Lammert: wurde, war die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Nächster Redner ist der Kollege Michael Leutert, Teil der Regierungskoalition. Ich frage, warum das da- Fraktion Die Linke. mals nicht geschehen ist. Das ist für mich irgendwie ty- (Beifall bei der LINKEN) pisch grün. Nichtsdestotrotz denke ich, dass wir uns heute auf Michael Leutert (DIE LINKE): Folgendes einigen können – in diesen Punkten sehe ich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am einen Konsens zwischen allen Fraktionen –: Erstens ist Umfang des jetzt zu behandelnden Tagesordnungspunk- es wichtig – darin stimmen wir mit dem Deutschen Insti- tes kann man sehen, dass uns allen die Achtung und tut für Menschenrechte überein –, dass die Grundrech- Durchsetzung der Menschenrechte ein Herzensanliegen teagentur größtmögliche Unabhängigkeit besitzt. Zwei- ist. Ich bin geneigt, etwas zu dem Antrag „Solidarität mit tens ist es wichtig, dass sich die Befugnisse der Agentur verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen auf die Kontrolle der polizeilichen und justiziellen Zu- Minderheiten“ und Ihrer Rede, Frau Steinbach, zu sagen. sammenarbeit erstrecken. Dies übernimmt allerdings mein Kollege, weil meine Wir sollten uns außerdem dafür einsetzen, dass si- Redezeit leider sehr begrenzt ist. chergestellt wird, dass die gesammelten Daten der Agen- Ich möchte etwas zu den vorliegenden Anträgen zur tur dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Grundrechteagentur der EU sagen. Es geht um die und dem Europäischen Gerichtshof zur Verfügung ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6885

Michael Leutert (A) stellt werden. Darin stimmen wir ebenfalls mit den Grü- gültig sein. Hier ist Solidarität gefragt. Oftmals besteht (C) nen überein. Richtig ist letztlich auch – auch dafür soll- unser einziges Mittel, diesen tapferen Menschen zu hel- ten wir uns einsetzen –, dass der Europarat eine bessere fen, darin, Öffentlichkeit zu schaffen und Anfragen an Finanzausstattung im Bereich der Menschenrechte erhal- die Regierungen zur Situation von Menschenrechtsakti- ten muss. visten und ihren Angehörigen zu richten. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der LINKEN) CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Im Antrag der Koalition zur EU-Ratspräsidentschaft Volker Beck ist der nächste Redner für die Fraktion wird zu Recht festgestellt, dass die größte humanitäre des Bündnisses 90/Die Grünen. Katastrophe der Gegenwart die Situation in Darfur im Sudan ist. Der Menschenrechtsausschuss hat sich ges- tern Abend damit beschäftigt und eine gemeinsame Re- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): solution mit den Stimmen der Koalition und den Grünen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus der verabschiedet, in der wir Folgendes fordern: Die Bun- Tagesordnung wird zweierlei deutlich: zum einen, dass desregierung soll eine politische Führungsrolle im Rah- das Thema Menschenrechte uns alle in diesem Haus men der EU-Ratspräsidentschaft einnehmen, um die Si- fraktionsübergreifend umtreibt, und zum anderen, dass tuation in Darfur zu lösen, um das Regime in Khartum es weltweit mit den Menschenrechten nicht zum Besten endlich dazu zu bewegen, eine internationale Schutz- bestellt ist. Wir müssen uns in dieser Debatte um sehr truppe in Darfur zu akzeptieren, die – anders als die viele Themen gleichzeitig kümmern und keinem Thema heutige AMIS-Mission mit 7 000 Mann – sowohl zah- kann man die Bedeutung absprechen. lenmäßig als auch militärisch in der Lage ist, die Men- Menschenrechtsfragen betreffen ganze Länder und schen in Darfur vor einer Fortsetzung des Völkermordes Regionen, aber auch Einzelpersonen. Deshalb will ich zu schützen. Wir haben außerdem gesagt: Die Bundes- mit einem Einzelfall beginnen, der auf ein vergessenes regierung soll, wenn es auf internationaler Ebene nicht Volk und ein vergessenes Menschenrechtsproblem ver- anders geht, die Europäische Union auffordern, Sanktio- weist. nen gegen das Regime in Darfur zu verhängen. Ich bin froh, dass diese Anregung meiner Fraktion aufgenom- Letzte Woche hatte ich meinem Büro Besuch von ei- men wurde. ner mutigen und tapferen Frau, Rebiya Kadeer, einer wichtigen Aktivistin der Uiguren, einem Volk im Osten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Chinas – früher nannte man die Region Ostturkestan –, (D) Die Koalition weist in ihrem Antrag darauf hin, dass das seit Jahren verfolgt und unterdrückt wird. Im Namen die Stationierung von UN-Truppen wesentliche Voraus- der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus wird ein setzung für die Sicherheit in der dortigen Region ist; das ganzes Volk von der chinesischen Zentralregierung un- ist richtig. Wenn die UN es auf der Grundlage eines terdrückt, gebrandmarkt und drangsaliert. sinnvollen Konzepts und in Verhandlungen mit der Re- Wir erleben es seit dem 11. September immer wieder, gierung in Khartum schafft, UN-Truppen dorthin zu dass autoritäre Regime unter dem Vorwand der Bekämp- schicken, und Deutschland gefragt ist, hierzu seinen Bei- fung des internationalen Terrorismus ganze Bevölkerun- trag zu leisten, dann dürfen wir uns nicht verweigern. gen, Völker und Religionen stigmatisieren und unter- Wenn die internationale Völkergemeinschaft in der Lage drücken. Das ist in China bei den Uiguren der Fall, in ist, einen Völkermord zu stoppen, dann kann Deutsch- Russland bei den Tschetschenen und in Usbekistan beim land nicht beiseite stehen, wenn es gefragt ist. Deshalb Umgang mit dem Aufstieg von Andischan. bin ich über einige Aussagen aus der Koalition sehr ver- wundert, mit denen Bundesverteidigungsminister Jung Die mutige Frau, die mich in meinem Büro besucht und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul aufgrund hat, erzählte mir, dass die Chinesen sie aufgefordert hät- ihrer mutigen und richtigen Worte angegriffen werden. ten, sich zwischen ihrem Volk und ihrer Familie zu ent- scheiden. Ihre Familie lebt noch in China. Sie hat mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tränen in den Augen gesagt, sie könne nicht anders, als sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter für die Rechte ihres Volkes einzustehen. In der darauf Ramsauer [CDU/CSU]: Wir wundern uns über folgenden Woche wurde sie zur Vorsitzenden der uiguri- Sie!) schen Auslandsorganisation gewählt. – Herr Ramsauer, Sie haben gesagt – und das kritisiert – Einen Tag nach der Wahl der Menschenrechtlerin man solle sich nicht äußern, bevor man gefragt werde. Kadeer zur neuen Präsidentin des Weltkongresses der Das ist richtig. Leider hat am 6. September dieses Jahres Uiguren wurde ihr Sohn in China verhaftet und zu sieben die Bundeskanzlerin, ohne gefragt zu sein, eine Beteili- Jahren Gefängnis verurteilt, angeblich wegen Steuerhin- gung Deutschlands an einer solchen Schutztruppe ver- terziehung. Ihre anderen Söhne sind ebenfalls in Haft. weigert. Das war das falsche Signal. Wir sollten viel- mehr deutlich machen, dass wir die Vereinten Nationen Herr Bundesaußenminister, ich bitte die Bundesregie- bei der Beendigung dieses Völkermords nach Kräften rung, in Peking zu demarchieren und sich nach dem unterstützen. Schicksal der Kinder von Frau Kadeer zu erkundigen. Denn so etwas darf der Weltöffentlichkeit nicht gleich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 6886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Volker Beck (Köln) (A) Frau Steinbach, Sie haben zu Recht die Solidarität mit Ich wollte noch eine ganze Reihe von Themen an- (C) verfolgten religiösen Minderheiten angemahnt. Es gibt sprechen, aber ich sehe, dass mich der Präsident wegen in der Tat in vielen Ländern keinen Respekt vor der meiner Redezeit ermahnt. Glaubensfreiheit. Glaubensfreiheit bedeutet, dass man seinen Glauben individuell praktizieren darf, dass man Vielen Dank, meine Damen und Herren. seinen Glauben in der Öffentlichkeit kollektiv, als Reli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gionsgemeinschaft ausüben darf und dass man seine Glaubensüberzeugung wechseln und zu einem anderen Glauben übertreten darf. Die Verfolgung von religiösen Präsident Dr. Norbert Lammert: Minderheiten ist weltweit ein großes Problem, aber nicht Ich erteile nun dem Kollegen Christoph Strässer für nur für Christen, sondern auch für Juden, Bahai, Alevi- die SPD-Fraktion das Wort. ten sowie – je nachdem wer gerade Mehrheitsreligion ist – sunnitische und schiitische Minderheiten. Wir soll- Christoph Strässer (SPD): ten uns auch wegen der Glaubwürdigkeit unserer Posi- tion international dafür einsetzen, dass alle religiösen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Minderheiten ihren Glauben frei ausüben können, dass Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer der sie missionieren dürfen und dass Menschen ihren Glau- größten deutschen Denker, dessen Geburtstag wir kürz- ben wechseln dürfen. Wir dürfen uns nicht allein auf die lich gefeiert haben, Immanuel Kant, hat in seiner Christen fokussieren. „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ Folgendes formuliert: Sie haben die Probleme mit der Türkei angesprochen. Meine Fraktion hat schon vor längerer Zeit in einer Klei- Der Mensch existiert als Zweck an sich selbst, nicht nen Anfrage auf die Situation der Religionsgemein- bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für die- schaften in der Türkei hingewiesen. In der Tat ist sie für sen oder jenen Willen. bestimmte christliche Minderheiten besonders schwierig, Ich glaube, dieser Gedanke der europäischen und deut- wenn sie nicht unter den Lausanner Vertrag fallen. Für schen Aufklärung ist nach wie vor Leitlinie und muss andere religiöse Minderheiten wie die Aleviten ist es ein Leitlinie des Handelns der Politik in diesen Tagen sein, Drama, weil sie noch nicht einmal als religiöse Gemein- insbesondere weil auf diesen Werten die Werte der Euro- schaft anerkannt werden. Vielmehr versucht man in der päischen Union und ihrer weiteren Vereinigungen gel- Türkei, sie im sunnitischen Mehrheitsglauben quasi un- ten. terzupflügen und sie zwangszuislamisieren, obwohl sie eine eigene religiöse Identität haben. Aber vor dieser hat Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland im Zuge (B) der türkische Staat keinen Respekt. Wir müssen in den der EU-Ratspräsidentschaft die Chance und die Pflicht, (D) Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Ge- alles dafür zu tun, den Menschenrechten weltweit mehr meinschaft dafür sorgen, dass die Türkei allen Religions- Nachdruck zu verleihen; denn auch dies gehört in das gemeinschaften die gleichen Rechte wie der sunnitischen Bewusstsein der Menschen in unserem Land: Brüssel, Glaubensmehrheit gibt. Das betrifft die Rechtspersön- die EU, hat nicht nur etwas mit Geld zu tun. Brüssel, die lichkeit, den Immobilienbesitz und die Artikulation der Europäische Union, beruht auf den Grundsätzen der Glaubensgemeinschaften im öffentlichen Raum. Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. sowie des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE Ich glaube, dies in das Bewusstsein der Bürgerinnen und LINKE]) Bürger in der Europäischen Union zu rufen, ist aller Eh- ren und aller Auseinandersetzungen wert. Frau Steinbach, Sie haben die Frage angesprochen, was das für unser Land heißt. Wenn Sie sagen, das Kreuz (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie solle im öffentlichen Raum auch von Lehrerinnen und des Abg. Florian Toncar [FDP]) Lehrern und von Menschen, die im Staatsdienst stehen, Gerade vor diesem Hintergrund bedauern wir es sehr, gezeigt werden, dann müssen Sie in gleicher Weise auch dass der Verfassungsprozess ins Stocken geraten ist, insbe- den Musliminnen zugestehen, dass sie im öffentlichen sondere nachdem sich der Deutsche Bundestag mit über- Raum das Kopftuch als Ausdruck ihres Glaubens tragen. wältigender Mehrheit für die Verfassung ausgesprochen Das gehört nicht zu unserer Kultur und es mag uns hat und weil die Übernahme der Charta der Grundrechte fremd und unverständlich sein, was da geglaubt wird; der EU in den Verfassungsvertrag aus menschenrechtli- aber wenn wir die öffentliche Artikulation von Glau- cher Sicht eine deutliche Stärkung des Menschenrechts- bensbezeugungen im staatlichen Raum zulassen, dann schutzes innerhalb der Europäischen Union bedeutet muss das für alle Religionsgemeinschaften und religiö- hätte. Deshalb bedanke ich mich dafür, dass die Bundes- sen Überzeugungen in gleicher Weise gelten. regierung gestern offensichtlich bei der Festlegung ihres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Programms für die Präsidentschaft klar gemacht hat, dass sie wesentliche Impulse zur Wiederbelebung des Wenn wir zu Recht kritisieren, dass in der Türkei die Verfassungsprozesses setzen wird. Ich glaube, das ist ein christliche Religion nicht gleichgestellt ist, dann müssen guter Schritt für die Zukunft der Europäischen Union. wir darauf hinweisen, dass auch wir ein Stück Weges vor uns haben, um den Islam mit dem Christentum und dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Judentum gleichzustellen. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6887

Christoph Strässer (A) Wenn wir im Deutschen Bundestag über Menschen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) rechte diskutieren, dann ist ein Thema – das muss es der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- auch sein – die Auseinandersetzung mit dem Kampf ge- SES 90/DIE GRÜNEN) gen den Terrorismus. Terrorismus ist ganz ohne jeden Zweifel eine der großen Bedrohungen für die menschli- Das ist ebenfalls eine wesentliche Aufgabe. che Entwicklung. Gerade in unseren hoch vernetzten Auch jenseits des Verfassungsprozesses ist der Bei- Gesellschaften ist aber auch klar: Einen absoluten tritt der Europäischen Union zur Europäischen Men- Schutz vor terroristischen Anschlägen kann und wird es schenrechtskonvention politisch erstrebenswert – ich nicht geben. Deshalb gilt für uns auch heute noch, nach begrüße außerordentlich, dass sich der Bundesaußen- 250 Jahren, die Einschätzung von Benjamin Franklin: minister dazu klar geäußert hat –, damit das Handeln der „Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird EU als solches, das viele Bürgerinnen und Bürger nicht beides verlieren.“ Auch der Deutsche Bundestag hat im- als Fortschritt empfinden, dem Menschenrechtsschutz- mer wieder bekräftigt: Terrorismusbekämpfung kann nur system des Europarates zuzuordnen ist. Mit diesem Ziel dann erfolgreich sein, wenn sie von der Wahrung der sollten wir uns ebenfalls auseinander setzen. Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit geprägt ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Von großer Bedeutung für alle europäischen Staaten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – nicht nur für die Mitgliedsländer der EU – sind die An- Auch ich möchte gern in aller Kürze etwas zur ge- erkennung und insbesondere die Implementierung der planten EU-Agentur für Grundrechte sagen. Eine sol- Europäischen Menschenrechtskonvention. Wir haben che zusätzliche Institution im Menschenrechtsschutzsys- im Deutschen Bundestag mehrfach deutlich gemacht tem macht nach meiner Überzeugung nur dann Sinn, – ich tue es an dieser Stelle erneut –: Die Entführung, die wenn mit ihr ein Mehrwert für den Menschenrechts- Folterung, auch die illegale Verbringung von Menschen schutz in Europa erreichbar ist und wenn mit ihr eben an geheime Orte innerhalb Europas oder mit Wissen keine überflüssige Konkurrenz zu existierenden und funk- oder unter Mitwirkung von Mitgliedstaaten der EU au- tionierenden Institutionen des Europarates entsteht. Die ßerhalb unseres Kontinents verstößt gegen die Europäi- im Vergleich zur bereits dargestellten Ausstattung aller In- sche Menschenrechtskonvention und ist deshalb von uns stitutionen des Europarates üppige finanzielle und perso- nicht hinzunehmen. nelle Besetzung stimmt zumindest nachdenklich. (Beifall im ganzen Hause) Ich plädiere an dieser Stelle nochmals für eine sorg- Ich möchte an dieser Stelle einige Sätze als Mitglied fältige Beratung im Europäischen Rat. Ich appelliere auch in diesem Sinne an die Bundesregierung, dafür ein- (B) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sa- (D) gen. Der Europarat ist mit seinen mittlerweile 46 Mit- zutreten, dass es hier nicht zu einer Doppelung und da- gliedstaaten Hüter der Menschenrechte in und für ganz mit zu einer Einschränkung der Wirksamkeit des Men- Europa, und dies mit einem Jahresbudget – Herr Kollege schenrechtsschutzes kommt. Leutert, ich möchte das jetzt nicht mit Afghanistan ver- (Beifall des Abg. Markus Löning [FDP]) gleichen, sondern mit einem für viele von uns viel näher liegenden Beispiel –, mit dem man in Deutschland oder Nur dann macht die EU-Agentur für Grundrechte auch in den Niederlanden – Herr Präsident van der Linden hat einen Sinn. uns gestern darauf aufmerksam gemacht – vielleicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 30 oder 40 Kilometer Autobahn bauen könnte. Das der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- zeigt, dass die Arbeit des Europarates zum Schutz der SES 90/DIE GRÜNEN) Menschenrechte nicht allzu viel Unterstützung erfährt. Ich meine, das ist verbesserungswürdig, auch während Ich möchte zum Schluss – mit einer gewissen Emo- der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. tionalität, die sich dabei einstellt – zu einem Thema Stel- lung nehmen, das der Kollege Beck angesprochen hat: (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ die Situation in Darfur. Für mich diskutieren wir hier CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nicht über einen Einsatz der Bundeswehr. Herr Kollege NEN – Beifall bei der FDP) Beck, ich teile an dieser Stelle Ihre Auffassung nicht, dass es gut und richtig ist, sich vorab festzulegen und Eine bedeutsame Institution ist nach wie vor der Dinge festzuzurren, die man anschließend begründen Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in muss. Straßburg. Nach meiner Überzeugung ist er der wich- tigste Bestandteil des europäischen Menschenrechts- Auf dem Spiel steht in der Tat die Glaubwürdigkeit schutzsystems. Aber der Erfolg hat auch seinen Preis. aller internationalen Institutionen, die sich auf eine inter- Wenn man so will: 80 000 anhängige Verfahren sind national wirksame Resolution der Vereinten Nationen nicht nur ein Beleg für eine beispiellose Erfolgsbilanz, beziehen müssen: Die Resolution 1706 muss durchge- sondern gleichzeitig auch eine enorme Belastung. Es setzt werden; daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. wäre ein verdienstvoller Beitrag der Bundesregierung Ansonsten wird nämlich das komplette Menschenrechts- während ihrer Ratspräsidentschaft, die materiellen und schutzsystem der Vereinten Nationen infrage gestellt. die finanziellen Voraussetzungen für eine Verbesserung Das dürfen wir nicht hinnehmen. Lieber Herr Außen- der Ausstattung des Europäischen Gerichtshofs für Men- minister, setzen Sie sich mit aller Kraft und unter Aus- schenrechte deutlich anzuheben. nutzung aller Möglichkeiten, die der internationalen 6888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Christoph Strässer (A) Staatengemeinschaft zur Verfügung stehen, dafür ein, Der andere Grund ist schon genannt worden – es ist (C) dass das Morden, das Plündern und das Vertreiben in schade, dass der Vorsitzende der Parlamentarischen Ver- Darfur aufhören! Das sind wir den Menschen dort schul- sammlung nicht mehr hier ist –: Der Europarat leistet dig. herausragende Arbeit im Bereich des Menschenrechts- schutzes. Danke schön. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP der SPD) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE]) Der Europarat bedarf all unserer Unterstützung, was diese Frage angeht. Präsident Dr. Norbert Lammert: Unser Antrag zielt darauf ab, dass eben nicht sinnlos Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Markus Lö- 100 Stellen in einer Grundrechteagentur geschaffen wer- ning für die FDP-Fraktion. den und sinnlos 30 Millionen Euro für diese Agentur ausgegeben werden. Sie machen es im Übrigen noch (Beifall bei der FDP) schlimmer dadurch, dass Sie den Wirkungskreis eingren- zen. Wenn die Agentur nur noch innerhalb der EU irgend- Markus Löning (FDP): etwas beobachten soll, wird es ja nicht besser, sondern Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe noch sinnloser. Wir brauchen das Geld und die Stellen Kolleginnen und Kollegen! Herr Steinmeier, Sie haben für die Unterstützung der Menschenrechtsarbeit im in Ihrer Rede die EU-Agentur für Grundrechte er- Europarat. Das würde Sinn machen. Das wäre ein klares wähnt und gesagt, Sie wollten den Bedenken des Deut- Zeichen für die Unterstützung der Menschenrechts- schen Bundestages Rechnung tragen. Tun Sie das! Wenn arbeit. Sie das tun, dann müssen Sie die Schaffung dieser Agen- (Beifall bei der FDP) tur stoppen. Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch etwas anfüh- (Beifall des Abg. Florian Toncar [FDP]) ren, was ich skandalös finde. Das richtet sich insbeson- dere an die beiden Koalitionsfraktionen, aber auch an Die Debatten in diesem Saal und in den Ausschüssen Sie, Herr Beck. Hier hätten wir als Deutscher Bundestag sind eindeutig gewesen; Entsprechendes haben Sie ge- die Chance gehabt, der Bundesregierung ein klares rade aus Ihrer eigenen Fraktion gehört. Das ist die Mei- Mandat für die Verhandlungen mitzugeben. Wir als nung dieses Hauses. Wir alle gemeinsam haben Ihnen FDP haben gesagt: Lassen Sie uns über das Thema (B) damals einen Brief geschrieben, in dem wir das sehr Grundrechteagentur heute hier abstimmen! Es wird in (D) deutlich zum Ausdruck gebracht haben. wenigen Tagen im Rat abschließend behandelt. – Aber Selbst wenn man Absprachen getroffen hat nach dem bei der Koalition herrscht ganz offensichtlich Feigheit Motto „Du bekommst dieses und du bekommst jenes; vor der eigenen Courage. Dieser Antrag soll in die Aus- die Österreicher bekommen jetzt eine Grundrechteagen- schüsse verwiesen werden. Damit äußert sich der Bun- tur“, muss gelten – ich denke, dass das auch auf europäi- destag nicht, bevor die Regierung handelt, und beraubt scher Ebene wichtig ist –: Wenn man zu der Überzeu- sich damit seiner Handlungsfähigkeit. gung gekommen ist, dass ein Beschluss überholt ist – es (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang spricht alles gegen die Grundrechteagentur! –, dann Thierse) muss man den Mut haben, auch auf europäischer Ebene solche Beschlüsse zu kassieren und eben nicht zu sagen: Wir brauchen nicht monatelang auszuhandeln, wie zu er- Nur weil wir einen Deal haben, schaffen wir eine sinn- reichen ist, dass der Deutsche Bundestag in EU-Dingen lose weitere Verwaltung. – Die Grundrechteagentur mehr zu sagen hat, wenn Sie sich die Möglichkeiten muss gestoppt werden. selbst so beschneiden, meine Damen und Herren. Was Sie hier machen, halten wir für einen Skandal. Es ist eine (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Alois Beschneidung der Rechte des Parlaments und ein Ver- Karl [CDU/CSU]) zicht auf die Nutzung eigener Möglichkeiten. Von den vielen guten Gründen, die es gibt, die Grund- Vielen Dank. rechteagentur zu stoppen, möchte ich zwei besonders (Beifall bei der FDP) ausführen:

Der eine Grund ist folgender: Der ursprüngliche Be- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schluss beruhte auf der Annahme, dass die Grund- Ich erteile das Wort Kollegen Alois Karl, CDU/CSU- rechtecharta mit der Verfassung in Kraft tritt. Wie wir Fraktion. nun wissen, tritt die Verfassung zurzeit leider nicht in Kraft – wir als Liberale würden uns das sehr wünschen –, (Beifall bei der CDU/CSU) aber damit entfällt auch die Grundlage für die Arbeit der Grundrechteagentur. Es gibt keine rechtsverbindliche Alois Karl (CDU/CSU): Grundrechtecharta in Europa und damit bedarf es auch Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten keiner Verwaltung, die sich um die Umsetzung und um Damen und Herren! Mit den heutigen Anträgen behan- die Einhaltung dieser Grundrechtecharta kümmert. deln wir Themen, die weit über die Tagespolitik hinaus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6889

Alois Karl (A) gehen. Es ist gut, dass wir im Vorfeld der deutschen (Beifall im ganzen Hause) (C) EU-Ratspräsidentschaft die Menschenrechte hier im Wir bestärken die Bundesregierung ausdrücklich in Bundestag behandeln. dem Bemühen, während der Ratspräsidentschaft den 2007 begehen wir auch das 50-jährige Bestehen der Menschenrechtsdialog mit dem Iran und China fort- Römischen Verträge. Die europäische Einigung hat zuführen oder wieder aufzunehmen. In diesem Zusam- 50 Jahre lang einen dynamischen Prozess erlebt. Zu- menhang verdient der Besuch von Bundeskanzlerin nächst standen wirtschaftliche Fragen im Vordergrund. Merkel bei Bischof Aloysius Jin in Schanghai unseren Mittlerweile hat auch die Menschenrechtspolitik den ausdrücklichen Respekt. Sie hat damit zum Ausdruck gleichen Rang erzielt. Die europäische Einigung hat uns gebracht, dass wir die Arbeit dieses unerschrockenen unendlich viel gebracht: wirtschaftlichen Wohlstand, so- Kämpfers für die Religionsfreiheit unter schwierigsten ziale Sicherheit, die Freiheit von äußeren Feinden, die Bedingungen in besonderer Weise würdigen. deutsche Einheit. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Wenn wir im nächsten Halbjahr die Menschenrechte und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in den Fokus nehmen, ist das richtig, weil sie in vielfälti- Wir wünschen auch, dass die Konsultationen mit ger Weise gefährdet sind. Frau Steinbach hat darüber ge- Russland wieder aufgenommen werden. Der russische sprochen, dass der Aspekt der Christenverfolgung ver- Präsident hat es in Tschetschenien selbst in der Hand, nachlässigt wird und die Religionsfreiheit geradezu mit unter Beweis zu stellen, dass er gewillt ist, internationale Füßen getreten wird. Dass wir heute von der größten Verträge mit ihren Menschenrechtsbindungen einzuhal- Christenverfolgung aller Zeiten sprechen, davon, dass ten. 200 Millionen Christen in 50 Ländern verfolgt werden, ist ein Faktum, das uns nicht ruhen lassen kann. Unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes finden weltweit schwerste Menschenrechtsverletzungen statt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Politisch missliebige Gegner, Angehörige ethnischer und [SPD]) religiöser Minderheiten werden oft unter dem Vorwand Auch die Situation in der Türkei, auch die Situation in des Antiterrorkampfes verfolgt. Abu Ghuraib und Guan- Afghanistan mit dem erwähnten Abdul Rahman zeigen, tanamo sind nur wenige Spitzen eines Eisberges, wo un- dass Religionsfreiheit dort oft nur auf dem Papier steht. ter Missachtung rechtsstaatlicher und menschenrechtli- Sie steht oft unter dem Vorbehalt der Scharia, ist also le- cher Gesichtspunkte Menschenrechte negiert und mit diglich zweitrangig. Füßen getreten werden. Mit dem Nachrang der Menschenrechte dürfen wir Wir danken der Bundeskanzlerin ausdrücklich, dass (B) uns allerdings nicht zufrieden geben. Menschenrechte sie das Thema Guantanamo bei ihrem Besuch in den (D) sind unteilbar. Sie gehören zu den unveräußerlichen USA so offen angesprochen hat. Rechten des Menschen. Der Staat gewährt sie ihnen we- (Beifall im ganzen Hause) der, noch nimmt der Staat Menschenrechte weg. Neben der Feigheit vor dem Feinde, meine sehr geehrten Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wissen, Damen und Herren, gibt es immer noch auch die Tapfer- Menschenrechte werden häufig verletzt, werden häufig keit vor dem Freund. Dies hat gerade ge- ignoriert. Gerade in militärischen Einsätzen ist das so. zeigt. Junge Soldaten geraten oft in für sie unbekannte Grenz- situationen. Hierauf müssen sie vorbereitet sein. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) wünschen ausdrücklich, dass junge Soldaten einem Aus- Wir ermuntern die Bundesregierung während ihrer bildungsprogramm unterzogen werden, in dem ihnen Ratspräsidentschaft auch zur Zusammenarbeit mit auch Verhaltensweisen und Verhaltensregeln antrainiert Afrika. Wir freuen uns, dass ein EU-Afrika-Gipfel unter werden, die den Menschenrechten gerecht werden. Wir deutschem Vorsitz stattfinden soll. Wir alle kennen die möchten auch, dass in künftige EU-Militärmissionen ungeheuerlichen Probleme in Afrika. Die existenzielle Menschenrechtsbeobachter integriert werden. Not von Millionen Afrikanern korrespondiert mit dem Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte sich zu Entzug fundamentaler Menschenrechte. den Leitlinien der Menschenrechte bekennen, was Kin- Auch der Beitritt von Rumänien und Bulgarien bringt der in bewaffneten Konflikten und was Todesstrafe und neue Aufgaben. In der EU leben 10 Millionen Sinti und Folter betrifft. Die Existenz von ganzen Armeen aus Roma. Förderprogramme alleine lösen die Probleme Kindersoldaten ist ein unerträglicher Zustand, eine Be- nicht. Es geht um die Integration in ihren eigenen Hei- leidigung ihrer menschlichen Würde. matländern. (Beifall im ganzen Hause) Unerträglich ist auch der Zustand einer großen Zahl Meine Damen und Herren, es ist für uns unerträglich, von Flüchtlingen, die auf den Kanarischen Inseln oder dass offensichtlich auch in europäischen Staaten über die bei Lampedusa ankommen. Sehr geehrter Herr Außen- Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert wird. Auch minister, wir bitten die Bundesregierung ausdrücklich, über die Lockerung des Folterverbotes im Antiterror- alles zu unternehmen, um diese Migrationsströme ein- kampf wird nachgedacht. Dem sollten wir als Deutscher zudämmen, um kriminellen Menschenhändlerbanden Bundestag, meine sehr geehrten Damen und Herren, ent- das Handwerk zu legen. Sie nehmen den Ärmsten alles schieden entgegentreten. und gaukeln ihnen lediglich die Illusion vor, Europa 6890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Alois Karl (A) wäre ein mit offenen Armen aufnahmebereiter Konti- Für China gilt dasselbe: Zu Recht wird ausführlich (C) nent. Gewiss sind Maßnahmen des Grenzschutzes, ver- die Verfolgung der Kirche kritisiert. Doch die brutale stärkt auch durch FRONTEX, richtig. Repressive Maß- Verfolgung der Gemeinschaft der Falun Gong, die die nahmen lösen das Problem allerdings nicht. Es müssen Hauptlast der Repression zu ertragen hat, ist Ihnen nicht auch die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern mehr als einen Satz wert. der Flüchtlinge grundlegend verbessert werden. Man kann die Verfolgung von Christen nur dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- glaubwürdig anprangern, wenn man im eigenen Land neten der SPD und der FDP) die anderen Religionen auch respektiert. In diesem Zusammenhang lobe ich auch den Einsatz (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der Bundeswehr im Kongo. Ein großer Bürgerkrieg dort des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hätte zu einem großen Exodus geführt. Die Folge wäre ein Flüchtlingsstrom auch nach Europa gewesen. Aber da hapert es bei der Union bekanntermaßen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht auf dem (Zuruf von der CDU/CSU: Bitte, was?) Feld der Menschenrechtspolitik vor vielen und großen Aufgaben. Vieles wäre zu sagen, doch kann nicht alles So brüstete sich im Berliner Wahlkampf die Neuköllner angesprochen werden. Menschenrechtspolitik ist eine Baustadträtin der CDU offen, mit dem Baurecht die Er- Querschnittsaufgabe, eine Aufgabe von besonderer richtung einer Moschee im Stadtteil blockiert zu haben. Tragweite. Ob wir unsere deutsche Ratspräsidentschaft (Zuruf von der LINKEN: So ist es!) erfolgreich gestaltet haben werden oder nicht, das wird sich auch an den Fortschritten in der Menschenrechts- Spitzenkandidat Friedbert Pflüger unterstützte die Kam- politik erweisen. Wir wünschen der Bundesregierung pagne gegen den Bau einer Moschee im Bezirk Pankow, und der Bundeskanzlerin für ihre Arbeit auf diesem schwierigen Feld alles Gute, viel Glück, Fortune und (Zuruf von der LINKEN: Das ist die Schein- Gottes Segen. heiligkeit!) Ich danke Ihnen herzlich. eine Kampagne, die bequem von den Nazis gekapert werden konnte. Am 1. April mussten wir dann mit anse- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hen, wie der örtliche CDU-Schatzmeister Lasinski Seit neten der SPD und der FDP) an Seit mit der NPD marschierte. Die Kehrseite der Medaille ist die mangelnde Bereit- (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) schaft, Verfolgten in Deutschland Asyl zu gewähren. Die Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin-Kenan Aydin, Koalitionsparteien prangern wohl die Verfolgung von Fraktion Die Linke. Christen in Pakistan an. Doch in Nordrhein-Westfalen verweigert das Land dem pakistanischen Christen Aziz Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Mirza politisches Asyl. Bekanntermaßen regiert dort die Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen und CDU. Die Innenbehörden erkennen ihn schlichtweg Kolleginnen! Die Regierungsparteien fordern in einem nicht als verfolgten Christen an. der vorliegenden Anträge die Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderhei- In ihrem Antrag ziehen die Regierungsparteien den so ten. Wer in diesem Haus sollte etwas dagegen haben? genannten Weltverfolgungsindex heran, um die Verfol- Aber es ist schon erstaunlich, mit welcher Unverblümt- gung von Christen in Nordkorea zu geißeln. Doch auf heit die Koalition bei ihrem Bekenntnis zur Religions- eine Kleine Anfrage der Linken antwortete die Bundes- freiheit zweierlei Maß anlegt. regierung, dass genau dieser Weltverfolgungsindex – ich zitiere – (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Vol- ker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Asylverfahren beim Bundesamt für Migration NEN]) und Flüchtlinge … keine praktische Relevanz In ihrem Antrag wird die Verfolgung aller anderen Reli- hat. Ich weiß nicht, wie Sie das nennen. Ich nenne es gionsgemeinschaften systematisch unter „ferner liefen“ Heuchelei, liebe Kolleginnen und Kollegen von der behandelt. Union. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Quatsch!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nehmen wir Indien, wo der Wechsel zum Christen- tum in einigen Provinzen von Repressalien begleitet Es ist schon erstaunlich, dass Sie mit dem vorliegen- wird. Dieses Phänomen ist Begleitumstand hindu-natio- den Antrag hinter die Initiative des eigenen Innenminis- nalistischer Aktivitäten, die sich in der Masse auch und ters zurückfallen. Herr Schäuble hat endlich den Dialog gerade gegen Moslems richten. Warum verschweigen mit den Vertretern des Islam in Deutschland im Rah- Sie, dass in den 90er-Jahren ein Großteil der moslemi- men einer gemeinsamen Konferenz begonnen. Anstatt schen Bevölkerung Bombays aus Angst vor mörderi- diese Initiative zu fördern und zu begrüßen, fällt den An- schen Übergriffen fliehen musste? tragstellern dazu nichts weiter ein, als – ich zitiere – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6891

Hüseyin-Kenan Aydin (A) den interkulturellen Dialog mit dem Islam … zu uns oft auf das Erbe des christlichen Abendlandes. (C) nutzen, um auch auf die Situation von Christen in Durch den Blick in die Geschichte wird aber sehr schnell Staaten mit muslimischer Mehrheit hinzuweisen. deutlich, dass auch das christliche Abendland davon nicht ausgenommen ist, dass auch im Namen des christ- Mehr ist zu dem Thema nicht zu lesen. lichen Gottes Kriege geführt und Menschen gefoltert (Beifall bei der LINKEN) und getötet worden sind. Ich frage Sie: Reduziert sich ein Dialog auf das Erheben ( [CDU/CSU]: Ihr habt immer des eigenen Zeigefingers? Haben Sie den Moslems in noch nicht kapiert, dass die Aufklärung da Deutschland nicht mehr zu sagen? war!) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein weite- Die Welt hat gelernt und Konsequenzen gezogen. Das res Thema ansprechen, das den Antragstellern offenbar wird deutlich in den verschiedensten Erklärungen zu den nicht der Rede wert war. Im Juli 1993 haben islamisti- Menschenrechten, in der Allgemeinen Erklärung der sche Fanatiker im türkischen Sivas ein gegen Aleviten Menschenrechte sowie im Zivilpakt und in vielen ande- gerichtetes Pogrom organisiert. 37 Menschen kamen da- ren internationalen Vereinbarungen, die auch Deutsch- bei grausam ums Leben. Nach Kenntnis der Bundesre- land angenommen, ratifiziert und gezeichnet hat. Den- gierung halten sich von den 76 in der Türkei verurteilten noch werden immer noch Einzelne und Gruppen wegen Attentätern elf in Deutschland auf, zum Teil als aner- ihrer Religion benachteiligt, diskriminiert, verfolgt und kannte Flüchtlinge. Bemühungen zu deren Ergreifung ermordet. Noch immer gibt es kriegerische Auseinander- sind nicht zu erkennen, obgleich Auslieferungsbegehren setzungen, die im Namen eines Gottes angedroht oder vorliegen. geführt werden. Wir haben hier heute schon verschie- dene Beispiele gehört. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Hauptproblem dabei ist immer wieder, dass die Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Religion zur Ausübung von geistiger, politischer und ökonomischer Macht missbraucht wird. An Brisanz ge- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): winnt das, wenn im Kampf um Ressourcen und politi- Ich komme zum Ende, Herr Präsident. schen Einfluss jegliche Sachargumente an Bedeutung verlieren. Oft wird das religiös verbrämt. Konflikte um Glaubensfreiheit heißt, sich weltweit für die verfolg- Interessen wandeln sich dann um in Auseinandersetzun- ten religiösen Minderheiten einzusetzen. Sie beginnt gen um Werte, Traditionen und Glaubensfragen. Da- vor der eigenen Haustür. mit bekommen politische Prozesse oft einen religiösen (B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Anstrich. Eine friedliche Konfliktlösung wird dadurch (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) erheblich erschwert. Denn das Thema Religion wird – im Gegensatz zu klar formulierten sozialen und wirt- Religionsfreiheit ist immer auch die Freiheit des Anders- schaftlichen Forderungen – kaum zum Gegenstand von gläubigen, auch in der Türkei, meine Damen und Her- Verhandlungen gemacht. ren. Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel aus Nigeria (Beifall bei der LINKEN) deutlich machen, das schon die Medien beschäftigt hat und das vielleicht manche von Ihnen kennen. Im Süden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: des Landes leben vor allem Christen, deren Einkom- Ich erteile das Wort Kollegin Christel Riemann-Hane- mensquelle der Ackerbau ist. Die Muslime im Land le- winckel, SPD-Fraktion. ben vor allem von Handel und Viehzucht; ihnen geht es (Beifall bei der SPD) wesentlich besser als den Christen. Die Auseinandersetzungen zwischen Christen und Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Muslimen haben zugenommen, weil sich die Lebensver- Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- hältnisse der Ackerbauern, die Christen sind, wesentlich legen! Meine Damen und Herren! In jeder freien und verschlechtert haben. Zum einen war dies die Folge von friedlichen Gesellschaft ist das Menschenrecht auf Reli- Wassermangel und zum anderen die Folge von Übernut- gionsfreiheit eines der wichtigsten Menschenrechte. zung der Böden. Hinzu kam, dass die Konsumgüter, die Religion gestaltet und bestimmt das Leben von Men- meist von den Muslimen angeboten werden, sehr viel schen; sie gibt Sinn, Freiheit, Entlastung, Erklärungen, teurer wurden. Außerdem sind sehr viele nigerianische Geborgenheit und schafft auch Kunst und Kultur. Und, Muslime aus dem wirtschaftlich schwachen Norden in meine Damen und Herren, Religion engt ein, macht das Zentrum bzw. in den Süden des Landes gezogen. Angst, fördert Hass und Gewalt, kann den Tod bedeuten Der Staat war nicht in der Lage, diese Konflikte zu re- und führt zu Kriegen. geln oder Perspektiven für eine gerechtere Zukunft zu Ein Blick in die Geschichte zeigt die Entwicklungen, schaffen. Stattdessen streuten Politiker Gerüchte, dass die durch Religionen möglich waren und möglich sind, die jeweils andere Religionsgruppe an den Verhältnissen zeigt aber auch, wie viele Kriege im Namen von Religio- schuld sei und dass sie politisch und ökonomisch domi- nen oder eines Gottes geführt worden sind und hin und nieren wolle. Diese Politiker haben die Menschen ihrer wieder noch geführt werden. Wir in Deutschland berufen Religionsgruppe dazu aufgerufen, sich eindeutig hinter 6892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Christel Riemann-Hanewinckel (A) sie zu stellen. Die Abgrenzung zwischen Muslimen und Dazu gehört, dass jegliche Gewalt, die von Religion aus- (C) Christen hat damit deutlich zugenommen. geht – sei es psychische, sei es physische Gewalt –, ge- ächtet werden muss. In Yelwa, einer Kleinstadt, ist es schließlich zum Aus- bruch von Gewalt gekommen, als sich eine Jugend- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gruppe durch die Missachtung eines religiösen Festes der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- durch andere Jugendliche provoziert fühlte. Sie wissen SES 90/DIE GRÜNEN) vielleicht alle, dass es in der Folge zu heftigen Aus- einandersetzungen kam, einmal ausgehend von den Das bedeutet dann für jeden Einzelnen und jede Ein- Christen und einmal ausgehend von den Muslimen. Fast zelne, immer und überall für Religionsfreiheit einzutre- 1 000 Frauen und Männer verloren dabei ihr Leben. Ge- ten, auch wenn er oder sie keiner Religion angehören schäfte und Privathäuser, Kirchen und Moscheen sind sollte. niedergebrannt worden. Viele Familien sind aus Angst Ich bin sehr gespannt auf die Diskussion, die wir im vor Verfolgung in andere Landesteile geflohen. Menschenrechtsausschuss zu den vorliegenden Anträgen An diesem Beispiel aus Nigeria zeigt sich sehr deut- führen werden. lich, wie ökonomische Probleme in einen religiösen Vielen Dank. Kontext gestellt werden und welche menschenverach- tenden Folgen das haben kann. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Gleichzeitig ist es aber auch ein Beispiel für eine ge- geordneten der FDP) lungene Versöhnung. Geistliche beider Religionen ha- ben die Bevölkerungsgruppen zu einem Gespräch über Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: das Geschehene bewegt und so ein Minimum an gegen- seitigem Vertrauen hergestellt. Gemeinsam wurden die Ich erteile das Wort Kollegen Holger Haibach, CDU/ ökonomischen, politischen und sozialen Probleme be- CSU-Fraktion. trachtet und vor allem die Mitverantwortung des (Beifall bei der CDU/CSU) Staates benannt. Dann kam es zu einer öffentlichen Erklärung, die das Holger Haibach (CDU/CSU): friedliche Zusammenleben der Bevölkerung sichern soll. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Christen und Muslime verpflichteten sich dazu, alle reli- ren! Menschenrechtsdebatte im Deutschen Bundestag giösen Stätten zu schützen und die Mitglieder anderer nach dem Motto „same procedure as every year“? Nein, (B) Religionsgruppen nicht zu diffamieren. Der nigeriani- heute ist etwas anders: Wir diskutieren erstens in der (D) sche Staat wurde aufgefordert, die wirtschaftliche Ent- Kernzeit und zweitens war der Bundesaußenminister wicklung voranzubringen, die Zahl der Analphabeten zu – das habe zumindest ich während meiner vierjährigen senken, die gesundheitliche Versorgung zu verbessern Parlamentszugehörigkeit noch nicht erlebt – nicht nur und der Jugend eine Zukunftsperspektive zu geben. zeitweilig anwesend, sondern hat auch gesprochen. Das ist ein gutes Zeichen für den Stellenwert der Menschen- Ich denke, dieses Beispiel macht sehr deutlich, wozu rechte nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch Religion auf der einen Seite missbraucht werden kann in der Bundesregierung. Dafür herzlichen Dank! und wozu Religion auf der anderen Seite im besten Sinne dienen kann. Das heißt für mich, dass Religions- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – freiheit unbedingt einen Dialog voraussetzt und dass er Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir sind da, wo er nicht vorhanden ist, gefordert und gefördert auch für kleine Fortschritte dankbar!) werden muss. Sich daran zu beteiligen sind alle – Regie- rungen und Parlamente, Kirchen und andere Organisati- Wir beschäftigen uns mit einem großen Reigen an onen – aufgefordert. Themen. Das hat den Kollegen Toncar dazu geführt, da- von zu sprechen, dass die Bundesregierung Menschen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rechtspolitik sozusagen wie in einem „Gemüsegarten“ der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE betreibe. Zu den Anträgen der FDP in den letzten Jahren GRÜNEN) muss ich allerdings sagen: Ich kann da keine besonders deutliche Konsistenz – Sie kritisieren ja, dass sie bei uns Ich möchte noch auf ein ganz aktuelles Beispiel hin- fehle – erkennen. weisen: Der Besuch des Papstes in der Türkei macht ebenfalls sehr deutlich, dass Dialog und Respekt vorein- Man sollte sich die Anträge, die Sie stellen, einmal ander dazu führen können, anders miteinander umzuge- ein bisschen genauer anschauen. Da geht es zum einen hen. um die mandatsgebundene Begleitung der UN-Missio- nen durch Menschenrechtsbeobachter. Das ist ein An- Mir ist das Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht trag – das wissen Sie genau –, den Sie schon in der letz- nur deshalb am wichtigsten, weil ich evangelische Theo- ten Legislaturperiode eingebracht haben; dies ist eine bei login und Pfarrerin bin, sondern auch, weil es ausgespro- der FDP inzwischen üblich gewordene Form des An- chen notwendig – eben Not wendend – ist, bei allen tragsrecyclings. Konflikten immer wieder darauf zu achten, dass Reli- gion nicht als Rechtfertigung von Gewalt missbraucht (Jörg van Essen [FDP]: Wir sind immer und als Deckmantel für andere Konflikte benutzt wird. aktuell!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6893

Holger Haibach (A) Bedauerlicherweise haben Sie aber Ihre Ursprungsver- Haibach. Von Ihrer Fraktion habe ich zu diesem Thema (C) sion eingebracht und nicht die, auf die wir uns schon in- nichts gehört. terfraktionell geeinigt haben. Wenn Ihnen dieses Thema (Beifall bei der CDU/CSU) so wichtig gewesen wäre, dann hätten Sie doch unseren gemeinsamen Antrag einbringen können und dann hät- Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie endlich auf, uns ten wir vielleicht anders über dieses Thema gesprochen. kollektiv in die Ecke von Intoleranz und religiöser Un- freiheit zu stellen! Wir wissen ganz genau, dass Tole- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) ranz vor Ort beginnt. Aber zur Toleranz gehört eben auch, dass wir, wenn unsere Glaubensbrüder – ich spre- Insofern glaube ich, dass wir an dieser Stelle den Bera- che jetzt einmal als Christ – in der Welt verfolgt werden, tungen und der Abstimmung darüber relativ ruhig entge- dies deutlich benennen. Auch diese Sprachlosigkeit, die gensehen können. ich da manchmal erlebe, muss aufhören. Im Übrigen will ich darauf hinweisen – denn dies ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ein guter Zeitpunkt –, dass Deutschland an dieser Stelle neten der SPD) sehr viel tut. Deutschland hat mit dem Zentrum für Inter- nationale Friedenseinsätze ein ganz hervorragendes Aus- Deswegen bin ich auch ausgesprochen dankbar dafür, bildungszentrum und mit Botschafter Däuble jemanden, dass nicht nur wir als Koalition, sondern auch die Grü- der sich im Auswärtigen Amt explizit mit Krisenpräven- nen einen Antrag zum Thema Religionsfreiheit einge- tion und ähnlichen Dingen beschäftigt. Auch das gehört bracht haben. Ihn halte ich an vielen Punkten durchaus an dieser Stelle einmal ganz deutlich gesagt. für sehr beachtlich. Umso weniger, Herr Kollege Beck, kann ich dann verstehen, was Sie heute zum Thema (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) „Gotteslästerung als Straftat“ in der „Berliner Zeitung“ geäußert haben. Ich zitiere: Zur Grundrechteagentur ist heute schon viel gesagt worden; ich will nur wenige Bemerkungen dazu ma- Ich persönlich finde, der Paragraf gehört auf den chen. Kollege Löning, natürlich ist es so, dass wir uns Misthaufen der Rechtsgeschichte. insgesamt im Deutschen Bundestag sehr kritisch mit die- (Widerspruch bei der CDU/CSU) ser Angelegenheit auseinander gesetzt haben. Ich finde, das sollten wir nicht kleinreden. Ohne uns hätte es in Wir können doch nicht ernsthaft religiöse Intoleranz Deutschland keine öffentliche Debatte über dieses durch Rechtlosigkeit und Gesetzlosigkeit bekämpfen. Thema gegeben. Ich kann nicht nachvollziehen, dass man an dieser Stelle sagt: Der Paragraf muss abgeschafft werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) neten der SPD) NEN]: Vielen Rechtsordnungen ist das fremd!) Es ist doch auch nicht so, dass wir in dieser ganzen An- Abgesehen davon finde ich: Im Zusammenhang mit Got- gelegenheit nichts erreicht hätten. Eine Debatte über das teslästerung mit dem Begriff „Misthaufen“ zu operieren Mandat, das diese Agentur haben soll, und über das Per- ist eine Unverschämtheit mit Blick auf die deutsche sonalvolumen ist doch zustande gekommen. Da kann Rechtsgeschichte. man jetzt nicht sagen: Wenn man seine Ziele nicht errei- chen kann, dann muss man die ganze Angelegenheit auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- blasen. neten der SPD und der FDP) Wenn wir darüber reden, wie wir uns in unserem Im Übrigen, Herr Kollege Leutert, 30 Millionen Euro Land und international verhalten sollen, dann ist natür- sind, gemessen an anderen Ausgaben, tatsächlich nicht lich die Frage „Wie engagiert sich Deutschland in der viel Geld. Aber auch da besteht für mich die Frage: Wo- Welt?“ wichtig. Das Thema Darfur hat gestern im Aus- für gibt man 30 Millionen Euro aus und wo lässt man schuss und heute während der Diskussion eine Rolle ge- dies? Ich glaube, dass das Geld für den Europäischen spielt. Herr Kollege Beck, ich plädiere immer sehr dafür Gerichtshof für Menschenrechte wesentlich besser an- – Sie sind ja Jurist; daher wissen Sie, was das heißt –, gelegt wäre als für diese Agentur. dass wir zwar – – (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Jörg van Essen [FDP]: Er ist nicht Jurist! Da FDP) legen wir Juristen alle Wert drauf!) Ich möchte ein paar Worte zum Thema Religionsfrei- – Er ist kein Jurist? Gut, Entschuldigung. heit sagen. Herr Kollege Aydin, ich bin es wirklich lang- Sie wissen wahrscheinlich trotzdem, was es heißt, sam leid, andauernd diese Pauschalverurteilungen ge- wenn ich sage: Wir müssen zwar in brennender Sorge genüber der CDU/CSU zu hören. Ich will Ihnen dazu ein und mit heißem Herzen, aber sine ira et studio handeln. ganz konkretes Beispiel nennen: In meinem Wahlkreis Deshalb ist die Frage, wie wir uns in Darfur engagieren, steht die kleinste Moschee in Europa. Sie hat vor zwei zweitrangig. Die erste Frage ist vielmehr: Was wollen Jahren gebrannt, weil Idioten diese Moschee angezündet wir erreichen? Da sind wir uns doch einig: Wir wollen haben. Die beiden einzigen Personen, die sich in der Öf- Frieden in diesem Land und wir wollen, dass das Mor- fentlichkeit zu diesem Thema geäußert haben, waren der den an den Menschen dort aufhört. christdemokratische Bürgermeister von Usingen und der christdemokratische Bundestagsabgeordnete Holger (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 6894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Holger Haibach (A) Folgendes will ich zum Schluss auch noch sagen: Es Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) macht mich schon besorgt, wenn der Generalsekretär der die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Vereinten Nationen, Kofi Annan, heute sagt: Der Sicher- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. heitsrat ist in der Lage, sich zu diesem Thema zu äußern. – Der Menschenrechtsrat, der ja gebildet worden Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen ist, damit er sich zu solchen Themen äußert, ist nicht in Volker Schneider, Fraktion Die Linke, das Wort. der Lage, eine Resolution dazu vorzulegen. Ich finde das (Beifall bei der LINKEN) ausgesprochen bedenklich. Ich finde es ausgesprochen schädlich mit Blick auf die gesamte Situation, dass der Menschenrechtsrat, der die Vereinten Nationen in diesen Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Fragen eigentlich antreiben sollte, das Hindernis dafür Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ist, dass es eine klare Meinungsäußerung zu diesem ren! „Rente mit 67“ bedeutet im Wesentlichen: Renten- Thema gibt. kürzung für Ältere, zusätzliche Arbeitslosigkeit für Jün- gere und den untauglichen Versuch, soziale Härten zu (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) mindern, indem man neue Ungerechtigkeiten schafft. Wenn die deutsche Politik die Chance hat, etwas zu än- (Beifall bei der LINKEN) dern, dann ist es doch während der deutschen EU-Rats- präsidentschaft und während der deutschen G-8-Präsi- Das Schlimmste ist aber, dass diese bittere Pille trotz dentschaft. Dann können wir entscheidende Schritte in solcher Risiken und Nebenwirkungen nahezu wirkungs- diesen Dingen tun. Ich bin dem Außenminister dankbar los ist. Sicher, die Menschen werden älter und beziehen dafür, dass er erwähnt hat, dass die Blockade im Men- länger Rente. Da bietet es sich doch an, diese Menschen schenrechtsrat aufhören soll und dass der Menschen- länger arbeiten zu lassen. An den Stammtischen im Sau- rechtsrat wieder der Hort des Schutzes der Menschen- erland ist das jedem klar und für jeden logisch. Seriöse rechte innerhalb der Vereinten Nationen wird. Rentenpolitik würde aber die Frage „Was bringt das?“ Herzlichen Dank. stellen. Die Sozialverbände haben schon frühzeitig ge- schätzt: maximal einen halben Beitragspunkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Immerhin fällt Ihnen noch auf, dass nicht wenige un- ter den 65-Jährigen aufgrund der physischen und/oder Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: psychischen Belastungen ihres bisherigen Arbeitslebens Ich schließe die Aussprache. kaum in der Lage sind, zwei weitere Arbeitsjahre anzu- hängen. Dieses Problem glauben Sie ganz einfach lösen (B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (D) den Drucksachen 16/3607, 16/3608, 16/3145, 16/3621, zu können, indem Sie denjenigen, die auf 45 Beitrags- 16/3617, 16/3613 und 16/3614 an die in der Tagesord- jahre kommen, weiterhin erlauben, mit 65 Jahren in nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Rente zu gehen. damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Ein einfacher Blick in die Rentenzugangsstatistik Überweisungen so beschlossen. hätte Sie warnen können, nein, warnen müssen. Er hätte Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 h: Beschluss- Ihnen gezeigt, dass Sie sich mit dieser Überlegung auf empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und dem Holzweg befinden. Herr Müntefering, der Maurer, Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/2733 zu dem von dem Sie annahmen, dass er weiterhin mit 65 Jahren Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für die in Rente gehen kann, da er auf 45 Beitragsjahre kommt, mandatsgebundene Begleitung VN-mandatierter Frie- ist schlicht ein Phantom. Statistisch betrachtet hätte die- densmissionen durch Menschenrechtsbeobachter“. Der ser aufgrund der durchschnittlichen Erwerbslosigkeits- Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/226 zeiten sein Berufsleben mit neun Jahren beginnen müs- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- sen, um die erforderlichen Beitragsjahre zu erreichen. lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- (Beifall bei der LINKEN) schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Linksfraktion und der Frak- Eine Studie der Deutschen Rentenversicherung zeigt tion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen die tatsächlichen Ergebnisse der geplanten Ausnahmen. der FDP angenommen. Ihr Plan lindert nicht Härten, er verschärft sie. Dass Ar- Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: beitnehmer mit mehr als 45 Beitragsjahren auch künftig im Alter von 65 Jahren eine Rente ohne Abschläge bean- Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus tragen können, bedeutet nach dieser Studie – ich zitiere – Ernst, , Karin Binder, weiterer Ab- „eine Umverteilung von unten nach oben, das heißt, von geordneter und der Fraktion der LINKEN den Schwächeren zu den Stärkeren.“ In den Genuss dieser Regelung werden nur selten Frauen und Geringverdiener Nein zur Rente ab 67 kommen. Profitieren werden die männlichen Gutverdie- – Drucksache 16/2747 – ner. Zudem dürfte diese Regelung verfassungswidrig Überweisungsvorschlag: sein, weil gleiche Beitragszahlungen zu deutlich unter- Ausschuss für Arbeit und Soziales schiedlichen Rentenansprüchen führen können. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6895

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Dank der Ausnahme bleiben noch bescheidene 0,2 bis zahlt, jetzt sind es 17 Jahre. Im Jahr 2030 würde, wenn (C) 0,3 Beitragspunkte Ersparnis, rechnet Ihnen die Deut- nichts passiert, 20 Jahre lang gezahlt. Wir arbeiten aber sche Rentenversicherung vor. nicht länger, sondern kürzer. Wir leben länger und relativ gesund; das ist gut. Deshalb ist die veränderte demogra- Weil Sie bei dieser Reform eine Politik aus dem fische Entwicklung im Prinzip etwas Gutes. Bauch bevorzugen, anstatt Ihren Verstand zu benutzen, ignorieren Sie auch die arbeitsmarktpolitischen Fol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gen dieses Projektes: Genau dann, wenn das Rentenein- CDU/CSU) trittsalter vollständig bei 67 Jahren liegt, kommen die geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre ins Rentenal- Aufgrund der Tatsachen, dass wir zu wenige Kinder ha- ter. Wenn zu wenig Ältere aus dem Arbeitsleben aus- ben und kürzer arbeiten, entstehen aber Probleme im so- scheiden, bedeutet das für viele Jüngere die Arbeitslo- zialpolitischen Bereich. Deshalb hat das Kabinett ges- sigkeit; es sei denn, dass an anderer Stelle gleichzeitig tern entschieden – diese Entscheidung wird von der neue Jobs entstehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Koalition mitgetragen –, die Stabilität der Alterssiche- Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat einen rung durch drei Maßnahmen weiter zu gewährleisten: Bedarf von 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen er- durch die Rentengesetzgebung, durch die Initiative rechnet. Ihre bescheidenen Einsparungen in der Renten- „50 plus“ und durch eine Altersvorsorgeregelung, über versicherung werden Sie in der Arbeitslosenversiche- die wir im Frühjahr noch genauer zu sprechen haben. rung unmittelbar verfrühstücken müssen. Ich will erstens zum Rentenversicherungsbericht, (Beifall bei der LINKEN) den wir gestern unter anderem beschlossen haben, sa- gen: Wir hatten vor einem Jahr einen Puffer von 0,1 Mo- Fazit: Die Rente mit 67 wird die Probleme der Ren- naten als Rücklage. Durch die Entwicklungen im Laufe tenversicherung nicht lösen, belastet künftige Rentnerge- des Jahres, nämlich mehr Einnahmen auch bei den Ren- nerationen und schafft himmelschreiende Ungerechtig- tenversicherungsbeiträgen und durch die 13. Zahlung, keiten und Arbeitslosigkeit. Die Bundesregierung steht haben wir inzwischen eine Rücklage von einem halben daher zu Recht einer breiten Ablehnungsfront gegen- Monat. Wir haben eine neue zusätzliche Stabilität im Be- über. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und folgen Sie reich der Rentenversicherung geschaffen. Aufgrund un- unserem Antrag. seres Handelns wird der Rentenversicherungsbeitrag in Danke schön. Höhe von 19,9 Prozent bis zum Jahr 2020 stabil bleiben. Der Rentenniveausatz wird bei 46 Prozent oder mehr. (Beifall bei der LINKEN) Das sind die Ergebnisse der Politik dieses Jahres und der vergangenen Jahre. Darauf sind wir stolz. Diese Zahlen (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sind auch ansteigend für die Zukunft. Aber die Men- (D) Ich erteile das Wort dem Bundesminister Franz schen sind belastbar. Wir sagen ihnen rechtzeitig, was Müntefering. uns die Zukunft bringt. Denn nur wenn man rechtzeitig über diese Dinge spricht, können die Menschen sich ent- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sprechend darauf einstellen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales: Was haben wir getan? Wir erhöhen das Rentenein- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und trittsalter von 65 auf 67 Jahre. Dieser Prozess beginnt im Herren! Die Alterssicherung in Deutschland ist vorbild- Jahre 2012 und ist bis zum Jahre 2029 abgeschlossen. lich. Diejenigen, die 45 Pflichtbeitragsjahre haben, können unverändert mit 65 die Rente ohne Abschlag bekommen. (Widerspruch bei der LINKEN) Die, die 35 Versicherungsjahre haben, können mit Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. All denjeni- 63 vorgezogen in die Rente gehen. Das heißt, es wird ein gen, die jetzt aufstöhnen, sage ich: Schauen Sie sich ein- Renteneintrittsfenster – bisher lag es bei 60 bis 65 – von mal in anderen Ländern um. Es ist kein Zufall, dass 63 bis 67 eröffnet. Das ist die Entwicklung. diese auf Deutschland schauen. Das System der Alterssi- Angesichts der Alterung der Gesellschaft, angesichts cherung in Deutschland ist vorbildlich und das wird auch der demografischen Entwicklung ist das eine vernünftige so bleiben. Größenordnung. Deshalb sind wir uns sicher, dass das, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten was wir machen, helfen wird, die Rente in Zukunft stabil der CDU/CSU) zu halten, und dazu beiträgt, auch den zukünftigen Gene- rationen eine größere Sicherheit zu geben. Wer das aber will, muss jetzt handeln. Verantwor- tungsvolle Politik ist kein Wunschkonzert. Sie fängt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) vielmehr damit an, dass man die Wahrheit sagt und die Wir mussten in diesem Zusammenhang auch eine Situation beschreibt. Nur darauf aufbauend kann man für Entscheidung zur Altersteilzeit, zum Stichtag, treffen. die Zukunft vernünftige Politik machen. Es geht um die Frage, bis wann individualisierte Alters- Die veränderte demografische Entwicklung ist Re- teilzeitverträge abgeschlossen werden können, ohne dass alität. Daran kommt man nicht vorbei. In den 60er-Jah- das schon auch seine Wirkungen hat im Bereich des An- ren wurde im Durchschnitt zehn Jahre lang Rente ge- stiegs 2012 und in den Folgejahren. Die Fraktionsspitzen 6896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Bundesminister Franz Müntefering (A) der Koalition haben sich gestern Morgen darauf verstän- den ihre Probleme immer besser lösen können. Die Zahl (C) digt, den 31. Dezember dieses Jahres als Stichtag zu der Bedarfsgemeinschaften sinkt. Diesen Weg werden nehmen. Dem sind wir gefolgt. wir in 2007 weitergehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Im Jahre 2007 wird Deutschland ein relativ hohes der CDU/CSU) Wachstum zu verzeichnen haben; für das letzte Quartal dieses Jahres wurden mehr als 3 Prozent Wachstum pro- Wir haben im Kabinett festgelegt, dass die Frist zum gnostiziert. Wir wollten mit dieser Entwicklung im 31. Dezember dieses Jahres abläuft. nächsten Jahr in Deutschland zu einer weiteren Reduk- Zweitens haben wir gestern eine Entscheidung für ei- tion der Arbeitslosigkeit kommen. Das ist das erste Ziel nen Antrag zur Initiative „50 plus“ getroffen. Dieser dieser Koalition. Ich sage Ihnen: Wir werden es errei- Antrag gibt eine gute Gelegenheit, auf die aktuelle Situa- chen. Und das wird uns helfen an allen Stellen. tion am Arbeitsmarkt zu sprechen zu kommen. Jetzt zur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Stunde werden die aktuellen Zahlen veröffentlicht. Seit langer Zeit liegt die Zahl der Arbeitslosen wieder unter Mit der Initiative „50 plus“ schlagen wir vor, dass so- 4 Millionen; es sind 3,995 Millionen. wohl durch den Kombilohn als auch durch Eingliede- rungszuschüsse, Weiterbildung und befristete Beschäfti- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gung zusätzliche Impulse gegeben werden. Jemand, der Das heißt, dass wir die Arbeitslosenzahl von Oktober auf älter als 50 Jahre ist und arbeitslos wird, soll möglichst November noch einmal um 90 000 gesenkt haben. Das schnell wieder in Arbeit kommen und auch eine solche ist für einen November eine völlig ungewöhnliche Ent- Arbeit annehmen, die möglicherweise schlechter als wicklung. Wir hatten schon öfter im Oktober und No- seine vorherige bezahlt wird. Denn wir müssen verhin- vember gutes Wetter; ich kenne ja schon die Ausreden, dern, dass die Menschen vom Arbeitslosengeld I in woran das alles gelegen haben mag. Arbeitslosengeldes II fallen. 50-, 55- und 60-Jährige, die einen oder zwei oder drei Monate arbeitslos sind, sind (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es lag am we- noch gut vermittelbar. Wenn sie ein oder zwei Jahre nigsten an der Bundesregierung!) draußen sind, wird das immer schwieriger. Deshalb sa- – Sie müssen sich nicht mitfreuen, Herr Kolb, aber wir gen wir: Nimm auch den Job, der dir netto weniger freuen uns darüber. bringt. Wir zahlen im ersten Jahr 50 Prozent und im zweiten Jahr 30 Prozent dazu, damit du diese Brücke in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) neue Beschäftigung dann auch nimmst. Etwa 550 000 Menschen mehr als vor einem Jahr ha- Nach dem Senioritätsprinzip, das in unser aller (B) ben zurzeit Arbeit, sind nicht arbeitslos. Das ist eine (D) Köpfe ist, hat ein Älterer immer die höhere Position und kleine Großstadt in Deutschland. Eine solche Entwick- den höheren Lohn. Das wird es in Zukunft in dieser lung beinhaltet natürlich auch, dass die Zahl der arbeits- Form nicht mehr geben. Auch das müssen wir den Älte- losen Älteren deutlich reduziert ist. In der Entwicklung ren signalisieren. Altersgerechte Arbeit wird nicht im- im November ist vor allen Dingen Folgendes interessant: mer die am höchsten bezahlte Arbeit sein, sondern das Von den 90 000 weniger Arbeitslosen kommen wird sich stärker mischen zwischen den einzelnen Gene- 30 000 aus dem Bereich Arbeitslosengeld I und 60 000 aus rationen. Und deshalb ist das – so wie die Eingliede- dem Bereich der Langzeitarbeitslosen, der Arbeitslosen- rungszuschüsse auch – ein vernünftiger Weg. geld-II-Empfänger. Und das ist die wichtigste und hoff- nungsvollste Entwicklung, die wir überhaupt haben. Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die Weiterbil- dung. In Deutschland nehmen 9 Prozent der über 50-Jäh- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) rigen an Weiterbildungsmaßnahmen teil, in Skandinavien Wir können zwar über alle Möglichkeiten, wie man sind es 70 Prozent. Wenn die großen Unternehmens- den Niedriglohnsektor organisieren kann, reden. Aber es verbände darauf hinweisen, dass ihnen 15 000 oder ist im Wesentlichen immer „Linke Tasche, rechte Ta- 20 000 Ingenieure fehlen, und dann fordern, dass wir das sche“. Wirklich lösen kann man dieses Problem nur da- Tor öffnen sollen, damit sie die fehlenden Ingenieure aus durch, dass man Arbeit schafft. Dass man den Menschen anderen Ländern holen können, dann sage ich: Nein, das Gelegenheit gibt, ihr Leben selbst zu finanzieren. Dafür will ich nicht. Ich weiß: In einer globalisierten Welt wer- kämpfen wir. den Deutsche im Ausland und Ausländer bei uns arbei- ten. Das ist für beide Seiten sinnvoll. Aber wir müssen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie unsere Probleme mit den Menschen, die im Lande sind, bei Abgeordneten der LINKEN) lösen. Und dafür haben wir eine Menge erreicht – aus dem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Jahr 2005 auch mit den Wirkungen der Arbeitsmarkt- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE reformen. GRÜNEN) (Anton Schaaf [SPD]: Ja! So ist das!) Die Unternehmen sollen 50- oder 55-Jährige nicht nach Sie können sagen, was Sie wollen: Das, was wir nun auf- Hause schicken, sondern dafür sorgen, dass rechtzeitig gestellt haben, führt dazu – und zwar zunehmend –, dass qualifiziert und weitergebildet wird, damit die Men- wir eine hochleistungsfähige Bundesagentur für Arbeit schen, die noch etwas leisten können, auch eine Chance haben und dass die Argen und die optierenden Gemein- haben, im Erwerbsleben zu bleiben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6897

Bundesminister Franz Müntefering (A) Wir wollen den Älteren Folgendes sagen – und die In diesen Tagen sprechen manche über einen Inves- (C) Arbeitslosenzahlen beweisen es: Wir sind auf dem rich- tivlohn, über eine Beteiligung an Gewinn und Kapital. tigen Weg. Das Renteneintrittsalter wird vom Jahre 2012 Ich bin völlig offen für so etwas; darüber kann man spre- bis zum Jahr 2029 schrittweise auf 67 Jahre erhöht. Wir chen. Aber ich appelliere, zwei Dinge zu bedenken: Ers- werden auf dem Weg alles dafür tun, dass die Älteren tens. Anständige Löhne. auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Wir wollen im Jahre 2009 so weit sein, dass nicht mehr nur 45 Prozent, (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Rita Pa- sondern 50 Prozent der über 55-Jährigen wieder in Be- welski [CDU/CSU]) schäftigung sind. Es ist doch unglaublich, dass heutzu- 3,18 Euro für Friseurinnen in Thüringen, das geht nicht. tage 55 Prozent derer, die 55 Jahre oder älter sind, in Zweitens. Beim Abschluss von Tarifverträgen darf nicht Deutschland nicht mehr in Beschäftigung sind. Das kön- vergessen werden, diese zumindest teilweise auf die Al- nen wir uns nicht leisten. tersvorsorge auszurichten. Wir müssen alle Kräfte bün- deln, damit diese Säule der Altersvorsorge vernünftig (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ausgebaut wird. Wenn man bestimmte Verträge sieht, bei Abgeordneten der LINKEN und des etwa bei den Metallern in Nordrhein-Westfalen, dann BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stellt man fest: Es wird ganz vernünftig gemacht. Das ist deutsche Facharbeiterschaft. Die kann etwas. Unterm Strich sage ich: Auf dem Arbeitsmarkt findet Und die muss auch in Zukunft eine Chance behalten. eine gute, eine ungewöhnliche, eine schöne Entwicklung Dafür kämpfen wir in dieser Koalition. statt, die Mut macht, die aber auch zu noch mehr An- strengungen herausfordert. Wir werden auch was die Al- Der Finanzminister und ich haben gestern auch über terssicherung angeht in dieser Koalition – da bin ich die Altersvorsorge gesprochen. Zu diesem Thema kann ganz sicher – ein rundes Bild entwickeln von dem, was ich jetzt nur noch wenige Anmerkungen machen. Es ist nötig ist. Das wird anstrengend sein. Aber es wird er- aber wichtig; denn es macht das Bild komplett. Wir müs- folgreich sein. Und wir werden letztlich vor den Men- sen neben die gesetzliche Altersrente – das bleibt der schen bestehen, die kritisch nachvollziehen, was wir tun. Kern auch in Zukunft – die private Vorsorge setzen: die betriebliche Rente und die Riesterrente. Wenn klar ge- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. worden ist, was in den letzten Jahren erreicht wurde, werden die Deutschen ein Denkmal set- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zen. – Herr Gysi, hören Sie vielleicht einmal einen Au- genblick zu. – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (B) Das Wort hat nun Kollege Heinrich Kolb, FDP-Frak- (D) (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja! Das tion. mache ich!) (Beifall bei der FDP) Man muss neben die gesetzliche Altersrente auch die be- triebliche Rente und die Riesterrente setzen. 75 Prozent der Beschäftigten tun dies. Herr Gysi, die Leute haben Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): offensichtlich besser verstanden als Sie, dass man so et- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was machen muss. Lieber Herr Minister Müntefering, gestatten Sie mir zu- vor zwei Bemerkungen zu Ihrer Rede: Auch wir freuen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) uns, dass die Zahl der Arbeitslosen in diesem Monat of- fensichtlich deutlich zurückgegangen ist. Wir sind weit 17 Millionen haben eine betriebliche Altersvorsorge, davon entfernt, das schlecht zu reden. Aber ich bitte Sie, 7 Millionen bauen eine Riesterrente auf. Die Wahrheit einen nüchternen Blick auf die Verhältnisse zu richten: ist: Wir müssen dafür sorgen, dass immer mehr Men- Es ist jahreszeitlich untypisch, dass noch in diesem schen neben der gesetzlichen Rente auf betriebliche Maße Baustellen offen sind. Im letzten Jahr hatten wir Rente und auf Riesterrente setzen. Dieses Ziel müssen bereits ab Mitte November deutliche Witterungseinbrü- wir bis 2030/2040 erreicht haben. Deshalb hat sich die che. Das spielt natürlich in der Statistik eine Rolle. Koalition vorgenommen, bei der Riesterrente den Kin- derzuschlag zu erhöhen. Diejenigen, die riestersparen, (Dr. [CDU/CSU]: Und die werden für ab 2008 geborene Kinder einen höheren Zu- Karnevalszeit!) schlag bekommen. Wir werden eine vernünftige Lösung Aber was mir noch wichtiger ist, Herr Minister: Auch – wir kämpfen noch miteinander; aber manchmal ist wenn Sie da gerade noch die Kurve gekriegt haben, Streit gut: Er erzeugt Reibung, aber auch Fortschritt – muss man leider sagen, dass dem Abbau der Zahl der für die Einbeziehung von Wohneigentum in die Riester- Arbeitslosen kein entsprechender Aufbau sozialversi- vorsorge finden. Denn preisgünstig Wohnen im Alter ist cherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse gegen- auch eine gute Vorsorge für das Alter. Wir werden die übersteht. ganz Jungen einladen: Kommt dazu! Die Riesterrente und die betriebliche Altersvorsorge müssen so selbstver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ständlich werden, wie das früher das Bausparen gewesen der LINKEN – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ ist. Neben der gesetzlichen Rente müssen die private und CSU]: Ihre Beiträge werden jeden Monat pein- die betriebliche eine stabile, sichere Säule werden. licher, Herr Kolb!) 6898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Heinrich L. Kolb (A) So haben wir gestern vom Vorstandsvorsitzenden der – Ich möchte dafür sensibilisieren, dass aufgrund der (C) Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg gehört, dass das schwierigen Situation der Rentenversicherung – ich sage Verhältnis etwa zwei zu eins beträgt. Das heißt, nur die gleich gerne noch etwas dazu – eine weitere Renten- Hälfte der vormals Arbeitslosen wird sozialversiche- reform absolut überfällig ist. Ich glaube, darüber besteht rungspflichtig beschäftigt. Das ist etwas, was uns um- in diesem Hause auch weitgehend Einigkeit. Bei den Lö- treibt. sungsvorschlägen geht es aber doch sehr weit auseinan- der. Das Zweite, Herr Minister: Sie haben gesagt, man muss den Menschen die Wahrheit sagen, man muss die Ich will nur ganz kurz etwas zu den Vorschlägen der Situation beschreiben, wie sie ist. Da kann ich nur sagen: Linkspartei sagen, deren Umsetzung wie so oft Kosten Herzlich willkommen in der Realität! Leider haben Sie in Milliardenhöhe verursachen würde. Herr Schneider, in der Vergangenheit Ihr politisches Handeln nicht an Geld spielt bei Ihnen aber sowieso nie eine Rolle. Ich diesem Maßstab ausgerichtet. Ich will Ihnen das konkret denke, aufgrund der beschriebenen defizitären Situation an Zahlen belegen: Als Sie schon politische Verantwor- kann und darf die Rentenversicherung nicht noch mehr tung getragen haben, 2001, zur Zeit der rot-grünen Bun- Geld ausgeben, sondern sie muss ihre Ausgaben reduzie- desregierung, haben Sie in Ihrem Rentenversicherungs- ren, um in den nächsten Jahren noch finanzierbar zu bericht für 2007 einen Rentenwert von 28,76 Euro bleiben. Die Umsetzung Ihrer Vorschläge würde allein prognostiziert. Je näher 2007 rückte, desto niedriger im Bereich der Erwerbsminderungsrenten, für den schon wurden die Werte: 2002 waren es 28,17 Euro, 2003 wa- jetzt 26 Milliarden Euro ausgegeben werden, zusätzlich ren es 26,98 Euro. Im Rentenversicherungsbericht 2006 über 4 Milliarden Euro kosten. Das ist unverantwortlich. sind es noch 26,13 Euro. Das zeigt: Sie haben in der Ver- gangenheit – zumindest fahrlässig – Entwicklungen Auch Ihr Vorschlag, die Rentenversicherung zu einer überschätzt und damit die Versicherten in diesem Land Bürgerversicherung zu entwickeln, geht fehl. Das zeigt in einer Sicherheit gewogen, die es so nicht gegeben hat. nur, dass Sie das Prinzip der Rentenversicherung nicht Deswegen sind Sie an dem entstandenen Vertrauensver- verstanden haben, weil zusätzliche Beitragsleistungen lust hinsichtlich der gesetzlichen Rente zu einem guten natürlich auch zu zusätzlichen Rentenansprüchen führen Teil selbst schuld. Das steht fest. und Sie damit in der Rentenversicherung finanziell über- haupt keinen Boden gewinnen würden. (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Ganz falsch wäre es, die Versorgungswerke, die rich- Aus dem gestern von Ihrem Kabinett beschlossenen tigerweise Altersrücklagen aufbauen und damit übrigens Rentenversicherungsbericht für das Jahr 2006 geht im demografiefester als das umlagefinanzierte System sind, Übrigen hervor, dass der finanzielle Druck auf die Ren- in die Rentenversicherung einzubeziehen und damit den (B) tenversicherung in den nächsten Jahren sehr hoch blei- Aufbau von Kapitaldeckung im Bereich der Altersvor- (D) ben wird. Wenn man den Einmaleffekt durch den sorge sogar noch zu behindern. 13. Monatsbeitrag herausgerechnet, beträgt das lau- fende Defizit der Rentenversicherung in diesem Jahr Daneben fordern Sie ein staatliches Einwirken auf die 4,5 Milliarden Euro. Im nächsten Jahr – in 2007 – wird Einstellungs- und Personalpolitik in den Betrieben. Das das Defizit 3,2 Milliarden Euro betragen. Nach den aus ist aus unserer Sicht sowieso weit verfehlt. meiner Sicht realistischen Varianten im Rentenversiche- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz kurz: Diese rungsbericht könnte der Rentenbeitrag schon 2008 auf Vorschläge der Linken – das wird nicht weiter verwun- über 20 Prozent steigen, was nach dem Rentenversiche- dern – finden unsere Zustimmung nicht. rungs-Nachhaltigkeitsgesetz frühestens für 2020 vorge- sehen war. (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ CSU]: Das hat aber lange gedauert!) Schauen Sie sich das, was Sie gestern schwarz auf weiß abgeliefert haben, doch einmal an. Für vier von Damit komme ich zu den Vorschlägen der Koali- neun Varianten der Annahmen hinsichtlich der Lohn- tion. Herr Minister, die Rente mit 67 wurde in den Bi- und der Beschäftigungsentwicklung sind in Ihrem Ren- lanzen anlässlich des ersten Jahrestages Ihrer Regierung tenversicherungsbericht Beitragssätze von über 20 Pro- mangels anderer vorzeigbarer Ergebnisse und obwohl zent – in der ungünstigsten Variante sind es 20,7 Prozent – diesbezüglich bis gestern nicht einmal eine schriftliche niedergeschrieben. Ich halte es schlicht und einfach für Gesetzesinitiative vorlag, als Ihr bislang größter politi- eine Irreführung der Öffentlichkeit, dass Sie sagen, dass scher Erfolg dargestellt. Sie den Beitrag in diesem Jahr auf 19,9 Prozent erhöhen, Ich möchte allerdings darauf hinweisen dürfen, dass weil Sie dadurch den Beitragssatz für einen längeren die Verständigung auf die Anhebung des gesetzlichen Zeitraum konstant halten können. Sie glauben offen- Renteneintrittsalters – es war eine Absprache zwischen sichtlich auch nicht in allen Fällen das, was Sie selbst sa- Ihnen und der Bundeskanzlerin, die Hals über Kopf vor gen. Das will ich hier einmal festhalten. einer Kabinettsitzung erfolgt ist – nicht ohne Not ge- (Beifall bei der FDP – Britta Haßelmann schehen ist, sondern dass sie Anfang dieses Jahres erfor- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen derlich war, um in dem mit Verspätung vorgelegten Sie denn eigentlich? – Irmingard Schewe-Ge- Rentenversicherungsbericht 2005 den Korridor bzw. die rigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Vorgaben des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsge- Sie die Beiträge senken oder erhöhen? Man setzes hinsichtlich der Beitrags- und Niveauziele auch versteht das, was Sie sagen wollen, nicht!) nur einigermaßen einhalten zu können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6899

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Trotz dieses notwendigen Beitrags zur Konsolidie- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (C) rung der Rentenfinanzen darf die Finanzwirkung dessen, DIE GRÜNEN]: 45 Prozent!) was Sie jetzt beschlossen haben, nicht überschätzt wer- den. Sie wissen, dass die Bruttowirkung 1,1 Prozent- Aber viele in der gesetzlichen Rentenversicherung Versi- punkte beträgt. Herr Minister, allein durch die Gegen- cherte wollen ab 60 nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie wirkung des Nachhaltigkeitsfaktors in der Rentenformel wollen über den Umfang ihrer Arbeitszeit und über den aufgrund der Veränderung des Zahlenverhältnisses der Bezugsbeginn ihrer Rente – als Voll- oder Teilrente – Rentenempfänger zu den Beitragszahlern wird am Ende selbst bestimmen können. nur noch ein Nettoeffekt von 0,8 Prozentpunkten übrig (Beifall bei der FDP) bleiben. Sie wünschen sich für den Fall eines flexiblen Ren- Mit den von Ihnen vorgesehenen weit gehenden Aus- teneintritts die Kombination von gesetzlicher Rente mit nahmen für langjährig und besonders langjährig Versi- privater und betrieblicher Vorsorge und einen Zuver- cherte reduziert sich die Entlastungswirkung aber weiter dienst ohne die engen Grenzen, die bisher bei der gesetz- auf nur noch 0,5 Beitragspunkte. Das heißt, das, was Sie lichen Rente vorgesehen sind. Sie wünschen sich, dass uns heute Morgen als mittelfristige Entlastung der Ren- ihre Beschäftigungschancen durch Reformen auf dem tenversicherung verkaufen wollen, entspricht vom Volu- Arbeitsmarkt und Beitragsvorteile bei der Sozialver- men her in etwa dem Betrag, um den wir heute unter ei- sicherung verbessert werden. Man muss doch nüchtern nem der weiteren Tagesordnungspunkte die gesetzlichen zur Kenntnis nehmen, dass heute viele Markteintrittsbar- Rentenbeiträge ohne Not wieder anheben werden. Insge- rieren für Ältere in Gesetzen und Tarifverträgen hausge- samt betreiben Sie ein Nullsummenspiel. macht sind. Das kann man ändern und das müssen wir Problematisch an Ihrem Vorschlag ist meines Erach- ändern, wenn wir die Situation der Älteren verbessern tens auch, dass die Lasten der Alterung unserer Gesell- wollen. schaft nicht gerecht aufgeteilt werden. Der Sachverstän- (Beifall bei der FDP) digenrat weist in seinem aktuellen Jahresgutachten ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Vorschlag die Jahr- Ich kann Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in gänge 1959 bis 1974 überdurchschnittlich stark belastet, wenigen Wochen – noch vor der zweiten und dritten Be- weil für diese die Anhebung der Regelaltersgrenze grö- ratung des von der Regierung einzubringenden Gesetz- ßer ist als die Zunahme der Lebenserwartung. Ab dem entwurfes – hier einen eigenen Vorschlag präsentieren Jahrgang 1975 ist es dann umgekehrt. Genau das ist bei wird, einer festen Altergrenze und einer ständig weiter stei- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE genden Lebenserwartung problematisch. (B) GRÜNEN]: Da sind wir aber gespannt!) (D) Nicht besser, sondern ungerechter wird Ihr Vorschlag der auf den eben genannten Prinzipien basiert und der noch dadurch, dass er unsystematische Ausnahmen vom damit eine auch den Erwartungen der Menschen entspre- Regelrentenzugangsalter vorsieht. Wer mit 20 Jahren chende Antwort gibt. Das ist eben nicht die Anhebung in das Berufsleben eingetreten ist und durchgängig eines bisher starren Renteneintrittsalters auf ein höheres 45 Jahre arbeitet, bekommt demnach seine Rente ab- starres Renteneintrittsalter, sondern der Beginn eines fle- schlagsfrei; wer mit 22 sein Berufsleben begonnen hat xibleren Übergangs der Menschen vom Erwerbsleben in und ebenfalls durchgängig arbeitet, erhält bei gleicher den Ruhestand unter Kombination von vielen Altersvor- Zahl von Entgeltpunkten eine niedrigere Rentenrendite. sorgebeiträgen, die man in seinem Erwerbsleben zusam- Das ist mit dem Versicherungs- und dem Äquivalenz- mengetragen hat. Das ist ein moderner Ansatz, den wir prinzip nicht ein Einklang zu bringen. Es ist ein klarer Ihnen vorschlagen werden. Verstoß gegen Grundprinzipien der Rentenversicherung. Wie gesagt, in wenigen Wochen können wir dieses (Peter Rauen [CDU/CSU]: Richtig! – Dr. Ralf Konzept gemeinsam mit Ihren Vorschlägen beraten. Brauksiepe [CDU/CSU]: Kein Beifall bei der FDP!) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. – Das ist wohl nicht so, Kollege Brauksiepe. (Beifall bei der FDP) An dieser Stelle ist zu fragen, wie der richtige Lö- sungsweg aussieht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Meckelburg, (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ CDU/CSU-Fraktion. DIE GRÜNEN]: Vielleicht hören wir jetzt, was die FDP will!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, dass wir anstelle eines starren Rentenzu- gangsalters eine flexiblere Regelung für den Übergang Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): der Menschen aus dem Arbeits- und Erwerbsleben in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir war- den Ruhestand brauchen. Wir brauchen mehr Beschäfti- ten mit Spannung auf den Vorschlag; denn bisher ist ei- gung im Alter. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht nes nicht klar, Herr Kolb: Sie vertreten die Rente mit 67; länger leisten, dass nur noch 41 Prozent der über 55-Jäh- der FDP-Vorsitzende Westerwelle und Herr Niebel sind rigen noch in Beschäftigung sind. eher für die Rente mit 65. 6900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Wolfgang Meckelburg (A) (Widerspruch des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb auch nur ansatzweise eine Zumutung für die Menschen (C) (FDP) darstellt – das ist nach meiner Überzeugung an vielen Stellen notwendig –, und nicht bereit, darüber nachzu- Vielleicht finden Sie noch einen interessanten Kompro- denken. Sie bieten nur simple Lösungen an. Darauf muss miss. Insofern warten wir das in Ruhe ab. ständig hingewiesen werden, so fleißig Sie auch sind, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Das haben wenn es um das Einbringen von Anträgen geht. Sie nicht richtig beobachtet! – Gegenruf des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Partei- Unter Punkt 5 fordern Sie die Bundesregierung auf, tagsbeschluss gegen Rente mit 67!) „ihre Anstrengungen darauf zu richten, durch eine ma- kroökonomisch fundierte Finanz-, Wirtschafts- und Ar- Wir diskutieren heute wieder einen Antrag der Lin- beitsmarktpolitik die Arbeitslosigkeit zu senken“. Da ken. In den Volkseigenen Betrieben der DDR wir schon seit einigen Wochen über dieses Thema debat- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: tieren, sollten Sie eigentlich mitbekommen haben, dass Da habe ich lange gearbeitet!) wir das im Hinblick auf eine bessere Zukunft schon längst machen. Die Zahl der Arbeitslosen ist nun auf un- – dann wissen Sie das sicherlich auch und können es be- ter 4 Millionen gesunken. Sie fordern außerdem, den stätigen – gab es eine Straße der Besten. Das war eine Rückgang der Zahl sozialversicherungspflichtig Be- Art Wandtafel oder Flur, wo die fleißigsten Arbeiter auf schäftigter zu stoppen. Die Trendwende ist längst ge- Porträts prangten. – Herr Gysi nickt. Herr Lafontaine schafft. Es gibt fast 260 000 sozialversicherungspflichtig weiß vielleicht nicht, wovon ich rede. Beschäftigte mehr als im Vorjahr. Ihre Forderungen sind (Heiterkeit bei der CDU/CSU) also das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Die Reali- tät ist längst an Ihnen vorbeigegangen. Das ist der ent- Manchmal wurden auch Bilder von verdienten Ge- scheidende Punkt. nossen – von Betriebskadern verordnet – dorthin ge- hängt. Dazu kann ich nur eines sagen: Wenn es in Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Linksfraktion so etwas wie eine Straße der Besten gibt, neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: dann hat es eine ganze Reihe von Ihnen verdient, porträ- Ihr lügt euch doch in die Tasche! – Carsten tiert und dort ausgestellt zu werden; denn Sie sind un- Schneider [Erfurt] [SPD]: Dummerweise ar- wahrscheinlich fleißig, wenn es um das Einbringen von beiten jetzt viele Teilzeit, die vorher Vollzeit Anträgen und das Formulieren von Papieren geht. gearbeitet haben!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Sie fordern des Weiteren mehr Wirtschaftswachs- Klaus Brandner [SPD]: Wallfahrtsort!) tum. Vielleicht haben Sie zur Kenntnis genommen, dass (B) im Herbstgutachten davon die Rede ist, dass die Trend- (D) – Sie klatschen zu Recht. Sie müssen unbedingt eine wende nach sechs Jahren geschafft ist. Sie fordern au- Straße der Besten einrichten. – Aber alle Ihre Anträge ßerdem, mehr für die Älteren zu tun. Aber auch hier sind haben eines gemeinsam: Sie sind nicht wirklich zielfüh- wir längst dabei. Wir wollen mit der Initiative rend und lösen die Probleme nicht. Ihr Gesamtkonzept „50 plus“ – diese wurde gestern Abend im Kabinett führt in alte Zeiten zurück, während wir auf dem Weg beschlossen – die Beschäftigungsfähigkeit und die nach vorne in eine moderne Gesellschaft sind und dabei Beschäftigungschancen Älterer verbessern. Das ist das sind, in unserem ersten Regierungsjahr die Probleme zu Entscheidende: Wir verbessern nicht nur die Beschäfti- lösen. gungsfähigkeit, sondern auch die Chancen, wieder auf (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abge- dem ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden. Wir haben ordneten der LINKEN) das Instrument der beruflichen Weiterbildung fortent- wickelt. Darüber werden wir in den nächsten Wochen Obwohl ich nicht zu viel Zeit auf Ihren Antrag ver- reden. Beschäftigte ab 45 Jahre, die in Betrieben mit we- wenden will, möchte ich Folgendes aufzeigen: Sie sehen niger als 250 Mitarbeitern tätig sind, sollen die Möglich- an dem, was Minister Müntefering gerade gesagt hat, keit erhalten, sich weiterzubilden. Bislang werden nur wie schnell vieles von dem, was Sie fordern, längst über- Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten gefördert, wenn holt und in Arbeit ist. Sie fordern unter Punkt 1 Ihres sie Arbeitnehmer über 50 Jahre qualifizieren. Wir ma- Antrags, es bei der geltenden Altersgrenze von 65 zu be- chen dieses Instrument damit attraktiver. lassen. Das hört sich zwar toll an, ist aber nichts anderes als Populismus. Ich wäre überrascht gewesen, wenn Sie Auch den Kombilohn verbessern wir so, dass es für einen Antrag „Ja zur Rente ab 67“ gestellt hätten. Aber die betroffenen Menschen attraktiver wird, wieder eine das hätte nicht zu Ihrer Argumentation gepasst. Sie be- Arbeit aufzunehmen. Man sollte lieber eine Arbeit an- treiben lieber Populismus, um gut anzukommen. nehmen, auch wenn sie etwas schlechter bezahlt ist, als vom Staat und von dem Geld anderer zu leben. Das muss (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Dann wären in Deutschland wieder Mentalität werden. Sie von der wir ja in der CDU!) Linken wollen den betroffenen Menschen immer nur Unter Punkt 2 Ihres Antrags fordern Sie eine sozial möglichst viel aus der Tasche anderer geben. Das ist gerechte Rentenreform. Aber Sie werden nicht konkret. aber auf Dauer nicht hilfreich. Wir müssen vielmehr so Unter Punkt 3 fordern Sie, den Zugang zur Erwerbsmin- viele Arbeitslose wie möglich in den ersten Arbeitsmarkt derungsrente zu erleichtern und diese ohne Abschläge zu bringen. So sieht eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik gewähren. Sie sind sofort kategorisch gegen alles, was aus. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6901

Wolfgang Meckelburg (A) Wir haben bei den Eingliederungszuschüssen Verbes- halten. Wir haben festgelegt, dass der Beitragssatz im (C) serungen vorgenommen und wir verändern die Regelun- nächsten Jahr auf 19,9 Prozent steigt, aber nicht darüber gen zu befristeten Arbeitsverhältnissen so, dass sie euro- hinausgeht. Damit haben wir ein Stück Beitragsstabilität parechtstauglich werden. Das heißt, wir haben die für die nächsten Jahre erreicht. Die Politik hat lange Instrumente, die es gibt, verbessert. Das wird helfen, Jahre daran gekrankt, dass das nicht möglich war. Wenn dass ältere Menschen – es wird immer der Vorwurf erho- man auf die letzten Jahre von Rot-Grün zurückschaut, ben, dass Menschen erst mit 67 in Rente gehen dürfen – dann stellt man fest, dass häufig die Rücklagen der Ren- wirklich in Arbeit kommen. tenversicherung angegriffen wurden. Die Rücklage hat jedes Jahr ein Stückchen mehr abgenommen. Der letzte Warum also die Rente mit 67? Sie alle wissen, dass Schritt zur Stabilisierung war, einmalig einen dreizehn- die Lebenserwartung und die Rentenbezugsdauer ten Sozialbeitrag für ein Jahr festzulegen. Jetzt muss kontinuierlich steigen. Von 1960 bis heute ist die Ren- man entscheiden, wie man die richtigen Strukturen wie- tenbezugsdauer um 70 Prozent angestiegen. Damals wa- derherstellt. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg; ren es zehn Jahre, heute sind es 17 Jahre. Wir erwarten, denn die Rente hat seit dem ersten Jahr der neuen Koali- dass die Lebenserwartung bei Männern bis zum tion wieder eine Zukunft. Wir wollen das Rentensystem Jahr 2030 um 2,3 Jahre und bei Frauen um 2,8 Jahre an- zukunftsfest machen. steigt. Wenn die Menschen Gott sei Dank immer älter werden und immer fitter bleiben – das kann man sehr oft (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann nur an feststellen –, dann muss man auch bei der Rente konse- der Union liegen! Die SPD kann es ja nicht ge- quent sein. Wenn wir es schaffen, die Rente mit 67 um- wesen sein!) zusetzen, dann ist die Verlängerung der Lebenserwar- tung und der Rentenbezugsdauer von etwas über zwei – Man muss feststellen – das habe ich letzte Woche Jahren finanzierbar. Ich will auch deutlich sagen: Die schon gesagt –, dass sich seit dem Wechsel von Rot- Geburtenrate hat sich seit 1975 in den alten Bundeslän- Grün zur großen Koalition etwas in Deutschland geän- dern bei nur 1,4 Kindern eingependelt. Vor diesem Hin- dert hat. tergrund muss die Familienpolitik helfen, dass das Ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die SPD hat es hältnis zwischen Beitragszahlern und denen, die in offensichtlich nicht hingekriegt! – Irmingard Rente gehen, ein bisschen korrigiert wird. Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Anhebung der Altersgrenze soll jetzt diskutiert NEN]: Wenn es so einfach wäre!) werden. Es ist wichtig, dass wir das jetzt tun, weil das Zum Schluss möchte ich noch einige Bewertungen mehr Vertrauen in die Politik erzeugen und zu mehr der Anhebung des Renteneintrittsalters vortragen. (B) Verlässlichkeit führen soll. Wir ändern das Rentenein- (D) trittsalter nicht schon morgen, übermorgen oder ab dem Der Sachverständigenrat sagt: Die Anhebung des ge- nächsten Jahr, sondern wir beschließen die Rente mit 67 setzlichen Renteneintrittsalters ist der letzte noch ausste- jetzt, damit man in den nächsten Jahren weiß, wie es hende wichtige Schritt zur nachhaltigen Stabilisierung weitergeht. Wir reden, um das deutlich zu machen, über und Sicherung des Rentenversicherungssystems. Des- die Anhebung des Renteneintrittsalters ab dem halb sind die Pläne der Bundesregierung ausdrücklich zu Jahr 2012. Ich stelle in vielen Diskussionen fest, dass ge- begrüßen. Das ist eine positive Begleitung. rade die heutige Rentnergeneration die Rente mit 67 für problematisch hält, obwohl sie gar nicht betroffen ist. Die Rentenversicherung Bund sagt: Durch die Anhe- Ich sage denen, die heute im Rentenalter sind und insbe- bung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre erfolgt ein sondere den Rentnern aus der ehemaligen DDR: Ihr habt Einspareffekt von 0,6 bis 0,7 Beitragssatzpunkten bis verdammt gute Renten. Dafür habt ihr gearbeitet, aber zum Jahr 2030. Auch an dieser Stelle möchte ich deut- wenn ihr auf die Kinder und Enkelkinder schaut, dann lich machen: Dies bedeutet Zustimmung. Außerdem ist werdet ihr feststellen, dass diese es wegen der eben ge- es ein Hinweis darauf, dass diese Maßnahme, langfristig nannten demografischen Entwicklung schwerer haben gesehen, hilft, das Beitragssatzniveau zu stabilisieren. werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb wird über einen langen Zeitraum von 18 Jahren ab 2012 das Renteneintrittsalter stufenweise Der Sozialbeirat unterstützt die schrittweise Anhe- auf 67 angehoben. Wir sind dann im Jahr 2029 bei einem bung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ebenfalls. Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Das sage ich nur, da- Das sei „die richtige Antwort auf die höheren Kosten, mit alle wissen, wovon wir reden. Die Drohung, dass das die aus einer zunehmenden Rentenbezugsdauer als Folge am nächsten Tag schon geschieht und deswegen die Welt einer steigenden Lebenserwartung erwachsen“, heißt es sofort untergeht, ist völlig fehl am Platz. Das ist langfris- in dem entsprechenden Gutachten. Ich kann mir nicht tig angelegte Rentenpolitik, eine Rentenpolitik, die ver- verkneifen, deutlich zu sagen, dass der Sozialbeirat die lässlich sein will und deutlich die Richtung für die Prognosen der Bundesregierung in seiner Stellungnahme nächsten Jahre angibt. ausdrücklich unterstützt. Er spricht mit Bezug auf diesen Rentenbericht nicht mehr von ambitionierten, sondern Die Koalition hat im Koalitionsvertrag festgelegt, von realistischen Annahmen. Offensichtlich hat es dort dass wir die Rentenversicherung belastbar und solide eine Entwicklung zwischen 2005 und 2006 gegeben. Der weiterentwickeln und dass wir den gesetzlichen Beitrag Sozialbeirat begrüßt ausdrücklich die mittelfristigen und die Höhe der Rente auf dem beschlossenen Niveau ökonomischen Grundannahmen, weil wir dort etwas 6902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Wolfgang Meckelburg (A) vorsichtiger sind – wir sind nicht bis an die Kante gegan- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (C) gen – GRÜNEN): Bitte schön. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr seid aber noch lange nicht realistisch!) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): und damit für etwas mehr Verlässlichkeit sorgen. Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben eben „Aber was kümmert Sie …“ gesagt. Ich weiß nicht, ob Sie mir Was wir dringend brauchen, sind Verlässlichkeit eben richtig zugehört haben. – kein Hoppeln von Jahr zu Jahr –, Beständigkeit und die Rückgewinnung des Vertrauens der Menschen in unsere (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Sozialsysteme. Wir sind auf einem guten Weg. Ihr An- DIE GRÜNEN]: Doch!) trag ist eigentlich Schnee von gestern: Ein Teil ist längst in der Mache und ein anderer Teil würde zu einem völlig Die Zahlen in Bezug auf den Arbeitsmarkt – es gibt ei- anderen System führen. Es tut mir Leid, das jede Woche nen Bedarf an 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen – wiederholen zu müssen, Herr Gysi. sind einer Studie der IAB der Bundesagentur für Arbeit entnommen. Aus dieser Studie habe ich zitiert. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht auf dem Mist der Linken gewachsen. neten der SPD) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben falsche Schlüsse gezogen!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-Ge- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE rigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. GRÜNEN): Diese IAB-Studie kenne ich selbstverständlich. In ihr Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE werden Pro und Kontra der Rente mit 67 behandelt. Die GRÜNEN): Autoren dieser Studie kommen zu dem Schluss, die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Rente mit 67 sei akzeptabel, wenn der Arbeitsmarkt in Thema Rente ab 67 stellt hohe Anforderungen an unser Ordnung sei. Erkenntnisvermögen. Heute eine Entscheidung zu tref- ( [SPD]: Eben!) fen, die erst in 23 Jahren voll wirkt, sich vorzustellen, wie im Jahr 2029 der Arbeitsmarkt aussehen wird, das Wir wissen: 8 Millionen Menschen weniger im Erwerbs- (B) ist schon eine Herausforderung. Sofort kommen Ihre alter, das bedeutet natürlich eine enorme Entlastung für (D) Einwände, meine Damen und Herren von der Linksfrak- den Arbeitsmarkt. Für uns ist es schon ein Problem, dass tion, es gebe nicht genügend Arbeitsplätze für Ältere. immer weniger Junge immer mehr Älteren gegenüber- Das stimmt – heute. Aber heute gilt auch nicht die Rente stehen. Ich spreche vom Jahr 2029 mit circa 8 Millionen mit 67. Erwerbsfähigen weniger. Ihre Zahlen sind so nicht in Ordnung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der SPD) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken, die heutige Situation mit der im Jahre 2029 gleichsetzen, Ihnen ist offensichtlich auch nicht aufgefallen, dass dann verschließen Sie die Augen vor der demografi- die Beschäftigung der über 55-Jährigen in den letzten schen Entwicklung: sechs Jahren stetig gestiegen ist. Wir Grüne erwarten, dass dieser positive Trend anhält. Das ist für uns eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Voraussetzung der Rente mit 67. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die in früheren Jahren gewachsene Unterbeschäfti- 2029 wird die Lebenserwartung im Vergleich zu heute gung Älterer wird so nicht bleiben. Eine wichtige Ursa- um vier Jahre gestiegen sein. 2029 wird es 8 Millionen che hierfür ist – das wissen auch Sie – die Frühverren- weniger Menschen im Erwerbsalter geben. Aber was tung in Deutschland gewesen, die zur Krise der kümmert Sie schon die Realität, wenn Sie ein geschlos- Rentenversicherung wesentlich beigetragen hat. Lange senes Weltbild haben. Zeit zogen viele einen vermeintlichen Nutzen daraus: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschäftigte, die die Freiheit des Ruhestands länger ge- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und nießen konnten, Unternehmen, die sich auf Kosten der der SPD) Rentenversicherten ihrer älteren Mitarbeiterschaft entle- digten, Politik und Gewerkschaften, die ihr Gewissen beruhigten, weil sie glaubten, etwas gegen die Massen- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: arbeitslosigkeit zu tun und den Jüngeren eine Chance zu Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen geben. Aber das Gegenteil war doch der Fall. Dieser Schneider? Weg ist eine Sackgasse. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6903

Irmingard Schewe-Gerigk (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber hier ist nicht die Politik gefordert. Hier sind die (C) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Tarifparteien gefordert, die Arbeits- und Tarifverträge der SPD) zu ändern. Es trifft nicht zu, dass das frühe Renteneintrittsalter (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Diskriminie- Arbeitsplätze für Jüngere schafft. In Ländern, in denen rung kommt aus Gesetz und Tarifvertrag!) mehr Ältere erwerbstätig sind, ist auch die Arbeitslosig- keit von Jüngeren niedrig. Es gibt schon jetzt die Möglichkeit, früher mit Abschlä- gen und später mit Aufschlägen in Rente zu gehen. Was Besonders erstaunlich, Herr Schneider, ist die Be- Sie wollen, gibt es eigentlich schon; die Tarifparteien hauptung der Linken, die Finanzkrise der Rentenver- müssen mitmachen. sicherung habe nichts mit der Demografie zu tun. Sie machen es sich leicht! Auch im Interesse der Chancengerechtigkeit zwi- schen den Generationen ist es angemessen, dass die ge- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: wonnenen Jahre nicht allein zur Verlängerung des Ren- Das hat kein Mensch gesagt!) tenbezugs, sondern auch für eine längere Erwerbsphase genutzt werden. Das gilt umso mehr, als die abnehmende Sie ignorieren, dass in den letzten 40 Jahren die Renten- Zahl der Erwerbspersonen zu einem großen Mangel an bezugsdauer um sieben Jahre gestiegen ist. Sie ignorie- qualifizierten Fachkräften führt. An dieser Stelle ist die ren, dass der reale Wert der Rentenleistung dadurch um Verantwortung der Unternehmen gefragt. Sie müssen 74 Prozent erhöht ist. Erhielt 1960 ein Durchschnitts- sich auf einen längeren Verbleib von Älteren im Er- rentner Leistungen im Wert von 140 000 Euro, so sind es werbsleben einstellen. heute 244 000 Euro. Da stellt sich schon die Frage: „Wer soll und kann das bezahlen?“, zumal aufgrund der nied- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rigen Geburtenrate die Zahl derjenigen, die Beiträge sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) zahlen, stetig sinkt, während die Zahl der Rentner und Rentnerinnen steigt. Dennoch ist ein Umdenken in den Betrieben längst noch nicht verbreitet. Der Deutsche Industrie- und Han- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN delskammertag beklagt: Der Arbeitskräftemangel droht sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und zur Beschäftigungs- und Wachstumsbremse zu werden. – der SPD) Im Raum München fehlen Fachkräfte für Banken und Versicherungen. Der Verband deutscher Maschinenbauer Ein Weg, diese Kosten aufzufangen, ist die Erhöhung beklagt einen Mangel an Facharbeitern. Auch in den Ge- des Renteneintrittsalters bei denen, die gesundheitlich (B) sundheitsberufen bleiben Stellen 42 Tage unbesetzt, weil (D) dazu in der Lage sind. So können die Beiträge einiger- Fachkräfte fehlen. Das sind nur einige Beispiele. Dies ist maßen stabil gehalten werden. Je mehr Beschäftigte ihre in der branchenspezifischen Fachkräftepolitik zum gro- Zeiten als versicherte Beschäftigte ausdehnen, desto ßen Teil nicht berücksichtigt worden. Es ist die Frühver- günstiger wird das Verhältnis der Zahl der Rentenemp- rentung, die den Betrieben das Know-how der Älteren fänger zur Zahl der Beitragszahler. genommen hat. Diese Chancen für zukünftige Rentner und Rentnerin- Die Unternehmen sind künftig noch mehr auf qualifi- nen hat die Linke offensichtlich nicht verstanden. Ich zierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angewiesen und verweise auf ein Gutachten von Professor Bomsdorf. Er müssen sich schnellstens auf eine ältere Belegschaft ein- hat nachgewiesen, dass der Anstieg des gesetzlichen stellen. Betriebliche Maßnahmen zur Förderung von le- Rentenzugangsalters nicht zwangsläufig zu Rentenkür- benslanger Weiterbildung und zur Gesundheitsförderung zungen führen muss; denn wer aufgrund eines unsteten müssen zum Selbstverständnis von Betrieben gehören. Erwerbsverlaufs – davon gibt es viele – oder eines späte- ren Eintritts in das Erwerbsleben länger arbeiten kann Die demografischen Veränderungen sind kein rein und will, hat die Chance, eine höhere Rente zu erreichen. deutsches Phänomen. Darum nehmen am Wettbewerb Der Grund dafür: Die Wirkung des Nachhaltigkeitsfak- um die klügsten Köpfe auch andere Länder teil. Es wäre tors wird reduziert. zu kurz gedacht, in erster Linie nach jungen Fachkräften aus dem Ausland zu rufen. Da unterstütze ich insbeson- Wir alle wissen: Ältere Beschäftigte sind heute im dere das, was Minister Müntefering vorhin gesagt hat. Durchschnitt gesünder und leistungsfähiger als Gleich- Aber wir brauchen beides: Wir brauchen Zuwanderung altrige in früheren Jahren. Der altersbedingte Rückgang und wir brauchen Strategien der Betriebe zur längeren der Leistungsfähigkeit kann durch Erfahrungswissen Beschäftigung von Älteren. ausgeglichen werden. Viele Ältere wollen auch nicht aufs Altenteil gedrängt werden. Sie wollen einen flexib- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len Renteneintritt. Diese Älteren – Herr Kolb, damit sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und komme ich zu Ihrem Beitrag – empfinden die heutigen der SPD) starren Altersgrenzen in Tarif- und Arbeitsverträgen als diskriminierend, wie die Klage der Lufthansa-Piloten Die grüne Fraktion hat sich intensiv mit der Frage zeigt. auseinander gesetzt, ob es nicht sinnvoll ist, zunächst für die bessere Integration von Älteren ins Erwerbsleben zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sorgen und erst danach ein höheres Rentenalter zu be- sowie bei Abgeordneten der FDP) schließen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es 6904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Irmingard Schewe-Gerigk (A) für alle Beteiligten besser ist, wenn die schrittweise An- DGB, FDP und Linke verschließen die Augen vor der (C) hebung der Rentenaltersgrenze planbar wird. Zukunft. Meine Fraktion wird sich dieser Verantwortung stellen – und das auch in der Opposition. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Die Unternehmen wissen: Sie müssen mehr für die Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Beschäftigten tun, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben bei der CDU/CSU und der SPD) wollen. Ältere Beschäftigte profitieren davon, wenn ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden. Auch sie müs- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sen sich darauf einstellen, ihre individuelle Arbeitsfähig- Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/ keit länger zu erhalten – so weit, so gut. CSU-Fraktion. Und was tut die Bundesregierung? Sie verhält sich wie so oft widersprüchlich. Einerseits ist sie bereit, eine Paul Lehrieder (CDU/CSU): unpopuläre Entscheidung zu treffen; andererseits setzt Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- sie noch immer auf die falschen Signale. Ich nenne nur ren! Liebe Frau Kollegin Schewe-Gerigk, zunächst ein- die Verlängerung der 58er-Regelung, mal Respekt: Sie haben in Ihrer Rede vieles angespro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie chen, für das Sie auch den Applaus unserer Fraktion des Abg. Peter Rauen [CDU/CSU]) bekommen haben. die Möglichkeit, dass 15 000 Beamte aus den ehemali- (Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard gen Postnachfolgeunternehmen mit 55 Jahren in Rente Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gehen können, NEN]: Da muss ich doch einiges verkehrt ge- macht haben! – Zuruf von der CDU/CSU: Da (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wächst zusammen, was zusammen gehört!) SES 90/DIE GRÜNEN) – Ja, genau. Das zeigt: Die Grünen sind weit näher an oder eine Stichtagsregelung für Altersteilzeitverträge, der Realität – möglicherweise auch durch sieben Jahre damit diese Personen nicht von der Anhebung der Al- Regierungsbeteiligung –, als es die Linkspartei nach wie tersgrenze betroffen sind. Gerade diese offene Flanke vor ist. Meine Damen und Herren der Linkspartei, Sie löste in den letzten Tagen in vielen Großunternehmen haben da noch einen langen Weg vor sich. Hektik in Richtung Altersteilzeit nach dem Blockmo- Das Bundeskabinett hat gestern den Gesetzentwurf dell aus. So wurden viele ältere Beschäftigte in den letz- zur Rente mit 67 beschlossen. Das geschieht nicht aus (B) ten Wochen dazu aufgefordert, kurzfristig einen Vertrag (D) einer Laune heraus. Die Lage der gesetzlichen Renten- zur Altersteilzeit zu unterschreiben, um frühzeitig in versicherung ist äußerst angespannt. Sie wird sich wei- Rente zu gehen. Und dieses „Dezemberfieber“ haben ter verschlechtern, wenn jetzt nicht die richtigen Wei- Sie, lieber Herr Minister Müntefering, zu verantworten. chen gestellt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Union und SPD haben die Ursachen erkannt und be- Sie sind nicht glaubwürdig, wenn Sie auf der einen nannt. Zum einen ist da die bis vor etwa einem Dreivier- Seite den Anstieg des Rentenalters vorschlagen, aber teljahr stark gestiegene Arbeitslosigkeit, die mit einem gleichzeitig auf der anderen Seite die Türen für eine Aderlass bei den sozialversicherungspflichtigen Be- Fortsetzung der Frühverrentungspraxis weit öffnen. Ak- schäftigungsverhältnissen einhergeht. zeptanz erfordert auch Konsequenz, Herr Minister. Eine Eine Rentenpolitik für die Zukunft muss deshalb im- konsequente Abkehr von der Frühverrentungspraxis ist mer auf mehr Wachstum und Beschäftigung zielen. Ar- das beste Mittel, das Rentendurchschnittsalter ansteigen beitsminister Müntefering hat in seiner Rede vorhin aus- zu lassen. Schon jetzt hat sich durch den erschwerten geführt: Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn es uns Zugang zur Frühverrentung der Anteil von Männern, die gelingt, Arbeit zu schaffen. mit 60 Jahren in Rente gehen, halbiert. Auch das tatsäch- liche Renteneintrittsalter für Altersrenten ist auf Kollege Lafontaine, Sie haben dazu heftig applau- 63,2 Jahre angestiegen. Und das sollten Sie nicht aufs diert. Das habe ich wohlwollend zur Kenntnis genom- Spiel setzen. men. Ich habe in Anspielung an das Musical „My Fair Lady“ gedacht: Mein Gott, jetzt hat er’s! Mein Gott, jetzt Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die hat er’s! Beitragssätze und entlastet die nachkommende jüngere Generation, die mit weniger Personen mehr Renten (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb finanzieren muss. [FDP]: Aber da grünt es doch so grün!) Die Linksfraktion ignoriert das Problem der gestiege- – Bei Ihnen rötet es höchstens. nen Rentenlaufzeiten und gibt deshalb auch keine Ant- wort auf die Frage, wie die Belastung zwischen Jungen Zum anderen steigt die Lebenserwartung kontinu- und Alten gerechter gelöst werden kann. ierlich. Heute beträgt sie bei Männern circa 76 Jahre, bei Frauen 81 Jahre. Bis zum Jahre 2030 wird sie bei Män- (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Indem alle nern voraussichtlich 83,4 Jahre, bei Frauen 87,6 Jahre Einkommen herangezogen werden!) betragen. Das heißt, im Schnitt wird sie um circa sechs Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6905

Paul Lehrieder (A) Jahre höher als heute liegen. Das wirkt sich auch auf die auf die Wähler, die da kommen sollen – und nachher die (C) durchschnittliche Rentenbezugsdauer aus. Die durch- Zeche der Linken bezahlen müssen. schnittliche Rentenbezugsdauer ist von 1960 bis heute um durchschnittlich 70 Prozent angestiegen. Wir werden Was wollen Sie denn wirklich? Wollen Sie höhere Beiträge? Dann haben wir zwar höhere Einnahmen in sechs bis sieben Jahre älter als diejenigen, die 1960 ver- der Rentenkasse, aber auch höhere Lohnzusatzkosten. gleichbar alt waren. Wir arbeiten aber im Schnitt nicht Wollen Sie niedrigere Renten? Dann hätten wir zwar we- sechs Jahre länger, sondern fünf Jahre kürzer. Setzt sich niger Ausgaben – ich habe es ausgeführt –, aber niedri- diese Entwicklung fort, wird der Rentenbeitrag ohne gere Renten wollen Sie sicher genauso wenig wie wir. weitere Reformmaßnahmen langfristig die Grenze von 22 Prozent überschreiten. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sie arbeiten aber heftig daran!) Die Probleme der Rentenkassen sind zum Teil aber auch hausgemacht. Obwohl die Rentenversicherung in Genau deshalb haben wir Rentenkürzungen ja gesetzlich den letzten Jahren massiv unterfinanziert war, wurde der ausgeschlossen. Ansonsten wäre dies jetzt zu prüfen, da Rentenbeitrag bei 19,5 Prozent stabilisiert. Das ging nur, faktische Lohnkürzungen aufgrund der an den Nettolohn indem die Rücklagen der Rentenkassen zwischen 2002 gekoppelten Rente zwangsläufig zu Rentenkürzungen und Ende 2005 von knapp 14 Milliarden Euro auf rund führen müssten. Oder wollen Sie noch mehr Staat, wol- 1,8 Milliarden Euro abgeschmolzen wurden. Zwischen- len Sie den Bundeszuschuss weiter anheben und damit zeitlich war die Finanzdecke so dünn, dass im Septem- künftige Generationen noch stärker belasten? Zugegebe- ber 2005 sogar erstmals ein 900-Millionen-Euro-Darle- nermaßen habe ich diesen Eindruck bei Ihnen manch- hen des Finanzministers nötig wurde. Wir werden mal. deshalb den Beitragssatz zur Rentenversicherung wie Sie sehen also, so viele Werkzeuge, die Rentenkasse geplant auf 19,9 Prozent heraufsetzen, obwohl die Bei- wieder ins Lot zu rücken, gibt es nicht. Genau da ist trotz träge wegen des Aufschwungs am Arbeitsmarkt zurzeit all der Einschnitte, die das im Einzelfall mit sich bringen etwas reichlicher fließen. So können wir die Schwan- mag, die längere Lebensarbeitszeit das Mittel der Wahl. kungsreserve aufstocken, um für schwierigere Zeiten Es hilft nichts, darauf hinzuweisen, dass wir innerhalb wieder besser gewappnet zu sein. der Europäischen Union das einzige Land sein werden, Wir sehen, das Rentenproblem ist äußerst komplex. in dem das Eintrittsalter zur gesetzlichen Rente bei Weihnachten rückt zwar näher, aber eine Lösung lässt 67 Jahren liegen wird. Es geht hier nicht nach unseren sich nicht von heute auf morgen auf den Gabentisch zau- Wünschen. Natürlich würde jeder liebend gerne mit bern. Wir müssen sie schon selbst finden. Deshalb haben 65 abschlagsfrei in Rente gehen. Es geht vielmehr um die reale Notwendigkeit einer abgesicherten Rentenver- wir uns gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag (B) sicherung auf lange Sicht. (D) auf eine Reihe von Maßnahmen verständigt, darunter so vorausschauende Maßnahmen wie die Rente mit 67. Al- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: les andere wäre verantwortungslos gegenüber den nach- Komisch, dass andere das nicht machen bei folgenden Generationen. So möchte ich insbesondere die derselben Demografie!) Schüler und die jungen Leute auf den Tribünen hier im Bundestagsplenum bitten, sich klar zu machen: Wenn Sie haben im Schlusssatz Ihres Antrags ausgeführt: wir nicht gegensteuern, wird Ihre Rente weniger als die Schließlich wollen die meisten Beschäftigten nicht Hälfte der Kaufkraft haben, die die heutigen Rentner länger arbeiten, 74 Prozent würden sogar lieber noch zur Verfügung haben. Hier gilt es, ein Stück weit eher als mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen. Da- Generationenverantwortung zu zeigen. – Hier gilt es mit geht die Rente mit 67 auch an den Wünschen aber auch, gemeinsam gesamtpolitische Verantwortung und Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei. wahrzunehmen, statt zu populistischen Parolen, die heute Anklang finden, zu greifen. Vielmehr muss für die Ja, das muss sie leider. Natürlich würde auch ich lie- nächste Generation vorausschauend auf Basis der vorlie- bend gern mit 50 Jahren in Rente gehen und mir diese genden Berechnungen geplant werden, um das System vom Staat bezahlen lassen. Aber so geht es nicht. Wir zu retten. sind hier nicht in einem Wunschkonzert, meine Damen und Herren. Politik ist die Kunst des Machbaren und (Beifall bei der CDU/CSU) nicht nur des Wünschenswerten. Mit kurzfristig positiv klingenden Parolen, lieber Herr (Beifall bei der CDU/CSU) Lafontaine, trägt man nur dazu bei, die Leute zu verdum- men. Das Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi- cherungsbericht 2005 bescheinigt uns, dass durch die Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Lin- Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters das zah- ken, Sie sagen dazu Nein, wie Sie zu fast allem Nein sa- lenmäßige Verhältnis der Rentner zu den Erwerbstätigen gen, was unser Land voranbringt, und beweisen damit langfristig günstiger ausfallen wird. Über den Nachhal- wieder einmal allenfalls den Horizont einer Käseglocke. tigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel ergibt sich Sie nutzen die Verunsicherung von Menschen aus, die eine höhere Rentenanpassung. Zudem erwerben die Ver- sich auf neue Situationen einstellen müssen. Sie verspre- sicherten wegen der längeren Lebensarbeitszeit zusätzli- chen den Leuten sozialistische Wärmestuben, in denen che Entgeltpunkte. Für Versicherte, die bis zum gesetzli- bei möglichst wenig Eigenleistung alles so bleibt, wie es chen Renteneintrittsalter arbeiten, werden deshalb auf ist, lehnen sich in Ihrem Ohrensessel zurück und warten lange Sicht die Rentenansprüche steigen. 6906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Paul Lehrieder (A) Die Kollegen von der Linkspartei dagegen tun so, als durchgängigen Erwerbsbiografie bleibt es beim Refe- (C) würde die abschlagsfreie Rente mit 67 von jetzt auf renzalter 63 Jahre. Danach können 63-jährige Versicherte gleich die soziale Gerechtigkeit im Lande dahinraffen. mit 35 Beitragsjahren bis zum Jahr 2023 weiter ab- Erstens wird sie das nicht tun; im Gegenteil. Zweitens schlagsfrei eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Ab werden Sie nicht morgen damit aufwachen. Wir haben dem Jahr 2024 gilt dies nur noch für 63-jährige erwerbs- diese Maßnahme aus dem Grund so früh angekündigt, geminderte Versicherte, die 40 Beitragsjahre erreicht ha- dass sich die Menschen darauf einstellen können. So ist ben. Dabei ist allerdings anzumerken: Wer Erwerbsmin- für einen verfassungskonformen Vertrauensschutz ge- derungsrente erhält und mit 65 Jahren ausscheidet, muss sorgt: In den Jahren 2007 bis einschließlich 2011 wird von denen finanziert werden, die zu diesem Zeitpunkt ar- nichts passieren. Im Jahr 2012 beginnt der Anstieg um beiten und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Deshalb einen Monat pro Jahr. Wer dann 65 Jahre alt ist, bekommt müssen die, die es können, aus Gründen der Solidarität seine Rente mit 65 Jahren und einem Monat. – Die große bis 67 arbeiten. deutsche Tageszeitung mit den vier Buchstaben hat das in ihrer heutigen Ausgabe auf Seite zwei oben rechts be- Wir sind uns bei unseren Reformbemühungen natür- rechnet – für all diejenigen, die das noch einmal nachle- lich immer bewusst, dass wir das Renteneintrittsalter nur sen wollen. – Das wird so über zwölf Jahre gehen. Dann dann anheben können, wenn, wie bereits ausgeführt, sich ist das erste Jahr aufgearbeitet. Anschließend geht es in die Erwerbstätigenquote der Älteren erhöht. schnellerem Tempo mit zwei Monaten pro Jahr weiter, Wir hatten dieses Thema schon auf Antrag der Linken bis zum Jahr 2029. Für die Geburtenjahrgänge ab 1964 in einer Aktuellen Stunde am 9. Februar 2006 in diesem gilt dann die Regelaltersgrenze von 67 Jahren. Hause. Kollege Klaus Ernst hat damals aus unserem Die Regelaltersgrenzen werden grundsätzlich auch in Wahlprogramm zitiert – das ehrt uns natürlich – und aus- den übrigen Rentenarten im Vergleich zur bisherigen Re- geführt: gelung entsprechend um zwei Jahre angehoben. Das gilt Nun zur Union: Im Wahlprogramm heißt es: „So- zum Beispiel für die Rente der Bergleute, bei der Alters- bald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt er- rente für schwerbehinderte Menschen sowie für die Wit- lauben, kommt auch eine schrittweise Anhebung wen- und Witwerrente. des Renteneintrittsalters infrage.“ Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass diejenigen, die mindestens 45 Versichertenjahre durch (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig! – Sehr Beschäftigung, Kindererziehungszeiten bis zum dritten gut!) Lebensjahr des Kindes und Pflege erreicht haben, auch Dann führt Kollege Ernst weiter aus: in Zukunft abschlagsfrei mit 65 in Rente gehen können. (B) (D) Das heißt, der Maurer, der mit 18, 19 oder 20 Jahren 5 Millionen Arbeitslose stellen wohl eine tolle Lage seine Ausbildung beginnt und anschließend arbeitet auf dem Arbeitsmarkt dar. Die haben wir nämlich gerade. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: So ein Quatsch! – Weiterer Zuruf des Abg. Os- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir reden von kar Lafontaine [DIE LINKE]) 2029!) – rechnen können Sie ja offensichtlich nicht; das haben Aber jetzt beschließen Sie es. Sind Sie so prophe- Sie schon als Finanzminister bewiesen, Herr Lafontaine; tisch, um jetzt schon zu wissen, was in zehn Jahren (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: los ist? Ich kann nur sagen: Wenn man so Politik Sie sollten besser mal die eine oder andere Sta- macht und die Aussagen von vor zwei Jahren, vor tistik lesen!) einem Jahr und sogar drei Monaten nicht mehr ernst nimmt, dann kann ich nur noch sagen: Furchtbar. gut, dass Sie damals als Finanzminister ausgeschieden sind; das war ein Segen für Deutschland –, Herr Ernst, furchtbar ist, dass Sie im Frühjahr von 5 Millionen Arbeitslosen ausgegangen sind. Jetzt sind es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – aber 3,995 Millionen Arbeitslose; das hatten Sie nicht Frank Spieth [DIE LINKE]: Gut, dass Sie hier vorgesehen. die „Bild“-Zeitung zitieren!) (Zurufe von der Linken – Ulrich Maurer [DIE hat mit 63, 64 oder 65 Jahren seine 45 Versicherungs- LINKE]: Weil Sie die Statistik gefälscht ha- jahre erreicht und bekommt jetzt und in Zukunft mit ben!) 65 Jahren seine unreduzierte Rente. Wer also mit 16 Jah- ren zu arbeiten beginnt, hat etwa 49 Jahre Zeit, um – Das sind die heutigen Zahlen; vielleicht können Sie 45 Pflichtjahre zu erreichen. sich diesbezüglich einmal kundig machen. Politik be- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: ginnt mit der Wahrnehmung der Realität. Erst danach Schauen Sie mal in die Rentenzugangsstatistik, können Sie Entscheidungen treffen. – Wir haben aktuell wer das ist!) eine Arbeitslosenquote von 9,6 Prozent. Das sind 0,2 Prozentpunkte weniger als im letzten Monat und Alle, die das gesundheitlich nicht schaffen, können die 530 000 weniger als im November 2005. Im Oktober so genannte Erwerbsminderungsrente in Anspruch 2006 hatten wir mit knapp über 4 Millionen Arbeitslosen nehmen. Für erwerbsgeminderte Versicherte mit einer noch eine Quote von 9,8 Prozent. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6907

Paul Lehrieder (A) Nun zur FDP. Sie hatten vorhin ausgeführt, dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn sie haben (C) Zahlen nicht nur auf unsere erfolgreiche Arbeit zurück- folgende Perspektive: Sie können nur immer geringer zuführen sind. Es fällt aber auf, dass es in den letzten werdende Rentenzahlungen erwarten und haben die beiden Jahren von Oktober auf November sinkende Ar- Sorge – die Arbeitsmarktzahlen sind nun einmal so, wie beitslosenzahlen gab: Für das Jahr 2006 waren es im No- sie sind –, dass sie mit 55 keine Arbeit mehr finden und vember 90 000 Arbeitslose weniger als im Oktober und unter Hartz IV fallen. Das ist eine sehr schlechte Zu- für das Jahr 2005 waren es 25 000 Arbeitslose weniger. kunftsperspektive. Sie wundern sich hier, dass die Hälfte Letztmalig war dies 1994 der Fall. Da gab es im Novem- der Bevölkerung sagt, dass sie mit dem Funktionieren ber 17 000 Arbeitslose weniger als im Oktober. – Es fällt unserer Demokratie nicht mehr zufrieden ist, und dass ebenfalls auf, dass in diesen Jahren die Union mitregiert zwei Drittel der Bevölkerung sagen, dass es ungerecht hat. Jetzt kann man natürlich sagen, dass man uns die zugeht. In diesem Hause ist alles eitel Sonnenschein. Vor Zahlen für 2005 nicht „anlasten“ kann. Das mag sein. diesem Hintergrund verstehe ich die ganze Debatte nicht Ich will auch nicht so weit gehen und sagen: Wenn im mehr. November die Sonne lacht, hat es die CDU gemacht. (Beifall bei der LINKEN) (Anton Schaaf [SPD]: Na ja!) Was wir heute hier diskutieren, hat eine Vorge- Machen wir uns gemeinsam auf den Weg, die sozia- schichte. Da ist zunächst einmal die Finanzierung der len Sicherungssysteme – insbesondere die Rente mit der deutschen Einheit. Ich möchte für die Rentnerinnen Einführung der Rente mit 67 – berechenbar zu machen, und Rentner, die jetzt zuhören – nicht für Sie; bei Ihnen damit die junge Generation eine Aussicht auf eine ent- habe ich die Hoffnung aufgegeben –, daran erinnern, sprechende Rente hat. dass man die deutsche Einheit über die Abgaben finan- ziert hat. Damit hat man drei Beitragssatzpunkte zusätz- Gestern hat sich der Kollege Schui von der Linksfrak- lich in Kauf genommen. Das DIW hat es ausgerechnet: tion vehement gegen den Investivlohn ausgesprochen. Das sind pro Jahr mehr als 25 Milliarden Euro. In der (Zuruf von der LINKEN: Das war gestern!) Summe hat man 400 Milliarden Euro auf diese Weise umverteilt. – Es wäre richtig gewesen, die Vermögenden – Ja, das war gestern. So schlecht ist Ihr Gedächtnis. – der Republik heranzuziehen und die Finanzierung nicht Wir prüfen alles, was eine vernünftige Alterssicherung den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufzubür- der jetzigen und der zukünftigen Arbeitnehmer ermögli- den, die in dieser Republik ihre Knochen hinhalten. chen kann. (Beifall bei der LINKEN) Herzlichen Dank. Das zweite Fummeln an der Rentenkasse war die Ein- (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) führung der Riesterrente, die hier wieder gelobt worden neten der SPD) ist. Ich kann diese Lobeshymnen nicht verstehen; denn es wurde hier vorgetragen: Die Riesterrente war notwendig, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: weil sonst die Beiträge nicht mehr bezahlbar gewesen Ich erteile das Wort Kollegen Oskar Lafontaine, Frak- wären. – Alle Redner haben aber vergessen, hinzuzufü- tion Die Linke. gen, dass es hier um die Bezahlbarkeit der Beiträge für (Beifall bei der LINKEN – Zurufe vom die Unternehmer gegangen ist, also um eine Begrenzung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) der Arbeitgeberbeiträge, und dass der Schwindel mit der Riesterrente darin besteht, dass man den Rest den Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern aufgebürdet hat Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall bei der LINKEN) ren! 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner sind unzu- und dass nur diejenigen die Riesterrente in Anspruch frieden, weil sie nicht mehr akzeptieren können, dass in nehmen können, die das Geld für die Beiträge haben. immer größerem Umfang in ihre Besitzstände eingegrif- Die Menschen mit einem Niedriglohn von 3,15 Euro, fen wird. Das geht schon seit vielen Jahren so. Nach den von denen vorhin der Arbeitsminister gesprochen hat, Prognosen haben sie fünf Jahre lang Nullrunden zu er- können die Beiträge für die Riesterrente nicht bezahlen. warten. Aber hier kann man den Eindruck gewinnen, als Auch das blenden Sie aus. gebe es überhaupt kein Problem, als sei alles in bester Ordnung. Ein weiterer Punkt. Sie haben zugelassen, dass es in diesem Land Minijobs in ausufernder Weise gibt. Das (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Ergebnis ist, dass die Sozialkassen immer leerer gewor- DIE GRÜNEN]: Wir brauchen steigende den sind. Jetzt wundern Sie sich, dass Druck auf der Löhne!) Rentenkasse lastet, und wollen mit Rentenkürzungen re- Auf diese Weise kann man völlig über die Köpfe der Be- agieren. Sie haben die Probleme doch sozusagen herbei- völkerung hinwegreden und von der Wirklichkeit abhe- beschlossen, die es jetzt zu lösen gilt. Aber Sie wollen ben. sie wieder auf eine falsche Art lösen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es sind nicht nur die vielen Rentnerinnen und Rent- Ich muss sagen: Die Arroganz und die Selbstgefällig- ner, die Sorgen haben, sondern es sind auch die aktiven keit, mit der hier vorgetragen und auf die demografische 6908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Oskar Lafontaine (A) Entwicklung verwiesen wird, ist deshalb unerträglich, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (C) weil Sie die relevante Größe, die hier zu behandeln ist, Winkelmeier [fraktionslos]) schlicht und einfach völlig ausblenden. Wenn Sie wissen wollen, wo das funktioniert, dann (Peter Rauen [CDU/CSU]: Das ist Populismus sollten Sie in die Schweiz fahren und das dortige Gesetz pur!) abschreiben. Dort ist vor vielen Jahren eine Bürgerversi- cherung eingeführt worden ist, die Umverteilungsele- Die relevante Größe, die es hier zu behandeln gilt, ist das mente enthält und eine vernünftige Basisversorgung der Realwachstum auf der einen Seite und das Wachstum Bevölkerung sicherstellt. der Produktivität auf der anderen Seite. Wer diese bei- den Kennziffern nicht nennt, soll den Mund halten, wenn Genau das ist unser Vorschlag. Das, was Sie jetzt ver- er über die Rentenkassen spricht. suchen, wird letztendlich zu nichts anderem als zu Al- tersarmut führen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Paul Lehrieder Eine letzte Bemerkung. Es ist immer davon die Rede, [CDU/CSU]: Die Arbeitsplätze gehören auch dass Sie große Sorgen in Bezug auf die Jugendarbeits- dazu!) losigkeit haben. Diese hat auch etwas mit dem Anwach- sen des Rechtsradikalismus zu tun. Wenn man aber Sie sind schlicht und einfach nicht in der Lage, das Pro- Lösungen vorlegt, die dazu führen, dass die Älteren ge- blem zu lösen. zwungen werden, länger auf dem Arbeitsmarkt zu blei- ben, und dies zum Ergebnis hat, dass die Jüngeren später Ich will ausführen, wie es in den letzten Jahren war. auf den Arbeitsmarkt kommen, dann ist das keine ad- Wir hatten in den letzten Jahren ein Realwachstum von äquate Antwort. 1,4 Prozent und einen Produktivitätsanstieg von 1,9 Pro- zent. Die Frage, die jeder zu beantworten hat, ist: Wie Eine Diskussion, die wir mit Schichtarbeitern geführt kann man auf ein Realwachstum von 1,4 Prozent und ein haben, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Ein Schicht- deutlich stärkeres Anwachsen der Produktivität mit einer arbeiter hatte sich während dieser Diskussion gemeldet Verlängerung der Arbeitszeit antworten? Wer das tut, und gesagt: Wenn man uns zwingt, länger zu arbeiten, muss schon bescheuert sein; das muss ich in aller Klar- bedeutet das eine Verkürzung unserer Lebenszeit. – Da- heit sagen. rüber sollten Sie einmal nachdenken. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Widerspruch bei Winkelmeier [fraktionslos]) (B) der CDU/CSU) (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Auch wenn Sie die Grundrechenarten nicht mehr beherr- Ich erteile das Wort Kollegen Gregor Amann, SPD- schen, sollten Sie sich mit den relevanten Daten der öko- Fraktion. nomischen Entwicklung beschäftigen. Dann kommen Sie zu anderen Ergebnissen. Sie werden mit einer Ver- (Beifall bei der SPD) längerung der Arbeitszeit – ob es die tägliche oder die Lebensarbeitszeit ist – die Probleme nicht lösen, weil re- Gregor Amann (SPD): levante ökonomische Daten schlicht dagegensprechen. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nur, Sie nehmen sie nicht zur Kenntnis; das ist Ihr Pro- Manchmal beneide ich die Kollegen der Linksfraktion. blem. (Zurufe von der LINKEN: Das verstehen wir!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Wenn unser einer hier im Plenum reden soll, dann muss er Zahlen und Daten ermitteln, Argumente sammeln und Es wird immer wieder gefragt: „Was ist Ihr Gegen- überlegen, wie er den Rest des Hauses überzeugen kann. modell?“ Ich möchte darauf verweisen, dass die Finan- Bei der Linksfraktion ist es anders. Ihre Kollegen gehen zierung der sozialen Sicherungssysteme über die in die Fraktionsgeschäftsstelle und sagen: Gib mir ein- Arbeitseinkommen zu einer Zeit eingeführt wurde, als mal die Rede zur Rente mit 67! Gib mir einmal unsere die Einkommen zu 90 Prozent aus Arbeitseinkommen Rede zur Gesundheitspolitik! – Dann wird dieselbe Rede und zu 10 Prozent aus Vermögens- und Unternehmens- wieder und wieder in diesem Hause vorgetragen; ich einkommen bestanden. Mittlerweile hat sich die Welt to- kenne sie alle schon auswendig. tal verändert. Mittlerweile bestehen die Einkommen zu 60 Prozent aus Arbeitseinkommen und zu 40 Prozent (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) aus Unternehmens- und Vermögenseinkommen; das sind Dabei ist es egal, ob der Redner Schneider oder Lafon- die groben Zahlen. In einer solchen Situation gibt es nur taine heißt. Es ist immer wieder dasselbe. eine einzige Antwort: Man kann die sozialen Siche- rungssysteme nicht allein und in erster Linie über die Das war auch so bei Ihrer Rede zur Rentenpolitik. Der Arbeitseinkommen finanzieren. Wir müssen die Unter- vorliegende Antrag ist Ihre Standardrede zur Rente; nur, nehmens- und Vermögenseinkommen endlich in entspre- dieses Mal steht eine Drucksachennummer des Bundes- chendem Umfang zur Finanzierung der Sozialkassen he- tages darüber. Es steht nichts Neues drin. Sie reden wie- ranziehen. der von Rentenkürzungen, Altersarmut und Arbeitslo- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6909

Gregor Amann (A) sigkeit. Das hat mit der Realität so viel zu tun wie die ten. Sollten Ihre Befürchtungen dann doch eintreten, (C) Seifenopern im Privatfernsehen. könnte rechtzeitig gegengesteuert werden. (Zurufe von der LINKEN: Wo leben Sie Der Kollege Lehrieder hat zu Recht auf den letzten denn?) Satz Ihres Antrags verwiesen. Ich werde ihn deswegen noch einmal vorlesen: Worum geht es bei der Rente mit 67? Die Schlüssel- wörter sind: Nachhaltigkeit und Generationengerechtig- Schließlich wollen die meisten Beschäftigten nicht keit. länger arbeiten, 74 Prozent würden sogar lieber eher als mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Ich kann Ihnen noch eine weitere Erkenntnis mitteilen: Unser Rentensystem ist ein Solidarvertrag zwischen den 96 Prozent aller Menschen essen lieber Schokoladeneis Generationen. Eine Generation bezieht die Rente, wäh- als Lebertran. rend die andere Generation sie mit ihren Beiträgen finan- ziert, bis sie dann selbst aus dem Arbeitsleben ausschei- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Ir- det und von der nachfolgenden Generation eine Rente mingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE bezieht. Bundesminister Müntefering hatte Recht: Das GRÜNEN]: Sie auch!) deutsche System der Alterssicherung ist vorbildlich. Das ist Ihre Politik; es ist eine Politik nach Meinungs- Aber dieser Generationenvertrag funktioniert nur, umfrage. Sie reden den Menschen nach dem Mund, wenn es für alle Beteiligten fair und gerecht zugeht. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Reine Wenn das System nicht fair und gerecht ist, wenn also Populisten!) zum Beispiel das Rentenniveau so sinkt, dass Alters- armut doch ein Thema wird, oder wenn die Beitragszah- blenden aber die Realität aus. lungen für die arbeitenden Menschen so exorbitant stei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen, dass ihnen keine Luft zum Atmen bleibt, dann ist die Folge: Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Wir sagen den Menschen die Wahrheit, auch wenn sie Rentenversicherung und der Generationenvertrag funk- bitter schmeckt. tioniert nicht mehr. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Genau diese Entwicklung war vorhersehbar. Konrad Sie sollten lieber Lebertran nehmen!) Adenauer sagte einmal im Bundestag: Kinder bekom- men die Leute immer. – Heute, nach wenigen Jahrzehn- Aber wir sorgen so dafür, dass der Solidarvertrag der (B) ten, wissen wir: Adenauer irrte sich. Zwei demografi- Rentenversicherung für alle Generationen gerecht und (D) sche Entwicklungen nehmen die Rentenversicherung fair bleibt. nämlich in die Zange – ich muss es nicht lange ausfüh- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ren; meine Vorredner haben das schon getan –: Die Geburtenrate sinkt dramatisch und die Lebenserwar- tung, und damit die Rentenbezugsdauer, steigt an. Diese Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: beiden Entwicklungen würden in absehbarer Zeit dazu Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPD- führen, dass der Generationenvertrag nicht mehr funk- Fraktion. tioniert, weil er für die eine bzw. die andere Seite unfair (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb oder ungerecht werden würde. [FDP]: Mal gucken, ob der Kollege jetzt auch Genau darauf hat die große Koalition reagiert. Wir die Standardrede gegriffen hat!) haben das gemacht, was eigentlich logisch ist: Wenn die Lebenserwartung und damit die Rentenbezugsdauer an- Anton Schaaf (SPD): steigen, dann muss der mittlere Block, die Lebensar- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber beitszeit, ebenfalls verlängert werden. Das ist nicht un- Kollege Lafontaine, was wirklich unerträglich ist, das bedingt populär, aber es ist sinnvoll, notwendig und eine kann ich Ihnen deutlich sagen: dass Sie so plakativ, so wichtige Entscheidung, mit der die Generationengerech- populistisch daher kommen wie die Zeitung mit den gro- tigkeit in unserem Alterssystem erhalten werden kann. ßen Buchstaben, für die Sie gearbeitet haben. Das ist un- erträglich. Übrigens – das ist in dieser Debatte bisher noch gar nicht erwähnt worden und in Ihrem Antrag schon gar (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht – enthält der Gesetzentwurf, Damit verunsichert man die Menschen, damit schürt (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ man Ängste und Sozialneid – in dieser Beziehung sind DIE GRÜNEN]: Wir reden ja noch nicht über Sie übrigens großartig, ohne Zweitel –, aber das bindet den Gesetzentwurf der Koalition!) die Gesellschaft nicht zusammen, es bildet keine Klam- mer, sondern differenziert weiter aus. Genau das finde der noch eingebracht wird, auch eine Bestandsprü- ich unerträglich und das haben Sie ohne Zweifel hier fungsklausel: Ab dem Jahr 2010 hat die Bundesregie- heute wieder gemacht. rung dem Parlament alle vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung der älteren Arbeitnehmer zu berich- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 6910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Anton Schaaf (A) In solchen Anträgen geht die Linksfraktion immer da- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ja!) (C) von aus, dass es sich dabei ausschließlich um eine Sie ignorieren dieses Problem schlichtweg und sagen, finanzpolitische Frage handelt, also um die Frage: Wie man könne das anders gestalten. Ihre Umverteilungs- finanzieren wir Systeme? politik ist schlicht: Wir nehmen denen, die jetzt gut ver- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Überhaupt dienen, viel weg und wenn sie hohe Ansprüche erwor- nicht!) ben haben, nehmen wir ihnen die hohen Ansprüche ebenfalls weg. Die gesellschaftspolitische Frage, die hinter dem demo- grafischen Problem steckt, blenden Sie permanent aus. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Diese Gesellschaft wird älter, Gott sei Dank. Franz Lehrieder [CDU/CSU]) Müntefering sagt an dieser Stelle immer: Hoffen wir, wir Das werden Sie verfassungsrechtlich nie sauber hinbe- sind dabei. – Ich hoffe es besonders für dich, Franz. Du kommen, zumindest nicht in den bestehenden Systemen. bist ja noch dabei, Gott sei Dank. Die bestehenden Systeme haben sich in der Tat be- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei währt. Wir müssen sie jetzt zukunftsfest machen und wir Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss tun dies. Dass das relativ unpopulär ist, ist mir völlig [SPD]: Was heißt hier „noch“?) klar. Niemandem von uns macht es Freude, solche Bot- Mit Blick auf die Initiative „50 plus“ – zu ihr komme ich schaften zu übermitteln. Wir setzen aber die richtigen Si- gleich – kann man wirklich „Gott sei Dank“ sagen, weil gnale. wir mit dieser Initiative wirklich Herausragendes geleis- Ich nenne hier die Initiative „50 plus“. Ich hatte ges- tet haben, vor allen Dingen Franz Müntefering. tern das Vergnügen, bei der Auftaktveranstaltung sein zu Die Gesellschaft wird immer älter; diejenigen, die können, die der Minister organisiert hat. Diese Initiative nachkommen, werden immer weniger. Wir haben die verdeutlicht den Zweiklang, den wir immer betont ha- Systeme nie angepasst; die Beispiele sind eben genannt ben: Auf der einen Seite steht die Zumutung, auf der an- worden. In den 60er-Jahren ist die Rente im Schnitt zehn deren Seite müssen wir Chancen bieten. Die große Jahre lang ausgezahlt worden; mittlerweile sind wir bei Koalition hat sich mit der Initiative „50 plus“ auf den 17 Jahren angekommen. Dazu haben übrigens all die Weg gemacht, die Chancen älterer Arbeitnehmerinnen Maßnahmen beigetragen, die wir gemeinsam gefeiert und Arbeitnehmer sehr deutlich und nachhaltig zu ver- haben, wie Vorruhestand, Altersteilzeit und ähnliche. Sie bessern. haben bewirkt, dass sich die Lebensarbeitszeit verkürzt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – und sich die Rentenbezugszeit verlängert hat. (B) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo ist denn jetzt (D) Meine Tochter, die im Januar geboren ist, hat gute das Neue?) Chancen, 100 Jahre alt zu werden. Gestern wurden Beispiele dafür angeführt, wie sich (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!) das auswirkt. Viele Unternehmen sagen bereits: Wir müssen altersgerechte Arbeitsplätze schaffen bzw. vor- Ich freue mich für sie; das ist wunderbar. Wenn wir an halten. Wir können auf das Know-how, auf die Qualität dem System aber nichts verändern, wenn wir es nicht zu- der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der kunftsfest machen, kann folgende Situation eintreten: hoch qualifizierten Facharbeiterschaft in unserem Land Ich hoffe, sie wird schlauer als ihr Vater und geht studie- zukünftig nicht verzichten. Wir können sie nicht vorzei- ren. Mit 25 oder 26 Jahren wird sie vielleicht fertig sein. tig gehen lassen. – Es ist ein positives Signal, wenn ge- Mit 65 schicken wir sie spätestens in Rente, mit den In- sagt wird: Wir brauchen euch auch noch, wenn ihr älter strumenten, die wir gegenwärtig haben, vielleicht sogar seid; dieses Land ist auf euch angewiesen. Ich finde, das etwas früher. Das heißt, sie wird in den ersten 25 und ist ein gutes Signal. Ein schlechtes Signal ist es, zu sa- den letzten 30 Jahren ihres Lebens Leistungen aus unse- gen: Geht mit 50 Jahren! Wir brauchen euch nicht mehr; ren sozialen Systemen erhalten. Die Zwischenzeit ist wir alimentieren euch höchstmöglich. – Das ist ein schlichtweg viel zu kurz, um das zu finanzieren. schlechtes Signal für die Menschen und für die Gesell- schaft. Wir senden ein anderes Signal. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir können den nachkommenden Menschen nicht sa- gen: Wir lassen alles so, wie es ist. – Sie haben gesagt, Die Rente mit 67 ist bei uns nicht unumstritten. dass Sie alle in die Finanzierung der Erwerbstätigenrente einbeziehen wollen. Nach unserem System, dem Äqui- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: valenzprinzip, werden alle, die Beiträge leisten, vor Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des dem Hintergrund ihrer Beiträge Leistungen erhalten. Ich Kollegen Ernst? bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, dass der- jenige, der im Alter Leistungen erhält, zuvor eigene Bei- träge geleistet haben soll, übrigens auch Abgeordnete. Anton Schaaf (SPD): Würden jetzt alle Beiträge in die Rentenkasse zahlen, Aber selbstverständlich. würde das zwar eine kurzfristige Erhöhung der Liquidi- tät bedeuten, langfristig aber neue Probleme verursa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: chen. Bitte. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6911

(A) Klaus Ernst (DIE LINKE): zeiten, die wir hinsichtlich des Renteneintritts mit 67 (C) Kollege Schaaf, im Wahlprogramm der SPD – das ist eingeräumt haben, und der begleitenden, vom Minister noch gar nicht so lange her – wurde die Rente mit 65 angestoßenen Initiative „50 plus“ sind wir auf einem noch vehement verteidigt. Es gab einen dramatischen richtigen und guten Weg. Umschwung in der Meinung der SPD: Jetzt ist die Rente Ich freue mich auf die Debatten im Dezember zur mit 67 das Richtige. Auf Grundlage welcher Erkennt- Einbringung der Gesetze, die damit einhergehen. Dann nisse ist dieser Meinungsumschwung in der SPD inner- werden wir diese Diskussion noch einmal und dann halb eines Jahres zustande gekommen? Könnte das da- deutlich ausführlicher führen. Dann werde ich mit genau mit zusammenhängen, dass die SPD bei den Wahlen ein derselben Überzeugung sprechen, mit der ich jetzt dazu anderes Bild zeichnen wollte? gesprochen habe. (Jörg Tauss [SPD]: Wobei ich kein Problem Ich danke für die Aufmerksamkeit. habe, wenn du in Vorruhestand gehst! – Ge- genruf von der LINKEN: Aber wir hätten da- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mit ein Problem!) Vizepräsidentin : Anton Schaaf (SPD): Ich schließe die Aussprache. Ich danke Ihnen, Herr Kollege Ernst. Ich wollte ge- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf rade auf diesen Punkt zu sprechen kommen. Jetzt kann Drucksache 16/2747 an den Ausschuss für Arbeit und ich ihn außerhalb meiner Redezeit behandeln. Das ist Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – sehr nett von Ihnen. Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass die Rente beschlossen. mit 67 in der SPD und in der SPD-Bundestagsfraktion Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 j nicht unumstritten ist. Die Frage, ob es vor dem Hinter- auf: grund der demografischen Entwicklung notwendig ist, zu handeln, ist bei uns allerdings unumstritten. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Ich sage Ihnen sehr gerne, wie die Situation aussieht. über die Wahl des Bundespräsidenten durch Der Kompromiss mit der Union wurde an vielen Stellen die Bundesversammlung (B) zwar relativ geräuschlos vollzogen, er war aber nicht (D) einfach. Wir müssen schon ehrlich miteinander sein. Je- – Drucksache 16/3303 – der dieser Streitpunkte hat aber wesentlich mehr Qualität Überweisungsvorschlag: als Ihr Antrag. Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Innenausschuss Rechtsausschuss Diese Auseinandersetzung führen wir dann gerne ge- meinsam und zielgerichtet. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Lassen Sie mich zum Schluss die Altersteilzeit und zung des Rahmenbeschlusses des Rates der den damit verbundenen Stichtag ansprechen. Ich bin Europäischen Union zur Bekämpfung der Klaus Brandner für seine Initiative ausdrücklich dank- sexuellen Ausbeutung von Kindern und der bar. Sehr dankbar bin ich auch den beiden Fraktionsvor- Kinderpornographie sitzenden Peter Struck und Volker Kauder, dass wir eine solche Regelung geschaffen haben. Dies gibt Zeit, alles – Drucksache 16/3439 – vernünftig und vertrauensvoll abzuarbeiten. Der Zeit- Überweisungsvorschlag: raum bis zum 29. November dieses Jahres war zu kurz Rechtsausschuss (f) bemessen. Wir haben diese Erkenntnis gewonnen und Innenausschuss gehandelt. Deswegen bin ich den Akteuren sehr dankbar. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Das schafft Verlässlichkeit in den Betrieben. Hier geht es c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- um Vertrauensschutz und darum, wie man mit Kollegen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem umgeht. Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) betreffend den Verkauf von Kindern, die Kin- Übrigens, Kollege Ernst, wie schnell man das Ver- derprostitution und die Kinderpornographie trauen der Kollegen verlieren kann, haben Sie in den – Drucksache 16/3440 – letzten Tagen leider Gottes – ich sage ausdrücklich „leider Gottes“, weil Sie in Ihrer Funktion als Gewerk- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) schafter betroffen sind – erfahren. Wir müssen weiter Innenausschuss Vertrauen gewinnen. Mit den verlässlichen Übergangs- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 6912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- (C) Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, regierung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Bericht der unabhängigen Expertenkommis- KEN sion „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ – Nach dem Wiener Gipfel – die Beziehungen Der Weg in die Zukunft zwischen der EU und Lateinamerika solida- – Drucksache 15/3636 – risch gestalten Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/2602 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gierung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stellungnahme der Bundesregierung Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafon- zum Bericht der unabhängigen Experten- taine, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LIN- kommission „Finanzierung Lebenslangen KEN Lernens“ – Der Weg in die Zukunft – Druck- sache 15/3636 – Verbesserung der Statistik zur Lohn- und Ein- kommensteuer, Umsatzsteuer und Erbschaft- – Drucksache 15/5427 – und Schenkungsteuer Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/3025 – Technikfolgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Finanzausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike ten Verfahren ohne Debatte. Hänsel, Michael Leutert, Dr. Diether Dehm, wei- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Für einen europäischen zivilen Friedensdienst überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, (B) das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- (D) – Drucksache 16/3620 – schlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 b bis 33 m auf. Entwicklung (f) Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu Vor- Verteidigungsausschuss lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Tagesordnungspunkt 33 b: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike nen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LIN- Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes KEN zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung ei- Illegitime Schulden von Entwicklungsländern ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und streichen Zukunft“ (EVZ-StiftG) – Drucksache 16/3618 – – Drucksache 16/3270 – Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und schusses (4. Ausschuss) Entwicklung (f) Finanzausschuss – Drucksache 16/3634 – h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Berichterstattung: Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeord- Abgeordnete (Altötting) neter und der Fraktion der LINKEN Maik Reichel Zugriff von Geheimdiensten auf das Schenge- Dr. Max Stadler ner Informationssystem der zweiten Genera- Ulla Jelpke tion verhindern – Drucksache 16/3619 – Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3634, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6913

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Abgeordneten René Röspel, Dr. Rolf Mütze- (C) des ganzen Hauses angenommen. nich, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wir kommen zur Schutz vor Biowaffen verbessern – das Bio- dritten Beratung waffenübereinkommen stärken und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 16/3612 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 33 c: Tagesordnungspunkte 33 e bis 33 m: Wir kommen zu – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszula- Tagesordnungspunkt 33 e: gengesetzes 2007 (InvZulG 2007) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksachen 16/3437, 16/3651 – ausschusses (2. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Sammelübersicht 135 zu Petitionen ausschusses (7. Ausschuss) – Drucksache 16/3527 – – Drucksache 16/3643 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Berichterstattung: gen? – Sammelübersicht 135 ist mit den Stimmen des Abgeordnete Manfred Kolbe ganzen Hauses angenommen. Simone Violka Tagesordnungspunkt 33 f: – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/3647 – Sammelübersicht 136 zu Petitionen (B) (D) Berichterstattung: – Drucksache 16/3528 – Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme (Erfurt) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 136 ist mit den Stimmen der Dr. Gesine Lötzsch Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegenstimmen Anja Hajduk der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/3643, den Gesetzent- Tagesordnungspunkt 33 g: wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- ausschusses (2. Ausschuss) sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- Sammelübersicht 137 zu Petitionen mit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ent- – Drucksache 16/3529 – haltungen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- und der Fraktion Die Linke. tungen? – Sammelübersicht 137 ist damit einstimmig Dritte Beratung angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Tagesordnungspunkt 33 h: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ausschusses (2. Ausschuss) ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zwei- ten Lesung angenommen. Sammelübersicht 138 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 33 d: – Drucksache 16/3530 – Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Kla- gen? – Sammelübersicht 138 ist bei Enthaltung der Frak- eden, Dr. Andreas Schockenhoff, weiterer Abge- tion der FDP mit den Stimmen aller anderen Fraktionen ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie angenommen. 6914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Tagesordnungspunkt 33 i: Ich rufe nun Zusatzpunkt 3 auf: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Aktuelle Stunde ausschusses (2. Ausschuss) auf Verlangen der Fraktion der FDP Sammelübersicht 139 zu Petitionen Die finanzielle Situation der Pflegeversiche- rung – Drucksache 16/3531 – (Unruhe) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 139 ist bei Gegenstimmen der – Wenn diejenigen, die der weiteren Debatte nicht folgen Fraktion der FDP und bei Zustimmung aller anderen wollen, den Saal verlassen haben, kann ich die Ausspra- Fraktionen angenommen. che eröffnen. – Darf ich Sie bitten, Ihre Gespräche vor dem Saal fortzusetzen, damit wir dem ersten Redner in Tagesordnungspunkt 33 j: der Aktuellen Stunde aufmerksam folgen können? Ich danke Ihnen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion. Sammelübersicht 140 zu Petitionen (Beifall bei der FDP) – Drucksache 16/3532 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Heinz Lanfermann (FDP): gen? – Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmen des Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ganzen Hauses mit Ausnahme der Fraktion Die Linke, Herren! Es hat in den letzten zwei Wochen eine Reihe die dagegen gestimmt hat, angenommen. verwirrender und widersprüchlicher Aussagen zur Re- form der Finanzierung der Pflegeversicherung gegeben. Tagesordnungspunkt 33 k: Die FDP-Fraktion will Ihnen von SPD und Union und Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- natürlich auch der Frau Ministerin heute die Gelegenheit ausschusses (2. Ausschuss) geben, hierzu klärende Worte zu sagen. Die Bürger war- ten geradezu darauf. Sammelübersicht 141 zu Petitionen Ich darf an die Ausgangslage erinnern: Die schwarz- – Drucksache 16/3533 – rote Koalition hat vor einem Jahr versprochen, im Som- (B) mer des Jahres 2006 einen Gesetzentwurf zur Reform (D) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- der Pflegeversicherung vorzulegen. Dieses Versprechen gen? – Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmen der hat sie nicht eingehalten. Die Bundesregierung hat auch Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Ge- Verbesserungen bei den Leistungen für Demenzkranke genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angekündigt. Doch auch dieses Versprechen steht auf tö- und der Fraktion Die Linke angenommen. nernen Füßen. Denn die Ministerin hat in diesem Monat Tagesordnungspunkt 33 l: einen Beirat eingerichtet, der – nach dann zweijähriger Arbeit – Ende 2008 einen Vorschlag für einen neuen, Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- überarbeiteten Pflegebedürftigkeitsbegriff unterbreiten ausschusses (2. Ausschuss) soll. Gleichzeitig werden für das nächste Jahr, für 2007, großzügig Leistungsverbesserungen versprochen, auch Sammelübersicht 142 zu Petitionen für Demenzkranke. Allerdings haben 100 000 Demenz- – Drucksache 16/3534 – kranke in Deutschland nach der jetzt gültigen Definition keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung, Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- weil sie nicht einmal die Voraussetzungen der Pflege- gen? – Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmen der stufe I erfüllen. Diese Kranken könnten bei der für 2007 Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnis- versprochenen Reform nur dann Leistungen erhalten, ses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der wenn der Pflegebedürftigkeitsbegriff sofort verändert FDP und der Fraktion Die Linke angenommen. wird. Das soll aber – Sie haben es gehört – erst Ende 2008 geschehen. Es bleibt das Geheimnis der Ge- Tagesordnungspunkt 33 m: sundheitsministerin, wie sie diesen Demenzkranken hel- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- fen will. ausschusses (2. Ausschuss) (Beifall bei der FDP) Sammelübersicht 143 zu Petitionen Das Versäumnis der Ministerin liegt auf der Hand: Sie – Drucksache 16/3535 – ist mehr als fünf Jahre im Amt, und die Probleme – so- wohl der Finanzierung als auch der Inhalte, der Frage Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- der Definition der Pflegebedürftigkeit, der Einstufung, gen? – Dann ist Sammelübersicht 143 mit den Stimmen der Organisation, des Bürokratieabbaus, der Transparenz der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- und des Verhältnisses zwischen ambulanter und stationä- tionsfraktionen angenommen. rer Pflege – sind seit langem bekannt. Das heißt, Sie hät- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6915

Heinz Lanfermann (A) ten schon vor Jahren eine Reform der Pflegeversiche- (Beifall bei der FDP – Lachen der Abg. Elke (C) rung angehen müssen. Ferner [SPD]) (Beifall bei der FDP) Dabei ist die Pflegeversicherung die demografieanfäl- ligste Sozialversicherung überhaupt. Hier geht die Die erneute Verschiebung, ins nächste Jahr, wird da- Schere zwischen den immer weniger werdenden Jünge- mit begründet, man müsse erst die Gesundheitsreform ren – also fallendem Beitragsaufkommen – und den im- abwarten. Das ist natürlich nur eine Ausrede. Denn die mer mehr werdenden Älteren und ganz Alten – also stei- Schubladen im Ministerium sind voll, sie quellen gera- gendem, immer schneller steigendem Finanzbedarf – am dezu über – sonst würden nicht dauernd Papiere ir- weitesten auseinander. Hier wirkt sich das falsche Kon- gendwo landen, wo sie die Hausleitung nicht sehen will. strukt der Bürgerversicherung am verheerendsten aus. In Wirklichkeit will die Ministerin die Union bei der Ge- Das Wort ist eine schöne Verpackung, der Inhalt fault sundheitsreform weich kochen, um anschließend bei der schnell. Pflegeversicherung ihrem Traum von der Bürgerzwangs- versicherung ein Stück näher zu kommen. (Beifall bei der FDP) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oje, oje!) Frau Ferner, die jüngere Generation erwartet gerade von der SPD-Ministerin ein klares Bekenntnis zum Prin- Jetzt haben die B-Länder im Bundesrat einen Vor- zip der Kapitaldeckung. Denn nur so können die Kosten schlag präsentiert, wonach eine ergänzende Kapitalde- in der Zukunft getragen werden. ckung eingeführt werden soll: Zu den 1,7 Prozent Bei- trag soll eine zusätzliche Pauschale von einigen Euro im (Elke Ferner [SPD]: Völliger Unsinn, was Sie Monat treten, die dann anwachsen soll. Dieser Vorschlag da erzählen!) ist noch zu prüfen und zu diskutieren; aber er wäre we- nigstens ein Schritt in die richtige Richtung. Und sofort Sie werden Ihrem Koalitionspartner doch zumindest be- gibt es heftigen Streit, kommt die reflexhafte Reaktion stätigen, was im Koalitionsvertrag steht: dass es keinen von Frau Ferner, dass ihre Partei die Einführung einer Gesetzentwurf der Bundesregierung geben wird, mit Kopfpauschale nicht mitmachen werde. Der Kollege dem nicht zumindest in Teilen eine Kapitaldeckung der Zylajew sagt völlig korrekt: Im Koalitionsvertrag steht Pflegeversicherung eingeführt wird. doch, dass die Pflegeversicherung durch eine kapitalge- (Elke Ferner [SPD]: Das muss man weder pri- deckte Säule ergänzt wird. Sie und die anderen Kollegen vat noch über eine feste Prämie machen!) von der Union können uns gleich noch einmal bestäti- gen, dass es auch so kommen soll. – Über die Privatversicherung unterhalten wir uns ein anderes Mal, Frau Ferner. Nachdem ich bei der DGB- (B) Frau Schmidt teilt dann Ihnen mit – über die „Wirt- Veranstaltung mit Freuden gehört habe, dass auch Sie (D) schaftswoche“ –, dass sie von dem Modell der Unions- privat versichert sind, länder überhaupt nichts hält: Prämie? – Nein danke! Ka- pitaldeckung? – Teufelszeug! Alle sollen in einen Fonds (Zurufe von der FDP: Aha! – Elke Ferner einzahlen, der „Pflegefonds“ lässt grüßen. Das ist natür- [SPD]: Das ist kein Geheimnis! – Jörg Tauss lich kein Zufall. Denn als Hauptanteil dieses Fonds sol- [SPD]: Ist das eine Schande, Kollege Lanfer- len die 13 Milliarden Euro einfließen, die die private mann? – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wasser Pflegeversicherung als Vorsorge für die Zukunft zurück- predigen und Wein trinken!) gelegt hat. sollten Sie sich jetzt nicht beschweren. (Elke Ferner [SPD]: Völliger Unsinn, was Sie Danke schön. da erzählen!) (Beifall bei der FDP) – Natürlich, Frau Ferner: Wenn Umverteilung zum be- herrschenden Politikprinzip wird – wie bei Ihnen –, dann schreckt man offensichtlich auch nicht vor dem Zugriff Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: auf fremde Rücklagen zurück. Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Widmann- Mauz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Unglaublich!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Union übernimmt eine tragische Rolle. Nach dem Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Verhandlungsfiasko bei der Gesundheitsreform wird Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- jetzt der Vorschlag, den Sie bringen, von der Ministerin gen! Im Grunde genommen haben die Menschen doch sofort vom Tisch gewischt. Allerdings heißt es im Koali- nur zwei Wünsche: alt zu werden und dabei jung zu blei- tionsvertrag: ben. Heute werden die Menschen tatsächlich immer Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostruk- älter. Das ist kein Methusalem-Komplott, sondern turen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzli- schlichtweg schön. cher und privater Pflegeversicherung eingeführt. Wir wissen aber: Alt zu werden, ist kein reines Ver- Ich sage Ihnen: Wer sich auf so einen Satz einlässt, der gnügen. Nachlassende körperliche und geistige Kräfte, darf anschließend nicht überrascht sein, wenn das zum Krankheit, Angst und Tod werden mit zunehmendem Einfallstor für die Bürgerzwangsversicherung wird. Alter immer bestimmendere Lebensthemen. Als sei dies 6916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Annette Widmann-Mauz (A) für den Einzelnen nicht schon gravierend genug, kommt pekte, die den Pflegebedürftigen in diesem Land helfen. (C) diese Lebensproblematik mit vielfacher Wucht nun zu- Ich nenne nur folgende Stichworte: Reha vor Pflege, sätzlich auch noch auf unsere Gesellschaft als Ganzes Einbeziehung der Pflege in die integrierte Versorgung, zu. Veränderung des Häuslichkeitsbegriffs in der ambulan- ten Krankenpflege, Präzisierung des Anspruchs auf Sicher, die demografische Entwicklung ist nicht nur Hilfsmittel in stationären Einrichtungen, verbessertes ein gesellschaftliches Phänomen, sondern sie wird im- Entlassmanagement der Krankenhäuser. Das alles mer mehr auch zum versicherungsmathematischen Pro- kommt den Menschen zugute. blem in unserem Land. Sie haben auch die Koalitionsvereinbarung angespro- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!) chen. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, was dazu drin Die Pflegebedürftigkeit kann jeden treffen, auch wenn steht. die Wahrscheinlichkeit bei den über 80-Jährigen mit (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ja, das tun Sie mehr als 30 Prozent fast zehnmal höher als in der Alters- einmal!) gruppe der Menschen zwischen 60 und 80 Jahren ist. Pflegebedürftig zu sein, heißt also, auf die Hilfe und Un- Zum Ersten wollen wir die Erwerbstätigen mit der terstützung durch die Familie oder andere angewiesen zu Reform der Finanzierung der Pflegeversicherung nicht sein. Damit stellt sie immer auch ein finanzielles Risiko überfordern. Deshalb müssen wir die Einnahmen und dar. Ausgaben der Pflegeversicherung sehr sorgfältig über- prüfen und seriöse Antworten geben. Wer die Einnah- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!) meseite unberührt lassen will, der muss den Menschen Die Pflegeversicherung als eine soziale Sicherung für auch offen sagen, dass die Leistungen auf Dauer gekürzt dieses elementare Lebensrisiko ist im Übrigen – das darf oder sukzessive immer mehr Menschen wieder in die an dieser Stelle einmal erwähnt werden – von einer Sozialhilfe abrutschen werden. Das ist nicht unser Ziel. unionsgeführten Bundesregierung eingeführt worden. Deshalb ist dies auch keine Lösung. Man darf durchaus nochmals sagen: Das Ziel, die Men- (Beifall bei der CDU/CSU) schen mit dem Risiko der Pflegebedürftigkeit nicht al- lein zu lassen, ist erreicht worden. Deshalb ist diese Pfle- Zum Zweiten wollen wir die Generationengerechtig- geversicherung ein wichtiger Bestandteil, auch wenn die keit ausbauen, und zwar in zweifacher Hinsicht: inner- Ausgaben die Einnahmen seit 1999 übersteigen. Trotz- halb der Generationen und zwischen den Generationen. dem wird die Pflegeversicherung erst im Jahre 2009 an Mit der Abgrenzung zwischen Familie und Menschen ihre Grenzen stoßen. Deshalb haben wir die soziale Pfle- ohne Kinder ist der erste Schritt in der Beitragsbemes- (B) geversicherung auch auf die politische Agenda gesetzt. sung bereits erfolgt. Aber für die dauerhafte Akzeptanz (D) des Systems werden wir zukünftig ohne Ergänzung des Herr Lanfermann, das, was Sie heute hier wieder von Umlageverfahrens sich gegeben haben, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Noch besser ( [FDP]: War super!) wäre die Ersetzung!) entspricht überhaupt nicht den Tatsachen. durch kapitaldeckende Elemente zum Aufbau einer De- (Dirk Niebel [FDP]: Na!) mografiereserve nicht auskommen. Das steht wörtlich in der Koalitionsvereinbarung, an die wir uns gemeinsam Sie reden zum Beispiel von Verschleppung, obwohl Sie halten werden. genau wissen, dass wir mit der Umsetzung der Roadmap für die Pflegeversicherung bereits begonnen haben. Sie (Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner wissen, dass die Pflegeversicherung zur Mitte dieses (SPD): An den anderen Satz aber auch! – Da- Jahres nach langer Zeit der Defizite sogar wieder einen niel Bahr [Münster] [FDP]: Die SPD klatscht Überschuss hatte, weil sich die Einnahmen durch die nicht!) Beitragspflichtigen so gut entwickelt haben, was mit der Wir haben in der Koalitionsvereinbarung das klare erhöhten Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäf- Ziel formuliert, die bestehenden Versicherungssysteme tigungsverhältnisse zusammenhängt. Die Konjunktur – Soziale Pflegeversicherung und private Pflegeversi- schlägt hier auf der Einnahmeseite ebenfalls durch. Das cherung – beizubehalten. Insofern sage ich auch Ihnen, ist wichtig und richtig. Herr Lanfermann: Man darf Zitate nicht verkürzen. Le- (Dirk Niebel [FDP]: Und der 13. Beitrag? sen Sie den Menschen doch einfach den Abschnitt vor! Erzählen Sie doch keinen Mist!) Wenn Sie das nicht mehr konnten, weil Ihre Redezeit ab- gelaufen war, möchte ich den letzten Satz zitieren, um Deshalb ist das kein Verschleppen. Im Gegenteil, wir ar- ihn dem Auditorium nicht vorzuenthalten. Im Koali- beiten an dieser Reform. tionsvertrag heißt es: (Beifall der Abg. Maria Eichhorn [CDU/ Der Kapitalstock wird dafür CSU]) – nämlich für einen Ausgleich zwischen gesetzlicher und Dass dies nicht nur leere Worte, sondern auch Taten privater Pflegeversicherung – sind, können Sie an unserem derzeitigen Entwurf für eine Gesundheitsreform sehen. Dieser enthält viele As- nicht angegriffen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6917

Annette Widmann-Mauz (A) (Heinz Lanfermann [FDP]: Aber für die zukünfti- Wir schlagen Ihnen vor, die private Pflegeversicherung (C) gen Beiträge sieht das anders aus!) abzuschaffen, sie zu schließen. Überführen Sie alle pri- vat Pflegeversicherten in die gesetzliche Pflegeversiche- All Ihr Schüren von Ängsten ist also grundlos. Wir wer- rung und sorgen Sie dafür, dass den Menschen die be- den die Rücklagen in der privaten Pflegeversicherung reits erworbenen Ansprüche – als Bestandsschutz – aus nicht angreifen und dennoch einen Kapitalstock bilden. dem Kapitalstock, der inzwischen 13 Milliarden Euro (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann steigen also beträgt, ausgezahlt werden! Das reicht völlig und lässt die Prämien für die Privatversicherten!) sich leicht umsetzen. Das sind wir den künftigen Generationen schuldig und (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wi- das gehört zur Generationengerechtigkeit. derspricht nur dem Grundgesetz!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dann hätten wir endlich eine solidarische Versicherung, neten der SPD – Daniel Bahr [Münster] die auf allen Schultern ruht, statt der bisherigen Zweitei- [FDP]: Der Applaus der SPD-Fraktion hält lung der Reichen, Guten und Gesunden einerseits und sich in Grenzen!) der Armen, Schwachen und Kranken andererseits. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vor diesem Problem stehen wir und das können wir lö- Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ilja Seifert für die sen. Fraktion Die Linke. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie verschieben (Beifall bei der LINKEN) doch die Lasten nur in die Zukunft!) Zu Ihrer aktien- und börsenfixierten Orientierung bei Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): jeglicher Finanzierung gibt es solidarische Alternativen, Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- die den Menschen zugute kommen müssen. legen! Meine Damen und Herren! In diesem Lande ster- ben jeden Tag Menschen wegen skandalöser Pflegezu- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- stände. Aber Sie von der FDP stellen keine andere Frage neten der SPD) als die, wie es mit der Finanzierung weitergeht. Für Frau Aber, wie gesagt, ich will nicht in erster Linie über Geld Widmann-Mauz handelt es sich nur noch um ein versi- reden. Ich will vielmehr darüber reden, was wir damit cherungsmathematisches Problem. machen. Das Problem ist, dass Sie sich seit einem halben (B) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Mir ist neu, Jahr weigern, eine Enquete-Kommission einzurichten, (D) dass die PDS eine Aktuelle Stunde dazu bean- die sich damit befasst, welche ethischen, welche rechtli- tragt hat!) chen und welche finanziellen Fragen gelöst werden müs- sen, damit Menschen mit begleitender Assistenz leben Wir müssen darüber reden, wo die eigentlichen Pro- können. Sie weigern sich, sich darüber überhaupt Ge- bleme liegen. Sie liegen in den Inhalten dessen, was danken zu machen. heute Pflege genannt wird, zum Beispiel auch im Pflege- begriff, der mit dem SGB XI eingeführt wurde und weit Der Bericht über die Situation der Heime, der dem hinter dem Bundessozialhilfegesetz zurückgeblieben ist, Ministerium vorliegt, wird verstohlen auf einer Internet- in dem der Pflegebegriff wesentlich weiter gefasst war. seite veröffentlicht, nicht aber dem Bundestag vorgelegt, weil Sie Angst haben, darüber zu reden. Dort steht näm- Wir müssen es endlich schaffen, von der Satt-Sauber- lich drin, dass jeden Tag Menschen sterben, weil die Trocken-Pflege – selbst die ist ja nicht garantiert – weg- Pflege zum Teil grausam missbraucht oder in vielen Fäl- zukommen. Was wir brauchen, ist die begleitende Assis- len gar nicht geleistet wird. So sterben in diesem reichen tenz, sodass auch diejenigen Menschen, die nicht mehr Land Menschen an Dekubita – das sind Druckgeschwü- alle Tätigkeiten des täglichen Lebens – angefangen beim re – oder deshalb, weil sie nicht genügend zu trinken Aufstehen und Waschen bis hin zur Essenzubereitung – oder zu essen bekommen. Wie kann das denn sein? Da- alleine ausführen können, dennoch aktiv am Leben der rüber müssen wir reden und nicht darüber, ob irgendwel- Gesellschaft teilhaben können. Die Aktivierungsmög- che Versicherungen oder Kapitalstöcke aufgebaut wer- lichkeiten können sehr unterschiedlich sein, aber es den müssen, die angeblich krisensicher sein sollen. muss wenigstens angestrebt werden, dass die Betroffe- Darüber lache ich mich tot. Wo ist denn das Geld der nen die vorhandenen Möglichkeiten wahrnehmen kön- Kapitalstöcke, wenn es zu einem Börsencrash kommt? nen. Aber nicht einmal das ist zurzeit gegeben. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Gucken Sie Sie aber reden ausschließlich über die Frage, ob es ei- sich die Börsen doch mal an! – Dr. Uwe Küs- nen Kapitalstock gibt – als ob dies das Problem wäre! ter [SPD]: Und morgen fallen alle Spatzen (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Natürlich!) runter!) Wir machen einen ganz anderen Vorschlag. – Ich habe nicht gesagt, dass der Börsencrash morgen oder übermorgen kommt. Wenn man vorher wüsste, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt bin ich wann er kommt, hätte man ja die Möglichkeit, vorzusor- gespannt! Wie wollen Sie das denn künftig fi- gen. Das ist aber nicht der Fall. Ich brauche doch Ihnen nanzieren!) nicht zu erklären, wie der Kapitalismus funktioniert. 6918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Ilja Seifert (A) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Er funktio- dürftiger Menschen auswirken werden. Zu nennen sind (C) niert! Das ist der Vorteil!) hier beispielsweise die geriatrischen Rehabilitationsleis- tungen, die zu Pflichtleistungen der Krankenkassen wer- Das wissen Sie doch besser als ich. den – damit stärken wir den Grundsatz „Reha vor (Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann Pflege“ –, [FDP]: Sie haben nicht gemerkt, wie der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sozialismus funktioniert!) und die Einbeziehung der Pflege in die integrierte Ver- Lassen Sie uns einen vernünftigen Pflegebegriff ein- sorgung. Das ist im Hinblick auf die demografische Ent- führen, der von Assistenz und Begleitung ausgeht und wicklung konsequent. Auch die Anpassung und Neu- der die Menschen aktiviert, anstatt sie zu passiven Ob- definition des Haushaltsbegriffs ist im Zusammenhang jekten irgendwelcher Verrichtungen zu machen! Lassen mit der Erbringung der häuslichen Krankenpflege nicht Sie uns im Parlament, in einer Enquete-Kommission, gering zu schätzen. Das ist etwas, was die Leute im täg- darüber beraten, wie wir von den starren Pflegestruktu- lichen Leben sehr schnell erreichen wird. Das sind wich- ren hin zu ambulanten, wirklich freien Strukturen kom- tige Elemente der aktuellen Gesundheitsreform, die auch men, in denen sich Menschen entwickeln können, auch vielfach beklagte Abstimmungs- und Schnittstellen- wenn sie auf Hilfe angewiesen sind! probleme bei der Kranken- und der Pflegeversicherung (Beifall bei der LINKEN) lösen werden. Dabei geht es nicht nur um alte Menschen, sondern auch Vor allem auf der Leistungsseite besteht Handlungs- um Menschen, die schon in jungen Jahren auf Unterstüt- bedarf; denn seit der Einführung im Jahre 1995 sind die zung angewiesen sind. Leistungen der Pflegeversicherung unverändert geblie- ben. Die Kostensteigerungen der letzten Jahre wurden Ich bin gespannt, wann wir endlich – ohne ideologi- somit von den Pflegebedürftigen getragen. Deshalb ist, sche Diskussionen über Kapitalstöcke zu führen – über wie im Koalitionsvertrag vereinbart, eine Dynamisie- dieses Thema debattieren und Entscheidungen fällen, die rung der Pflegeleistungen notwendig. Wir werden mit den Menschen wirklich helfen der Pflegereform dafür sorgen, dass der Grundsatz „am- Ich danke Ihnen. bulant vor stationär“ stärker als bisher zur Geltung kommt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nicht zuletzt – auch das ist heute schon angemerkt (B) Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin worden – müssen mit der Pflegereform Maßnahmen er- (D) Dr. Carola Reimann. griffen werden, die zu einer Verbesserung der Situation (Beifall bei der SPD) demenzkranker Menschen führen. Es bedarf dabei mit- telfristig auch einer Überarbeitung des Pflegebedürftig- keitsbegriffs, gerade im Hinblick auf den besonderen Dr. Carola Reimann (SPD): Hilfe- und Betreuungsbedarf der Demenzkranken. Da- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rüber hinaus sind neue gesellschaftliche Entwicklungen, Kollegen! Die Pflegeversicherung ist ein zentraler Bau- zum Beispiel neue Wohnformen im Alter, zu berücksich- stein der sozialen Sicherungssysteme und hat sich seit tigen und aufzugreifen. Deshalb begrüße ich ausdrück- ihrer Einführung 1995 bewährt. Gut 2 Millionen Pflege- lich die Einsetzung des Beirates zur Entwicklung eines bedürftige erhalten heute Leistungen aus der Pflegever- neuen Pflegebegriffs durch die Gesundheitsministerin. sicherung. Davon werden gut zwei Drittel ambulant und ein Drittel stationär versorgt. Es ist davon auszugehen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria – das ist schon angeklungen –, dass mit der demografi- Eichhorn [CDU/CSU]) schen Entwicklung die Zahl der Pflegebedürftigen wei- Ich habe schon gesagt, dass sich die Reform der Pfle- ter ansteigen wird. Damit die Pflegeversicherung dieser geversicherung nicht auf den Leistungsbereich beschrän- Entwicklung standhalten kann, müssen wir sie weiter- ken können wird. Wie eingangs erwähnt, wollen wir mit entwickeln. Es geht dabei nicht nur um die Frage nach dieser Reform eine nachhaltige und verlässliche Finan- einer nachhaltigen und verlässlichen Finanzierung, son- zierung erreichen. Grundlage muss eine gerechte Vertei- dern auch um Verbesserungen und Anpassungen auf der lung der Lasten auf alle Bevölkerungsgruppen sein. Im Leistungsseite. Koalitionsvertrag – die Stelle ist schon zitiert worden – Aus diesem Grund haben wir im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass zum Ausgleich der unter- vereinbart, eine umfassende Reform der Pflegeversiche- schiedlichen Risikostrukturen ein Finanzausgleich zwi- rung durchzuführen. Im nächsten Jahr werden wir das in schen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung Angriff nehmen. Das hat nichts mit Verschleppung zu eingeführt wird. Eine gerechte Verteilung der Lasten be- tun, Herr Lanfermann. Der Zeitplan ist sinnvoll, weil die deutet auch, dass Menschen mit geringem Einkommen Gesundheitsreform, über die wir aktuell debattieren, nicht den gleichen Betrag wie Spitzenverdiener bezahlen auch Auswirkungen auf die Pflegeversicherung hat. Dies können. Eine gerechte Verteilung der Lasten heißt für gilt es zu berücksichtigen; denn wir haben in der Tat uns Sozialdemokraten, dass sich die Beiträge nach der schon im GKV-WSG vorgesehen, Maßnahmen zu er- finanziellen Leistungsfähigkeit richten. Auch in der greifen, die sich positiv auf die Versorgung pflegebe- Pflegeversicherung gilt für uns der Grundsatz, dass die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6919

Dr. Carola Reimann (A) starken Schultern mehr tragen müssen als die schwa- (Elke Ferner [SPD]: Völlig gaga!) (C) chen. – Ich stimme Ihnen zu. – Dazu soll man auch noch die (Beifall bei der SPD) Pflegestufe I völlig abschaffen; dadurch würden unterm Nach der Gesundheitsreform in diesem Jahr werden Strich 4 Milliarden Euro gespart. wir im nächsten Jahr das Projekt Pflegeversicherung an- Es ist schlimm genug, dass ein großer Teil der Union gehen. offenbar überhaupt keinen Wert auf Solidarität und so- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die steuer- ziale Gerechtigkeit legt. So viel sage ich zu den leeren finanziert wird!) Parolen, die Sie in Dresden gepredigt haben. Natürlich gibt es in der Koalition einige offene Punkte, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gerade was die Finanzierungsfragen anbelangt. Ich bin aber sicher, dass es uns gelingt, für die Pflege ein tragfä- Aber noch schlimmer ist: Die Koalition verheddert higes und überzeugendes Konzept vorzulegen. Ziel muss sich schon wieder – genau wie bei der Gesundheitsre- es sein, die Pflegeversicherung auf eine stabile und ver- form – in Finanzdebatten. Damit reden Sie auf ganzer lässliche finanzielle Basis zu stellen, dabei die Lasten Linie an unseren wirklichen Problemen vorbei. gerecht zu verteilen und auf der Leistungsseite die not- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) wendigen Anpassungen umzusetzen, die den Pflegebe- dürftigen zugute kommen. Genau das will kein Mensch in diesem Land mehr hören. Ich danke. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt Ihr Vorschlag!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich höre von Ihnen nichts darüber, was für eine Pflege Sie eigentlich wollen. Ich höre von Ihnen nichts über In- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: halte und Strukturen. Ich höre von Ihnen auch nichts Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Scharfen- über die Sorgen der Pflegebedürftigen und ihrer Ange- berg für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. hörigen. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das werden wir Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- alles in der Pflegereform tun!) NEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte eine (B) legen! Die Entwicklung der finanziellen Einnahmen der nachhaltige und gerechte Finanzierung der Pflegeversi- (D) sozialen Pflegeversicherung im ersten Halbjahr 2006 ist cherung für sehr wichtig. Wir Grünen plädieren mit der zweifellos sehr erfreulich. Das wollen wir überhaupt Bürgerversicherung und der kollektiven Demografiere- nicht bestreiten. Dennoch unsere Botschaft an die große serve für ein sozial gerechtes und nachhaltiges Modell. Koalition: Ruhen Sie sich bloß nicht auf diesen Zahlen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aus! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber glauben Sie denn allen Ernstes, dass sich die und bei der FDP) Probleme der pflegerischen Versorgung in Luft auflösen, wenn Sie hier irgendein Konsensmodell zur Finanzie- Begehen Sie nicht den kapitalen Fehler, die Pflege- rung auftischen? Wir brauchen ein Konzept, aus dem reform vor sich herzuschieben! hervorgeht, wie Pflege in unserer älter werdenden Ge- (Zuruf von der SPD: Machen wir nicht!) sellschaft aussehen kann. Jeder, auch Sie hier, stellen sich doch die Frage: Wie kann ich in dieser Gesellschaft Nun wurde hier und heute von der Koalition bekräf- in Würde altern und wie werde ich später Pflege erfah- tigt – gerade noch von Frau Widmann-Mauz und auch ren? von der Kollegin Reimann –, dass die Reform nächstes Jahr wirklich angepackt werden soll. Das begrüßen wir Dazu brauchen wir geeignete Strukturen: Wir brau- und wir werden Sie kräftig daran erinnern; denn inzwi- chen eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Wir schen kennen wir Ihre Versprechen ganz gut. Ich erin- brauchen Case- und Care-Management. Wir müssen viel nere gerne an Ihren eigenen Koalitionsvertrag. Danach mehr Angebote für die Vereinbarkeit von Pflege und Be- sollten wir zu diesem Zeitpunkt nicht in einer Aktuellen ruf machen. Meine lieben Herren Abgeordneten, in die- Stunde debattieren, sondern wir sollten uns hier im Ple- sem Bereich sind ausdrücklich die Männer angespro- narsaal eigentlich um die Pflegereform kümmern. chen. Machen wir uns nichts vor: Die Töchter und Schwiegertöchter sind momentan der größte Pflege- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dienst der Nation. Dieses Versprechen haben Sie also schon gebrochen. In (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Hinterzimmern werden im Moment zum Teil irrwit- des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) zige Vorschläge aus Ihren Reihen diskutiert. Da fordert zum Beispiel die Mittelstands- und Wirtschaftsvereini- Wir brauchen keine Wiederholung der Parole „Verein- gung der Union, man solle die Pflegeversicherung kom- barkeit von Familie und Beruf für Frauen“. Transportie- plett auf Kapitaldeckung umstellen. ren Sie dies endlich bitte auch in Ihre Reihen! 6920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Elisabeth Scharfenberg (A) Pflegende Angehörige brauchen dringend Entlastung. Willi Zylajew (CDU/CSU): (C) Wir müssen die Trennung zwischen „ambulant“ und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „stationär“ beseitigen. Wir müssen die Verbraucher- Die Finanzierung der Pflegeversicherung war bereits rechte stärken usw. Es gibt viel zu tun; wir müssen es nur 20 Jahre vor ihrer Einführung ein – vor allen Dingen für endlich anpacken. die FDP-Fraktion – wichtiges Thema. Herr Lanfermann, wir, die damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP, ha- Unsere Vorschläge liegen offen auf dem Tisch. Wir ben dies in den Jahren 1993/94 gemeinsam auf einen haben unser Eckpunktepapier „Pflege menschenwürdig vernünftigen Weg gebracht. gestalten“ im September vorgelegt. Darin sind einige sehr gute Vorschläge enthalten. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Zum Teil habt ihr uns ziemlich gezwungen! – Heinz Lanfer- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eigenlob mann [FDP]: Das war mehr eine Erpressung!) stinkt!) – Dazu muss ich Ihnen sagen, Herr Lanfermann: Ein Ko- Wir hatten letzte Woche ein öffentliches Fachgespräch alitionspartner, mit dem ich ordentlich verhandeln kann, – ich betone: öffentlich –, in dem zahlreiche Expertinnen ist mir natürlich lieber als jemand, der sich erpressen und Experten uns bestätigen konnten, dass wir Grünen lässt. Sie enttäuschen mich. uns auf den richtigen Weg begeben haben. (Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der Wir werden weiter diskutieren und wir werden an der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der Verbesserung unserer Vorschläge arbeiten. Außerdem FDP) werden wir nicht rasten und nicht ruhen, wenn es darum geht, Ihnen unsere Erkenntnisse mitzuteilen. Setzen Sie – Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt enttäuschen Sie mich ein bisschen und bringen mich aus dem Konzept. sich mit einer umfassenden Reform der Pflegesicherung Ich habe bisher gedacht, dass Sie zu dem stehen, was wir endlich auseinander! Hier nur von „Pflegeversicherungs- reform“ zu sprechen, greift einfach zu kurz. seinerzeit vernünftig verabredet haben. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, das war ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mal bei der FDP! – Zurufe von der FDP) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) – Ich kenne die Unkenrufe. Kommen Sie endlich aus den Hinterzimmern heraus! Führen Sie endlich eine offene Diskussion und tauschen Wir müssen sehen, dass die Pflegeversicherung für Sie sich mit den entsprechenden Akteuren aus! die Menschen im Lande qualitativ und quantitativ Enor- mes erreicht hat. (B) Frau Widmann-Mauz, Sie haben eben so schön von (D) einer Roadmap gesprochen. Gehen Sie mit dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Roadmap endlich auf öffentliche Plätze und Straßen und neten der SPD) erzählen Sie den Menschen, was Sie wollen! Ohne diese Pflegeversicherung hätte es weder den guten (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ja, das fachlichen Ausbau noch den Aufbau von Strukturen und machen wir!) Netzen gegeben, wie wir sie heute haben. (Hilde Mattheis [SPD]: Genau!) Wir wollen eine öffentliche Diskussion und wir haben überhaupt kein Interesse an einer weiteren Show wie bei Ohne die Pflegeversicherung wäre das undenkbar gewe- der Anhörung zur Gesundheitsreform: Alles ist abgekar- sen. Ich frage mich, liebe Bedenkenträger aus den 90er- tet und wir werden im Grunde genommen nur noch vor Jahren: vollendete Tatsachen gestellt. (Heiterkeit bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Wo wären wir heute, hätten wir nicht mit der Pflegever- der Abg. Birgit Homburger [FDP]) sicherung Beispielhaftes geschaffen? Wir wollen eine öffentliche Diskussion und wir fordern Keine Frage: Wir müssen die Pflege weiterentwi- Sie auf, dafür endlich zu sorgen. ckeln; ganz eindeutig. Nach elf Jahren ist jetzt der rich- (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Alles zu seiner tige Zeitpunkt dafür. Wir müssen auch mehr tun, als nur Zeit!) über die Finanzierung nachzudenken. Wir haben letzt- lich die Aufgabe, die Standards zu erhalten und weiter- Danke. zuentwickeln. Heute ist die Situation teilweise eine an- dere. Wir haben noch keine Antwort auf das Problem des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Umgangs mit Dementen gefunden. Wir haben noch keine Antwort mit Blick auf neue Wohnformen gefun- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den. Wir haben noch keine abschließende Antwort auf Das Wort hat nun der Kollege Willi Zylajew für die die Frage gefunden, wie wir ambulante und stationäre CDU/CSU-Fraktion. Angebote vernünftig kombinieren. All dies werden wir angehen. In einem Jahr werden wir hier stehen und Ih- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen eine Antwort dazu anbieten. Der können Sie dann neten der SPD) zustimmen oder Sie können wieder blockieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6921

Willi Zylajew (A) Es war Frau Dr. Babel, In einem Jahr, denke ich, werden wir dazu Vernünfti- (C) ges vorlegen. Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit bis zu (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr kluge diesem Zeitpunkt. Frau!) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. die am 21. Oktober 1993 gesagt hat: Die Umlagefinan- zierung ist nicht der Weg der FDP. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Aber ihr habt zugestimmt! Nächster Redner ist nun der Kollege Daniel Bahr für die FDP-Fraktion. (Heiterkeit bei der SPD – Daniel Bahr [Müns- ter] [FDP]: Ich sage ja: Erpressung! Es war ein (Beifall bei der FDP) Fehler!) Der verehrte Graf Lambsdorff hat am 22. April 1994 Daniel Bahr (Münster) (FDP): dem Ergebnis im Vermittlungsausschuss nicht zuge- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- stimmt und gesagt: Das funktioniert nicht. legen! (Birgit Homburger [FDP]: Er hat doch Recht So richtig es ist, dass es in Deutschland eine Pflege- gehabt!) versicherung gibt, so verfehlt war es, eine solche Versicherung noch im Jahr 1995, als bereits alle Kollegen, elf Jahre haben wir die Pflegeversicherung! Konsequenzen der Bevölkerungsalterung für die Das ist die einzige Versicherung, die ohne weitere Bun- umlagefinanzierten Systeme bestens bekannt desmittel, ohne höhere Bundesmittel auskommt. waren … als ein … nach dem Umlageverfahren (Hilde Mattheis [SPD]: Und bis jetzt ohne finanziertes System zu etablieren. Beitragssatzerhöhung!) (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Da Die Pflegeversicherung ist neben der Unfallversicherung hat die FDP damals zugestimmt!) auch die einzige Versicherung, die keine Beitragssatz- Das ist ein wortwörtliches Zitat aus dem Gutachten des erhöhung erlebt hat. Bei allen anderen gab es das. Über Sachverständigenrats. elf Jahre also eine prächtige Leistung! (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Damen und Herren, das war die Befürchtung, (D) die die FDP damals, im Jahre 1994, hatte. Natürlich war neten der SPD – Zurufe von der FDP) das damals eine Erpressung durch die CDU/CSU, eine – Kollegen, vorsichtig! Ihr habt doch selbst gesagt, dass Erpressung ihres damaligen Koalitionspartners FDP. die Entwicklung in diesem ersten Halbjahr 2006 positiv war. Nun haben Sie doch einmal Geduld! (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das klingt nach Mitleid! – Zuruf von der SPD: Liebe Kollege Bahr, wir möchten letztlich – da ist die Heißt das, dass Sie erpressbar sind?) Koalitionsvereinbarung ganz klar – eine solidarische Versicherung, die in den nächsten Jahren die Grundleis- – Sie können jetzt alle protestieren. – Man sollte sich tungen solidarisch finanziert. Wir möchten, dass gerade einmal damit beschäftigen und überlegen, ob man da Ihre Generation, Herr Kollege Bahr, zusätzlich eine Ver- möglicherweise einen Fehler gemacht hat. 1994 gab es sicherungspolice in der Hand hat, die einen Beitrag zur mahnende Worte, übrigens aus Ihrer Partei genauso. Fra- Absicherung der Kosten im Pflegefall leisten kann. Da- gen Sie einmal den Kollegen Herrn Biedenkopf! rauf werden wir hinarbeiten. Ich hoffe sehr, dass uns die (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Womit FDP dabei ein Stück begleiten wird. hat man Sie denn erpresst? Was haben Sie Herr Dr. Seifert, bei allem Respekt vor Ihrer Person – denn für die Zustimmung bekommen?) ich habe mich in Deutschland im Pflegebereich ein biss- Damals wurde befürchtet, dass wir genau das erleben chen umgeschaut. Sozialistische Modelle, die etwas er- werden, was wir jetzt erleben, dass nämlich zehn Jahre bracht haben, was mit dem, was wir haben, auch nur ver- nach Einführung der Pflegeversicherung die Defizite so gleichbar wäre, habe ich nicht gefunden, auch in keinem zunehmen werden, dass wir vor der Frage stehen: Muss Nachbarland. Seien Sie mir also nicht böse, wenn ich der Beitragssatz nicht weiter erheblich steigen? sage: Ihr Weg kann uns schlichtweg nicht begeistern. (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Blüm hat damals gesagt: Nein, das müsse nicht passieren. Das sei kein Problem. Es gab große Verspre- Ich will zum Schluss sagen, dass sich die Kollegin chen, was die Pflegeversicherung alles leisten würde. Scharfenberg und die Grünen keine Sorgen zu machen Wir wussten schon damals, dass es angesichts der Al- brauchen. Wir ruhen uns nicht aus. Wir werden hier Bes- terspyramide der Bevölkerung ein Fehler ist, auf ein seres leisten. Die FDP kann ich nur bitten, in den Län- Umlageverfahren zu setzen. Das haben wir jetzt auch. dern, wo sie noch Mitverantwortung trägt, einen Beitrag Sie retten sich, Frau Widmann-Mauz, nur mit Einmal- dazu zu leisten, dass die Pflege besser wird. effekten. 6922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) (Beifall bei der FDP – Annette Widmann- Die Altersentwicklung werden Sie auch nicht weg- (C) Mauz [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht reformieren können, wenn Sie immer mehr Ältere und wahr!) immer weniger Junge haben. Aber da liegt der Unter- schied. Dann sollten wir uns darüber Gedanken machen, – Natürlich. Ich erinnere an die Umsetzung des Bundes- jetzt Vorsorge zu treffen, heute einen Kapitalstock für verfassungsgerichtsurteils aus dem letzten Jahr, den Zu- die steigenden Kosten im Alter aufzubauen, heute den satzbetrag für Kinderlose. Das bringt einen Sonder- Einstieg zu wagen. effekt, eine Zusatzeinnahme von 700 Millionen Euro jedes Jahr. Das verbessert die Finanzen kurzfristig. Ohne (Heinz Lanfermann [FDP]: Bis jetzt geschieht das wären die Defizite viel höher. gar nichts! – Annette Widmann-Mauz [CDU/ CSU]: Machen wir doch!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das wird gar nicht bestritten!) – Ich möchte einmal die Vorschläge sehen. – Meinen Sie Das Zweite: Der 13. Sozialversicherungsbeitrag, den ernsthaft, Frau Widmann-Mauz, dass mit diesen 6 Euro Rot-Grün eingeführt hat, verbessert in den ersten beiden Zusatzbeitrag wirklich der Aufbau eines Kapitalstocks Quartalen dieses Jahres die Finanzlage der gesetzlichen erreicht wird? Glauben Sie wirklich, dass Ihr Vorschlag, Pflegeversicherung um etwa 800 Millionen Euro. Das einen Finanzausgleich zwischen dem System der Privat- wird sich aber im Laufe des Jahres ausgleichen. So versicherten, das immerhin einen Kapitalstock von kommt der Bericht der Bundesbank zu dem Schluss, 13 Milliarden Euro für die Pflege aufgebaut hat, dass damit zu rechnen ist, dass zum Ende des Jahres das (Elke Ferner [SPD]: Warum denn? Weil die Defizit in der Pflegeversicherung, um diesen Einmalef- die geringeren Risiken haben!) fekt bereinigt, genauso hoch sein würde wie im letzten Jahr, nämlich 365 Millionen Euro. und der sozialen Pflegeversicherung vorzunehmen, nach- haltiger ist? Mitnichten ist das eine nachhaltigere Finan- Das heißt, all das, was Sie machen, hilft allenfalls zierung. Sie bedienen sich derer, die einen Kapitalstock kurzfristig, das Defizit einigermaßen zu dämpfen, aber aufgebaut haben, um aufgrund der aktuellen Probleme es löst überhaupt nicht die finanziellen Probleme der der Umlageversicherung Löcher zu stopfen, meine Da- Pflegeversicherung. men und Herren. (Beifall bei der FDP – Annette Widmann- (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das Mauz [CDU/CSU]: Was wollen Sie eigent- ist Unsinn, was Sie erzählen!) lich?) Jetzt wird von Verbesserungen auf der Leistungsseite Die Rücklagen, lieber Kollege Zylajew, die zu Beginn (B) gesprochen. Natürlich müssen wir mehr tun angesichts (D) der Pflegeversicherung gebildet worden sind – die Leis- der steigenden Kosten durch Demenz bei älteren Men- tungen wurden ein halbes Jahr schen. (Zuruf von der CDU: Ein Vierteljahr!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ich später ausgezahlt –, schmilzen wie das Eis in der Sonne. bin auf Ihre Vorschläge gespannt!) Denn wir werden voraussichtlich schon Ende des Jahres 2007 ein Unterschreiten der Mindestreserve ha- Natürlich müssen wir zu einer Dynamisierung der Leis- ben. Dann werden wir wieder vor der Frage stehen, was tung kommen. Sonst würde das die Pflegeversicherung wir machen müssen. Muss man die Beiträge erhöhen? gänzlich infrage stellen. Aber, meine Damen und Her- ren, eines darf man nicht machen: Vollmundig Leistung Da hilft auch die Idee, die von der linken Seite dieses versprechen und sich keine Gedanken darüber machen, Hauses immer kommt, jetzt müsse man nur die Einnah- wie sie finanziert wird. Der Schritt muss andersherum mebasis verbreitern, indem man die Privaten verpflichte, gehen: Zunächst muss geklärt sein, wie die Finanzierung auch in die soziale Pflegeversicherung einzuzahlen, für die leistungsfähige Pflege aussieht. nicht weiter. Das würde Ihnen kurzfristig wieder helfen, keine Frage. Kurzfristig würden Sie die Defizite damit (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ge- senken. Aber was machen Sie denn in ein paar Jahrzehn- nauso machen wir es doch!) ten, wenn wir eine Verdreifachung der Anzahl der Pfle- Erst danach können wir uns über Leistungsverbesserun- gebedürftigen gegenüber heute, gen unterhalten. Man kann nicht vollmundig Leistungen (Elke Ferner [SPD]: Was machen die Privaten versprechen und nicht sagen, wie man sie finanzieren denn dann?) will. Das ist unseriös und unehrlich, meine Damen und Herren. aber nur noch zwei Drittel der Beitragszahler im Ver- gleich zu heute haben? Da kommen Sie um die Wahrheit (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wo nicht herum. Natürlich werden die Kosten steigen. Na- ist jetzt Ihr Vorschlag?) türlich wird für jeden Einzelnen von uns in Deutschland – ich finde, wir sollten alle so ehrlich sein – der Auf- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wand für Vorsorge für Pflege, für Vorsorge für Gesund- heit und für Vorsorge für das Alter steigen müssen. Für die Bundesregierung erteile ich nun das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Marion (Elke Ferner [SPD]: Wer bestreitet das denn?) Caspers-Merk. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6923

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Wir haben uns bereits in der Koalitionsvereinbarung (C) Bundesministerin für Gesundheit: darauf verständigt, eine Reform der Pflegeversicherung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vorzunehmen. Wir haben dabei auch die Steigerung der Die von der FDP beantragte Aktuelle Stunde trägt den Ausgaben und Leistungsverbesserungen erwähnt. Titel „Die finanzielle Situation der Pflegeversicherung“. Die Kolleginnen und Kollegen haben es Ihnen in ih- Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass Sie auch die wah- ren Reden doch aufgezeigt: Wir wollen Verbesserungen ren Zahlen zur finanziellen Situation der Pflegeversiche- für Demenzkranke. Wir werden sie umsetzen. rung genannt hätten, Herr Bahr. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wie wollen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die finanzieren?) der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Habe ich!) Wir wollen eine Dynamisierung der Leistungen. Auch diese werden wir umsetzen. Ich möchte sie an dieser Stelle noch einmal nennen, da- mit wir auch wissen, worüber wir reden: Aus der augen- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wie wollen Sie blicklichen Situation ergibt sich, dass wir bis Ende des die finanzieren?) Jahres einen Überschuss in Höhe von circa 300 bis Wir wollen eine „Pflegezeit“ einführen. Hierzu haben 400 Millionen Euro haben werden. Das ist auf drei Ef- wir bereits die ersten Vorgespräche geführt und haben fekte zurückzuführen: uns darauf geeinigt, dass wir einen Rechtsanspruch auf Erstens auf den Einmaleffekt, dass in diesem Jahr Pflegezeit einführen. Frau Kollegin Scharfenberg hat ja 13 statt zwölf Beiträge gezahlt wurden. Recht: Natürlich leisten vor allen Dingen die Frauen, die Töchter und Schwiegertöchter, die häusliche Pflege. Um (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Verkappte Bei- diese zu stärken, ist die Einführung einer Pflegezeit tragserhöhung!) überfällig. Zweitens auf das Anziehen der Konjunktur; diesen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Effekt sieht man ja zurzeit sehr deutlich. Das heißt, wir der CDU/CSU) haben über das ganze Jahr verteilt systematisch jeden Auch das ist eine richtige Maßnahme, auf die sich die Monat einen Überschuss von über 1 Prozent in der Pfle- Koalition schon in der Koalitionsvereinbarung verstän- geversicherung erzielt, weil endlich wieder die Zahl so- digt hat. zialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zunimmt. Wir geben auch Antworten darauf, wie das Ganze fi- nanziert werden soll. Auch das haben Sie, liebe Kolle- (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ginnen und Kollegen der FDP, nicht dargestellt. Wir wol- CDU/CSU – Birgit Homburger [FDP]: Nicht len nämlich erstens eine Demografiereserve aufbauen wegen, sondern trotz dieser Bundesregierung!) – das steht in der Koalitionsvereinbarung und wurde Ih- Das ist doch ein positives Zeichen, dass die sozialen Si- nen von der Kollegin Widmann-Mauz noch einmal er- cherungssysteme ein Stück weit entlastet werden. läutert – und zweitens wollen wir, dass vonseiten der pri- vaten Pflegeversicherung ein Ausgleich bezahlt wird. Der dritte Effekt, der zur positiven Situation in der Wir machen das nicht, um anderen etwas wegzunehmen, Pflegeversicherung beigetragen hat, liegt darin begrün- sondern deshalb, weil das Pflegerisiko in den beiden det, dass die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich gerin- Systemen unterschiedlich verteilt ist, obwohl am Ende ger als prognostiziert angestiegen ist. Mitte dieses Jahres genau die identischen Leistungen erbracht werden. hatten wir nur rund 23 000 Pflegebedürftige mehr als ein Jahr zuvor. Diese Zahl liegt niedriger als prognostiziert. (Birgit Homburger [FDP]: Das ist ja unglaub- Deshalb sind die Ausgaben in diesem Jahr in den ersten lich! – Heinz Lanfermann [FDP]: Umvertei- neun Monaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum auch lung ohne Wegnahme?) nur um 1,2 Prozent angestiegen. Wenn diese Feststellung im Prinzip stimmt, dann kommt man nicht umhin, einen Ausgleich vorzunehmen. Es ist Die Aktuelle Stunde, liebe Kolleginnen und Kollegen aber ausdrücklich festgehalten worden, dass man nicht von der FDP, wäre also gar nicht nötig gewesen, an die Reserve, die aufgebaut wurde, herangeht. Deswe- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch!) gen ist es unredlich, wenn von Ihrer Seite immer wieder die Unwahrheit gesagt wird. denn eigentlich haben wir bis zum Jahresende eine gute Situation. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie müssen einmal weiter denken als bis zum Jahresende! Das ist Trotz der günstigen Finanzentwicklung, aufgrund der doch kurzsichtig!) der Beitragssatz bis 2008 für das derzeitige Leistungs- spektrum ausreichen würde, haben wir gesagt, eine Pfle- – Herr Kollege Lanfermann, Gott sei Dank braucht dazu gereform ist überfällig. die Bundesregierung Ihre Zwischenrufe nicht. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann haben (Heinz Lanfermann [FDP]: Die brauchen Sie Sie aber die Mindestreserve schon unterschrit- dringend!) ten!) 6924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Deswegen werden wir sie im Zeitplan umsetzen. Es war ersetzen. Bislang war es so, dass der Häuslichkeitsbe- (C) immer verabredet, dass die Pflegereform der Reform in griff nicht in jedem Fall häusliche Krankenpflege und der Krankenversicherung folgt. andere Leistungen ermöglichte. Da machen wir jetzt ernst und verändern den Häuslichkeitsbegriff so, dass in (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel Zukunft auch betreutes Wohnen häusliche Kranken- Bahr [Münster] [FDP]: Bis zum Sommer 2006 pflege organisieren kann. Auch das ist eine Schnittstelle, sollte sie vorgelegt sein! – Heinz Lanfermann an der Handeln überfällig ist. Das finden Sie ebenfalls in [FDP]: Das ist ja schriftlich widerlegt durch unserem aktuellen Gesetzentwurf. den Koalitionsvertrag!) Eine fünfte Verbesserung. Mit unserem Gesetzent- Das macht ja auch Sinn, weil wir uns mit vielen Schnitt- wurf werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass stellen bereits jetzt auseinander zu setzen haben. Heimbewohner mit einem besonders hohen behand- Ich will Ihnen an dieser Stelle noch eines ins Stamm- lungspflegerischen Bedarf, zum Beispiel Wachkomapa- buch schreiben: Das GKV-Wettbewerbsstärkungsge- tienten, den Anspruch auf häusliche Krankenpflege im setz, das Sie so sehr bekämpfen, Heim behalten. Auch das ist eine wichtige Schnittstel- lenverbesserung. (Zuruf von der FDP: Schwindel!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten enthält bereits ganz konkrete Verbesserungen zur Schnitt- der CDU/CSU) stelle Pflege. Wenn Sie also eine Verbesserung der Pflege wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Der sechste Punkt bezieht sich auf eine alte Forde- müssen Sie dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ei- rung der Hospizbewegung, nämlich dass Betäubungs- gentlich zustimmen. mittel in Hospizen und Heimen weiterverwendet werden können. Wir leisten uns in diesem Land bei Arzneimit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Frank teln und Medikamenten eine unglaubliche Verschwen- Spieth [DIE LINKE]: Na, na!) dung. Auch da nehmen wir jetzt Veränderungen an der Vorhin wurde so schön gesagt, wir sprächen gar nicht Schnittstelle vor, und zwar in der richtigen Reihenfolge. über die Inhalte der Pflege, sondern nur über die Finan- Siebtens korrigieren wir die Rechtsprechung im Sinne zierung. Hier geht es jetzt um die Inhalte. der schwerst geistig behinderten Heimbewohner. Ich Erstens. Wir haben ernst gemacht: Rehabilitation soll finde es, Kolleginnen und Kollegen, wirklich nicht in vor Pflege gehen. Die geriatrische Reha wird eine Ordnung, dass das Bundessozialgericht in seinem Urteil Pflichtleistung. Das bedeutet eine konkrete Verbesse- schwerst geistig behinderten Heimbewohnern, die nicht (B) rung der Pflegesituation; das ist etwas, worauf die Pfle- mehr am Gemeinschaftsleben teilnehmen können, wie es (D) gebedürftigen lange gewartet haben. so schön formuliert ist, den Rollstuhl verweigert hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU) Dadurch sind Menschen zum Objekt der Pflege gewor- Wir haben zweitens – damit greifen wir eine langjäh- den. Es ist eigentlich schlimm, dass es nötig ist, das ge- rige Forderung aus der Pflegeszene auf – vorgesehen, setzgeberisch klarzustellen. Wir tun das; denn für uns dass auch Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen sich in sind Menschen kein Objekt der Pflege. Zukunft an der integrierten Versorgung beteiligen kön- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nen. Auch das bedeutet eine konkrete Verbesserung. Sie sind nicht Betreute, sondern müssen auf gleicher Au- Drittens verbessern wir das Entlassmanagement nach genhöhe wahrgenommen werden. Krankenhausaufenthalten klar. Denn es ist doch ein Är- gernis, wenn das Krankenhaus nicht mit den pflegeri- Deswegen: ganz konkrete Leistungsverbesserungen schen Einrichtungen kooperiert und wir dadurch vieler- für die Pflege im aktuellen Gesetzentwurf, die klare fi- orts Drehtüreffekte haben. Wir sorgen hier für eine nanzielle Prognose für dieses Jahr, dass wir mit einem erneute Klarstellung und schaffen einen Rechtsanspruch. Plus zwischen 300 und 400 Millionen Euro abschließen, Aber, Kolleginnen und Kollegen, da sind wir alle gefor- und die Pflegereform im nächsten Jahr. Ich freue mich dert; das muss vor Ort auch umgesetzt werden. auf Ihre konstruktiven Beiträge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP; (Beifall bei der SPD) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die liegen Hier gibt es vieles, was im Moment im Argen liegt. Des- schon vor!) halb müssen wir einfordern, dass die Krankenhäuser sich schon bei der Einweisung der Patientinnen und Patienten denn dazu hört man im Moment noch sehr wenig. darum kümmern, was nach der Entlassung mit ihnen ge- schieht, und ein vernünftiges Entlassmanagement orga- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nisieren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir sollen viertens, dass – das wurde vorhin vom Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Maria Eich- Kollegen Seifert angesprochen – Wohngemeinschaften horn für die CDU/CSU-Fraktion. und betreutes Wohnen in vielen Fällen dazu genutzt wer- den können, zum Beispiel eine Heimunterbringung zu (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6925

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Maria Eichhorn (CDU/CSU): Im Übrigen wird es aufgrund der Pflegereform in Zu- (C) Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- kunft möglich sein, dass der Betreuungsbedarf Demenz- gen! Die Pflegeversicherung hat sich insgesamt bewährt. kranker durch die Pflegeversicherung besser berücksich- Dennoch steht sie vor großen Herausforderungen. Herr tigt wird. Kollege Bahr, deswegen führen wir eine grundlegende Wer sich mit dem Thema Pflege auseinander setzt, Reform der Pflegeversicherung durch. stellt fest: Es besteht dringender Handlungsbedarf zur (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die wollten Entlastung der Leitungs- und Pflegekräfte in den Hei- Sie schon längst vorlegen! Die sollte bis 2006 men. Die Altenheime wurden überwiegend zu Pflegehei- vorgelegt werden!) men. Es gibt dort kaum noch Rüstige. Die Bürokratie muss abgebaut werden, damit die Qualität von Betreu- Eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung ist ung und Pflege in der Zukunft gesichert ist. Arbeitszeit- notwendig, nicht nur wegen der Finanzierung, sondern messungen zeigen, dass lediglich 40 bis 55 Prozent der auch wegen der Leistungsseite. Die Kritik richtet sich Arbeitszeit von Pflegekräften direkt für und mit den vor allem gegen die bürokratischen Regelungen, gegen Heimbewohnern verbracht werden. Die übrigen Zeiten die scharfe Trennung zwischen Pflegekasse und Kran- müssen für Kontroll-, Verwaltungs- und Dokumenta- kenkasse und gegen Qualitätsmängel. tionspflichten aufgewendet werden. Das muss geändert werden. Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass im Rahmen einer zukunftsgerechten Gestaltung der Pflege- (Beifall bei der CDU/CSU) versicherung zwei Punkte im Vordergrund stehen: Angesichts der berechtigten Klagen hat die Unions- erstens Sicherung einer nachhaltigen und gerechten Fi- fraktion in der letzten Legislaturperiode unter Führung nanzierung, Herr Kollege Bahr, und zweitens Verbesse- der Arbeitsgruppe Familie wichtige Forderungen zum rungen auf der Leistungsseite. Dabei soll der Grundsatz Bürokratieabbau in Heimen in den Bundestag einge- „Ambulant vor stationär“ gestärkt werden. bracht. Die große Koalition hat sich diese Forderungen zu Eigen gemacht und im Koalitionsvertrag eine Novel- Mit der Gesundheitsreform werden bereits wesentli- lierung des Heimgesetzes vereinbart. Durch die Födera- che Verbesserungen für Pflegeleistungen erreicht. Der lismusreform ist es nun Sache der Länder, diese Forde- Leistungsanspruch auf Palliativversorgung aus der Kran- rungen umzusetzen. Es gibt aber genügend Punkte, wo kenversicherung und der Ausbau der integrierten Versor- auch der Bund gefragt ist, zum Beispiel bei der Harmo- gung für die Pflege schwerstkranker Menschen sind be- nisierung widersprüchlicher Regelungen zwischen sonders wichtig. Damit wird eine ganzheitliche Heimgesetz und SGB XI. Dies müssen wir anpacken. pflegerische und medizinische Begleitung und Unter- (B) stützung von sterbenden Menschen und deren Angehöri- Eine gute Pflege hängt nicht davon ab, wie viele For- (D) gen ermöglicht. So ist es auch möglich, den Wunsch vie- mulare ausgefüllt werden, sondern ob sich die Menschen ler Menschen zu erfüllen, bis zum Tod in ihrer vertrauten wohl fühlen. häuslichen Umgebung bleiben zu können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) Zum Schluss danke ich allen, die hilfsbedürftige Mit der Gesundheitsreform wird in Form der inte- Menschen pflegen; dies ist keine leichte Aufgabe. Herr grierten Versorgung auch eine bessere Zusammenarbeit Kollege Seifert, sie wird überwiegend gut gemacht und zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung so- verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung. An- wie zwischen Pflegekräften und Hausärzten möglich. erkennung verdienen auch die vielen Ehrenamtlichen, Der künftige Anspruch auf geriatrische Reha kann Pfle- die den Pflegebedürftigen zum Beispiel in Besuchs- gebedürftigkeit vermeiden oder zumindest eine Ver- diensten das Leben erleichtern und lebenswerter ma- chen. schlechterung des Zustandes verhindern. Wer alt ist und einen Unfall erleidet, muss nicht pflegebedürftig wer- Die Pflegeversicherung ist ein zentraler Baustein der den. sozialen Versicherungssysteme. Mit der kommenden Re- form werden wir die Herausforderungen der Zukunft In der Vergangenheit gab es zahlreiche Klageverfah- meistern. Sie alle sind aufgefordert, dabei mitzumachen. ren, weil Krankenkassen die Bezahlung von Hilfsmitteln für Bewohner stationärer Pflegeeinrichtungen verwei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gerten. Dank der Gesundheitsreform werden in Zukunft neten der SPD) auch an Demenz erkrankte und schwerstpflegebedürftige Heimbewohner einen Anspruch auf einen Rollstuhl oder Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: andere individuell benötigte Hilfsmittel haben. Ich bin Nun hat das Wort die Kollegin Hilde Mattheis für die sehr froh darüber, dass es entgegen der Rechtsprechung SPD-Fraktion. des Bundessozialgerichts von 2004 Menschen durch die- sen künftigen Leistungsanspruch ermöglicht wird, am (Beifall bei der SPD) Leben der Gemeinschaft, soweit es noch geht, teilzuneh- men. Gerade bei Demenzkranken war die Ablehnung der Hilde Mattheis (SPD): Kostenübernahme für Rollstühle entwürdigend und dis- kriminierend. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Solange ich im Bundestag über Pflege und Pflegeversi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) cherung diskutiere, höre ich von der FDP immer nur die 6926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Hilde Mattheis (A) Schlagworte „Entbürokratisierung“ und „kapitalge- [Münster] [FDP]: Sie können ja tolle Verspre- (C) deckte Pflegeversicherung“. chungen machen! Wenn Sie nicht sagen, wie Sie dies finanzieren können, können Sie sie (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das auch nicht halten!) steht im Koalitionsvertrag!) Selbstverständlich geht das nur über eine Finanzierungs- Beides ist, glaube ich, nicht zielführend. Das Thema reform. Dazu finden Sie in unserem Koalitionsvertrag Entbürokratisierung ist zwar wichtig; aber Ihre Vor- deutliche Hinweise. schläge beinhalten immer einen bürokratischen Wust. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Völliger Da Sie die private Pflegeversicherung immer wieder Quatsch!) anführen, muss man sagen, dass die private Pflegeversi- cherung natürlich wesentlich geringere Risiken versi- Das Thema Finanzierung geht für Sie immer mit Entsoli- chert. darisierung einher. Sie rücken von dem solidarischen Gedanken deutlich ab und meinen, mit der Kapitalde- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Stimmt doch ckung ein Sicherungssystem zu haben, das für die kom- gar nicht!) menden Generationen ein Gewinn sei. Sie wissen, dass in der privaten nur 1,3 Prozent der Ver- (Heinz Lanfermann [FDP]: Das hat mit Sparen zu sicherten Leistungen beanspruchen; tun! Das liegt Ihnen aber sowieso nicht!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Vorsorge!) Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie entsprechende Gutachten in der gesetzlichen sind es mehr als doppelt so viele. Von nachlesen, stellen Sie fest, dass das einzig Stabile ein daher sind die Ausgaben der privaten Pflegeversiche- umlagefinanziertes System ist. rung deutlich geringer. (Lachen bei der FDP) Was die gesetzliche Pflegeversicherung anbelangt, Das wollen wir auf jeden Fall ausbauen. beträgt der durchschnittliche Leistungsanspruch pro Ver- sicherten 240 Euro. Dieser Betrag liegt bei den privaten (Beifall bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] Pflegeversicherungen deutlich darunter. Vollversicherte [FDP]: Sie sollten einmal Ihren Koalitionsver- bekommen ungefähr 85 Euro. trag lesen! Da steht beides drin!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann gehen Wir wollen die Pflegeversicherung reformieren. Es wir doch alle zur privaten Versicherung, Frau geht um Strukturreformen; wichtige Punkte sind in die- Mattheis! Das ist doch das Beste!) (B) sem Zusammenhang genannt worden. Wir wollen (D) Dieser Punkt darf aber nicht zu dem Schluss führen, al- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Kapitalge- les auf eine private Säule zu stellen, sondern darauf, dass deckte Elemente!) die Risiken ordentlich zu verteilen sind den Grundsatz „Ambulant vor stationär“ umsetzen. Wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel wollen Bahr [Münster] [FDP]: In einer privaten! – (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Entbürokrati- Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Warum sierung!) denn in der privaten?) eine Dynamisierung der Leistungen; denn es ist klar, und dass es einen Ausgleich zwischen den privaten Ver- dass die Leistungen, die man beanspruchen kann, seit sicherungen und der solidarisch gesetzlichen Pflegever- Einführung der Pflegeversicherung deutlich – um weit sicherung geben muss. mehr als 13 Prozent – gesunken sind. Ich bin davon überzeugt, dass wir, die große Koali- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) tion, den richtigen Weg einschlagen werden. Es geht da- rum, die Finanzierung auf so sichere Beine zu stellen, Wir wollen selbstverständlich Leistungen für Menschen dass das unterstrichen wird, was die Pflegeversicherung mit Demenz. heute auszeichnet. Sie hat eine hohe Akzeptanz in der Das alles ist, glaube ich, unstrittig hier im Haus. Das Bevölkerung. habe ich aber von Ihrer Seite noch nie gehört. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Zwangsbei- (Birgit Homburger [FDP]: Frau Mattheis, Oh- träge!) ren putzen! Dann hören Sie es auch!) Warum? Weil die Leute genau wissen, dass sie sich in ei- Von daher bitte ich Sie einfach, sich an der Diskussion ner Situation, in der sie abhängig sind, weil sie nämlich über Strukturreformen zu beteiligen. Wir müssen deut- pflegebedürftig sind, der Unterstützung und Solidarität lich machen, dass es dabei darum geht, die Lebensquali- der Gemeinschaft sicher sein können. Dieser Punkt tät der Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, deutlich zu zeichnet die soziale Pflegeversicherung aus und deswe- stärken. gen sagen die Menschen: Es lohnt sich, da einen Beitrag zu bezahlen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Bei der FDP geht es nur über das Wir werden in der großen Koalition im Anschluss an Geld! – Gegenruf des Abg. Daniel Bahr die Gesundheitsreform die Pflegereform angehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6927

Hilde Mattheis (A) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das wird ge- Wenn man die Altersstruktur unserer Bevölkerung be- (C) nauso ein Murks!) trachtet, sieht man: Es geht zumindest einer der Wün- sche in Erfüllung, nämlich älter zu werden. Das bedeutet nicht, dass wir bisher dazu nichts unter- nommen hätten. Ich begrüße es sehr, dass das Ministe- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Alles Lyrik!) rium einen Beirat einberufen hat, der sich um eine wich- tige Grundlage kümmern soll: Er soll nämlich die Was den zweiten Wunsch, nämlich jung zu bleiben, an- Pflegebegriffsdefinition überarbeiten, weil bisher nur belangt, so bedarf es dazu noch erheblicher politischer unzureichende Pflegebegriffsdefinitionen vorliegen, die und gesellschaftlicher Anstrengungen. ein weites Spektrum der sozialen Betreuung nicht abde- Der im Recht der Pflegeversicherung beschriebene cken. Grundsatz „Prävention und Rehabilitation vor Pflege“ (Beifall bei der SPD) muss noch stärker berücksichtigt werden. Denn auch wenn wir uns Gedanken über die Einnahmeseite machen Von daher begrüße ich das sehr. müssen, darf die Ausgabenseite nicht weiter steigen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das hätten Sie vor Eine der großen gesellschaftlichen Herausforderun- sieben Jahren noch viel mehr begrüßt, Frau gen ist die stark zunehmende Altersdemenz. In Deutsch- Kollegin!) land leben heute allein etwa 1 Million, im Jahr 2030 vo- Ich bin davon überzeugt, dass wir in der großen raussichtlich über 2 Millionen Menschen unter uns, bei Koalition, was die Finanzierungsreform anbelangt, den denen die Diagnose Demenz zutrifft. Menschen Sicherheit verschaffen und, was die Struktur- (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE reform anbelangt, wichtige Dinge auf den Weg bringen GRÜNEN]: Wir gehören dazu, sage ich!) können. Die Grundlagenforschung ringt darum, zu verstehen, wie Vielen Dank. Demenz entsteht. Wir hoffen auf wirksame Medika- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mente, die uns vor Demenz schützen, ihre Symptome be- der CDU/CSU) einflussen oder gar eine Heilung versprechen. Noch al- lerdings ist dies eine sehr vage Hoffnung. Eine Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: frühzeitige Diagnose wird als entscheidende Vorausset- Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der zung für eine längerfristig erfolgreiche Therapie ange- Kollege Hermann-Josef Scharf. sehen. In diesen Fällen kann die Behandlung früh einsetzen und der Eintritt der Pflegebedürftigkeit hinaus- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) geschoben werden. (D) Deshalb ist es umso wichtiger, dass die medizinischen Hermann-Josef Scharf (CDU/CSU): Dienste in ihren Gutachten nicht nur Auskunft über die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Pflegestufe erteilen; die Gutachten sollten auch Aussa- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einfüh- gen dazu enthalten, welche geeigneten Rehabilitations- rung der Pflegeversicherung vor elf Jahren hat viele pfle- maßnahmen im Einzelfall anzuwenden sind. Den Kran- gebedürftige Menschen vor der Sozialhilfe bewahrt. Das kenkassen obliegt dann die Pflicht, das Verfahren zur ist ein Erfolg, der Tenor unserer weiteren Verhandlungen Einleitung einer Rehamaßnahme in Gang zu setzen. Die sein muss. meisten pflegebedürftigen Menschen wünschen, in ihrer (Beifall bei der CDU/CSU) häuslichen Umgebung bleiben zu können. Um beide Komponenten miteinander zu verbinden, haben wir die Die auch damals schon längst überfällige Entscheidung, gesetzliche Krankenversicherung im Gesetzentwurf zur eine Versicherung für den Pflegefall im Alter abzuschlie- Gesundheitsreform verpflichtet, Leistungen der geriatri- ßen, werden wir weiterhin fördern. schen Rehabilitation als Pflichtleistung zu erbringen. Wir werden jedoch die finanzielle Belastung auf brei- (Beifall bei der CDU/CSU) tere Schultern verteilen müssen. Die rein umlagefinan- zierte Pflegeversicherung muss durch eine kapitalge- Dieser Schritt wird die Situation vieler älterer Men- deckte private Zusatzversicherung ergänzt werden. schen erheblich verbessern. Diese Versorgungsstruktu- ren stoßen jedoch an ihre Grenzen, wenn die Pflegebe- (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr dürftigkeit ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. [Münster] [FDP]: Frau Mattheis, jetzt sollten Dann kommt es meist zur Übernahme intensiver Pfle- Sie mal klatschen! – Frank Spieth [DIE geaufgaben durch die Familie. Zwei von drei Pflegebe- LINKE]: Ist das das Koalitionsmodell?) dürftigen werden von Familienangehörigen betreut. Wir als Union schlagen ein Modell vor, das einen monat- (Elke Ferner [SPD]: Von Frauen meistens! – lichen Beitrag unabhängig vom Einkommen vorsieht. Gegenruf des Abg. Daniel Bahr [Münster] Der deutsche Schriftsteller Peter Bamm hat einmal [FDP]: Das macht den Satz aber nicht fal- formuliert – ich zitiere –: scher!) Im Grunde genommen haben die Menschen nur Viele pflegen ihre Angehörigen oft bis an die Grenzen zwei Wünsche, alt zu werden und jung zu bleiben. ihrer körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit. 6928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Hermann-Josef Scharf (A) Deshalb freue ich mich, dass die schon im Jahr 2002 vor denen die Pflegeversicherung steht? Wie kann die (C) vom Saarland gestartete Initiative zur Einführung einer bestmögliche Qualität für pflegebedürftige Menschen Pflegezeit nun auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Mit der Einführung einer Pflegezeit wird die Vereinbarkeit (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Für immer von Beruf und Pflege wesentlich verbessert. Das dient mehr Pflegebedürftige!) den Frauen. auch zukünftig gewährleistet werden? Was ist zu tun? (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Margrit Spielmann [SPD] – Elke Ferner Ich meine, als wichtigsten Punkt die Dynamisierung [SPD]: Hoffentlich auch den Männern! – Ge- von Leistungen nennen zu müssen. Wir wissen, dass die genruf des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Leistungen der Pflegeversicherung seit ihrer Einführung Die zwingen Sie dann einfach! – Gegenruf der nicht mehr erhöht worden sind. Die Folge ist, dass das Abg. Elke Ferner [SPD]: Was heißt hier Finanzvolumen zur Finanzierung der Leistungen zuneh- „zwingen“? Die Frauen zwingt ihr gerne, mend geringer wird und wir einen Prozess der schlei- oder? – Gegenruf des Abg. Daniel Bahr chenden Leistungsentwertung erleben, wie Sie, Herr [Münster] [FDP]: Nein, um Gottes willen!) Bahr, übrigens richtigerweise festgestellt haben. Ohne eine Dynamisierung der Leistungen droht diesem wichti- Auch bei der Reform der Pflege werden wir ein gan- gen Sozialversicherungszweig längerfristig der Verlust zes Bündel von Maßnahmen ergreifen müssen. Die der Qualität und der Akzeptanz. Es führt also kein Weg CDU/CSU-Fraktion wird sich dafür einsetzen, dass wir daran vorbei, die Einnahmesituation der Pflegeversiche- die Pflegeversicherung auf eine nachhaltige Finanzie- rung zu verbessern. rungsgrundlage stellen. Doch wir sollten nicht verges- sen, dass die Pflege von bedürftigen Menschen immer Damit muss – das wurde von vielen meiner Kollegin- auch eine Aufgabe unseres Herzens bleiben wird. nen und Kollegen schon genannt – eine neue Definition der Pflegebedürftigkeit verbunden werden. Wir alle wis- Ich danke Ihnen. sen, dass der Pflegebedürftigkeitsbegriff zu somatisch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausgerichtet ist. Menschen mit so genannter einge- neten der SPD) schränkter Alterskompetenz, also die Dementen, sowie die Behinderten und deren besonderer Betreuungsbedarf werden derzeit noch nicht ausreichend berücksichtigt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Margrit Spielmann für (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sehr richtig!) die SPD-Fraktion. (B) Ein weiterer wichtiger Punkt, den ich nennen möchte, (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist die Gestaltung des Grundsatzes „Ambulant vor statio- när“. Das kommt den Wünschen der Mehrheit der Pfle- Dr. Margrit Spielmann (SPD): gebedürftigen entgegen und – das wissen wir alle – ist Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- auch kostengünstiger. Damit aber – dieser Punkt wurde legen! Wir sind es mittlerweile schon gewohnt: Die FDP heute noch nicht genannt – der Grundsatz „Ambulant malt nicht nur in ihren Leitlinien zur Reform der sozia- vor stationär“ qualitativ hochwertig umgesetzt werden len Pflegeversicherung ein Untergangsszenario, nein, kann, muss die Ausbildung der Pflegekräfte verbessert auch heute preist sie den Wettbewerb und die eigene werden. Wir sollten nicht nur im stationären Bereich Vorsorge wieder als Allheilmittel an. Herr Bahr und Herr ausbilden, sondern uns insbesondere der ambulanten Lanfermann, Sie sagen uns aber nicht, was passieren häuslichen Pflege zuwenden. Das ist die Herausforde- müsste. rung der Pflegeausbildung. Wir haben mit der Neufor- mulierung der Alten- und Krankenpflegeausbildung ei- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch! nen großen Schritt in diese Richtung gemacht. Ich Natürlich!) denke, dass eine verstärkte Ausrichtung der Aus- und Fortbildung von Pflegekräften erfolgen muss. Deshalb – Nein, heute jedenfalls haben Sie es nicht getan. steht im Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform unter an- Diese verengte ökonomische Sichtweise lässt meiner derem die bessere Vernetzung von Hausärzten mit IV- Ansicht nach etwas ganz Entscheidendes außer Acht Verträgen usw., die sich mit der Pflege befassen. – das ist in der heutigen Debatte überhaupt noch nicht genannt worden –, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wie sollen wir das al- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Frau Spiel- les finanzieren?) mann, Sie können die Altersentwicklung nicht wegdiskutieren!) Der wichtigste Punkt – er wurde heute von Frau Wid- mann-Mauz, von Frau Reimann und von der Staatssek- nämlich die pflegebedürftigen Menschen, die Qualität retärin genannt – ist die stärkere Vernetzung. Ich sage und die Inhalte der Pflege. immer: Pflege muss aus einer Hand erfolgen. Wir brau- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen einen besseren Übergang vom Krankenhaus in die häusliche Pflege und die geriatrische Rehabilitation. Wir Ich gebe Herrn Dr. Seifert Recht: Über die Inhalte müss- brauchen eine bessere Zusammenarbeit von Ärzten, ten wir reden. Welches sind die dringendsten Probleme, Therapeuten und Pflegeheimen. Auf unserer Agenda Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6929

Dr. Margrit Spielmann (A) steht auch eine bessere Verzahnung zwischen Rehaein- lung aus dem Krankenhaus entlassen werden. Bei zu vie- (C) richtungen und Wohnformen. len ist dann der Weg ins Pflegeheim vorprogrammiert. Das entspricht nicht dem Wunsch der Betroffenen und Nicht zuletzt sollten wir den Grundsatz „Prävention den heutigen medizinischen Möglichkeiten vor Rehabilitation“ stärker in den Fokus unserer Überle- gungen nehmen. Wir haben ein Problem; ich denke, das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ist deutlich geworden. In der gesetzlichen Pflegeversi- CDU/CSU) cherung ist die Zahl der Leistungsempfänger doppelt so hoch wie in der privaten Pflegeversicherung. Das schlägt und ist – auch darüber muss man sprechen – vergleichs- sich – wie soll es auch anders sein – in den höheren Leis- weise kostenintensiv. tungsausgaben der Versicherten nieder. Ein besonders wichtiger und außerordentlich positi- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Insgesamt ha- ver Aspekt der Reformpläne ist deshalb die Schaffung ben sie sich verdreifacht! Das ist das Pro- des Leistungsanspruchs für Ältere und Pflegebedürftige blem!) auf geriatrische Rehabilitation. Herr Bahr, deshalb muss sich die private Pflegeversiche- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung unbedingt an einem solidarischen Risikostruktur- Denn alte Menschen benötigen eine spezielle Form der ausgleich beteiligen. Rehabilitation, die ihrer körperlichen und geistigen Kon- (Beifall bei der SPD) stitution entspricht und qualitativ hochwertig ist. Ich habe eine Vision: Eine wesentlich bessere und ge- Die Mehrheit der Menschen möchte im Alter oder bei rechtere Lösung wäre aus meiner Sicht eine Bürgerpfle- Krankheit am liebsten zu Hause bleiben und von Ange- geversicherung. hörigen oder Pflegekräften unterstützt werden. Deshalb Vielen Dank. halte ich das Beschreiten neuer Wege in der ambulanten Versorgung für besonders wichtig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir müssen Versorgungsformen schaffen, die die Patien- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege tinnen und Patienten zu Hause erreichen und aufwendige Christian Kleiminger für die SPD-Fraktion. stationäre Leistungen – sei es im Krankenhaus, sei es im stationären Pflegeheim – möglichst vermeiden helfen. (Beifall bei der SPD) (B) Dazu gehören auch die neuen und bereits angesproche- (D) nen Wohnformen für Ältere, etwa die Wohngemein- Christian Kleiminger (SPD): schaften für Demenzkranke. Dabei geht es immer um ein Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Nebeneinander von bestmöglicher ambulanter und sta- Kollegen! Der medizinische Fortschritt ermöglicht uns tionärer Versorgung, höchstem medizinischen Standard heute ein sehr viel längeres Leben als unseren Eltern und und ehrenamtlichem Engagement. Das gilt auch für die Großeltern. Das ist – man sollte es ruhig so sagen – in Pflege Sterbenskranker. erster Linie sehr erfreulich. Aber mit zunehmender Le- benserwartung steigen die Zahlen der Pflegebedürftigen Damit komme ich auf eine weitere wichtige Säule der und zwangsläufig auch die Kosten. Damit die Pflegever- Strukturreformen zu sprechen: Es muss allen ermöglicht sicherung in Zukunft leistungsfähig und finanzierbar werden, ohne unnötiges Leiden und in Würde – entwe- bleibt, muss sie weiterentwickelt werden, und zwar, der zu Hause, im Pflegeheim oder wo auch immer ge- wenn es allein nach uns Sozialdemokraten ginge, zu ei- wünscht – bis zum Tode betreut zu werden. Deshalb sol- ner von breiten Schultern solidarisch getragenen Bürger- len Sterbenskranke erstmals einen eigenständigen versicherung. Leistungsanspruch auf spezialisierte ambulante Pallia- tivversorgung erhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Auch in der Pflegeversicherung sollten wir – dies ist meine persönliche Ansicht – aus Gründen der sozialen Die bisherigen ambulanten Betreuungsmöglichkeiten Gerechtigkeit eine steuerfinanzierte Säule aufbauen. sind insgesamt leider noch unzureichend. Deshalb wol- Doch die Kosten sind nur die eine Seite, die wir vor Au- len wir in Deutschland flächendeckend Palliativ-Care- gen haben müssen. Auf der anderen Seite sollten vor al- Teams schaffen, bei denen spezialisierte Ärztinnen und len Dingen die Wünsche und Ansprüche, die Pflegebe- Ärzte, Pflegekräfte sowie Fachkräfte der psychosozialen dürftige berechtigterweise haben, Maßstab für unser Betreuung und Seelsorge im Sinne eines multidisziplinä- Handeln sein. ren Teams zusammenarbeiten. Dabei müssen wir die eh- renamtliche und die professionelle Sterbebegleitung, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch in stationären Altenpflegeheimen, besser miteinan- Deshalb möchte ich auf strukturelle Veränderungen, der vernetzen. Damit die Menschen in den stationären die wir bereits jetzt einwandfrei wollen, eingehen. Wir Pflegeheimen optimal versorgt werden, sollten die Pallia- wollen zum Beispiel nicht, dass Patienten nach einer tiv-Care-Teams ihre Leistungen auch in diesen Einrich- Operation ohne Perspektive auf eine Anschlussbehand- tungen erbringen können. 6930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Christian Kleiminger (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies sind wichtige Wir müssen bei all dem den Menschen in unserem (C) Strukturmaßnahmen, Lande klarer machen: In der heutigen, globalisierten Welt können wir Europäer nur gemeinsam bestehen. Deshalb (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Meinen Sie brauchen wir eine handlungsfähige Union, um unsere In- wirklich, es reicht aus, die Zahlen zu verdrei- teressen – unsere deutschen wie unsere europäischen In- fachen? – Gegenruf der Abg. Annette Wid- teressen – in dieser globalisierten Welt nachhaltiger, er- mann-Mauz [CDU/CSU]: Wir packen das we- folgreicher vertreten zu können. Das ist alles in allem, die nigstens schon einmal an!) Vorbemerkungen im Gedächtnis, natürlich keine ganz die bereits jetzt geregelt werden und auf denen die Re- leichte Aufgabe. Deshalb können wir uns ihr nur widmen, form der Pflegeversicherung aufbauen kann. Mit diesem wenn wir gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten Thema sollte sich auch die FDP ernsthaft auseinander handeln, wenn wir gemeinsam mit der Europäischen setzen. Kommission handeln, wenn wir gemeinsam mit dem Europäischen Parlament handeln, und das alles natürlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in engster Abstimmung mit der gegenwärtigen finnischen der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] Ratspräsidentschaft sowie mit der portugiesischen und [FDP]: Sie haben keine Lösung für eine Ver- der slowenischen Ratspräsidentschaft, die auf uns folgen. dreifachung!) In einem Punkte ist Europa klüger geworden: Ich freue mich, dass es in den letzten Tagen und Wochen ge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lungen ist, das Programm einer so genannten Trio-Rats- Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. präsidentschaft zu beschließen. Wir gehen nicht mehr davon aus, dass sich jede Ratspräsidentschaft den Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Schwerpunkt für ihre sechs Monate jeweils neu setzen Befragung der Bundesregierung kann. Aus Erfahrung klug geworden, wissen wir, dass es kaum noch europäische Fragen gibt, die sich innerhalb Die Bundesregierung hat als Thema der gestrigen Ka- von sechs Monaten beantworten lassen. Deswegen ist es binettssitzung mitgeteilt: Arbeitsprogramm der deut- sehr richtig, dass wir jetzt ein auf 18 Monate angelegtes schen EU-Ratspräsidentschaft. Arbeitsprogramm einer Dreierpräsidentschaft Deutsch- Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht land, Portugal, Slowenien verabredet haben. Auch das hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr bringt geradezu sinnfällig zum Ausdruck, was wir uns Dr. Frank-Walter Steinmeier. als Motto der deutschen Ratspräsidentschaft gegeben ha- ben: Europa gelingt gemeinsam. (B) (D) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Was wir konkret tun wollen, erschließt sich aus dem Auswärtigen: Arbeitsprogramm, das das Kabinett gestern Abend ver- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und abredet hat. Doch vermutlich wird es so sein wie bei den Herren! Europa ist eine Erfolgsgeschichte und dennoch vorangegangenen Ratspräsidentschaften: Erinnern Sie in der Krise. Das ist – wenn man so will: am Vorabend sich an die österreichische Ratspräsidentschaft, die an der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch ihrem erstem Tag mit dem Gasstreit zwischen der Deutschland – die kurz gefasste Beschreibung der ge- Ukraine und Russland konfrontiert war. Mit der Suche genwärtigen Situation in Europa. nach einer Lösung für diesen Konflikt ergab sich für sie ein völlig neuer Schwerpunkt ihrer Arbeit. Die finnische Nachdem die Verfassungsreferenden in Frankreich Ratspräsidentschaft war keine 14 Tage alt, als im Nahen und in den Niederlanden gescheitert sind, haben wir es Osten der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah aus- in Europa nicht nur mit einer Verfassungskrise zu tun, brach. So hat sich die finnische Ratspräsidentschaft mit sondern wohl auch mit etwas, das wir als Vertrauens- einem großen Teil ihrer Arbeitszeit und ihrer Möglich- krise umschreiben dürfen. Die Menschen sind gegenüber keiten diesem Konflikt zuwenden müssen. Realistischer- dem gemeinsamen Projekt Europa skeptischer gewor- weise wird man davon ausgehen müssen, dass auch wäh- den. Sie sehen Europa nicht mehr in jedem Fall als Teil rend unserer Ratspräsidentschaft unerwartete Konflikte der Antwort auf viele Fragen und als Teil der Lösung auftreten werden, um die wir uns zu kümmern haben von Problemen, sondern vielleicht sogar als Teil der Pro- werden. Doch welche das sein werden, kann man mit bleme. In dieser Situation befinden wir uns, wenn wir in noch so ehrgeiziger Planung nicht voraussehen. wenigen Tagen, am 1. Januar 2007, die EU-Ratspräsi- dentschaft übernehmen. Was wir voraussehen können, ist das, was wir selbst gestalten können. Wir werden in der ersten Märzhälfte Angesichts dieser Vorbemerkungen ist es relativ ein- einen Frühjahrsgipfel abhalten, auf dem es traditionell fach, unsere Hauptaufgaben im kommenden Halbjahr zu um Arbeit und Wirtschaft gehen soll. Wir haben in unse- beschreiben. Zunächst geht es wohl darum, Wege aus rem Arbeitsprogramm entsprechende Vorschläge aufbe- der Krise zu finden. Welche Fragen dabei im Vorder- reitet. Mit dem Thema Energie haben wir in diesem Jahr grund stehen, werde ich gleich noch ansprechen, und da- einen zweiten wichtigen Schwerpunkt. Sie wissen aus rum wird es natürlich auch in den Fragen gehen, die Sie der Vorberichterstattung, dass die Europäische Kommis- stellen werden. Dann müssen wir die Menschen wieder sion gerade mit der Entwicklung eines Bündels von Vor- für Europa gewinnen und wir müssen dem Einigungs- schlägen für die Energiepolitik beschäftigt ist. Das alles prozess neuen Schwung geben. muss zusammengefasst werden und mit den Mitglied- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6931

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) staaten bis zum Frühjahrsgipfel ausdiskutiert werden, stalten könnte, um die EU-Verfassung möglicherweise (C) damit wir dort, wie wir es im Arbeitsprogramm ehrgei- zu retten. zig vorformuliert haben, einen gemeinsamen europäi- schen Aktionsplan zu den Energieaußenbeziehungen Viele Wochen und Monate sind mittlerweile verstri- und der Energieversorgungssicherheit verabschieden chen und auch Sie haben zu diesem Thema heute wieder können. Bei all dem Bemühen darf allerdings – so un- nur lapidar gesagt, dass man am Ende der Ratspräsident- sere deutsche Überzeugung – keine europäische Überre- schaft etwas vorlegen will. Es muss aber doch irgend- gulierung zustande kommen. welche Vorstellungen darüber geben, wie man mit dem Nein in Frankreich und in den Niederlanden umgehen Der Frühjahrsgipfel findet während dieser Ratspräsi- will. Andere Länder trauen sich gar nicht an eine Ratifi- dentschaft auch deshalb so früh statt, weil wir am zierung heran und auch Deutschland hat noch nicht ab- 24. und 25. März 2007 die Staats- und Regierungschefs schließend ratifiziert. der europäischen Mitgliedstaaten aus Anlass des 50. Jah- Meine Frage lautet konkret: Wie will Deutschland da- restages der Unterzeichnung der Römischen Verträge in mit umgehen, dass alle Länder Ja dazu sagen müssen, Berlin zu Gast haben werden. Nach unserer Auffassung wir aber wissen, dass die Franzosen diese Verfassung auf soll das ein Tag sein, an dem sich nicht nur die Regie- keinen Fall mehr zur Abstimmung vorlegen werden? rungschefs der Öffentlichkeit präsentieren, sondern an dem wir auch eine gemeinsame europäische Erklärung abgeben, die nicht nur Rückblick und Bilanz enthält, Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des sondern durch die auch etwas über die Zukunft und die Auswärtigen: Zukunftsaufgaben der Europäischen Union zum Aus- Meine erste Teilantwort auf Ihre Frage lautet: Wir druck gebracht wird. werden einen klugen Vorschlag unterbreiten. Allein die gemeinsame Erklärung innerhalb der weni- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der gen Monate bis Ende März zustande bringen zu lassen, SPD) ist schon ein schwieriger Prozess. Sie ahnen, dass die Er- Herr Abgeordneter, damit das möglich bleibt, ist es in ei- wartungen an diese gemeinsame Erklärung hoch sind. ner solch schwierigen Konfliktlage sehr ratsam – das Mit dieser europäischen Erklärung wird Ende März kennen Sie aus anderen Arbeitszusammenhängen auch –, zu einem noch schwierigeren Projekt übergeleitet, näm- nicht mit Teilvorschlägen oder Lösungsansätzen an die lich zu der erneuten Ingangsetzung des Ratifikationsver- Öffentlichkeit zu gehen. fahrens zur Europäischen Verfassung, durch die transpa- Zweite Teilantwort: Ich stimme auch nicht mit der in (B) rentere und demokratischere Verfahren gesichert werden Ihrer Frage formulierten Bewertung überein, dass die (D) sollen, mit denen die Handlungsfähigkeit gestärkt wird. letzten eineinhalb Jahre sinnlos verstrichen sind. Ganz Sie wissen, dass wir deshalb für sie kämpfen und ihre und gar nicht. Die europäischen Außenminister haben Substanz erhalten wollen. Bis zum Ende der deutschen Diskussionen darüber geführt, die mir dabei geholfen Ratspräsidentschaft wollen wir ein klares Verfahren und haben, das Spektrum möglicher Lösungen etwas zu ver- einen klaren Zeitplan zustande bringen, mit dem mög- engen. Damit sind wir noch nicht bei der einzigen Lö- lichst sichergestellt wird, dass wir die Substanz der Ver- sung, die am Ende übrig bleiben wird. Durch die Erwäh- fassung bis zum Jahre 2009 ratifiziert haben werden. nung dieses Arbeitsprozesses will ich aber andeuten, Ich habe mich nach all dem bei Ihnen dafür zu bedan- dass wir während unserer Ratspräsidentschaft und in den ken, dass Sie in der Phase der Erarbeitung des Arbeitspro- ersten Monaten im kommenden Jahr intensiv versuchen gramms mitgeholfen haben und dass die Bundeskanzle- werden – ohne dabei das Thema Verfassung über alles rin, viele andere Mitglieder der Bundesregierung und andere hinwegstrahlen zu lassen –, im bilateralen Ge- auch ich in den Ausschüssen zu Gast sein durften und er- spräch mit vielen europäischen Partnern zu erspüren, wo klären konnten, was wir auf den Weg bringen wollen. am Ende die Lösung liegen wird, mit der wir unserem Anspruch gerecht werden, dass die Substanz der Verfas- Vielen Dank. sung erhalten bleibt und dass sie gleichzeitig die Zustim- mung aller Mitgliedstaaten finden kann. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich glaube, dass das gelingen kann. Es gelingt aber nur, wenn alle Mitgliedstaaten bereit sind, dem Grund- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: satz zu folgen, den ich in meinen öffentlichen Reden Ich bitte, zunächst Fragen zu diesem angesprochenen gerne immer wieder erwähne: Wenn das Projekt gelin- Themenbereich zu stellen. – Als Erstes erteile ich dem gen soll, dann müssen sich alle bewegen. Angesichts der Kollegen Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke Tatsache, dass am Jahresende zwei Drittel der Mitglied- das Wort. staaten der Europäischen Union den Verfassungsvertrag ratifiziert haben – das heißt, ein Drittel hat dies noch Alexander Ulrich (DIE LINKE): nicht getan –, werden sich aber einige etwas mehr bewe- gen müssen als andere. Herr Außenminister, Sie haben am Schluss die EU- Verfassung erwähnt. Es werden sehr große Erwartungen an die deutsche Bundesregierung hinsichtlich der Beant- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wortung der Frage gestellt, wie man eine Roadmap ge- Haben Sie noch eine Nachfrage? – Bitte sehr. 6932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Zuständigkeiten auf europäischer Ebene bestehen, die (C) Herr Außenminister, wenn Sie sagen, dass Sie die nicht gerechtfertigt sind. Substanz erhalten wollen, dann heißt das möglicher- Kraft der Kompetenzverteilung zwischen der Euro- weise, dass es einige Änderungen geben wird, was nor- päischen Union auf der einen Seite und ihren Mitglied- malerweise zur Folge hat, dass der Verfassungsvertrag staaten auf der anderen Seite haben wir gegenwärtig die dann von neuem zur Ratifizierung vorgelegt werden Situation, dass der große Schwerpunkt der sozialen Ge- muss. Teilen Sie unsere Auffassung, dass man dann in staltungszuständigkeiten bei den Mitgliedsländern ver- allen Ländern zu Volksabstimmungen kommen muss, bleibt, sodass manche Befürchtung, dass über die Euro- um Europas Bürgerinnen und Bürger dafür zu gewin- päische Union in den nächsten Jahren in wichtigen nen? sozialen Politikbereichen europaweit eine Nivellierung stattfinden wird, nicht berechtigt ist. Diese Gefahr droht Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des aus meiner Sicht nicht. Auswärtigen: Gleichwohl gibt es die Erwartung – ich will nicht ver- Nein. Die Auffassung kann ich schon deshalb nicht hehlen, dass das auch in den Volksabstimmungen in teilen, weil es ein völlig unrealistisches Vorhaben ist. Frankreich und in geringerem Maße, glaube ich, in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bernd Niederlanden zum Ausdruck gekommen ist –, dass sich Schmidbauer [CDU/CSU]: Aber so sind die nach einem Verfassungskonvent, der das Thema soziales eben!) Europa aus den eben genannten Gründen – weil es auf europäischer Ebene weitgehend an Kompetenzen fehlt – nicht zu einem prägenden Schwerpunkt erhoben hat, die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: europäischen Regierungschefs zu dieser Verantwortung Nun hat der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion, bekennen. das Wort. Ich gehe davon aus – damit leite ich gleich zu der Antwort auf Ihre erste Frage über –, dass es in den Michael Roth (Heringen) (SPD): nächsten Wochen und Monaten aus verschiedenen Mit- Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister, Sie gliedstaaten viele Anregungen für die Aufnahme eines sprachen von den großen Erwartungen, die im Vorfeld solchen Textes geben wird. Ich will Ihnen versichern, der Ratspräsidentschaft an Deutschland gerichtet wer- Herr Abgeordneter, dass wir die in den bisherigen Ver- den. Sie sind sicherlich auch deshalb so groß, weil wir fahren aus meiner Sicht gute Zusammenarbeit auch in 1999 eine ausgesprochen erfolgreiche Ratspräsident- Zukunft beibehalten sollten. Deshalb biete ich Ihnen an, (B) schaft absolvieren konnten, an der Sie in Ihrer damaligen immer dann, wenn es gewünscht wird, im Ausschuss mit (D) Funktion auch schon haben mitwirken können. Ihnen über Ihre Erwartungen zu diskutieren. Sie sprachen zu Recht die Berliner Erklärung an. Wir als Bundestagsabgeordnete würden Sie gerne dabei un- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: terstützen, eine Berliner Erklärung zu formulieren, die Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock, die gesamte Verfassungsgebung in ein noch positiveres Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Fahrwasser bringt. Meine Frage an Sie lautet, Herr Bundesaußenminis- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ter: Wie könnten Sie sich eine aktive Mitwirkung auch NEN): von Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorstel- Vielen Dank, Herr Außenminister, für die Möglich- len? Wo brauchen Sie noch Rückenwind? Wie könnten keit der Befragung. wir dazu beitragen, dass die Berliner Erklärung zu- kunftsweisend wird? Für die Fraktionen ist es eine schwierige Situation, wenn sie erst heute Morgen das Dokument bekommen, Ich möchte noch eine zweite Frage anschließen. Das dann zusammen mit den Europapolitikern zwei Stunden wachsende Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger mit dem Präsidenten der Europäischen Union, Herrn an dem europäischen Integrationsprozess fußt auch auf Barroso, diskutieren und nun in die Regierungsbefra- der Erwartung vieler Menschen, dass die Europäische gung kommen. Wir hätten uns ein bisschen mehr Zeit Union einen stärkeren Beitrag zur Lösung sozialer Pro- gewünscht. Trotzdem ist es begrüßenswert, dass wir bleme zu leisten vermag. Ich weiß, dass das auch ein heute Gelegenheit haben, in einer ersten Runde mit Ih- wichtiger Punkt auf der Agenda der Bundesregierung ist. nen zu diskutieren. Wie könnten die Beiträge Deutschlands zur Stärkung der Ich wäre mir nicht so sicher, ob die Geheimdiploma- sozialen Dimension der Europäischen Union aussehen, tie der Regierungen ein erfolgsträchtiger Weg ist, um bei Herr Außenminister? der Verwirklichung des Verfassungsprojekts voranzu- kommen. Nach meiner Erfahrung in den letzten Jahren Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des brauchen wir eine sehr viel größere Öffentlichkeit, wenn Auswärtigen: wir über die Verfassung diskutieren. Wir müssen die Um mit der letzten Frage zu beginnen: Es hülfe schon Bürgerinnen und Bürger aller europäischen Länder mit- Wahrheit weiter. Denn manche der Befürchtungen haben nehmen. Ich glaube, wir brauchen eine größere Offen- ihren Urgrund darin, dass Erwartungen hinsichtlich der heit in der Zieldarlegung. Sie haben unsere Ziele im Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6933

Rainder Steenblock (A) fassungsprozess zwar kurz angesprochen, aber aus über Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit der (C) meiner Sicht nicht mit der notwendigen Klarheit. Da- Versorgungsleistungen. rüber dürfen nicht nur die Regierungen hinter verschlos- senen Türen diskutieren. Vielmehr müssen wir die Be- Herr Steenblock, ich wünschte, wir wären weiter, aber völkerung einbeziehen. im Augenblick diskutieren wir unter uns darüber, ob das der richtige Platz ist und, wenn ja, mit welchen Konkre- Das, was Sie zum Energiebereich gesagt haben, unter- tisierungen wir in die Verhandlungen gehen sollen. Wir stützen wir in vielen Bereichen. Herr Barroso hat im Eu- sprechen überhaupt noch nicht mit einem Partner, den ropaausschuss sehr deutlich gesagt: Wir brauchen klare, wir noch davon überzeugen müssen, dass das der rich- quantifizierbare Zielstellungen bei den Emissionen von tige Platz für die Verortung solcher Grundsätze ist. Sie Treibhausgasen und den erneuerbaren Energien. Ich rennen bei mir offene Türen ein. Ich glaube, wenn wir finde, das Programm der Bundesregierung ist an dieser den Weg nach der Beilegung der Streitigkeiten mit Polen Stelle zu wenig ambitioniert, weil es auf Konkretisierun- freibekommen, dann sollten wir versuchen, dieses zu ei- gen verzichtet, insbesondere wenn es um Wettbewerb nem wichtigen Bestandteil des Kooperationsabkommens geht. Wenn Wettbewerb im Energiebereich in Europa er- zu machen. Dass wir den Weg freibekommen, hoffe ich reicht werden soll, dann ist – um es einmal krass und immer noch. Was wir in Gesprächen mit Polen dafür tun platt zu formulieren – die Zerschlagung der Energiemo- können, werden wir in den nächsten Tagen und Wochen nopole notwendig. Die jetzige Struktur wirkt nicht wett- gerne tun. Im Augenblick allerdings zeigt sich bedauerli- bewerbsfördernd, sondern wettbewerbsverhindernd. Das cherweise an dem Punkt noch keine Bewegung. hat Herr Barroso unterstrichen. Deshalb lautet meine Zum Verfassungsvertrag. Herr Steenblock, ich würde Frage: Wie wollen Sie im Rahmen der EU-Ratspräsi- gerne vermeiden, dass wir eine Verhandlungsstrategie dentschaft dafür sorgen, dass im Energiebereich Wettbe- als Geheimdiplomatie bezeichnen und eine andere einen werb realisiert wird? transparenten und offenen Prozess. Worum geht es denn wirklich? Wir starten doch jetzt in eine Phase, in der sich Meine letzte Frage in diesem Zusammenhang ist: Sie viele Mitgliedstaaten zum ersten Mal festlegen müssen. haben die Kooperation mit Russland im Energiebereich Bislang war das im zurückliegenden Jahr eine öffentli- angesprochen. Ich will zwar nicht auf die aktuellen che, mehr politische Kommentierung, die man mit Blick Schwierigkeiten eingehen. Wenn ich mir aber den Text auf die eigene Home Consumption vorgenommen hat. betreffend die Kooperation mit Russland genau an- Wir befinden uns aber noch nicht in einem Prozess, an schaue, dann stelle ich fest, dass Energie ein zentraler dessen Ende in sieben Monaten ein gemeinsamer Vor- Punkt ist. Nach meiner Meinung reicht es nicht aus, zu schlag stehen muss. sagen: Wir wollen die Zusammenarbeit mit Russland im (B) Energiebereich verstärken. Vielmehr kommt es darauf Deshalb hoffe ich schon, dass es – nicht im Wege ei- (D) an, Russland dazu zu bringen, internationales Recht ner Geheimdiplomatie, sondern im Wege eines ernsthaf- – am besten wäre eine Energiecharta – und insbesondere ten und seriösen Gesprächs mit allen Mitgliedstaaten der die Durchleitungsrechte einzuhalten sowie für Investi- Europäischen Union – schon gelingen kann, zu erspüren, tionssicherheit zu sorgen. Das muss Ziel der Verhand- wo das Maß des gemeinsamen Ganzen liegen kann. Da- lungen sein. Es darf nicht nur um eine allgemeine Ver- rum bemühen wir uns. Das ist nicht intransparent; denn stärkung der Zusammenarbeit gehen, unter der sich jeder wenn wir diesen Zeitpunkt erreicht haben, von dem wir etwas anderes vorstellen kann. Ich bitte Sie als einen der meinen, dass wir mit einem Vorschlag an die Öffentlich- zentralen Entscheider im Hinblick auf die Ratspräsident- keit gehen sollten, dann wird das Ganze ein öffentlicher schaft, deutlich zu sagen, welches die Ziele der Koopera- und transparenter Vorschlag, der nicht nur nicht vor der tion mit Russland im Energiebereich sein sollen. Öffentlichkeit geheim zu halten ist, sondern über den wir die öffentliche Diskussion mit der Bevölkerung suchen. Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Jetzt habe ich die dritte Frage von Ihnen unterschla- Auswärtigen: gen. Wie lautete sie? Herr Steenblock, um mit der Beantwortung der letz- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE ten Frage zu beginnen: Sie wissen vermutlich, dass Sie GRÜNEN]: Energiewettbewerbsrecht und hier offene Türen bei mir einrennen. Ich habe mich im quantifizierbare Energieziele!) Sommer öffentlich kritisieren lassen müssen, dass ich gewagt habe, zu sagen: Wenn wir momentan nicht das – Ich weiß nicht, wie dicht Sie heute an Herrn Barroso wünschenswerte Ergebnis erzielen, dass Norwegen und waren und ob Sie Gelegenheit hatten, mit ihm über die Russland die Energiecharta ratifizieren, dann müssen wir Einzelprobleme zu sprechen. die europäischen und insbesondere die deutschen Ener- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE gieinteressen langfristig auf andere Weise zu sichern GRÜNEN]: Dicht, weil er heute im Ausschuss versuchen – was nicht die gleiche Qualität haben wird war!) wie die von uns erwünschte Energiecharta. Dann müssen wir versuchen, bei der anstehenden Fortentwicklung des Es gibt eine sehr große Bereitschaft nicht nur der Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russ- Kommission, sondern fast aller Mitgliedstaaten, sich im land die tragenden Elemente von mehr Versorgungs- Bereich der Förderung regenerativer Energien strikteren sicherheit dort zu integrieren. Wir brauchen Vereinba- Vorgaben zu unterwerfen. Es gibt weitgehende Einigkeit rungen über langfristige Versorgungssicherheit sowie unter den Mitgliedstaaten, so etwas wie eine europäische 6934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Energiesolidarität untereinander zu vereinbaren. Es gibt geben, bei denen man Nein gesagt hat. Damit ist der Ver- (C) Schwierigkeiten, Vorgaben zu einem bestimmten Ener- fassungsvertrag in dieser Form – so Leid uns das tut – giemix oder, genauer gesagt, Vorgaben zur Nutzung der nicht zu halten. Ich wünsche mir, dass das auch im Wor- Kernenergie in einem europäischen Energieaktionsplan ding klar zum Ausdruck kommt. Man muss akzeptieren, zu machen. Weiterhin ist das Maß einer europäischen was in diesen beiden Ländern passiert ist. Regulierung umstritten. Darin, dass die Zerschlagung volkswirtschaftlicher Einheiten nötig ist, damit ein euro- Ich möchte von Ihnen etwas zum Thema Außenpoli- päischer Wettbewerb in Gang kommt, bin ich – das muss tik hören. Die Behandlung dieses Themas ist mir zu kurz ich ganz ehrlich sagen – nicht mit Ihnen einig. gekommen. Notwendig ist, dass Europa gegenüber dem Iran initiativ wird. Was passiert da? Was ist da geplant? Wir sind noch nicht einmal im Ansatz da, wo wir sein Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: müssten. Was wird aus der politischen Initiative im Na- Das Wort hat nun der Kollege Markus Löning für die hen Osten? Wir Europäer haben einen Waffenstillstand FDP-Fraktion. erreicht. Das ist sehr gut und das war ein Erfolg. Aber dieser Erfolg wird uns wie Sand durch die Finger rinnen, Markus Löning (FDP): wenn es nicht zu einem politischen Prozess kommt, Herr Außenminister, herzlichen Dank. – Ich möchte wenn wir keine politische Perspektive aufzeigen. zwei Punkte des Kollegen Steenblock unterstreichen. Das eine ist die Rüge an Ihr Haus, was die Zustellung Ich möchte Sie nach einem weiteren außenpolitischen des Regierungsprogramms angeht. Sie haben es gestern Komplex fragen: Wie möchte die EU ihre Beziehungen beschlossen. Ich habe es heute einmal von der Presse zu den asiatischen Ländern außer China gestalten? Dort und einmal von der Europa-Union bekommen. Auf liegt unser größtes Potenzial, was Handel und was strate- Nachfrage erklärte Ihr Haus, wir könnten es gegen gische politische Allianzen angeht. Welche Initiativen 13 Uhr haben. Es tut mir Leid: Ich finde, dass das kein planen Sie während Ihrer Präsidentschaft? angemessener Umgang mit dem Parlament ist. Wir ha- ben noch einmal nachgefragt und es dann um 11 Uhr be- Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des kommen. Insofern lag es vor. Dennoch: Der Dank an Auswärtigen: Sie, dass Sie es hier im Parlament vorstellen, ist selbst- Zunächst einmal muss ich – ohne dass ich jetzt Mög- verständlich. lichkeiten der Aufklärung habe – um Entschuldigung da- Sie schreiben in Ihrem Papier – soweit konnte ich es für bitten, dass Ihnen das Programm zu spät zugegangen schon lesen –, dass Sie zum 1. Juli 2007 den Energiebin- ist. Ein kurzer Anruf bei mir oder eine Ansprache heute (B) nenmarkt vollständig herstellen wollen. Dafür haben Sie Morgen – wir saßen uns gegenüber – hätte gereicht, um (D) ausdrücklich die Unterstützung der FDP. Das hörte sich diesen Streitpunkt, wenn es denn einer war, aus der Welt jetzt hier ein bisschen anders an. Man muss aber sagen, zu räumen. dass der Kollege Steenblock nicht völlig daneben liegt. Wir haben in Deutschland eine Oligopolsituation. Das Was die Energie angeht: Sie haben das in dem kleinen wissen auch Sie. Wie die aufzulösen ist, ist Aufgabe ei- Schlagabtausch mit Herrn Steenblock eben schon richtig ner Regulierungsbehörde bzw. der Bundesregierung. Wir interpretiert. Das Beispiel, das Sie genannt haben, ist erwarten von Ihnen, dass Sie auch da politisch Druck schon ein Argument dagegen, dass der Zeitpunkt für ei- machen. nen europäischen Regulierer schon gekommen ist. Die Regulierung kann dann greifen, wenn wir ein einigerma- Herr Barroso hat großen Wert darauf gelegt, dass es ßen gleiches Level Playing Field haben. Solange das möglichst bald einen europäischen Binnenmarkt gibt. Feld so unterschiedlich ist, wie es in Ihrer Frage zum Ich möchte von Ihnen gerne erfahren, wie die Bundesre- Ausdruck gekommen ist, erscheint ein europäischer Re- gierung voranzuschreiten gedenkt. Andere sind da sehr gulierer problematisch, jedenfalls für uns. Deshalb bin viel weiter als wir. Die Deutschen zahlen deutlich mehr, ich persönlich etwas skeptisch. Ich glaube, im Wirt- gerade beim Strom. Das könnte längst anders sein. schaftsministerium denkt man ähnlich. Zum Thema Verfassung haben Sie gesagt, Sie möch- Was die Verfassung angeht: Ich sehe jetzt nicht, wa- ten, dass die Substanz 2009 ratifiziert ist. Auch da haben rum in den von uns gebrauchten Formulierungen man- Sie unsere volle Unterstützung. Ich finde die Formulie- gelnder Respekt gegenüber den Parlamenten oder den rung in Ihrem Papier allerdings sehr unglücklich. Dort Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt. Was allenfalls ist von einem ins Stocken geratenen Ratifizierungspro- zum Ausdruck kommt, ist, dass wir den Prozess, der mit zess die Rede. Das widerspricht meiner Auffassung als den Ergebnissen der Volksabstimmungen in Frankreich Demokrat. Die Regel ist eindeutig: Alle Länder müssen und in den Niederlanden ein vorläufiges Ende genom- ratifizieren; wenn ein Land nicht ratifiziert hat, ist nicht men hat, noch nicht für endgültig abgeschlossen halten. ratifiziert. Das scheint in Europa überwiegend so gesehen zu wer- (Beifall bei der LINKEN) den; sonst fände das Bemühen um die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses gar nicht statt. Wenn in unserem Ich finde, das Ergebnis einer Volksabstimmung ist Präsidentschaftsprogramm von „ins Stocken geraten“ diesbezüglich eindeutig. Es hat Volksabstimmungen in die Rede ist, dann ist das noch keine Missachtung der Luxemburg und in Spanien gegeben; dort war man da- nationalen Parlamente und insbesondere nicht der Er- für. Aber es hat eben auch zwei Volksabstimmungen ge- gebnisse von Volksabstimmungen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6935

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Im Übrigen weiß ich natürlich – halten Sie mich für wird, ob wir neue Initiativen zu erwarten haben, die wir (C) realistisch genug; aber so haben Sie meine Worte auch in mit den europäischen Bemühungen koordinieren oder an der Vergangenheit immer verstanden –: Wenn man das die wir uns anschließen können. Das müssen wir in den Schiff wieder auf Kurs bringen will, dann muss man auf nächsten Tagen sehen. Darum kümmern wir uns sehr in- diejenigen hören, die man dazu braucht. Ich weiß, dass tensiv. man Flexibilität, also die Bereitschaft, sich zu bewegen, braucht. Verstehen Sie bitte so den von mir geprägten Sie haben nach Asien außerhalb Chinas gefragt. Ich Satz: Alle müssen sich bewegen, aber einige müssen bin mir nicht sicher, ob Sie dabei an die Region „Viet- sich mehr bewegen als andere. nam und Nachbarstaaten“ denken oder möglicherweise an die Regionen in Zentralasien, die ich im Herbst be- Außerdem haben Sie nach unseren Partnerschaftsbe- reist habe. ziehungen mit Asien gefragt. Wonach haben Sie noch gefragt? (Zuruf des Abg. Markus Löning [FDP]) Mindestens von der Region wissen Sie, dass wir wäh- (Markus Löning [FDP]: Politische Initiativen rend unserer Ratspräsidentschaft dem langjährigen im Nahen Osten!) Nachdenken darüber, ob Europa eine Zentralasieninitia- Die politische Initiative im Nahen Osten verstehen tive starten sollte oder könnte, eine Initiative folgen las- Sie bitte nicht so, dass wir alle auf den Zeitpunkt warten, sen werden. zu dem wir unter einer neuen Überschrift noch einmal Darüber hinaus wird es während unserer Ratspräsi- aufschreiben, was die wesentlichen Elemente der dentschaft einen EU-Japan-Gipfel geben, auf dem wir Roadmap sind. mindestens die Beziehungen zwischen der EU und Japan (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto neu diskutieren werden. Solms) Vizepräsident Dr. : Die Bemühungen um ein Wiederingangbringen des Gesprächsprozesses, der dann hoffentlich irgendwann in Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage hat einen Friedensprozess mündet, insbesondere zwischen die Kollegin Dr. Schwall-Düren von der SPD-Fraktion. Israel und Palästina, laufen. Sie sind sehr intensiv. Wir haben das in den vergangenen Tagen am Rande des Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Euromed-Gipfels in Tampere miteinander behandelt, aus Herr Außenminister, mit dem Hinweis auf die Zen- meiner Sicht sogar in einer ganz zufrieden stellenden Art tralasienstrategie haben Sie schon einen Teil der EU- (B) und Weise. Denn zum ersten Mal seit vielen Wochen und Ostpolitik angesprochen. Neben der Energieaußenpolitik (D) Monaten ist wieder sichtbar geworden, dass es Ge- kommt es hier vor allem darauf an, in unseren Nachbar- sprächsbereitschaft zwischen der palästinensischen Au- regionen eine Stabilisierung und Weiterentwicklung des tonomiebehörde, gegebenenfalls auch der palästinensi- demokratischen und marktwirtschaftlichen Transforma- schen Regierung, und der israelischen Regierung gibt. tionsprozesses in Gang zu setzen. Ich würde Sie bitten, Ein sehr fragiler Waffenstillstand zwischen Israel und uns hier kurz einige Hinweise dazu zu geben, inwiefern dem Gazastreifen hält immerhin den fünften Tag an und bei der Nachbarschaftspolitik durch die deutsche EU- auch einzelne Beschüsse mit Kassam-Raketen sind nicht Ratspräsidentschaft neue Akzente gesetzt werden sollen. als Bruch des Waffenstillstands insgesamt interpretiert worden. Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Deshalb ist meine Bitte eigentlich nur die, das, was Auswärtigen: im Augenblick stattfindet, nicht als Unterbrechung der Ich habe vor einiger Zeit einmal zum Ausdruck ge- europäischen Bemühungen zu begreifen, sondern eher bracht, dass wir in der nach dem 1. Januar 2007 größeren so zu verstehen, dass im Augenblick ein neues Papier Europäischen Union eine neue unmittelbare Nachbar- oder eine neue Überschrift dem Problem nicht abhilft. schaft in Europa haben. Die Länder der gesamten Aus meiner Sicht müssen wir zwei Dinge tun – wir sind Schwarzmeerregion, die bislang sozusagen die über- sehr engagiert dabei –: Zum einen müssen wir mit bei- nächsten Nachbarn sind, werden dann unsere unmittel- den Seiten, der israelischen und der palästinensischen, baren Nachbarn sein. Daraus ergeben sich neue Fragen. arbeiten, um die Gespräche wieder in Gang zu bringen, Das ist einer der Punkte, die einfließen werden in die und zum anderen brauchen wir eine Ertüchtigung und Fortentwicklung der europäischen Nachbarschaftspoli- Ermutigung des internationalen Quartetts – VN, Euro- tik, zu der ich allerdings eine Vorbemerkung machen päische Union, USA und Russland –, weil wir glauben, muss. dass ohne die Autorität dieser Partner am Ende über den ersten Schritt hinaus Entscheidendes im Nahen Osten Ich habe auf meiner Reise durch die Maghreb-Staaten nicht zu bewegen sein wird. eines immer deutlich unterstrichen: Es wird in Europa nicht dazu kommen und nicht dazu kommen dürfen, dass Wir müssen jetzt vielleicht ein paar Tage Geduld ha- wir unsere Nachbarstaaten im Osten und im Süden völlig ben. Ich stehe vor einer Reise in die USA, um dann nach unterschiedlich behandeln. Wir werden eine gleichge- Vorlage des Baker-Hamilton-Berichts vielleicht auch zu wichtige, ausgewogene Partnerschaftspolitik der Euro- erfahren, ob das auf die Haltung der amerikanischen Re- päischen Union haben, gegebenenfalls auch fortentwi- gierung mit Blick auf den Nahen Osten Einfluss haben ckeln. 6936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Um das sicherzustellen und mit Glaubwürdigkeit ge- pieren zur Vorbereitung des Rates steht. Ich bin über- (C) genüber den südlichen Nachbarländern zu verbinden, rascht. Auf der einen Seite steht dort: Der Beitrittspro- weise ich immer darauf hin, dass wir unsere Bemühun- zess soll – ich sage es jetzt einmal frei – nach dem gen mit der portugiesischen Ratspräsidentschaft abglei- Kriterium der Aufnahmefähigkeit erfolgen. Auf der an- chen, die vor ihrem geografischen Hintergrund ihren deren Seite heißt es zur Türkei und zu Kroatien sinnge- Blick natürlich stärker in Richtung südliche Anrainer- mäß: Er wird je nach Fortschritt weitergeführt. staaten des Mittelmeers richtet. Meine Frage lautet: Soll neben den geltenden Kopen- Was sich aber für beide Nachbarschaften aus der Be- hagener Kriterien dieses unklare Kriterium der Aufnah- richterstattung der Europäischen Kommission am Jah- mefähigkeit auch in die Verhandlungen mit der Türkei resende als Ergebnis destillieren lässt, ist, dass wir uns und Kroatien implementiert werden? Oder gilt das für vermutlich stärker darauf konzentrieren müssen, nicht zukünftige Prozesse? Wie bewertet die Bundesregierung über das gesamte Politikfeld hinweg, sondern in be- vor dem Hintergrund ihrer anstehenden Ratspräsident- stimmten Sektoren Nachbarschaften zu intensivieren. schaft den jetzigen Vorschlag der Kommission, was die Wir haben das im Bereich der Energiepolitik erfolg- Verhandlungen mit der Türkei und die Fortführung an- reich etwa mit den Staaten des westlichen Balkans getan, geht? wobei wir auch gesagt haben: In einer Situation, in der zeitlich nicht absehbar ist, dass diese Staaten schon zur Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Europäischen Union gehören, kann es sinnvoll sein, in Auswärtigen: einzelnen Politikbereichen zu versuchen, den europäi- Was die so genannte Absorptions- oder Aufnahmefä- schen Acquis so weit wie möglich zu erreichen. higkeit angeht, so ist nach dem Antrag, den Frankreich Dies ist ein Modellfall, bei dem man überlegt, ob man während des europäischen Gipfels vor einem Jahr ge- ihn auch auf andere Regionen überträgt. Man könnte da- stellt hat, klar: Es soll sich hier kein neues Kopenhage- ran denken, dass man eine solch gezielte Politik auch ge- ner Kriterium entwickeln. genüber der Ukraine oder anderen Nachbarstaaten, auch Sie können im Grunde genommen, ohne dass ich der gegenüber südlich gelegenen Staaten erreicht. Diskussion im Rat der Außenminister und erst recht der Es kommt hinzu, dass die Kommission überlegt, ob auf dem Gipfel vorgreifen will, aus dem Bericht der man jenseits der bisherigen Praxis der Nachbarschafts- Kommission schon jetzt ungefähr ableiten, wie sich die politik auch darüber nachdenkt, dass man Belohnungs- Diskussion entwickeln wird. Im Bericht wird Skepsis elemente mit in diese Nachbarschaftspolitik einbaut, geäußert – diese teile ich ausdrücklich –, ob sich der Grad der Aufnahmefähigkeit Europas in irgendeiner Art (B) also die Staaten, die sich, was Rechtsstaat, Demokratie (D) und Pluralismus angeht, schneller entwickeln, mit einer und Weise mathematisieren lässt. Ich habe von jeher ge- entsprechenden fördernden Nachbarschaftspolitik stär- sagt, man müsse sich wahrscheinlich von der Vorstel- ker untersützt. lung verabschieden, dass es irgendwann einmal gelingt, den Grad der Aufnahmefähigkeit Europas aus statisti- Das sind Elemente, die sich nach einem Bericht der schen Erhebungen über die Entwicklung des durch- Kommission ergeben werden, aus dem wir zusammen schnittlichen Wirtschaftswachstums und der Arbeitslo- mit der Kommission einen neuen Verhandlungsvor- sigkeit oder aus demografischen Kurven abzuleiten. Ich schlag für die deutsche Ratspräsidentschaft im kommen- glaube, das wird nicht gehen. Ein gewisses Maß an Er- den Halbjahr entwickeln werden. nüchterung bringt ja auch der Bericht der Europäischen Kommission zum Ausdruck. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hinsichtlich des nun vorliegenden Kommissionsvor- Vielen Dank. – Die Zeit ist eigentlich abgelaufen. Wir schlages zur Fortführung des Beitrittsverfahrens mit der haben noch eine Frage. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Türkei habe ich gestern zum Ausdruck gebracht, dass würde ich dem Kollegen Rainder Steenblock noch die ich ihn für angemessen und verantwortungsvoll halte. Gelegenheit zu einer kurzen Frage geben. Sie wissen, niemand hätte es lieber als ich gesehen, wenn es der finnischen Ratspräsidentschaft gelungen Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wäre, auf Basis ihrer, wie ich finde, kreativen Kompro- NEN): missbemühungen eine Lösung zu erreichen. Das ist lei- Vielen Dank, Herr Präsident. Ich mache es ganz kurz. der nicht gelungen. Daher bleibt es dabei: Einerseits Das Thema, das ich gerne ansprechen möchte, ist die kann man im weiteren Prozess die Nichtratifizierung des Türkei. Herr Minister, die Grünen haben Ihre besonne- Ankaraprotokolls und damit die Nichtöffnung der Häfen nen Äußerungen zu den Verhandlungen mit der Türkei und Flughäfen auf türkischer Seite für zypriotische immer unterstützt. Wir hören aus den Reihen Ihres Ko- Schiffe und Flugzeuge nicht ignorieren. Andererseits alitionspartners sehr unterschiedliche Positionen zu die- bringt der Kommissionsvorschlag zum Ausdruck, dass sen Verhandlungen mit der Türkei. Das ist ein wichtiges es nicht im europäischen Interesse sein kann, den Pro- Thema auch für die Zeit unserer Ratspräsidentschaft. zess der Annäherung der Türkei an Europa abzubrechen oder zu unterbrechen, und macht operative Vorschläge, Wir kennen die Situation, dass Koalitionspartner un- wie dieser Prozess auf einem minderen Niveau aufrecht- terschiedlich in der Öffentlichkeit agieren. Deshalb lesen zuerhalten ist. Das ist schon schwierig genug, weil es wir mit besonderer Aufmerksamkeit das, was in den Pa- nicht ganz einfach sein wird, über die Fortführung der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6937

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Verhandlungen über Kapitel, die die Kommission im Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- (C) Prinzip für diskussionsfähig hält, Einigkeit unter allen minister für Wirtschaft und Technologie: Mitgliedstaaten zu erzielen. Diesen politischen Prozess Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und müssen wir jetzt aber angehen. Herren! Mit der Novelle des Telekommunikationsgeset- zes werden die Rahmenbedingungen auf den Kommuni- Eine weitere Frage ist, ob man Kompromissvor- kationsmärkten weiter verbessert. Ich glaube, es ist uns schläge der finnischen Ratspräsidentschaft, die nicht damit gelungen, einen Ausgleich zwischen den viel- zum Erfolg geführt haben, noch einmal aufgreifen soll. schichtigsten Interessenlagen zu finden. Wir verfolgen ja Ich bin der Meinung, solange der Abstand zu entschei- mit dem Gesetz zwei Zielrichtungen: einerseits die Stär- denden Wahlen in der Region, insbesondere zu der türki- kung der Verbraucher und andererseits die Schaffung schen Parlamentswahl, groß genug ist, sollte man den eines günstigen Innovations- und Investitionsklimas Versuch noch einmal unternehmen. Zugleich sollte man für den Auf- und Ausbau einer modernen Infrastruk- aber keine unrealistischen Erwartungen an weitere Kom- tur. promissbemühungen stellen. Ich denke, dass wir in den vergangenen Jahren mit der sektorspezifischen Regulierung in unserer Telekommu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nikationspolitik den richtigen Weg eingeschlagen haben. Vielen Dank, Herr Bundesminister Steinmeier. Wir haben gute Erfolge für die Wirtschaft und für die Verbraucher erzielt. Es gibt inzwischen mehr Anbieter, Ich beende die Befragung der Bundesregierung. Die eine größere Angebotsvielfalt und vor allem niedrigere vorgesehene Zeit ist schon deutlich überschritten. Preise, und zwar in allen Bereichen, ob Mobilfunk, Fest- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: netz oder Internet. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes neten der SPD) zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Wenn man merkt, dass man den richtigen Kurs einge- Vorschriften schlagen hat, dann sollte man auf diesem Kurs weiter- fahren. Für uns ist sehr wichtig, dass investiert wird und – Drucksache 16/2581 – Innovationen sich lohnen, vor allem in der breitbandigen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Infrastruktur. Wir alle kennen und schätzen die Breit- ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- bandtechnologie in ihrer Bedeutung für die Entstehung schuss) neuer, innovativer Informations- und Kommunikations- (B) dienste. (D) – Drucksache 16/3635 – Der Grundsatz unserer Regelungen, die wir sehr ab- Berichterstattung: strakt und technikneutral gestaltet haben, heißt Nichtre- Abgeordneter Hans-Joachim Otto (Frankfurt) gulierung neuer Märkte. Nur wenn die Wettbewerber nicht in der Lage sind, diesem Grundsatz zu folgen und b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sich zu ökonomisch vertretbaren Bedingungen Zugang richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- zum Markt zu verschaffen, kommt die Bundesnetz- nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- agentur ins Spiel und trifft die Entscheidung über die ordneten Matthias Berninger, Bärbel Höhn, Regulierung bestimmter Märkte oder Produkte, und Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der zwar in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommis- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sion. Mehr Wettbewerb und Verbraucherschutz auf Wir wissen, dass dieses Thema sehr kontrovers disku- dem Telekommunikationsmarkt tiert worden ist, auch bei uns intern und in der Öffent- lichkeit. Aber nun ist eine Lösung gefunden worden, von – Drucksachen 16/2625, 16/3635 – der ich glaube, dass sie den berechtigten Interessen aller Berichterstattung: Beteiligten und vor allem der investitionswilligen Unter- Abgeordneter Hans-Joachim Otto (Frankfurt) nehmen Rechnung trägt sowie den Wettbewerbsaspekten Rechnung tragen kann, und bei der wir, auch nach inten- Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein siven Überprüfungen, das Gefühl haben, dass sie europa- Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. rechtskonform ist. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aber man muss auch klarstellen, dass die Forderun- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich gen nach einer generellen Freistellung von neuen Märk- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ten über einen gewissen Zeitraum, die in der Branche er- hoben worden sind, nach unserer Auffassung nicht mit Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- dem Europarecht vereinbar sind, auch nicht mit dem nerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Ziel, wettbewerbsrechtliche Verzerrungen zu vermeiden, Dagmar Wöhrl. das wir immer gehabt haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) neten der SPD) 6938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) Wir wollen – ich glaube, alle hier im Haus –, dass mög- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) lichst viele Unternehmen in diese Infrastruktur investie- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto ren und dass es in dem Zusammenhang zu einem nach- von der FDP-Fraktion. haltigen Wettbewerb kommt. (Beifall bei der FDP) Nun ist bei der Diskussion dieses Gesetzes oft von ei- nem Spannungsverhältnis zwischen der Wirtschaft auf Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): der einen Seite und den Verbrauchern auf der anderen Seite gesprochen worden. Ich glaube, das ist eine ober- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen flächliche Betrachtungsweise. Wie ich schon erwähnt Sie mich mit den Gemeinsamkeiten beginnen. Die Tele- habe, hat der Verbraucher gerade von der ausgeprägt kommunikationsbranche ist in der Tat der Innovations- wettbewerbsorientierten und wirtschaftsfreundlichen und Wachstumstreiber mit einem durchschnittlichen Politik in der Vergangenheit sehr profitiert. Deswegen Wachstum pro Jahr von 3,5 Prozent und 25 000 neuen sind diese zwei Komponenten auch kein Widerspruch. Arbeitsplätzen in 2006 und 2007. Ich weiß nicht, woher die Linken ihre Zahlen bekommen. Uns liegen sehr viel Aber wir müssen auch sehen, dass der Markt ein sehr positivere Zahlen vor. Ein Drittel des Produktivitäts- technikorientierter Markt mit einer sehr hohen Dynamik fortschritts in Europa wird durch die Informations- und ist, bei dem allerdings auch Intransparenz und miss- Kommunikationstechnologie getrieben. bräuchliches Verhalten festzustellen sind. Uns alle eint der Wille, Rahmenbedingungen zu Unsere Aufgabe ist, diesem missbräuchlichen Verhal- schaffen, die weiteres Wachstum und insbesondere den ten entgegenzuwirken und entsprechende Gesetze zu er- Ausbau der Infrastrukturen fördern. Der Wille eint lassen. Gerade zum Schutz der Jugend müssen wir uns; leider eint uns noch nicht der Weg. Ich komme neue Bestimmungen in das Gesetz aufnehmen. Ein gleich darauf zurück. wichtiger Punkt war für uns die Überschuldung von jungen Menschen, die gerade in diesem Bereich sehr Uns eint auch das Ziel, Frau Staatssekretärin, den stark zugenommen hat. Denken Sie allein an das Thema Verbraucherschutz zu stärken. Im Interesse des Ver- Klingeltöne; jeder, der Kinder hat, weiß, wovon ich spre- braucherschutzes und einer höheren Transparenz hätten che. Es wird nicht nur ein Klingelton, sondern es werden wir uns allerdings eine einheitliche Preisgrenze von meistens komplette Charts heruntergeladen. Ehe man 3 Euro gewünscht. Sie haben mit zwei Preisgrenzen von sich versieht, ist man an ein Abonnement gebunden. Am 2 Euro bzw. 3 Euro der Transparenz nicht gerade ge- Ende des Monats kommt dann das böse Erwachen in dient. Das trägt sicherlich ein wenig zur Verwirrung der Form einer Rechnung, die ins Haus flattert. Wir werden Verbraucher bei. (B) (D) dafür sorgen, dass ein Kündigungsrecht gesetzlich ver- (Beifall bei der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Sie ankert wird. Wir werden ebenfalls dafür sorgen, dass zu- haben den Text nicht gelesen!) künftig eine Warn-SMS gesendet werden muss, wenn ein Betrag von 20 Euro aufgelaufen ist. – Ganz ruhig. – Insgesamt, lieber Herr Kollege, halten wir die Verbraucherschutzregeln aber für einen Fort- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schritt, den wir mittragen können. Wichtig ist, mehr Transparenz für die Verbraucher Wir tragen durchaus auch Ihre Auffassung mit, Inves- zu schaffen, indem wir Vorgaben über Preisangaben und titionen in neue Märkte durch Anreize zu ermutigen. Im Preisansagen verbessern. Es ist wichtig, dass wir damit Gegensatz zu Ihnen wollen wir aber Investitionen im das Vertrauen in den Bereich der elektronischen Dienst- Wettbewerb stärken, nicht wie Sie unter Ausschaltung leistungen zukünftig stärken. Der Endverbraucher muss des Wettbewerbs. sich darauf verlassen können, dass er bei der Inanspruch- nahme von Dienstleistungen über elektronische Medien (Beifall bei der FDP) vor Missbräuchen geschützt ist. Wenn dieses Vertrauen Die Geschichte der Telekommunikationsbranche in gegeben ist, dann werden diese Mehrwertdienstleistun- Deutschland und darüber hinaus ist eine einzige Erfolgs- gen auch mehr in Anspruch genommen, was wiederum story. Keine andere Branche hat einen solchen Produk- einen gewissen Impuls für die Wirtschaft gibt. Wir be- tivitätsfortschritt, solche Innovationskraft, so viele neue grüßen in diesem Zusammenhang den Verhaltens- Arbeitsplätze und so starke Preissenkungen hervorge- kodex, den sich die Wirtschaft auferlegt hat. Wir werden bracht. Sie haben schon darauf hingewiesen: Für Tele- sie darin unterstützen. fongespräche ins Festnetz gab es in den letzten zehn Jah- Ich glaube, mit diesem Gesetz werden wir das Ziel er- ren Preissenkungen von 94 Prozent. Was war das reichen, dass wir einen sehr leistungsfähigen Telekom- Erfolgsrezept? Wettbewerb, Wettbewerb, Wettbewerb. munikationsmarkt mit einem optimalen Angebot von Liebe Frau Wöhrl, Sie haben davon gesprochen, den Diensten schaffen. Es ist ein wichtiger Industriezweig, erfolgreichen Kurs weiterzufahren. Das ist auch unsere der den erhofften Impuls für die Gesamtwirtschaft geben Auffassung. Wir denken aber, dass Sie gerade beginnen, wird. den erfolgreichen Kurs zu verlassen. Was wir brauchen, Vielen Dank. ist weiterhin eine behutsame Regulierung oder, wie es mein Vorsitzender gesagt hat, eine Regulierung mit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Augenmaß. Aber was wir nicht gebrauchen können, ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6939

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) die Ausschaltung von Wettbewerb – Regulierungsferien –, unsere EU-Ratspräsidentschaft nicht besonders beflügelt – (C) wie Sie es jetzt vorschlagen. und das alles wegen eines Wortes, des Wortes „langfris- tig“. ( [SPD]: Es kann doch jeder investieren!) Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie streichen dieses eine Wort aus Ihrem Entwurf. Sie bekommen die Zu- Wir brauchen eine Balance zwischen den Investoreninte- stimmung der Opposition ressen und der Förderung von Wettbewerbsdynamik. (Zuruf von der LINKEN: Der FDP vielleicht!) (Beifall bei der FDP – Dr. Martina Krogmann [CDU/ CSU]: Genau die haben wir geschafft!) und – das ist viel wichtiger – Sie vermeiden das peinli- che Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Sie – Liebe Frau Kollegin Dr. Krogmann, dies könnte zum vermeiden dadurch das Risiko von Schadensersatz in Beispiel dadurch geschehen, dass wir die Möglichkeit Milliardenhöhe und schaffen – das will ich hier beson- der Netzagentur erhalten, dem Investor Pioniergewinne ders betonen – zugunsten der Deutschen Telekom in Form von erhöhten Netzzugangsentgelten zuzubilli- Rechtssicherheit. gen. Das Erfolg versprechende Rezept für mehr Inves- titionen ist „Mut zum Wettbewerb“ und „Vertrauen zu Die Deutsche Telekom ist nach unserer Auffassung den Wettbewerbsbehörden“. viel stärker, als Sie selbst vermuten. Dort nämlich, wo die Deutsche Telekom in vollem Wettbewerb agiert hat, Aber in Ihrem Gesetzentwurf tun Sie im entscheiden- wie zum Beispiel im Mobilfunkbereich, hat sie sich er- den Punkt genau das Gegenteil. Es hätte überhaupt kei- folgreich behauptet. Wir trauen der Deutschen Telekom ner Gesetzesbestimmung zu den neuen Märkten bedurft. und insbesondere dem neuen Vorstandsvorsitzenden Die Netzagentur verfügt schon bisher über alle Mög- Obermann mehr zu als Sie. Wir sind der Auffassung, lichkeiten, behutsam und zurückhaltend neue Märkte zu dass er keine Protektion benötigt. Wir sind der Auffas- regulieren oder sich sogar ganz einer Regulierung zu sung, dass sich die Deutsche Telekom und Obermann enthalten. Stattdessen wollen Sie eine Gesetzesdefinition auf dem Markt behaupten werden. des neuen Marktes; das ist überflüssig. Aber wenn Sie eine solche schon in das Gesetz schreiben, dann bitte (Beifall bei der FDP) doch nicht in Abweichung vom bewährten Bedarfs- Zum Abschluss möchte ich feststellen: Mehr Ver- marktkonzept der EU. trauen in den Markt stärkt nicht nur den Wirtschafts- Jetzt kommen wir zu den entscheidenden Punkten. standort Deutschland. Mehr Vertrauen in den Markt Sie legen der Netzagentur eine Stahlkugel ans Bein. Sie stärkt – zumindest langfristig – auch die Deutsche Tele- kom. Das sollten Sie sich vor Augen halten. (B) verbieten der Netzagentur, tätig zu werden, und zwar (D) selbst dann, wenn die Entwicklung eines Marktes durch Vielen Dank. die Deutsche Telekom unzweifelhaft behindert wird. Einschreiten dürfen die Wettbewerbshüter nämlich erst (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Matthias dann, wenn der Markt dauerhaft behindert wird, also erst Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dann, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist und Deutschland Tausende Arbeitsplätze verloren hat. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Dörmann von Der zentrale Kritikpunkt an Ihrem Gesetz ist somit der SPD-Fraktion. das Wort „langfristig“ in § 9 a. Das ist die faktische Ent- machtung der Netzagentur durch den Gesetzgeber. Martin Dörmann (SPD): (Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Genau an dieser Stelle besteht der Kern Ihres Konfliktes der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes ver- mit der EU. Nicht nur die Medienkommissarin Reding, folgt die große Koalition vor allem zwei übergeordnete sondern auch die Wettbewerbskommissarin Kroes und Ziele: Erstens: Wir verbessern die Schutzvorschriften für die gesamte EU-Kommission werfen Ihnen wegen dieser die Verbraucherinnen und Verbraucher. Zweitens: Wir langfristigen Ausschaltung des Wettbewerbs Protek- schaffen Anreize für zusätzliche Investitionen in neue tion eines Staatsunternehmens vor. Die Kommission Märkte. wird – das hat sie angekündigt – ein Eilverfahren vor Beim Verbraucherschutz führen die neuen Regelun- dem Europäischen Gerichtshof einleiten. Übrigens sind gen beispielsweise zu mehr Preistransparenz, Jugend- dieser Auffassung auch die Wirtschaftsminister im Bun- schutz und Kostenkontrolle. Hierauf wird mein desrat; denn, nebenbei gesagt, das Gesetz ist ja zustim- Fraktionskollege Manfred Zöllmer nachher noch aus- mungspflichtig. führlicher eingehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions- Das zweite zentrale Anliegen der Gesetzesnovelle ist fraktionen, Sie mögen vielleicht eine andere Rechtsauf- die Stärkung des Investitionsstandortes Deutschland. Es fassung haben als die EU-Kommission. Das bewahrt Sie wurde schon erwähnt: Die IT- und Telekommunikations- aber nicht davor, dass die Bundesrepublik ein Vertrags- branche ist ein wichtiger Wirtschaftsmotor für unser verletzungsverfahren an den Hals bekommt und unsere Land. In den letzten zehn Jahren stieg ihr Anteil am Nachbarländer uns mit langen Fingern Protektionismus Bruttosozialprodukt von 4,7 auf fast 7 Prozent. Wir wol- vorhalten. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Verfahren len, dass auch in Zukunft Investitionen in diesem 6940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Martin Dörmann (A) Bereich Wachstum und neue Arbeitsplätze schaffen. Von Das aber wäre schädlich, und zwar sowohl für den (C) besonderer Bedeutung sind hierbei Investitionen in inno- Standort Deutschland, für Arbeitsplätze, als auch für die vative Produkte, durch die neue Märkte entstehen. Verbraucherinnen und Verbraucher. Aus diesem Grund sieht das neue TKG in § 9 a eine spezielle Regelung für Es stellt sich nun jedoch die Frage – sie haben wir neue Märkte vor. heute zu beantworten –, inwieweit diese neuen Märkte reguliert werden sollen. Grundsätzlich hat sich die Regu- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aha!) lierung im Telekommunikationsbereich – da sind wir uns alle einig – durchaus bewährt. Der Wettbewerb funktio- Diese sollen vorübergehend von der Regulierung ausge- niert. Wir alle profitieren von deutlich gesunkenen Prei- nommen werden, um Anreize für zusätzliche Investitio- sen. nen in Innovationen zu setzen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Der neue § 9 a setzt hierfür gleichzeitig aber auch Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU] – Iris eine klare Grenze: Die Regulierung greift dann ein, Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) wenn ansonsten die nachhaltige Entwicklung eines wett- bewerbsorientierten Marktes langfristig behindert Der Anteil der Wettbewerber am Gesamtmarkt für Tele- würde. Damit stellen wir sicher, dass keine dauerhaften kommunikationsdienste liegt nach aktuellen Zahlen des Monopole entstehen können. Branchenverbandes VATM in diesem Jahr bei rund 51 Prozent gegenüber der Telekom mit 49 Prozent. Die Wir haben zudem großen Wert darauf gelegt – Herr Regulierung greift dort zu Recht ein, wo ein Unterneh- Otto hat ja gerade etwas anderes suggeriert –, dass die men eine marktbeherrschende Stellung hat und hier- Bestimmung auch europarechtskonform ausgestaltet durch ein deutliches Ungleichgewicht gegenüber den wird. Die EU gibt hinsichtlich der Telekommunikations- Wettbewerbern besteht. märkte einen Rechtsrahmen für die Regulierung vor, in dem wir uns bewegen können. Darin ist ausdrücklich Im Bereich neuer Märkte haben wir jedoch eine be- vorgesehen, dass neue Märkte vorübergehend von der sondere Situation vor Augen, die wir berücksichtigen Regulierung freigestellt werden können, um Investitio- müssen. Hier sieht sich nämlich ein Marktführer, der in nen nicht zu gefährden. neue Techniken und Produkte investieren will, einem (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Genau! – doppelten Risiko ausgesetzt. Zum einen weiß das Unter- Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber nehmen zum Zeitpunkt der Investition ja noch gar nicht, nicht dauerhaft!) ob und inwieweit sich die neuen Produkte am Markt überhaupt etablieren und durchsetzen. (B) So kommen beispielsweise nach Erwägungsgrund 15 (D) der Märkte-Empfehlung der EU-Kommission neue und (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das sich abzeichnende Märkte, auf denen Marktmacht auf- weiß keiner!) grund von Vorreitervorteilen besteht, grundsätzlich für Das ist bei einem neuen Markt ein spezifisches Risiko. eine Vorabregulierung nicht in Betracht. Bereits hieraus ergibt sich also ein spezifisches Investi- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: So ist tionsrisiko. Wird der neue Markt auch noch von Anfang das!) an reguliert und damit den Wettbewerbern die Möglich- keit eröffnet, ein Vorleistungsprodukt zu regulierten Be- dingungen in Anspruch zu nehmen, können diese unter Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Umständen die neuen Produkte zu vergleichbaren oder Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto? sogar zu geringeren Konditionen am Markt anbieten. Das investierende Unternehmen würde aber so von vorn- herein seine Pioniervorteile verlieren. Martin Dörmann (SPD): Bitte. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Warum denn?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es wird sich also sehr genau überlegen müssen, ob es an- Bitte schön, Herr Otto. gesichts hoher Investitionskosten dieses doppelte Risiko wirklich eingeht. Martin Dörmann (SPD): Insoweit besteht sogar ein zusätzliches Ungleichge- Ich wollte dem Präsidenten nicht vorgreifen. Aber die wicht zulasten des zuerst investierenden Marktführers. 10 Sekunden schreiben Sie mir bitte gut. Denn die Wettbewerber können ja zunächst in Ruhe ab- warten, ob die Produkte am Markt überhaupt angenom- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men werden, und möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt nachziehen, um ihr eigenes Risiko gering zu Die Uhr wird angehalten. halten. Dieses spezifische Investitionsrisiko und (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ich Ungleichgewicht bei neuen Märkten kann dazu führen, verlängere Ihre Redezeit!) dass ein Unternehmen bei frühzeitiger Regulierung auf seine Investition ganz verzichtet. Schauen Sie auf die Uhr, dann sehen Sie es. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6941

(A) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): In Erwägungsgrund 27 der Rahmenrichtlinie wird aner- (C) Lieber Herr Kollege Dörmann, es ist Ihnen vielleicht kannt, dass auf Märkten, die neu sind, der Marktführer aufgefallen, dass auch meine Rede sehr differenziert war zwar über einen beträchtlichen Marktanteil verfügen und ich nicht von vornherein gegen § 9 a gesprochen dürfe, ihm in diesen Konstellationen jedoch keine unan- habe, dass ich mich vielmehr gegen die Tatsache ge- gemessenen Verpflichtungen auferlegt werden sollten. wandt habe, dass hier eine dauerhafte Behinderung des Ich gehe davon aus, dass sich die EU-Kommission auch Marktes verlangt wird. Das genau ist der Punkt, der eu- in Zukunft an diesen Rahmen halten wird. Genau dieser roparechtswidrig ist. Mich würde interessieren, wie Sie grundsätzlichen Überlegung entspricht der neue § 9 a zu der Auffassung kommen, dass das alles in Ordnung nämlich. Deshalb bewegen wir uns europarechtlich auf sei, obwohl die EU-Kommission beabsichtigt, ein Ver- sicherem Grund. fahren gegen Deutschland einzuleiten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Martin Dörmann (SPD): Herr Kollege Otto, ich bin ein bisschen enttäuscht. Der deutsche Gesetzgeber kann einen Rahmen vorge- Wir haben uns gestern im Wirtschaftsausschuss sehr aus- ben, jedoch selbstverständlich keine Einzelfallentschei- führlich über diese Frage unterhalten. Ich habe Ihnen dungen treffen. Die Regulierungsbehörde, also die dort den Hinweis gegeben, dass seitens des Wirtschafts- Bundesnetzagentur, wird in konkreten Fällen zu ent- ministeriums eine Drucksache vorgelegt wurde, in der scheiden haben, inwieweit eine langfristige Behinderung genau diese Fragen erörtert werden. Darin wird eindeu- des Wettbewerbs droht, und das Marktgeschehen ge- tig festgestellt, dass die jetzt gefundene Regelung euro- nauer beobachten. Herr Otto, Sie sollten Vertrauen in die parechtskonform ist und insbesondere das Wort „lang- Bundesnetzagentur haben. fristig“ an vielen Stellen des EU-Rechtsrahmens (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Habe aufgeführt wird. Der EU-Rechtsrahmen berücksichtigt ich doch! Mehr als Sie!) also das Kriterium, ob ein Wettbewerb dauerhaft behin- dert wird. Nichts anderes macht der deutsche Gesetzge- Auch spezielle Zugangsfragen zu nicht ohne weiteres ber in diesem Zusammenhang. nachzubildenden Teilen der Infrastruktur sind von der Bundesnetzagentur gegebenenfalls zu prüfen. Wir lassen In Ihrer Rede haben Sie gesagt, dass die EU-Kommis- ihr den Ermessensspielraum, den sie braucht. Ich will sarin Reding Zweifel an der Rechtmäßigkeit nach EU- darauf hinweisen, dass die Bundesnetzagentur in der An- Recht geäußert hat. Ich will darauf hinweisen, dass die hörung des Wirtschaftsausschusses – Herr Otto, Sie wis- EU-Kommission keine Rechtsprechung betreibt, son- sen das – die Europarechtskonformität des neuen § 9 a dern selbst eine politische Rolle spielt. Sie wissen ausdrücklich bestätigt hat. (B) ebenso wie ich, dass dieser Versuch der EU-Kommission (D) darauf abzielt, auf europäischer Ebene für die EU-Kom- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die mission mehr Kompetenzen in Regulierungsfragen zu alte Regelung!) etablieren. Zu Recht hat die Bundesregierung in ihrer – Die alte Regelung ist materiell identisch mit der neuen. – Stellungnahme klargestellt, dass sie das anders sieht. Wir Vor diesem Hintergrund sind manch kritische Anmer- haben immer noch nationale Märkte. Ich interpretiere kungen zu diesem Thema sachlich kaum noch nachzu- die Äußerungen der zuständigen EU-Kommissarin als vollziehen. einen politischen Versuch, Druck auf den deutschen Ge- setzgeber auszuüben, damit er den vorgesehenen Rechts- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rahmen nicht ausfüllt. Das können wir doch wohl nicht Was aber sind „neue Märkte“? Auch hierüber hat mitmachen. sich in den vergangenen Monaten eine kontroverse De- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) batte entwickelt. Sie findet vor einem konkreten Hinter- grund statt; wir wissen das. Die Deutsche Telekom hat Wir können doch aufgrund einer politischen Stellung- angekündigt, ihr Glasfasernetz auszubauen; dank nahme einer Kommissarin nicht von unseren Grundsät- VDSL-Technik können deutlich vergrößerte Bandbrei- zen und von dem, was wir als politisch richtig erachten, ten und Geschwindigkeiten für Datenübertragungen an- abgehen. geboten werden, die wiederum neue Nutzungsmöglich- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die keiten schaffen. In zehn Städten erfolgt dieser Ausbau EU-Kommission ist doof und die Bundes- bereits, weitere 40 könnten in einer nächsten Ausbau- regierung ist schlau?) stufe folgen. Hierfür sind insgesamt 3 Milliarden Euro Investitionen und 5 000 zusätzliche Arbeitsplätze vorge- – Nein. sehen. Die aktuelle Diskussion hat also einerseits einen konkreten Hintergrund. Andererseits kann es jedoch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht darum gehen, eine Lex Telekom zu schaffen und Die Frage ist beantwortet. Fahren Sie bitte in der eine bestimmte Technik regulierungsfrei zu stellen. Rede fort. Bei der gesetzlichen Definition, wann es sich um ei- nen neuen Markt handelt, haben wir uns vielmehr von Martin Dörmann (SPD): folgenden Kriterien leiten lassen: Eine gesetzliche Defi- Herr Otto, ich will Ihnen noch einen zweiten Hinweis nition muss technikneutral formuliert sein, sie darf den geben, der in den Dokumenten ebenfalls enthalten war. Beurteilungsspielraum der Bundesnetzagentur nicht 6942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Martin Dörmann (A) unangemessen einengen und sie ist selbstverständlich Verdacht entkräften: Der Kurs der Telekomaktie ist ge- (C) ebenfalls europarechtskonform auszugestalten. genwärtig niedrig. Das Gesetz ermöglicht der Telekom für eine bestimmte Zeit einen höheren Gewinn. Das stei- Die von uns gewählte Definition eines neuen Marktes gert den Aktienkurs. Damit erzielt der Bund, wenn er entspricht diesen Kriterien. Sie ist im Übrigen aus dem denn privatisieren sollte, für seinen restlichen Anteil ei- anerkannten Bedarfsmarktmodell entwickelt. Danach nen höheren Erlös. Schwer abzuschätzen ist, ob die setzt ein neuer Markt neue Dienste und Produkte voraus, höheren Preise, die die Verbraucher zahlen, den zusätzli- die sich von den vorhandenen aus Sicht eines verständi- chen Privatisierungserlös übertreffen oder unterschrei- gen Nachfragers erheblich unterscheiden und diese nicht ten. Das Gesetz ermöglicht auf diesem so genannten lediglich ersetzen. Es werden zugleich verschiedene neuen Markt eine Art Sondersteuer, die den Privatisie- qualitative Eigenschaften genannt, die geprüft werden rungserlös des Bundes steigern soll. müssen. In der Gesetzesbegründung ist ebenfalls aus- führlich hervorgehoben, dass es bei dieser Prüfung (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus selbstverständlich um eine Gesamtbetrachtung geht. Barthel [SPD]: So ein Quatsch!) Durch die gewählte Definition ist klargestellt, dass reine Infrastrukturen nicht ohne weiteres für sich regulie- – Sind Sie denn nicht darüber informiert, dass die Tele- rungsfrei gestellt werden, ohne dass damit neue Pro- komaktie einen niedrigen Kurs hat, und darüber, dass der dukte verbunden wären. Auch insofern sind die von Bund weiter privatisieren will und das nur dann erlös- manchen Wettbewerbern vorgebrachten Bedenken unbe- günstig tun kann, wenn die Aktienkurse hoch sind? Das gründet. ist doch trivial. Es wäre gut – ich will das ausdrücklich betonen –, (Beifall bei der LINKEN) wenn möglichst viele Unternehmen – nicht nur die Tele- Das sollte auch Ihnen aufgefallen sein, selbst wenn Sie kom – selbst in neue Infrastrukturen investierten. In mei- in der Koalition sind. ner Heimatstadt Köln beispielsweise plant Net-Cologne den Ausbau eines eigenen VDSL-Netzes und will hier- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das war für gut 200 Millionen Euro in die Hand nehmen. Es ist aber fies!) also möglich, dass man selbst investiert. Es ist nicht ausgeschlossen, dass durch dieses Gesetz aus (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dem alten Staatsmonopol ein neues privates Monopol Ich bin von daher sehr zuversichtlich, dass wir auf wird. Immerhin ist das der Verdacht der EU-Kommis- dem VDSL-Markt in einigen Jahren mehrere Anbieter sion. und einen regen Wettbewerb haben werden. (B) Zweitens. Um Frieden zu stiften, Herr Kollege, kom- (D) (Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE men wir der Koalition entgegen und verstehen das GRÜNEN]: Trotz des Gesetzes!) Gesetz als eine allgemeine Norm, also nicht als ein spe- zielles Telekomgesetz. Dann ist der Grundgedanke des Dauerhafte Monopolstrukturen schließen wir durch das Gesetzes folgender: Geregelt wird die Position des neue Gesetz aus. Aber ohne Vorreiter werden andere Pionierunternehmers in einem speziellen Bereich. Er nicht nachziehen. Mit dem neuen Telekommunikations- entwickelt im Allgemeinen neue Produkte, Produktions- gesetz geben wir grünes Licht für mehr Verbraucher- verfahren oder erschließt einen neuen Markt. Geregelt schutz und zusätzliche Investitionen in neue Märkte. wird offenbar dort, wo der Markt versagt und wo die Dies liegt im Interesse der Verbraucherinnen und Ver- Politik lenken soll. An der Idee eines privaten Pionier- braucher und im Interesse einer guten wirtschaftlichen unternehmers wird aus so genannten ordnungspoliti- Entwicklung in unserem Land. schen Vorstellungen festgehalten. Wenn Schumpeter in Vielen Dank. diesem Zusammenhang Ihr Gewährsmann ist, sage ich Ihnen ganz nebenbei: Seiner Auffassung nach konnte (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) auch ein öffentliches Unternehmen Pionierunternehmer sein. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Klaus Barthel [SPD]: Wenn jemand ein neues Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Herbert Schui von Auto baut, wird er doch auch nicht reguliert! der Fraktion Die Linke. Das ist doch Unsinn! – Hans-Joachim Otto (Beifall bei der LINKEN) [Frankfurt] [FDP]: Ein bisschen mehr Ver- ständnis für Netze hätte ich von Ihnen schon Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): erwartet!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Besonders – Sie haben das Regulierungsgesetz selbst auf den Weg bedeutend beim Entwurf eines Gesetzes zur Änderung gebracht. Reden Sie doch jetzt nicht über den Auto- telekommunikationsrechtlicher Vorschriften ist der § 9 a. markt. Er legt fest: Neue Märkte unterliegen grundsätzlich nicht der Regulierung. Zweierlei ist dazu zu fragen. (Beifall bei der LINKEN) Erstens. Regelt das Gesetz einen Aspekt der Telekom- Aber ich muss gestehen: Mit Ihren espritvollen Bemer- munikation allgemein oder ist es eine spezielle Lex Tele- kungen kann ich, selbst wenn ich mir Mühe gebe, nicht kom? Die Koalitionsparteien müssen den folgenden mithalten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6943

Dr. Herbert Schui (A) (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – Das gelingt Ihnen in Ihrem Gesetzentwurf allerdings (C) Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht. Lassen Sie mich das wie folgt begründen: Ganz allgemein wird an Ihrem Gesetzentwurf deut- Erstens. Der Gesetzgeber soll bestimmen, wer Pionier- lich, dass die Fragen der neuen Märkte und des inno- unternehmer ist; dabei soll es sich um die Telekom vativen Unternehmers, für den Investitionsanreize zu handeln. In einer privaten Wettbewerbswirtschaft ent- schaffen sind, sehr gründlich erörtert werden müssen. scheidet allerdings die Konkurrenz darüber, wer Pionier- Die Idee des privaten Pionierunternehmers, also die Idee unternehmer ist. ordnungspolitischer Prinzipien, könnte in einen Konflikt Zweitens. Der Gesetzgeber soll festlegen, für welche mit wesentlichen ethischen Grundsätzen geraten. Dauer die Regulierung ausgesetzt wird. Aber normaler- Ein Beispiel: „Focus Money“ stellte dem BB-Bio- weise werden so lange Extraprofite als Lohn für eine tech-Manager Müller die Frage: neue Idee erzielt, wie die Nachahmer dies zulassen. Was macht den Krebs-Markt so attraktiv? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Antwort von Herrn Müller lautete: Es lassen sich Herr Kollege Schui, kommen Sie bitte zum Schluss. wegen der hohen Sterblichkeit deutlich höhere Preise für Behandlungen durchsetzen. Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Nachahmer sind wichtig, damit sich eine neue Idee Sicherlich können wir den Telekommunikationsmarkt allgemein durchsetzt. viel gelassener angehen. Aber das Telekommunikations- gesetz muss in einen allgemeinen Normenkontext pas- Zusammengefasst: Der Gesetzgeber kann offenbar sen. Ein Gesetz soll ja stets eine spezielle Regelung auf nicht die Grundlage schaffen, auf der dann die Markt- der Basis allgemeiner Grundsätze sein. Deswegen ist kräfte das ihre tun. Die einzige Möglichkeit, die aus die- Sorgfalt am Platz. Diese Sorgfalt vermisse ich bei der sem Dilemma herausführt, besteht darin, die Netze für Formulierung von § 9 a des Telekommunikationsgeset- Telekommunikation aus der Privatwirtschaft herauszu- zes, wonach neue Märkte grundsätzlich keiner Regulie- nehmen und zu öffentlichem Eigentum zu machen, wie rung unterliegen. Auch wenn sich dieses spezielle Ge- es auch im Hinblick auf die Deutsche Bahn geplant war. setz auf den Kommunikationssektor bezieht, besteht die Vielen Dank. Gefahr, dass es zum Vorbild für andere Gesetze wird, zum Beispiel für Gesetze im Bereich der Pharmaindus- (Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Otto trie, die noch zu beschließen wären. [Frankfurt] [FDP]: Das war ja echt super!) (B) (D) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: du meine Güte!) Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Berninger – Dies könnte dazu führen, dass der Pharmamarkt weiter vom Bündnis 90/Die Grünen. reguliert wird. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ja- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wo wird wohl! Stellen Sie die Sache jetzt einmal rich- denn die Pharmaindustrie reguliert?) tig!) – Es gibt auf diesem Markt eine ganze Menge Regulie- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass weitere Re- NEN): gulierungen erforderlich sind. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erin- (Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt! nere mich gut daran, dass die ehemalige Bundesverbrau- Setzen!) cherministerin Renate Künast die Einführung von Verbraucherschutzstandards im Bereich der Telekom- Wenn Sie den Geist des neuen § 9 a des Telekommuni- munikationsdienstleistungen angemahnt hat. Dieses kationsgesetzes auf andere Politikbereiche übertragen, Thema war damals sehr umstritten. Selbst im Zusam- dann sind Sie sehr schnell an dem Punkt, an dem auch menhang mit dem Problem, dass sich junge Menschen BB-Biotech-Manager Müller war. Dieses Problem müs- durch die Nutzung ihres Handys überschulden, wurde sen wir aufgreifen. noch vor drei Jahren eine Grundsatzdiskussion darüber (Klaus Barthel [SPD]: Haben Sie schon einmal geführt, ob der Staat überhaupt in Märkte eingreifen etwas von einem Patent gehört?) sollte oder ob dadurch nicht die Marktwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttert würde. – Das alles kenne ich. ( [Hamm] [CDU/CSU]: Ich Zurück zum Speziellen: Sie bemühen sich, die Regeln glaube, das Grundproblem ist eher, dass Sie in der privaten Wettbewerbswirtschaft in Ihrem Gesetzent- dieser Frage damals überhaupt nichts zustande wurf dort zur Geltung zu bringen, wo der Markt versagt. gebracht haben!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ein Gemessen daran zeigt der heute zur Abstimmung ste- Markt kann doch gar nicht versagen! Der hende Gesetzentwurf, dass wir erhebliche Fortschritte Markt war effektiv!) erzielt haben. In diesem Gesetzentwurf sind gute 6944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Matthias Berninger (A) Verbraucherschutzstandards formuliert. Auch wenn es – Der Kollege Barthel fragt: Wieso? – Sie können die (C) an der einen oder anderen Stelle noch ein bisschen mehr Magenta-Kappe wieder abziehen. hätte sein können, besteht in der Sache inzwischen Kon- sens darüber, dass dieser Markt nur wachsen kann, wenn (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ die Verbraucher darauf vertrauen können, dass sich die DIE GRÜNEN) Abzocker am Markt nicht mehr durchsetzen können. Da- Das passiert einfach deshalb, weil die Leitungen, zu mit befassen sich viele Punkte in diesem Gesetzentwurf. denen Sie den Wettbewerbern den Zugang verwehren Ich will für meine Fraktion ausdrücklich sagen, dass wir wollen, Leitungen sind, auf denen „Deutsche Bundes- besonders die Punkte, die den Schutz von Kindern und post“ steht. Das sind Leitungen und Ressourcen aus Zei- Jugendlichen betreffen, positiv sehen; das wollen wir ten des Monopols, die der Telekom durch Ihr Wirken hier würdigen. und das Wirken vieler anderer in diesem Parlament gesi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und chert wurden. Wenn sie auf denen jetzt wie der Gralshü- der SPD) ter sitzen darf, ist die Folge, dass in diesem Bereich kein Wettbewerb entsteht. Das Problem liegt dort, wo dieser Gesetzentwurf sein anderes Gesicht zeigt: wo er eine Lex Telekom ist. Die (Beifall des Abg. Dr. Axel Troost [DIE lange Linie vom Koalitionsvertrag über den Regierungs- LINKE]) entwurf zu dem jetzt vorliegenden, im Ausschuss von Wenn kein Wettbewerb entsteht im Bereich des VDSL, den Koalitionsfraktionen geänderten Gesetzentwurf dann haben wir eine Form der Planwirtschaft, ist im zeigt eindeutig, dass die große Koalition beabsichtigt, Markt zu wenig Dynamik, gibt es letzten Endes zu we- die große Telekom in besonderer Art und Weise zu pam- nige preisgünstige Angebote für einen superschnellen pern. Internetzugang, sodass viele Bürgerinnen und Bürger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und viele Unternehmerinnen und Unternehmer diese sowie bei Abgeordneten der FDP) Technik nicht nutzen werden. Ich denke, dass Sie diesem Unternehmen damit einen (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Stimmt leider alles! Bärendienst erweisen. Wo er Recht hat, hat er Recht!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr Das ist das Problem. Deswegen ist Ihr Entwurf wachs- richtig!) tumsfeindlich. Ron Sommer war kein schlechter Manager; das zeigt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) auch der Erfolg, den er jetzt als Berater hat. Herr Ricke Frau EU-Kommissarin Reding tut, was die Regulie- (D) war kein schlechter Manager, er war relativ erfolgreich. rung betrifft, nicht etwa ihre Privatmeinung kund, sozu- Auch Herr Obermann ist kein schlechter Manager. sagen zwischen Kaffee und Mittagessen, sondern die (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ein Meinung der EU-Kommission. Zu argumentieren, die Riesenmanager!) Bundesregierung vertrete da eben eine andere Meinung als die EU-Kommission, ist entweder ziemlich kühn Doch wenn wir nicht aufhören, die Telekom als ein oder naiv. Ich vermute, dass es kühn ist, dass folgender- Staatsunternehmen anzusehen, maßen auf Zeit gespielt werden soll: Wir verschaffen der (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Rich- Telekom jetzt Regulierungsferien. Ein Verfahren vor tig!) Gericht, das klären soll, ob dies dem EU-Recht wider- spricht, dauert seine Zeit. So lange hat die Telekom ihren wenn wir nicht aufhören, zu versuchen, der Telekom Vorsprung und die Wettbewerber bleiben schön verun- dort, wo es möglich ist, die Marktwirtschaft zu ersparen, sichert. Selbst wenn wir am Ende verlieren – ich sage dann werden die Manager der Telekom es nicht schaffen, einmal: die Tabakwerbung lässt grüßen –, hat das Unter- das Unternehmen auf den Erfolgspfad zu führen. nehmen, das wir fördern wollen, in der Zwischenzeit den Pioniervorsprung, den wir beabsichtigt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) Ich halte das für falsch, weil ich glaube, kurz vor Be- ginn unserer EU-Ratspräsidentschaft wäre es gut gewe- Wenn erst einmal die Kunden weggelaufen sind, werden sen, wenn die Bundesregierung hier ein klares Signal ge- die Beschäftigten des Unternehmens in umso härterer setzt hätte, dass sie für den Binnenmarkt eintritt, Form die Zeche zahlen müssen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Da hat (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ er einfach Recht!) DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN) Ich bin davon überzeugt, dass dieser Gesetzentwurf eine dass sie den Wettbewerb und den Binnenmarkt fördern entscheidende Schwäche hat. Er erschwert es den Wett- will und nicht fußkranke Exmonopolisten wie die Tele- bewerbern, in die Technik zu investieren. Das sagen die kom pampert und in einer Art und Weise vor dem Wett- Wettbewerber sehr deutlich. bewerb schützt, die allen Beteiligten schaden wird. Ich will noch einmal sehr deutlich sagen: Die Telekom ist in (Klaus Barthel [SPD]: Wieso? Kann doch der Tat wirtschaftlich erfolgreich, wo sie sich dem Wett- jeder!) bewerb stellt. Doch das Vertrauen, dass das Unterneh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6945

Matthias Berninger (A) men im Wettbewerb besteht, wird ihm entzogen, wenn in Deutschland wieder in Infrastrukturen investieren und (C) die Politik ihm einen Pioniergewinn verschaffen will. wir wieder an die Spitze in Europa kommen. Herr Dörmann, Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vertrauen in die Bundesnetzagentur. Die Bundesnetz- Ich habe mir angehört, was in dieser Debatte von der agentur hat mit diesem Gesetzentwurf ein ernstes Pro- Opposition kam: Die FDP streitet um ein einziges Wort blem. Denn Sie geben der Bundesnetzagentur sozusagen in diesem Gesetzentwurf mit einem Umfang von eine Bedienungsanleitung an die Hand. Sie haben an die- 13 Seiten, ser Stelle den Gesetzentwurf verschärft. Das heißt, Sie trauen Herrn Kurth und seinen Experten nicht zu, im (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist Sinne des Marktes und des Wettbewerbes zu entschei- aber ein entscheidendes Wort!) den. die Grünen reden von Frau Künast und der Bundespost (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Blei- und die PDS kreiert den Ausdruck „private Pionierunter- kugel ans Bein! Mehr als das!) nehmer“ und möchte am liebsten wieder verstaatlichen, was nun wirklich völlig absurd ist. Warum nicht? Weil Herr Kurth im Laufe des Verfahrens deutlich gemacht hat, dass die Regulierungsferien nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) so einfach vonstatten gehen können, wie sich das die Um bei den Breitbandinfrastrukturen voranzukom- Manager der Telekom vor einigen Monaten gewünscht men, müssen wir zwei Dinge tun: Erstens müssen wir haben. den Wettbewerb – vor allem den Wettbewerb der Infra- (Klaus Barthel [SPD]: Auf der jetzigen Grund- strukturen – stärken und zweitens müssen wir dafür sor- lage! Deswegen muss man sie ja ändern!) gen, dass sich die Investitionen für die Unternehmen, die investieren und etwas Neues schaffen wollen, auch loh- Vor diesem Hintergrund vertrauen Sie der Bundesnetz- nen. Deshalb sagen wir: Es ist genauso einfach wie klar, agentur nicht, sondern Sie legen sie leider an die Kette, dass wir Anreize für Investitionen in neue Märkte schaf- was ich sehr bedauerlich finde. fen müssen, wenn wir vorankommen und Innovationen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in unserem Land schaffen wollen. Es bleibt dabei: Wir und bei der FDP – Hans-Joachim Otto [Frank- haben ein ausgewogenes Verhältnis geschaffen und wir furt] [FDP]: Jetzt können wir doch eine Koali- haben ein Signal für Investitionen in neue Märkte auf der tion machen!) einen Seite und Wettbewerb auf der anderen Seite ge- setzt. (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Martina Krog- Das liegt mir besonders am Herzen: Wir wollen mann von der CDU/CSU-Fraktion. Investitionsanreize und keinen Investitionsschutz (Beifall bei der CDU/CSU) schaffen. (Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): GRÜNEN]: Die SPD aber nicht!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf ist ein klares Signal für Investitio- Herrn Berninger, ich bin hier völlig bei Ihnen: Ein Inves- nen und für Wettbewerb. titionsschutz hat mit der sozialen Marktwirtschaft wirk- lich nichts zu tun. Deshalb wollen wir entsprechende (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Anreize schaffen. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Klingt sehr gut!) (Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das sieht die SPD aber anders!) Ich möchte gerne den Gesamtzusammenhang darstel- Es ist falsch, ständig von Regulierungsferien zu re- len, um den es geht. Es geht um die Frage, wie wir in den. Deutschland bei den modernen Breitbandinfrastruk- turen wieder vorankommen. Uns allen ist klar, dass (Dr. [SPD]: Ja, genau!) schnelle Datennetze in der Informationsgesellschaft eine Grundvoraussetzung dafür sind, dass wir die Vorteile Sie alle waren in der Anhörung der Sachverständigen – auch die wirtschaftlichen Vorteile – nutzen können. doch anwesend. Die Wahrheit ist, dass wir in Deutschland in den letzten ( [CDU/CSU]: Körper- Jahren zurückgefallen sind. lich!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das Ihnen dürfte also nicht entgangen sein, dass sich nicht stimmt!) nur der Vertreter der Deutschen Telekom – er tat das lo- gischerweise –, sondern auch namhafte Sachverständige Wir sind bei der Leistungsfähigkeit der Datennetze, also gewünscht haben, dass man Zeiträume für Regulierungs- bei der Geschwindigkeit, zurückgefallen und wir liegen freistellungen ins Gesetz geschrieben hätte. insbesondere in den ländlichen Räumen bei der Flächen- deckung zurück. Deshalb müssen wir uns doch fragen, (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Es gab was wir als Politiker tun können, damit die Unternehmen aber auch andere Stimmen!) 6946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Martina Krogmann (A) Diese Absurditäten haben wir natürlich nicht mitge- len, dass Infrastrukturen an sich keine neuen Märkte (C) macht, weil wir keinen Schutz wollen – dieser hat in der sind, dann sind wir uns einig und können zustimmen. Marktwirtschaft keinen Platz –, sondern weil wir An- reize für etwas Neues geben wollen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ja, aber Sie haben das nicht klargestellt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dass Sie sich jetzt an einem einzigen Wort festhalten, Es ist auch deshalb völlig falsch, von Regulierungs- zeigt, dass Sie nur ein Haar in der Suppe suchen. Des- ferien zu sprechen, weil die Zugangsregulierung im bis- halb fordere ich Sie auf, Herr Otto: Geben Sie sich doch herigen Telekommunikationsgesetz, also die Regelung einen Ruck und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu, wie über den Zugang der Wettbewerber, mit § 9 a TKG über- es Ihr Vorsitzender schon vor sechs Wochen in seinem haupt nicht außer Kraft gesetzt wird. All das, was in den Artikel getan hat! §§ 9 bis 13 und § 21 des Telekommunikationsgesetzes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- steht, bleibt, wie es bisher war. Das heißt: Wenn der neten der SPD – Dr. Rainer Wend [SPD]: Wo Wettbewerb langfristig behindert wird, dann greift natür- ist der überhaupt?) lich die Zugangsregulierung. Es gibt dann also zum Bei- spiel einen Zugang zu den Kabelverzweigern, es gibt die Wir müssen uns in diesem Zusammenhang auch eine Möglichkeit des Bitstromzugangs und es gibt auch den Grundsatzfrage stellen. In der sozialen Marktwirtschaft Zugang zu den Leerrohren. kann die Regulierung immer nur eine neu zu begrün- dende Ausnahme sein. Sie darf nie zum Dauerzustand (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch auf euro- schauen wir uns einmal an!) päischer Ebene als Bundesregierung und auch als deut- Wie bisher auch hat das die Bundesnetzagentur gemein- sches Parlament ein klares Signal geben, dass es unser sam mit der EU-Kommission zu bestimmen. Ziel sein muss, dass die Märkte, die jetzt noch reguliert sind, in das Wettbewerbsrecht überführt werden. Deshalb sage ich hier ganz klar: Wir schaffen Anreize und mehr Wettbewerb. Wir wollen keine neuen Mono- Wir leisten mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ei- pole schaffen. Deshalb ist es völlig falsch, von Regulie- nen entscheidenden Beitrag dazu, weil wir mutig nach rungsferien zu reden. vorne gehen und Vorreiter innerhalb der Europäischen Union sind. Dieses Gesetz ist ein klares Signal für Inves- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und titionen, Innovationen und auch für Wettbewerb. der SPD) (Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/ (B) Selbstverständlich wollen wir, dass die Deutsche Te- DIE GRÜNEN]: Und Monopole!) (D) lekom in das deutsche Glasfasernetz investiert. Sie, Vielen Dank. meine Herren von der Opposition, tun so, als gäbe es zwei Klassen von Investitionen: die Investitionen der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Telekom, die böse und gefährlich sind, und die Investi- tionen der anderen, die gut sind. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wa- Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer, rum hören Sie mir denn nicht zu, Frau Kolle- SPD-Fraktion. gin? Ich habe doch alles gesagt! – Matthias (Beifall bei der SPD) Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaffen zwei Klassen von Investitionen und das wissen Sie auch! Deshalb bevorzugen Sie Manfred Zöllmer (SPD): die Telekom!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfolgt man die heutige Debatte, dann hat man den Ein- Diese Ansicht ist für die Volkswirtschaft gefährlich. Wir druck, der vorliegende Gesetzentwurf würde nur aus ei- wollen alle Investitionen – von jedem Unternehmen, von nem einzigen Paragrafen – nämlich § 9 a – bestehen. Die wem auch immer – in Deutschland. Bedeutung des Verbraucherschutzes ist bisher in der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Debatte etwas zu kurz gekommen. Über 90 Prozent des Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gesetzentwurfs betreffen aber den Verbraucherschutz. NEN]: Gefährlich wird es, wenn Sie an das Deswegen will ich darauf eingehen. glauben, was Sie sagen!) Die Bedeutung dieses Bereichs zeigt sich unter ande- rem daran, dass es in Deutschland inzwischen mehr Gerade weil wir das wollen, haben wir ein zentrales Handys als Einwohner gibt. Pro Jahr gibt es über Anliegen der Wettbewerber aufgenommen, nämlich 100 Milliarden Telefonate. klarzustellen, dass es bei neuen Märkten um Dienste und Produkte geht und nicht etwa nur um ein Stück Glasfaser Mit diesem Gesetz zur Änderung telekommunika- oder Infrastrukturen. tionsrechtlicher Vorschriften verbessert sich der Ver- braucherschutz in Deutschland in erheblichem Maße. Herr Otto, ich habe mich daran erinnert, was Sie in der ersten Beratung des Telekommunikationsgesetzes (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ausgeführt haben. Sie haben gesagt: Wenn Sie klarstel- CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6947

Manfred Zöllmer (A) In der Vergangenheit waren die Verbraucherinnen und bung außerhalb von Kundenbeziehungen ist belästigend, (C) Verbraucher sehr oft mit undurchsichtigen Tarifkon- störend und verboten. Wir müssen hier intensiv über struktionen konfrontiert. Versteckte Abodienste ließen Sanktionen nachdenken. So manche kostenpflichtige insbesondere junge Menschen in die Schuldenfalle tap- Warteschleife bei einer Hotline wird zum Ärgernis der pen und so manche Nutzung eines Mehrwertdienstes Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn man nur Du- wurde zum Kostenrisiko. delmusik hört und gleichzeitig der Gebührenzähler tickt. Mit dem novellierten Gesetz schaffen wir nun mehr Diese Probleme zeigen: Verbraucherpolitik in der Te- Preistransparenz, Kostenkontrolle und Jugendschutz. So lekommunikation bleibt eine dauernde Aufgabe. Dieser wird die Pflicht zur Preisinformation in der Werbung Herausforderung werden wir uns auch in Zukunft stel- ausgeweitet und bezieht sich auf die unterschiedlichsten len. Dienste. Preisinformationen müssen zukünftig gut les- bar, deutlich sichtbar und in unmittelbarem Zusammen- Herzlichen Dank. hang mit der Rufnummer stehen. Wir führen eine Pflicht zur Preisangabe vor Abschluss eines Vertrages bei Kurz- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – wahldatendiensten – zum Beispiel bei Klingeltönen – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Begeis- ein. Dies schützt insbesondere junge Verbraucherinnen terung!) und Verbraucher vor erheblichen Kosten oder gar Über- schuldung. In die gleiche Richtung zielt der Anspruch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Erhalt einer Ich schließe die Aussprache. kostenlosen Warn-SMS bei Erreichung eines Betrages von 20 Euro innerhalb eines Monats durch Kurzwahl- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- dienste im Abo. desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften, Die Grenzen zwischen Mobilfunk und Festnetz ver- Drucksache 16/2581. Der Ausschuss für Wirtschaft und schwinden immer mehr. Wir haben deshalb dafür ge- Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- sorgt, dass 2 Euro die einheitliche Grenze für verpflich- schlussempfehlung auf Drucksache 16/3635, den Ge- tende Preisinformationen darstellen. Auch bei der setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Preishöchstgrenze gibt es eine einheitliche Schwelle von bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- 3 Euro. Das schafft Klarheit für die Verbraucherinnen len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal- und Verbraucher und gibt der Wirtschaft den Spielraum, tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit neue Dienste zu entwickeln. Dieses Gesetz schafft einen den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- (B) sehr vernünftigen Ausgleich zwischen den Interessen der men der Oppositionsfraktionen angenommen. (D) Verbraucherinnen und Verbraucher sowie den berechtig- ten Interessen seriöser Anbieter. Dritte Beratung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- CDU/CSU – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – [FDP]: Ein bisschen mehr Begeisterung!) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Bera- tung ebenfalls mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen – Das war schon ganz gut, lieber Kollege Otto. gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – men. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt wart ihr gut, Jungs!) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3661. Maximalpositionen, wie sie zum Beispiel von den Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegen- Grünen vertreten werden, helfen hier nicht weiter. Ich stimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag bin im Übrigen dem Kollegen Berninger für seine – wie ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der ich finde: sehr gute – Bewertung unserer Verbraucher- Fraktion Die Linke abgelehnt. schutzregelungen in diesem Gesetz dankbar. Man kann sicherlich eine generelle Preisansage bei Call-by-Call- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Gesprächen fordern. Wenn aber in der Anhörung heraus- empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- kommt, dass es sich um einen Betrag von circa logie auf Drucksache 16/3635 zu dem Antrag der Frak- 2,50 Euro pro Monat und Telefonrechnung handelt, dann tion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr wird deutlich, dass es wenig Sinn macht, diesen Markt Wettbewerb und Verbraucherschutz auf dem Telekom- durch Überregulierung zu zerstören. munikationsmarkt“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag Die Branche braucht das Vertrauen ihrer Kunden. Nur auf Drucksache 16/2625 abzulehnen. Wer stimmt für so haben die vielfältigen Angebote eine Chance. Die Ver- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- braucherinnen und Verbraucher haben in der Vergangen- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- heit sehr stark vom Wettbewerb profitiert. Umso bedau- men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die erlicher ist, dass wir uns in einigen Bereichen erneut mit Linke bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/ Problemen konfrontiert sehen, die uns als Gesetzgeber in Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenom- Zukunft fordern werden. Die zunehmende Telefonwer- men. 6948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: wird, wird künftig vom Staat raschen und wirksamen (C) Schutz erfahren. – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dass wir mit der Ergänzung des Strafgesetzbuches, Gesetzes zur Strafbarkeit beharrlicher die Ihnen vorliegt, unser Ziel erreichen, haben uns die Nachstellungen (… StrÄndG) Experten bei der Anhörung im Rechtsausschuss bestä- tigt. Sie haben sich nahezu einhellig für einen eigenen – Drucksache 16/575 – Straftatbestand ausgesprochen. Zwar gab es die eine – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat oder andere Differenz über die genaue Formulierung, eingebrachten Entwurfs eines Stalking- aber unter dem Strich kann man sagen, dass der Kom- Bekämpfungsgesetzes promiss, den wir gemeinsam mit den Ländern ausgehan- delt haben, eine gute Lösung ist. – Drucksache 16/1030 – Die vier konkreten Handlungsalternativen, die wir Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- vorgeschlagen hatten, sind jetzt um einen Auffangtat- schusses (6. Ausschuss) bestand ergänzt. Wie vom Bundesrat vorgeschlagen, – Drucksache 16/3641 – werden dadurch auch andere vergleichbare Handlungen erfasst. Die Rechtsprechung kann also in Zukunft auch Berichterstattung: solche Nachstellungen erfassen, die wir heute noch gar Abgeordnete Ute Granold nicht kennen. So kannten wir beispielsweise früher noch Christine Lambrecht nicht die Möglichkeit, per SMS oder per Handyanruf Joachim Stünker Leute nachts aus dem Schlaf zu holen. Die Entwicklung Jörg van Essen digitaler Kommunikationsmittel kann man heute noch Sevim Dagdelen nicht voll absehen. Deswegen macht es Sinn, einen sol- Irmingard Schewe-Gerigk chen Auffangtatbestand zu schaffen. Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen Für schwere Fälle sind Qualifikationstatbestände ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der vorgesehen. Wenn durch die Belästigung die Gefahr des Fraktion des Bündnisses 90/die Grünen sowie je ein Ent- Todes, einer schweren Gesundheitsschädigung oder gar schließungsantrag der Fraktion der FDP und der Frak- der Tod als solcher herbeigeführt wird, dann beträgt der tion Die Linke vor. Strafrahmen bis zu fünf bzw. zehn Jahren, wobei sich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die das nur auf das konkrete Stalking bezieht und nicht auf Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich andere mögliche Straftatbestände, die selbstverständlich (B) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. auch erfüllt sein können. (D) Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin, der Bun- Gerade für diese schweren Fälle erweitern wir auch desministerin Brigitte Zypries das Wort. das strafprozessuale Instrumentarium. Das heißt, künftig kann bei Wiederholungsgefahr Untersuchungshaft ange- Bitte schön. ordnet werden. (Jörg van Essen [FDP]: Frau Zypries ist auch (Beifall bei der CDU/CSU) eine Kollegin!) – Darauf werden Sie sicherlich noch eingehen. – Ich Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: halte das auch für richtig. Wir haben gerade in Berlin ei- nen Fall gehabt, in dem vielleicht Leben gerettet worden – So ist es, Herr von Essen. Vielen Dank, dass Sie das wäre, wenn wir das Instrumentarium gehabt hätten. so freundlich bemerken. – Herr Präsident! Liebe Kolle- ginnen! Liebe Kollegen! Heute ist ein guter Tag für den Bei der Ausgestaltung der Tatbestände haben wir Opferschutz und ein schlechter Tag für Stalker. auch die Belange der Presse berücksichtigt. Der Rechts- ausschuss hat sich ausführlich damit befasst. Es ist völlig (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) klar: Wer sich presserechtlich korrekt verhält, ist kein Ich freue mich sehr, dass wir heute nach gründlicher Be- Stalker und er fällt auch nicht unter den neuen Straftat- ratung – auch mit den Ländern – ein Gesetz beschließen bestand. Es gibt deshalb gar keinen Grund, wie es teil- werden, das die Strafverfolgung verbessert und den weise gefordert wurde, Journalisten ausdrücklich von Schutz von Stalkingopfern noch effektiver machen wird, dem Tatbestand auszunehmen oder gar einen besonderen als es bisher der Fall war. Mit der Schaffung des neuen Rechtfertigungsgrund für sie zu schaffen. Straftatbestandes der „Nachstellung“ durch das Gesetz, (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Kein das wir heute verabschieden wollen, senden wir ein ein- Freibrief!) deutiges Signal aus: Stalking ist keine Privatsache, keine Sache von verschmähten Liebhabern, sondern strafwür- Die neue Vorschrift berührt die grundrechtlich ge- diges Unrecht. schützte Pressefreiheit bei der Berichterstattung und bei der Informationsbeschaffung nicht; denn die Grenze zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Strafbarkeit wird erst dann überschritten, wenn sich ein der CDU/CSU) Verhalten als Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Wer solche Taten begeht, den wollen wir künftig mit Person darstellt und das Opfer dadurch in seiner Lebens- dem Strafrecht belangen. Wer von Stalking betroffen gestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird. Wenn das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6949

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) aber die Folge von beharrlichen Nachstellungen durch Ich möchte noch einmal besten Dank dafür sagen, (C) Journalisten ist, dann verdient dieses Verhalten auch kei- dass wir dieses Gesetz so im Konsens verabschieden nen Schutz. können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das muss man ganz klar sagen. Wir wollen keine Papa- razziklausel. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP-Fraktion. CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sehr guter Begriff! Hätte von mir nicht besser (Beifall bei der FDP) kommen können!) Jörg van Essen (FDP): – Da bin ich aber froh, Herr Kollege. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorgeschlagene Lösung ist also ein gutes Ergeb- Manches, was gut gemeint ist, ist nicht auch tatsächlich nis unserer vielfältigen Beratungen und sie ist eine Rege- gut. Dieser Satz ist mir eingefallen, als ich gerade die lung mit Augenmaß, auch soweit es um strafprozessuale Rede der Bundesjustizministerin gehört habe. Änderungen geht. Ich möchte mich deshalb sehr herzlich Ich will zunächst einmal auf das Gemeinsame einge- bei all den Kolleginnen und Kollegen bedanken, die auf hen. Es hat lange gedauert, bis wir uns im Bundestag mit der einen oder anderen Seite an diesem Projekt mitgear- dem Problem des beharrlichen Nachstellens befasst ha- beitet haben. Das gilt sowohl für die Mitglieder des ben. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Ein- Rechtsausschusses als auch für die Vertreter der Länder. stieg zustande gebracht. Wir haben schon in der ersten Unser gemeinsames Ziel ist klar: Wir wollen Opfer Debatte festgestellt, dass vieles, was wir uns vorgestellt schützen und sicherstellen, dass die Täter bestraft wer- haben, durch die bisherige Gesetzgebung leider nicht er- den. Deswegen ist die Änderung dieses Gesetzes ein reicht wird. Das liegt daran, dass es im rechtlichen Be- ganz wichtiger Schritt. Aber mit der rechtlichen Ände- reich zum Teil Lücken gibt; aber es liegt auch daran rung allein ist es nicht getan. – darauf hat die Ministerin, wie ich finde, zu Recht hin- gewiesen –, dass diejenigen, die sich mit der Bitte um (Joachim Stünker [SPD]: So ist es! – Klaus Hilfe an die Polizei wenden, immer wieder auf Unver- Uwe Benneter [SPD]: Sie muss auch durchge- ständnis stoßen. Die Konsequenzen dieses Unverständ- setzt werden!) nisses gehen so weit – auch davon konnten wir lesen –, (B) (D) dass Opfer ihr Leben verloren haben, zum Beispiel weil Jetzt muss auf der Ebene der Polizei und auf der Ebene sie umgebracht worden sind. Das kann uns hier im Bun- der Staatsanwaltschaft nachvollzogen werden, was sich destag natürlich nicht ruhig lassen. Deshalb müssen wir hier geändert hat. Man kann nur empfehlen, dass die darüber reden. Länder dem Best-Practice-Beispiel, zum Beispiel aus Bremen, folgen und so etwas wie Schwerpunktstaatsan- Ich habe es schon am Anfang gesagt: Die jetzt vorge- waltschaften und Polizeidienststellen mit besonders ge- schlagene Lösung halten wir nicht für den richtigen schultem Personal einrichten, wo die Opfer und die Weg. ganze Problematik richtig wahrgenommen werden. (Beifall bei der FDP) Ich habe vorhin gesagt: Es geht nicht um verschmähte Liebhaber. Wenn jemand auf diese Art und Weise ver- Ich will auch sagen, warum. folgt wird – in aller Regel sind es nach wie vor Frauen; Sie haben das Delikt als erfolgsqualifiziertes Delikt es gibt allerdings auch Männer – und zur Polizei geht, ausgestaltet. dann wird häufig mit den Worten reagiert: Nun stellen Sie sich mal nicht so an; der liebt Sie doch bloß. Das ist (Joachim Stünker [SPD]: Das ist auch gut so!) keine adäquate Reaktion. Es muss sichergestellt werden, – Ich habe mir gedacht, dass Sie das sagen würden. Sie dass zwischen einer rechtmäßigen Verfolgung – auch das haben schon im Rechtsausschuss deutlich gemacht, wa- mag es geben – und einer unrechtmäßigen Verfolgung rum das so ist. Sie sehen sehr wohl, welche rechtlichen unterschieden wird. Dort, wo Hilfe erforderlich ist, muss Probleme durch eine Fülle von unbestimmten Rechtsbe- geholfen werden. griffen entstehen. Hinzu kommt dann noch ein Auffang- Von den Polizeien und Staatsanwaltschaften hängt tatbestand. So wie Sie im Rechtsausschuss formuliert deswegen ganz besonders viel ab. Ich wünsche mir, dass haben, wollen Sie das verfassungsrechtliche Risiko, das man diesen Tatbestand zum Anlass nimmt, Schulungen damit verbunden ist – der Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz und Fortbildungen anzubieten, damit man über mehr stellt das Bestimmtheitsgebot auf; der Bürger soll vorher Verständnis für die Lage der Opfer zu einem besseren genau wissen, was verboten ist, weil ihm nur dann ein Schutz der Betroffenen kommt. Vorwurf gemacht werden kann –, dadurch minimieren, dass ein bestimmter Erfolg eingetreten sein muss. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Joachim Stünker [SPD]: Das ist bei Betrug ge- Dies ist mein Wunsch für die nächste Zeit. nauso! Da weiß auch keiner, wie es geht!) 6950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Jörg van Essen (A) Das Besondere beim Stalking ist aber doch, dass es (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (C) permanent kleine Nadelstiche gibt und die Opfer auch DIE GRÜNEN]: Der ist gerade erst gekom- dann schon Hilfe erwarten. Insofern gibt man den Op- men!) fern bei der Lösung, die jetzt angestrebt wird, Steine statt Brot. Unser Vorschlag ist also, das Gewaltschutzgesetz zu ergänzen. Das führt nämlich dazu, dass es klare richterli- (Beifall bei der FDP) che Anordnungen für denjenigen gibt, der einer anderen Das ist genau das, was nach unserer Vorstellung nicht Person nachstellt, sodass er genau weiß, was er nicht tun sein sollte: Auf der einen Seite besteht ein hohes verfas- darf. Dann ist es selbstverständlich und richtig, dass er sungsrechtliches Risiko und auf der anderen Seite wird bestraft wird, wenn er dagegen verstößt. den Frauen – die Ministerin hat zu Recht gesagt, dass es (Beifall bei der FDP) fast immer Frauen sind, die in besonderer Weise zu lei- den haben – keine wirkliche Hilfe angeboten. Das heißt, hier kann früh angesetzt werden, hier kann dem Opfer wirkliche Hilfe gegeben werden und hier Wir sind auch der Meinung, dass die Rolle, die die kann auch die strafrechtliche Ahndung erfolgen; sie ist Presse in einer Demokratie hat, hier nicht richtig gewür- sogar notwendig. digt wird. Die Strafvorschriften im Gewaltschutzgesetz müssen (Joachim Stünker [SPD]: Ah ja!) dann natürlich etwas ergänzt werden; das findet sich al- Die Ministerin hat gesagt: Wer sich ordentlich verhält, lerdings – das gebe ich zu – auch in Ihrem Gesetzent- wird mit dem Gesetz nicht in Konflikt geraten. – Ja. wurf. Wenn schwer wiegende Folgen eingetreten sind, Aber die Presse braucht sich nicht immer ordentlich zu muss sich das ganz selbstverständlich auch schwer wie- verhalten. Sie hat sich zwar an Recht und Gesetz zu hal- gend bei der zu verhängenden Strafe niederschlagen. ten – das ist ganz selbstverständlich –, Das ist aus unserer Sicht ein verfassungsrechtlich ein- wandfreier Weg. Das ist ein Weg, der dem Opfer von (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist gut!) Stalking früh hilft und der dem Opfer deshalb sehr viel aber das, was wir „ordentlich“ finden, darf die Presse besser und sehr viel wirksamer hilft, als es bei dem Vor- auch mal durchbrechen. schlag der Koalition der Fall ist. (Christine Lambrecht [SPD]: „Recht und Ich würde gern noch etwas zu einem anderen Aspekt Gesetz“ reicht?) sagen. Wie auch immer die Lösung aussieht – ich unter- streiche mit Nachdruck das, was die Bundesjustizminis- Sie darf jemanden stellen. Sie darf jemanden mehrfach terin gesagt hat –: Wir brauchen eine bessere Schulung (B) ansprechen. Sie darf jemanden zu Stellungnahmen auf- der Polizei und eine bessere Schulung der Staatsanwalt- (D) fordern. Alles das ist möglich. schaften, damit die Opfer dort auf sachkundige Perso- (Joachim Stünker [SPD]: Das ist auch nicht nen treffen, die ihnen helfen, die Verständnis für sie ha- verboten! – Christine Lambrecht [SPD]: Das ben und die auch auf sie eingehen. Wenn sich das Opfer alles geht auch in Zukunft!) an die Behörden wendet, soll es nicht das Gefühl haben, weil es etwa abweisend behandelt wird, noch einmal Wenn jemand so empfindlich ist, dass es bei ihm zu zum Opfer zu werden. Wie auch immer wir die verschie- Konsequenzen kommt, denen Vorschläge beurteilen – wir sind gemeinsam, (Widerspruch bei der SPD – Joachim Stünker denke ich, in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass dort eine [SPD]: Das ist aber schwach!) wesentliche Verbesserung eintritt; denn wir wissen aus der Praxis, dass da noch eine Menge zu tun ist. dann darf das nicht dazu führen, dass sich die Presse strafbar macht; das können jedenfalls wir so nicht akzep- Vielen Dank. tieren. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Wer Kritik übt, der hat die Verpflichtung, hier auch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vorzutragen, was er sich stattdessen vorstellt. Ich komme Das Wort hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/ gern auf einen Vorschlag zurück, den der frühere rhein- CSU-Fraktion. land-pfälzische Justizminister Mertin schon sehr früh in der Debatte gemacht hat. Das ist aus meiner Sicht der Ute Granold (CDU/CSU): sehr viel bessere Weg. Er hat eine Ergänzung des Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gewaltschutzgesetzes um weitere Tatbestände vorge- Heute ist ein guter Tag für den Opferschutz. Ich muss schlagen. wirklich sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wir (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben lange beraten und gemeinsam eine Fassung vorge- NEN]: Warum legen Sie nichts vor, Herr Kol- legt, die, denke ich, gut ist und insbesondere auch ver- lege?) fassungskonform ist. – Wir haben einen Entschließungsantrag vorgelegt, Herr Der neue § 238 StGB hat die Überschrift „Nachstel- Kollege. Lesen Sie ihn! Sie können darin unsere Vor- lung“ und nicht „Stalking“, weil wir im deutschen Ge- schläge finden. setzbuch einen deutschen Begriff verwenden wollen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6951

Ute Granold (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg müssen selbst vortragen, was geschehen ist. Sie müssen (C) van Essen [FDP]: Sehr vernünftig!) das an Eides statt versichern. Sie sind gehalten, sich ge- gebenenfalls mit dem Täter vor Gericht auseinander zu Das Phänomen Stalking gibt es bei uns seit einigen setzen. Das ist alles sehr, sehr belastend. Jahren. Es betrifft nicht nur Prominente, sondern es kann nahezu jeden Menschen, jede Berufsgruppe, jede (Jörg van Essen [FDP]: Deswegen wollen wir Schicht betreffen. Täter sind nicht nur Exliebhaber, Kol- das Gesetz neu fassen!) legen oder Bekannte, Nachbarn; es kann jeder sein. Sie müssen, wenn der Täter die einstweilige Verfügung Forscher haben festgestellt, dass es sich hierbei mitt- nicht beachtet, als Opfer erneut initiativ werden und da- lerweile um ein Massenphänomen handelt und dass die für sorgen, dass ein Zwangsgeld festgesetzt wird und derzeitigen Gesetze die Opfer nicht ausreichend schüt- vieles andere mehr. Das ist nach unserer Auffassung für zen. das Opfer nicht zumutbar. Deshalb brauchen wir einen Straftatbestand. Lassen Sie mich einige kurze Beispiele nennen, damit Sie wissen, worum es geht. Ein Beispiel aus Bremen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ein Ehepaar trennt sich. Der 41-jährige Mann terrorisiert der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- seine 39-jährige Ehefrau monatelang durch Telefonate NIS 90/DIE GRÜNEN]) und Auflauern. Er macht ihr das Leben zur Hölle und Auch das Strafrecht ist derzeit nicht geeignet, dem schließlich ersticht er sie an ihrem Arbeitsplatz. Opfer Hilfe zu leisten. Ein Straftatbestand ist nur dann Ein weiteres Beispiel aus Weimar, letztes Jahr gesche- gegeben, wenn eine Verletzung der Gesundheit, des Le- hen: Eine 44-jährige Frau erhält anonym unzählige Male bens, des Hausfriedens oder des Eigentums vorliegt. Erst am Tag, manchmal acht- bis zehnmal, Paketlieferungen, dann kann eingeschritten werden. Möbel, Anmeldungen zu Kreuzfahrten, Klappräder, Ero- Wir wissen alle, dass Stalking ein Dauerdelikt ist. Das tikartikel, einen LKW mit 100 Bürostühlen etc. Der Frau heißt, der Täter ist permanent in Aktion. Seine Aktionen fallen die Haare aus, sie leidet unter Depressionen, steigern sich, werden immer intensiver und nicht selten nimmt ab und bekommt eine Nervenentzündung. kommt es zu einer Eskalation. Deshalb brauchen wir ei- In Münster wird eine Schülerin von ihrem Mitschüler nen Straftatbestand, der genau auf dieses Täterverhalten gestalkt, weil sie seine Liebe nicht erwidert. Es wird Te- zugeschnitten ist. Derzeit können nur Einzelakte bestraft lefonterror betrieben, ihr Name, ihre Telefonnummer werden. Vielleicht reicht es für eine Bestrafung – wegen wird ins Internet gestellt mit eindeutigen Sexangeboten. Hausfriedensbruchs, Körperverletzung usw. –, Die Schülerin ist in psychiatrischer Behandlung und in (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Bleibt in (B) (D) ihren Leistungen in der Schule abgesackt. Kraft!) In Rheinland-Pfalz tyrannisiert jemand ein komplet- das ist aber nicht das, was strafrechtlich bewertet werden tes Dorf. Manche werden im Monat mit 800 bis 900 Te- soll. Deshalb muss Stalking als ein Straftatbestand ins lefonanrufen terrorisiert. Es kam hier zu schwersten Ma- Gesetz aufgenommen werden. Wir müssen dafür sorgen, gen-Darm-Entzündungen, zu Herzinfarkten, zu ganz dass es nicht zur Eskalation kommt. In vielen Fällen großen Problemen in Familien. – die Ministerin hat es angesprochen – sind Menschen Nach den Ergebnissen aus der Forschung ist festzu- zu Tode gekommen. Wenn wir ein gescheites Gesetz mit stellen, dass jeder Achte in Deutschland unter Stalking der Möglichkeit zur Inhaftierung gehabt hätten, hätte leidet oder schon gelitten hat, dass jedes vierte Opfer vieles schon vermieden werden können. länger als ein Jahr gestalkt wird, dass jedes dritte Opfer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verprügelt und angegriffen wird, dass jeder vierte Be- neten der SPD) troffene einen Arzt oder einen Therapeuten aufsuchen muss und dass die Hälfte aller Gestalkten unter Schlaf- Der derzeitige Zustand ist nicht länger haltbar. störungen und Angstzuständen leidet. Vielfach muss der Ich erinnere daran – wir haben es auch im Ausschuss Arbeitsplatz oder auch der Wohnort gewechselt werden. besprochen –: Im Ausland gibt es zum Teil seit über Zu 85 Prozent – wir haben es eben gehört – sind Männer zehn Jahren Stalkingtatbestände. In Amerika, Australien, die Täter. Skandinavien und Österreich wurden gute Erfahrungen Welche Möglichkeiten bietet das Gesetz heute? Da gemacht. haben wir das Zivilrecht, Herr van Essen. Das Gewalt- In der letzten Legislaturperiode wurden wir auch in schutzgesetz reicht bei weitem nicht aus. Wir hatten eine Deutschland aktiv. Der Bundesrat hat einen Gesetzent- umfassende Anhörung. Es wurde eindeutig festgestellt, wurf vorgelegt. Bayern und Hessen waren hier federfüh- dass ein Straftatbestand vonnöten ist. rend. All das ist aufgrund der Neuwahlen der Diskonti- (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) nuität anheim gefallen. Nach den Neuwahlen haben wir es wieder aufgelegt. Im Mai dieses Jahres haben der Wenn Sie das Gewaltschutzgesetz zugrunde legen Bundesrat und die Bundesregierung entsprechende Ge- – ich spreche hier aus meiner Erfahrung als Anwältin –, setzentwürfe neu in die Beratungen eingebracht. Da die dann gehen Sie in der Regel zu einem Anwalt und stel- Vorstellungen bezüglich der Einfügung eines Auffang- len vor Gericht einen Antrag, Sie müssen Prozesskosten- tatbestandes und von Qualifikationstatbeständen sowie hilfe beantragen oder einen Kostenvorschuss zahlen. Sie der Einführung von Deeskalationshaft ziemlich weit 6952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Ute Granold (A) auseinander gingen, wurde eine Arbeitsgruppe, beste- Tode kommt, ist eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis (C) hend aus Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat, ge- zehn Jahren vorgesehen. bildet. In dieser Arbeitsgruppe sind wir zu guten Ergeb- Uns war es auch ganz wichtig, dass in die Qualifika- nissen gekommen – dafür bedanke ich mich nicht nur bei tionstatbestände nicht nur das Opfer einbezogen wird, der Bundesregierung, sondern auch bei den Kolleginnen sondern auch die nahen Angehörigen des Opfers, weil und Kollegen aus dem Bundesrat – und nun können wir sie in der Regel durch die Stalkingfälle mit betroffen einen Gesetzentwurf vorlegen, der gut ist und den Op- sind. Deshalb ist es gut, dass wir auch diese im Tatbe- fern hilft. Dass es etwas länger gedauert hat, hat sich, stand berücksichtigt haben. wie ich meine rentiert; denn dafür ist das Gesetz nun umso besser. Der Grundtatbestand wurde darüber hinaus als ein relatives Antragsdelikt ausgestaltet. Das heißt, in den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) leichteren Stalkingfällen geht das Opfer zur Polizei oder Bei der Auswahl der Sachverständigen zur Anhö- Staatsanwaltschaft und erstattet Anzeige, es sei denn, rung, die wir durchgeführt haben, haben wir Wert darauf das öffentliche Interesse ist tangiert. Dann werden die gelegt, dass sowohl Vertreter von Opferverbänden, von Ermittlungsorgane von sich aus tätig. Beratungsstellen – die Vertreter der Interventionsstellen aus Mainz und Bremen waren da –, Professoren, Prakti- Wir haben lange darüber diskutiert, ob die Deeskala- ker wie der Richter Nack vom BGH und auch Pressever- tionshaft – das war für die Union ein wesentlicher Kern- treter punkt dieser Reform – aufgenommen wird. Wir haben es getan, weil es nicht nur in der jüngsten Vergangenheit, (Jörg van Essen [FDP]: Auf Veranlassung der sondern auch schon in früheren Zeiten zu Todesfällen FDP!) gekommen ist, da nicht die Möglichkeit bestand, den Tä- ter zu inhaftieren. Es musste zunächst eine Verletzung zu Wort kamen. Ein Vertreter des Presseverbandes – eines Rechtsgutes erfolgt sein – der Täter musste geprü- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Zwei!) gelt haben, jemanden schwer verletzt haben oder es musste jemand zu Tode gekommen sein –, – zwei Vertreter des Presseverbandes waren da, um uns zu informieren, ob das Gesetz auch wirklich praxistaug- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE lich ist. Es wurde einhellig begrüßt, die vorgelegten Re- GRÜNEN]: So ist das im Rechtsstaat!) gelungen ins Gesetzblatt aufzunehmen. bevor man überhaupt initiativ werden konnte. Deshalb Wie sieht nun der Gesetzentwurf aus, der als Kom- haben wir festgelegt, dass es dann, wenn eine konkrete promiss vorgelegt wurde? Es gibt einen Grundtatbestand Gefahr für die Gesundheit oder für das Leben des Opfers (B) mit einer Auflistung von einzelnen Stalkingfällen. Dazu besteht, möglich ist, den Täter in Haft zu nehmen. Selbst (D) kommt der Auffangtatbestand, der sich auf die einzel- laufende Strafverfahren haben in der Vergangenheit Tä- nen, konkret ausgeführten Stalkingfälle bezieht und mit ter nicht davon abgehalten, gegen ihr Opfer vorzugehen. den unter den Ziffern 1 bis 4 aufgelisteten Fällen ver- Das ist ein unerträglicher Zustand, für den kein Opfer gleichbare Fälle unter Strafe gestellt werden. Damit wol- Verständnis hat. Dem konnte nur Abhilfe geschaffen len wir vermeiden, dass eine Strafbarkeitslücke entsteht; werden, indem eine Inhaftierung, wenn Wiederholungs- die Ministerin hat es ausgeführt. Die Technik schreitet ja oder Rückfallgefahr besteht, möglich ist. Von daher er- rapide voran und das Täterverhalten ist teilweise so un- klärt sich die Erweiterung des § 112 a Abs. 1 Nr. 1 der glaublich, dass man nicht alle Sachverhalte in diesem Strafprozessordnung. Die Ausführungen der Experten Gesetz auflisten kann. Deshalb war die Einfügung eines aus der Anhörung haben uns bestätigt, dass wir das In- Auffangtatbestandes notwendig. strument der Deeskalationshaft brauchen. Das haben auch die Strafverfolgungsbehörden, die in der Praxis mit (Daniela Raab [CDU/CSU]: Sehr richtig!) der Gesetzesmaterie befasst sind, so dargestellt. Die An- Etwas Ähnliches gibt es bezüglich des gefährlichen Ein- ordnung der Deeskalationshaft muss natürlich verhält- griffs in den Straßenverkehr. Auch hier wird von ähnli- nismäßig sein; so prüft ein Richter im Einzelfall, ob die chen, ebenso gefährlichen Fällen gesprochen, die unter Haftgründe ausreichen oder ob es mildere Mittel gibt, Strafe gestellt werden können. § 315 b Abs. 1 Ziffer 3 das Opfer zu schützen. StGB enthält genau das Gleiche. Damit gibt es keine Noch einige Sätze zur Pressefreiheit. Die Ministerin Probleme. Ich weiß nicht, warum hier nun dem Be- hat hier völlig zu Recht ausgeführt, dass wir zwischen stimmtheitsgebot nicht Genüge getan werden sollte. der verfassungsrechtlich geschützten Pressefreiheit ei- (Jörg van Essen [FDP]: Die sind doch viel nerseits und der Privatsphäre der Betroffenen anderer- schärfer kontrolliert! Das sagt Ihnen doch je- seits abwägen müssen. Solange sich die Presse innerhalb der!) der Gesetze bewegt, gibt es überhaupt keinen Grund, Sondertatbestände für sie zu schaffen. Der Gesetzent- Für den Grundtatbestand haben wir einen Strafrah- wurf sorgt für einen ausgewogenen Ausgleich zwischen men von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geld- den Privatinteressen einerseits und dem Informationsbe- strafe festgelegt. Für besonders schwere Fälle, wenn der dürfnis der Öffentlichkeit andererseits. Unrechtsgehalt sehr groß ist, also für das Opfer die Ge- fahr des Todes oder der schweren Gesundheitsverletzung Am Ende meiner Rede schließe ich mich voll und bestand, ist eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis ganz den Ausführungen der Ministerin an: Wir werden fünf Jahren vorgesehen. In dem Fall, dass das Opfer zu als Bundesgesetzgeber ein Gesetz auf den Weg bringen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6953

Ute Granold (A) auf das die Opferschutzverbände, die Menschen, aber (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) auch die Ermittlungsorgane schon lange gewartet haben. NEN]: Peinlich!) Nun ist es an den Ländern, mit dem Gesetz zu arbeiten, wobei es in der Länderhoheit liegt, wie die Staatsanwalt- einen wirksamen Opferschutz. Die Argumente gegen das schaften ausgestaltet sind und wie die Polizei arbeitet. Gewaltschutzgesetz sind, dass man einen Antrag bei Ge- Das Bremer Modell wurde angesprochen. Hier gibt es richt stellen müsse, dass man konfrontiert werde, dass es beim Landeskriminalamt Sonderdezernate, die sich mit ein Hin und Her sei usw. Aber – da spreche ich aus eige- Stalking befassen. Die Mitarbeiter sind geschult. Aber ner beruflicher Erfahrung – wie ist es denn beim straf- nicht nur die Polizeibeamten und die Staatsanwälte, son- rechtlichen Ermittlungsverfahren, das ja auch auf einen dern auch die Richter müssen Fortbildungen machen. Erfolg abzielt? Anzeige bei der Polizei, polizeiliche Er- Nur dann, wenn diejenigen, die handeln müssen, infor- mittlungen, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, miert sind, können sie das Gesetz in der Praxis gut an- (Jörg van Essen [FDP]: Vernehmungen!) wenden. möglicherweise Anklageerhebungen nach den Verneh- Wir können am heutigen Tag sagen, dass wir ein Ge- mungen von Zeugen und Beschuldigten, der dann zum setz auf den Weg bringen, das für den Opferschutz gut Angeklagten wird, usw. Ich kenne aus eigener Erfahrung ist und auf das lange gewartet wurde. Ich würde mich Fälle, in denen das strafrechtliche Verfahren Monate län- freuen, wenn wir in diesem Haus zu einer klaren Mei- ger dauert als eine gerichtliche Anordnung im Falle von nungsbildung kämen und das Gesetz sehr schnell in Stalking nach Gewaltschutzgesetz. Das habe ich selber Kraft treten könnte. Wir werden sehen, dass es der rich- so erlassen. tige Weg ist, da das Gesetz ausgewogen ist und alle Inte- ressen berücksichtigt wurden. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das bleibt doch jedem unbenommen! Das ist doch nicht Vielen Dank. aufgehoben! Das ist nur flankierend! Das ist ja (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wunderlich, Herr Wunderlich!) Das Gesamtziel, durch die Strafbewehrung eine bes- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sere Verfolgbarkeit der Stalker zu erreichen und damit Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von letztlich den Opfern zu helfen, wird durch diesen Ge- der Fraktion Die Linke. setzentwurf jedenfalls nicht erreicht. Denn nach Mei- nung der Bundesregierung muss das Opfer schwerwie- (Beifall bei der LINKEN) gend und unzumutbar beeinträchtigt sein, damit die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten wird. Dann ist es (B) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): für einen wirksamen Opferschutz in aller Regel zu spät. (D) Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- gen! Meine Damen und Herren! „Ein guter Tag für den (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Opferschutz“, hieß es eingangs. Das ist richtig. Opfer Da hilft auch die von den Grünen beantragte Änderung von Gewalt, seien es Männer, Frauen oder Kinder, brau- in den RiStBV, den Richtlinien für das Strafverfahren chen Schutz. Ihn in solchen Fällen zu gewährleisten, ist und das Bußgeldverfahren, nichts; denn das meiste steht Aufgabe moderner Politik. Wir begrüßen ausdrücklich bereits in diesen Richtlinien, gerade hinsichtlich des öf- den Versuch – ich wiederhole: den Versuch – der Bun- fentlichen Interesses. desregierung, den Opfern des unter dem Begriff Stalking bekannten Verhaltens wirksamer als bisher zu helfen. Während in Wissenschaft und Praxis der Versuch un- ternommen wird, wirksamen Opferschutz auf Grundlage Ich denke, wir sind über die Fraktionsgrenzen hinweg der tatsächlichen Interessen der Betroffenen und einer einig, dass den Opfern Hilfe zuteil werden muss. Mei- verlässlichen empirischen Forschung durchzusetzen, do- nungsverschiedenheiten gibt es allerdings hinsichtlich miniert in der Politik immer wieder strafrechtlicher Ak- des Weges zu einem besseren Opferschutz. In diesem tionismus. Gerade die Interessen der Opfer, die hier im Punkt sind wir mit der FDP d’accord; Vordergrund stehen sollten, verbieten es, ein öffentlich- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ keitswirksames Vorgehen einer wirklichen Problemlö- DIE GRÜNEN]: Das ist ja merkwürdig; heute sung vorzuziehen. Morgen auch schon!) Der vorliegende Gesetzentwurf ist jedenfalls aus Op- denn die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes, wie fersicht weitgehend nutzlos und aus rechtsstaatlicher im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen, lehnen wir Perspektive wohl verfassungswidrig. Herr van Essen hat ebenfalls ab. es schon gesagt: Es gibt in dem Gesetzentwurf eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe und einen Auffangtatbe- Dafür sprechen folgende Punkte: Schwerpunkt einer stand. – Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 Gesetzesänderung ist für uns ein effektiver Opferschutz. des Grundgesetzes dürfte allen hier anwesenden Juristen (Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen ein Begriff sein. Es stellt sich die Frage, wie zu erklären [FDP]: Ja! Genau das muss es sein!) ist, dass die Bundesregierung zum Entwurf des Bundes- rats zunächst wie folgt Stellung genommen hat: Das Gewaltschutzgesetz gewährleistet, wenn man unse- rem Antrag folgt, der mit dem der FDP inhaltlich nahezu Der Entwurf enthält neben einer Vielzahl wenig be- gleichlautend ist – das muss man einmal feststellen –, stimmter Rechtsbegriffe einen Auffangtatbestand, 6954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Jörn Wunderlich (A) der nach der Begründung der Tatsache Rechnung Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (C) tragen soll, dass sich der durch den „Stalker“ voll- GRÜNEN): führte Terror einer abschließenden gesetzlichen Be- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stimmung entziehe. Der vorgelegte Entwurf begeg- Welch schwer wiegende Folgen Stalking für die seeli- net durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf das sche und körperliche Gesundheit der Opfer haben kann, Bestimmtheitsgebot des Art. 103 des Grundgeset- stellt heute niemand mehr infrage. Es ist auch bekannt, zes. dass beim Stalking über 80 Prozent der Opfer weiblich sind und dass es sich bei den Tätern meistens um ehema- (Jörg van Essen [FDP]: Es hat sich nichts da- ligen Partner handelt. Wir hatten deshalb bereits im Ge- ran geändert!) waltschutzgesetz einen zivilrechtlichen Schutz veran- Jetzt wird ein ebenso unbestimmter Auffangtatbestand kert. Für die Opfer war das damals ein wichtiger Schritt. vorgeschlagen. Das ist für mich nicht nachzuvollziehen. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass dies gerade aus Opferschutzgründen – und das sehe ich anders als Sie, Das Spektrum des Nachstellens – darin sind wir uns Herr Kollege Wunderlich – nicht ausreicht. Das Zivil- einig – kann nicht komplett erfasst werden. recht geht von prozessual gleichberechtigten Parteien (Daniela Raab [CDU/CSU]: Richtig! – Jörg aus, ein Gleichgewicht, das zwischen Stalker und Ge- van Essen [FDP]: So ist es! Denen fällt immer stalkter nur selten zu finden ist. Die Opfer müssen – das etwas Neues ein!) ist gerade schon gesagt worden – selbstständig einen An- trag stellen, Beweise erbringen und die Kostenlast tra- Das ist auch von der Ministerin ausgeführt worden. Mit gen. Das überfordert sie meistens in ihrer sehr belasten- einem unbestimmten Straftatbestand können also nicht den Situation. sämtliche denkbaren Handlungen erfasst werden. Wie Für uns Grüne ist der Opferschutz zentral. Deshalb ha- weit wollen Sie da gehen? ben wir uns – anders als die Linksfraktion und die FDP – (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das haben wir für einen Straftatbestand entschieden. doch gar nicht gesagt!) (Jörg van Essen [FDP]: Wir sind auch für ei- Der Vergleich mit § 315 c StGB hinkt. Da gibt es nen Straftatbestand!) ganz konkrete Tatbestandsmerkmale, die sehr scharf for- Allerdings ignoriert der hier vorliegende Vorschlag der muliert sind. Koalition ausgerechnet dieses Anliegen. Die Bundesre- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Haben wir gierung hat nämlich den Grundtatbestand als Privatkla- doch hier auch!) gedelikt ausgestaltet. Damit sind die Opfer bei der (B) Klage wieder auf sich selbst gestellt. (D) – Nein, das haben Sie hier nicht. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Warum?) Hört! Hört!) – Sie kennen Ihren eigenen Gesetzentwurf nicht. Privatklagedelikte sind Delikte wie Beleidigung oder Sachbeschädigung. Dass die Koalition das Stalking mit (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Haben Sie diesen Delikten auf eine Stufe stellt, zeigt, dass Sie trotz schon einmal vom Begriff des Regelbeispiels der Anhörung vieler Expertinnen und Experten die spe- gehört, Herr Wunderlich?) zifische Situation der Stalkingopfer nicht verstanden ha- – Schauen Sie einmal in den Gesetzentwurf. ben. Ich denke – in diesem Punkt sind wir, wie gesagt, mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der FDP d’accord –, dass das Gewaltschutzgesetz gemäß Dem Entwurf fehlt auch eine Ausnahmeregelung für unserem Antrag ausgebaut werden sollte; denn mit Stra- Journalisten und Journalistinnen – in diesem Punkt bin fen allein kann man das Ziel nicht erreichen. Sie können ich mit Ihnen einig, Herr Kollege van Essen –, damit auch so weitermachen, wie Sie es vorhaben. Für diesen nicht jede intensive Recherche sofort als Stalking diffa- Fall will ich den Schriftsteller Martin Kessel zitieren: miert wird. Wie oft war es gerade in der Vergangenheit „An der Härte der Strafen erkennt man die Schwächen die Presse, die Missstände aufgedeckt hat. Darum haben des Regimes.“ wir in unserem Änderungsantrag vorgeschlagen, dass für (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) die Presse andere Regelungen gelten, wenn sie in der Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen han- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. delt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Entscheidender ist aber: Nach wie vor bezweifeln wir, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass Ihr Kompromissvorschlag in der jetzigen Form vor Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe- dem Bundesverfassungsgericht Bestand hätte, was die Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen. geplante Ausweitung der Untersuchungshaft angeht. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt kommt (Joachim Stünker [SPD]: Was wollen Sie denn Farbe in die Debatte!) nun?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6955

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Denn die sehr hohen Anforderungen, die das Bundesver- – Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Wenn Sie eine (C) fassungsgericht an den Haftgrund der Wiederholungsge- Zwischenfrage stellen wollen, dann sollten Sie dies auf fahr gestellt hat, können von den weit gefassten Qualifi- ordentliche Weise tun und hier nicht so dazwischenru- kationstatbeständen in Ihrem Entwurf unseres Erachtens fen. keineswegs erfüllt werden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des (Zuruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) – Herr Stünker, das ist Ihnen jetzt unangenehm; das tut Viele dieser Forderungen fallen nicht in die Zustän- mir Leid. Ursprünglich hatte die Bundesregierung dies digkeit des Bundes. Aber der Aktionsplan „Häusliche im Entwurf des Bundesrates kritisiert. Hier hat die SPD Gewalt“ bietet uns die Möglichkeit, hieran anzuknüpfen ihre Meinung offensichtlich um 180 Grad gedreht. Es tut und ein gemeinsames Konzept zu erstellen. mir Leid, dass Ihnen das jetzt peinlich ist; aber so ist es. Ich finde, gerade diese Vorschläge in unserem Ent- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und schließungsantrag zur Stärkung der Rechte der Opfer der Union, was die Opfer viel besser schützt als eine so könnten wir konsensual angehen. Da sind die FDP- und genannte Deeskalationshaft, sind effektive Interven- die Linksfraktion unserer Meinung; dazu gibt es ähnli- tionsmaßnahmen vor Ort und ein besseres Verständnis che Vorschläge. Auch die Bundesregierung kann ihre der Behörden für diese Form von Gewalt. Ein Straftatbe- Augen vor diesen Notwendigkeiten nicht verschließen, stand ohne diese flankierenden Maßnahmen wird ins wenn sie ein Gesetz schaffen will, das wirklich nützt. Leere laufen. Ich bin mit Ihnen, Herr Kollege Wunder- Recht herzlichen Dank. lich, einig: Allein einen Straftatbestand zu schaffen, reicht nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich erinnere an die Studie der Technischen Universität Darmstadt, derzufolge fast 70 Prozent der befragten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Stalking-Opfer Schwierigkeiten hatten, der Polizei den Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Ernst ihrer Situation zu vermitteln. Dass es vor den Ge- gebe ich das Wort der Kollegin Christine Lambrecht von richten ähnliche Probleme gibt, wissen wir von den Be- der SPD-Fraktion. ratungsstellen. Ganz wichtig ist daher die Schulung aller (Beifall bei der SPD) Beteiligten, sowohl die der Justiz als auch die der Poli- zei. Auch die Einrichtung von Sonderzuständigkeiten ist nötig. Christine Lambrecht (SPD): (B) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzte (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rednerin habe ich die nette Aufgabe, auf einige der vor- Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das haben wir gebrachten Scheinargumente einzugehen, alles schon gesagt!) (Daniela Raab [CDU/CSU]: Genau, – Nein, das haben Sie nicht. Scheinargumente!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Doch! Das mit denen versucht wird, den vorliegenden Gesetzent- müssen Sie mal nachlesen!) wurf zu diffamieren, wofür ich – so muss ich sagen – In unserem Entschließungsantrag haben wir zahlrei- wenig Verständnis habe. che notwendige Maßnahmen aufgelistet. Für besonders (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wichtig halten wir Änderungen der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren. Festgeschrieben werden Es wurde hier unglaublich gesetzestechnisch disku- soll unter anderem, dass gerade bei engen persönlichen tiert; dazu komme ich gleich. Wir sollten aber nicht au- Beziehungen regelmäßig das besondere öffentliche Inte- ßer Acht lassen, worum es hier geht. Wir haben vor vie- resse an der Strafverfolgung anzunehmen ist. len Jahren unter Rot-Grün ein Gewaltschutzgesetz verabschiedet. Es war gut und richtig gemeint; es ist in Als besonders erfolgreiche Maßnahme hat sich im die richtige Richtung gegangen. Aber wir mussten fest- Bremer Modellprojekt die direkte Ansprache von Stal- stellen, dass es in vielen Bereichen nicht ausreichend ist, kern durch die Polizei in einem möglichst frühen Sta- dass wir Ergänzungen bzw. Flankierungen brauchen. dium erwiesen. Das muss elementarer Bestandteil jedes Das Gewaltschutzgesetz wird nicht außer Kraft gesetzt, Vorgehens gegen Stalking werden. (Zurufe von der SPD und der CDU/CSU: So (Jörg van Essen [FDP]: Das hatte Frau Kolle- ist es!) gin Granold auch schon gesagt! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist nichts Neues! – sondern bleibt für die einfachen Fälle bestehen und er- Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Waren Sie bei öffnet die Möglichkeit, sowohl danach als auch nach der Debatte eigentlich gar nicht hier?) dem nunmehr zu verabschiedenden Gesetz zur Ände- rung des Strafgesetzbuches vorzugehen. – Ich war hier. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Haben Sie es Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sowohl-als- nicht gehört oder nicht verstanden?) auch und nicht Entweder-oder!) 6956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Christine Lambrecht (A) – Richtig. – Es bleibt jedem überlassen, auf welchen Es ist viel kritisiert worden, dass die Begriffe nicht (C) Weg er sich machen möchte. bestimmt genug seien und deswegen große Probleme auf uns zukämen. Herr van Essen hat hier den Reigen der Frau Schewe-Gerigk, es ist nicht so, dass es ein reines Bedenkenträger und Kritiker eröffnet. Herr van Essen, Antragsdelikt ist, ansonsten lassen Sie uns in solchen Diskussionen immer (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ gern an Ihrem reichem Erfahrungsschatz aus Ihrer Zeit DIE GRÜNEN]: Ein relatives!) als Oberstaatsanwalt teilhaben. Ich habe die Stellung- nahme eines Leitenden Oberstaatsanwaltes bekommen. wenn ich mich in Zukunft gegen solche Vorkommnisse wehren möchte. Natürlich kann ich einen solchen Antrag (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Da drüber gibt es stellen. Aber da hilft ein Blick in den Gesetzentwurf, so nur noch die Generäle!) wie er auf dem Tisch liegt; denn in Abs. 6 des neu zu Ich will jetzt gar nicht auf die Hierarchie abheben oder schaffenden § 238 StGB steht: das in irgendeiner Form bewerten. Nur, dieser Mann hat In den Fällen des Absatzes 1 wird die Tat nur auf mit einem solchen Gesetz überhaupt keine Probleme, im Antrag verfolgt, es sei denn, Gegenteil. Er sagt ganz klar: Das ist so formuliert, dass die Gerichte sehr wohl in der Lage sein werden, es aus- (Joachim Stünker [SPD]: So ist es! – Daniela zulegen. Es ist hinreichend bestimmt und auslegungsfä- Raab [CDU/CSU]: Hört! Hört!) hig. – Er fordert allerdings, genau wie Sie, ein Gefähr- dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des beson- dungsdelikt. deren öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung (Jörg van Essen [FDP]: Ganz genau! Sehen ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Sie: Dass schon Sticheleien strafbar sein kön- In genau diesen Fällen braucht man keinen Antrag zu nen, das wollten wir!) stellen. Dann wird die Strafverfolgungsbehörde tätig. Sie haben Recht: Wir haben uns für etwas anderes ent- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schieden, nämlich für ein Erfolgsdelikt, mit dem wir dem Bestimmtheitsgebot in diesem Punkt Rechnung tra- Ich möchte Ihnen einen Teil eines Briefes vorlesen, gen können. damit wir einmal wissen, über welche Fälle wir reden. Ich glaube, Sie, Herr van Essen, haben gesagt, dass Sti- Herr van Essen, Sie müssen sich entscheiden: Soll es cheleien von dem neuen Gesetz nicht erfasst würden. hinreichend bestimmt sein? Oder wollen Sie, dass das Selbstverständlich sollen Sticheleien nicht von diesem nur ein Gefährdungsdelikt ist? Gesetz erfasst werden, sondern Tatbestände bzw. Sach- (Jörg van Essen [FDP]: Deswegen haben wir (B) verhalte wie der folgende. Ihn hat uns eine Mutter mit ei- einen Änderungsvorschlag gemacht!) (D) nem Schreiben vom Oktober dieses Jahres zur Kenntnis gegeben. Ihre Tochter ist Opfer eines Stalking-Täters ge- Beides geht nicht. Wasch mich, aber mach mich nicht worden. Sie ist 44 Jahre. In dem Brief steht: Seit 2003 ist nass – das funktioniert im Strafrecht nicht. das Leben der Familie total aus den Fugen geraten. Wei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ter schreibt sie: Seit dem 15. Dezember 2004 lebe ich der CDU/CSU) nicht mehr, sondern funktioniere ich nur noch. – Die Tochter wurde zwei Jahre gedemütigt, misshandelt, be- Wenn man sich die Kritik an diesem Gesetz anschaut, lästigt, vergewaltigt, verfolgt, terrorisiert, mit Fäusten merkt man, dass diese Kritik überhaupt nichts Substan- geschlagen und am Ende umgebracht. tiiertes enthält. Es spricht nicht für Ihre Erfahrung und Ihre Erkenntnisse als ehemaliger Oberstaatsanwalt, Es geht nicht um Sticheleien; es geht um genau solche Vorfälle. Dafür reicht ein Gewaltschutzgesetz auch in (Jörg van Essen [FDP]: Es wird doch sogar die Bun- veränderter Form nicht. desregierung und das Ministerium zitiert!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg wenn Sie vortragen, dass ein Strafverfahren genauso auf- van Essen [FDP]: Das ist doch überhaupt kein wendig sei wie ein Verfahren nach dem Gewaltschutzge- Gegensatz!) setz. Das trifft natürlich besonders mit Blick auf den Be- troffenen nicht zu. Er wird in einem Verfahren nach dem Wenn wir zu dem Zeitpunkt, als diese Taten geschahen, Gewaltschutzgesetz viel mehr in die eigene Verantwor- die hier kritisierte Deeskalationshaft, den Haftgrund tung genommen. Hinzu kommt, wie gesagt: Wir hätten nach § 112 a StPO, gehabt hätten, dann hätte dieser Täter keine Möglichkeit, jemanden, bevor es zum Schlimms- schon in Haft genommen werden können, weil die Ge- ten kommt, aus dem Verkehr zu ziehen. Dieser neue fahr bestand, dass er schwere Straftaten begehen wird. Haftgrund eröffnet die Möglichkeit dazu. Vielleicht hätte das Leben dieser jungen Frau gerettet Ich möchte nicht, dass es zu weiteren Fällen kommt, werden können. Mit Verlaub, dieses Vorgehen wäre ver- wie sie in diesem Brief beschrieben wurden. Vielmehr hältnismäßig, wenn man die entsprechenden Rechtsgüter möchte ich den Menschen Brot und keine Steine geben; gegeneinander abwägt. ich möchte einen wirksamen Schutz vor solchen Über- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg griffen. Deswegen bedarf es dieses Gesetzes. van Essen [FDP]: Das zeigt, wie schlecht die Vielen Dank. Argumente sind, wenn man zu einer solchen Polemik greifen muss!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6957

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (C) Ich schließe die Aussprache. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea Wir kommen zur Abstimmung über den von der Dückert, Margareta Wolf (Frankfurt), Kerstin Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen, Druck- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sache 16/575. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Partnerschaftliche Unternehmenskultur stär- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- ken – Mitarbeiterbeteiligung fördern sache 16/3641, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der – Drucksache 16/2653 – Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den Überweisungsvorschlag: wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungs- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss antrag auf Drucksache 16/3663? – Gegenstimmen? – Ausschuss für Arbeit und Soziales Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Frak- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die tion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der nerin das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert vom Bündnis 90/Die Grünen. Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi- tionsfraktionen angenommen. Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die der De- batte nicht folgen wollen, bitten, den Saal zu verlassen, Dritte Beratung sodass die übrigen der Rednerin folgen können. – Bitte und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- schön, Frau Dückert. stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mehrheitsverhältnis angenommen. Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein Thema, über Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- das wir bereits gestern in der Aktuellen Stunde diskutiert (B) ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag haben. Wir haben Ihnen einen Antrag dazu vorgelegt, (D) der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3662? – Ge- weil wir glauben, dass wir hier nach dem, was Sie ges- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsan- tern dazu gesagt haben, vielleicht Einigkeit erzielen kön- trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und nen. des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. In Großbritannien haben 30 Prozent der Betriebe mit mehr als 200 Beschäftigten Mitarbeiterbeteiligungs- Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- modelle. Bei uns sind es etwa 3 600 Betriebe. Es ist tion Die Linke auf Drucksache 16/3665? – Gegenstim- also festzustellen, dass die Mitarbeiterbeteiligung in men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist Deutschland seit etwa 30 Jahren in einer Art Dornrös- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des chenschlaf gefangen ist. Ich denke, es ist an der Zeit, Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung der Fraktion dass wir dieses Dornröschen wachküssen; Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer stimmt für den Entschließungsantrag der denn die Mitarbeiterbeteiligung ist ein Baustein einer Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- modernen, offenen Unternehmenskultur. Dazu gehören sache 16/3664? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – auch eine bessere Corporate Governance und Maßnah- Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Ko- men zur Förderung von Frauen in Chefetagen, die wir alitionsfraktionen bei Zustimmung des Bündnisses 90/ voranbringen müssen. Das gehört alles zusammen. Die Grünen sowie Enthaltung der FDP-Fraktion und der Arbeitnehmerbeteiligung ist „Mitbestimmung plus“. Fraktion Die Linke abgelehnt. Das sage ich vor allen Dingen den Kolleginnen und Kol- Abstimmung über den Entwurf eines Stalking- legen von der Union und der FDP ganz deutlich. Ich Bekämpfungsgesetzes des Bundesrates auf Druck- habe nämlich immer wieder den Eindruck, dass Sie Ar- sache 16/1030. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter beitnehmerbeteiligung als Alternative zur Mitbestim- Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck- mung diskutieren. Das ist ein falscher Ansatz. Es geht sache 16/3641, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte um beides: um mehr Mitbestimmung und Mitsprache, diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, aber eben auch um Arbeitnehmerbeteiligung. um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- Mitarbeiterbeteiligung birgt Chancen. Wir haben gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein- kürzlich ein Fachgespräch mit Betrieben geführt, die auf stimmig abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- diesem Gebiet Pioniere sind. Dort konnte man uns schäftsordnung die weitere Beratung. deutlich belegen, was schon in der gestrigen Debatte 6958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Thea Dückert (A) angedeutet wurde: Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung Ich hoffe auf eine faire Beratung. Wir haben viele (C) haben Produktivitätsvorteile. Dies zeigt auch folgendes Vorschläge gemacht, die über das hinausgehen, was ich Beispiel: Mit einer Maschine, die mit „Eigentum der jetzt in der Kürze der Zeit vortragen konnte. Zum Mitarbeiter“ gekennzeichnet ist, wird sehr viel sorgsa- Schluss vielleicht noch Folgendes: Bevor wir über eine mer umgegangen. Mitarbeiterbeteiligung kann zudem zu weitere Ausdehnung von Subventionen reden, sollten einer Stärkung der Eigenkapitaldecke führen, was gerade wir lieber noch einmal über die Halbierung des Sparer- in kleinen und mittleren Unternehmen vorteilhaft ist. freibetrages sprechen, die Sie gerade beschlossen haben. Auch in Betrieben, bei denen es um die Unternehmens- Auch das schadet nämlich der Vermögensbildung von nachfolge geht – im Schnitt pro Jahr 71 000 –, kann Mit- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. arbeiterbeteiligung ein Projekt sein, diese Betriebe in die Zukunft zu führen. – Um all dies geht es und jeweils sind Danke schön. unterschiedliche Ansätze nötig. Ansätze von der Stange (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) führen nicht weiter. Deshalb müssen wir darüber reden. Wir sollten auch – das ist mir wichtig – über die Risi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ken reden, die mit der Arbeitnehmerbeteiligung verbun- Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/ den sind: Wenn ein Arbeitnehmer neben seiner Arbeits- CSU-Fraktion. kraft auch noch Kapital einbringt, hat er für den Fall, dass sein Unternehmen in Schwierigkeiten kommt, ein (Beifall bei der CDU/CSU) doppeltes Risiko zu tragen. Wir haben in unserem An- trag zu diesem Thema deshalb folgenden Vorschlag un- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): terbreitet: Dort, wo Steuergelder gebunden sind, sollte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und eine Insolvenzsicherung für die Arbeitnehmerinnen und Herren! Wir haben uns schon in der gestrigen Aktuellen Arbeitnehmer verbindlich vorgeschrieben sein. Stunde sehr intensiv über die Mitarbeiterbeteiligung un- terhalten. Trotzdem halte ich es für gut, dass wir auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heute noch einmal über dieses Thema sprechen. Frau Für KMUs, kleine und mittlere Betriebe, muss die Lö- Kollegin Dückert, Ihr Antrag geht im Prinzip in die rich- sung an dieser Stelle aber noch anders aussehen. Auf tige Richtung. Landesebene, in Berlin und Thüringen, gibt es für Be- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- triebe mit Mitarbeiterbeteiligung Programme mit Garan- NEN]: Aha!) tieübernahme von Bürgschaftsbanken. Das sind gute Stützen für kleine und mittlere Betriebe, in denen Mitar- An einigen Stellen wird aber sicherlich noch darüber zu (B) beiterbeteiligung noch Neuland ist. diskutieren sein. Heute fangen wir damit an. (D) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Dass Mitarbeiterbeteiligung notwendig ist, zeigt sich Kastner) schon daran, dass man sich in Deutschland seit mehr als 30 Jahren permanent mit diesem Thema beschäftigt, Arbeitnehmer brauchen gewisse Sicherheiten. Wenn dass aber noch keine zufrieden stellende Lösung auf den sie ihre Arbeitskraft plus ihr Kapital zum Einsatz brin- Weg gebracht worden ist. Untersuchungen zufolge gen, haben sie schon ein doppeltes Risiko zu tragen. – eine solche Studie hat das IAB durchgeführt – werden Wenn dann noch das hinzukommt, was Sie von der bei nur 2 Prozent der Unternehmen in Deutschland For- Union, aber auch von der SPD in der aktuellen Debatte men der Mitarbeiterbeteiligung praktiziert. Im Hinblick vorschlagen – ich habe das heute beispielsweise von auf die Gewinnbeteiligung sieht die Situation besser aus: Herrn Müntefering gelesen –, nämlich dass diese Mo- Rund 9 Prozent der Unternehmen in Deutschland wen- delle zur Altersvorsorge genutzt werden könnten, dann den solche Methoden an. Auch das ist mir allerdings viel wird aus dem doppelten Risiko der Arbeitnehmer gar ein zu wenig. dreifaches Risiko. Jemanden, der seinen Job in einem Betrieb hat und auch sein Kapital dort bindet, sollte man Ich persönlich bin Unternehmer und habe dieses In- nicht auch noch dazu überreden, seine Altersvorsorge in strument immer genutzt. Denn Mitarbeiter sind viel mo- dem gleichen Betrieb zu platzieren. Man sollte ihn da- tivierter, wenn sie am Erfolg des Unternehmens, in dem rauf aufmerksam machen, dass es besser wäre, das Ri- sie arbeiten, beteiligt werden. Das Problem ist natürlich, siko zu streuen, indem er einen Vertrag zur kapitalge- dass diese Möglichkeit in den Tarifverträgen nicht vor- deckten Altersvorsorge bei einer privaten Gesellschaft gesehen ist. Es wäre wünschenswert, wenn die Bereit- abschließt. Ich finde Ihren Vorschlag sehr gefährlich. Sie schaft bestünde, daran etwas zu ändern. Darüber müssen sollten ihn noch einmal überdenken. wir nachdenken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im internationalen Vergleich steht Deutschland ziem- lich schlecht da. Denn im Ausland – in Großbritannien und Frankreich wie auch in den skandinavischen Län- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dern – ist die Mitarbeiterkapitalbeteiligung viel stärker Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten. verbreitet als bei uns. In diesen Ländern wird sie aller- dings in großem Umfang durch Steuern gefördert, Frau Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dückert. Unter Umständen müssen auch wir diese Mög- Meine Redezeit ist überschritten. Deswegen komme lichkeit ins Auge fassen. Es geht uns nicht darum, dass ich zum Schluss. hier und heute ein fix und fertiges Modell vorgelegt wer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6959

Dr. Michael Fuchs (A) den muss – auch Ihres ist das nicht –, sondern darum, (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist doch unpro- (C) dass wir nach Wegen suchen, um die Anwendung dieses blematisch! Draufsatteln kann man nach dem Instruments auszubauen. Wir sollten endlich ohne Scheu Tarifrecht immer!) über die Mitarbeiterbeteiligung und über Wege hin zu mehr unternehmerischem Miteinander diskutieren. Für mich ist wichtig, dass Arbeitnehmer und Arbeit- geber Kapitalbeteiligungen grundsätzlich nur auf frei- Es gefällt mir nicht, dass in diesem Zusammenhang williger Basis vereinbaren. Jeder gesetzliche und jeder immer wieder dieselben notorischen Gegenmeinungen tarifliche Zwang muss abgelehnt werden. Das Modell vertreten werden. In den Zeitungen heißt es, dieses Vor- muss einfach, unbürokratisch und schnell anwendbar haben sei ein „trojanisches Pferd“ und es handele sich sein. Jedes Unternehmen soll frei das Angebot bereitstel- um einen „Sparlohn statt Barlohn“. Auf diese Weise len können, das am besten zu seiner Unternehmensstruk- wird von den Gewerkschaften automatisch und reflexar- tur passt. Denn wir müssen uns darüber im Klaren sein, tig reagiert. Das ist nicht der richtige Weg. Mir wäre es dass eine GmbH oder gar eine OHG eine völlig andere lieber – wie ich sehe, lacht mich der Kollege Riester ge- Struktur hat als eine Aktiengesellschaft. Deswegen müs- rade an –, wenn wir auf diesem Gebiet vorankommen sen wir unterschiedliche Modelle diskutieren und, damit würden. Ich denke, dass wir nicht aufeinander eindre- so etwas unbürokratisch möglich ist, unter Umständen schen sollten, sondern dass es an der Zeit ist, dieses entsprechende Veränderungen im Gesellschaftsrecht Thema mit Gestaltungswillen anzugehen. Es hat mich vornehmen. An die bei Kapitalgesellschaften Beschäf- sehr gefreut, dass sich am Montag dieser Woche im An- tigten können relativ einfach Aktien oder Optionen bzw. schluss an die Diskussion auf unserem Parteitag in Dres- Optionsscheine ausgegeben werden. Das mag einfach den auch der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz in funktionieren. Aber es geht doch gerade darum, wie diese Richtung geäußert hat. An diesem Vorhaben soll- auch der Mittelstand solche Modelle auflegen kann. In ten wir nun gemeinsam arbeiten. mittelständischen Unternehmen wird so etwas bis jetzt nicht gemacht. Meine Damen und Herren, die Mitarbeiterkapitalbe- Eine gesetzliche Pflicht zur Insolvenzsicherung ist in teiligung ist grundsätzlich der richtige Ansatz. Lassen meinen Augen abzulehnen. Denn gesellschaftsrechtliche Sie uns daher über die damit verbundenen Chancen und Beteiligungen, etwa in Aktien – die ja quasi Eigenkapital Ziele diskutieren: Die Arbeitnehmer am Kapital zu be- darstellen –, sind von ihrem Charakter her risikobehaftet. teiligen führt in jedem Fall zu größerer Identifikation mit Dieses Risiko kann man schlecht absichern. Und wenn dem Unternehmen; das ist völlig klar. Es führt sicherlich man es absichert, geht das zulasten der Rentabilität der auch zu einem besseren Betriebsklima. Es kann auch zur Beteiligung. Dann kann es sehr schnell passieren, dass Verbesserung der Eigenkapitalbasis – die Eigenkapital- (B) sich diese Anlage für den Mitarbeiter nicht mehr lohnt. (D) basis ist eines der großen Probleme, die wir in Deutsch- Das wollen wir nicht. Eine Aktie ist eo ipso nicht ab- land haben – führen. Möglich wäre es auch, die Mitar- sicherbar. Entscheidet sich ein Arbeitnehmer freiwillig beiterbeteiligung am Ende des Berufslebens – in diesem für eine Absicherung, muss er auch die Kosten dafür tra- Punkt bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, Frau Dückert; gen. Wie so etwas funktionieren könnte, darüber müsste ich schätze das Risiko nicht so groß ein wie Sie – in eine man nachdenken. Ob das über einen Pensionssiche- Aufbesserung der Rente umzuwandeln. Wir wollen nicht rungsverein oder Ähnliches machbar wäre, wage ich al- beides gleichzeitig, sondern nur eine Umwandlung nach lerdings zu bezweifeln. Ausscheiden aus dem Betrieb. Wir wollen die steuerliche Behandlung dieser Kapi- Aufgrund der gemeinsamen Interessenlage haben Ka- talbeteiligungen zielgerichteter aufstellen. Wir müssen pitalbeteiligungen stärkere Auswirkungen auf die part- prüfen, ob der jetzige Freibetrag von 135 Euro ausreicht. nerschaftliche Unternehmensführung. Deswegen befür- Unter Umständen muss man ihn aufstocken. Man muss worte ich eine Kultur der Beteiligung. Sie bietet die dabei aber immer daran denken, dass wir unsere Sozial- Chance zu einer Art Mentalitätswandel. Was wäre in versicherungssysteme nicht beschädigen dürfen. Die So- Zeiten der Globalisierung, in denen sich die Welt überall zialversicherungssysteme dürfen nicht weiter belastet verändert, besser, als darüber nachzudenken, einen sol- werden, weil das zu einer Erhöhung der Lohnzusatzkos- chen Weg zu gehen? Niemand wartet auf Deutschland. ten führen würde. Wir müssen uns selbst darum bemühen, diese Richtung einzuschlagen. Ich bin unheimlich froh, dass ich am heutigen Tag re- den darf. Denn dieser Tag ist für uns alle hier im Parla- An dieser Stelle sind auch die Tarifpartner gefordert. ment ein glücklicher Tag: Erstmals seit vier Jahren ist Sie sollten überlegen, ob nicht doch ertragsabhängige die Zahl der Arbeitslosen wieder unter 4 Millionen ge- Komponenten in die Tarifpolitik eingeführt werden kön- sunken. Das macht mich sehr froh und es macht uns ge- nen. Sollte aufseiten der Tarifpartner keine Bereitschaft meinsam auch stolz; denn damit hat man so nicht rech- dazu vorhanden sein, könnte ich mir sogar vorstellen, nen können. dass wir den Unternehmen und ihren Mitarbeitern für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und diesen speziellen Fall die Möglichkeit eröffnen, vom Ta- der SPD) rifvertrag abzuweichen, um die Nutzung einer solchen Komponente, wenn sie denn gewünscht ist – das muss Wir müssen in jedem Fall über eine nachgelagerte Be- immer auf freiwilliger Basis geschehen –, zu ermögli- steuerung nachdenken: dass Steuern und Sozialbeiträge chen. dann gezahlt werden, wenn die Mitarbeiter das Kapital 6960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Michael Fuchs (A) in den Händen halten. Wir wollen die Umwandlung ei- del angekommen und der Mindestlohn, den Sie fordern, (C) ner Mitarbeiterkapitalbeteiligung in eine betriebliche Al- ist alles andere als ein marktwirtschaftliches Element. tersvorsorge ermöglichen, natürlich ebenfalls bei nach- (Beifall bei der FDP) gelagerter Besteuerung. Bei den Grünen traut nicht nur die Parteivorsitzende, Lassen Sie mich zum Schluss die Bundeskanzlerin zi- Frau Roth, dem Markt nicht über den Weg – sie spricht tieren. Sie hat am Montag zu diesem Thema gesagt: lieber von Ökologie und sozialer Gerechtigkeit –, Wenn immer nur gesagt wird, was nicht geht, wird (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland niemals weiterkommen. Auch wenn NEN]: Wir trauen Ihnen nicht über den Weg!) man noch nicht so genau weiß, wie es denn geht, sollte man dennoch darüber nachdenken, wie es zu selbst Herr Trittin glaubt, so seine Äußerung im „Han- machen sei. delsblatt“, dass es den grünen Wirtschaftspolitikern nicht um den Markt, sondern um das Marketing geht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Lassen Sie uns in diesem Parlament gemeinsam, über die Fraktionsgren- Meine Damen und Herren, an der Vermögensbildung zen hinweg, nach Wegen suchen! Wir sind dazu bereit in Arbeitnehmerhand haben sich viele versucht. Herr und wir freuen uns auf die Mitarbeit der Grünen und der Dr. Fuchs hat es angesprochen: Durchschlagende Er- FDP. folge hat es bisher nicht gegeben. Vielleicht ist es auch ganz vernünftig, weil manche Arbeitnehmer lieber einen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Barlohn auf dem Konto als einen Sparlohn mit einer lan- gen Festlegungsfrist im Depot haben. Wir wollen, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Mitarbeiter zu Mitunternehmern werden. Das Mit- Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Frak- eigentum ist eine echte Form der Mitbestimmung. Wenn tion. die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer ausreichend über die Vor- und Nachteile von Beteiligungsmodellen infor- (Beifall bei der FDP) miert worden sind und sich frei entscheiden können, dann gibt es weder zu viel noch zu wenig Beteiligung, Rainer Brüderle (FDP): dann gibt es genau so viel Beteiligung, wie sie die Be- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine troffenen offenbar wünschen. Mitarbeiterbeteiligung ist eine gute Sache – wenn sie Wir können in der Tat nur für Beteiligungsmodelle (B) freiwillig ist: wenn Arbeitgeber ein solches Angebot ma- werben und darüber informieren. Wie andere Formen (D) chen können und wenn Arbeitnehmer die Wahl haben, der Alterssicherung können und sollten wir auch diese ob sie ein solches Angebot annehmen wollen oder nicht. Form der Vorsorge mit einer nachgelagerten Besteue- Zwang darf es nicht geben. Wir waren uns in der gestri- rung versehen. Wir müssen allerdings auch vor den Ri- gen Aktuellen Stunde alle einig: Einen staatlich verord- siken warnen: Eine Anlage in Aktien ist und bleibt risi- neten Investivlohn kann es nicht geben. Ein Arbeitneh- koreich; erst recht, wenn man sich mit dieser Anlage auf mer muss selbst entscheiden können, ob er in einem nur ein Unternehmen konzentriert. Gerade für die Al- Unternehmen, in mehreren oder in anderen Anlagefor- tersvorsorge muss eine breitere Streuung vorhanden men seine Chancen sieht. Das haben selbst die früher so sein, damit sie von Finanzexperten auch empfohlen wer- staatsgläubigen Grünen erkannt, wie ihr Antrag zeigt. den kann. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die sind (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lernfähig!) NEN]: Zitieren Sie jetzt die Grünen? Ist ja sehr Ansonsten bringt der Antrag leider wenig Neues. Er ist originell!) vermutlich ein Beitrag zur wirtschaftspolitischen Fin- Es gibt Beispiele für eine gelungene Arbeitnehmerbe- dung und Positionierung Ihrer Partei. Seit neuestem wol- teiligung. Der „Stern“ stellt in seiner neuesten Ausgabe len einige bei den Grünen ja, dass die Grünen eine Wirt- einige gelungene Beispiele vor. Die letzte Forderung in schaftspartei werden und ihr Image von Müsli und dem Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen, wonach Chaos ablegen. „gelungene Beispiele von erfolgreichen Mitarbeiterbe- teiligungsmodellen“ öffentlich gemacht werden sollen, (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Irmin- gard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE hat der „Stern“ mit seiner heutigen Ausgabe quasi schon erfüllt. GRÜNEN]: Über wen sprechen Sie da? – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich wusste nicht, dass Sie einen solch NEN]: Was bekommen Sie für die Werbung?) langen Bart haben!) Eine staatliche Insolvenzsicherung darf es hierbei Hierbei haben Sie allerdings noch einen weiten Weg vor meines Erachtens nicht geben. Wer das Risiko einer Un- sich; denn an den Steuerwettbewerb wollen Sie offen- ternehmensbeteiligung eingeht, der muss es auch tragen. sichtlich nicht heran, bei der Kernenergie verabschieden Es darf nicht möglich sein, Gewinne einzustreichen und Sie sich nicht von Ihren alten ideologischen Positionen, Verluste quasi auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Wenn in der Handelspolitik sind Sie noch nicht beim Freihan- Unternehmen für die Beteiligung ihrer Arbeitnehmer pri- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6961

Rainer Brüderle (A) vat eine Absicherung vornehmen – zum Beispiel bei ei- Heute beschäftigen wir uns mit dem Antrag der Grü- (C) nem Pensionssicherungsverein oder Ähnlichem –, dann nen, in dem es ebenfalls um die Mitarbeiterbeteiligung ist das ihre Sache. Der Staat hat hier meines Erachtens geht. Sicherlich können wir uns über den einen oder an- aber nichts verloren. deren Vorschlag verständigen, aber mit einigen Forde- rungen können wir uns nur wenig anfreunden. Deshalb (Beifall bei der FDP) ist der Antrag für uns nicht zustimmungsfähig. Die Grünen sollten klarstellen, dass es ihnen nicht um Sie verlangen zum Beispiel Mitarbeiterbeteiligungs- eine staatlich finanzierte Garantie für Beteiligungsmo- modelle, bei denen staatliche Förderungen wie die delle geht. steuerfreie Beteiligung an Aktienvermögen in Höhe von Ich begrüße es sehr, dass wir uns gestern und heute 135 Euro pro Jahr in Anspruch genommen werden kön- erneut mit diesem Thema beschäftigt haben bzw. be- nen. Diese Beteiligungen sollen insolvenzgesichert wer- schäftigen. Ich wiederhole aber auch: Dass die große den oder mit der Garantieübernahme einer Bürgschafts- Koalition dieses Thema jetzt hochgezogen hat, liegt bank ausgestattet werden. Gleichzeitig wollen Sie aber letztlich darin begründet, dass sie von anderen Themen eine Beteiligungskultur fördern, die auf die Ausweitung ablenken will, nämlich von ihren Eingriffen in den Spa- steuerlicher Subventionstatbestände verzichtet. Seien rerfreibetrag, von der Diskussion über den Mindestlohn wir einmal ehrlich: Sind Sie sicher, dass Regelungen wie und von anderen Maßnahmen. die Insolvenzsicherung oder Garantieübernahme letzt- lich nicht doch auf staatliche Hilfeleistung hinausläuft, (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Von den gu- die Sie an sich nicht wollen? ten Zahlen auf dem Arbeitsmarkt muss man nicht ablenken!) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich bin sicher, dass Sie den Antrag Jetzt, da auf dem Arbeitsmarkt – gottlob! – eine er- nicht gelesen haben!) freuliche Entwicklung festzustellen ist, wäre es viel ver- nünftiger, sie zu verstetigen und zu verstärken, indem Aktienoptionen wollen Sie nicht nur für die Großen, man auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer verzichtet, sondern auch für die Kleinen. Aber wer von den Bezie- sodass man einen nachhaltigen Trend daraus macht. Herr hern kleiner Einkommen kennt sich denn mit Optionen Weise von der Bundesagentur für Arbeit hat auf seiner aus? Helfen wir ihnen mit offen gelegten Aktienoptions- heutigen Pressekonferenz ebenfalls gesagt: Im nächsten plänen wirklich oder zielt Ihr Vorschlag nicht eher in die Jahr wird sich der Trend nur sehr reduziert fortsetzen, Richtung, über die Mitarbeiterbeteiligung Änderungen weil sich die Maßnahmen, die am 1. Januar 2007 grei- im Aktienrecht vorzunehmen? (B) fen, negativ auf die Entwicklung auswirken werden. (D) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deshalb sollte man bei dieser erfreulichen Debatte, NEN]: Sie haben wirklich den Antrag nicht die aus durchsichtigen Motiven initiiert wurde, die Gele- verstanden, Frau Barnett!) genheit nutzen, noch einmal zu appellieren, von seinen starren Positionen abzukommen und etwas Vernünftiges Gleichzeitig fordern Sie, dass Unternehmen ihre Be- zu tun. Es ist nie verkehrt, dazuzulernen. legschaft als Ausdruck einer partnerschaftlichen Unter- nehmenskultur über Erfolgsbeteiligungen am Gewinn Vielen Dank. partizipieren lassen. Wäre es für dieses Ziel nicht besser, (Beifall bei der FDP – Dr. Michael Fuchs [CDU/ vor allem aber auch für den Arbeitnehmer leichter CSU]: Für die FDP gilt das aber auch!) durchschaubar und wahrscheinlich auch risikoärmer als Aktienoptionen, wenn das Unternehmen seinen Beschäf- tigten eine Gewinnbeteiligung anbietet, die in Beleg- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schaftsaktien angelegt werden könnte? Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Frak- tion. Neben den Managern gibt es zwar in der Tat auch gut verdienende Facharbeiter, Meister und Ingenieure, die (Beifall bei der SPD) sich wahrscheinlich für Aktienoptionen interessieren und das Risiko abschätzen können. Aber die große Doris Barnett (SPD): Mehrzahl der Menschen, die wir mit der Initiative zu Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Lieber mehr Mitarbeiterbeteiligung erreichen wollen, gehört ei- Kollege Brüderle, Ablenken müssen wir von den Koali- ner anderen Einkommensklasse an. In ihrem Interesse ist tionsfraktionen wirklich nicht; denn wir haben Erfolge es wichtig, die Menschen nicht nur fair am Unterneh- vorzuweisen. Dass wir uns jetzt mit der Mitarbeiterbetei- mensgewinn zu beteiligen, den sie schließlich selbst mit- ligung beschäftigen, hat direkt etwas mit dem Erfolg zu erarbeitet haben, sondern ihnen auch einfache Möglich- tun; denn die Arbeitnehmer haben einen sehr großen An- keiten aufzuzeigen, Vermögen zu bilden. teil an diesem Erfolg und deswegen ist es nur gerecht, wenn wir sie daran teilhaben lassen und deswegen für (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine stärkere Mitarbeiterbeteiligung eintreten. NEN]: Deshalb streichen Sie den Sparerfreibe- trag! – Gegenruf des Abg. Dr. Rainer Wend (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [SPD]: Lassen Sie doch die unqualifizierten der CDU/CSU) Zwischenrufe!) 6962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Doris Barnett (A) Wer gerne spekuliert, dem steht schon heute der Weg of- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) fen, Aktien oder sonstige Wertpapiere zu kaufen. Nächster Redner ist der Kollege Werner Dreibus, Fraktion Die Linke. Im Übrigen haben wir uns noch nicht darüber verstän- digt, um welche Summen es geht. Sind es jährlich Tau- (Beifall bei der LINKEN) sende von Euros, die ein Arbeitnehmer anlegen kann, oder geht es um eine ganz andere Größenordnung? Inso- Werner Dreibus (DIE LINKE): fern erscheint der Vorschlag der Aktienoptionen nur auf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- den ersten Blick gut. gen! Der Antrag der Grünen zeigt bei genauer Lektüre, Wir sollten jedenfalls nicht den Eindruck erwecken, dass auch sie wissen, was in vielerlei Managementhand- der normale Arbeitnehmer könne sein Geld nicht auf die büchern steht: Die Beteiligung der Arbeitnehmer dient Bank bringen, keine Lebensversicherung erwerben oder den Unternehmen, erhöht die Motivation und fördert die keine Riesterrente abschließen. Ihm stehen längst alle Produktivität. So weit, so gut. Was mich entsetzt, ist, Anlageformen offen, jedoch fehlt es ihm in der Regel an dass Sie in Ihrem Antrag an zwei Stellen einfach über- den notwendigen Überschüssen, mit denen er diese An- nehmen, was uns Angebotsökonomen seit Jahren gebets- lagen tätigen könnte. mühlenartig vortragen, nämlich dass Lohnverzicht Ar- beitsplätze schaffen würde. Ich verweise ausdrücklich Kommen wir also zurück zu dem ganz normalen Ar- auf die Begründung zu Nr. 6 auf Seite 5 Ihres Antrags. beitnehmer. Er hat es wahrlich verdient, an dem Auf- Zu dem, was Sie dort zum Lohnverzicht im Zusammen- schwung, den die Wirtschaft jetzt erlebt, beteiligt zu hang mit der Mitarbeiterbeteiligung ausführen, kann ich werden. Aber wenn es um eine echte Gewinnbeteiligung nur sagen: Ein solches Niveau habe ich nicht erwartet. gehen soll – dafür plädieren wir Sozialdemokraten –, dann kann diese nicht mit Lohnverzicht erkauft werden. Ihr Antrag zeigt aber auch, dass Sie vielleicht ein Denn auf Einkommen haben die Arbeitnehmer jetzt bisschen mehr über die Literatur und ein bisschen weni- schon längere Zeit verzichtet, weshalb die Schere zwi- ger über die betriebliche Wirklichkeit Bescheid wissen schen dem Zuwachs aus Arbeitseinkommen und Kapi- und die zentralen ökonomischen Fehlentwicklungen in taleinkommen mittlerweile drastisch auseinander geht. den letzten Jahren erneut nicht zur Kenntnis nehmen. Ich möchte nur an zwei Punkte erinnern. Die Schere zwi- Es kann also nicht sein, dass der jetzige Lohn bzw. die schen Arbeitseinkommen und Unternehmensgewinnen anstehende Lohnerhöhung zum Teil in Investitionen in öffnet sich rasant. Den Privathaushalten in Deutschland den Betrieb umgewandelt wird, sodass der Beschäftigte stehen heute – die Daten wurden erst diese Woche veröf- weniger in der Tasche hat und ihm nur im Herzen die fentlicht – 2 Prozent weniger Realeinkommen zur Verfü- Hoffnung bleibt, dass sein Betrieb auf der Erfolgsspur (B) gung als Anfang der 90er-Jahre. Steuersenkungen für (D) bleibt, wenn er gut und hart arbeitet, und er sein Geld, Unternehmen und Vermögende sowie massive Sozial- das er in den Betrieb gesteckt hat, nach Jahr und Tag mit kürzungen haben Löhne und Gehälter unter Druck ge- Zins und Zinseszins wiederbekommt. Schließlich kann setzt. Deshalb werden heute bereits breite Bevölkerungs- niemand wollen, dass für den Arbeitnehmer das Arbeits- schichten von der steigenden Wirtschaftsleistung bzw. platzrisiko noch mit einem Kapitalrisiko getoppt wird. Produktivität ausgeschlossen. Für diese Entwicklungen, Aber bevor wir so weit sind, das Fell des Bären zu die auch Ergebnisse falscher Politik sind, sind Sie von verteilen, sollten wir wenigstens einen Bären haben. den Grünen zumindest mitverantwortlich. Deshalb war die Aussage der Arbeitgeberseite gestern (Beifall bei der LINKEN) und heute, dass sie einer Mitarbeiterbeteiligung grund- sätzlich positiv gegenüberstehen, besonders wichtig. In dieser Situation meinen Sie von den Grünen nun – zu- Jetzt liegt es auch an den Tarifvertragsparteien, mitzuge- mindest zeigt das Ihr Antrag –, die Dosis der falschen stalten; denn es stehen ihnen bereits heute viele tarifver- Politik erhöhen zu müssen. Nach Ihrem Verständnis sind tragliche Möglichkeiten und Modelle der Mitarbeiterbe- Investivlöhne ein Mittel des Verzichts auf Lohn zuguns- teiligung zur Verfügung, die nur reaktiviert und den ten von Kapitalbeteiligungen. Das lehnen wir mit allem neuen Gegebenheiten angepasst werden bräuchten. Nachdruck ab. Inwieweit wir in der Politik zum Beispiel in Sachen (Beifall bei der LINKEN) Altersvorsorge Rahmen stecken und Anreize setzen soll- ten, Auch wenn wir das Vorhaben der Koalition – das wurde schon gestern deutlich – für ein Manöver zur Ab- lenkung von der wachsenden Verarmung in Deutschland Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: halten, erkennen wir immerhin an, dass zumindest die Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern? Frage nach der gerechten Verteilung des Reichtums und dem Zuwachs des Reichtums in dieser Gesellschaft nicht Doris Barnett (SPD): nur von uns, sondern auch von anderen gestellt wird, al- – das ist mein letzter Satz –, werden wir in den Bera- lerdings aus meiner Sicht – bezogen auf das Thema In- tungen sehen. vestivlohn – zum völlig falschen Zeitpunkt, in einem völ- lig falschen ökonomischen und sozialen Umfeld sowie Vielen Dank. mit falschen Mitteln. Man könnte vielleicht sagen: Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rück in die 70er-Jahre! Damals hatte die Debatte über der CDU/CSU) Vermögensbildung und Investivlohn ihren Höhepunkt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6963

Werner Dreibus (A) Es gab sehr konkrete Modelle, bis hin zu Gesetzentwür- 600 Euro anwächst. Wählt der Mitarbeiter die Option, (C) fen beispielsweise von der SPD-Fraktion, aber in einem dieses zum Tariflohn hinzukommende Geld in die Al- völlig anderen sozialen und ökonomischen Umfeld. Ich tersvorsorge umzuwandeln, wird dies vom Arbeitgeber erinnere nur daran, dass es damals Tariflohnerhöhungen zusätzlich gefördert. Der Anreiz zur zusätzlichen be- um mehr als 10 Prozent pro Jahr gab. Staatssekretär trieblichen Altersvorsorge ist also hoch. Thönnes hat meines Wissens in seiner damaligen Funk- Was können wir aus diesem Beispiel lernen? Einige tion als Sekretär der IG Chemie-Papier-Keramik kräftig Aspekte sind mir wichtig. Erstens. Die Mitarbeiter sind dazu beigetragen und zunehmend höhere Forderungen am Erfolg des Unternehmens beteiligt. Erreicht das Un- gestellt. ternehmen seine Ziele, haben die Mitarbeiter etwas da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von. Erreicht es seine Ziele nicht, bleibt der Tariflohn. Die Mitarbeiter sind hoch motiviert, den Unternehmens- Lang, lang ist’s her. erfolg zu steigern. Schreibt das Unternehmen aber rote Wenn ich mir aber – im Zusammenhang mit dem, wo- Zahlen, gibt es keinen Tariflohnverlust. rüber gestern diskutiert wurde – die aktuellen Begrün- Zweitens. Die Mitarbeiterbeteiligung kann in Alters- dungen der Koalitionsfraktionen wie der Grünen vor Au- vorsorge umgewandelt werden. Das ist das richtige Si- gen führe, die sich auf das Thema Investivlohn beziehen, gnal. Wir wissen alle, dass neben der gesetzlichen Ren- muss ich sagen: Sie schätzen die Situation falsch ein. Sie tenversicherung die betriebliche Altersvorsorge eine sind mit falschen Mitteln auf dem völlig falschen Weg. zentrale Rolle spielt. Aus unserer Sicht stehen die Steigerung der Realein- kommen, gerechtere Verteilung des Produktivitätszu- Drittens. Untere Lohngruppen profitieren von dieser wachses und des Bruttosozialproduktes und mehr Mitbe- Regelung, weil ein fester Betrag ausgezahlt wird, unab- hängig von der Einkommenshöhe. stimmung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der Tagesordnung. Wenn wir das geschafft haben, Viertens. Sogar beim Arbeitgeberwechsel verliert der können wir auch über mehr Vermögensbeteiligung und Arbeitnehmer seine Betriebsrentenansprüche nicht. Investivlohn reden. Fünftens. Diese Form der Mitarbeiterbeteiligung Vielen Dank. stützt sich voll und ganz auf die Mitbestimmung. Ja, (Beifall bei der LINKEN) Mitarbeiterbeteiligung muss auch Mitbestimmung be- deuten. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin der CDU/CSU) (D) Katja Mast, SPD-Fraktion. Sechstens. Die Mitarbeiter können wählen, wofür sie (Beifall bei der SPD) ihr zusätzliches Geld verwenden, für die Altersvorsorge oder für den Konsum. Das scheint mir deshalb wichtig, Katja Mast (SPD): weil es aktuell einige Debatten darüber gibt, dass Mit- arbeiter verpflichtet werden sollen, sich am Kapital ihres Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Unternehmens zu beteiligen. und Kollegen! Wenn wir gestern nicht schon die Aktu- elle Stunde „Stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Aber nicht Erfolg und Kapital von Unternehmen“ gehabt hätten, bei uns!) wäre diese Debatte jetzt sinnvoll. Gestern wurde jedoch deutlich, dass wir alle – damit meine ich wirklich alle Ich plädiere für eine grundsätzliche Wahlfreiheit des Parteien – Mitarbeiters. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die Linke Was lernen wir noch aus diesem Beispiel? Große Un- aber nicht!) ternehmen mit einer hohen Mitarbeiterbindung bieten schon heute Belegschaftsaktien, Mitarbeiterbeteiligun- auf der Suche nach dem richtigen Modell für mehr Mit- gen und Genossenschaftsanteile an. Aber seien wir doch arbeiterbeteiligung sind. Der nun zu diskutierende An- ehrlich: Von einer Gewinn- oder Kapitalbeteiligung pro- trag der Grünen bringt uns hier auch nicht weiter. Für fitieren diejenigen Arbeitnehmer, die einen gut bezahlten uns Sozialdemokraten ist klar: Wir können uns mehr Job haben und in einem finanzstarken Unternehmen ar- Mitarbeiterbeteiligung gut vorstellen; denn wir wissen, beiten. Bei dieser ganzen Debatte dürfen wir eines nicht dass es Bewegung gibt. Wir haben schon heute Mitarbei- vergessen: Wie können wir Löhne im unteren Einkom- terbeteiligung, die von Gewerkschaften, Betriebsräten mensbereich armutsfest machen? Hier ist der Mindest- und Arbeitgebern gemeinsam ausgehandelt wurde. lohn die Antwort. Weil gute Beispiele wichtig sind, will ich hier auf (Beifall bei der SPD) eines eingehen. Die Deutsche Bahn AG hat einen vor- bildlichen Tarifvertrag zur Erfolgsbeteiligung der Ar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemeinsam mit der Ich schließe die Aussprache. Gewerkschaft Transnet ausgehandelt. Abhängig vom Unternehmensgewinn erhalten die Mitarbeiter seit 2005 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf eine Mitarbeiterbeteiligung, die von 100 auf bis zu Drucksache 16/2653 an die in der Tagesordnung 6964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit liche Lesung von Reiner Kunze in Ostdeutschland er- (C) einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- weisen. sung so beschlossen. Ich will nicht erklären, welche Beschattungen, Nach- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: forschungen, Vorladungen zur Staatssicherheit usw. da- nach für uns alle losgingen. Ich will über das Schicksal Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- eines an dieser Lesung unbeteiligten jungen Mannes be- nen der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- richten: Es ist mein Freund Albrecht Heß. Er war einer SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs der mit Abstand besten Mathematikstudenten in Dres- eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Stasi- den. Für alle war klar, dass er einmal einen Lehrstuhl Unterlagen-Gesetzes übernehmen würde, eine Forschungsgruppe leiten – Drucksache 16/2969 – würde, in einer Akademie tätig sein würde oder etwas Ähnliches tun würde. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) Dieser junge Mann wurde kurze Zeit später bei der Staatssicherheit vorgeladen. Er kam danach zu uns, zu – Drucksache 16/3638 – den Organisatoren dieser Veranstaltung, und erklärte, Berichterstattung: man habe versucht, ihn zu werben; er habe die Anwer- Abgeordnete bung abgelehnt. Von diesem Zeitpunkt an war es mit der Dr. h. c. Wolfgang Thierse beruflichen Entwicklung von Albrecht Heß zu Ende. Er Christoph Waitz hat es nur noch mit größter Mühe und kraft seiner über- Dr. Lukrezia Jochimsen ragenden Begabung geschafft, an einer anderen Univer- Katrin Göring-Eckardt sität zu promovieren. Er kam beruflich nie richtig auf die Beine. Nach 1990 fehlte ihm die Kraft, sich gegen die Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion starke Konkurrenz durchzusetzen. Heute ist er Mathe- Die Linke vor. matiklehrer an der Deutschen Schule Madrid. Sein Ge- Außerdem ist interfraktionell vereinbart, die heutige halt ist relativ gering. Er wird nicht wiederkommen. Tagesordnung um die erste Beratung des vom Bundesrat Wenn wir über diese Dinge reden, dann müssen wir eingebrachten Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/3653 natürlich von Anfang an sagen: Wir haben schon 1990 zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur immer wieder betont, wir wollen mit der Staatssicherheit Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften zu er- nicht so umgehen, wie sie mit uns umgegangen wäre. weitern und als Zusatzpunkt 5 mit diesem Tagesord- Das ist richtig. Dieser Meinung wird auch Albrecht Heß nungspunkt zu beraten. – Ich sehe, dass Sie damit ein- (B) sein. Aber ob das gleich bedeuten muss, dass man je- (D) verstanden sind. Dann ist das so beschlossen. mandem, der ein solches Schicksal hatte, als Richter Dann rufe ich auch Zusatzpunkt 5 auf: oder als Staatsanwalt einen ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit präsentiert, das glaube Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten ich auch 16 Jahre später noch nicht. Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Änderung (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften [SPD]) – Drucksache 16/3653 – Im Übrigen vertreten wir die Auffassung – das drückt Überweisungsvorschlag: sich auch in der heute zu verabschiedenden Novelle aus –, Ausschuss für Kultur und Medien (f) dass die Überprüfung eines großen Teils der Innenausschuss Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu beenden ist. Sportausschuss Das darf aber eben nicht für alle gelten. Was ist eigent- Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung lich die zugrunde liegende Frage? Wir haben aus der Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit niemals Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die eine strafrechtliche Kategorie gemacht. Es ging immer Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen um die Frage der Eignung für ein bestimmtes öffentli- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ches Amt. Diese Frage war maßgebend. Es ging dabei Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege auch niemals darum, jemanden an den Pranger zu stel- Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion. len. Die Sache ist ganz einfach: In dem Moment, in dem sich jemand für ein öffentliches Amt für geeignet erklärt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) muss er erdulden, dass seine Biografie öffentlich disku- tiert wird. Das ist selbstverständlich. Tatsachen muss Arnold Vaatz (CDU/CSU): man öffentlich erwähnen dürfen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Herren! Heute auf den Tag genau vor 30 Jahren gab es in Markus Meckel [SPD] und des Abg. Christoph der Dreikönigskirche in Dresden eine Schriftstellerle- Waitz [FDP]) sung. Diese Lesung hatten einige studentische Freunde und ich zusammen organisiert. Der Lesende war Reiner Es geht um die Frage: Welches Vertrauen könnte ein öf- Kunze. Das Buch, aus dem er las, hieß „Die wunderba- fentlicher Dienst für sich beanspruchen, der auch für ren Jahre“. Diese Lesung sollte sich als die letzte öffent- seine Spitzenpositionen die Türen für ehemalige Mit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6965

Arnold Vaatz (A) arbeiter des Staatssicherheitsdienstes öffnen würde? Das (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (C) ist eine Frage, die uns alle angeht. Da sollten wir sehr FDP sowie der Abg. Grietje Bettin [BÜND- sorgfältig entscheiden. NIS 90/DIE GRÜNEN]) 1991 dachte man nicht daran, dass 30 bis 40 Prozent der Akten heute nicht erschlossen sein würden. Ange- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sichts dieser Tatsache aber halten wir es für nötig, für Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz, FDP- weitere fünf Jahre für einen eingeschränkten Personen- Fraktion. kreis die so genannte Regelüberprüfung zu gestatten. Ich (Beifall bei der FDP) halte das für einen wichtigen Durchbruch, der uns damit gelungen ist. Christoph Waitz (FDP): Wir haben in der Gesetzesnovelle außerdem die Ab- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen hängigkeit von einem Anfangsverdacht gestrichen, und und Herren! Frau Birthler hat es gestern im Kulturaus- zwar aus einem ganz einfachen Grund: Man kann das schuss gesagt: Noch immer beantragen jedes Jahr Zehn- Ergebnis einer Überprüfung nicht zur Bedingung der tausende Bürger Einsicht in ihre Stasiakten. Das Inte- Überprüfung machen. resse an den Taten der Stasi und deren Bedeutung für die eigene Geschichte ist ungebrochen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der FDP) Vor diesem Hintergrund ist die Novelle zum Stasi- Unterlagen-Gesetz zu betrachten. Die Akten geben Aus- Wir sind außerdem der Meinung gewesen, dass man kunft über die eigene Biografie, über den Umfang der das so genannte Vorhalteverbot nicht braucht. Dass Bespitzelung und den Einfluss der Stasi auf den eigenen man jemandem seine Mitarbeit beim Ministerium für Werdegang. Wer sich kritisch zum System äußerte, den Staatssicherheit im Rechtsverkehr nicht mehr vorhalten Wehrdienst verweigern wollte oder ausreisewillig war, darf, bedarf keiner Regelung, und zwar aus folgendem fand sich schnell in einem Gefängnis der Staatssicherheit Grund: Auch bei Verjährungstatbeständen – mir ist dabei wieder – ohne zu wissen, wo er war, und ohne Rechts- völlig klar, dass der Verjährungstatbestand eine straf- beistand. Regelmäßig wussten die Angehörigen nichts rechtliche Kategorie ist, die in diesem Zusammenhang über den Verbleib der Opfer der Stasi. In den Gefängnis- eigentlich nicht erwähnt werden muss – ist der Umgang sen herrschten zielgerichtete Verunsicherung und Ent- mit der verjährten Tat nach der Verjährung gesetzlich würdigung bis hin zur Folter durch Schlafentzug. Der nicht geregelt. Aufenthalt in Stasigefängnissen ließ die Opfer oft trau- matisiert zurück. Dies sind Folgen, die die Opfer bis zum (B) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das (D) stimmt!) heutigen Tag belasten und die in vielen Fällen nicht ver- arbeitet werden konnten. Demzufolge ist es auch hier nicht notwendig. Heute erleben wir, gerade auch hier in Berlin am Bei- Mit diesem Gesetz geben wir ein deutliches Signal: spiel des Gefängnisses Hohenschönhausen, wie sich Wir werden die Opfer der DDR nicht vergessen und es ehemalige Stasimitarbeiter organisieren und versuchen, ist auch kein Schlussstrich unter die Aufarbeitung der öffentlichen Druck auszuüben, das Stasiunrecht zu be- DDR-Vergangenheit gezogen, wobei wir deutlich sagen schönigen und bagatellisieren. müssen: Die Regelanfrage und die Aufarbeitung der Die Opfer haben den ersten Entwurf von Koalition DDR-Vergangenheit sind zwei völlig verschiedene und Bündnis 90/Die Grünen zu Recht als problemati- Dinge. Die Aufarbeitung ist wesentlich mehr. sches Signal wahrgenommen, was die weitere Aufarbei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tung der DDR-Geschichte und des erlittenen Unrechts neten der FDP) angeht, Was aber wäre unsere Aufarbeitung, wenn wir über diese (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wichtigen Fragen jetzt den Teppich des Vergessens legen denn durch die dort vorgesehene Regelung wäre eine würden? Das kann nicht sein. Überprüfung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes völlig unpraktikabel geworden. Durch diese Regelung Es ist uns hiermit ein überparteilicher Kompromiss wäre es grundsätzlich nicht mehr möglich gewesen, Sta- gelungen. Auch der Bundesrat wird diesem Gesetz zu- simitarbeitern ihre Tätigkeit für das MfS im Rechtsver- stimmen. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitge- kehr vorzuhalten. Im Ergebnis hätte dies bewirkt, dass wirkt haben. ehemalige Stasimitarbeiter presserechtlich gegen Veröf- Zum Schluss sage ich: Dieses Gesetz ist auch eine fentlichungen ihrer Namen hätten vorgehen können. gute Antwort auf die Dreistigkeit jener, die sich heute ih- Diese Überprüfung im öffentlichen Dienst wäre ohne Er- rer Stasitätigkeit rühmen gebnis geblieben, weil ein tatsächlicher Anhaltspunkt für eine Stasitätigkeit nicht belegbar gewesen wäre. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr gut!) Keine Frage: Die Diskussion um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und des Ministeriums für Staatssicher- und ihre einstigen Opfer verhöhnen, verletzen und de- heit ist auf allen Seiten durch Emotionalität geprägt. Wer mütigen. jetzt über Resozialisierung der Täter, Verhältnismäßig- 6966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Christoph Waitz (A) keit und neue Chancen spricht, sollte Folgendes beach- im öffentlichen Dienst, in öffentlichen Ämtern aus. Des- (C) ten: Die ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für halb hatte der Gesetzgeber sich zu fragen, ob er das will Staatssicherheit begreifen sich auch 17 Jahre nach der oder ob er eine rechtsstaatlich angemessene Nachfolge- Wiedervereinigung überwiegend nicht als Täter. Viele regelung will oder nicht. Es ging und geht um die Zu- glauben, dass sie sich gesetzeskonform verhalten und kunft der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und des weder eine straftrechtliche noch eine moralische Schuld SED-Unrechts, sofern dies den Zugang zur Stasihinter- auf sich geladen haben. lassenschaft betrifft. Aus den Stasiausschüssen der Kommunen wissen wir, Was wollte nun der Gesetzgeber 1991? Was war un- dass sich kaum ein enttarnter IM für seine Tätigkeit bei sere Intention damals? Ich erinnere mich sehr genau da- den Opfern entschuldigt. Ich denke, es wäre ein ermuti- ran, weil ich damals an den Debatten schon teilgenom- gendes und notwendiges Signal, wenn ehemalige Stasi- men habe. Es ging erstens darum, dem Unrechtsregime mitarbeiter den ersten Schritt auf die Opfer zugehen und der Stasi, der SED beizukommen, Aufklärung zu errei- sich öffentlich für das Unrecht entschuldigen würden, chen. Zweitens ging es darum, Personen, die Macht und das sie verursacht und zu verantworten haben. Vertrauen missbraucht haben, nicht wieder in öffentliche Ämter zu lassen, damit sie nicht wieder Ämter, Macht (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem und Vertrauen missbrauchen könnten. Es ging um Eig- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nung genau in diesem sehr präzisen Sinn. Meine Damen und Herren, über eines sind wir Libera- len froh: Mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz in dieser Um dieser doppelten Aufgabe gerecht zu werden, ha- Form können wir die Aufarbeitung dieser Epoche deut- ben wir damals entschieden, dass die Opfer Einsicht in scher Geschichte weiter fördern. Die erweiterten For- die Akten haben sollten, und zwar nicht ohne Konse- schungsmöglichkeiten für Historiker und Journalisten quenzen, sondern gegebenenfalls mit personellen Kon- führen zur Aufklärung weiterer Zusammenhänge der sequenzen. Auch ging es um die Einschränkung von deutschen Nachkriegsgeschichte in Ost und in West. Persönlichkeitsrechten. Um diesem Unrechtsregime bei- zukommen, musste man in gewisser Weise eine rechts- Mit dem nun ausgehandelten Kompromiss haben wir staatliche Ausnahmesituation schaffen. Dessen waren weiterhin die Möglichkeit, dass herausgehobene Persön- wir uns bewusst. Weil wir uns dessen bewusst waren, ha- lichkeiten des öffentlichen Dienstes, Beamte mit Füh- ben wir gesagt: Wir müssen diese Regelung befristen. rungsverantwortung, Richter, Lehrer, Bürgermeister, Die meisten haben damals sogar gemeint, 15 Jahre seien Stadt- und Gemeinderäte, aber auch die Mitarbeiter in eigentlich eine zu lange Zeit, und waren der Hoffnung, den Ämtern für Rehabilitation auf ihre Stasiverstrickung es könne schneller gehen. verdachtsunabhängig überprüft werden können. (B) Die Intention des Gesetzgebers, die ich beschrieben (D) Wir glauben, dass wir damit Schaden von dem Anse- habe, ist, wie ich denke, zu einem guten Teil erfüllt. Die hen öffentlicher Ämter fernhalten und gerade auch die Zahlen und Statistiken der Stasiunterlagenbehörde spre- Interessen der Opfer des DDR-Unrechtsregimes berück- chen eine deutliche Sprache: Etwa 6 Millionen Anträge sichtigt haben. auf Akteneinsicht wurden gestellt, es gab über 3 Millio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen Ersuchen von Behörden, circa 1,7 Millionen Mit- arbeiter des öffentlichen Dienstes wurden überprüft. Das Die FDP-Fraktion wird daher dem Gesetzentwurf in heißt, im Grunde wurden alle ostdeutschen Mitarbeiter der Ihnen heute vorliegenden Fassung zustimmen. des öffentlichen Dienstes mindestens einmal überprüft. Die Zahl der Anträge von Behörden auf Akteneinsicht (Beifall bei der FDP) ist im letzten Jahr rapide gesunken. Diese Aufgabe ist also im Wesentlichen erledigt. Der Verdacht qua ostdeut- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: scher Herkunft ist endgültig überflüssig geworden. Eine Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse, Fortsetzung der allgemeinen Anfragepraxis hätte diskri- SPD-Fraktion. minierende Züge. (Beifall bei der SPD) Wenn heute jemand im öffentlichen Dienst eingestellt wird – das möchte ich betonen –, dann kann man wissen, Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): was diese Person in den letzten 17 Jahren im gemeinsa- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, wir men Deutschland, in einem Rechtsstaat und in einer De- verhandeln heute ein Thema, das noch immer mit großen mokratie, getan hat. Das muss mindestens so viel zählen Emotionen verbunden ist und das beträchtliche, auch wie die Zeit davor, wenn nicht sogar mehr. Das ist jeden- symbolische Bedeutung hat. Die Betroffenen reagieren falls meine Überzeugung. Wenn die Person 25, 30 oder heftig. Sie wehren sich gegen Beschönigung; sie unter- 35 Jahre alt ist, dann darf ihr das damalige jugendliche stellen bei allen Versuchen, die wir unternommen haben, Fehlverhalten ohnehin nicht mehr vorgeworfen werden, dass es sich um einen Schlussstrich handeln könnte. Die selbst nach dem geltenden Gesetz nicht. DDR-Vergangenheit ist im Guten wie im Bösen noch Ganz grundsätzlich möchte ich sagen: Wir sollten an lange nicht erledigt. der rechtsstaatlichen Grundüberzeugung, die übri- Warum brauchen wir eine Novellierung? Nach dem gens auch eine christliche Grundüberzeugung ist, einem geltenden Stasi-Unterlagen-Gesetz läuft mit Ende dieses Menschen sein Fehlverhalten nicht ein Leben lang vor- Jahres die Möglichkeit zur Überprüfung von Personen zuwerfen, festhalten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6967

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten externen Forschung zu erreichen. Da gab es bisher eine (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der grobe Benachteiligung von Forschung außerhalb der Be- LINKEN) hörde. Aus dieser Grundüberzeugung heraus haben wir den von Beides dient unserem gemeinsamen Anliegen: der wis- Thüringen im Bundesrat eingebrachten Antrag, die so senschaftlichen, öffentlichen, politisch-moralischen Auf- genannte Regelüberprüfung unbefristet zu verlängern, arbeitung und Auseinandersetzung mit der Stasi und mit abgelehnt. der DDR-Geschichte. Sie soll weitergehen. Dieses Novel- lierungsgesetz ist alles andere als ein Schlussstrich unter (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Aufarbeitung der SED- und DDR-Vergangenheit. Deshalb war ich der Meinung, dass das Zulassen einer (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Überprüfungsanfrage aus Anlass eines Verdachts eine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- durchaus vernünftige und angemessene Regelung ist. In geordneten der FDP – Carl-Ludwig Thiele den meisten Fällen, die uns in den letzten Jahren aufge- [FDP]: Zum Glück!) regt haben, ist genau dies der Fall gewesen: Indem Opfer oder Wissenschaftler oder Journalisten Einsicht in die Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines halte ich für Akten genommen haben, ist ein Verdacht begründet notwendig und vielleicht gelingt uns das mit diesem No- worden, der dann zu einer Untersuchung geführt hat. vellierungsgesetz, nämlich die Fixierung auf die Stasi zu überwinden. Künftig muss es viel mehr als bisher um ein Wir haben uns am Schluss nach mancherlei Kritik an Gesamtbild des kommunistischen Regimes, der SED- dem allerersten Entwurf auf einen erheblich veränderten Herrschaft gehen. gemeinsamen Gesetzentwurf zur Novellierung des Stasi- Unterlagen-Gesetzes geeinigt. Dieser Gesetzentwurf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bringt zwei wesentliche Änderungen: bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Erstens. Die allgemeine Anfrage, die so genannte Regelanfrage, wird eingestellt. Die Möglichkeit zur Immer wieder haben wir über eine Art negativer Fixie- Akteneinsicht wird auf einen klar definierten Personen- rung auf Spitzelei und Verrat vergessen, wer die Auf- kreis eingeschränkt, nämlich auf Inhaber öffentlicher traggeber des Staatssicherheitsdienstes waren. Positionen, denen die Bürger ein besonderes Vertrauen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie entgegenbringen: Regierungsmitglieder, Abgeordnete, bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- politische Beamte, Leiter von Behörden, Richter, Solda- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) ten höherer Dienstgrade, höhere Sportfunktionäre, Trai- (D) ner, Betreuer. Bei diesem Personenkreis sollen die Bürger Alltag, Widerstand, Zustimmung, Ablehnung, interna- sicher sein, dass sie ihr Vertrauen verdienen, diese es also tionale Zusammenhänge – all das ist wichtig, um ein ei- nicht schon einmal missbraucht haben. Das gilt eben auch nigermaßen realistisches Bild dieser Vergangenheit zu und gerade für den Sport. Junge Sportler und ihre Eltern bekommen und weiterzugeben. müssen darauf vertrauen können, dass Funktionäre, Trai- ner, Ärzte nichts mit dem scheußlichen Dopingsystem der Wichtig ist auch, dass wir endlich ein Gesetz, eine an- DDR zu tun hatten. Da hat der Sport bisherige Versäum- ständige Regelung hinsichtlich der Pensionen für Opfer nisse nachzuarbeiten. von DDR-Unrecht erreichen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die bisherige Regelung soll für diesen Personenkreis für Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass fünf Jahre weiter gelten. Für alle die Personen, die sich wir nach einer intensiven Debatte miteinander zu einem unmittelbar mit Stasiunterlagen, mit Fragen der Aufar- breiten Konsens gekommen sind. Denn das entspricht ei- beitung und der Rehabilitierung befassen, soll die Rege- ner guten Tradition. 1990, 1991 und in den folgenden lung nicht befristet werden; denn diese haben eine ganz Jahren haben wir Regelungen zu den Stasihinterlassen- besondere Vertrauensposition inne. schaften immer in einer großen demokratischen Gemein- schaft erreicht. Das ist und bleibt wichtig, bei allen Mei- (Beifall der Abg. [SPD]) nungsverschiedenheiten und Bewertungsunterschieden, die wir im Einzelnen haben mögen. Dies ist am Schluss, Zweitens. Wir erweitern mit diesem Gesetz den Zu- denke ich, ein vernünftiges Ergebnis, ein vernünftiger gang zu den Stasihinterlassenschaften für Wissenschaft- Kompromiss. ler, Medienvertreter und Journalisten. Der Forschungs- zweck, für den Stasiunterlagen künftig herausgegeben (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP werden können, ist nicht mehr nur die Stasitätigkeit im und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) engeren Sinne, sondern auch die Erforschung der Herr- schaftsmechanismen der DDR, also das politische Sys- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tem insgesamt. Zugleich sollen leichter als bisher auch Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen, Unterlagen mit personenbezogenen Informationen zu- Fraktion Die Linke. gänglich werden. Hier geht es darum, eine Gleichstel- lung zwischen der behördeninternen und der behörden- (Beifall bei der LINKEN) 6968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): fährlichen Körperverletzung oder der schweren Frei- (C) Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die heitsberaubung verjähren nach zehn Jahren. Bei schwe- Vergangenheit unseres 40 Jahre in zwei Gesellschafts- rer Vergewaltigung ist die Tat ebenfalls nach zehn Jahren systeme getrennten und nunmehr seit 16 Jahren verein- verjährt und darf bei einer Einstellung in den öffentli- ten Landes verlangt heute von uns Abgeordneten eine chen Dienst nicht einmal geprüft und ermittelt werden. Auseinandersetzung über den Umgang mit der Ge- Auch dort gibt es immer Betroffene, die diese Verjäh- schichte der DDR und ihrer Aufarbeitung einerseits und rung nicht verstehen. Der Rechtsstaat hat sie dennoch eine humane Gewichtung der Rechtsprinzipien „Verjäh- beschlossen. rung“ und „Verhältnismäßigkeit“ andererseits. Deshalb plädierten wohl auch 1991 Abgeordnete der Für die Fraktion Die Linke steht außer Frage: Die FDP für eine zehnjährige Begrenzung der Gültigkeit des Aufarbeitung soll weitergehen. Opfer der Ausspähung Stasi-Unterlagen-Gesetzes, zumal es hier in der Regel durch das Ministerium für Staatssicherheit müssen auch um Moral und nicht um Straftaten geht. Ich zitiere – mit in Zukunft ein uneingeschränktes Recht auf Einsicht in Erlaubnis der Präsidentin – Burkhard Hirsch aus der ihre Akten haben; damaligen Bundestagsdebatte: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rechtstradition widerspricht, einem Täter über ei- ebenso muss die wissenschaftliche Aufarbeitung garan- nen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzu- tiert sein, sogar erweitert und vertieft werden. halten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbar- (Jörg Tauss [SPD]: Dann können Sie ja mungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sa- zustimmen!) gen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in Die Nutzung der Unterlagen des Ministeriums für diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuch- Staatssicherheit ist auch dann möglich, wenn sie vom tung der Vergangenheit endet, wenn nicht ein indi- Bundesarchiv verwaltet und betreut werden. Die Zusam- viduelles Opfer Klage oder Anklage erhebt. menführung der Akten würde viel größere Effekte für Burkhard Hirsch, wohlgemerkt 1991, FDP. Forschung und Bildung ermöglichen. Außerdem wäre der Grundgedanke der Freiheit von Forschung und Wis- Jetzt sind 15 Jahre vergangen und Willkür herrscht; senschaft in dieser Institution besser verwirklicht als in denn mal werden Verstrickte beschäftigt – zum Beispiel einer Behörde, die beim Bundeskanzleramt angesiedelt in der Birthler-Behörde, wie wir gestern erfahren haben – ist. und mal eben nicht. Vor allem aber geht es mit den Über- (B) prüfungen weiter und weiter, unter anderem von kommu- (D) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Da gehört sie nalen Wahlbeamten, ehrenamtlichen Richtern, Angestell- auch hin!) ten des Deutschen Olympischen Sportbundes, Trainern, Diesen Weg der Aufarbeitung schlagen wir vor, und zwar im Sinne einer (Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP) rückhaltlosen Auseinandersetzung mit den Verbre- Ärzten, Betreuern von Nationalmannschaften, ständigen chen, die im Namen des Sozialismus und Kommu- Stellvertretern von Behördenleitern, Intendanten und so nismus begangen wurden, weiter und so fort. Es wird überprüft ohne Verdacht, und das mindestens noch fünf Jahre. So will es das neue Ge- wie es in der Präambel des PDS-Programms von 2003 setz der Riesenkoalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und heißt. Dabei wird Bündnis 90/Die Grünen. der unumkehrbare Bruch mit der Missachtung von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Demokratie und politischen Freiheitsrechten bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ als das die PDS einigende Fundament beschrieben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Immer wieder werde ich gefragt: Was kann die Links- fraktion im Bundestag überhaupt ausrichten? Kein Schlussstrich also unter die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, kein Stopp für den persönlichen Zu- (Zuruf von der CDU/CSU: Nichts!) gang der Betroffenen zu den Akten, kein Ende der Presse- und Forschungsarbeit. Aber Schluss mit dem Heute sage ich selbstbewusst: wenigstens eine Stimme vielfältigen Verdacht gegen Bürgerinnen und Bürger des gegen die übermächtigen anderen setzen. Wenn es uns Ostens. hier nicht gäbe, dann gäbe es keinerlei Widerspruch ge- gen dieses Gesetz, welches gegen die Prinzipien des (Beifall bei der LINKEN) Rechtsstaates Verjährung und Verhältnismäßigkeit ver- 1991 hat der Bundestag die Dauer der Überprüfung stößt. von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst aus gutem (Widerspruch bei der CDU/CSU) Grund auf 15 Jahre begrenzt. Zum Rechtsstaat gehört der Rechtsgedanke der Verjährung im Strafrecht wie im Es gäbe keinen Entschließungsantrag, der Ja sagt zur Zivilrecht. Die Zeit spielt bei Fragen der Schuld eben Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, aber Nein zur eine entscheidende Rolle. Selbst die Tatbestände der ge- weiteren Überprüfung unzähliger Personengruppen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6969

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) 15 Jahre Überprüfungen sind genug. Die Verlängerung treffen, sondern sich auch ganz öffentlich zu dem beken- (C) über das Jahr 2006 hinaus verstößt gegen den verfas- nen, was sie gemacht haben nach dem Motto: „Das war sungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da doch eigentlich gar nicht so schlimm“, und Geschichts- jede Überprüfung einen gravierenden Eingriff in die Per- klitterung betreiben. sönlichkeitsrechte des Individuums darstellt und dieser Eingriff nach 15 Jahren für Verhaltensweisen, die noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, viel länger zurückliegen können, nicht mehr zu rechtfer- bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- tigen ist. geordneten der SPD) (Monika Grütters [CDU/CSU]: Das ist ein Wenn wir über die Aufarbeitung unserer DDR- Schlag ins Gesicht der Opferverbände!) Geschichte reden, dann dürfen wir sie einerseits nicht denjenigen überlassen, die sich an alte Puddingmarken Vergessen Sie nicht, dass es sich hier nicht einmal um oder „Professor Flimmrich“ erinnern. Wir dürfen sie das Strafrecht handelt. aber noch viel weniger denjenigen überlassen, die sagen: (Michael Brand [CDU/CSU]: Denken Sie mal „Es war ja gar nicht alles schlecht“, wie das übrigens an die Opfer!) neulich Herr Bisky in einer Debatte gemacht hat, in der er über das DDR-Schulsystem geredet hat, ohne klar zu Ich bitte Sie, die Sie die Übermacht in diesem Hause machen, wie viele Kinder aus diesem Schulsystem ent- haben, unseren Entschließungsantrag wenigstens zu be- fernt worden sind und wie viele Kinder keine Chance denken. Dem Novellierungsgesetz werden wir nicht zu- hatten. stimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Danke schön. bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- geordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Es geht noch viel weniger darum, sie denjenigen zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: überlassen, die sagen: „Es gibt nur ein paar überspannte Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-Eck- Opfer; eigentlich war alles nicht so schlimm“, den Stasi- ardt, Bündnis 90/Die Grünen. offizieren, die alles andere tun, als sich zu entschuldigen. Es geht darum, das Herrschaftssystem aufzuarbeiten, Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Mechanismen der Diktatur aufzuzeigen. Es geht NEN): übrigens auch darum, darüber zu diskutieren und sich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! darüber auseinander zu setzen. Dafür ist nach 15 Jahren (B) Liebe Kollegen! Frau Jochimsen, es geht nicht um einen hohe Zeit. Es ist an der Zeit, dass Schülerinnen und (D) Verdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger des Ostens. Schüler ihre Lehrerinnen und Lehrer fragen, Zeit, dass Kinder ihre Eltern fragen: Was hast du eigentlich ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, macht? Wie konnte es sein, dass sich so viele auf Unfrei- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) heit und auf ein autoritäres Regime eingelassen haben? Dafür sitzen hier viel zu viele, die selbst dort gelebt ha- Wie konnte es sein, dass Eltern ihren Kindern gesagt ha- ben. ben – so wie das meine Eltern gemacht haben –: „Das, was wir zu Hause besprechen, wie wir reden und wo- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wer wird denn rüber wir reden, darfst du in der Schule und draußen auf da überprüft? – Uwe Barth [FDP]: Bei Ihnen der Straße unter gar keinen Umständen sagen“? da drüben nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Es geht auch nicht einfach um die Frage, ob Zeit eine bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- wichtige Rolle bei der Schuld spielt. Das ist richtig; des- geordneten der SPD) wegen haben wir unseren Ursprungsgesetzentwurf ent- sprechend formuliert. Um diese Diskussion geht es, wenn wir über die Aufar- beitung der Herrschaftsmechanismen sprechen. Die ent- Es geht aber um die Frage, ob wir über das Einge- scheidende Neuerung in dem vorliegenden Gesetzent- ständnis von Schuld und eine tatsächliche Aufarbeitung wurf ist der Zugang für Forschung und Wissenschaft. reden können. Dazu gehört – Herr Waitz hat es vorhin Ich hoffe sehr, dass mit diesem Zugang eine solche De- gesagt – die Entschuldigung. Darüber muss diskutiert batte ausgelöst wird. werden. Dazu gehört übrigens auch die Frage, ob man aus der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vergangenheit gelernt hat. Ich finde, wir sollten den bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- Menschen ganz offen, ganz sachlich und mit großer Em- geordneten der SPD) pathie zugestehen, dass sie aus ihrer eigenen Biografie, Worum geht es? Es geht um Biografien, die zerstört aus ihrer Vergangenheit, aus den Fehlern, die sie ge- worden sind, um Leben, die infrage gestellt worden sind. macht haben, und auch aus dem, was das System mit ih- Es geht um die Zersetzung von Menschen. Worum geht nen als Person gemacht hat, gelernt haben. Ich glaube, es? Es geht darum, dass es heute Leute gibt, die davon wenn man über Schuld redet, dann geht es gleichzeitig reden, dass es nun genug ist mit der Aufarbeitung. Es um Vergebung. Auch das ist aus meiner Sicht in dieser geht um ehemalige Stasioffiziere, die sich nicht mehr nur Debatte ganz wichtig. 6970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Katrin Göring-Eckardt (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- der SPD) geordneten der SPD) Wenn wir heute über die Regelüberprüfung für be- Ich bin sehr froh, dass meine Kollegin Petra Pau nicht stimmte Personen reden, dann geht es nicht um das Ein- auf dieser Beerdigung gewesen ist. schränken von Persönlichkeitsrechten und um einen Ge- Vielen Dank. neralverdacht. Dann geht es darum, dass jemand, der in der Öffentlichkeit ein bestimmtes Amt innehat und dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vertrauen entgegengebracht werden soll und muss, ganz und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- sicher sagen kann: Ich bin überprüft und ich sage dir: Ich ten der SPD und der FDP) war nicht bei der Staatssicherheit. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie mit Verletzung von Persönlichkeits- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rechten meinen, Frau Jochimsen. Das Wort hat der Landesminister für Soziales, Fami- lie und Gesundheit aus Thüringen, Dr. Klaus Zeh. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ist es nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Es geht um die Personen, auf die es im öffentlichen Leben ankommt. Wenn wir von Behördenleitern reden, dann reden wir zum Beispiel über Schulleiterinnen und Dr. Klaus Zeh, Minister (Thüringen): Schulleiter und auch über deren Stellvertreterinnen und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Stellvertreter. Nicht die jungen Lehrerinnen und Lehrer, Herren! Ich nehme hier heute als Beauftragter des Bun- die in den öffentlichen Dienst übernommen werden, desrates zur Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Stel- müssen überprüft werden; aber diejenigen, die mögli- lung und stehe gleichzeitig auch für die Thüringer Lan- cherweise aufsteigen, sollen schon überprüft werden. Ich desregierung, die diese Novelle im Bundesrat eingebracht glaube, es ist richtig, dass wir in unserem Land keine hat. Schulen haben, die von Menschen geleitet werden, die Vorab möchte ich sagen, dass wir dem gefundenen irgendwann einmal für die Staatssicherheit gearbeitet ha- Kompromiss zustimmen, ben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP) bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- auch wenn wir uns zugegebenermaßen weitergehende (B) geordneten der SPD) (D) Regelungen gewünscht hätten. Dazu gehört auch der Bereich des Sports. Ich bin (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und froh, dass wir diesen Bereich in das Gesetz aufgenom- der FDP) men haben. Ich bin auch froh, dass es eine gute Zusam- menarbeit mit denjenigen gab, die im Sport Verantwor- Zum Beispiel scheint uns die Begrenzung auf fünf Jahre tung übernehmen. eng zu sein; die Einschränkung des Personenkreises ist uns dabei etwas zu stark. Dennoch werde ich im Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rat für eine Mehrheit zu dem Kompromiss werben, ob- sowie bei Abgeordenten der SPD) wohl der Bundesrat mehrheitlich für eine unbegrenzte Fortsetzung der jetzigen Regelung zur Überprüfung auf Es geht um die Mitglieder des Präsidiums, des Vorstands, Stasimitarbeit votiert hat. Ich denke, der Bundesrat wird leitende Angestellte des Deutschen Olympischen Sport- dieser Empfehlung folgen; denn wenn kein Kompromiss bundes, es geht um seine Spitzenverbände, um die Olym- zustande kommt, würde das das Ende der Aufarbeitung piastützpunkte, es geht um die Repräsentanten – auch das bedeuten. Das wäre als Signal nach außen verheerend. ist ganz wichtig – und es geht auch um die Trainer und die verantwortlichen Betreuer. Diese Aufzählung zeigt: Es gibt zwei wichtige Botschaften, die heute vom Bun- Hier muss mit der entsprechenden Überprüfung wirklich destag ausgehen müssen. Erstens. Es gibt keinen Schluss- Ernst gemacht werden. strich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Zweitens. Wir vergessen nicht die Opfer des SED-Un- ten der FDP) rechtsstaates. Bei der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte geht es Zu Punkt eins. Mit dem gefundenen Kompromiss ist um Opfer und um Einzelfälle. Das muss bleiben. Aber erreicht, dass kein Schlussstrich gezogen wird. Dazu tra- wir müssen auch darüber reden, was das System war. gen die gesetzlich fixierten besseren Möglichkeiten für Was sind das übrigens für Leute, die bei der Beerdigung Journalisten und Wissenschaftler im Umgang mit den von Markus Wolf zumindest den Eindruck erweckt ha- Stasiunterlagen bei. Dazu wird aber auch das nunmehr ben, dass sie sich nicht nur zurücksehnen, sondern dass endgültige Streichen des Vorbehalts- und Verwertungs- sie auch nichts gelernt haben und zumindest nur sehr we- verbotes beitragen; denn wenn man, wie ursprünglich nig bereuen? vorgesehen, im Einzelfall nicht mehr über konkrete Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6971

Minister Dr. Klaus Zeh (Thüringen) (A) strickungen reden darf, dann streiten wir uns am Ende Frau Jochimsen, wenn die PDS hier verkündet, dass (C) nur in Gerichten über Formulierungen und Ähnliches, sie für die weitere Aufarbeitung steht, dann sollte sie nicht mehr über Sachverhalte. Wir haben das in der Ver- dem Kompromiss aus meiner Sicht zustimmen. Bei sol- gangenheit oft genug erlebt. chen Beteuerungen aus Richtung PDS fällt mir immer ein Transparent von 1989, aus der Zeit der friedlichen Auch der Wegfall der in der Gesetzesnovelle geplan- Revolution, ein: Vergesst die sieben Geißlein nicht, ten Regelung, nur noch bei konkretem Verdacht eine wenn Herr Gysi zu euch spricht. Überprüfung zu erlauben, ist für uns entscheidend; denn wenn das, was erst im Ergebnis der Prüfung zweifelsfrei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie feststehen kann, Voraussetzung für die Prüfung gewesen des Abg. Markus Meckel [SPD]) wäre, dann wäre das Ende jeglicher Überprüfung einge- Ich zitiere das nur, Sie können selbst Schlussfolgerungen leitet gewesen. daraus ziehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Was die Schlussstrichdebatte angeht, möchte ich ein der FDP) Opfer aus Südthüringen, Herrn Manfred May, zitieren. Mit dem Wegfall der Verdachtsabhängigkeit ist eine Er sagte richtigerweise: Nur die Opfer haben das Recht Überprüfung in der Form, wie wir sie mit der Regel- zu sagen: Schluss. Sie sagen es aber nicht. Es gibt einen überprüfung – so wurde sie bezeichnet – hatten, über- wichtigen Grund dafür: Für die quälenden Erinnerungen haupt erst wieder möglich. Frau Jochimsen, ich kann der Opfer an Verhöre, Einschüchterungen und Zerset- nicht nachvollziehen, weshalb die so genannte Regelan- zungen gibt es keinen Schlussstrich. frage einen Generalverdacht ehemaliger DDR-Bürger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darstellen soll. In Thüringen haben wir in 15 Jahren Pra- xis gegenteilige Erfahrungen gesammelt. Ich bin außerordentlich dankbar dafür – das sage ich abschließend dazu –, dass Herr Thierse auf die Opfer Wir haben in Thüringen alle Mitarbeiter – egal ob aus hingewiesen hat. Der Bundesrat hat eine Gesetzes- Ost oder West – überprüft. Wir haben nicht qua Herkunft novelle zur Verlängerung der Rehabilitierungsfristen um überprüft. Im Rahmen der Rosenholz-Datei ist das erst drei Jahre auf den Weg gebracht. Auch hierfür werbe ich vor kurzem wieder geschehen. um Ihre Zustimmung. Wir müssen uns ferner für die fi- (Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD]) nanzielle Unterstützung der Opfer entscheiden. Leider ist Geld aber nicht alles. Abschließend zitiere ich noch Die Regelanfrage hat es überhaupt erst ermöglicht, einen einmal ein Opfer, Herrn May: Aber ebenso wichtig ist Verdacht – gleich ob Generalverdacht oder konkreter etwas, das mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Was fehlt, ist (B) Verdacht – auszuräumen. Ich will gerade nicht, dass je- eine Würdigung, eine öffentliche Wahrnehmung der (D) mand verdächtigt wird, ohne dass man das überprüfen Schicksale, ein Respekt in der Gesellschaft. könnte. Der Denunzierung wäre aus unserer Sicht Tür und Tor geöffnet. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der SPD und der FDP) FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Die Regelanfrage ist eben keine Verurteilung, sondern nur der Schlüssel zu den Akten, die eine Auskunft er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: möglichen. Die Anfrage ist noch keine Verurteilung. Ich Das Wort hat der Kollege Uwe Barth, FDP-Fraktion. gebe dem Kollegen Vaatz ausdrücklich Recht, der gesagt hat, es gehe hier nicht um Bestrafung, sondern um eine (Beifall bei der FDP) Bewertung der Eignung für einen bestimmten Dienst- posten. Uwe Barth (FDP): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der FDP) „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist aus gutem Grund der erste Satz in unserem Grundgesetz. Die Ich will das an Beispielen verdeutlichen: Mitarbeiter, exponierte Stellung dieses Bekenntnisses zur Men- die zu DDR-Zeiten enteignet haben, sind als Mitarbeiter schenwürde zeigt, dass es der zentrale Punkt des Kon- ungeeignet, wenn es jetzt um die Klärung von Vermö- senses ist, auf dem unsere demokratische, offene und gensansprüchen, zum Beispiel von SED-Opfern, geht. freiheitliche Gesellschaft beruht. Das Bekenntnis zur Wenn sich Opfer und Täter gegenübersitzen – das ist Menschenwürde ist somit sinnstiftend für unsere Gesell- vorgekommen; alles, was vorkommen kann, passiert schaft. auch –, dann ist das unerträglich. Ich halte ehemalige Stasimitarbeiter auch für die Bewachung der Stasiakten Die Würde des Menschen spielte auch für die Stasi in der Birthler-Behörde nicht gerade für geeignet. eine wichtige Rolle. Menschen in ihrer Würde zu verlet- zen und sie ihnen zu rauben, war fester Bestandteil des (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der als tschekistischer Kampf verklärten Vorgehens der FDP) Staatssicherheit. Deshalb hatten wir eine Ausweitung der Personenkreise, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die überprüft werden sollten, gewünscht. der CDU/CSU) 6972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Uwe Barth (A) Die Methoden dazu waren manchmal brutal, manchmal (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (C) subtil, aber fast immer darauf gerichtet, Menschen zu Ja! – Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: verfolgen, einzuschüchtern, zu manipulieren und zu bre- Ist sie nicht!) chen. Die Stasi war mit diesem Vorgehen im Laufe der Zeit nicht nur der wesentliche machterhaltende Faktor Es hat Relevanz für die Betroffenen und für den Staat, für die SED geworden – deswegen ist der Ansatz von der berechtigterweise eine bestimmte Kategorie von Tä- Herrn Kollegen Thierse, das System insgesamt zu be- tern nicht in einer bestimmten Kategorie verantwortli- trachten, sehr richtig und wichtig –, die Stasi war für cher Positionen innerhalb des demokratischen Gemein- viele Bürgerinnen und Bürger der DDR vor allem Schre- wesens dulden will und kann. ckens- und Feindbild zugleich. Sie war es, wovor die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Demonstranten im Herbst 1989 Angst hatten. Trotzdem der CDU/CSU) gingen sie auf die Straße. Die Stasi war es, die Opposi- tionelle und Bürgerrechtler verfolgte, verhaftete, entwür- Der zweite wichtige Punkt ist für uns der Konsens digte und auch folterte, und eben nicht nur ausspähte, aller Demokraten in dieser Frage. Deshalb werden wir wie es in dem Antrag der Linken verantwortungslos ver- diesem Gesetzentwurf zustimmen, auch wenn uns das harmlosend dargestellt wird. Gesetz in einigen Punkten nicht weit genug geht. Herr Minister Zeh, auch mir hat der Thüringer Entwurf besser (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie gefallen. Insbesondere aber darf die Verlängerung um bei Abgeordneten der SPD) fünf Jahre aus unserer Sicht nicht dahin gehend missver- standen werden, dass die Aufarbeitung und die ver- Der Sieg der friedlichen Revolution über das kommunis- dachtsunabhängigen Überprüfungen dann quasi automa- tische System in der DDR war somit ganz wesentlich ein tisch enden. Sieg über das System Staatssicherheit. Dieser Sieg er- möglicht uns heute überhaupt erst die Aufarbeitung und „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In kaum die Debatte darüber. einer Entscheidung dieses Hohen Hauses wird die Zu- stimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundord- Das im ersten Entwurf des Gesetzes vorgesehene nung unseres Vaterlandes so deutlich wie hier – oder ihre Ende der Regelanfrage und das dort vorgesehene Vor- Ablehnung. halte- und Verwerteverbot einer Stasitätigkeit wären in der Tat fatale Schlussstrichsignale gewesen. Überprü- Herzlichen Dank. fungen vom Vorliegen konkreter Verdachtsmomente ab- hängig zu machen hätte bedeutet, das Ergebnis zu einer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Voraussetzung für eine Überprüfung zu machen. (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) Aus diesen Gründen war und ist es für mich ganz un- Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss, SPD- verständlich, dass sich gerade von den Fraktionen der Fraktion. SPD und der CDU/CSU, insbesondere vonseiten der Ab- geordneten aus den neuen Ländern und hier besonders (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der ehemaligen Bürgerrechtler unter ihnen, so wenig Wi- derstand gegen den ersten Entwurf geregt hat, sie gar Jörg Tauss (SPD): Zustimmung signalisierten. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Birthler, (Beifall bei der FDP – Dr. h. c. Wolfgang die ich gerade auf der Tribüne sehe! Thierse [SPD]: Sie waren doch gar nicht bei (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des den Beratungen dabei! – Jörg Tauss [SPD]: Er BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hat Zeitung gelesen und das übernimmt er!) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit Blick auf Sie, Dass sich die Grünen indes diesem Antrag angeschlos- Kollegin Jochimsen – ich will Ihnen nichts unterstellen –, sen haben, zeigt mir, wie dramatisch weit sie sich von ih- möchte ich sagen: Man könnte in einer solchen Debatte ren Wurzeln im Osten entfernt haben. ehrlicher sein. Sie haben gesagt, dass Sie keine Schluss- Für uns, die FDP, sind in dieser Debatte zwei Punkte strichdebatte führen wollen – auf die Schlussstrichde- von zentraler Bedeutung. Zum einen halten wir die wei- batte komme ich gleich noch einmal zu sprechen –, und tere Aufarbeitung des Unrechts der zweiten Diktatur, die vorgeschlagen, die Regeln des Bundesarchivgesetzes an- im 20. Jahrhundert auf deutschem Boden geherrscht hat, zuwenden, bei dem im Hinblick auf Verstorbene und an- nach wie vor für genauso unverzichtbar wie die Aufar- dere Gruppen Schutzfristen von 30 Jahren gelten. Es beitung der ersten Diktatur. wäre ehrlicher gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass Sie die Aufarbeitung der Vergangenheit einstellen wollen; (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ein Blick in das Gesetz würde in diesem Fall die Rechts- der CDU/CSU) findung erleichtern. Das fand ich nicht in Ordnung. Inso- fern verfolgen Sie mit Ihrem Antrag tatsächlich das Ziel, Ein immanenter Bestandteil dieser Aufarbeitung ist nach einen Schlussstrich zu ziehen. Das wollen wir nicht tun. unserer festen Überzeugung die Suche nach Tätern und Opfern. Das hat in aller Regel keine strafrechtliche Re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ levanz. Deswegen ist die Debatte über Verjährungsfris- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ten hier fehl am Platze. CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6973

Jörg Tauss (A) Ich freue mich in der Tat, dass wir es doch noch ge- Aus diesem Grunde war es richtig, auch über die Re- (C) schafft haben, im Deutschen Bundestag zu einem breiten gelanfrage zu diskutieren. Das war ursprünglich auch Ihr parlamentarischen Konsens in dieser Frage zu kom- Wille. Ich weise an dieser Stelle nur darauf hin, dass sich men. Ich freue mich auch, dass ich als jemand, der be- Burkhard Hirsch für eine Verjährungsfrist von zehn Jah- kanntermaßen aus dem Westen der Republik stammt, die ren ausgesprochen hat. Gelegenheit habe, zu diesem Thema zu sprechen. Ich (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt glaube, das ist ein Signal, dass es sich nicht um ein ost- nennen Sie aber auch einmal ein paar Gemein- spezifisches Thema handelt, sondern dass die Aufarbei- samkeiten!) tung der Geschichte eine gesamtgesellschaftliche Auf- gabe ist, der wir uns alle zu stellen haben. – Ja. Aber wenn man über Gemeinsamkeiten redet, dann sollte man diese Debatte auch dazu nutzen, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Uwe Barth [FDP]: Noch einmal die Unter- schiede herauszustellen!) Uns geht es in unserem Gesetzentwurf darum, sicher- zustellen, dass die wissenschaftliche, mediale und ge- deutlich zu machen, dass ein Teil der Unterstellungen, sellschaftliche Aufarbeitung der Herrschaftsmechanis- die man denjenigen gegenüber geäußert hat, die an die- men dieser kommunistischen Diktatur, die unbestritten sem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, schlichtweg auch in Zukunft notwendig ist, weiterhin erfolgt. falsch ist, lieber Kollege Barth und lieber Kollege Waitz. Deswegen weise ich diese Unterstellungen zurück. Sie, Kollege Börnsen, haben in Ihrer heutigen Presse- mitteilung die verdienstvolle Bundesratsinitiative des Jetzt komme ich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu Landes Thüringen, durch die jegliche Schlussstrich- sprechen. Was erreichen wir durch diesen Gesetzent- mentalität unterbunden worden sei, gewürdigt. Ich bin wurf? Eine wichtige Änderung haben wir in § 32 des froh, dass diese Aussage heute nicht wiederholt worden Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorgenommen. Unter be- ist. Dennoch sage ich als jemand, der unter den Gesichts- stimmten Voraussetzungen können wir nun im Interesse punkten der geisteswissenschaftlichen und der histori- der wissenschaftlichen Arbeit an Hochschulen und ande- schen Forschung sehr intensiv an diesem Gesetzentwurf ren Forschungseinrichtungen die Einsicht in unanony- mitgewirkt hat – das war meine wesentliche Rolle –, in misierte Originalunterlagen ermöglichen. Selbstver- aller Deutlichkeit, dass der Vorwurf im Zusammenhang ständlich haben die Persönlichkeitsrechte Bestand; das mit der Schlussstrichdebatte uns gegenüber ungerecht- ist völlig klar. Sie standen für uns sogar im Mittelpunkt. fertigt und letztlich verletzend ist. Aus diesem Grunde haben wir an einigen Stellen Siche- rungsvorkehrungen eingebaut und Abwägungen vorge- (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nommen. (D) Ich weise diesen Vorwurf, auch wenn er heute nicht wie- Es wurde bereits darauf hingewiesen, was in Hohen- derholt worden ist, zurück. schönhausen geschehen ist. Auch wenn dieses Ereignis nichts mit dem Gegenstand der heutigen Debatte und (Beifall bei der SPD) nichts mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu tun hat, Worum ging es uns? Es ging darum, ein Gesetz zu ist es richtig, dass wir über diese kommunistische Dikta- verhindern, das dazu geführt hätte – das war der Wille tur reden müssen. Dabei sollten wir ehrlich sein. Das gilt des damaligen Gesetzgebers –, dass ein Schlussstrich ge- auch für die Diskussion über frühere Mitarbeiter, die zogen worden wäre. Wir haben gesagt: Es gibt noch viel momentan geführt wird. Kollege Vaatz, als ehemaliger zu tun. Die entsprechenden Anfragen sind bereits ange- Minister des Landes Sachsen wissen Sie besser als bei- sprochen worden. Dann haben wir uns überlegt: Wo spielsweise ich, wie die Situation damals war. Auch Sie könnten Probleme bestehen? Die Anfragen, die zurück- haben damals gesagt, es gibt gar keine andere Möglich- gegangen sind, sind festgestellt worden. Wir haben uns keit, als auch Menschen, die einschlägig tätig waren, zu ganz eindeutig dazu bekannt: Unser Ziel ist, die wissen- übernehmen; wir hatten hier ja in der Tat einiges an Pro- schaftliche, zeitgeschichtliche und mediale Aufarbeitung blemen. Hier wird jetzt sehr aufgeregt diskutiert und die der Herrschaftsstrukturen weiterhin zu ermöglichen und Bundesbeauftragte, Frau Birthler, ist öffentlich angegrif- für Forschung und Medien freien Zugang zu gewährleis- fen worden. Deshalb will ich an dieser Stelle in aller ten. All diejenigen, die auf polemische Art und Weise Deutlichkeit festhalten: Die heutige Bundesbeauftragte eine Schlussstrichdebatte geführt haben, bitte ich, das ist nicht die richtige Ansprechpartnerin für personalpoli- Ergebnis, zu dem sie gekommen sind, zu revidieren. tische Entscheidungen der 90er-Jahre. Die Regelanfrage, die Sie, lieber Herr Minister, an- Was haben wir in diesem Gesetzentwurf sonst noch gesprochen haben, hat nicht zu den Erkenntnissen ge- vorgesehen? Wir gewährleisten den Zugang für Wis- führt, die Sie nannten. Die Erkenntnisse der letzten Zeit senschaft und Forschung, insbesondere für die zeitge- sind vielmehr das Ergebnis der Akteneinsicht durch Be- schichtliche Forschung. Wir haben bei der Tiefe des Ein- troffene und durch die Wissenschaft und das Resultat der griffs in Persönlichkeitsrechte die notwendige Trennung Medienarbeit, die dazu beigetragen hat, dass Täter iden- vorgenommen und ganz klare wissenschaftsspezifische tifiziert werden konnten. Sonderregelungen getroffen. Die Bundesbeauftragte hat im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit von Belangen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht immer einfache Abwägungen zu treffen. So dürfen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unterlagen nur dann zur Verfügung gestellt werden, 6974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Jörg Tauss (A) wenn ganz klar ein öffentliches Interesse an der Aufar- (Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Damals ja! – (C) beitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes be- Monika Griefahn [SPD]: Aber jetzt nicht steht und dem auch Rechnung getragen wird. Die Ein- mehr!) sicht in Originalunterlagen wird nur dann möglich sein, wenn dies für die Durchführung des Forschungsvorha- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bens erforderlich ist. Weiterhin haben ausschließlich Herr Kollege Tauss. Mitarbeiter der Behörde Zugang zu den Akten.

Das eine oder andere Verwaltungsgericht hat in der Jörg Tauss (SPD): Vergangenheit nicht in genügender Form zur Kenntnis Kollege Vaatz, ich wollte Ihnen keineswegs etwas un- genommen – diesen Grundsatz hat der historische Ge- terstellen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man da- setzgeber schon damals bei der Verabschiedung des Ge- mals – da ist man als Wessi eher ein Außenstehender – setzes in der Volkskammer und im Bundestag verfolgt –, mit Problemen zu tun hatte. Es gab damals einen Unter- dass zwischen dem Zugang für Wissenschaft und For- suchungsausschuss im Lande Sachsen. Ich finde es sehr schung und dem Zugang für Medien nicht unterschie- ehrlich, dass Sie damals gesagt haben, dass bei der Ent- den wird. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt und soll fernung von Stasimitarbeitern aus der öffentlichen Ver- grundsätzlich so bleiben. Eine Ausnahme davon, die mit waltung gewisse Grenzen gesetzt gewesen seien. dieser Novellierung vorgesehen ist, habe ich angespro- chen. Das war der Sachverhalt. Wir sollten die Grenzen, die Nochmals: Es war und ist das erklärte Ziel des Ge- wir damals festgestellt haben, heute, im Jahre 2006, setzgebers, die wissenschaftliche, zeitgeschichtliche und nicht zum Gegenstand aufgeregter Debatten machen. Ich mediale Aufarbeitung der Herrschaftsstrukturen dieses glaube, in diesem Punkt sind wir uns nicht uneinig. Unrechtsstaates möglich zu machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der PDS, mit Ihrem Versuch, das mit dem Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Hinweis auf das Archivgesetz zu verhindern, haben Sie Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolf- sich ein Stück weit entlarvt. Ich bin froh, dass wir einen gang Börnsen, CDU/CSU-Fraktion. Kompromiss gefunden haben, und hoffe, dass die De- batte über die Novellierung des Gesetzes, die leider po- (Beifall bei der CDU/CSU) lemisch geworden ist, ein Ende findet und wir mit dem heutigen Tag eine klare Gesetzgebung haben, die dem Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Anliegen der Betroffenen, aber auch dem Anliegen der Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Aufarbeitung gerecht wird. (B) (Jörg Tauss [SPD]: Die Internationale usw.!) (D) Recht herzlichen Dank. Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Nein, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht zum letzten Gefecht wird heute geblasen. Mit einer der CDU/CSU) breiten parlamentarischen Mehrheit verabschiedet der Deutsche Bundestag heute mit dem neu gefassten Stasi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Unterlagen-Gesetz kein kaltes Schlussstrichgesetz. Die Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Aufarbeitung der roten DDR-Diktatur wird fortgesetzt, Kollegen Vaatz. dessen Herrschaftsmechanismen werden demaskiert und Honecker und Co. wird ebenso ein später Sieg verwehrt Arnold Vaatz (CDU/CSU): wie den PDS-Altkadern. Sehr geehrter Herr Kollege Tauss, Sie haben auf die Diese Botschaft wird den Altbarden Wolf Biermann Kündigungspraxis im öffentlichen Dienst im damaligen besonders erfreuen. Er ist ein couragierter, großartiger sächsischen Umweltministerium hingewiesen. Künstler und war gestern Gast des Deutschen Bundesta- (Jörg Tauss [SPD]: Ich habe nur auf die Pro- ges. Er erzählte, dass ihn ein Stasispitzel, eine schöne bleme hingewiesen!) Schauspielerin, ins Bett locken sollte. Ich möchte dazu Folgendes ergänzen: Was Sie gesagt (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Oh!) haben, trifft in der Tat auf viele Mitarbeiter aus dem so genannten Staatsapparat der DDR zu. Zu meiner Zeit als Doch die Aktion der Geheimpolizei erwies sich als Fehl- Minister war es so, dass wir, wenn sich Anhaltspunkte schlag. Die Schöne verliebte sich in den Liedermacher. ergeben haben, dass jemand mit für die Staatssicherheit Die Informationsausbeute blieb daher mager, doch die gearbeitet hatte, eine Einzelfallprüfung durchgeführt und Biermann-Stasi-Balladen-Akte wurde trotzdem aufge- die Schwere der Verstrickung abgewogen haben. Wenn bläht. Mit dem, was amüsant klingt, verfolgte man je- sich herausstellte, dass eine Fortführung der Beschäfti- doch ein menschenverachtendes Ziel. gung des bzw. der Betreffenden unzumutbar war, haben Die Koalition handelt konsequent. Für uns als Christ- wir in der Regel erfolgreich kündigen können. Das heißt, demokraten gilt: Abgelegt, abgehakt, vergessen gibt es es ist sehr wohl möglich, dass sich der öffentliche Dienst nicht. von Personen, die aufgrund ihrer Mitarbeit bei der Staatssicherheit belastet sind, trennt, wenn dies als erfor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- derlich empfunden wird. neten der SPD – Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6975

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) Die Regelanfrage für die Repräsentanten unseres Staa- tionen fern zu halten. Diese gründliche Aufklärung ist (C) tes und unserer Gesellschaft bleibt bestehen. Bis hin zum insofern eine Erfolgsgeschichte – trotz der Ungereimt- stellvertretenden Behörden- und Schulleiter gilt das, was heiten in der Behörde wegen der Anstellung von über war. Das umfasst auch den Sport. Für eine Überprüfung 50 ehemals hauptamtlichen Mitarbeitern des Staats- ist kein Anfangsverdacht notwendig. Arbeits- und sicherheitsdienstes. Hier müssen die Fakten auf den dienstrechtliche Folgen bei einer nachgewiesenen Spit- Tisch. zeltätigkeit für den Staatssicherheitsdienst werden durch Doch die jüngst zur Nutzung freigegebene Rosen- kein Vorhalteverbot mehr verhindert. Die Opfer und holzdatei macht deutlich, dass es immer noch brisante nicht die Täter bleiben im Blickpunkt des Gesetzgebers. Fälle gibt. Unser Aufklärungswille darf nicht erlahmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das gilt auch für die 16 000 noch nicht ausgewerteten der SPD) Schnipselsäcke mit über 45 Millionen Blatt. Sie enthal- ten nach Auffassung von Fachkennern tief greifende In- Das ist ganz im Sinne von Wolf Biermann, der in seiner formationen über das böse Spiel der Staatssicherheits- Stasi-Ballade beklagt: dienste in Ost und West. Dem müssen wir weiter … ich sitz hier fest, nachgehen. darf nach Ost nicht, nicht nach West, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- darf nicht singen, darf nicht schrein, neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- darf nicht, was ich bin, auch sein … SES 90/DIE GRÜNEN) Die Befristung auf fünf Jahre ist verfassungsrechtlich Im ersten Halbjahr 2006 gingen 48 000 Anträge auf und aus Gründen des Datenschutzes geboten. Sie gilt Akteneinsicht bei der Behörde ein. Das sind 19 Prozent nicht für Bedienstete der Behörde und nicht für Beschäf- mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Nicht zuletzt tigte im Rahmen der Rehabilitation. der eindrucksvolle Film „Das Leben der Anderen“ hat Durch das neue Gesetz wird notwendigerweise eine neue Nachfragewelle bewirkt. gleichzeitig für eine größere Transparenz der Behörde Die Geheimpolizei der SED umfasste 91 000 haupt- gesorgt. Der Beirat erhält mehr Befugnisse. Er kann sich amtliche und über 100 000 inoffizielle Mitarbeiter. Das direkt an den Deutschen Bundestag wenden. Die For- jetzt siebte Stasi-Unterlagen-Gesetz differenziert bei den schungsmöglichkeiten für externe Wissenschaftler Beschuldigten. Es nimmt nach 15 Jahren Rücksicht auf werden erweitert. Der Personenschutz wird wie bisher die kleinen Täter und baut einem Generalverdacht gegen gewährleistet. Der Kernbereich menschlicher Lebens- DDR-Bürger vor. Damit dient es auch dem Rechtsfrie- führung wird nicht angetastet. den in unserem Land. Die moralische Verantwortung für (B) (D) Wir sollten nicht vergessen: Auch Stasispitzel haben uns alle – gleich aus welcher Region wir kommen – skrupellos manipuliert und in den Akten gelogen, dass bleibt, die Opfer nicht zu vergessen. Die Diktatur gilt es sich die Balken bogen. Die politisch-historische Aufar- zu demaskieren und unsere Demokratie zu stärken. beitung des Unrechtregimes wird ausgedehnt; denn For- schung kennt keine Verjährung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dazu gehört auch, dass wir das Thema der Opferpension Der Pressezugang wird nicht geändert; er bleibt frei. endlich zu einem guten Ende und Ergebnis führen. Die Drahtzieher der DDR-Diktatur und nicht der kleine Stasispitzel gehören ins Zentrum der Untersuchungen: Wolf Biermann – damit will ich schließen – hat über die, die für den Mauerbau, den Bruch der Menschen- die Hoffnung des Kommunismus auf eine Gesellschaft, rechte, die Todesschüsse und das unheilvolle Wirken der in der alle Menschen Brüder sind, gesagt: Geheimpolizei verantwortlich waren. Ich bin der Meinung, dass niemand gefährlicher (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- war in der Geschichte der Menschheit als die, die neten der SPD und der FDP) das Paradies auf Erden erzwingen wollten. Auch ich komme noch einmal auf Markus Wolf zu- Die haben uns in Höllen geführt, die schlimmer rück. Eine Heldenverehrung, wie sie der verstorbene sind als alles, was wir bisher kannten. Markus Wolf, Boss der Geheimpolizei, in diesen Tagen Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. unter anderem durch den russischen Botschafter erfahren hat, ist völlig fehl am Platz. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der NISSES 90/DIE GRÜNEN) FDP sowie der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Auftraggeber für Verbrechen gegen die Menschlichkeit Ich schließe die Aussprache. gehören ohne Wenn und Aber kaltgestellt. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fast 5 Millionen Anfragen hat die Behörde seit ihrem Fraktionen der CDU/CSU, SPD und des Bündnisses 90/ Bestehen bearbeitet. Es gelang, Tausende von Zuträgern Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des DDR-Repressionsapparates von öffentlichen Funk- des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, Drucksache 16/2969. Zu 6976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) dieser Abstimmung liegen mir zwei schriftliche Erklä- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) rungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Kolle- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die gen Koppelin und Parr vor.1) FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- derspruch. Dann ist das so beschlossen. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3638, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Detlef Parr, FDP-Fraktion. men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der (Beifall bei der FDP) Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Detlef Parr (FDP): der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Glücks- und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke spiel kann süchtig machen, richtig. Wir müssen sicher- angenommen. lich ein Augenmerk auf die Suchtprävention und die Bekämpfung von Spielsucht richten, wenn wir über Dritte Beratung eine Neuordnung des Glücksspiel- und Sportwetten- marktes sprechen. Das gilt für staatliche und private An- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem bieter gleichermaßen. Das gilt auch für die FDP. Ich Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – möchte mich als sucht- und drogenpolitischer Sprecher Wer stimmt dagegen? – meiner Fraktion zu dieser Zielrichtung eindeutig beken- nen und mich insbesondere für den Schutz unserer Ju- (Jörg Tauss [SPD]: Sie stimmen hoffentlich gend aussprechen. aus anderen Motiven dagegen, Herr Koppe- lin!) Aber Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit demselben (Dr. Peter Danckert [SPD]: Aber?) Stimmergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. geht es bei der Frage nach der Aufrechterhaltung oder Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- eher nach der Errichtung eines staatlichen Monopols an- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- stelle einer Öffnung des Sportwettenmarktes für private che 16/3666. Wer stimmt für diesen Entschließungs- Unternehmen wirklich in der Hauptsache um Spiel- antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der sucht? Ein Blick in unsere Geschichte belehrt uns eines Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Frak- Besseren. Wetten gehören seit Jahrhunderten zum Alltag (B) tion Die Linke vom Rest des Hauses abgelehnt. unseres Zusammenlebens. Seit Jahrhunderten hat der (D) Staat nichts anderes im Sinn, als über Wettangebote das Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird vorgeschlagen, Staatssäckel zu füllen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/3653 zur feder- (Beifall bei der FDP) führenden Beratung an den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den genauso wie unsere Bundesländer seit Jahren einen gro- Sportausschuss, den Rechtsausschuss sowie an den Aus- ßen Teil der Erträge einstreichen, um staatliche Aufga- schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu über- ben zu finanzieren. Seien wir ehrlich: Bis zum Urteil des weisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist Bundesverfassungsgerichtes hat das Thema Eindäm- nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. mung der Spielsucht so gut wie keine Rolle gespielt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: (Dr. Peter Danckert [SPD]: Doch, wir haben das im Ausschuss behandelt!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Joachim Günther (Plauen), Jens Acker- In Wahrheit stecken knallharte fiskalische Interessen mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion hinter dem voreiligen Bekenntnis zum Monopol, lieber der FDP Kollege Danckert. Die Bundesländer erhoffen sich eine Erhöhung der Einnahmen aus Oddset, die seit etlichen Liberalisierung des Sportwettenmarkts in Jahren rückläufig sind, und eine Rückkehr der Wetter Deutschland einleiten und europakonformes nach einem gesetzlichen Verbot anderer Anbieter. Konzessionsmodell vorlegen Das ist ein Trugschluss und ein gefährlicher Bume- – Drucksache 16/3506 – rang, der letztendlich gerade die Sportförderung emp- findlich treffen wird. Individuelle Wettgewohnheiten Überweisungsvorschlag: lassen sich nicht durch Festigung staatlicher Monopole Sportausschuss (f) Innenausschuss auf Knopfdruck wieder verändern. Das Beispiel Groß- Rechtsausschuss britannien zeigt, dass gerade der umgekehrte Weg einer Finanzausschuss pfiffigen Steuer- und Abgabenpolitik Anbieter und Wet- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ter sogar wieder ins Heimatland zurückholt. Denken wir Ausschuss für Gesundheit bei der Wettsteuer nur an die Wirkung der Umstellung der Bemessungsgrundlage vom Wetteinsatz auf den 1) Anlagen 2 und 3 Bruttospielertrag! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6977

Detlef Parr (A) In 14 Tagen wollen sich die Ministerpräsidenten der Anzahl der Konzessionen soll beschränkt und die Er- (C) Bundesländer selbst ein Weihnachtsgeschenk machen. teilung angemessen befristet werden. Sollte dies aus Sie wollen einen neuen Staatsvertrag unterzeichnen. rechtlichen Gründen nicht möglich sein, ist eine gewer- berechtliche Genehmigungspflicht vorzusehen. Eine ( [SPD]: Mit Unterstützung der weitere Alternative wäre die Trennung des Sportwetten- FDP!) marktes vom übrigen Glücksspielmarkt in einem dualen Sie werden sich damit eher ein Kuckucksei unter den System. Dann wäre der Bund wie bei den Pferdewetten Weihnachtsbaum legen. zuständig. (Beifall bei der FDP) Die EU-Kommission hat in diesen Fragen Vertrags- verletzungsverfahren gegen zehn europäische Länder Das haben mittlerweile auch viele Politiker länderüber- angestrengt. Wir diskutieren heute also nicht allein über greifend erkannt. Die FDP-Fraktionsvorsitzendenkonfe- ein nationales Problem. Deshalb fordert die FDP von der renz fordert einstimmig, den Beschluss über den vorlie- Bundesregierung, die EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen, genden Entwurf von der Tagesordnung des 13. Dezember auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Strukturen zu abzusetzen. kommen. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Dann macht doch (Beifall bei der FDP) mal was!) Eine Sportdirektorenkonferenz im Februar und eine in- Auch das eine oder andere prominente CDU- und SPD- formelle Sportministerkonferenz im März bieten sich als Mitglied des Sportausschusses hat nachdrücklich vor ei- nächste Gelegenheit an. Ohne Europa wird es keine mit- nem überstürzten Festhalten am Monopol gewarnt. tel- bis langfristige Lösung der Sportwettenprobleme ge- DFB-Präsident Theo Zwanziger weist auf die Gefahr zü- ben. gelloser Wettveranstaltungen und von Manipulationen im Sportbetrieb hin, wenn sich der Staatsvertrag als Wir Deutschen sollten uns zum Vorreiter einer intelli- nicht verfassungskonform erweisen sollte. Viele Rechts- genten Neuordnung machen, die Spielsucht unter Kon- experten erkennen das Risiko eines dann rechtsfreien trolle hält, Wettangebote und Wetter nicht ins Ausland Raumes. vertreibt und eine – Zitat aus dem Bericht der Minister- präsidentenkommission – „bislang den Sportveranstal- Es wird interessant, wenn man nach Schleswig-Hol- tern nicht zugängliche Wertschöpfung erschließt“. stein schaut. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsi- dent Carstensen hat gestern vor dem Landtag erklärt, er Ende gut, alles gut? Darauf hoffen wir und setzen auf stimme dem Entwurf nicht zu. Er stützt sich dabei auf eine sachlichere Debatte als beim ersten Antrag, den wir (B) einen einstimmigen Beschluss ausnahmslos aller Land- in dieser Sache im Bundestag gestellt haben. (D) tagsfraktionen. Diese haben nämlich – genauso wie die FDP-Bundestagsfraktion – Empfehlungen der Kommis- Herzlichen Dank. sion „Sportwetten“ vom 22. Februar 2006 entdeckt, die (Beifall bei der FDP) – man höre und staune – von der Ministerpräsidenten- konferenz selbst eingesetzt worden ist. Auch der dama- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lige Deutsche Sportbund, der DFB, und die Deutsche Nächster Redner ist der Kollege Bernd Heynemann, Fußball-Liga waren daran beteiligt. Das Ergebnis dieser CDU/CSU-Fraktion. Kommission können Sie weitgehend in unserem Antrag nachlesen. Besser und konkreter kann man den Abschied (Beifall bei der CDU/CSU) vom staatlichen Monopol der Sportwetten nicht formu- lieren. Bernd Heynemann (CDU/CSU): (Beifall bei der FDP) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Liberalisierung des Sportwettenmarktes Mit uns gehen die Norddeutschen davon aus, dass auf hätte nicht passender heute platziert werden können. Vor dieser Grundlage die erforderliche Einigung erzielt wer- zwei Tagen befasste sich der Bundesgerichtshof mit ei- den kann, insbesondere auch deshalb, weil der Lotterie- nem Vorgang vom Januar 2005, der sehr stark die Sport- betrieb völlig unverändert bleiben soll. und besonders die Fußballwelt erschütterte. Am 21. Ja- (Dagmar Freitag [SPD]: Was macht Nord- nuar des letzten Jahres wurde bekannt, dass der Schieds- rhein-Westfalen?) richter Hoyzer gemeinsam mit einem Wettlokalbesitzer aus Berlin mehrere Spiele manipuliert hat. Nach diesen Vorstellungen muss der nationale Wett- markt durch einen nachhaltig globalisierungsfesten (Zuruf von der FDP: Sauerei!) staatlichen Ordnungsrahmen im Vergleich zum Ausland Auch wenn das abschließende Urteil erst im Dezember attraktiv bleiben können. Eine unabhängige Kontroll- gesprochen wird, so ist schon jetzt großes Unverständnis instanz ähnlich wie in Großbritannien erteilt die Kon- zu vernehmen, dass es womöglich einen Freispruch ge- zession für diejenigen, die gewerbsmäßig Wetten auf ben könnte. Sportereignisse veranstalten, vermitteln oder anbieten wollen, nach den in unserem Antrag nachlesbaren Krite- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rien. Aspekten des Vergaberechts ist Rechnung zu tragen NEN]: So ist es! Freispruch für das ganze Sys- und gegebenenfalls ist europaweit auszuschreiben. Die tem!) 6978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Bernd Heynemann (A) Wir wissen, dass sich gerade im Bereich des Glücks- – Peter, du lachst, aber das gibt es noch. – Jetzt gibt es (C) spieles die Begleitkriminalität immer breiter macht. dort einen Rasenplatz. Hätte dafür auch ein Lottoanbie- Aber wenn sich juristische Winkel- und Klimmzüge der- ter gesorgt? maßen darstellen wie in diesem Fall, dann wird vieles unglaubwürdig. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Nein, nie!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Wir dürfen hierbei nicht vergessen, dass Sportförde- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rung und Sportsponsoring zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind. Das Ergebnis von Sportförderung ist unter Hier ist also eine Grauzone. Ich glaube, wir müssen uns anderem der angesprochene Rasenplatz. Beim Sport- keine Grauzonen schaffen. sponsoring geht es dagegen um die Leistungsanbietung Wir als CDU/CSU-Fraktion sind dafür, das Monopol der großen Vereine in der Bundesliga und in Europa. für Lotterie und Sportwetten beizubehalten. Wir wissen, Wenn ein Sponsor mit den Leistungen eines Bundes- dass eine Liberalisierung des Sportwettenmarktes ange- ligisten nicht zufrieden ist, so kann es passieren, dass er strebt wird. Der Sportwettenmarkt, der circa 8 Prozent sich und sein Geld zurückzieht. der gesamten Lotto- und Totoumsätze ausmacht, wäre In diesem Zusammenhang ist es auch eine Wahrneh- die Öffnung einer Tür, die man nicht wieder schließen mungs- und werbestrategische Frage, wie sich die kann. Öffentlichkeit im Einzelfall verhält. Der Deutsche Lotto- Natürlich gibt es dazu viel Pro und Kontra. Erst in und Totoblock gibt pro Jahr mehr als 500 Millionen dieser Woche habe ich von einer Lotto-Toto-GmbH ei- Euro allein für die Förderung des Breitensports aus; aber nen Brief bekommen, in dem dazu aufgefordert wird, die Wahrnehmung ist sehr gering, teilweise lokal be- dass Monopol des Glückspielbereiches beizubehalten. grenzt. Bei den privaten Sportwettenanbietern ist die Das soll natürlich auch Arbeitsplätze sichern. Dazu – das Wahrnehmung – denken Sie an das Hickhack um den ist bereits ausgeführt worden – werden am 13. Dezember Brustsponsor von Werder Bremen; der Name dieses die Ministerpräsidenten eine Entscheidung treffen: ob Sponsors hat drei- oder viermal gewechselt – natürlich das Monopol am Lotterie- und Sportwettenmarkt erhal- sehr ausgeprägt. ten bleibt bzw. für einige Zeit festgeschrieben wird. (Detlef Parr [FDP]: Weil unsere Rechtspre- Natürlich hat die EU die Wettbewerbsfreiheit auch für chung so verheerend ist! Weil Grauzonen da den Glückspielmarkt gefordert. Aber wir alle wissen, sind, deswegen!) dass Glücksspiel als Angebot kein Produkt als solches Die Sponsorentätigkeit hält sich finanziell dagegen im darstellt. Auf jeden Fall würde eine Liberalisierung, das mittleren Bereich. Private Anbieter bieten keine Sport- (B) heißt eine Freigabe die Spielsucht noch weiter fördern förderung, sondern gewinnorientiertes Sponsoring an. (D) und unkontrolliert ausweiten. Ich glaube, das kann nicht im Gemeininteresse sein. (Detlef Parr [FDP]: Das wollen wir gerade Uns geht es ganz klar um eine Suchtbekämpfung und nicht!) um Planmäßigkeit im Lotterie- und Sportwettenbereich. Die Abschaffung des Monopols hat natürlich auch Am 20. November fand hier in Berlin ein Kolloquium viele Befürworter. Dies zeigen auch großflächige Anzei- zur Spielsuchtprävention statt. Zusammen mit der Dro- gen, wie die aus dem „Kicker“ vom 27. November: „Ab- genbeauftragten der Bundesregierung befasste sich die- pfiff für das Monopol“. ses Kolloquium – es war nicht nur gut besucht, sondern auch gut besetzt – mit der Spielsucht als Sucht der post- (Beifall bei der FDP) modernen Gesellschaft und auch mit den gesundheitsbe- Als Partner im Bündnis gegen das Wettmonopol haben zogenen Aspekten. Im ersten Teil, in dem es um ord- unterzeichnet: Eurosport, Premiere, einige Bundes- nungspolitische Aspekte ging, waren auch einige ligisten aus den Bereichen Fußball und Handball und na- Kollegen aus dem Bundestag bzw. aus dem Sportaus- türlich einige Wettanbieter. schuss anwesend. Die vorherrschende Meinung, beson- ders der Koalitionsvertreter, war, dass das Monopol un- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bedingt aufrechterhalten werden muss. NEN]: Und die FDP!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – In diesem Fall nicht. der SPD) Fakt ist, dass jährlich circa 3,3 Milliarden Euro aus Das Bundesverfassungsgericht hat vor kurzem nach dem Lotto- und aus dem Sportwettenbereich in die ein- einer Klage von privaten Wettanbietern entschieden, zelnen Bereiche des Sportes, der Wohlfahrts- und Denk- dass das Lottomonopol nicht verfassungsgemäß ist. malspflege, der Kultur und anderswohin fließen. Ich Gleichzeitig hat es festgestellt, dass eine Monopollösung konnte mich in meiner Heimatstadt Magdeburg persön- verfassungsrechtlich zulässig ist, wenn sie der Suchtprä- lich davon überzeugen, wie glücklich ein Sportverein ist, vention dient. Die Ziele einer zukünftigen Ordnung des der – natürlich dank Kofinanzierung und Lottomitteln – Glücksspielmarktes in Deutschland sollten daher auf je- einen neuen Kunstrasen einweihen konnte. Über den Fall sein: der präventive Schutz der Spieler vor den 50 Jahre wurde dort auf Bockasche gespielt. Gefahren der Spielsucht, die Lenkung des Spielbetriebs (Heiterkeit des Abg. Dr. Peter Danckert in geordneten und kontrollierten Bahnen, die Vermei- [SPD]) dung von Begleit- und Folgekriminalität und Betrug, die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6979

Bernd Heynemann (A) Gewährleistung eines ordentlichen Spielablaufs und die Der Umsatz betrug 2005 8,1 Milliarden Euro. Wie be- (C) Abschöpfung von Erträgen zur nachhaltigen Förderung reits gesagt, wurden 3,3 Milliarden Euro für gemein- des Gemeinwohls. wohldienliche Zwecke ausgegeben. Allein schon diese 3,3 Milliarden Euro müssten aus Steuermitteln generiert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zusammenfassend sei gesagt: Es gibt in fast allen eu- Waitz? ropäischen Staaten eine restriktive Zulassungspraxis, in der Regel ein Monopol. Bernd Heynemann (CDU/CSU): (Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜND- Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Realisierung dieser Ziele muss die Messlatte für Dem liegt ein kultureller Erfahrungshintergrund, gerade jedes Ordnungsmodell sein. Legt man diese hohe Mess- in der Suchtprävention, zugrunde, von dem ich nicht latte an, kommt man zu dem Schluss, dass allein durch glaube, dass er entwertet ist. Unser gesamtes System der die Aufrechterhaltung des staatlichen Angebots und Lottoanbieter ist traditionell darauf ausgerichtet, das durch die Regulierung des Glücksspielmarktes durch ein Spielbedürfnis der Menschen zu kanalisieren. Der Staat Monopol eine konsequente Erreichung der genannten will nicht, dass sich der Spielbetrieb schrankenlos entfal- Ziele sichergestellt ist. Das schreiben Sie sogar in Ihrem ten kann, Antrag, meine Damen und Herren von der FDP: (Otto Fricke [FDP]: Wer will denn das?) Jede Neugestaltung des staatlichen Sportwetten- weil dies Menschen ins Unglück zu stürzen vermag. Au- monopols wäre daran zu messen, ob es ihr gelingt, ßerdem geht mit dem Glücksspiel erfahrungsgemäß die den Konflikt zwischen fiskalischen Interessen des Gefahr von Begleitkriminalität einher, was ich anfangs Staates und einer aktiven Begrenzung der Spiellei- am Beispiel des Falles Hoyzer darstellen wollte. denschaft aufzulösen. Wir von der CDU/CSU-Fraktion lehnen den FDP-An- Das wollen wir; genau das ist es. trag zur Liberalisierung des Sportwettenmarktes ab. (Birgit Homburger [FDP]: Das glaubt Ihnen Ich danke Ihnen. doch keiner!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Nun wird von der FDP ein begrenztes Konzessions- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) modell, das heißt die Zulassung gewerblicher und damit (D) gewinnorientierter Anbieter, gefordert. Dies würde ein eindeutiges marktwirtschaftliches Element in den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Glücksspielsektor einführen mit der Folge eines europa- Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem weiten und ungehemmten Wettbewerbs. Kollegen Parr. (Otto Fricke [FDP]: Was? Marktwirtschaftlich (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das muss doch heißt doch gerade nicht ungehemmt!) nicht auch noch sein!)

Ein begrenztes Modell hieße, dass man nur einigen die Detlef Parr (FDP): Möglichkeit einräumt, marktwirtschaftliche Strukturen Der Herr Kollege Heynemann hat erwähnt, dass das aufzubauen, wogegen andere wieder klagen würden, zu- Monopol aufrechterhalten werden muss, damit keine Be- mal für diejenigen, die den Wettbetrieb hier durchführen, gleitkriminalität stattfindet und die Hoyzer-Betrüge- kein Niederlassungszwang in Deutschland besteht. Eine reien aufhören. Darf ich die Kolleginnen und Kollegen Vergabe der Konzession kann nach der Rechtsprechung darauf aufmerksam machen, dass die Hoyzer-Betrüger des Europäischen Gerichtshofs nämlich nicht von einer bei Oddset, also bei dem staatlichen Monopolisten, ge- Niederlassung in Deutschland abhängig gemacht wer- spielt haben? den. Es ist zu erwarten, dass eine größere Zahl der Be- werber um Lizenzen aufgrund geringerer Steuer- und (Beifall bei der FDP – Dr. Peter Danckert Abgabenlast ihren Sitz im europäischen Ausland haben [SPD]: Ein ganz wichtiger Beitrag!) wird. Eine Besteuerung von Anbietern im Ausland wäre nicht möglich. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall des Abg. Klaus Riegert [CDU/CSU]) Sie können antworten. Es geht also auch um einen fiskalischen Aspekt. Zu Bernd Heynemann (CDU/CSU): fragen ist: Welcher Umsatz müsste in einem liberalisier- ten Markt erreicht werden, um die derzeitigen Abgaben Werter Herr Kollege Parr, lieber Detlef! Das ist nur des Lotto- und Glücksspielmarkts für gemeinwohldienli- die halbe Wahrheit. Wir wissen, dass die Brüder Sapina che Zwecke zu sichern? international, in ganz Europa – von Griechenland bis Frankreich – Wetten platziert haben. Also ist bei dem (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Problem, das ich angesprochen habe, international und NEN]: Ein riesiger!) nicht allein auf Oddset zu fokussieren. 6980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Bernd Heynemann (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Dr. Peter Danckert [SPD]: Nein, auch nicht! – (C) Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist die selektive Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wahrnehmung der FDP!) NEN]: Vielleicht gibt es noch vernünftige Ju- risten!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: oder ist es jemand wie Herr Ackermann von der Deut- Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine schen Bank? Dem würde ich zum Beispiel auch keine Lötzsch, Fraktion Die Linke. Spielkonzession geben. (Beifall bei der LINKEN) (Detlef Parr [FDP]: Jetzt sind wir ganz eng bei der Sache!) Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Meine Damen und Herren, weiterhin fordern Sie ein Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ausgereiftes Sozialkonzept. Auch da kommt wieder die Herren! Als ich den Antrag der Kollegen der FDP zur bereits erwähnte Kollegin Breuel zum Vorschein. Aufgabe des staatlichen Wettmonopols las, kam mir die Handschrift gleich sehr bekannt vor. (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Was ist mit Oskar Lafontaine?) (Detlef Parr [FDP]: Jetzt kommen die Vorur- teile!) Bei der Privatisierung ostdeutscher Unternehmen wur- den von der Treuhand auch immer Sozialkonzepte ver- Zuerst zum Allgemeinen. Viele der Anträge, die Sie abschiedet. Es wurden Beschäftigungsgarantien und an- einbringen, tragen die gleiche Handschrift. Man braucht dere schöne Sozialmaßnahmen festgelegt. Doch keiner gar nicht lange nachzudenken: Es ist die Handschrift von hat sich daran gehalten. Es hat auch keiner kontrolliert. Frau Breuel, der letzten Chefin der Treuhandgesell- Was Sie uns hier anbieten, ist doch „Sozial-Lametta“, schaft. das, würde Ihr Antrag angenommen – was ja nicht pas- (Detlef Parr [FDP]: Was? Die hat mit der FDP sieren wird –, gleich nach Weihnachten wieder entsorgt gar nichts zu tun!) würde. Frau Breuel hat leidenschaftlich gern privatisiert. Sie hat Wir als Linke sind der Auffassung, dass das staatliche alles, was im Osten nicht niet- und nagelfest war, privati- Wettmonopol die beste Voraussetzung ist, um die von Ih- siert, verkauft, verscherbelt. Unter den Folgen hat Ost- nen formulierten Anforderungen zu erfüllen. Eine Kom- deutschland noch lange zu leiden. Nun weiß ich nicht, merzialisierung macht nur die privaten Wettbüros reich meine Damen und Herren, ob Frau Breuel einen kleinen und treibt die Menschen in die Arme von Zockern, de- (B) Honorarvertrag bei der FDP-Fraktion hat; ich könnte vor nen das Schicksal der Spieler gleichgültig ist. (D) einer Weiterbeschäftigung nur warnen. (Detlef Parr [FDP]: Das bringt Arbeitsplätze Jetzt zum Konkreten; es ist eine sicherlich auch Ihnen auch in den Osten!) bekannte Methode, so vorzugehen. – In Ihrem Antrag fordern Sie, das staatliche Wettmonopol zu verscherbeln, Ich bin keine Freundin von Glücksspielen und möchte Ihnen jetzt den Spruch meiner Großmutter vortragen: (Detlef Parr [FDP]: Ganz einfach neu zu Wer wetten will, will auch betrügen. Das hat meine entscheiden!) Großmutter immer gesagt. Es trifft sicherlich nicht ganz zu. Ich kenne aber mehr Menschen, die durch das weil Ihnen die Wettlobby im Nacken sitzt und das ganz Glücksspiel unglücklich geworden sind, als solche, die große Geschäft wittert. In Deutschland liegt der Wett- dadurch glücklich geworden sind. spieleinsatz pro Kopf bei 33 Dollar, in Großbritannien bei 627 Dollar und in Hongkong bei 1 848 Dollar. Da Wir als Linke lehnen den Antrag der FDP ab und for- kann natürlich jeder verstehen, dass in den Augen der dern gleichzeitig die Bundesregierung auf, das Urteil des Lobbyisten die Dollarzeichen blitzen. In Deutschland Bundesverfassungsgerichts konsequent zu nutzen, um kann man einen zweistelligen Milliardenbetrag erwirt- die Wettsucht zu bekämpfen und illegale Wetten intensi- schaften, wie eine Studie des Kölner Instituts „Sport + ver zu verfolgen. Markt“ prognostiziert hat. Nur das staatliche Wettmono- pol steht dem noch entgegen. Vielen Dank. (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck- (Beifall bei der LINKEN) ardt) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Wolf im Schafspelz kommt die FDP daher, wenn sie in ihrem Antrag die Kriterien für die Vergabe von Martin Gerster hat das Wort für die SPD-Fraktion. Konzessionen formuliert. Es soll unter anderem geprüft werden, ob der Konzessionsnehmer persönlich zuverläs- Martin Gerster (SPD): sig ist. Wer ist zuverlässig? Ist es der erwähnte Ex- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schiedsrichter Hoyzer, der gerade freigesprochen wurde Herren! Wir alle fragen uns: Was sind eigentlich die Mo- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Nein, nein!) tive dafür, dass die FDP schon wieder einen Antrag zum Thema Sportwetten einbringt und im Eilverfahren hier – oder freigesprochen wird, wie wir alle wissen –, im Plenum debattieren will? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6981

Martin Gerster (A) Die FDP hat doch einen Antrag im Verfahren, einen (Detlef Parr [FDP]: Entsprechend unserem (C) Antrag, der in ganzen Passagen mit dem übereinstimmt Antrag!) – nicht nur Halbsätze –, was uns hier vorgelegt wird, werter Detlef Parr. – Entschuldigung! Lesen Sie mal weiter: – Wir bekennen uns zum staatlichen Monopol. (Dagmar Freitag [SPD]: Die schreiben bei sich selber ab! – Detlef Parr [FDP]: Er ist detaillier- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der ter und konkreter!) CDU/CSU – Winfried Hermann [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie peinlich!) Dabei wissen Sie von der FDP-Bundestagsfraktion doch ganz genau, dass die Ministerpräsidenten in zwei Im Übrigen fordern Sie in Ihrem Antrag Unmögli- Wochen die Problematik rund um die Sportwetten lösen ches. Sie sagen: Die privaten Wettanbieter sollen eine werden. Dann nämlich wird ein neuer Staatsvertrag un- Lizenz erhalten, wenn sie einen inländischen Geschäfts- terschrieben, der unsere Jugendlichen, aber auch Er- sitz vorweisen. Das passt doch gar nicht zusammen. Es wachsene vor den Gefahren der Wettsucht so gut wie ist gerade die FDP, die den freien Markt in der Europäi- möglich schützt und im Übrigen sicherstellt, dass der schen Union unterstützt. Die Kopplung an einen inlän- Breitensport auch über die Wetteinnahmen gefördert dischen Geschäftssitz, wie in dem Antrag gefordert, wird. widerspricht der Niederlassungs- und Dienstleistungs- freiheit in Europa. Das passt überhaupt nicht zusammen. Wenn die FDP das nicht möchte, dann frage ich mich: Deswegen ist eine Beschränkung auf inländische Anbie- Warum bringt sie sich denn nicht dort ein, wo sie in den ter überhaupt nicht möglich. Bestätigt wird das Ganze Landesparlamenten und Landesregierungen auch Ver- durch ein Gutachten von Professor Stein von der Univer- antwortung trägt? sität Saarbrücken: (Beifall bei der SPD – Winfried Hermann Ein auf wenige gewerbliche Anbieter begrenztes [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Baden- Lizenzierungsmodell ist europarechtlich nicht reali- Württemberg, in Niedersachsen usw.!) sierbar und kann keine Alternative zum staatlichen Warum unterstützt die FDP die Ministerpräsidenten Monopol sein. bei diesem neuen Staatsvertrag? Hier wird von der FDP Ich weiß nicht, ob der FDP-Fraktion dieses Papier be- ein doppeltes Spiel betrieben. So sieht es aus: kannt ist. Es liegt aber auf dem Tisch und ist für jeden frei zugänglich. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Winfried Her- (B) mann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) Spieler! Falschspieler!) Lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Parr zu? Hier im Bundestag Schaufensteranträge einzureichen, sich vor den Karren der privaten Wettanbieter spannen Martin Gerster (SPD): zu lassen, sich aber über die Landesparlamente und die Ja. Landesregierungen, in denen man selber Regierungsver- antwortung trägt, nicht entsprechend zu engagieren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön, Herr Parr. Frau Homburger, ich freue mich, dass Sie hier sitzen. Ich möchte nur an den 9. Mai dieses Jahres erinnern. (Dagmar Freitag [SPD]: Das kann nur ins Vielleicht erinnern Sie sich auch an den Tag. Das war Auge gehen!) der Tag, an dem wunderschöne Bilder produziert wur- den. Da wurde nämlich der Koalitionsvertrag zwischen Detlef Parr (FDP): CDU und FDP in Baden-Württemberg unterschrieben. Mir liegt hier das Protokoll der Sitzung des Schles- In diesem Koalitionsvertrag auf Seite 62 liest man – man wig-Holsteinischen Landtags von gestern vor. Ich zitiere höre und staune –: den Ministerpräsidenten: Auch zukünftig bedarf das Glücksspiel eines sach- Ich bin der Meinung, wir sollten die Entscheidung gerechten ordnungsrechtlichen Rahmens, der insbe- des Europäischen Gerichtshofes in Sachen sondere die Anforderungen an den Jugendschutz Placanica und die Suchtprävention beachtet. – da geht es um die Probleme in Italien – Ja, wunderbar. und andere abwarten. (Detlef Parr [FDP]: Das wollen wir auch!) Er sagt außerdem: Ferner heißt es da: In den Gesprächen mit den Ministerpräsidenten und Wir werden uns dafür einsetzen, dass ordnungs- Mitgliedern aus Fraktionen und Regierungen aus rechtlich begründete Abgaben aus dem Glücksspiel den Ländern erkenne ich auch deren Unbehagen auch zukünftig für gemeinnützige Zwecke zur Ver- und ihre Zweifel in Bezug auf den eingeschlagenen fügung gestellt werden. Weg. 6982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Detlef Parr (A) Wie beurteilen Sie diese Aussagen, die aus Schleswig- Baden-Württemberg – und damit den Breiten- und (C) Holstein kommen, vor dem Hintergrund, dass mittler- Spitzensport. weile klar ist, dass in dieser Frage das Einstimmigkeits- prinzip gilt? Ich würde mir wünschen, dass auch die FDP-Bundes- tagsfraktion nicht gegen den Sport und die Sportvereine (Dr. Peter Struck [SPD]: Erst einmal abwarten, agieren würde, sondern zugunsten des Sports und der was dabei herauskommt!) Sportvereine. Herzlichen Dank. Martin Gerster (SPD): Ich würde sagen, wir sollten erst einmal abwarten, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie was dabei herauskommt. der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE] – Zuruf von der SPD: Die FDP ist unsportlich! – (Detlef Parr [FDP]: Das steht fest!) Detlef Parr [FDP]: Wer dagegen argumentiert, werden wir sehen!) Wo ist denn eine Initiative der Bundesländer, in denen die FDP an der Regierung beteiligt ist? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Dagmar Freitag [SPD]: In Nordrhein-Westfa- Ich erteile Winfried Hermann für Bündnis 90/Die len zum Beispiel!) Grünen das Wort. Ich sehe überhaupt keine. Sie hätten da doch die Mög- lichkeit, entsprechend zu agieren. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Herren! Die FDP ist auf ihrer rastlosen Suche nach Ich kann nur noch einmal wiederholen: Die FDP- Zonen ohne Markt fündig geworden, nämlich beim Bundestagsfraktion erweist dem Sport mit ihrer Initia- staatlichen Wettmonopol. Wenn man ihren Antrag ge- tive einen Bärendienst und geht der Kampagne der pri- nau liest, stellt man fest, dass sie nicht nur versucht, das vaten Wettanbieter voll auf den Leim staatliche Wettmonopol zu beseitigen, sondern auch ein neues Modell präsentiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE (Detlef Parr [FDP]: Mehrere!) GRÜNEN]) Man könnte etwas zugespitzt sagen: Es ist das Modell ei- und unterstützt eine für den Sport und die vielen Sport- ner Eier legenden Sportwettwollmilchsau. (B) (D) vereine schädliche Kampagne. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sauerei!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Dieses Glücksschwein ist einerseits wettbewerbsgerecht, der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE] – gemeinwohlbelangeorientiert, nicht nur spielsüchtig ma- Detlef Parr [FDP]: Sie sind verantwortlich für chend, nein, diese auch bekämpfend. Es ist zugleich über die sinkende Sportförderung!) die nationalen Grenzen hinaus attraktiv. Es ist globalisie- – Ich bin in keiner Weise für sinkende Sportförderung rungsfest. Kurzum: Es ist kapital, liberal und sozial. verantwortlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Im Übrigen kann ich nur sagen: Der Sport steht über- sowie bei Abgeordneten der SPD – Detlef Parr haupt nicht auf der Seite der FDP-Bundestagsfraktion. [FDP]: Jetzt haben Sie aber alle Vorurteile ge- bündelt!) (Detlef Parr [FDP]: Der Sport wird sich da schon positionieren!) Es ist beschränkt und frei, es ist föderal, national und global. Ich habe hier eine entsprechende Mitteilung vom Württembergischen Landessportbund. Es wird zunächst (Detlef Parr [FDP]: Jetzt bündeln Sie noch ein- die Position der Gegenseite dargestellt: mal! – Zuruf von der CDU/CSU: Kolossal!) In dem Brief an die Sportvereine spricht der Präsi- Jetzt kann man sagen: Das ist ein schönes Modell. dent der Lottovermittler, Norman Faber, von erheb- Man muss aber einmal ganz ernsthaft festhalten: Das lichen Umsatzeinbußen, die angeblich durch die Marktmodell ist in der Tat für viele Bereiche eine sinn- Werbebeschränkungen im geplanten Staatsvertrag volle Form des Suchens und des Bedienens. Dort, wo es zu befürchten seien – worunter auch Sport, Kultur zu wenig Angebote an Produkten und Dienstleistungen und Wohlfahrt zu leiden hätten. gibt, braucht man so ein Modell. Die Frage ist aber: Ist ausgerechnet der Spielbereich angesichts der Tatsache, Der Württembergische Landessportbund stellt aber klar, dass es Wett- und Spielsucht gibt, ein Bereich, wo wir dass es sich ganz anders verhält. Wörtlich sagt der Präsi- über ein Marktsystem für ein Mehr an Spielangeboten dent Klaus Tappeser – Klaus Riegert kennt ihn ja auch und für immer verrücktere Angebote sorgen müssen? ganz gut –: Brauchen wir hier wirklich mehr Effizienz usw.? Nur das staatliche Monopol mit seinen Zweck- (Detlef Parr [FDP]: Wir reden nur über Sport- erträgen fördert das Solidarsystem des Sports in wetten!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6983

Winfried Hermann (A) Brauchen wir das wirklich? Ist das Marktmodell wirk- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) lich das richtige Modell? Da kann ich nur sagen: Völlig Sie sind übrigens auch nicht interessensfrei, sondern wir verfehlt; für diesen Bereich taugt das Marktmodell über- wissen, dass Sie mit den freien Wettbewerbsanbietern haupt nicht. von Sportwetten gut zusammenarbeiten und sich gerne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sponsern lassen. Das heißt, wir wissen, dass Ihre Interes- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und sen nicht nur ordnungsrechtlicher Natur sind, sondern der SPD und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch auch einen ganz konkreten materiellen Hintergrund ha- [DIE LINKE]) ben. Meine Damen und Herren, wenn man wirklich etwas Ihr Antrag ist nicht nur sportschädlich, sondern, wie gegen Spielsucht tun will, dann darf man das Angebot ich meine, letztendlich auch sozialschädlich. nicht vermehren, sondern muss es beschränken und klar (Birgit Homburger [FDP]: Das ist aber unver- und eindeutig kanalisieren. schämt, Herr Hermann!) (Detlef Parr [FDP]: Der Staat wird es schon Es ist das völlig falsche Modell für ein schwieriges Pro- richten!) blem. Nun sagen Sie, Sie wollten das irgendwie kanalisieren. Vielen Dank. Aber Sie geben nicht wirklich an, wie die Spielsucht be- kämpft werden soll, und sagen auch nicht, wie man den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN grundlegenden Widerspruch lösen will, der dadurch ent- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der steht, dass man im Markt Wachstum braucht und immer CDU/CSU und der LINKEN) mehr von ebendem, was man bekämpfen will. Deswegen taugt das Marktmodell in diesem Bereich überhaupt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht. Der Kollege Dr. Peter Danckert hat das Wort für die SPD-Fraktion. Ich bin froh, dass die Länder sich jetzt zu einem Staatsvertrag durchgerungen haben, der sich ganz ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) deutig zum Monopol bekennt. (Birgit Homburger [FDP]: Der wird nicht Dr. Peter Danckert (SPD): kommen!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- gen! Eigentlich können wir froh sein, dass das Jahr lang- (B) – Die Länder haben sich bisher darauf verständigt. Wenn sam zu Ende geht; denn wenn es noch mehr Sitzungswo- (D) Sie da mehr wissen, bin ich gespannt. Bisher höre ich chen gäbe, dann hätten wir wahrscheinlich ein drittes noch von keinem Bundesland, dass es diesen Staatsver- Mal das Vergnügen, den FDP-Antrag hier zu behandeln. trag blockieren will. „Getretener Quark wird breit, nicht stark“, lieber Detlef. (Detlef Parr [FDP]: Doch, Schleswig- (Detlef Parr [FDP]: Das sind doch nicht wir Holstein!) gewesen!) – Da sind wir mal gespannt, ob die das wirklich machen. Warum eigentlich der heutige Antrag? Der einzige Wir haben oft genug solche Sprüche gehört und am Unterschied zu der letzten Debatte vor wenigen Monaten Schluss sind die Leute dann doch eingeknickt. ist der, dass ihr diesmal keine öffentliche Veranstaltung mit Unterstützung von Bet and Win gemacht habt. Der Wir jedenfalls hoffen, dass dieser Staatsvertrag durch- Antrag ist derselbe, die Argumente sind dieselben; kommt; denn ich glaube, dass das die richtige Antwort ist. Kollege Parr, Sie haben angesprochen, dass der (Detlef Parr [FDP]: Wieder falsch gelesen! Hoyzer-Skandal und das Ganze unter den jetzigen Be- Überhaupt nicht gelesen! – Dagmar Freitag dingungen stattgefunden haben. Das ist richtig. Aber [SPD]: Wortwörtlich abgeschrieben!) wollen Sie im Ernst diesen Bereich ausweiten und zu ei- es hat sich eigentlich überhaupt nichts verändert. nem privaten Geschäft machen, in dem sich dann ziem- lich viele Geschäftemacher tummeln werden? Natürlich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) werden die Betrügereien dramatisch zunehmen, wenn Die Situation ist so: Die Ministerpräsidenten werden man diesen Markt anheizt und ausweitet. Dem leisten am 13. Dezember entscheiden. Das wissen wir ja; es ist Sie mit Ihrem Vorschlag Vorschub. von meinem Freund Martin Gerster schon gesagt wor- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss den. Die FDP hätte es in der Hand – das wurde hier und fasse zusammen. Das Angebot der FDP ist im schon ausgeführt; aber ich will es noch einmal unter- Grunde genommen sportschädlich. streichen –, das, was sie hier mit diesem Antrag angreift – das staatliche Wettmonopol, das die Ministerpräsiden- (Detlef Parr [FDP]: Ihre Haltung blockiert die ten im Auge haben –, zu verhindern, indem Baden- Sportförderung!) Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sich dagegen aussprechen. Es kann allenfalls wenigen im Profisport nützen. Sie sind das Sprachrohr des Profispitzenfußballs im DFB, (Detlef Parr [FDP]: Wir haben dort ja nicht die aber nicht des Breitensports. Mehrheit!) 6984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Peter Danckert (A) Das macht ihr aber nicht und deswegen ist das ein unlau- Detlef Parr (FDP): (C) teres Vorgehen an dieser Stelle: Angesichts solcher Beiträge muss man natürlich Fra- gen stellen. Die FDP ist hier als eine Partei dargestellt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten worden, die – das ist zumindest die Interpretation des der CDU/CSU) Kollegen Danckert – offensichtlich widersprüchlich rea- Da, wo man ein Gesetz als Koalitionspartner auf Länder- giert. ebene glatt verhindern könnte, wird mitgestimmt und (Dagmar Freitag [SPD]: Ich warte auf die hier im Bundestag macht ihr den Liberalen. So geht es Frage!) nicht; entweder – oder. Ich möchte den Innenminister des Landes Schleswig- Das ist eine komplizierte Situation, Detlef Parr; aber Holstein aus der gestrigen Debatte zitieren, Frau Kolle- das muss einmal gesagt werden. gin Freitag. Er hat nämlich gesagt: Wer Monopole ver- teidigt, darf in der Regel als Ewiggestriger gelten. – Dem (Detlef Parr [FDP]: Das wird dadurch aber ist nichts hinzuzufügen. nicht richtiger!) (Dagmar Freitag [SPD]: Was sagt der FDP- Das Verhalten an dieser Stelle ist völlig uneinheitlich. Innenminister? – Dr. Peter Struck [SPD]: Was war die Frage?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Dr. Peter Danckert (SPD): NEN) Ich denke, jeder hat mitbekommen, dass der Kollege Wir werden ja sehen, ob sich die Ministerpräsidenten am Parr nicht in der Lage ist, eine Frage zu stellen. 13. Dezember verständigen. (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) (Detlef Parr [FDP]: Genau so!) Das war eine Kurzintervention. Diese ist zwar nach un- serer Geschäftsordnung vorgesehen, aber an einer ande- Die Koalition hat ganz klar gesagt, dass die Entschei- ren Stelle. Sei’s drum. dung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März die- ses Jahres zwei Möglichkeiten zulässt. Die Ministerprä- Wir haben eine Situation, in der wir alle gemeinsam sidenten haben die Initiative ergriffen; wir sind auf sie gut beraten wären, einmal an die Sportveranstalter zu angewiesen. Sie sind dabei, einen Staatsvertrag zustande denken. Denn deren Veranstaltungen werden benutzt, zu bringen. Ob dieser Staatsvertrag zur Folge hat, dass um Sportwetten durchzuführen. Wenn es beispielsweise all das umgesetzt werden kann, was man sich vorgenom- Fußballspiele nicht gäbe, dann gäbe es in dem Bereich (B) (D) men hat, ist in der Tat eine andere Frage. Ich will an die- keine Wetten. Wir sollten also einmal darüber nachden- ser Stelle gar nicht verhehlen, dass ich in diesem Punkt ken, wo das Ganze anzusiedeln ist, im Bereich des Urhe- etwas skeptisch bin. berrechts, im Bereich des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb oder an einer anderen Stelle. Das wäre sach- Ich fände es sehr gut, wenn wir uns einmal Gedanken gerecht und förderlich. darüber machen würden, wer dahinter steht, anstatt im- Wir sollten nicht jedes Mal über denselben Antrag im mer über den gleichen Antrag zu reden. Dahinter stehen Bundestag reden. Die Wiederholung alter Argumente Sportveranstalter, deren Veranstaltungen bzw. Spiele für bringt nichts. Neue Argumente wurden von der FDP Wetten genutzt werden. Wir sollten über Leistungs- nicht vorgetragen. Warten wir also ab, was uns die Mi- schutzrechte nachdenken, wie es die Max-Planck-Ge- nisterpräsidenten vorzutragen haben. sellschaft gemacht hat. Seit wenigen Tagen liegt nämlich ein Working Paper vor, In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksam- keit. (Zurufe von der SPD: Oh!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem – soll ich „Working Paper“ noch übersetzen? –, in dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- man nachlesen kann, wie kompliziert die Materie ist. geordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Parr Die Fraktionen haben verabredet, die Vorlage auf zulassen? Drucksache 16/3506 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse zu überweisen. – Damit sind Sie of- fensichtlich einverstanden. Dann ist es so beschlossen. Dr. Peter Danckert (SPD): Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Ja. – Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Bitte schön, Herr Parr. Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deutscher Streitkräfte an der EU-geführten NEN]: Der Herr Parr ist heute sehr aktiv!) Operation „ALTHEA“ zur weiteren Stabili- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6985

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) sierung des Friedensprozesses in Bosnien Ein sehr eindrucksvolles Bild dieser Jahre von 1991/ (C) und Herzegowina im Rahmen der Imple- 1992 bis 1995 vermittelte vor einigen Jahren der Film mentierung der Annexe 1-A und 2 der „Ničija zemlja“ von Regisseur Danis Tanović unter dem Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem internationalen Titel „No Man’s Land“, übersetzt „Nie- NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen mandsland“. Er gewann zahlreiche internationale Preise, Aufgaben, auf Grundlage der Resolutionen darunter den Golden Globe und einen Oscar. Ich nehme des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen an, einige von Ihnen kennen diesen Film. „No Man’s 1575 (2004) vom 22. November 2004, 1639 Land“ spielt im Wesentlichen in einem Schützengraben, (2005) vom 21. November 2005 und 1722 der sich irgendwo in Bosnien-Herzegowina im Nie- (2006) vom 21. November 2006 mandsland zwischen den Frontlinien des Krieges befin- – Drucksachen 16/3521, 16/3636 – det. Berichterstattung: Diese Schützengräben hat die internationale Gemein- Abgeordnete Eckart von Klaeden schaft damals nicht verhindert. Wegen falscher Wahr- Detlef Dzembritzki nehmung, gegenläufiger Interessen und falscher politi- Dr. Werner Hoyer scher Vorgaben der Europäer und der internationalen Kerstin Müller (Köln) Staatengemeinschaft waren die Blauhelme völlig über- Dr. Norman Paech fordert und ihre Mission zum Scheitern verurteilt. Die – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Menschen in Bosnien-Herzegowina haben das teuer be- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung zahlt. Die Blauhelme, die seinerzeit geschickt wurden, nannte man dort im Krieg „strumpfovi“, also – Drucksache 16/3645 – „Schlümpfe“. Das ist absolut keine respektvolle Be- Berichterstattung: zeichnung und macht den Stellenwert dieser internatio- Abgeordnete nalen Truppe in den 90er-Jahren deutlich. Lothar Mark Heute, rund 15 Jahre nach dem ersten Schuss und elf Jürgen Koppelin Jahre nach dem Frieden von Dayton, stimmen wir wie- Michael Leutert der über die Verlängerung eines Mandates in Bosnien- Herzegowina ab. Elf Jahre sind eine verdammt kurze Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- Zeit, wenn es um Wiederaufbau, Rückkehr, Versöhnung mentlich abstimmen. Es ist verabredet, eine Dreiviertel- und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen nach einem stunde zu debattieren. – Ich sehe keinen Widerspruch. Bürgerkrieg mit mehr als 200 000 Toten geht und Täter (B) Dann ist es so beschlossen. und Opfer sich durchaus im selben Dorf bewegen und (D) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für sich dort begegnen. Ob Bosnien-Herzegowina noch die SPD-Fraktion dem Kollegen Johannes Jung. mehr Zeit bekommt, liegt auch an uns. Die wirtschaftliche Lage in Bosnien-Herzegowina ist Johannes Jung (Karlsruhe) (SPD): schlimm. Organisierte Kriminalität, Zwangsprostitution, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Menschen-, Waffen- und Drogenhandel sind alltäglich Herren! Wir sprechen heute zu dieser Stunde über ein und brandgefährlich. Vordringlich ist deshalb jetzt die europäisches Land und über Europäer wie Sie und mich. Legalisierung der Ökonomie, weg von Schwarzmarkt Bosnien-Herzegowina liegt mitten in Europa. Auf diese und Schwarzarbeit. Trotz Besserung der Beziehungen Formulierung werde ich noch zurückkommen. gibt es nach wie vor die Spaltung in die Republika Allerdings sprechen wir in diesem Fall über Men- Srpska und die Föderation. Die zwei prominentesten schen, denen die Erfolge unseres Kontinents der letzten Kriegsverbrecher Ratko Mladić und Karadžić bewegen 15 Jahre in Sachen Demokratie und Zusammenwachsen sich mutmaßlich auch in Bosnien-Herzegowina. Und si- nach wie vor nicht zuteil geworden sind. Bosnien-Herze- cherlich ist die international oktroyierte Verfassung eine gowina war als Teil des zweiten Jugoslawien sehr nah zu Recht ständig beklagte Katastrophe. am Westen. Den Menschen in den heutigen EU-Mit- gliedstaaten in Mittelosteuropa und zumal in der unmit- Das alles ist wahr und das sind große Probleme in telbaren Nachbarschaft, in Ungarn, Rumänien und Bul- Bosnien-Herzegowina. Das eigentliche politische und garien, galt Bosnien-Herzegowina bis zum Krieg als ein geistig-kulturelle Problem jedoch ist der Nationalismus fast westliches Land, dessen Lebensstandard weit besser in diesem Land. Trotz der schlichten Tatsache, dass der war als der eigene. Man muss kein so genannter Jugo- Frieden von Dayton eben nur als Waffenstillstand und Nostalgiker sein, um das so zu sehen. damit nur für einen Tag ein Erfolg war, trotz der allseits und schon im Jahre 1995 bekannten Unzulänglichkeiten Dann plötzlich und für die meisten Beobachter auch der staatsrechtlichen Konstruktion muss uns klar sein: Es hierzulande unerwartet waren Sarajevo, Banja Luka und ist nach wie vor in erster Linie der Nationalismus, der Mostar nicht mehr Städte des jahrhundertelang gut ein- dem Fortschritt in diesem Lande im Wege steht. geübten Zusammenlebens einer friedlichen Bevölkerung mit einer Sprache, mit katholischen und orthodoxen Kir- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ chen, Moscheen und Synagogen, sondern wurden zu CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des Zentren des mordenden Ethnonationalismus. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 6986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Johannes Jung (Karlsruhe) (A) Es muss uns klar sein, dass die Verantwortlichen in Bos- Es darf nicht noch einmal ein europäisches Niemands- (C) nien-Herzegowina auch mit der denkbar schlechtesten land im Südosten Europas geben und schon gar keine Verfassung eine vernünftige Politik betreiben könnten, neuen Schützengräben. was sie nicht tun. Die Begründung für „Althea“ ist die europäische Zu- Wer das viel bemühte Wort „Ownership“ ernst nimmt, kunft von Bosnien und Herzegowina. Deshalb ist der muss seine Gesprächspartner in der Region mit Nach- Antrag zur Fortsetzung der Operation richtig. Deshalb druck auf diese Tatsachen hinweisen und penetrant Bes- stimmt die SPD-Bundestagsfraktion diesem Antrag zu. serung einfordern. Das ist nicht einfach; denn die tonan- gebende Garnitur in den bisher bestimmenden drei (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem nationalen Parteien hat massive politische und wirt- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaftliche Eigeninteressen, die absolut nicht mit dem Ich danke allen zivilen und militärischen Aufbauhel- idealistischen Leitbild von einem vereinten, friedlichen, fern in der Region und ich danke Ihnen für Ihre Auf- demokratischen und EU-orientierten Bosnien-Herzego- merksamkeit. wina übereinstimmen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Die Mission „Althea“ ist erfolgreich. Sie ist aber kei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- neswegs deshalb erfolgreich, weil sie eine leichte Auf- geordneten der FDP) gabe hätte und daher überflüssig wäre.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich gebe Dr. Rainer Stinner das Wort für die FDP- CDU/CSU und der FDP) Fraktion. So rosig ist die Lage nicht, als dass wir dort im (Beifall bei der FDP) Jahre 2007 zum Beispiel für die Sicherheit von zurück- kehrenden Flüchtlingen kein Militär mehr bräuchten – und sei es nur für das subjektive Sicherheitsgefühl dieser Dr. Rainer Stinner (FDP): Rückkehrer. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass heute der Botschafter von Im Antrag der Bundesregierung werden einige Fort- Bosnien-Herzegowina der Debatte beiwohnt. Mit Ihrer schritte in Richtung eines friedlichen und demokrati- Genehmigung, Frau Präsidentin, darf ich ihn ganz herz- schen Rechtsstaats, der selbstständig die Freiheit und Si- lich begrüßen. Wir führen eine wichtige Debatte für Ihr cherheit seiner Bürger gewährleisten kann, vollkommen Land. Ich freue mich, dass Sie heute bei uns sind. (B) zu Recht festgestellt. Erwähnt werden diverse Reformen, (D) die uns Mut machen, und erfreulicherweise auch der Sta- (Beifall) bilitätspakt Südosteuropa mit einer Fülle von zivilen Projekten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die FDP- Fraktion wird heute dem Antrag der Bundesregierung Das Vorgängermandat SFOR hat verlorenes Vertrauen auf Verlängerung des Mandates zustimmen. Wir zeigen zum Teil wieder zurückgewonnen. Seit zwei Jahren nun damit, dass wir weiterhin Verantwortung für die Stabili- ist „Althea“ unter Führung der EU die erfolgreiche Fort- sierung und den Aufbau dieses wichtigen europäischen setzung der internationalen Bemühungen um Sicherheit Landes übernehmen. Wir begrüßen, dass die Bundesre- und Stabilität in Bosnien-Herzegowina. gierung die Mandatsobergrenze – eher eine symbolische Zahl, aber ein wichtiges Signal – von 3 000 auf Zum Schluss möchte ich noch einen Blick auf die 2 400 Soldaten reduziert hat. Das ist der richtige Schritt. Wahlen werfen, in die ich persönlich wieder einmal große Hoffnungen gesetzt hatte. Die Vorherrschaft der Sicherlich kann man in diesem Zusammenhang da- klassischen ethno-nationalen Parteien ist gebrochen. Ihre rüber diskutieren, ob und wann es richtig ist, die Zahl Kandidaten waren in der Wahl für das Präsidium unterle- der Soldaten vor Ort zu reduzieren. Aber leider, Herr gen, auch deshalb, weil sie Konkurrenz aus dem eigenen Minister Jung, haben Sie auch dieses Mal wieder mit ei- Lager hatten. Der interessanteste Mann im neuen Präsi- ner eher unbedachten Äußerung in Bosnien und Herze- dium ist Zeljko Komsic, der für eine übernationale Partei gowina Unruhe ausgelöst, wie uns gestern Herr angetreten ist und den wir dringend unterstützen sollten. Schwarz-Schilling sehr deutlich bestätigt hat. Sehr ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ehrter Herr Minister Jung, ich bitte Sie ganz herzlich, bei DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ihren öffentlichen Äußerungen darauf zu achten, welche CDU/CSU) Wirkung sie im Ausland haben. Selbst wenn Sie das verwundert, Herr Jung: Was ein deutscher Verteidi- Schlussbemerkung: Alle Anstrengungen von innen gungsminister im Ausland sagt, wird in der Welt gehört – und von außen sind nur erfolgreich, wenn wir die Tür das ist so. Deshalb ist es wichtig, dass wir das hier klar- zur Europäischen Union für die gesamte Region offen stellen. halten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von CDU/CSU und der FDP) Klaeden zulassen? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6987

(A) Dr. Rainer Stinner (FDP): Das Jahr 2007 ist ein – in Anführungsstrichen – deut- (C) Sehr gern lasse ich Zwischenfragen zu. sches Jahr für das Land Bosnien-Herzegowina: Wir stel- len den Hohen Repräsentanten, seit November stellen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wir mit einem deutschen Admiral auch den obersten Kommandeur der EUFOR-Truppen und am 1. Januar Bitte schön. des nächsten Jahres übernehmen wir die EU-Ratspräsi- dentschaft. Umso wichtiger ist, dass wir dieser Verant- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): wortung im Deutschen Bundestag nachkommen. Des- Herr Kollege Stinner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu halb bedauere ich es außerordentlich, dass das Budget nehmen, dass zunächst einmal im Auswärtigen Aus- des Auswärtigen Amtes für dieses Land, für das wir im schuss der Komment gilt, dass über Aussagen, die dort Jahr 2007 besondere Verantwortung übernehmen, in den gemacht werden, nicht öffentlich berichtet wird Haushaltsberatungen reduziert worden ist. (Walter Kolbow [SPD]: Sehr wahr!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Marieluise Beck und dass zum Zweiten die Aussage, die Sie hier dem [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Kollegen Schwarz-Schilling in den Mund gelegt haben, nicht zutreffend ist? Ich bedauere es sehr, dass diese Mittel trotz der Bemü- hungen, die sich die so genannte Balkanfraktion partei- Dr. Rainer Stinner (FDP): übergreifend gemacht hat, reduziert werden. Ich bitte die Bundesregierung sehr herzlich, im Haushaltsvollzug zu Ich kann nur darauf hinweisen, dass Herr Schwarz- versuchen, diesen Fehler – es ist wirklich ein Fehler – zu Schilling diese Einschätzung der Situation nicht gestern korrigieren und die entsprechenden Mittel einzusetzen. im Ausschuss, aber durchaus in öffentlichen Äußerun- gen vorgenommen hat. Bosnien-Herzegowina hat wie alle anderen Länder Europas durch die Vereinbarung von Thessaloniki eine (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Da würde europäische Perspektive bekommen. Diese Perspektive ich gern einmal Belege haben!) ist der Motor für die Entwicklung dieses Landes. Von – Leider ist Herr Schwarz-Schilling heute nicht da, aber daher ist es sehr wichtig, diese Perspektive aufrechtzuer- dazu können Sie gerne Belege sehen. halten. Der Kollege Jung hat vorhin schon darauf hinge- wiesen; wir sind uns darin völlig einig. Die Entscheidung über die Reduzierung des Kontin- gentes ist von den Entwicklungen in den nächsten Mo- Der NATO-Gipfel in Riga hat mit dem Angebot des (B) naten abhängig. Drei Entwicklungen müssen wir genau Partnership-for-Peace-Programmes an dieses Land (D) beobachten: Erstens. Eine Statusentscheidung über den ein weiteres deutliches Signal gesetzt. Die Frage ist tat- Kosovo wird sicherlich Auswirkungen auf die Situation sächlich, ob Bosnien-Herzegowina schon bereit ist, an in der gesamten Region, insbesondere in der Republika diesem Programm mitzuarbeiten. Das Angebot steht auf Srpska, haben. Zweitens müssen wir den Bericht über jeden Fall. Die westliche Welt zeigt: Wir wollen diesem die zu erwartende Entwicklung abwarten, den uns der Land helfen, wir wollen es unterstützen, damit es in Eu- Beauftragte, Herr Schwarz-Schilling, im Februar vorle- ropa und in unsere Gemeinschaft eingeführt wird. gen wird. Dieser Bericht wird sicherlich Auswirkungen haben. Drittens. Was passiert eigentlich am 30. Juni des Wir wissen aber genau, dass die Hauptarbeit von die- nächsten Jahres, wenn das Mandat des OHR auslaufen sem Land selbst geleistet werden muss. Es gibt einige soll? All das müssen wir beobachten. Es ist sinnvoll, erst Signale dafür, dass dort einiges nicht so läuft, wie es lau- dann die Entscheidung zu treffen, in welchem Umfang fen sollte. Der Verfassungsprozess, die Polizeireform das Kontingent der Soldaten eventuell zu reduzieren ist. und weitere wichtige Reformprojekte stocken in Bos- nien-Herzegowina im Augenblick. Unser Aufruf an die- Die gute Nachricht lautet – da sind wir alle derselben ses Land sollte lauten: Wenn ihr zu uns kommen wollt, Meinung –: Gegenwärtig besteht keine Gefahr mehr, seid ihr willkommen; aber erst einmal müsst ihr eure dass es in diesem Land zu einem organisierten, bewaff- Hausaufgaben machen. Ich stelle immer wieder fest, neten Konflikt kommt. Diese gute Nachricht ist die Ba- dass die insbesondere in Europa verbreitete Denkweise sis für die Überlegung, die Anzahl der Soldaten in die- von der guten Nachbarschaft in dieser Region insgesamt sem Land zu reduzieren. leider völlig unterentwickelt ist. Wir hoffen, dass wir auch auf diesem Gebiet Fortschritte machen. Der Plan sieht bisher vor, dass das Mandat des Hohen Repräsentanten am 30. Juni des nächsten Jahres ausläuft. Abschließend frage ich, ob wir eigentlich genügend Herr Schwarz-Schilling hat in einer öffentlichen Sitzung tun, damit der europäische Geist und das europäische darüber gesprochen, dass es Überlegungen gibt – das Denken in Bosnien-Herzegowina ankommen können. kann ja angebracht sein –, diesen Zeitplan zu verändern. Ich spreche das kritische Thema des Visaregimes an. Ich bitte die Bundesregierung, uns ihre Position dazu Meines Erachtens handelt die Europäische Union völlig mitzuteilen. Hält sie an dem Fahrplan 30. Juni fest oder widersprüchlich. Auf der einen Seite erwarten wir, dass gibt es Überlegungen, das Mandat OHR zu verlängern dieses Land das europäische Denken, das europäische und den Übergang auf die so genannte europäische Lö- Handeln und die europäischen Werte annimmt, verweh- sung entsprechend zu verschieben? Diese Informationen ren den Bürgern dieses Landes aber den Weg nach wären für die Diskussion in diesem Hause interessant. Europa. Wir haben ein extrem strenges Visaregime. 6988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Rainer Stinner (A) Abschließend bitte ich die Bundesregierung, im ersten Da wir jetzt einen Stufenplan – ich komme darauf zu- (C) Halbjahr 2007 jedenfalls hier dafür zu sorgen, dass wir rück – vorbereiten, ist es notwendig, über die Fragen zu deutliche Fortschritte machen, damit die Bürger Bos- diskutieren, die in diesem Zusammenhang von Bedeu- nien-Herzegowinas Europa wirklich kennen lernen kön- tung sind. Aber ich will darauf hinweisen, dass es nicht nen. so ist, dass Bosnien-Herzegowina mit diesen Wahlen so- zusagen bereits am Ziel angekommen ist. Gemeinsam (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit der internationalen Gemeinschaft sind noch eine NEN]: Der Visaausschuss!) Reihe von Herausforderungen zu meistern. – Herr Bonde, ich habe Sie nicht verstanden. Sie haben Christian Schwarz-Schilling angesprochen. Es ist zu unterstreichen, dass er einen wichtigen Beitrag Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: leistet, um diesen Prozess positiv fortzuführen und zu ei- Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Viel- nem guten Ergebnis zu bringen. Deshalb bin ich ihm leicht können Sie das bilateral besprechen. sehr dankbar – auch im Namen der Bundesregierung – für den Einsatz, den er in Bosnien-Herzegowina leistet. Dr. Rainer Stinner (FDP): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Mein Appell lautet also: Visaregime verändern! bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Danke schön. Trotz der Erfolge bestehen immer noch Risiken für (Beifall bei der FDP) die Sicherheit und die Stabilität. Deswegen ist Bosnien- Herzegowina weiterhin auf die internationale, auf die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: europäische Unterstützung angewiesen. Die Bundesre- Ich erteile das Wort dem Bundesminister Franz Josef gierung erkennt – ich habe es gerade dargelegt – die po- Jung. sitive Entwicklung ausdrücklich an. Sie schlägt deshalb vor, im Einklang mit unseren Partnern die Obergrenze in Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- dem heute zur Abstimmung stehenden Mandat von gung: 3 000 auf 2 400 Soldaten zu senken. Das bedeutet keine unmittelbare, einseitige Reduzierung vor Ort, sondern Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! dies ist mit den europäischen Partnern abzustimmen. Seit 1995 beteiligt sich Deutschland mit der Bundeswehr Aber es gibt erste Überlegungen – der kommandierende an der Stabilisierung des Friedensprozesses in Bos- General hat dies den europäischen Verteidigungsminis- nien-Herzegowina. Ich denke, die Angehörigen der Bun- tern nachdrücklich vorgetragen – über den künftigen (B) (D) deswehr haben hier einen wichtigen Beitrag zur Schaf- Umfang der internationalen Präsenz. Ich hoffe, dass im fung eines sicheren Umfeldes geleistet, in dem sich die Dezember erste konkrete politische Entscheidungen zur politische Normalisierung und der gesellschaftliche Reduzierung getroffen werden können. Es handelt sich Wiederaufbau des Landes vollziehen können. Deshalb um einen Stufenplan, der davon ausgeht, dass wir im möchte ich im Rahmen dieser Debatte unseren Soldatin- ersten Halbjahr des nächsten Jahres mit der ersten Stufe, nen und Soldaten, aber auch den zivilen Helfern herzlich also mit einer konkreten Reduzierung, rechnen können. für den Beitrag danken, den sie in Bosnien-Herzegowina geleistet haben, um ein sicheres Umfeld, eine friedliche Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern ver- Entwicklung und Stabilisierung in diesem Land zu ge- folgen wir das Ziel, die Operation „Althea“ in Stufen er- währleisten. folgreich zu beenden. Das ist wichtig für Bosnien-Her- zegowina. Es wäre ein weiterer Meilenstein der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Verteidigungspolitik. Wir müssen diesem Land dann bei Abgeordneten der LINKEN) selbstverständlich auch die europäische Perspektive für Mittlerweile ist dieses Land auf einem guten Weg zu seine Weiterentwicklung geben, um es in eine gute Zu- einem multi-ethnischen, modernen und demokratischen kunft zu führen. Rechtsstaat. Hier ist darauf hinzuweisen, dass es zu- Ich will hinzufügen: Zu einem erfolgreichen Einsatz nächst ein Erfolg der transatlantischen Politik war, aber gehört auch, dass man unter Berücksichtigung der allge- seit zwei Jahren eindeutig ein Erfolg der europäischen meinen Lage – hierbei sind auch die Statusverhandlun- Politik ist. gen im Kosovo in den Blick zu nehmen – imstande ist, ihn sachgerecht zu Ende zu führen. Diese Entscheidung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie soll im Dezember dieses Jahres getroffen werden. Jetzt bei Abgeordneten der FDP) ist es notwendig, dass dieses Mandat, wie vonseiten der Der jüngste Meilenstein ist die ruhig und friedlich Bundesregierung vorgeschlagen, in reduziertem Umfang verlaufene Wahl vom 1. Oktober dieses Jahres, bei der fortgesetzt wird, um eine Stabilisierung und eine friedli- die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ihre Vertreter che Entwicklung in Bosnien-Herzegowina zu gewähr- für die Parlamente und die Staatspräsidentschaft in eige- leisten. Deshalb bitte ich Sie namens der Bundesregie- ner Verantwortung bestimmt hat. Deshalb war es wich- rung um Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandats. tig, Kollege Stinner, dass es vor diesen Wahlen keine Besten Dank. Diskussionen gab, die ein falsches Signal ausgelöst hät- ten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6989

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht. Aber eines ist klar – das hat auch Herr Stinner un- (C) Dr. Norman Paech hat das Wort für die Linke. terstrichen –: Es ist, und zwar zu Recht, an keiner Stelle davon die Rede, dass die Situation in Bosnien-Herzego- (Beifall bei der LINKEN) wina auch weiterhin eine Bedrohung des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit darstellt. Darüber Dr. Norman Paech (DIE LINKE): sollte zwischen uns eigentlich Einigkeit herrschen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es interessant, dass sich die Frau Bundeskanz- Die einzigen Fehlentwicklungen, die Ihren Antrag be- lerin derzeit in der NATO genauso dem Druck anderer gründen sollen, sind die organisierte Kriminalität und Staaten erwehren muss, wie wir es gewöhnlich im Deut- die Korruption. Das gibt es aber auch bei uns. Wir wür- schen Bundestag tun müssen, wenn wir uns der Zustim- den doch nie auf den Gedanken kommen, diese Pro- mung zum Einsatz bzw. zur Verlängerung des Einsatzes bleme mit dem Einsatz von Militär zu bekämpfen. unserer Truppen im Ausland verweigern. (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na! Dieser Ver- LINKE]) gleich ist aber ein bisschen schief!) Wenn Sie meinen, dass die Institutionen in Bosnien-Her- Ich hoffe allerdings, dass sie sich als genauso standhaft zegowina, die derartige Probleme eindämmen können, erweisen wird und sich den Forderungen, die Truppen in nämlich Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz, der Lage den Süden Afghanistans zu schicken, auch weiterhin nicht gewachsen sind, dann fordern wir Sie auf: Stecken verweigern wird, wie auch wir uns in diesen Fragen im- Sie die 74 Millionen Euro, die Sie der Bundeswehr zur mer wieder als standhaft erwiesen haben. Verfügung stellen wollen, in den Aufbau dieser Institu- tionen, damit sie in die Lage versetzt werden, Korruption (Beifall bei der LINKEN) und Kriminalität zu bekämpfen. In Bosnien-Herzegowina ist die Situation zum Glück (Beifall bei der LINKEN) ganz anders. Ich frage mich: Warum machen Sie es sich eigentlich so schwer, dieser gänzlich anderen Lage end- Wenn Sie ferner meinen, dass die Präsenz des Militärs lich mit einem Rückzug des Militärs Rechnung zu tra- für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung so wichtig sei gen? Sie haben gute Ansätze vorgetragen. Herr Minister – Herr Schwarz-Schilling hat dies nicht nur im Aus- Jung hat vor genau einem Monat angekündigt, die Trup- schuss gesagt, sondern auch öffentlich –, dann bedenken pen zurückziehen zu wollen. Damals hatte er – daran Sie, dass man dieses Gefühl viel besser mit sichtbarer darf ich Sie erinnern – prominente Unterstützung. Nicht Präsenz ziviler Institutionen wie der Polizei und einer nur der Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes, Herr funktionierenden Justiz erreichen kann. Stattdessen kür- (B) (D) Gertz, hat ihn unterstützt, sondern auch Herr Struck, der zen Sie die Mittel für den Stabilitätspakt für Südost- Vorgänger von Herrn Jung. Der Kollege Siebert von der europa von 30 Millionen Euro auf 15 Millionen Euro. Unionsfraktion hat gesagt, dass die militärischen Auf- Das ist genau der falsche Weg. gaben dort weitgehend erfüllt seien. Sogar Herr Wester- (Beifall bei der LINKEN) welle hat sich zu diesem Zeitpunkt für einen Abzug mit Augenmaß ausgesprochen. Beim Gefühl der Sicherheit geht es um Psychologie. Gerade ein Abzug des Militärs könnte der Bevölkerung Dann aber wurde Herr Jung gescholten. Nun möchte signalisieren, dass keine Kriegsgefahr mehr besteht, dass auch er selbst sich nicht mehr an seinen Vorschlag erin- das Land nunmehr auf einem eigenen, sicheren, souverä- nern. Die Hauptkritik, die in den Regierungskreisen ge- nen Weg in die Zukunft ist. Mit einer anhaltenden Mili- äußert wurde, lautete, er hätte seinen Vorschlag nicht mit tärpräsenz würden Sie dagegen eine Gefahr vorspiegeln, der Überlastung der Bundeswehr, sondern allein mit die in der Realität schon seit längerem nicht mehr be- politischen Argumenten wie der Stabilisierung der Lage steht. Deswegen lehnen wir diesen Antrag nunmehr zum begründen sollen. Hier hätte er ruhig auf seinen Soldaten zweiten Mal ab. Gertz hören sollen. Denn er hat gesagt, dass man beim zivilen Wiederaufbau seit dem Beginn des Bundeswehr- Danke sehr. einsatzes im Jahre 1995, also vor mehr als zehn Jahren, (Beifall bei der LINKEN) derartige Fortschritte gemacht habe, dass das, was übrig geblieben sei, nun wirklich keine militärische Aufgabe mehr, sondern allenfalls eine Polizeiaufgabe sei. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich erteile Marieluise Beck das Wort für Bündnis 90/ (Beifall bei der LINKEN) Die Grünen. Das war schon vor einem Jahr unser zentrales Argu- ment, als wir die Verlängerung des Mandats abgelehnt Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE haben. Heute können wir unsere Bestätigung, dass wir GRÜNEN): Recht hatten, im Antrag der Regierung nachlesen. Dem, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was Sie in Ihrem Antrag zum Aufbau des Justizwesens, Ich möchte ganz kurz einen etwas prekären Sachverhalt zur Polizeireform, zum Beitrag der Bundesregierung zur ansprechen. Ohne dem umtriebigen Kollegen Stinner, Stabilisierung und zur Demokratisierung Bosnien-Her- der sein Amt als Beauftragter des Deutschen Bundesta- zegowinas und zur Tätigkeit von Herrn Schwarz- ges für Bosnien und Herzegowina wunderbar wahr- Schilling geschrieben haben, kann man zustimmen oder nimmt, nahe treten zu wollen, muss ich sagen: Wir 6990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Marieluise Beck (Bremen) (A) haben leider keine Deutsch-Bosnische Parlamentarier- fassung, es gibt bisher keine rechtspolitische Verfassung (C) gruppe. Ich halte das für einen Fehler. Bosnien ist ein und die unabhängige Justiz steckt in dramatischer Weise Land, zu dem es kaum engere Verbindungen geben noch in den Kinderschuhen. könnte, ein Land, mit dem wir in vielfältiger Weise ver- Wenn man sich klar macht, dass dort ein Kriegsver- bunden sind. Die Bosnier sind sehr enttäuscht, dass es brecher in einer Entität zu einer Höchststrafe von 25 Jah- bis jetzt eine solche Parlamentariergruppe noch nicht ren verurteilt werden kann, während es auf Staatsebene gibt. Sie bräuchten dringend parlamentarischen Aus- bis zu 45 Jahren sind, dann wird die Absurdität sehr of- tausch mit uns, gerade weil die Nationalitäten und die fensichtlich. Man sieht daran, dass es noch kein gemein- Ethnien in Bosnien es miteinander oft so schwer haben. sames Bosnien gibt. Daran muss gearbeitet werden. Da- Ich würde darum bitten, dass wir, alle Fraktionen mit- für braucht Bosnien noch Zeit. einander, darüber nachdenken, ob dieses Fehlen einer entsprechenden Gruppe nicht zu heilen ist. Wir sollten noch einmal sehr gut überlegen, ob es nicht doch zu früh ist, das OHR-Mandat im kommenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sommer abzuschließen und diesen Aktendeckel zuzu- bei der FDP und der LINKEN) machen, weil damit die Bonn Powers verloren gehen. Dass eine Parlamentariergruppe, die sich mit Südost- Wegen der Zentrifugalkräfte, die es in dem Land derzeit europa befasst, nach Serbien, Kosovo und Montenegro noch gibt, wegen des starken Nationalismus und wegen fährt, aber um Bosnien herum, ist angesichts der politi- der Unvollkommenheit der Verfassung plädiere ich da- schen Bedeutung Bosniens und der Verbindungen, die für, dass in jedem Fall ein Weg dafür gesucht wird, dass wir zu diesem Land haben, nicht angemessen. die Durchgriffsrechte für denjenigen, der dort als Reprä- sentant tätig sein wird – wer auch immer das sein wird –, Zu der heute anstehenden Entscheidung. Deutschland weiterhin bestehen bleiben. Ich glaube, man braucht sie ist mit dem Fall der Mauer politisch in ein neues Zeital- für den Aufbau dieses Landes und damit dieses Land in ter gestoßen worden. Wir mussten lernen, dass erwartet Frieden erwachsen werden kann. wird, dass wir an internationalen Interventionen teilneh- men. Auch wurde von uns die Einsicht erwartet, dass hu- Schönen Dank. manitäre Interventionen manchmal einen militärischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Teil brauchen. Ich will meine Redezeit an Sie nicht ver- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der schwenden, Herr Paech. Aber dass Sie Srebrenica, die CDU/CSU und der FDP) Befreiung von Sarajevo und die Tatsache, dass das Ende des Mordens erst mit der Militärintervention kam, ein- fach unter den Tisch fallen lassen, das ist unglaublich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) Für die SPD-Fraktion spricht Gerd Höfer. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Gerd Höfer (SPD): CDU/CSU und der FDP) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir im Zusammenhang mit Bosnien eines gelernt Manchmal hat man im parlamentarischen Spiel das haben, dann doch das: Es kann sehr inhuman sein, nicht Glück, die Gelegenheit zu haben, das Land, über das militärisch zu intervenieren. sich eine Streitfrage entwickelt hat, zu besuchen. Am 2. und 3. November 2006 war ich dank Peter Struck, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das für die SPD-Fraktion verantwortet hat, und anderer bei der CDU/CSU und der SPD) in Bosnien-Herzegowina. Zu der Entwicklung in Bosnien. Dieses Land befindet Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir bestimmte sich im Stadium des Nation-Building. Das ist ein Dinge aus unserer eigenen Sicht auf ein Land projizie- schwieriger Prozess, der in jedem Land mit anderen In- ren, während wir von dem Land nur relativ wenig wis- strumentarien zu leisten ist. Aber offensichtlich ist es sen. Auch dank der fürsorglichen Begleitung des Bot- überall ein Prozess, der unendlich viel Geduld braucht. schafters wurde mir bei diesem Besuch gezeigt, wie es Es wäre absurd, jetzt, nach den vielen Jahren, nach den dort zurzeit in weiten Teilen aussieht. Wir wollen nicht Investitionen, die an Menschen und Finanzen geleistet darum herumreden. Ich nehme an, der Kollege Schwarz- worden sind, durch Ungeduld, durch Kurzatmigkeit das Schilling, mit dem ich in der Botschaft in Sarajewo habe Erreichte zu zerstören. Deswegen ist es richtig, dass in reden können, wird nichts dagegen haben, dass ich sage, verringertem Umfang Truppen bleiben. Ich will noch dass er am 6. November 2006 dem „Spiegel“ ein Inter- einmal sagen: Die Menschen in Bosnien – und zwar aller view gegeben hat, in dem steht, dass die Ankündigung Ethnien – wünschen sich den Verbleib von „Althea“. von Dr. Jung, die Bundeswehr aus Bosnien abzuziehen, dort eine Diskussionslawine ausgelöst hat. Bosnien ist nach wie vor ein fragiler Staat; wir haben vor kurzem darüber gesprochen. Als Folge von Dayton Vier Tage vorher habe ich mir die Situation vor Ort hat Bosnien nach wie vor vollkommen unzureichende angeschaut. Dr. Stinner, man kann das eine so und das Grundlagen. Es kann noch gar kein richtiger Staat sein, andere anders sehen. Es gibt nichts, was nur gut oder nur weil seiner Verfassung fast alle wesentlichen Teile schlecht ist. Die Diskussionslawine, die dort ausgelöst fehlen, die eine Nation braucht: Es gibt keine Ewigkeits- wurde, hat dazu geführt, dass man sich die Situation in garantie für demokratische Rechte, es gibt keine Finanz- Bosnien-Herzegowina genauer anschaut. Ich sage ein- verfassung, es gibt keine Schul- und Wissenschaftsver- mal, was die „loyal“, die Zeitschrift der Reservisten, vor Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6991

Gerd Höfer (A) wenigen Tagen veröffentlicht hat: Es ging von der Mei- ohne dass die Stabilität von Soldaten bzw. der internatio- (C) nung eines Redakteurs, dass es dort einen schlafenden nalen Gemeinschaft abgesichert wird, wird nichts zu er- Krieg gebe, bis hin zur Aussage, Bosnien-Herzegowina reichen sein. sei relativ stabilisiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Liebe Kollegin Beck, ich bitte darum, nicht immer CDU/CSU) den englischen Begriff „Nation Building“ zu verwenden. In Bosnien-Herzegowina tut die Antwort auf die Frage Selbst wenn es inzwischen gelungen ist, ein Verteidi- Not, ob sich dort eine Staatsbürgerschaft entwickelt, gungsministerium für Bosnien-Herzegowina zu imple- gleichgültig welcher Ethnie irgendjemand angehört. mentieren, sind die Soldaten, die von diesem Verteidi- Eine Nation wird es nie werden. gungsministerium befehligt werden sollen, immer noch rein ethnisch und religiös geprägt. Die Republik Srpska In diesem Zusammenhang hatten natürlich auch die hat eine andere Struktur als die Allianz aus Kroaten und Soldaten bestimmte Hoffnungen. Sie haben gesagt: Na Bosniern. Das ist in diesem Fall unproblematisch, weil gut, wenn die plakative Aussage verwirklicht wird, dann nicht von einem Krieg auszugehen ist. werden wir Weihnachten wieder zu Hause sein. – Auf- grund ihrer eigenen Einschätzung haben sie aber selbst Anders verhält es sich, wenn man diese Verhältnisse gesagt: Dass es so nicht gehen wird, kann man erkennen, auf die Polizeistruktur überträgt. Wenn der Innenminis- wenn man die Liaison and Observation Teams besucht ter keine Herrschaft über seine eigenen Polizeikräfte hat hat. Ich hatte die Gelegenheit, einen Vormittag lang ein und auch bei diesen ethnische oder religiöse Gesichts- solches Team durch eine Kleinstadt mit etwa 5 000 bis punkte eine Rolle spielten, dann wäre das Ziel einer 6 000 Einwohnern und deren Umfeld zu begleiten. selbst tragenden Stabilität sehr weit entfernt. Insofern ist Auch von den Menschen in Uniform, die dort mitten die Ankündigung des Ministers, die in unserem Bundes- in der Gesellschaft wohnen, ist klar gesagt worden, dass tagsmandat festgelegte Obergrenze zu senken, richtig. eine sich selbst tragende Sicherheitsstabilität ohne Un- Das ist aber leider in Bosnien-Herzegowina so verstan- terfütterung durch ein militärisches Angebot in Bosnien- den worden, dass die Zahl der 872 Soldatinnen und Sol- Herzegowina noch nicht besteht. daten, die sich zurzeit noch dort aufhalten, reduziert wer- den soll. Meine Empfehlung weicht etwas von dem ab, was der Bundesminister der Verteidigung ausgeführt hat. Wenn Dass die Obergrenze gesenkt werden kann, steht au- man im Dezember mit einer Review beginnt, kann diese ßer Frage. Wie weit man das machen kann oder soll, möglicherweise nicht vor Januar abgeschlossen werden, sollte nach den Wahlen in Serbien bzw. nach einer Re- (B) weil die Wahlen in Serbien auch eine Rolle spielen. Da- view im Dezember, Januar oder Februar entschieden (D) mit sind Risiken verbunden, die auf Bosnien-Herzego- werden, wenn die wichtigen politischen Fragen geklärt wina ausstrahlen können. Das geht auf eine unselige sind. Dann sollten wir uns allerdings an die mühselige Verfassungsbestimmung zurück; die Ethnien – übersetzt Aufgabe begeben, eine Exitstrategie zu entwickeln, die heißt das: die Religionen – haben in Bosnien-Herzego- allerdings konditioniert sein sollte. Eine Kondition wina ein Minderheitenrecht im Parlament erstritten. könnte unter anderem darin bestehen, dass es von der Übertragen wir das einmal auf den Bundestag. Ich Europäischen Gemeinschaft nicht hingenommen wird, nehme nur die zwei größten Religionen als Beispiel. dass die Verfassung ein ethnisches Minderheitenvotum Man stelle sich vor, was hier los wäre, wenn die Protes- vorsieht. tanten – um einen veralteten Begriff zu gebrauchen – ein Minderheitenvotum gegenüber den Katholiken hätten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der oder umgekehrt. CDU/CSU) Ich wage nicht einzuschätzen, wie die Wahlen in Ser- Diese Aufgabe fällt dann – wie Herr Dr. Stinner fest- bien ausgehen und inwieweit sie nationalistische Ten- gestellt hat – Gott sei Dank in die deutsche Hauptver- denzen haben, zumal in der Verfassung festgeschrieben antwortung, die sich durch die deutsche EU-Ratsprä- ist, dass das Kosovo auf ewig serbisches Hoheitsgebiet sidentschaft, den deutschen Hohen Repräsentanten für bleibt. Ich wage zurzeit nicht auszudenken, was ge- Bosnien-Herzegowina und einen deutschen Komman- schieht, wenn die Statusfrage des Kosovos geklärt wird deur ergibt. Ich denke, diese Aufgabe ist nicht nur hin- – in welche Richtung auch immer –, ob nicht separatisti- reichend sinnvoll, sondern auch interessant. Denn dann sche und ebenfalls auf die Religionsgemeinschaft bezo- könnte ein Stabilitätsanker in einem Bereich entstehen, gene Auseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina der bisher noch nicht zur Ruhe gekommen ist und des- ausbrechen könnten. Denn das würde eine Signalwir- halb noch militärische Unterstützung braucht. Das kung haben. Von der Republik Srpska wurde seit lan- wurde mir bei meinem Besuch auch von den Militärs be- gem angekündigt, dass ähnlich wie in Montenegro ein stätigt. Sie sehen darin eine sinnvolle Aufgabe. Referendum darüber entscheiden soll, ob sich die Repu- blik Srpska nach Serbien orientiert. Dadurch würde sich Ich bitte Sie herzlich um die breit gefächerte Zustim- das gesamte Staatsgebilde Bosnien-Herzegowina völlig mung dieses Hauses. anders darstellen als heute. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es gibt dort also noch jede Menge politische Risiken, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- die wir begleiten müssen. Allein durch Polizeikräfte, SES 90/DIE GRÜNEN) 6992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fundem historischen Wissen an die Sache herangeht und (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem letz- die Region kennt, der aber, wenn es geboten ist, Härte ten Redner das Wort gebe, bitte ich darum, den Ge- zeigt – Stichwort „Bonn Powers“ –, und zwar in Verbin- räuschpegel zu senken. dung mit konstruktiven Ansätzen. Christian Schwarz- Schilling, auch von unserer Seite herzlichen Dank für (Beifall) diese Arbeit. Ich weiß, dass es untereinander viel zu besprechen gibt, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP aber ich glaube, die Debatte ist zu wichtig. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Freiherr zu Guttenberg, Sie haben das Noch ein Wort zur Entscheidung von Riga in den Wort. letzten beiden Tagen, Serbien, Bosnien-Herzegowina (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und Montenegro die Tür für PfP zu öffnen. Diese Tür war bislang nur quietschend zu öffnen. Das Ausmaß der Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ Weisheit dieser Entscheidung werden wir wahrschein- CSU): lich erst nach den Wahlen in Serbien am 21. Januar Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nächsten Jahres ermessen können. Mir ist sehr wichtig, Herren! In den vergangenen Jahren ist in Bosnien-Her- hervorzuheben, dass es in unserem Interesse liegt, dass zegowina tatsächlich viel erreicht worden. Allerdings die Perspektive der NATO-Mitgliedschaft und die einer verharrt auch vieles in Stagnation; Kollege Stinner und europäischen Mitgliedschaft gerade im Hinblick auf Ser- Kollege Jung sowie andere haben in dieser Debatte da- bien aufrechterhalten wird. Aber wir dürfen mit unseren rauf hingewiesen. Der gescheiterte Verfassungsprozess Grundsätzen nicht brechen. In diesem Kontext ist es mir ist das eine, die stockende Polizeireform das andere. Wir – mit Blick auf die Bundesregierung – wichtig, deutlich können die Verantwortlichen vor Ort gar nicht mit genü- zu machen, dass wir auch nach der Entscheidung in den gend Nachdruck dazu aufrufen, beide Prozesse wieder in letzten beiden Tagen immer wieder darauf hinweisen, Gang zu bringen und auf diesem Weg fortzuschreiten, dass die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Straf- damit hier wieder Substanz geschaffen wird. gerichtshof all das erst begründet, was in Zukunft ge- währleistet werden kann. Das ist ein sehr wichtiger (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Punkt. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Errungenschaften, von denen wir sprechen, Herr Deutschland wird im Rahmen der doppelten Präsi- (B) Kollege Paech – Frau Beck, hier gebe ich Ihnen aus- (D) drücklich Recht –, sind auch und gerade auf die unter- dentschaft im kommenden Jahr – darauf wurde bereits stützenden Leistungen unserer Bundeswehrsoldaten vor hingewiesen – aufgerufen sein, ein Höchstmaß an Fin- Ort zurückzuführen. gerspitzengefühl, Kreativität und Fertigkeiten an den Tag zu legen, insbesondere wenn es um die Lösung einer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Schlüsselfragen dieser Region, den Status des neten der SPD und der FDP) Kosovo, und darum geht, dies konfliktfrei zu gestalten und ein Übergreifen dieses Problems auf Bosnien-Her- Daher können wir von einem erfolgreichen integrierten zegowina zu verhindern, Stichwort „Republika Srpska“. Ansatz in Bosnien-Herzegowina sprechen, der den zivi- Wir müssen vorsichtig vorgehen. len Ansatz mit dem militärischen verzahnt. Seitens der Unionsfraktion gibt es genügend Gründe, unseren Solda- Gerade vor diesem Hintergrund bleibt die Verlänge- ten wie den zivilen Kräften vor Ort sehr zu danken. rung der Mission „Althea“ das Gebot der Stunde und un- verzichtbar. Wir müssen Konflikte vermeiden. Das lässt (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der sich nicht ohne eine militärische Präsenz herstellen. Von FDP) daher ist die Verlängerung in unserem Interesse. Die Dieser einmal im Jahr ausgesprochene Dank dürfte an- Union unterstützt den Antrag der Bundesregierung und gesichts der Belastungen und Entbehrungen vor Ort so- wird ebendiesem Antrag zustimmen. wie des Verzichts auf Familie und gewohnte Umfelder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – das gilt sowohl für die zivilen als auch für die militäri- der FDP) schen Kräfte – manchmal etwas breiter ausfallen. Umso unwürdiger ist die Behandlung durch manche hier im Insgesamt handelt es sich bei „Althea“ in unseren Au- Saal, die dem keine Beachtung schenken. Ich glaube, un- gen um ein Erfolgsmodell europäischer Verantwortung, sere Soldaten haben mehr verdient als das. das für andere Partner kein Gegengewicht bedeutet und das nicht im Gegensatz zu anderen Organisationen wie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP der NATO entwickelt wurde; vielmehr gibt es Ver- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schränkungen, Verzahnungen. Komplementäres Handeln Die Arbeit des Hohen Repräsentanten Christian steht im Vordergrund. Ein solches Erfolgsmodell ist Schwarz-Schilling wurde heute schon einige Male blu- letztlich ein Zukunftsmodell, möglicherweise auch für menreich hervorgehoben. Ich schließe mich diesem Rei- andere Einsätze. Wir können stolz auf das sein, was mit gen gerne an und danke ihm seitens der Unionsfraktion „Althea“ in der Region geleistet wurde. Wir haben im- für seinen Einsatz herzlich. Er ist jemand, der mit pro- mense Aufgaben zu lösen. Von daher ist die Verlänge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6993

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) rung dieses Mandats notwendig. Wir bitten Sie alle um (Ernst Burgbacher [FDP]: Wir hören zu!) (C) Unterstützung. Rund 1 Million Menschen in Deutschland müssen dieses Herzlichen Dank. Jahr Wohngeld in Anspruch nehmen. Die bisherige Art dieser Mietzuschüsse ist völlig ungeeignet, um armen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Haushalten konsequent zu helfen. Das hat zwei Gründe: bei Abgeordneten der FDP) Erstens. Die Energiekosten sind explosionsartig gestie- gen. Zweitens. Ausgerechnet für Heizung und warmes Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wasser gibt es keinen Zuschuss. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses, Druck- Ich möchte das noch einmal verdeutlichen: Die Mie- sache 16/3636, zu dem Antrag der Bundesregierung zur ten sind in den letzten fünf Jahren um 5 Prozent gestie- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher gen, aber die Energiekosten für Privathaushalte sind im Streitkräfte an der EU-geführten Operation „Althea“. gleichen Zeitraum um 30 Prozent gestiegen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) sache 16/3521 anzunehmen. Es ist namentliche Abstim- mung verlangt. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, Rechnen Sie einmal weiter! Allein der Anstieg der Ener- bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass giepreise seit 2004 macht mittlerweile den Gegenwert sie nur eine Stimmkarte einwerfen, die auch ihren Na- von fast zwei Monatsmieten aus. men trägt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- Was ist mit dem Einkommen? Gerade in den unteren führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind Lohngruppen ist es praktisch gleich geblieben. alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das scheint der Fall zu sein. Ich eröffne hiermit die Abstimmung. (Zuruf von der LINKEN) Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine – Es ist eher weniger, ja. Stimme nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der ( [SPD]: Ist das Kritik an den Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Gewerkschaften oder was ist das?) Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Wer mit wenigen Hundert Euro pro Monat auskommen Ihnen später bekannt gegeben.1) muss, wohnt oft in schlecht isolierten Wohnungen, das heißt zugige Fenster anstelle von Doppelverglasung, der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Geiz-ist-geil-Kühlschrank anstelle eines Energiesparmo- Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- dells der Kategorie „AAA+“, Durchlauferhitzer mit ho- (B) Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, hem Verbrauch anstelle der Zentralheizung mit Warm- (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- wasserversorgung. So könnte man die Aufzählung KEN weiterführen. Ich bin mir aber sicher, dass Menschen mit so wenig Geld in der Tasche uns in Sachen Energiespa- Heizkostenzuschüsse für einkommensschwa- ren trotzdem noch einiges vormachen. che Privathaushalte ermöglichen Wer aber glaubt, diese Bürgerinnen und Bürger könn- – Drucksache 16/3351 – ten noch mehr Energie einsparen, hat den Ernst der so- Überweisungsvorschlag: zialen Schieflage in Deutschland nicht begriffen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)) Finanzausschuss (Beifall bei der LINKEN) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ich sage Ihnen: An dieser Stelle ist es unsere Pflicht, zu Verbraucherschutz handeln. Hier müssen wir handeln. Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Beifall bei der LINKEN) Haushaltsausschuss Der gravierende Mangel im Wohngeldgesetz muss sofort Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. – behoben werden. Heiz- und Warmwasserkosten müs- Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- sen für wohngeldberechtigte Haushalte in angemessener schlossen. Höhe erstattungsfähig werden. Ich bitte Sie, Ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaa- les fortzusetzen, und erteile das Wort dem Kollegen (Beifall bei der LINKEN – Unruhe) Hans-Kurt Hill, Die Linke. – Ich entnehme der Unruhe: Jeder wird wieder fragen: (Beifall bei der LINKEN) Woher soll das Geld kommen? (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie machen sich Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): doch keine Gedanken darüber, oder?) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen – Das sagen Sie in Ihrer Leichtfertigkeit. – Ich sage: Die und Kollegen! Liebe Gäste und alle, die mir zuhören Gegenfinanzierung ist sehr einfach. Über die Mehr- oder die mir nicht zuhören! wertsteuer profitiert auch der Finanzminister vom jetzi- gen Energiepreiswucher. Schrauben die Energiekon- 1) Ergebnis Seite 6994 D zerne die Preise hoch, füllt sich auch Steinbrücks 6994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Hans-Kurt Hill (A) Haushaltskasse. Erzählen Sie uns bitte nicht, Sie hätten (Beifall bei der LINKEN – Uwe Beckmeyer (C) kein Geld, den armen Haushalten zu helfen! Sie haben in [SPD]: Das ist Populismus! Es ist ja nicht aus- den letzten Monaten eine beispiellose Steuerbefreiungs- zuhalten, was Sie für einen Schwachsinn re- orgie zugunsten der Konzerne betrieben, und zwar ohne den! – Sören Bartol [SPD]: Das ist ja unglaub- dass die Bundesregierung dafür eine echte Gegenleis- lich!) tung verlangte. Eines möchte ich Ihnen noch sagen: In diesem Land Und wie ist es bei Wohngeldempfängern und Hartz-IV- ist keiner freiwillig arm. Empfängern? Diese – das kann man nur immer wieder sagen – müssen sich quasi für ein „Handgeld“ vor den (Beifall bei der LINKEN) Behörden ausziehen. Ich möchte nicht, dass in Deutschland jemand gezwun- Machen Sie endlich Schluss damit und geben Sie das gen ist, im Winter zu frieren, weil er sich die Heizung Geld an die Leute weiter, die es ehrlich brauchen! Denn nicht leisten kann. Ich sage Ihnen eines: In vier Wochen für die armen Haushalte in Deutschland kommt es noch ist Weihnachten! Tun wir etwas! dicker: Vielen Dank. Erstens. Die Mehrkosten für Energie werden sich in diesem Winter gegenüber dem letzten Jahr noch einmal (Beifall bei der LINKEN) verdoppeln. Zweitens. Die von Ihnen beschlossene unsinnige Er- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: höhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent bringt die ar- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- men Haushalte vollends in Existenznot. führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- mung zu dem Antrag der Bundesregierung mit dem Ti- Sagen Sie mir: Wie soll da noch eine gesellschaftliche tel „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Teilhabe sichergestellt werden, wenn es heißt: keine Streitkräfte an der EU-geführten Operation „Althea“ zur warme Wohnung und kein warmes Wasser und – in der weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bos- Konsequenz – kein Weihnachtsmärchenbesuch mit den nien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung Kindern, kein Weihnachtsgeschenk, kein Besuch bei der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung Oma und Opa, kein Weihnachtsbraten oder sogar kein sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Tannenbaum? Aufgaben, auf Grundlage der Resolutionen des Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Ko- Sicherheitsrates der Vereinten Nationen“, Druck- alition, machen Sie Schluss mit der Umverteilung von sachen 16/3521 und 16/3636, bekannt: Abgegebene (B) (D) unten nach oben! Sie entscheiden, ob es in Deutschland Stimmen 534. Mit Ja haben gestimmt 486, mit Nein ha- in vielen Wohnungen kalt oder warm ist. Sie entscheiden ben gestimmt 46, Enthaltungen 2. Damit ist die Be- das. schlussempfehlung des Ausschusses angenommen.

Endgültiges Ergebnis Axel E. Fischer (Karlsruhe- Holger Haibach Abgegebene Stimmen: 534; Land) Gerda Hasselfeldt davon Dr. Maria Böhmer Dr. Ursula Heinen Klaus-Peter Flosbach Uda Carmen Freia Heller ja: 486 Wolfgang Börnsen Herbert Frankenhauser nein: 46 (Bönstrup) Dr. Hans-Peter Friedrich Jürgen Herrmann enthalten: 2 (Hof) Bernd Heynemann Klaus Brähmig Jochen-Konrad Fromme Ernst Hinsken Ja Dr. Michael Fuchs Dr. Ralf Brauksiepe Hans-Joachim Fuchtel Robert Hochbaum CDU/CSU Monika Brüning Dr. Jürgen Gehb Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Ralf Göbel Anette Hübinger Dorothee Bär Dr. Reinhard Göhner Hubert Hüppe Thomas Bareiß Josef Göppel Susanne Jaffke Thomas Dörflinger Peter Götz Dr. Hans-Heinrich Jordan Günter Baumann Marie-Luise Dött Dr. Wolfgang Götzer (Konstanz) Ernst-Reinhard Beck Maria Eichhorn Ute Granold Bartholomäus Kalb (Reutlingen) Georg Fahrenschon Reinhard Grindel Hans-Werner Kammer Veronika Bellmann Hermann Gröhe Steffen Kampeter Dr. Dr. Hans Georg Faust Markus Grübel Alois Karl Enak Ferlemann Bernhard Kaster Ingrid Fischbach Monika Grütters Siegfried Kauder (Villingen- Carl-Eduard von Bismarck Hartwig Fischer (Göttingen) Karl-Theodor Freiherr zu Schwenningen) Dirk Fischer (Hamburg) Guttenberg Volker Kauder Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6995

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Eckart von Klaeden Hermann-Josef Scharf Christian Kleiminger (C) Jürgen Klimke Dr. Wolfgang Schäuble Hans-Ulrich Klose Julia Klöckner Hartmut Schauerte (Hildesheim) Astrid Klug Dr. Dr. Bärbel Kofler Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Walter Kolbow Manfred Kolbe Karl Schiewerling Fritz Rudolf Körper Norbert Königshofen Norbert Schindler Dr. Michael Bürsch Karin Kortmann Dr. Georg Schirmbeck Rolf Kramer Hartmut Koschyk Marion Caspers-Merk Thomas Kossendey Christian Schmidt (Fürth) Dr. Peter Danckert Ernst Kranz (Berlin) Nicolette Kressl Dr. Martina Krogmann Dr. Andreas Schockenhoff Martin Dörmann Volker Kröning Dr. Hermann Kues Dr. Ole Schröder Dr. Carl-Christian Dressel Angelika Krüger-Leißner Dr. (Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Elvira Drobinski-Weiß Dr. Hans-Ulrich Krüger Andreas G. Lämmel Jürgen Kucharczyk Dr. Norbert Lammert Wilhelm Josef Sebastian Detlef Dzembritzki Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Max Lehmer Kurt Segner Siegmund Ehrmann Dr. Uwe Küster Paul Lehrieder Bernd Siebert Petra Ernstberger Christine Lambrecht Ingbert Liebing Karin Evers-Meyer Christian Lange (Backnang) Eduard Lintner Annette Faße Dr. Elke Ferner Waltraud Lehn Dr. Michael Luther Erika Steinbach Helga Lopez Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Rainer Fornahl Gabriele Lösekrug-Möller Wolfgang Meckelburg Gero Storjohann Gabriele Frechen Dirk Manzewski Dr. Andreas Storm Dagmar Freitag Lothar Mark Dr. Angela Merkel Peter Friedrich Lena Strothmann Katja Mast Laurenz Meyer (Hamm) Michael Stübgen Martin Gerster Hilde Mattheis Maria Michalk Hans Peter Thul Iris Gleicke Markus Meckel Antje Tillmann Günter Gloser Petra Merkel (Berlin) Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl Renate Gradistanac Dr. Dr. Eva Möllring Arnold Vaatz Angelika Graf (Rosenheim) Ursula Mogg Volkmar Uwe Vogel Dieter Grasedieck Marko Mühlstein Andrea Astrid Voßhoff (B) Carsten Müller Monika Griefahn Detlef Müller (Chemnitz) (D) (Braunschweig) Gerhard Wächter Michael Müller (Düsseldorf) Stefan Müller (Erlangen) Gabriele Groneberg Gesine Multhaupt Bernward Müller (Gera) Achim Großmann Dr. Rolf Mützenich Dr. Gerd Müller Wolfgang Grotthaus Henry Nitzsche Peter Weiß (Emmendingen) Wolfgang Gunkel Holger Ortel Gerald Weiß (Groß-Gerau) Hans-Joachim Hacker Heinz Paula Dr. Georg Nüßlein Karl-Georg Wellmann Joachim Poß Franz Obermeier Anette Widmann-Mauz Klaus Hagemann Christoph Pries Klaus-Peter Willsch Alfred Hartenbach Dr. Wilhelm Priesmeier Dagmar Wöhrl Michael Hartmann Dr. Rita Pawelski Wolfgang Zöller (Wackernheim) Dr. Peter Paziorek Willi Zylajew Nina Hauer Maik Reichel Ulrich Petzold Gerold Reichenbach Dr. SPD Reinhold Hemker Dr. Carola Reimann Sibylle Pfeiffer Dr. Lale Akgün Rolf Hempelmann Christel Riemann- Niels Annen Dr. Barbara Hendricks Hanewinckel Ingrid Arndt-Brauer Walter Riester Petra Heß Sönke Rix Daniela Raab (Neuruppin) Gabriele Hiller-Ohm Dr. Doris Barnett Gerd Höfer Karin Roth (Esslingen) Hans Raidel Dr. Hans-Peter Bartels (Wismar) Michael Roth (Heringen) Dr. Peter Ramsauer Klaus Barthel Frank Hofmann (Volkach) Peter Rauen Sören Bartol Eike Hovermann Marlene Rupprecht Sabine Bätzing Klaas Hübner (Tuchenbach) Klaus Riegert Dirk Becker Christel Humme Anton Schaaf Dr. Uwe Beckmeyer Lothar Ibrügger Axel Schäfer (Bochum) Franz Romer Brunhilde Irber Bernd Scheelen Kurt J. Rossmanith Petra Bierwirth Johannes Jung (Karlsruhe) Dr. Norbert Röttgen (Heidelberg) Dr. Christian Ruck Johannes Kahrs Silvia Schmidt (Eisleben) (Weiden) Ulrich Kasparick Dr. Frank Schmidt Peter Rzepka Dr. Dr. h. c. Susanne Kastner Heinz Schmitt (Landau) Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus Brandner Carsten Schneider (Erfurt) 6996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Mechthild Dyckmans Grietje Bettin DIE LINKE (C) Jörg van Essen Alexander Bonde Hüseyin-Kenan Aydin Reinhard Schultz Ulrike Flach Ekin Deligöz Dr. (Everswinkel) Otto Fricke Dr. Thea Dückert Dr. (Spandau) Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Uschi Eid Eva Bulling-Schröter Dr. Edmund Peter Geisen Hans Josef Fell Dr. Dr. Dr. Angelica Schwall-Düren Hans-Michael Goldmann Katrin Göring-Eckardt Werner Dreibus Dr. Martin Schwanholz Miriam Gruß Anja Hajduk Klaus Ernst Dr. Christel Happach-Kasan Britta Haßelmann Diana Golze Rita Schwarzelühr-Sutter Heinz-Peter Haustein Winfried Hermann Dr. Gregor Gysi Jörg-Otto Spiller Birgit Homburger Peter Hettlich Heike Hänsel Andreas Steppuhn Dr. Werner Hoyer Priska Hinz (Herborn) Hans-Kurt Hill Ulrike Höfken Cornelia Hirsch Rolf Stöckel Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Anton Hofreiter Inge Höger-Neuling Christoph Strässer Hellmut Königshaus Bärbel Höhn Dr. Barbara Höll Dr. Peter Struck Gudrun Kopp Dr. Lukrezia Jochimsen Joachim Stünker Heinz Lanfermann Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Dr. Hakki Keskin Dr. Rainer Tabillion Katja Kipping Renate Künast Jörg Tauss Harald Leibrecht Monika Knoche Undine Kurth (Quedlinburg) Jella Teuchner Ina Lenke Jan Korte Dr. h. c. Wolfgang Thierse Sabine Leutheusser- Markus Kurth Oskar Lafontaine Jörn Thießen Schnarrenberger Monika Lazar Michael Leutert Franz Thönnes Markus Löning Dr. Reinhard Loske Ulla Lötzer Hans-Jürgen Uhl Patrick Meinhardt Anna Lührmann Dr. Gesine Lötzsch Rüdiger Veit Jan Mücke Jerzy Montag Ulrich Maurer Simone Violka Burkhardt Müller-Sönksen Kerstin Müller (Köln) Dorothée Menzner Jörg Vogelsänger Dirk Niebel Kersten Naumann Dr. Marlies Volkmer Hans-Joachim Otto Brigitte Pothmer Wolfgang Nešković Hedi Wegener (Frankfurt) Krista Sager Dr. Norman Paech Andreas Weigel Detlef Parr Elisabeth Scharfenberg Petra Pau Petra Weis Christine Scheel Gunter Weißgerber Gisela Piltz Irmingard Schewe-Gerigk Paul Schäfer (Köln) Jörg Rohde Dr. Gerhard Schick Volker Schneider (B) (Wiesloch) Frank Schäffler Rainder Steenblock (Saarbrücken) (D) Dr. Rainer Wend Dr. Silke Stokar von Neuforn Dr. Herbert Schui Lydia Westrich Hans-Christian Ströbele Dr. Ilja Seifert Dr. Dr. Margrit Wetzel Dr. Hermann Otto Solms Dr. Harald Terpe Frank Spieth Andrea Wicklein Dr. Max Stadler Wolfgang Wieland Engelbert Wistuba Dr. Rainer Stinner Dr. Dr. Florian Toncar Alexander Ulrich Waltraud Wolff Christoph Waitz Nein Jörn Wunderlich (Wolmirstedt) Dr. Claudia Winterstein Heidi Wright Dr. Volker Wissing CDU/CSU fraktionslos Uta Zapf Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Gert Winkelmeier Manfred Zöllmer Willy Wimmer (Neuss) Brigitte Zypries BÜNDNIS 90/DIE Enthalten GRÜNEN SPD FDP Kerstin Andreae (Essen) CDU/CSU Jens Ackermann Marieluise Beck (Bremen) Daniel Bahr (Münster) Volker Beck (Köln) FDP Rainer Brüderle Cornelia Behm FDP Ernst Burgbacher Joachim Günther (Plauen) Patrick Döring Matthias Berninger Jürgen Koppelin Uwe Barth

Wir kehren zurück zur Debatte. Ich gebe das Wort Die Linke, welcher Heizkosten- und Warmwasserzu- dem Kollegen Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion. schüsse für einkommensschwache Privathaushalte im Rahmen der Wohngeldbewilligung ermöglichen soll. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Antrag stellt darauf ab, das Wohngeldgesetz entspre- chend zu ändern. Kosten für Heizung und Warmwasser Gero Storjohann (CDU/CSU): sollen für wohngeldberechtigte Haushalte dauerhaft und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sogar noch in der jetzt laufenden Heizperiode 2006/2007 Herren! Wir diskutieren heute einen Antrag der Fraktion erstattungs- bzw. zuschussfähig werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6997

Gero Storjohann (A) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 3,5 Millionen Wohngeldempfängerhaushalte. Nach ers- (C) ten Schätzungen ist die Zahl aber stärker abgesunken als Mit dem Antrag der Linken würden Inhalt und erwartet. Am Jahresanfang 2006 bezogen noch rund Umfang des Wohngeldes signifikant erweitert werden. 750 000 Haushalte Wohngeld. Wohngeld wird Mietern und Eigentümern gezahlt, wenn die Höhe ihrer Miete oder Belastung für angemessenen Das Wohngeld senkt im Gegensatz zur Unterstützung großen Wohnraum die wirtschaftliche Leistungsfähig- durch Transferleistungen die Mietbelastung durch einen keit ihres Haushalts überfordert. Seit 40 Jahren werden Zuschuss zur Bruttokaltmiete lediglich ab. Für den ein- die Wohnkosten einkommensschwacher Mieter und zelnen Wohngeldempfänger bleiben Wohnkosten des- selbst nutzender Eigentümer durch das Wohngeld bezu- halb spürbar. Für ihn besteht somit immer ein Anreiz, schusst. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und sich eine preisgünstigere Wohnung zu suchen oder Ener- SPD steht: gie zu sparen. Zum Energiesparen gehört eben auch ein Das Wohngeld wird weiterhin der sozialen Absi- schonender Umgang mit Wasser und der angemessene cherung des Wohnens dienen. Umgang mit der Heizung. Für ihn besteht deshalb immer ein Anreiz, eine Wohnung mit niedrigen Heizkosten bei Wir haben dort aber auch klar und deutlich formuliert der Wohnungssuche vorzuziehen. – ich zitiere –: (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Muss man sich Wohngeld ist keine Subvention, sondern eine Für- aber auch leisten können!) sorgeleistung. Es entsteht somit ein Marktdruck – jetzt kommt der Wir haben dies so festgeschrieben, da es zur Sanie- Punkt – für Vermieter, bestehende Mietwohnungen ener- rung unserer Haushalte unerlässlich ist, alle Ausgaben getisch zu optimieren, weil es eine Nachfrage nach opti- auf den Prüfstand zu stellen. mierten Wohnungen gibt. Das sind notwendige und be- Außerdem haben wir festgelegt, dass Bund und Län- währte Anreizmechanismen, die wir als Union nicht der das Wohngeldrecht zügig mit dem Ziel einer deutli- bereit sind, aufzugeben. chen Vereinfachung überprüfen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorarbeiten dazu wurden schon durch die Bauminis- neten der SPD) terkonferenz getätigt. Wir sind optimistisch, dass der daraus resultierende Gesetzentwurf im kommenden Jahr Ziel ist aber auch die Einhaltung einer tragbaren und beraten werden kann. angemessenen Wohnkostenbelastung. Über die Ange- messenheit der Höhe des staatlichen Zuschusses ist in (B) Bereits im Rahmen der Gesetzgebung zu Hartz IV der Vergangenheit – das zeigt auch die heutige Debatte – (D) wurde das Wohngeld umfassend strukturell überarbeitet. stets kontrovers debattiert worden. Ich erinnere mich an Hierbei wurde eine klare Abgrenzung der Zahlung des Debatten beispielsweise in Landtagen, wo immer wieder Wohngeldes zum Transferleistungssystem für Hartz-IV- einmal der Antrag gestellt wurde, man solle den Zu- Empfänger vorgenommen. Wohngeld sollte wieder als schuss wegen der steigenden Nettokaltmieten erhöhen. originär wohnungspolitisches Instrument auf einen Es bestand somit immer schon das Begehren, den be- Kernbereich von Leistungsempfängern zurückgeführt rechtigten Haushalten mehr Zuschüsse zu zahlen. Für werden. Zu diesen Leistungsempfängern gehören Men- die Bestimmung der Angemessenheit der Höhe des schen, die zwar ihren allgemeinen Lebensunterhalt, nicht staatlichen Zuschusses ist meines Erachtens ein Mittel- aber ihre Wohnkosten vollständig durch eigenes Ein- weg, der sich an der Leistungsfähigkeit des Staates und kommen decken können. Als Wohngeldempfänger ver- den möglichen Eigenleistungen des Empfängerhaushal- bleiben nur noch Gruppen, die finanziell nicht in der tes orientiert, zu wählen. Lage sind, ihre Wohnkosten vollständig aus eigenem Einkommen zu decken, und kein Arbeitslosengeld II er- Die Linksfraktion greift das Thema nun nicht auf- halten. Überwiegend sind das Familienhaushalte von Ge- grund der Steigerung der Nettomieten auf, sondern auf- ringverdienern und Haushalte von Arbeitslosengeld-I- grund der Steigerung der Heiz- und Warmwasserkos- Empfängern sowie Rentnerhaushalte. ten. Im Ergebnis bleibt die politische Frage, was sich der Sozialstaat noch zusätzlich leisten kann bzw. was der Mit der Wohngeldvereinfachung im Rahmen des Haushalt noch hergibt. Mein Fazit: Eine Übernahme der Hartz-IV-Gesetzes hat sich die Struktur der Wohngeld- Mehrbelastungen durch Neben- und Heizkosten wäre empfänger stark verändert. Die Anzahl der Empfänger energiepolitisch unvernünftig. Es würde dem Anreiz von Wohngeld ist erheblich zurückgegangen. Hierfür zum sparsamen Umgang mit Energie zuwiderlaufen, bei gibt es zwei Gründe: Mietern und vor allem auch bei Vermietern. Erstens. Nach dem Ausschluss der Transferleistungs- Aus fiskalischen und energetischen Gründen lehnt die empfänger vom Wohngeldbezug sind bei weitaus mehr CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab. Haushalten Unterkunftsleistungen des Transferleistungs- systems an die Stelle des Wohngeldes getreten als erwar- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tet. Zweitens hat die Erweiterung der Zuverdienstmög- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lichkeiten im SGB II diese Entwicklung beschleunigt. Möchten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Hill So gab es im Jahre 2004 in Deutschland rund zulassen, Herr Kollege? 6998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Gero Storjohann (CDU/CSU): (Zuruf des Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]) (C) Nein, ich habe meine Rede schon beendet. – Dann rechnen Sie einmal durch, wie viel von der Gas- preiserhöhung durch die Steuererhöhungen zustande ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kommen ist. Sie sind schon am Ende Ihrer Rede. Vielen Dank. Wenn wir nach vorn blicken, sehen wir, dass es im Der Kollege Joachim Günther, FDP, hat das Wort. nächsten Jahr wieder einen großen Sprung geben wird: durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um (Beifall bei der FDP) 3 Prozentpunkte und durch die Erhöhung der Versiche- rungsteuer. Im Übrigen sind Sie als PDS an der Erhö- Joachim Günther (Plauen) (FDP): hung der Nebenkosten direkt beteiligt. Schauen Sie nach Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Berlin; da haben Sie die Grundsteuer kräftig angeho- Ich möchte den Antrag, den die Linke hier gestellt hat, ben. All das wird auf die Mieter niederprasseln und die nicht pauschal in Grund und Boden reden. Aber, Herr Mietnebenkosten noch einmal deutlich erhöhen. Hill, was Sie zuletzt gesagt haben, war Polemik, die die- sem Anliegen nicht gerecht wird. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Da reicht es nicht, die Bundesregierung aufzufordern, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- das Wohngeldgesetz zu ändern und mehr Geld einzuset- SES 90/DIE GRÜNEN) zen. Die Bundesregierung hat neben den einkommens- schwachen Haushalten ja auch die ALG-II-Empfänger in Sie sind in einer Art mit den Gefühlen von Menschen eine Situation gebracht, in der sie ihnen helfen muss. Sie umgegangen, die jeglicher Realität entbehrt. hätten sich einmal die Kosten anschauen sollen. Dann (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Die Menschen hätten Sie festgestellt, dass die Finanzierung so einfach haben diese Gefühle, Herr Kollege!) nicht funktioniert. Es ist ein Teufelskreis, aus dem man schlecht herauskommt. – Nein, ich werde es Ihnen erklären, ganz in Ruhe. – Ich möchte zunächst sagen, warum wir Ihrem Antrag in die- Ein zweiter Punkt kommt hinzu; der Kollege Storjo- ser Art nicht zustimmen können, aber natürlich auch hann hat ihn schon angesprochen. Wenn wir Warmwas- Vorschläge machen, was man unternehmen kann. ser und Heizung aus den Kosten herausnehmen und zu- sammen mit dem Wohngeld übernehmen lassen, wo Sie haben in Ihrem Antrag selbst Eckpunkte der Ent- bleibt dann der private Anreiz, etwas einzusparen? Auch wicklung auf dem Immobilienmarkt in den letzten fünf das widerspricht dem Prinzip der Eigenverantwortung. (B) Jahren dargelegt. Sie haben von einer Mieterhöhung um (D) 5 Prozent gesprochen. Dazu muss man allerdings sagen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass es in unserem Land Gebiete mit Mieterhöhungen der CDU/CSU) und Gebiete mit Mietrückgängen gibt. Das heißt, die Miete ist nicht das Problem, sondern die Betriebskos- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ten. Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hill zulassen? – Bitte schön. (Beifall bei der FDP) Auch das wurde hier deutlich gesagt. Bei den Betriebs- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): kosten gab es deutliche Steigerungen: bei Gas rund Herr Kollege Günther, Sie haben zu Recht angespro- 35 Prozent, bei Heizöl 33 Prozent, bei Strom 24 Prozent. chen, dass die Mietpreissteigerungen nicht nur mit den Ich nenne diese Zahlen ganz bewusst. Hinzu kommen Energiekosten, sondern auch mit anderen Kosten zusam- andere Nebenkosten. Für Wasser, Abwasser und Müll menhängen; es sind aber im Wesentlichen die Energie- kann man im Prinzip noch einmal 10 Prozent hinzurech- kosten. Da wir über die Finanzierung und die Teilhabe nen. All das sind Kosten, die – damit geht keine Fraktion der Gesellschaft sprechen, habe ich folgende Frage: in diesem Haus leichtfertig um – von einkommens- Wenn wir über den Emissionshandel 10 Prozent der schwachen Bürgern nur schwer getragen werden kön- Emissionszertifikate versteigern würden, hätten wir nen. Mehreinnahmen von 5 Milliarden Euro, die wir zurzeit Genau an dieser Stelle muss man die Frage stellen, der Energieindustrie schenken. Glauben Sie, dass wir im wie es zu diesen Kostensteigerungen gekommen ist. Da Falle einer Versteigerung der Emissionszertifikate in der muss man einmal genau hinschauen, zum Beispiel wel- Lage wären, den armen Haushalten die Kosten zu vergü- che Steuererhöhungen wir in den letzten fünf Jahren ten? durchgeführt haben. Dann sieht man, wie die Ökosteuer diese Kosten nach oben getrieben hat. Joachim Günther (Plauen) (FDP): (Beifall bei der FDP – Heidi Wright [SPD]: Aber Ich kann mir sehr viele Punkte vorstellen, bei denen die Ökosteuer ist doch nicht das Heizöl!) man theoretisch eine finanzielle Grundlage zum Beispiel für die Bezahlung von mehr Wohngeld nachweisen All das stellt einen Kreislauf dar, der meines Erachtens kann. Ich weiß, wie oft es in diesem Haus schon eine auf die von Ihnen vorgeschlagene Weise nicht zu durch- Diskussion über den Emissionshandel gegeben hat. Man brechen ist. kann beispielsweise beschließen, den Einsatz in Afgha- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 6999

Joachim Günther (Plauen) (A) nistan nicht zu verlängern und das Geld umzuschichten. nem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 500 und (C) Das sind aber alles Dinge, die das Wohngeld und den 900 Euro auskommen müssen. Die Zahl ist zwar richtig; Haushalt, an den es gezahlt wird, nicht betreffen. sie hat aber nur wenig mit Ihrem Antrag zu tun. Die große Mehrheit dieser Menschen ist durch Arbeitslosen- Ich möchte das gleich weiterführen, weil das eine geld II, Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter abge- Diskussion ist, um die sich viele im Moment leider et- sichert. Mit den seit 2005 geltenden Änderungen des was drücken. Es geht um die Zahlung von Unterkunft Wohngeldrechtes sind sie vom Wohngeld ausgenom- und Heizung für die ALG-II-Empfänger. Ich habe das men. Bei ihnen werden die Unterkunftskosten nämlich einmal an einem Rechenbeispiel dargestellt, das sich auf bereits im Rahmen der jeweiligen Sozialleistungen be- meinen Wahlkreis bezieht; die Zahlen sind je nach Kreis rücksichtigt. Konkret heißt das: Der Staat übernimmt die sehr unterschiedlich: Eine Familie mit zwei Kindern er- angemessenen Wohnkosten inklusive Nebenkosten. hält in unserem Wahlkreis einen Zuschuss für Wohnung Diese Haushalte sind durch den Energiepreisanstieg und Heizkosten in Höhe von bis zu 506 Euro im finanziell also nicht betroffen. Monat. – Ich muss das vereinfachen, sonst reicht die Zeit nicht. – Eine Familie in vergleichbarer Größe mit einem Damit sorgt der Gesetzgeber dafür, dass eine große monatlichen Einkommen von 1 500 Euro in einer ver- Gruppe Bedürftiger, die ihren Lebensunterhalt nicht aus gleichbaren Wohnung, die diese Miete kosten würde, be- eigener Kraft bestreiten kann, abgesichert ist. Für kommt im Moment 130 Euro Wohngeld. Das heißt, die Arbeitslose etwa, die im Jahr 2004 mit fast 40 Prozent Familie, die ALG II bezieht, hat im Monat 100 Euro die mit Abstand größte Gruppe unter den Antragstellern netto mehr zur Verfügung als die Familie, die ihr Ein- von Wohngeld ausmachten, hat die Gesetzesänderung kommen aus dem Niedriglohnsektor bezieht. gerade in dieser Hinsicht eine klare Verbesserung ge- Angesichts dieses Sachverhalts muss man fragen: bracht. Auch das kann an dieser Stelle ruhig einmal ge- Stimmt die Relation noch? Gibt es überhaupt einen An- sagt werden. reiz, eine Arbeit aufzunehmen? Oder müssen wir nicht (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gero darüber nachdenken, ein neues und für alle einheitliches Storjohann [CDU/CSU]) Wohngeld einzuführen? Der Bund zahlt jährlich Milliardenbeträge für Wohn- (Beifall bei der FDP) geld und Unterkunftskosten im Rahmen von Hartz IV. Ich bin sicher: Wenn wir im Rahmen von ALG II weiter- Allein für Wohngeld hat der Bund im Jahr 2005 über hin Wohnkosten, Heizkosten und andere Kosten kom- 1 Milliarde Euro ausgegeben. Im Haushalt 2006 ist ge- plett zahlten, wäre dies auf Dauer nicht oder nur sehr nau 1 Milliarde Euro veranschlagt. Bis September dieses schwer finanzierbar. Jahres waren davon 833 Millionen Euro verausgabt. Das (B) ist gut so. Denn damit leistet der Staat einen wesentli- (D) (Beifall bei der FDP) chen Beitrag, um eine angemessene Wohnraumversor- Die Länder würden große Probleme bekommen. gung für einkommensschwache Haushalte sicherzustel- len. Wir stehen zu unserer sozialen Verantwortung. Unsere Schlussfolgerung ist deshalb, an den Grundla- gen etwas zu ändern. Für uns gehört dazu, dass die Steu- Hier wird eines ganz deutlich: Ihre Mär von einem ern gesenkt werden müssen. Wenn wir in dieser Rich- Staat, der sich aus seiner sozialen Verantwortung stiehlt, tung vorankommen, dann wird sich die Kostenspirale ist an den Haaren herbeigezogen. Die Gerechtigkeits- nicht weiter drehen. frage, wie sie in Ihrem Antrag formuliert ist, stellt sich an diesem Punkt gerade nicht. (Beifall bei der FDP) Wenn wir über Bezieherinnen und Bezieher von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wohngeld sprechen, reden wir über 1 Million Haushalte, Für die SPD-Fraktion erteile ich Sören Bartol das die in besonderem Maße von gestiegenen Energiepreisen Wort. betroffen sind. Wohlgemerkt reden wir hier nicht über Menschen mit einem Einkommen unter dem Existenz- (Beifall bei der SPD) minimum; wir reden über Menschen, die ihren Lebens- unterhalt und den ihrer Familien aus eigener Kraft be- Sören Bartol (SPD): streiten können. Menschen, die jedoch angesichts hoher Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mietbelastungen oder anderer Lasten nicht in der Lage In ihrem Antrag fordert die Linke eine Änderung des sind, ihre Wohnung allein zu bezahlen, gewährt der Staat Wohngeldgesetzes. Sie wollen Wohngeldbeziehern die einen Zuschuss zu den Wohnkosten. Wohngeld ist also Kosten für Heizung und Warmwasser dauerhaft und in keine Leistung zur Sicherung des Existenzminimums. Es vollem Umfang erstatten. Sie begründen dies mit stark ist ein ergänzender Beitrag. gestiegenen Energiekosten. Unbestritten ist: Die Ener- Ganz klar: Wohngeld ist und bleibt ein essenzieller giekosten sind gestiegen. Ob jedoch Transferleistungen Teil unserer Wohnungspolitik. Seit den 50er-Jahren sorgt hier eine angemessene Reaktion darstellen, wage ich zu es dafür, einkommensschwachen Haushalten ein ange- bezweifeln. Aber dazu später mehr. messenes und familiengerechtes Wohnen zu sichern. Es Zunächst zur Ausgangslage. Sie sprechen von ist ein wichtiges und bewährtes Instrument, das immer 5,2 Millionen Haushalten in Deutschland, die laut Ar- als Zuschuss des Staates zur Bruttokaltmiete definiert muts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit ei- war – zum einen, weil es bewusst so angelegt ist, dass 7000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Sören Bartol (A) die Bezieherinnen und Bezieher den Großteil ihrer sche Sanierungen des Gebäudebestandes, die gleichzei- (C) Wohnkosten selbst finanzieren, und zum anderen, um tig zur Reduktion von CO2-Emissionen beitragen. den Bezug unnötig großer oder aufwendiger Wohnräume Welche Wirkungen sich hier erzielen lassen, zeigen die zu verhindern und Anreize zum Energiesparen zu setzen. bisher ergriffenen Maßnahmen. Das halte ich für richtig. (Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE] meldet (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul sich zu einer Zwischenfrage) Lehrieder [CDU/CSU]) – Ich lasse die Zwischenfrage nicht zu. Ich bin mir natürlich darüber bewusst, dass Neben- kostenabrechnungen aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise für viele Mieterinnen und Mieter zu einem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Problem geworden sind. Allein zum Energiesparen auf- Sie lassen sie nicht zu? zurufen kann da wie Hohn klingen. Wenn aber Beziehe- rinnen und Bezieher von Wohngeld tatsächlich durch Sören Bartol (SPD): eine Heizkostenabrechnung die Grenze des Existenzmi- Nein. – Mit der Energieeinsparverordnung und dem nimums unterschreiten sollten, haben sie die Möglich- CO2-Gebäudesanierungsprogramm konnte der Heizener- keit, für den jeweiligen Monat ergänzende Leistungen zu gieverbrauch je Quadratmeter Wohnfläche in den letzten beantragen. 20 Jahren um etwa 40 Prozent gesenkt werden. Klar ist aber auch: Der Staat kann nicht alles finanzie- Diese Potenziale gilt es weiter auszuschöpfen. Des- ren, was irgendwie wünschenswert wäre. Er greift nur halb haben wir die Mittel für das CO -Gebäudesanie- dort ein, wo Hilfe nötig ist. Genau das tut er an dieser 2 rungsprogramm für 2006 um 350 Millionen Euro auf Stelle. Ebenso klar gesagt werden muss: Wir können 1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Seit Beginn dieses Jah- nicht jedes Problem in diesem Land durch Transferleis- res wurde die energetische Sanierung von mehr als tungen lösen. Hohe Energiepreise verlangen eine andere 550 000 Wohnungen mitfinanziert. Davon profitieren Reaktion. Mieterinnen und Mieter durch sinkende Heizkostenab- Haben Sie sich einmal gefragt, welche Signalwirkung rechnungen; denn mehr als ein Drittel aller Energie in sich für die Energiekonzerne aus Ihrem Antrag ergeben Deutschland wird für das Heizen von Wohnungen und würde? Die von Ihnen geforderte Änderung des Wohn- die Warmwasseraufbereitung genutzt. Durch Sanierun- geldgesetzes wäre ein Anreiz, die Energiepreise weiter gen an Fassaden, die Verbesserung der Wärmedämmung anzuziehen, da der Staat die Nebenkostenabrechnungen sowie die Modernisierung der Heizung und Fenster kön- seiner Bürgerinnen und Bürger ohnehin finanziert, so- nen Mieter und Hausbesitzer bis zu 25 Prozent Energie (B) (D) bald die Belastungsgrenze überschritten wird. sparen. Das senkt die Nebenkosten und die finanziellen Belastungen der Haushalte. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Schauen Sie ein- mal andere Gesetzesanträge von uns an!) Auch bei der Wohnungsauswahl wird die Energieeffi- Auch auf Verbraucherseite kann die schlichte Über- zienz immer mehr zu einem Schlüsselkriterium. Hier nahme der Kosten für Heizung und Warmwasser in vol- wird der Energieausweis neben dem CO2-Gebäudesanie- ler Höhe keine Option sein. Sie würde vielmehr das, was rungsprogramm zu einem wichtigen Instrument für Mie- angesichts steigender Energiepreise und knapper wer- terinnen und Mieter, das für Transparenz sorgen und län- dender Ressourcen erforderlich und auch ökologisch gerfristig zu weiteren Gebäudesanierungen führen wird. dringend notwendig ist, nämlich eine Verhaltensände- Von diesen Maßnahmen und Angeboten profitieren rung der Verbraucher hin zu einem geringeren Energie- Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie Städte verbrauch, konterkarieren. und Gemeinden. Das Gebäudesanierungsprogramm ist Die Frage, welche politischen Konsequenzen hohe aber nicht nur ökologisch sinnvoll und ein wichtiger, Energiepreise und daraus resultierende steigende Wohn- überfälliger Beitrag zum Klimaschutz. Auch in wirt- kostenbelastungen erfordern, wird in Ihrem Antrag un- schaftlicher Hinsicht ist es ein Erfolg. Es sichert Arbeit beantwortet gelassen. Sie setzen sich in Ihrem Antrag und Beschäftigung in Deutschland; denn mit jeder in die mit einem Symptom auseinander und ignorieren die Ur- Gebäudesanierung investierten Milliarde werden sachen. Wie so viele Ihrer Forderungen bleiben Sie dabei 25 000 Arbeitsplätze geschaffen. Das ist nachhaltige an der Oberfläche. Politik. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nachhaltige Politik sieht anders aus. Ihr geht es um Konzepte, die die Lebenssituation der Menschen in die- So wie die staatliche Förderung des Wohnungsbaus sem Land nachhaltig und tief greifend verbessert. Was und die Steigerung der Energieeffizienz einkommens- bedeutet das im vorliegenden Fall der gestiegenen Ener- schwachen Bevölkerungskreisen mittelbar helfen, eine giekosten? Energieeffizienz heißt das Stichwort. Damit angemessene Wohnung zu erhalten, unterstützt das Wohnen für alle bezahlbar bleibt, müssen wir die Woh- Wohngeld durch einen Miet- bzw. Lastenzuschuss un- nungen und Häuser energetisch weiter verbessern, um so mittelbar Mieter und Eigentümer, die hohe Mieten und die Belastungen der Mieter und Eigenheimbesitzer zu re- Lasten nicht tragen können. Hieran gibt es nichts zu rüt- duzieren. Deshalb forcieren wir umfassende energeti- teln. Die Koalition hat sich vorgenommen, das Wohn- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7001

Sören Bartol (A) geld auf dieser Grundlage fortzuentwickeln, aber nicht Wir müssen das Geld, das wir haben, zielgerichtet (C) wie Sie durch einen Schnellschuss. einsetzen. Ich glaube, das haben wir getan. Wir halten am Wohngeld fest. Die Koalition hat sich vorgenommen, Ihr Antrag, in dem Sie die volle Übernahme der Heiz- das Wohngeld weiterzuentwickeln. Es wird dabei sicher- kosten für einkommensschwache Haushalte fordern, lich immer wieder zu Verbesserungen kommen. Ganz kennt kein Maß und keine Grenzen. Er ist, wie mein wichtig ist: Die Wohnungen, in denen die Mieter woh- Kollege von der FDP schon gesagt hat, populistisch. nen, die Sie gerade angesprochen haben, sollen natürlich Sinnvoll ist er aber ganz sicher nicht. auch energetisch saniert werden. Sie müssen einmal mit Danke schön. Wohnungsbaugesellschaften reden. Unser CO2-Gebäu- desanierungsprogramm wird doch angenommen; das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Auftakt in die richtige Richtung. Ich glaube, diesem der CDU/CSU und der FDP) Auftakt wird auch noch einiges folgen, sodass wir ir- gendwann sagen können: Wir haben Wohnungen – – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Irgendwann!) Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Kurt Hill. – Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Das ist doch klar, Herr Hill. Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Aber Sie müs- Herr Kollege Bartol, Sie haben die Energieeffizienz, sen jetzt anfangen!) das Gebäudesanierungsprogramm und viele Dinge mehr – Man muss anfangen, ja. Wir fangen doch an. Das müs- angesprochen, die mit Sicherheit notwendig sind und die sen Sie einfach mal zur Kenntnis nehmen. wir wie Sie unterstützen. Wenn Sie unseren Antrag zum Haushalt gelesen haben, dann haben Sie feststellen kön- Danke. nen, dass wir, was das Gebäudesanierungsprogramm be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) trifft, sogar die doppelte Summe gefordert haben. (Zurufe von der SPD: Wie immer!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/ – Ich sage nur: 5 Milliarden Euro aus dem Emissions- Die Grünen. handel und das alles wäre gar kein Problem. (Uwe Beckmeyer [SPD]: So kennen wir Sie!) Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D) Aber darum geht es mir gar nicht. Kollegen! Lieber Kollege Hill, als ich den Antrag gese- Es geht mir darum, dass arme Haushalte in Wohnun- hen habe, habe ich mir gedacht: Es lohnt sich auf jeden gen wohnen, die all das, was Sie beschreiben, nicht ha- Fall, darüber zu diskutieren. Wenn ich jetzt allerdings Ih- ben. Diese Haushalte haben entsprechend hohe Neben- ren Vortrag Revue passieren lasse, muss ich ehrlich sa- kostenabrechnungen, gegen die sie sich nicht wehren gen, dass mir Bedenken kommen, wie ernst Sie es ei- können, und werden deshalb diesen Winter ein Problem gentlich mit Ihrem Antrag halten. Wir werden das aber bekommen. Wir werden darüber noch zu reden haben. im parlamentarischen Verfahren diskutieren und dann sehen, was letztendlich von der ganzen Sache übrig (Beifall bei der LINKEN) bleibt. Eines ist sicherlich unbestritten: Die Nebenkosten für Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Heizung und Warmwasser sind gerade in den letzten bei- Zur Erwiderung Herr Kollege Bartol. den Jahren dramatisch angestiegen und belasten insbe- sondere Haushalte mit geringen Einkommen. Sie belasten Sören Bartol (SPD): auch die Volkswirtschaft; denn wenn man die negativen Lieber Kollege Hill, genau so kennen wir die Links- Effekte auf die Kaufkraft mit ins Kalkül zieht, dann dürfte partei bzw. die PDS: überall das Doppelte, immer etwas sich gerade bei den Beziehern niedriger Einkommen ein oben drauf, immer schön populistisch. Ich weiß nicht, durchaus signifikanter Effekt zeigen. Die Entlastungen, wie oft Sie die 5 Milliarden Euro aus dem Emissions- die in den letzten Jahren durch Steuerreformen und auch handel in dieser Debatte schon für dieses oder jenes ver- durch die Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen bei teilt haben. diesen Einkommensgruppen entstanden sind, dürften durch die Steigerungen bei den Energiepreisen durchaus (Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Aber das aufgefressen worden sein. stimmt doch!) Ich stimme dem Kollegen Hill übrigens zu, wenn er Irgendwann muss einmal Schluss mit dem Verteilen darauf verweist, dass sich die Nebenkosten für Heizung sein. und Warmwasser zu einem bedeutenden Ausgabenpos- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sie verschen- ten für bestimmte Haushalte entwickelt haben. Ich ken die Emissionszertifikate ja!) stimme ihm auch insofern zu, dass das nicht unbedingt durch ein verändertes Heizverhalten korrigiert werden – Lassen Sie mich doch mal ausreden. kann. 7002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Peter Hettlich (A) Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die sozi- noch in dieser Heizperiode erstattungsfähig werden; (C) alen Auswirkungen der Preissteigerungen natürlich vom denn angesichts der schwierigen Haushaltslage und der Ausgangsniveau der Nebenkosten abhängen. Die Frage Zustimmungspflicht des Bundesrates halte ich eine der- der Belastung der Haushalte steht in direkter Korrelation artige Forderung schlichtweg für populistisch und von mit dem Sanierungszustand der Gebäude. Es macht vornherein unerfüllbar. schon einen gewaltigen Unterschied aus, von welchem Nebenkostenniveau aus eine Preissteigerung um 30 Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zent verkraftet werden muss. Dadurch wird auch deut- Sie wissen doch selbst, wie lange ein Gesetzgebungsver- lich, dass Klimaschutz am Bau nicht nur eine ökologi- fahren dauert. Ansonsten hätten Sie Ihren Antrag etwas sche und eine volkswirtschaftliche, sondern auch eine früher stellen müssen und nicht erst am 8. November erhebliche soziale Komponente darstellt und daher un- dieses Jahres. sere volle Anstrengung benötigt. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie sich mit der rot-roten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Koalition in Berlin zusammensetzen. Vielleicht bringen Die beste Gegenmaßnahme bei hohen Nebenkosten ist Sie sie ja dazu, sich parallel zu den Beratungen in unse- die Senkung des Gebäudeverbrauchs. Dazu muss ich rem Hause an die Spitze der Bewegung zu setzen und jetzt nicht mehr sagen; der Kollege Sören Bartol hat das eine entsprechende Bundesratsinitiative zu initiieren. eben ausgeführt. Dann könnten wir nämlich sehr schnell sehen, wie sich die anderen Bundesländer zu diesem Problem positionie- Es erscheint allerdings auf den ersten und vielleicht ren. Wir sichern Ihnen auf jeden Fall eine ernsthafte Be- auch auf den zweiten Blick ungerecht, wenn sich das ratung zu. Wohngeld nicht an den Warmmieten, sondern an den Kaltmieten orientiert. Dabei könnte durchaus die ab- Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. surde Situation entstehen, dass ausgerechnet ein einkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mensschwacher Haushalt für eine niedrige Kaltmiete ei- sowie bei Abgeordneten der SPD) nes unsanierten Gebäudes – weil er sich nicht mehr leisten kann – benachteiligt wird, während die höhere Kaltmiete eines energetisch sanierten Gebäudes bis zu Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den Höchstbeträgen bezuschusst wird. Das müssen wir Ich schließe die Aussprache. in der Tat diskutieren. Ich habe mir noch kein abschlie- Die Vorlage auf Drucksache 16/3351 soll an die in der ßendes Urteil bilden können, ob und wie eine Novellie- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse mit Federfüh- rung des Wohngeldgesetzes hier tatsächlich Abhilfe rung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent- (B) schaffen kann; denn es gibt noch einige offene Fragen, wicklung überwiesen werden. – Damit sind Sie einver- (D) die wir hier im parlamentarischen Verfahren klären müs- standen. Dann ist so beschlossen. sen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: In Ihrem Antrag sprechen Sie von 5,2 Millionen Haus- halten in Deutschland, die mit Nettoeinkommen zwi- – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- schen 500 und 900 Euro auskommen müssen. Das sind si- desregierung eingebrachten Entwurfs eines cherlich 5,2 Millionen Haushalte zu viel; das ist keine Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Jus- Frage. Aber das Statistische Bundesamt hat im Oktober tiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) mitgeteilt, dass Ende 2005 nur noch 781 000 Haushalte in Deutschland rund 1,2 Milliarden Euro Wohngeld erhalten – Drucksache 16/3038 – haben. Jetzt frage ich mich natürlich, wie diese Lücke zu – Zweite und dritte Beratung des von dem Abge- erklären ist. Liegt das etwa daran, dass alle Haushalte, die ordneten Jerzy Montag und der Fraktion des Arbeitslosengeld II, Sozialgeld oder Altersgrundsiche- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrach- rung erhalten, aus der Wohngeldförderung herausfallen? ten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlänge- Oder gibt es eventuell noch eine Gruppe von Menschen, rung von Befristungsregelungen im Gesetz die wir weder durch das eine noch durch das andere er- zur Entlastung der Rechtspflege und im reichen? Wie würde es sich auswirken, wenn wir die Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung Warmmiete als Bezugsgröße nehmen würden? Was (Justizmodernisierungsauskopplungsgesetz) würde das kosten? Wir dürfen nicht vergessen, dass rund 500 000 der Wohngeldbezieher einen Anspruch auf le- – Drucksache 16/3282 – diglich 60 bis 90 Euro im Monat haben. Wie verteilen Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- sich die Wohngeldempfänger auf die unterschiedlichen schusses (6. Ausschuss) Wohnraumklassen? Wir müssen auch berücksichtigen, dass nach 1992 Gebäudeklassen erstellt wurden, die hö- – Drucksache 16/3640 – heren energetischen Ansprüchen gerecht werden. Es gibt Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb also eine ganze Menge Fragen, die wir beantworten müs- Joachim Stünker sen. Christine Lambrecht Wir nehmen Ihren Antrag durchaus ernst. Weniger Mechthild Dyckmans ernst kann ich allerdings Ihre Forderung nehmen, das Wolfgang Nešković Wohngeldgesetz umgehend zu ändern, damit die Kosten Jerzy Montag Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7003

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein nis war die Mehrheit des Rechtsausschusses der Auffas- (C) Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- sung, dass die im Regierungsentwurf vorgeschlagene nen vor. Ausweitung von Schutz- und Informationsrechten bei schwersten Straftaten mit schwerer Verletzung des Op- Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat- fers nicht ausreicht. Würde man das Opfer auch in sol- tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so chen Fällen auf eine weitgehend passive Rolle im Straf- beschlossen. verfahren beschränken, wäre dem legitimen Interesse Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem des Verletzten nicht ausreichend Genüge getan. Deshalb Parlamentarischen Staatsekretär Alfred Hartenbach für soll im Ergebnis die Nebenklage gegenüber Jugendli- die Bundesregierung. chen nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern begrenzt auf schwerste Verbrechen eröffnet werden. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Diese Entscheidung haben wir uns nicht leicht ge- desministerin der Justiz: macht. Die offensiven Rechte der Nebenklage stehen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- nun einmal in einem Spannungsverhältnis zu dem ju- gen! Dieses Gesetz ist von Praktikern für die Praxis ge- gendstrafrechtlichen Erziehungsgedanken; wir können macht. Nachdem der Regierungsentwurf im ersten diesen Konflikt nicht leugnen. Wir können diese wich- Durchgang im Bundesrat überwiegend Zustimmung ge- tige und grundlegende Entscheidung aber auch nicht auf funden hat, ist im Rechtsausschuss eine intensive und die Jugendrichter abwälzen, die nach den herrschenden wichtige Diskussion geführt worden. Themen waren in Vorgaben wohl meist gezwungen wären, gegen die Be- erster Linie einzelne Vorschläge zum Strafrecht und zum lange der Opfer zu entscheiden. Deshalb haben wir uns Jugendstrafrecht. Hierauf hat sich eine vom Rechtsaus- entschlossen, die Zulassung der Nebenklage strikt an schuss durchgeführte Anhörung im Wesentlichen kon- den Belangen schwer geschädigter Opfer auszurichten. zentriert. Diese Punkte werde auch ich jetzt aufgreifen. Das ist ein plausibler und gut vermittelbarer Kompro- miss zwischen den bislang vertretenen Auffassungen. Die Anhörung hat uns darin bestärkt, dass wir mit der Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt auf dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich richtigen Weg sind; denn damit geben wir den Gerichten bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern dafür, mehr Flexibilität bei der Sanktionierung von Kleinkrimi- dass die Beratungen im Bundestag auch in so schwieri- nalität. Durch die vorgeschlagenen Änderungen wird die gen und kontroversen Fragen wie den gerade angespro- bislang verkümmerte Verwarnung mit Strafvorbehalt zu chenen zu guten Ergebnissen geführt haben, die letztlich einer wertvollen Ergänzung im System der vorgerichtli- von einer soliden Mehrheit getragen werden. In diesen (B) chen und gerichtlichen Diversion. Dank schließe ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (D) unseres Ministeriums und des Rechtsausschusses ein, Für die Neuregelung gibt es entgegen der Auffassung die praktisch bis zur letzten Minute eine saubere Fleiß- des Bundesrates durchaus einen praktischen Bedarf. Der arbeit geleistet haben. klassische Anwendungsbereich der Verwarnung sind diejenigen Fälle, in denen zwar ein Schuldspruch not- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wendig, eine Bestrafung jedoch nicht erforderlich ist. Befremden hat das Argument des Bundesrates ausgelöst, Die dafür aufgewandte Zeit hat sich gelohnt. Jetzt aller- dass die Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt dings wird ein zügiger Abschluss der Beratungen im Par- zu Einnahmeausfällen im Bereich der Geldstrafen führen lament und im Bundesrat umso dringlicher. Denn mit würde. Die Geldstrafe hat aber nicht den Zweck, den dem Gesetz sollen drei für die Praxis wichtige Regelun- Ländern Einnahmen zu verschaffen. gen verlängert werden, die anderenfalls zum 31. Dezem- ber dieses Jahres auslaufen würden: die Verlängerung der (Beifall des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel Besetzungsreduktion bei großen Strafkammern – die für [SPD]) die Länder große praktische Bedeutung hat –, die Verlän- gerung der Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden Das Sanktionensystem wird entgegen der Behauptung in allgemeinen Zivilsachen sowie die Verlängerung des des Bundesrates nicht ins Rutschen geraten. Neben den Ausschlusses der Nichtzulassungsbeschwerde in Famili- potenziellen Geldstrafefällen, die künftig mit einer Ver- ensachen. warnung geahndet werden können, wird es sicher auch Anwendungsfälle der Verwarnung geben, die heute mehr Einen Satz zum Schluss an den Kollegen Montag. Si- schlecht als recht über § 153 a StPO gelöst werden und cher werden Sie, lieber Kollege Montag, nachher mit Ih- nicht immer Akzeptanz in der Öffentlichkeit finden. rer ganzen Argumentationskraft – das haben Sie im Aus- schuss bereits getan – auf eine Vorschrift eindreschen, Auf dem Gebiet des Jugendstrafverfahrens haben nämlich die, dass man nachträglich bekannt gewordene die Beratungen zu Änderungen geführt, die gut und sinn- Tatsachen bei Widerruf der Bewährung verwerten darf. voll sind. Ziel war und ist es, den Opferschutz auch im Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Das haben nicht wir uns Jugendstrafverfahren zu verbessern. Dabei muss ein aus den Fingern gesogen. Dies ist ein urgrüner Gedanke Ausgleich zwischen den Opferinteressen und den Beson- Ihres früheren Kollegen und hessischen Justizministers derheiten des Jugendstrafrechts geschaffen werden. Wel- Rupert von Plottnitz. Ich finde, das war ein guter Ge- che Lösungen dieser Balance am besten gerecht werden, danke. ist eine schwierige Frage. Das hat auch das unterschied- liche Meinungsbild in der Anhörung gezeigt. Im Ergeb- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 7004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP) (C) Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Am parlamentarischen Verfahren zum 2. Justizmoder- Mechthild Dyckmans. nisierungsgesetz wird deutlich, dass die Koalition an diesem Konsens offensichtlich kein Interesse mehr hat. Mechthild Dyckmans (FDP): Der Verzicht auf eine gemeinsame Suche nach dem bes- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten Weg lässt in mir die Sorge reifen, dass die große Ko- Häufig beginnen oder – wie eben – enden die Redebei- alition der Justiz nicht mehr den Stellenwert beimisst, träge in den Debatten zur abschließenden Beratung von der ihr eigentlich gebührt. Gesetzentwürfen über Reformen in der Justiz mit dem Dank an die anderen Fraktionen und an die Berichter- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Hört! statter für die gute Zusammenarbeit und die Bereitschaft, Hört!) in ausführlichen Berichterstattergesprächen zu einer ein- Nun zur Sache. vernehmlichen Lösung zu kommen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt wird es (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau) aber auch Zeit!) Mit dem 2. Justizmodernisierungsgesetz ist mit dieser – Ja. Ich habe aber noch etwas Zeit, Herr Kollege Gehb. – guten Tradition leider gebrochen worden. Der Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Regelungen, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die auch von der FDP unterstützt werden. So werden NEN]: Wie wahr!) viele Anregungen aus der Justiz umgesetzt, die zu einer Verfahrensbeschleunigung und zu einer Entbürokra- Die Bundesregierung hat dem Bundestag im Herbst ei- tisierung führen. Als besonderes Beispiel nenne ich die nen Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Modernisierung Einführung eines spezifischen Wiederaufnahmegrundes der Justiz zugeleitet. Diesen Gesetzentwurf haben wir für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof für Men- am 26. Oktober dieses Jahres in erster Lesung beraten. schenrechte eine Verletzung der Europäischen Men- Nur auf Druck der Opposition hat überhaupt eine Anhö- schenrechtskonvention festgestellt hat und das Urteil auf rung stattgefunden, dieser Verletzung beruht. Zu begrüßen ist auch der Vor- (Ernst Burgbacher [FDP]: Unglaublich!) rang von Wiedergutmachungsansprüchen der Opfer bei der Vollstreckung von Geldstrafen. Auch eine stärkere die allerdings von der Koalition so kurzfristig terminiert Verankerung des Opferschutzgedankens im Jugendstraf- war, dass es nur unter großen Mühen gelang, überhaupt verfahren entspricht langjährigen Forderungen der FDP. (B) Sachverständige zu finden, die trotz der kurzen Vorberei- (D) tungszeit bereit waren, an der Anhörung teilzunehmen. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Oh!) Nur wenige Tage nach der Anhörung hat der Rechtsaus- Dennoch ist fraglich, ob die weit reichenden Ände- schuss den Gesetzentwurf abschließend beraten. Zeit für rungen bezüglich der Anwendbarkeit der Nebenklage im eine ausführliche oder gar intensive Auswertung der An- Jugendstrafverfahren nicht dem Erziehungsgedanken hörung bestand somit nicht, Herr Staatssekretär. Es war des Jugendstrafrechts zuwider laufen. Hier hätte ich mir auch bei der Koalition keinerlei Interesse erkennbar, mit eine breitere und intensivere Diskussion gewünscht, zum der Opposition in dem einen oder anderen Punkt zu einer Beispiel über die Frage, ob mit der Nebenklage auch Be- gemeinsamen Lösung zu kommen. weisantrags- und Rechtsmittelrechte verbunden sein dür- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da ist etwas fen. Wahres dran! – Ernst Burgbacher [FDP]: Lei- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das ist so!) der!) Wie ich eingangs geschildert habe, hatte man an einer Das war in der vergangenen Wahlperiode, als es um das solchen Diskussion allerdings kein Interesse. 1. Justizmodernisierungsgesetz ging, noch ganz anders. Auch damals waren die Fronten anfänglich verhärtet und Was uns jedoch unabhängig von dem nicht hinzuneh- die Positionen der Fraktionen lagen weit auseinander. menden Verfahren zur Ablehnung Ihres Gesetzentwurfs Dennoch ist es nach der Anhörung und weiteren Bericht- zwingt, ist die geplante Änderung der Strafprozessord- erstattergesprächen gelungen, sich auf eine gesetzliche nung, wonach Straftäter künftig auch dann in Haft blei- Regelung zu einigen, der im Ergebnis alle Fraktionen ben sollen, wenn sie eine Wiedereinsetzung in den zugestimmt haben. vorigen Stand erreicht haben. Das Bundesverfassungs- gericht hat diese Rechtspraxis ausdrücklich für verfas- (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- sungswidrig erklärt, und zwar nicht nur aufgrund des NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das haben wir gut Fehlens einer gesetzlichen Grundlage. Vielmehr hat das gemacht!) Gericht die Legitimation einer solchen Regelung grund- Es ist gute Tradition, dass Justizreformen im Rechts- sätzlich in Zweifel gezogen. ausschuss einmütig beschlossen werden. Die Justiz ge- (Joachim Stünker [SPD]: Wo denn?) hört zu den Kernaufgaben des Staates. Daher ist es be- sonders wichtig, dass die gesetzlichen Grundlagen für Dennoch will die Bundesregierung genau dieses Verfah- die Arbeit der Justiz vom gesamten Bundestag getragen ren jetzt gesetzlich verankern. Wir halten eine solche Re- werden. gelung für verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7005

Mechthild Dyckmans (A) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die zahllose Stunden (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) in die Opferbegleitung und Opferbetreuung investieren, die mit den Opfern schwere Stunden teilen. Ich glaube, Bemerkenswert waren die Ausführungen, die Vertre- das ist doch ein Lob dieses Hauses wert. ter der Koalitionsfraktionen im Rechtsausschuss hierzu gemacht haben. Dort wurde beispielsweise gesagt, das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Urteil des Bundesverfassungsgerichts stoße auf Unver- ständnis und verkenne die wirklichen Bedürfnisse der Am 22. März eines jeden Jahres werden aber nicht nur Praxis. Bisher bestand im Rechtsausschuss der Konsens, Opferhelfer gelobt, da werden auch berechtigte Forde- dass wir uns von der Rechtsprechung des Bundesverfas- rungen an die Politik artikuliert. Ich kann mich an viele sungsgerichts leiten lassen. Die Feststellungen des Bun- dieser Veranstaltungen am 22. März erinnern, an der desverfassungsgerichts haben uns immer den Rahmen Politiker teilgenommen und Beifall geklatscht haben. vorgegeben, in dem wir uns als Gesetzgeber bewegt ha- Das reicht aber nicht aus – man muss berechtigte Interes- ben. Daher finde ich es höchst bedenklich, wenn die Ko- sen auch umsetzen. alition nun zu einer anderen Bewertung kommt und Im Zusammenhang mit dem Opferrechtsreformge- meint, im Hinblick auf diesen Gesetzentwurf müsse die setz, das in der letzten Legislaturperiode zu deutlichen Rechtsprechung aus Karlsruhe nicht so ernst genommen Verbesserungen des Opferschutzes geführt hat, habe ich werden, wenn sie Forderungen aus der Praxis zuwider am 13. November 2003 in diesem Haus eine Rede gehal- laufen. Diesen Weg wird die FDP nicht mitgehen. ten. An diesem 13. November 2003 habe ich auf eine Da in der Begründung des Gesetzentwurfs ausgeführt Lücke im Opferschutz hingewiesen, nämlich die, dass es wird, dass die zur Gewährleistung einer erneuten Inhaf- nahezu keinen effektiven Opferschutz im Jugend- tierung von den beteiligten Gerichten und Staatsanwalt- strafverfahren gibt. Ich habe die damalige rot-grüne schaften zu veranlassenden Maßnahmen zu aufwendig Bundesregierung ultimativ aufgefordert, einen Gesetz- seien, stelle ich für die FDP fest: Die Anordnung von entwurf vorzulegen, mit dem die Nebenklage im Jugend- freiheitsentziehenden Maßnahmen und die damit ver- strafverfahren vorgesehen wird. Frau Kollegin Dyck- bundenen Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen mans, ich kann mich nicht daran erinnern, dass in diesem sind jeden Aufwand der Gerichte und Staatsanwaltschaf- Zusammenhang von Ihnen der Einwand kam, dem stehe ten wert. der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts entgegen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da war Frau Vizepräsidentin Petra Pau: Dyckmans noch nicht im Bundestag und alle Kollegin Dyckmans, Sie müssen bitte zum Schluss anderen von der FDP können Einwände, die so (B) kommen. klug sind, nicht bringen! – Heiterkeit und Bei- (D) fall bei der CDU/CSU und der SPD) Mechthild Dyckmans (FDP): – Dann nehme ich meine Vorhaltungen gegenüber der Mein letzter Satz: Wer hier mit Entbürokratisierung Kollegin Dyckmans zurück und richte diese an die Kol- und Verfahrensbeschleunigung argumentiert, legt die leginnen und Kollegen der FDP. Axt an die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ulrich NEN]: Von uns kam der Einwand!) Maurer [DIE LINKE] und des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Bundesregierung nimmt den Opferschutz ernst und hat mit dem 2. JuMoG einen entsprechenden Ent- Vizepräsidentin Petra Pau: wurf vorgelegt. Die Regierungskoalition bringt den Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die Opferschutzgedanken voran. Auch die Oppositionsfrak- Unionsfraktion. tionen geben sich zugegebenermaßen redlich Mühe. Was wird mit diesem 2. Justizmodernisierungsgesetz von der (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb Bundesregierung vorgeschlagen? Opferschutz im Ju- [CDU/CSU]: Jetzt gibt es wieder eine freie gendstrafverfahren, wie wir ihn in der Praxis schon na- Rede!) hezu haben: eine Stärkung der Beteiligungsrechte, eine Stärkung der Informationsrechte – mehr nicht! So funk- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ tioniert effektiver Opferschutz nicht. Jeder, der in diesem CSU): Bereich tätig ist, weiß, was ich meine. Stattet man Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Opferschutz und Nebenklage nicht mit Aktivrechten, mit legen! Ich kann mich an kein Gesetz erinnern, das, wie Rechtsmitteln, aus, bleibt dies eine stumpfe Waffe. die Kollegin Dyckmans es glauben macht, vom Himmel Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der großen fiel. In aller Regel haben Gesetzentwürfe eine lange Vor- Koalition, dass sie mir auf meinem Weg, der eben weiter geschichte. Ich möchte Ihnen das am Beispiel des ging als dieser „Opferschutz light“ im Jugendstrafver- 2. Justizmodernisierungsgesetzes gerne demonstrieren. fahren, gefolgt sind. Ich weiß, dass man es sich nicht Aber fangen wir in aller Ruhe von vorne an. leicht gemacht hat. Über den immer wieder vorgebrach- Jedes Jahr am 22. März findet in ganz Deutschland ten Gedanken, dass Opferschutz im Jugendstrafverfah- der Tag des Kriminalitätsopfers statt. Opferschutzorgani- ren dem Erziehungsgedanken entgegensteht, wurde sationen wie der Weiße Ring erwähnen lobend Tausende heftig debattiert. Ich empfehle jedem opferpolitischen 7006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Bedenkenträger, im Kommentar von Ostendorf zum Ju- Wer in § 59 a des Strafgesetzbuches schaut, der weiß, (C) gendgerichtsgesetz Anmerkung 8 zu § 80 JGG nachzu- wie eine Verwarnung mit Strafvorbehalt abläuft. lesen, in dem es noch heute heißt: (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Auch geringe erzieherische Bedenken stehen den Statt einer Geldstrafe wird eine Geldbuße festgesetzt. berechtigten Interessen des Verletzten entgegen. Wer praktische Erfahrungen hat, der weiß, dass die Ver- Ich empfehle den Bedenkenträgern auch, die Entschei- warnung mit Strafvorbehalt oftmals dann eingeführt dung des Bundesgerichtshofs in der Amtlichen Samm- wird, wenn gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt lung, 41. Bd., S. 288 f. zu lesen: Wir haben schon Opfer- wurde. Ich erlebe es immer wieder, dass das Gericht dem schutz im Jugendstrafverfahren und haben aus diesem Verteidiger in solchen Fällen eine Verwarnung mit Straf- Bereich auch belastbare Informationen. Im so genannten vorbehalt anbietet, aber darauf hinweist, dass es davon verbundenen Verfahren, wenn also Jugendliche mit He- ausgehe, dass die im Strafbefehl festgesetzte Geldstrafe ranwachsenden und Erwachsenen auf der Anklagebank als Geldbuße festgesetzt wird. sitzen, gibt es die Nebenklage schon. Keiner hat bisher (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) Bedenken geäußert, dass dadurch der Erziehungsge- danke konterkariert würde. Das ist auch nicht so. Genau Es kommt also nicht zu einem Einnahmeausfall. der Bereich des verbundenen Verfahrens zeigt, dass so (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wie Strafverteidiger ihre prozessualen Rechte verant- haben Sie Recht, Herr Kollege!) wortungsvoll wahrnehmen, dies auch Nebenklagevertre- ter tun. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Der Diese Verwarnung mit Strafvorbehalt ist ein hervorra- Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts steht einem gendes Scharnier zwischen der Möglichkeit einer Ver- Opferschutz nicht entgegen. fahrenseinstellung nach § 153 a der Strafprozessordnung und einer Geldstrafe. (Beifall bei der CDU/CSU) So, wie es eine Freiheitsstrafe zur Bewährung gibt, Herr Staatssekretär Hartenbach hat es dankenswerter- soll es auch eine Geldstrafe zur Bewährung geben. Der weise schon erwähnt: Wir haben uns für eine Lösung Anwendungsbereich ist ohnehin klein genug. Deswegen entschieden, die meines Erachtens von allen Fraktionen war es gut, diesen Anwendungsbereich moderat zu öff- dieses Deutschen Bundestages mitgetragen werden nen und die Klauseln zu lockern. Ich bin der Meinung, kann. Die Nebenklage soll nicht in jedem Jugendstraf- dass dieses Rechtsinstitut damit auch eine Berechtigung verfahren zugelassen werden, sondern nur dann, wenn in der Rechtspolitik haben wird. das Opfer besonders belastet worden ist, wenn es also Ich bedanke mich bei Ihnen. (B) um Verbrechen gegen Leib und Leben geht, wenn es um (D) Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) oder wenn es um Verbrechen gegen die persönliche Frei- heit geht. Auch dort haben wir eine Trennlinie eingezo- Vizepräsidentin Petra Pau: gen: nur dann, wenn es zu schwerwiegenden seelischen Das Wort hat der Kollege Ulrich Maurer für die Frak- oder körperlichen Schädigungen gekommen ist oder tion Die Linke. wenn die Gefahr solcher Schädigungen bestanden hat! Das ist also ein ganz sanfter Einstieg in die Nebenklage. (Beifall bei der LINKEN) Ich halte ihn für vertretbar. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie alle, ein Zei- Ulrich Maurer (DIE LINKE): chen zu setzen, auch wenn bei den übrigen Bereichen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der des 2. Justizmodernisierungsgesetzes Bedenken beste- Kollege Kauder hat eine elegante Volte gemacht, indem hen sollten. Es wäre ein gutes Zeichen für alle Krimina- er das Ganze auf eine Frage des Opferschutzes reduziert litätsopfer, wenn Sie zeigen würden, dass nicht nur am hat. Das ist natürlich nicht richtig. Dieser Gesetzentwurf 22. März eines jeden Jahres, sondern auch heute der Tag hat einen ganz anderen Umfang. Die Frau Kollegin von des Kriminalitätsopfers ist. Wir sehen es ja: Wir haben der FDP hat das ja bereits dargelegt. heute über den Gesetzentwurf zur Strafbarkeit beharrli- Sie werden damit vor dem Verfassungsgericht wahr- cher Nachstellungen entschieden und im nächsten Ta- scheinlich erneut in Teilen scheitern. Es ist eine be- gesordnungspunkt werden wir über das Opferentschädi- währte Übung in diesem Haus, dem höchsten deutschen gungsgesetz reden. Geben Sie sich einen Ruck und Gericht sozusagen einmal die Leviten zu lesen, indem stimmen Sie diesem Gesetz zu. man Gesetzentwürfe verabschiedet, die geltenden Geset- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zen entgegenstehen. Ich erkenne anhand der Zwischen- neten der SPD) rufe, dass Sie diese ganz merkwürdige Einstellung ha- ben. Sie wissen alle, welch hohe Hürden vor einer Lassen Sie mich noch etwas zum Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung stehen. Wenn Sie sagen, aus Gründen Verwarnung mit Strafvorbehalt sagen. Herr Staats- der Praktikabilität ließen Sie die Leute in Haft, offenbart sekretär Hartenbach hat die Bedenken der Länder artiku- dies eine Rechtsgüterabwägung, die mich erschreckt. Ich liert, dass dies möglicherweise zu Einnahmeausfällen sage Ihnen das ganz offen. führen würde. Nicht einmal das stimmt. Sie haben auch kein Wort darüber verloren – das sind (Joachim Stünker [SPD]: Stimmt!) für Sie wahrscheinlich Peanuts –, dass der bargeldlose Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7007

Ulrich Maurer (A) Zahlungsverkehr eingeführt wird. Sie verkennen im- Wir jedenfalls sind nicht bereit, das zu tolerieren. (C) mer wieder, wie viele Menschen in diesem Land nicht an Selbst wenn man dem Gesetz in Teilen positiv gegen- dem bargeldlosen Zahlungsverkehr teilnehmen können. übersteht, Sie verkennen auch, was es eigentlich heißt, dass Sie bei (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] der Nichtzulassung immer wieder mit der Grenze von [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal, zu welchen 20 000 Euro operieren. Es gibt Leute, für die das kein Teilen Sie positiv stehen!) Problem ist, es gibt aber auch Menschen, die Recht su- chen und für die das ein Problem darstellt. erzwingt allein die Tatsache, wie Sie in dieser Frage mit dem Parlament umgehen, das Nein zu diesem Vorhaben. All diese Dinge sind hier nicht zur Sprache gekom- men. Ich sage aber ganz offen: Diese verblassen sogar (Beifall bei der LINKEN) vor der Art und Weise, wie Sie dieses Gesetz durchge- peitscht haben. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Frak- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Jetzt kom- tion des Bündnisses 90/Die Grünen. men die Textbausteine!) Herr Kollege Kauder, es mag ja sein, dass der Entwurf Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): für Sie eine lange Vorgeschichte hat; trotzdem kann die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf die Bevölkerung dieses Landes von ihrem Parlament die Art und Weise des Zustandekommens des Gesetzes will parlamentarische Behandlung eines Gesetzentwurfs ich nicht eingehen. Dazu haben meine Vorrednerinnen verlangen. Die Tatsache, dass Sie die entsprechende An- und Vorredner alles Notwendige gesagt. Nur zu Ihnen, hörung, die Sie ursprünglich selbst nicht durchführen Herr Kollege Hartenbach: Sie können nicht ernsthaft be- wollten, auf zehn Minuten nach Schluss der letzten haupten, dass wir seit der Einbringung des Gesetzent- Haushaltswoche terminiert haben wurfs durch die Bundesregierung eine „intensive Bera- tung“ durchgeführt haben. (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Nutzen Sie Ihre Redezeit doch Ich komme sogleich zur Sache. Der Gesetzentwurf für Kritik und nicht für Formalismus!) enthält etliches Positives. Das will ich an den Anfang meiner Ausführungen stellen. – die Frau Kollegin hat das bereits gesagt –, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch gar stellt bisweilen – es ist zwar selten, aber es kommt vor – (B) nicht!) auch gegenüber deutschen Gerichtsurteilen fest, dass (D) diese Menschenrechte verletzen. Nachdem es in der zeigt im Grunde genommen nichts anderes, als dass Sie Strafprozessordnung bereits geregelt ist, soll nun auch in weder an einer Anhörung noch an einer vertieften Dis- der Zivilprozessordnung ein Wiederaufnahmegrund we- kussion über Ihre Gesetzesvorhaben interessiert sind. gen einer Menschenrechtsverletzung durch gerichtliche (Beifall bei der LINKEN) Urteile in Zivilsachen eingeführt werden. Das ist auch für Verwaltungsverfahren und andere Verfahrensarten Sie sind nicht daran interessiert. vorgesehen. Das halten wir für richtig. (Beifall bei der LINKEN) Die Ausweitung der Verwarnung mit Strafvorbehalt ist bereits erwähnt worden. Das findet unsere volle Zu- An den Schulen unseres Landes wird eine Vorstellung stimmung. von parlamentarischen Verfahren vermittelt, die Sie längst ad acta gelegt haben. Sie machen Ihre Gesetze Auch dass Opferansprüche in der Vollstreckung jetzt vor der Vollstreckung von Geldstrafen zum Zuge kom- vorher selber – wo auch immer – und dann werden sie men sollen – das ist sozusagen eine praktische Form des hier abgenickt. Auf diese Art und Weise kann ein Parla- Opferschutzes –, findet unsere Zustimmung. ment nicht funktionieren. Wir sind auch nicht bereit, eine solche Art und Weise hinzunehmen. (Beifall bei der LINKEN) Dass Sie das Thema sechs Tage nach dieser Farce von Es wäre deswegen schön gewesen, wenn wir über die Anhörung im Parlament beraten wollen, vertieft den anderen Punkte, die hoch streitig sind, intensiv und in Eindruck nur noch mehr. Ruhe hätten reden können, weil wir dann vielleicht auch unter den Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern zu (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] einem guten Ergebnis gekommen wären. Die Zeit ist [CDU/CSU]: Was Sie gerade machen, ist un- nicht geblieben. gehörig!) Ich begründe aber auch, warum wir Grünen leider Denn wir leben leider in einem Land, in dem in zuneh- diesem Gesetzentwurf die Zustimmung verweigern müs- mendem Maße von Interessierten, manchmal auch von sen. Es geht nicht an, dass gegenstandslos gewordene Interessenverbänden und von der Regierung Gesetze ge- Freiheitsentziehungen, die nur aufgrund einer gerichtli- macht werden. Aber die üblichen parlamentarischen chen Entscheidung ergehen können, allein deswegen Verfahren zur Rechtsfindung werden nicht mehr gewähr- wieder aufleben sollen, weil derjenige, der durch sie leistet. belastet war, im Wege einer Wiedereinsetzung in den 7008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Jerzy Montag (A) vorigen Stand in eine für ihn günstigere Position gekom- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) men ist. Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Stün- Es ist Irrsinn, dass jemand ein Grundrecht erstreitet ker. – nämlich das Recht auf rechtliches Gehör – und als (Beifall bei der SPD) Dank dafür von der Justiz die sofortige Inhaftierung ver- fügt wird. Joachim Stünker (SPD): (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Unglaublich! – Silke Stokar von Neu- Herr Kollege Maurer, in Sachen Rechtsstaatlichkeit soll- forn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat ten Sie uns, glaube ich, keine Belehrung erteilen. sich denn das ausgedacht?) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Das geht nur dann, wenn ein Gericht wiederum in einer FDP) neuen Entscheidung darüber befindet. Das ist eigentlich ein völlig klarer Gedanke. Im „Tagesspiegel“ vom 30. November dieses Jahres fin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN det sich im Zusammenhang mit der auch in meinen und bei der LINKEN sowie der Abg. Mecht- Augen nicht akzeptablen Einstellung des Mannesmann- hild Dyckmans [FDP]) Falls von Ihrem rechtspolitischen Sprecher und stell- vertretenden Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Wolf- Es ist mir völlig unklar, warum Sie diese Regelung ha- gang Nešković, Folgendes: ben passieren lassen. Der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsaus- Der Widerruf einer Strafaussetzungsentscheidung ist schusses, Wolfgang Nešković, fordert dagegen eine eine Entscheidung, die nur nach strengen rechtsstaatli- unabhängige Instanz, die Verabredungen wie im chen Regeln durchgeführt werden kann. Wenn eine Ent- Mannesmann-Prozess anfechten kann. Zur Not scheidung eines Gerichts vorliegt, mit der jemand mit muss das Parlament die Möglichkeit einer Überprü- günstiger Sozialprognose in die Freiheit entlassen wird, fung bekommen. dann ist der Widerruf einer solchen Entscheidung nur dann möglich, wenn ganz gewichtige Gründe – wie Wie- Wer solche populistischen Äußerungen, die schon die deraufnahmegründe zulasten eines Angeklagten oder Gewaltenteilung negieren, den Journalisten in die Feder Beschuldigten – dafür sprechen. Keinesfalls darf es aber diktiert, der muss mit uns über Rechtsstaatlichkeit nicht ausreichen, dass irgendwelche Tatsachen, die dem Ge- mehr diskutieren. richt zuerst unbekannt waren, dann aber bekannt wur- (B) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (D) den, zulasten einer solchen Entscheidung eingewendet und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden, obwohl sich der Betroffene nach der Entschei- dung des Gerichts in der Sache selbst, in punkto seiner Dazu kann ich nur sagen: Das Zentralkomitee der Bewährung, gar nichts hat zuschulden kommen lassen. SED lässt grüßen! Der Arbeiter- und Bauernstaat hebt So etwas geht nicht. gerichtliche Entscheidungen hinterher wieder auf. Ir- Zum Schluss zum Jugendstrafverfahren. Herr Kollege gendwann ist es wieder so weit, dass Richterbriefe ge- Kauder, Sie sagen, dass Sie keine stumpfen Schwerter schrieben werden, Herr Kollege. wollen. Wir waren ja für den Ausbau der Opferrechte (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) im Jugendstrafverfahren. Wir wollten zusammen mit Ihnen und der Bundesregierung das Informationsrecht, Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist nicht mehr da. das Akteneinsichtsrecht, das Anwesenheitsrecht und das Sonst hätte ich noch etwas zu ihrer Äußerung gesagt, Beistandsrecht in das Jugendstrafgerichtsverfahren im- dass man den § 153 a der Strafprozessordnung überprü- plementieren. Sie denunzieren nun diese Mittel als fen sollte. Das will ich jetzt nicht machen. Aber so viel stumpfe Waffen und sagen, was Sie im Jugendstrafrecht Populismus in der Rechtspolitik war noch nie, wie ge- tatsächlich wollen: scharfe Waffen. genwärtig von der Opposition in diesem Hause offenbart wird! (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Wir wollen Waffengleichheit!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber nicht von der ganzen!) Ich sage Ihnen: Wir wollen gar keine Waffen im Jugend- strafverfahren; denn dieses Verfahren eignet sich nicht – Nun komme ich zu Ihnen, Herr Montag. für ein solches Vorgehen. Deswegen sind wir auch gegen die Nebenklage im Jugendstrafverfahren. (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich erlaube mir, mit Genehmigung der Frau Präsiden- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) tin aus der Pressemitteilung Nr. 1537 der Bundestags- fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vom 29. Novem- Wir müssen den gesamten Gesetzentwurf ablehnen, ber 2006 zu zitieren: so Leid es uns um die positiven Punkte tut. Gegen den Willen von Schwarz-Rot konnte die Op- Danke schön. position dennoch wenigstens kurzfristig eine Sach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verständigenanhörung durchsetzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7009

Joachim Stünker (A) Herr Kollege Montag, bleiben Sie bitte bei der Wahrheit! dann schreiten wir am Freitag Nachmittag zu dieser An- (C) Wenn ich mich richtig erinnere, waren wir es, die diese hörung? Wir als Minderheit konnten uns gegen diese Anhörung gegen Ihren Willen – weil Sie keinen Termin durch die Mehrheit bestimmte Terminierung nicht weh- mehr vor Weihnachten finden konnten – durchsetzen ren. Sie werden aber doch wohl bestätigen können, dass mussten. trotz allem wenigstens ich an dieser Anhörung teilge- nommen habe. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, natürlich haben wir von Anfang Joachim Stünker (SPD): an das Recht der Opposition, eine Anhörung zu beantra- Herr Kollege Montag, ich kann drei Viertel von dem, gen, akzeptiert. Wir haben gesagt: Jawohl, wir machen was Sie gesagt haben, bestätigen. Das ist richtig. die Anhörung. Auch wenn Sie vor Weihnachten keine Zeit mehr hatten, haben wir uns die Zeit genommen, um (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: darüber zu beraten. Das ist schon sehr viel! Danke!) Sie hatten mir gesagt: Beantragen Sie die Anhörung, Vizepräsidentin Petra Pau: dann brauchen wir sie nicht zu beantragen! – Das ist in Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ordnung, das haben wir schon oft so gemacht. des Kollegen Montag? Nicht ganz richtig ist die Darstellung der Termin- frage. Wir hatten Ihnen, der Opposition, mehrere Ter- Joachim Stünker (SPD): mine angeboten. Wir hatten sogar um eine Ausnahmege- Von Herrn Montag immer! nehmigung des Präsidenten für die Haushaltswoche (Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Junge, Junge, gebeten. Das ist abgelehnt worden. Daher mussten wir das ist ja ein Winkeladvokat!) auf den Termin ausweichen, an dem die Haushaltswoche beendet war, um noch fristgemäß die Anhörung durch- – Frau Präsidentin, haben Sie diesen Zwischenruf ge- führen zu können. Sie, Herr Kollege Montag, waren an- hört? – Das will ich dem Kollegen Maurer nicht durch- wesend und haben wie immer sachgemäß zu der Anhö- gehen lassen. Er hat mich eben einen Winkeladvokaten rung beigetragen. genannt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Vizepräsidentin Petra Pau: Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich werde es prüfen. Danke schön!) (B) Lassen Sie mich noch zu zwei Punkten eine Anmer- (D) Joachim Stünker (SPD): kung machen. Herr Kollege Montag hat mit Verve die Gut. – Das aus Ihrem Mund, Herr Kollege Maurer! für Laien schwer zu durchschauende Vorschrift des § 47 Abs. 3 (neu) der Strafprozessordnung vorgetragen. Vizepräsidentin Petra Pau: Das betrifft die Frage der Wiedereinsetzung in den vor- Bitte, Herr Montag. herigen Stand. Ich will dazu nur eines sagen, Herr Kol- lege Montag: Lesen Sie bitte auch Satz 2 und Satz 3. Wir stellen sicher, dass, wenn Wiedereinsetzung gewährt Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wird, sich das wiedereinsetzende Gericht unmittelbar Ich habe diesen Zuruf nicht gehört. Aber ich weiß ge- mit der Haftfrage beschäftigen muss. Aus unserer Sicht nau, dass der Kollege Maurer ein Anwalt ist und Sie ein wird Art. 104 Abs. 2 des Grundgesetzes in diesem Fall Richter sind. eingehalten. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Jürgen CDU/CSU) Gehb [CDU/CSU]: Ein Winkelrichter!) Daher sehen wir die verfassungsrechtlichen Probleme, An Sie, Herr Kollege Stünker, habe ich die Frage, ob die Sie haben, nicht. Trotzdem, Frau Dyckmans, erlaube Sie bereit sind, hier vor dem Plenum zu bestätigen, dass ich es mir und lasse es mir nicht nehmen, Entscheidun- nicht die große Koalition, nicht die Mehrheit in diesem gen auch des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu hin- Hause, den Antrag gestellt hat, eine Anhörung im terfragen. Das Recht nehme ich mir als frei gewählter Rechtsausschuss zum 2. Justizmodernisierungsgesetz Abgeordneter in diesem Hause heraus. Das muss ich Ih- durchzuführen, sondern dass dies die Oppositionspar- nen ganz deutlich sagen. teien waren, und es deswegen richtig ist, dass es auf An- trag der Opposition überhaupt zu einer solchen Anhö- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung gekommen ist? der CDU/CSU) Sind Sie auch bereit, hier im Plenum zu bestätigen, Noch ein weiterer Punkt: Ich bin sehr froh darüber, dass die Terminierung selbstverständlich in den Händen dass wir mit diesem Gesetz die Verwarnung mit Straf- der Mehrheit und nicht in den Händen der Minderheit vorbehalt ausweiten können. Ich habe überhaupt nicht liegt und dass es deswegen Sie, die große Koalition, wa- verstanden, dass in einigen Stellungnahmen dazu ge- ren, die den tatsächlich nicht ganz sauberen Vorschlag schrieben wurde, eine solche Vorschrift setze das Werte- gemacht haben: wenn schon in einer Haushaltswoche, gefühl der Menschen in diesem Land gegenüber der 7010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Joachim Stünker (A) Geldstrafe außer Kraft. Meine Damen und Herren, wenn wurf ist gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio- (C) die Schuldfeststellung durch ein Urteil gegeben ist und nen angenommen. lediglich die Geldstrafe sozusagen zur Bewährung aus- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- gesetzt wird, wird das Wertegefühl der Menschen in kei- tion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent- ner Weise beeinträchtigt. Viel eher ist das der Fall, wenn, wurf eines Justizmodernisierungsauskopplungsgesetzes wie im Mannesmann-Verfahren geschehen, das Verfah- auf Drucksache 16/3282. Der Rechtsausschuss empfiehlt ren nach § 153 a StPO gegen die Zahlung einiger Millio- unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf nen Euro eingestellt wird. Das beeinträchtigt das Werte- Drucksache 16/3640, den Gesetzentwurf abzulehnen. gefühl der Menschen viel mehr als die Ausdehnung der Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Verwarnung mit Strafvorbehalt. wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜND- Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) schäftsordnung die weitere Beratung. Ein Zweites dazu – – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Vizepräsidentin Petra Pau: Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, wei- Kollege Stünker, es tut mir Leid, diese Aufzählung teren Abgeordneten und der Fraktion des BÜND- können wir nicht mehr beenden. NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Joachim Stünker (SPD): Opferentschädigung bei Gewalttaten Frau Präsidentin, einen Satz muss ich noch sagen dür- – Drucksache 16/1067 – fen. – Es wurde gesagt, dem Staat gehe Geld verloren, Überweisungsvorschlag: wenn wir die Verwarnung mit Strafvorbehalt ausdehnen. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Dazu eine Anmerkung: Er spart sogar Geld, Herr Kol- Auswärtiger Ausschuss lege Kauder, und zwar insofern, als dann die Ersatzfrei- Innenausschuss Rechtsausschuss heitsstrafen weniger werden, die sonst dazu führen wür- Finanzausschuss den, dass die Menschen wieder in den Knast müssten. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der Staat spart also Haftplätze. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Schönen Dank. Haushaltsausschuss (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van der CDU/CSU) Essen, Dr. Max Stadler, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vizepräsidentin Petra Pau: Opferentschädigung bei Terrorakten im Aus- Ich schließe die Aussprache. land sicherstellen Wir kommen zur Abstimmung über den von der – Drucksache 16/585 – Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Überweisungsvorschlag: Gesetzes zur Modernisierung der Justiz, Drucksa- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) che 16/3038. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Rechtsausschuss che 16/3640, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Finanzausschuss sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den Ausschuss für Tourismus wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss trag auf Drucksache 16/3674? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Antragsteller bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten Fraktion Die Linke abgelehnt. erhalten soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den nen. Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dritte Beratung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem an dieser Stelle an zwei schreckliche Ereignisse erin- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – nern, die sich bereits vor einigen Jahren abgespielt ha- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- ben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7011

Jerzy Montag (A) Fall Nummer eins. Ein deutscher Staatsangehöriger, che aber überhaupt keinen Abbruch; das können wir (C) ein Vater, fährt mit seinen beiden Kindern nach Mallorca auch in jedem anderen Ausschuss sachgerecht diskutie- und tötet sie dort. Die Mutter, die in Deutschland zu- ren –, würde ich mir wünschen, dass die Tatsache, dass rückgeblieben ist, bekommt einen Schock. Sie macht der Gesetzentwurf von uns kommt, für Sie kein Anlass viele Monate später Ansprüche nach dem Opferentschä- wird, ihn abzulehnen. Ich bitte Sie dringend, sich damit digungsgesetz geltend. Wiederum nach einigen Jahren sachlich intensiv zu beschäftigen und in der Sache eine gerichtlicher Auseinandersetzung teilt ein deutsches Ge- gemeinsame Lösung zu finden. richt dieser Mutter mit: In der Sache steht Ihnen ein An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) spruch nach dem Opferentschädigungsgesetz eigentlich zu; aber leider sind Ihre Kinder am falschen Ort getötet Ich will Sie zum Schluss daran erinnern, das Bundes- worden. Wären sie auf Helgoland getötet worden, dann kanzlerin Merkel am 10. Oktober bei der 30-Jahr-Feier würden Sie Geld bekommen. Aber weil es auf Mallorca des Weißen Ringes hier in Berlin erklärt hat, das Opfer- geschehen ist, bekommen Sie nichts. entschädigungsgesetz sei ein sehr fortschrittliches Gesetz. Ich darf nun zitieren: Es ist aber eines, das konti- Fall Nummer zwei. In Mölln und in Solingen brannte nuierlich weiterzuentwickeln und an die sich verändern- jeweils ein Haus wegen einer neonazistischen Tat ab. den Gegebenheiten anzupassen ist. Dabei sind einige türkische Mädchen verbrannt. Sie wa- ren zu Besuch bei ihren türkischen Verwandten, die seit Genau dies ist der Vorschlag von uns Grünen, näm- vielen Jahren in Deutschland lebten. Die Hinterbliebe- lich das Opferentschädigungsgesetz den sich ändernden nen der toten Mädchen haben ebenfalls Anträge nach Gegebenheiten anzupassen und dafür zu sorgen, dass dem Opferentschädigungsgesetz gestellt. Auch diesen solche Fälle wie die, die ich beschrieben habe, sich nicht Hinterbliebenen wurde von einem deutschen Gericht mehr wiederholen. letztendlich mitgeteilt: Eigentlich haben Sie einen An- Danke. spruch; aber leider befinden Sie sich im falschen Ver- wandtschaftsverhältnis zu den Verwandten, die Sie be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sucht haben. Wären die getöteten Mädchen Verwandte ersten oder zweiten Grades gewesen, hätten Sie etwas Vizepräsidentin Petra Pau: bekommen; bei einem Verwandtschaftsverhältnis dritten Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Paul Grades bekommen Sie nichts. Es waren nur Kusinen Lehrieder. bzw. Nichten und deswegen bekommen Sie nichts. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese beiden Fälle haben mich seit Jahren bewegt. Ich (B) weiß, dass einige von Ihnen – wir haben viele Male da- Paul Lehrieder (CDU/CSU): (D) rüber gesprochen – von diesen Fällen auch bewegt wa- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und ren und bewegt sind. Wir haben in der letzten Legislatur- Herren! Lieber Kollege Jerzy Montag, keine Angst: Wir periode den Versuch unternommen, hier eine gesetzliche haben keine Bedenken, einem guten Gesetzentwurf der Abhilfe zu schaffen. Wir waren uns unter den Rechts- Grünen zuzustimmen, aber er muss wirklich gut sein. politikern und auch unter den Sozialpolitikern eigentlich so gut wie einig darüber, dass wir den zweiten Fall – da (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beim geht es um Ausländer, die zu Besuch in Deutschland BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind – dadurch lösen wollen, dass wir nicht nur Ver- Nicht weil „grün“ draufsteht, werden wir ihn ablehnen. wandte ersten und zweiten, sondern auch Verwandte Wir werden ihn gleichwohl ablehnen. dritten Grades in den Schutzbereich des OEG aufneh- men, und zwar aus der Überlegung heraus, dass es sich Wir beraten heute den Antrag der FDP und den Ge- um Straftaten handelt, die in Deutschland geschehen, setzentwurf zum Opferentschädigungsgesetz der Grü- weswegen die Schutzpflicht des deutschen Staates ge- nen. Die Thematik ist nicht neu; Sie haben darauf hinge- bietet, nach dem Territorialitätsprinzip auch für solche wiesen, Herr Montag. Es geht im Wesentlichen um Personen die Ansprüche nach dem Opferentschädi- tragische Schicksale und um die Erkenntnis, dass für die gungsgesetz entstehen zu lassen. Betroffenen etwas getan werden muss. Dennoch lehnen wir den Antrag der FDP und den Gesetzentwurf hier und Der erste Fall ist zugegebenermaßen etwas komple- heute ab. xer; denn es handelt sich um Straftaten im Ausland. Des- wegen haben wir gesagt, dass wir für deutsche Staatsan- Ursprünglicher Sinn und Zweck des Opferentschädi- gehörige und ihnen gleichgestellte EU-Ausländer sowie gungsgesetzes ist, demjenigen eine Entschädigung zuzu- Ausländer mit festem langjährigen Aufenthalt in gestehen, den der Staat als Träger des Gewaltmonopols Deutschland wenigstens die Hereinnahme in die Billig- nicht zu schützen vermochte. Davon erfasst sind deut- keitslösung des Opferentschädigungsgesetzes erreichen sche Staatsbürger und Ausländer, die unter § 1 Abs. 4 wollen. und 5 des Opferentschädigungsgesetzes fallen. Das Ge- setz sieht für Opfer von Gewaltverbrechen nach § 1 Wir Grünen haben jetzt einen entsprechenden Gesetz- Abs. 1 momentan einen Anspruch auf Versorgung vor, entwurf vorgelegt. Auch wenn die Koalitionsmehrheit soweit die Schädigung im Geltungsbereich des Opfer- den Rechtspolitikern das zu meinem völligen Unver- entschädigungsgesetzes, also im Inland oder auf einem ständnis aus der Hand genommen hat – wir können da- deutschen Schiff oder Flugzeug, eingetreten ist. Es gilt rüber nicht im Rechtsausschuss beraten; das tut der Sa- insoweit das Territorialitätsprinzip. 7012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Paul Lehrieder (A) Warum ist das so? Laut amtlicher Gesetzesbegrün- Es geht ganz allgemein um alle Schädigungen im Aus- (C) dung trifft den Staat und seine Organe nur in diesem Be- land. reich die Verantwortung für die Sicherheit der Men- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die CDU/ schen. Das hat dazu geführt, dass bereits in mehreren CSU im Kern für die Erweiterung des Opferentschädi- Fällen die Entschädigung versagt wurde, weil der Tatort gungsgesetzes um die Fälle der Schädigung im Ausland im Ausland lag. Exemplarisch verweise ich auf den Fall ist. Das können Sie im Gesetzentwurf aus dem Jahre einer Mutter, deren Kind in Mallorca ermordet wurde – 2003 bereits nachlesen, allerdings nicht in der Form, wie Herr Montag, Sie haben gerade dasselbe Beispiel ge- es die Grünen hier und heute in ihrem Gesetzentwurf bracht. Ihr wurde unter Hinweis auf das Territorialitäts- vorlegen. prinzip ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsge- setz für den Schockschaden vom Bundessozialgericht Ich bedanke mich. versagt. (Beifall bei der CDU/CSU) Für die Betroffenen spielt es keine Rolle, wo das Ge- waltverbrechen begangen wurde, denn Trauer und Leid Vizepräsidentin Petra Pau: kennen kein Territorialitätsprinzip. Paradoxerweise kann Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen für die FDP- aber ein Ausländer, soweit er die Voraussetzungen des Fraktion. § 1 Abs. 4 und 5 des Opferentschädigungsgesetzes er- füllt, bei Schädigung in Deutschland einen Versorgungs- anspruch erwerben. Hier wird die große Lücke im der- Jörg van Essen (FDP): zeit gültigen Gesetz deutlich. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede des Kollegen Lehrieder hat gerade deutlich ge- Nun bringt die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- macht, wie unterschiedlich manchmal die Diskussionen nen einen Gesetzentwurf ein, der das Territorialitätsprin- ausfallen, je nachdem, ob man in der Opposition oder in zip über den Weg des § 10 b des Opferentschädigungs- der Regierung ist. Manches, was man vorher als ände- gesetzes aufgeben will. Was Sie hier fordern, liebe rungsbedürftig unterstützt hat, wird auf einmal als wohl Kolleginnen und Kollegen, hätten Sie in besserer Form gelungen gelobt, beispielsweise der Härtefonds beim schon lange haben können. Die CDU/CSU-Fraktion hat Generalbundesanwalt. Als wir gemeinsam in der Oppo- mit ihrem kompetenten Referenten Siggi Kauder sition waren, waren wir, wenn ich mich recht entsinne, auch gemeinsam der Auffassung, dass es nicht bei dieser (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ermessensentscheidung bleiben soll, sondern dass wir Oh!) diejenigen, die ein schweres Schicksal haben, die Opfer (B) bereits im Jahre 2003 einen ausgewogenen Gesetzent- eines Terroranschlages im Ausland geworden sind, mit (D) wurf vorgelegt, um eben dieses Problem zu beseitigen. Rechtsansprüchen ausstatten wollen. Rot-Grün hat ihn abgelehnt. (Beifall bei der FDP) Indem Sie zusätzlich fordern, dass Menschen ohne Das bleibt auch der Wunsch der FDP. Deshalb haben wir deutsche Staatsangehörigkeit, die mit dauerhaft in diesen Antrag eingebracht. Deutschland lebenden Menschen bis zum dritten Grad verwandt sind und sich nur vorübergehend in Deutsch- Wie sich die Rolle verändern kann, haben wir auch land aufhalten, auch noch unter das Opferentschädi- bei den Grünen gesehen. Herr Lehrieder, Ihr Hinweis ist gungsgesetz fallen sollen, schießen Sie weit über das richtig: All das, was die Grünen jetzt vortragen, hätten Ziel hinaus. sie schon unglaublich lange haben können. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Aber da gilt das Territorialitätsprinzip!) DIE GRÜNEN]: Wir hatten keine Alleinregie- rung!) In Härtefällen ist für diese Personengruppe bereits jetzt eine Entschädigung nach Paragraph 10 b des Opferent- Sie waren viele Jahre in der Regierung. schädigungsgesetzes möglich. Das wissen Sie. Ich erinnere mich an, wie ich finde, sehr gute Bericht- erstattergespräche und bin deshalb sehr traurig, dass ich Was die Versorgung deutscher Terroropfer im Aus- land angeht, so sei an die Adresse der FDP gesagt: Seit von Ihnen, Herr Lehrieder, die Botschaft höre: Da ändert sich nichts. dem Jahre 2002 sind im Bundeshaushalt beim General- bundesanwalt Gelder für die Soforthilfe in solchen Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Kollege Kau- Fällen eingestellt, für das Jahr 2007 immerhin der war dafür verantwortlich, dass es bei Ihnen einen, 300 000 Euro. In der Vergangenheit haben aus diesem wie ich finde, sehr bemerkenswerten Antrag auf Ände- Topf deutsche Opfer der Terroranschläge in den USA am rung des Opferentschädigungsgesetzes im Jahre 2003 11. September und der Attentate von Djerba und Bali er- gegeben hat. Ich erinnere mich auch noch sehr gut an die hebliche Zahlungen erhalten. Das zeigt, dass wir diese Rede des Kollegen Kauder – ich glaube, das war im Jahr Menschen mit ihrem Leid nicht alleine lassen. darauf –, in der er uns Defizite aufgezeigt hat, die von mir geteilt worden sind. Nur für den speziellen Fall der Terrorangriffe eine Anspruchslösung zu konstruieren, wie es die FDP in ih- Ich glaube, dass wir das, was sich in den letzten Jah- rer Begründung fordert, ist sicherlich zu kurz gegriffen. ren entwickelt hat, dass es nämlich hier im Deutschen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7013

Jörg van Essen (A) Bundestag Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich in Opferentschädigung greifen kann. Umfang und Höhe (C) besonderer Weise für den Schutz der Opfer einsetzen, der nach dem Opferentschädigungsgesetz zu erbringen- nicht so leichtfertig aufgeben sollten, wie das vorhin von den Leistungen richten sich nach dem Bundesversor- Ihnen gemacht wurde. gungsgesetz. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ So neu ist das alles allerdings nicht, sondern wir reden DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: bereits länger darüber; der Kollege Montag hat im Prin- Sehr gut!) zip die Geschichte der Beratungen beschrieben. Auch in der letzten Legislaturperiode hat es darüber zwischen al- Ich finde, dass wir uns wieder zusammensetzen soll- len Fraktionen, nicht nur den Koalitionsfraktionen, in- ten und dabei schauen sollten, was wir machen können tensive Beratungen gegeben. Das Bundesministerium und was nicht, und dass wir das mit Augenmaß tun soll- für Arbeit und Soziales war mit an diesem Prozess betei- ten. Sie, Herr Lehrieder, haben zu Recht am Antrag der ligt. Es ist auch deutlich geworden, dass das bisherige Grünen kritisiert, dass man das Gefühl hat, da und dort Opferentschädigungsgesetz an einigen Stellen durchaus fehle es an Augenmaß. Wir können uns natürlich gegen- einiger Ergänzungen und Änderungen bedarf. Über an- seitig in den Forderungen überbieten; zugleich müssen dere Punkte konnte bei diesem Prozess allerdings keine wir aber sehen, dass das Ganze von den Ländern zu be- Einigung erzielt werden. So könnte man davon sprechen, zahlen ist, die zu Recht von uns erwarten, dass wir auf dass es zurzeit so eine Art Zwischenergebnis gibt, das al- das Machbare Rücksicht nehmen. Danach zu suchen, lerdings nicht befriedigt. Diejenigen, die sich damit be- was einerseits machbar und bezahlbar ist, andererseits fassen, sind deswegen der Meinung, dass man da noch aber auch den Interessen der Opfer gerecht wird, ist, wie einmal herangehen sollte. ich finde, des Schweißes der Edlen wert. Im vorliegenden Entwurf wird zunächst einmal vor- Wir bieten jedenfalls unsere Mitarbeit an. Ich bin geschlagen, den Personenkreis bei Inlandstaten zu auch ganz sicher, dass der Kollege Kauder dafür offen erweitern. Diese Frage spielte schon bei den parlamenta- ist – er ist immer dafür offen gewesen. Auch der Kollege rischen Beratungen zur Novelle des Opferentschädi- Montag war bei diesen Gesprächen immer außerordent- gungsgesetzes im Jahre 1993 eine Rolle. Es ist zu Recht lich hilfreich. Ich denke, wir sollten den Versuch unter- auf den damaligen Hintergrund hingewiesen worden, nehmen, uns zusammenzusetzen und zu schauen, was zu nämlich die Schandtaten in Solingen und Mölln. Die da- machen ist. Für die FDP-Bundestagsfraktion erkläre ich mals vorgenommenen Beschränkungen waren allerdings jedenfalls Bereitschaft dazu. politisch gewollt. Auch heute geht es darum – das klang Vielen Dank. eben auch ein Stück weit aus Ihren Schlussworten he- raus, Herr van Essen –, mit Augenmaß zu argumentieren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) (B) und zu schauen, was haushalterisch möglich und tolera- der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- bel ist. SES 90/DIE GRÜNEN) Man muss aber auch darüber sprechen, was Akzep- Vizepräsidentin Petra Pau: tanz findet. Deswegen ist eine generelle Einbeziehung Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär aller ausländischen Touristen und Geschäftsreisenden in Franz Thönnes. den umfassenden Schutzbereich des Gesetzes nicht ver- tretbar. Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- minister für Arbeit und Soziales: NEN]: Will doch keiner!) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! – Ganz ruhig, ich komme Ihnen ja jetzt entgegen, Herr Das Opferentschädigungsrecht – das klang auch schon Kollege Montag. – Ihr Vorschlag, sozusagen die Ver- bei den Ausführungen meiner Vorredner an – beinhaltet wandten dritten Grades einzubeziehen, unter Beibehal- eine Einstandspflicht des Staates für unschuldige Op- tung der Härteregelung für sonstige Touristen und Ge- fer von vorsätzlichen Gewalttaten. Es regelt eine eigen- schäftsreisende, ist zumindest sehr diskussionswürdig. ständige staatliche Entschädigung jenseits der allgemei- Darüber sollte man sprechen. Auf jeden Fall muss man nen sozialen Sicherungssysteme und der Sozialhilfe für an dieser Stelle ganz deutliche Grenzen ziehen. diejenigen, die der Staat mit seinen Polizeiorganen nicht vor einer vorsätzlichen Gewalttat hat schützen können. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Einverstanden!) Es wurden jetzt Fälle beschrieben, die im Rahmen ei- ner Erweiterung der Opferentschädigung einbezogen Ich glaube auch, dass man wahrscheinlich ganz ein- werden sollten. Alle diese Fälle stimmen sehr nachdenk- fach und schnell den Begriff Lebenspartnerschaft einfü- lich und es ist schwierig, Fälle wie den der hilflosen gen kann, denn das ist lediglich versäumt worden; das Rentnerin, die überfallen wird, wie den des Missbrauchs hätte bereits in § 1 Abs. 6 Ziffer 1 des Opferentschädi- von Kindern oder auch den des Terroranschlags im In- gungsgesetzes eingefügt werden müssen. land, bei dem unschuldige Passanten schwer verletzt (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) oder getötet werden, zu bewerten. In all diesen Fällen liegt ein tätlicher Angriff auf Leib und Leben der Betrof- Die Bundesregierung begrüßt, dass der vorliegende fenen vor und es kommt auf den zumindest bedingten Gesetzentwurf auf so genannte Regelleistungen ver- Vorsatz der Täter, aber nicht ihre Motive an, damit die zichtet. Das ist objektiv so. Ein solcher Vorschlag wäre 7014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) auch aus rechtssystematischen Gründen abzulehnen, da An dem vorliegenden Gesetzentwurf begrüßen wir (C) es an dem entsprechenden so genannten Aufopfe- – ich denke, das geht hier durch alle Reihen – den Ver- rungstatbestand fehlt. Ich glaube, wir müssen diese De- such zum Paradigmenwechsel weg von der Perspektive batte so führen, dass nicht der Eindruck entsteht, der des Staates hin zur Opferperspektive. Besonders deut- Staat könne außerhalb seines Hoheitsgebietes die Men- lich zeigt sich dieser Fakt an den vorgeschlagenen Rege- schen so bewahren, dass ihnen kein Leid geschieht, oder lungen zur Entschädigung von Straftaten im Ausland ihnen wirksamen Schutz garantieren. Erwägenswert – diese Sichtweise entspricht auch der Intention meiner wäre von daher allenfalls die Schaffung einer Entschä- Fraktion – sowie der vorgeschlagenen Anpassung des digungsmöglichkeit aus Billigkeitsmotiven, wie auch Opferentschädigungsgesetzes an das Lebenspartner- Sie es vorschlagen. Rechtssystematisch bietet sich dafür schaftsgesetz. Es ist schon erwähnt worden, dass das eine Anlehnung an die Regelung des § 10 b des Opfer- letztlich nur vergessen worden ist. Zu unterstützen ist entschädigungsgesetzes an. Ich denke, dass man die ge- auch die Forderung, dass weiterhin diejenigen von Ent- naue Ausgestaltung einer solchen Regelung noch aus- schädigungen ausgeschlossen werden sollen, die durch führlich diskutieren sollte. eigenes Verhalten, insbesondere durch die Wahl eines gefährlichen Reiseziels, fahrlässig handeln. Wenn man einmal einen Strich unter die Beratungen und den vorliegenden Gesetzentwurf ziehen und eine Trotzdem komme ich an einigen kritischen Bemer- Bewertung vornehmen will, passt wieder der Begriff des kungen zu der vorliegenden parlamentarischen Initiative Zwischenergebnisses. Im Kern muss man sagen, dass nicht vorbei. Sie, meine Damen und Herren von den der Prozess ein Stück weit auch dem Ende der Legisla- Grünen, schlagen in Ihrem Entwurf vor, den Kreis der turperiode zum Opfer gefallen ist. Deshalb wäre es ein Anspruchsberechtigten gemäß Opferentschädigungs- guter Weg, wenn sich an dieser Stelle sowohl die Rechts- gesetz auch auf die Menschen auszudehnen, die sich nur politiker wie auch die Haushaltspolitiker und die Sozial- vorübergehend in der Bundesrepublik aufhalten und mit politiker noch einmal zusammensetzen und den Versuch einem dauerhaft hier lebenden Menschen bis zum dritten unternehmen würden, unter Einbeziehung der Eck- Grad verwandt sind. punkte, die hier von allen Rednern, auch von mir, vorge- tragen worden sind, zu einer Regelung zu kommen. Wenn man sich schon richtigerweise dazu entschließt, Denn es geht ja nicht um Mehrheitsverhältnisse; das hat § 1 Abs. 6 des Opferentschädigungsgesetzes auszuwei- man an jeder Stelle herausgehört. Alle stellen fest, dass ten, dann hätte dies nicht so halbherzig geschehen dür- es ein Defizit gibt, dass man nicht zu viel versprechen fen. Wie Herr Lehrieder schon gesagt hat: Es ist die Ver- darf, dass man die politische Akzeptanz im Auge behal- antwortung des Staates, für die Menschen auf seinem ten muss. Ich denke, uns eint das Ziel, den Menschen, Territorium einzustehen. Sind denn Menschen, die sich (B) die Opfer von Straftaten werden, auch in den bisher hier aufhalten und die nicht dritten Grades mit hier Le- (D) nicht geregelten Bereichen unter vertretbaren Gesichts- benden verwandt sind, schlechtere Menschen? Ihr Vor- punkten – sowohl was die Finanzmittel wie auch was die haben, aus rein finanziellen Erwägungen nicht alle Opfer politische Akzeptanz angeht – zu helfen und sie nicht al- von Gewalttaten auf dem Territorium der Bundesrepu- lein zu lassen. blik gleichzustellen und in gleicher Weise zu entschädi- gen, nenne ich Rechtsansprüche nach Kassenlage gestal- Ich möchte auch gegenüber allen Fraktionen anregen, ten. Ich denke, das darf nicht sein. einen solchen Prozess zu initiieren. Unser Haus und die kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gerne bereit, diesen Prozess, wie man so schön sagt, er- NEN]: Das Problem der Linken ist, dass sie gebnisorientiert zu fördern und zu begleiten. auf die Kasse nie achten!) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir fordern gleiche Entschädigungsleistungen für alle Menschen, die auf dem Territorium der Bundesrepublik (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Opfer von Gewalttaten werden, unabhängig von ihrer FDP sowie des Abg. Jerzy Montag [BÜND- Staatsangehörigkeit, von ihrem Aufenthaltsstatus oder NIS 90/DIE GRÜNEN]) ihren verwandtschaftlichen Beziehungen.

Vizepräsidentin Petra Pau: Eine weitere kritische Anmerkung. Wenn wir uns mit Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Jörn der Ergänzung bzw. Erweiterung des Opferentschädi- Wunderlich das Wort. gungsgesetzes befassen, dann hätte ich eigentlich erwar- tet – aber wir befinden uns erst in der ersten Lesung; es folgen noch die Berichterstattergespräche –, dass wir uns Jörn Wunderlich (DIE LINKE): weiteren notwendigen Änderungen zuwenden. Denn Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Grund- nach wie vor ist es so, dass Opfer von Gewaltverbre- gedanke des Opferentschädigungsgesetzes ist die Ver- chen, deren Wohnsitz in Ostdeutschland liegt, nur eine antwortung des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger Grundrente in Höhe von 87 Prozent der Grundrente ei- vor Gewalttaten und Schädigungen durch kriminelle nes Westdeutschen beziehen. Hier sehe ich noch genü- Handlungen zu schützen und denjenigen Opfern zur gend Raum, um den vorliegenden Gesetzentwurf in den Seite zu stehen, die nach dem bürgerlichen Recht keinen Ausschussberatungen inhaltlich anzureichern, sofern der hinreichenden Schutz und Schadensersatz in Anspruch politische Wille für die wirklich großen Schritte vorhan- nehmen können. den ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7015

Jörn Wunderlich (A) Aber immerhin: Der Anfang ist gemacht. Es ist schon Ich bin der Meinung, dass man diese Überlegung wie- (C) signalisiert worden, dass man konstruktive Berichterstat- der aufgreifen sollte. In diesem Zusammenhang will ich tergespräche führen will, in denen man ausloten kann, nicht verschweigen, dass es eine Bund/Länder- inwieweit diese Forderungen umsetzbar sind. Um mit Arbeitsgruppe gibt, die sich weitergehende Gedanken den Worten von Aristoteles zu sprechen: „Der Anfang ist gemacht hat. Ich habe auf mehreren Fachtagungen erfah- die Hälfte vom Ganzen.“ In diesem Sinne hoffe ich, dass ren, wie Opferentschädigungen im Ausland geregelt wir tatsächlich konstruktive Berichterstattergespräche werden. In Österreich ist man schon weiter; dort gilt das führen und dass auch die zweite Hälfte dieses Ganzen in Territorialitätsprinzip nicht. das Gesetzgebungsverfahren einfließen kann. Aber auch in anderen Ländern ist man, was das Ver- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. fahren anbelangt, schon weiter als in Deutschland. In den angelsächsischen Ländern ist die Opferentschädi- (Beifall bei der LINKEN) gung völlig anders als bei uns geregelt. Dort gibt es ein Gremium, das aus ehrenamtlichen Mitarbeitern entsteht, die nach typisierten Sachlagen entscheiden, ob eine Pau- Vizepräsidentin Petra Pau: schale gezahlt wird. In wenigen Wochen wird eine Für die Unionsfraktion hat der Kollege Siegfried Opferentschädigung zugesprochen. Ist das Opfer damit Kauder das Wort. nicht einverstanden, kann es ein Rechtsmittel einlegen. Dann ist der Rechtsweg abgeschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen lasse ich diese Diskussion in der Bund- Länder-Kommission gerne zu. Dort macht man sich Ge- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ danken, ob man Opferentschädigungen nicht mit Pau- CSU): schalen abarbeiten kann. Denn das derzeit geltende Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Opferentschädigungsgesetz ist, was die Abwicklung an- Liebe Kollegen! Ich bin im Jahr 2002 mit einem ausge- belangt, ein bürokratisches Monstrum. Es gibt im Rah- arbeiteten Gesetzentwurf unter dem Arm voller Enthu- men des Opferentschädigungsrechtes Verfahren, die siasmus in den Deutschen Bundestag eingezogen. Es hat fünf, sechs und sieben Jahre durch mehrere Instanzen sich dabei um das Gesetz zur Änderung des Opferent- gehen; das sage ich Ihnen ganz klar. Es ist mir lieber, ein schädigungsgesetzes gehandelt. Lassen Sie mich beto- Opfer bekommt weniger, aber sofort und auf der Stelle, nen: Ich habe sehr schnell Wegbegleiter über die Frak- als dass es sich mit einem belastenden Verfahren über tionsgrenzen hinaus gefunden. Die Diskussion, die wir viele Jahre beschäftigen muss. heute führen, zeigt, dass dieses sachliche und konstruk- (B) (D) tive Arbeitsklima weiterhin besteht. Ich würde darauf (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem gerne zurückgreifen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen möchte ich Sie alle recht herzlich dazu ein- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der laden, diese Diskussion fortzuführen. In den angelsäch- FDP sowie des Abg. Jerzy Montag [BÜND- sischen Ländern hat sich die Praxis bewährt, dass man NIS 90/DIE GRÜNEN]) die Entschädigung pauschal abarbeitet. Es gibt aber auch Es ist so, wie es der Kollege van Essen und der Kol- die andere Überlegung, die Opferentschädigung den Ge- lege Montag gesagt haben: Wir hatten unser Ziel fast er- meindeversicherungsverbänden zu übertragen, was mir reicht. Aber jetzt muss man einmal die Möbel wieder ge- nicht so schmeckt wie die Pauschallösung. Ich wieder- raderücken. An was ist es eigentlich gescheitert? Es ist hole: Ich lade Sie alle recht herzlich ein. Ich bin der Mei- gescheitert an der Kostenfolge für die Länder. Ich habe nung, dass die Berichterstatter der letzten Legislatur- damals schon folgenden Gesichtspunkt erwähnt: Das periode sich an einen Tisch setzen sollten. Ich begrüße Opferentschädigungsgesetz beinhaltet ein Territoriali- die Initiative, die Sie gestartet haben. Das ist für mich tätsprinzip, das schon nach bestehendem Recht leicht ein Merkposten, dieses Gesetz, das ich sicher nicht ver- durchbrochen ist. Denn es gilt auch auf deutschen Schif- gessen habe, wieder gerne mit Ihnen zu debattieren. fen und in deutschen Botschaften im Ausland mit einer Vielen Dank. Besonderheit: Geschieht eine Straftat auf einem deut- schen Schiff, sitzen die Länder sozusagen nicht mit im (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Boot. Die gesamte Entschädigung zahlt der Bund; die FDP) Länder sind daran nicht mit einer bestimmten Quote be- teiligt. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Man kann nun schnell die Argumentationskette er- kennen, auf die sich die Länder berufen: Verlässt ein Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Reisender das Schiff und begibt sich auf fremdes Ter- den Drucksachen 16/1067 und 16/585 an die in der Ta- rain, so ist eine etwaige Entschädigung eine Sache des gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, Bundes, weil ein Bezug zum Bundesland des Reisenden wobei die Federführung jeweils beim Ausschuss für Ar- nicht besteht. An dieser endlosen Diskussion sind wir beit und Soziales liegen soll. Sind Sie damit einverstan- gescheitert, zumal noch das Ende der Legislaturperiode den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so herannahte. beschlossen. 7016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: sollen. Vier Jahre lang ist es trotz schwieriger ökonomi- (C) scher Situation gelungen, die Beitragssätze in der Ren- a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- tenversicherung stabil bei 19,5 Prozent zu halten. 2005 nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten wurde vereinbart, den Beitragssatz 2007 auf 19,9 Pro- Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung zent festzulegen und mittelfristig unterhalb eines Bei- der Beitragssätze in der gesetzlichen Renten- tragssatzes von 20 Prozent zu bleiben, um auch vor dem versicherung und der Beiträge und Beitrags- Hintergrund der ökonomischen Entwicklung eine solide zuschüsse in der Alterssicherung der Land- Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sicherzu- wirte für das Jahr 2007 stellen. – Drucksache 16/3268 – Nun freuen wir uns über die ökonomische Entwick- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- lung und die heutige finanzielle Situation in der Renten- ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) kasse. Nimmt man die Daten des Schätzerkreises hin- sichtlich der ökonomischen Entwicklung für die nahe – Drucksache 16/3637 – Zukunft zur Kenntnis, dann wäre sogar unter Einhaltung Berichterstattung: der Nachhaltigkeitsrücklage von 0,2 Monatsausgaben Abgeordnete Gregor Amann ein Beitragssatz von 19,7 Prozent möglich. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Sie sagen richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales es ja selbst, Herr Staatssekretär!) (11. Ausschuss) – So verlockend das ist – Sie folgen diesen Verlockun- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, gen ja hemmungslos –: Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weite- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir glauben an rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP das Gute!) Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für weitere Beitragssenkungen verwenden Es gilt, über den Tag hinauszuschauen, Herr Kollege, fi- nanzielle Solidität zu gewährleisten, – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Poth- mer, Priska Hinz (Herborn), Markus Kurth, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) weiterer Abgeordneter und der Fraktion des einen grundsätzlichen Kurs zu halten und nicht zickzack BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu fahren. (B) Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit (Anton Schaaf [SPD]: So ist der Kolb! – (D) für Ausbildung, Qualifizierung und Progres- Dr. Uwe Küster [SPD], an den Abg. siv-Modell verwenden Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] gewandt: Man – Drucksachen 16/3091, 16/2509, 16/3637 – muss auch mal einstecken können!) Berichterstattung: Deswegen sei auf Folgendes hingewiesen: Die Ent- Abgeordnete Gregor Amann wicklung würde, wenn wir dem so folgen würden, bei gleich bleibender Datenbasis dazu führen, dass der Ren- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tenversicherungsbeitrag 2008 auf 20,1 Prozent steigt. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch dazu Die bestehende gesetzliche Verstetigungsregelung höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sorgt dafür, dass der Rentenversicherungsbeitrag erst Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- dann wieder gesenkt werden darf, wenn die Nachhaltig- mentarische Staatssekretär Franz Thönnes. keitsrücklage 1,5 Monatsausgaben überschreitet. Das wollen wir nicht. Das wäre nicht gut für die Konjunktur. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das wäre auch für den Bundeshaushalt nicht gut, weil der CDU/CSU) dann zusätzliche Finanzmittel in Höhe von 1,5 Milliar- den Euro Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So minister für Arbeit und Soziales: ist es!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen stand die mittelfristige und langfristige oder Leistungskürzungen, wie das sogar einige vorschla- Entwicklung der Rentenpolitik im Zentrum der Dis- gen, erforderlich sind. Wir lehnen Kürzungen ab. kussion. Jetzt geht es um die aktuelle Situation der Ren- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tenversicherungsbeiträge und der Arbeitslosenver- sicherungsbeiträge. Es bleibt dabei: Kalkulierbarkeit, Wir wollen keine zusätzlichen Finanzmittel. Wir wollen Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit sind auch bei diesem Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit. Thema die Orientierungsmarken. Deshalb bleibt es bei den 19,9 Prozent, auch damit Bereits im Koalitionsvertrag wurde festgelegt, dass wir auf dem langen Pfad bis 2020 unter der Größe von der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 auf 20 Prozent bleiben. Nicht der schnelle 5-Euro-Blick ist 19,9 Prozent angehoben und gleichzeitig die Arbeitslo- hier für Berechenbarkeit Ausdruck, sondern derjenige, senversicherungsbeiträge von 6,5 auf 4,5 Prozent sinken der sich auf die Perspektiven verlässt, die auch der So- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7017

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) zialbeirat durchaus so gesehen hat. Dieses Gremium, das Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C) sich aus Arbeitgebervertretern, Gewerkschaftsvertretern Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und Wissenschaftlern zusammensetzt, unterstützt uns Herr Staatssekretär, Sie können das drehen und wenden auf diesem Kurs. wie Sie wollen: Die 13 Milliarden Euro Entlastung, die Sie jetzt quasi als Geldsegen den Versicherten zurückge- Man muss natürlich auch deutlich sagen: An anderer ben wollen, haben Sie sich doch am Anfang dieses Jah- Stelle senken wir. Wir reduzieren den Arbeitslosenver- res bei den Unternehmen längst geholt. sicherungsbeitrag über das hinaus, was schon beschlos- sen war; wir reduzieren nämlich jetzt auf 4,2 statt auf (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das stimmt 4,5 Prozent. Damit werden die Beitragszahlerinnen und doch gar nicht!) Beitragszahler um 2,2 Milliarden Euro entlastet. Das Durch den „13. Monatsbeitrag“ haben Sie 22 Milliarden Gesamtvolumen der Entlastungen beträgt sogar 17 Mil- Euro in die Sozialkassen vereinnahmt. Deswegen ist es liarden Euro. Damit wird ganz deutlich: Die Beitrags- nicht redlich, wenn Sie hier behaupten, Sie täten nun et- zahlerinnen und Beitragszahler werden hinsichtlich ihrer was ganz Tolles. Lohnnebenkosten ein Stück weit entlastet und haben netto mehr im Portemonnaie. (Beifall bei der FDP) Im Übrigen, Herr Staatssekretär, hat die Anhörung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ganz deutlich gezeigt, dass das Maßnahmenpaket, das Ich will noch hinzufügen, dass man denjenigen, die Sie hier heute zu vertreten haben – bestehend aus der nach weiterer Reduzierung rufen, nicht folgen darf. Wir Rentenbeitragssatzerhöhung, einer Senkung des Arbeits- machen nur das, was solide finanziert werden kann; losenversicherungsbeitrags, einer absehbaren Erhöhung denn darauf zählen die Menschen, die wollen, dass es des Krankenversicherungsbeitrags und der Mehrwert- weiterhin eine gute aktive Arbeitsmarktförderung steuererhöhung –, im Ergebnis das Wachstum im Jahr gibt. Das ist gewährleistet. Deswegen braucht man auch 2007 erheblich belastet und die sozialen Sicherungssys- den Skeptikern nicht zu folgen, die glauben, die aktive teme wieder destabilisiert. Arbeitsmarktpolitik würde nicht weitergehen. (Beifall bei der FDP) Für den Eingliederungstitel für 2007 stehen weiterhin Der Sachverständige Professor Horn hat in der Anhö- 3,3 Milliarden Euro zur Verfügung, und das, obwohl so- rung gesagt, dass das Wirtschaftswachstum im nächs- gar mit weniger Arbeitslosen gerechnet wird. Darin sind ten Jahr durch den negativen Impuls aus dem Regie- 200 Millionen Euro für ein Integrationsfortschrittspro- rungshandeln um über 1 Prozentpunkt niedriger gramm enthalten, mit dem ganz besonders Menschen ge- ausfallen wird, als es bei einer ungebremsten Entwick- (B) fördert werden sollen, die unsere Hilfe benötigen. Wei- lung der Fall wäre. Statt 2,5 Prozent plus x werden wir (D) tere 218 Millionen Euro aus dem Eingliederungstitel 1,5 Prozent minus x haben. Das bedeutet, das Wachstum gehen gezielt in die Förderung von Jugendlichen, unter wird wieder unter die Beschäftigungsschwelle sinken. anderem zur Finanzierung von 12 500 Ausbildungsplät- Das ist das Problem. zen in außerbetrieblichen Einrichtungen. Insgesamt ste- (Beifall bei der FDP) hen 13 Milliarden Euro für aktive Arbeitsförderung in 2007 zur Verfügung. Das ist – gerade angesichts der gu- Die Trendumkehr führt auch dazu, dass die sozialen ten Konjunktur – ein ordentlicher Beitrag, der den Men- Sicherungssysteme wieder stärker belastet werden. schen, die keine Arbeit haben, helfen wird, wieder Ar- Deswegen kann ich nicht verstehen, Herr Staatssekretär, beit zu finden. dass die Bundesregierung im Rentenversicherungsbe- richt für 2007 und 2008 weiterhin von einem Beschäfti- Die 317 000 sozialversicherungspflichtigen Arbeits- gungszuwachs ausgeht: 2007 um 0,6 Prozent und 2008 plätze, die wir jetzt mehr haben im Vergleich zum No- um 0,4 Prozent. Das ist sehr optimistisch, zumal im Jahr vember des vorigen Jahres, sind wirklich gute Mutma- 2006 bei einem Wachstum von 2,4 Prozent gerade ein- cher, die uns bestätigen, dass das Geld auf diesem Kurs mal ein Beschäftigungszuwachs von 0,5 Prozent erzielt gut investiert ist. Auch die Senkungen und die Reduzie- wurde. Da passt doch irgendwo etwas nicht zusammen. rungen, die stattfinden, werden nichts daran ändern, dass Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, ein Beitrags- die Konjunktur weiter gefördert wird; denn der modera- satz zur Rentenversicherung von 19,7 Prozent wäre ei- ten Belastung von 4 Milliarden Euro stehen 17 Milliar- gentlich ausreichend. Die Koalition verteidigt die Erhö- den Euro an Entlastung gegenüber. Das macht 13 Mil- hung auf 19,9 Prozent – auch Sie haben das getan – liarden Euro als Nettoentlastung. Das ist gut für die damit, dass ansonsten schon im Jahr 2008 eine Anhe- Menschen, für die Wirtschaft und für die Konjunktur in bung des Beitragssatzes auf über 20 Prozent erforderlich diesem Land und das wird das Land auch weiter nach wäre. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass mit dem vorne bringen. Rentenversicherungsbericht 2006 die Rechtfertigung für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) diese Argumentation entfallen ist; denn in vier von neun Szenarien der möglichen Entwicklung von Beschäfti- gung und Löhnen – Herr Staatssekretär, aus meiner Sicht Vizepräsidentin Petra Pau: sind das die wahrscheinlicheren – muss der Beitragssatz Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die für 2008 auf über 20 Prozent angehoben werden. Das ist FDP-Fraktion. die Wahrheit. (Beifall bei der FDP) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau!) 7018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Ich habe den Bericht dabei und könnte Ihnen meine Aus- Ich finde, Sie verpassen eine Chance, wenn Sie nicht (C) führungen im Detail belegen. alle Spielräume für eine Beitragssenkung konsequent nutzen. Erst Ihre Politik des fehlenden Mutes schafft Man muss schon ein sehr großer Optimist sein, wenn nämlich die Voraussetzungen dafür, dass die Beiträge man Ihren Versprechungen folgt, der Beitragssatz zur tatsächlich steigen müssen. Jeder Unternehmer würde Rentenversicherung könne über 2012 hinaus – in der De- anders handeln. Er würde den Spielraum ausschöpfen, batte heute Morgen hieß es sogar: bis 2020 – bei um die gute Entwicklung des Jahres 2006 zu verstärken 19,9 Prozent gehalten werden. und fortzusetzen. (Jörg Rohde [FDP]: Wunschtraum! – Anton (Beifall des Abg. Jörg Rohde [FDP]) Schaaf [SPD]: Im letzten Jahr wollten Sie uns auch nicht folgen!) Zum Schluss: Es ist bedrückend, zu sehen, dass die große Koalition offensichtlich den gleichen Fehler Herr Schaaf, von den Koalitionsfraktionen hat zumin- macht wie die Vorgängerregierung unter Gerhard dest die SPD diesbezüglich aufgrund der Erfahrungen in Schröder 1998. Damals hat man bei Amtsantritt und gut der Vergangenheit jede Glaubwürdigkeit verloren. laufender Konjunktur keine Reformen eingeleitet. Man (Beifall bei der FDP) hat die Bürger erst einmal kräftig zur Ader gelassen. Sie haben immer wieder versprochen, die Beiträge wür- (Elke Ferner [SPD]: Kräftig zur Ader gelassen ha- den zumindest stabil bleiben, wenn nicht sinken. Im Er- ben Sie die Leute in Ihrer Regierungszeit!) gebnis sind sie aber von Mal zu Mal weiter angestiegen. Als die Konjunktur dann wieder nachgelassen hat, hat (Elke Ferner [SPD]: Wie hoch waren sie denn man zunächst mit unsystematischen Einsparmaßnahmen damals, als Sie regiert haben?) begonnen. Erst nach einem Lernprozess von einigen Jah- ren wurden mit der Agenda 2010 echte Reformansätze Immer deutlicher wird – darauf will ich noch hinwei- eingebracht. Unser Land hat wirklich nicht so viel Zeit sen –, dass die große Koalition bei den Lohnzusatzkos- zu verlieren, dass man diesen Leidensweg noch einmal ten einen Paradigmenwechsel vorbereitet. Spielräume gehen könnte. für eine Absenkung der Gesamtbelastung werden vor- sätzlich nicht genutzt. Was mich besonders hellhörig (Elke Ferner [SPD]: Deshalb müssen Sie noch macht, ist, dass man des Öfteren aus den Reihen der Ko- lange in der Opposition bleiben!) alition hört, eine weitere Absenkung sei jetzt nicht mehr Dazu fällt mir nur ein: Ein kluger Mensch lernt aus so vordringlich. Herr Weiß, dabei war im Koalitionsver- den eigenen Fehlern, ein weiser Mensch lernt aber auch trag doch alles noch recht klar formuliert: Die Lohnzu- aus den Fehlern anderer. An Weisheit scheint es in dieser (B) (D) satzkosten, die Sozialversicherungsbeiträge, sollten dau- großen Koalition wahrlich zu fehlen. erhaft unter 40 Prozent gesenkt werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Anton Schaaf [SPD]: Waren Sie nicht dabei, als sie auf über 40 Prozent getrieben worden (Beifall bei der FDP) sind?) In 2007 liegen sie bei 40,6 Prozent. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/ Ich frage Sie, wann in dieser Legislaturperiode wollen CSU-Fraktion. Sie an die Schwelle von 40 Prozent herankommen, wenn nicht jetzt? Der Beitragsdruck in der Krankenversiche- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rung und in der Pflegeversicherung lässt es doch über- neten der SPD – Anton Schaaf [SPD]: Jawohl, haupt nicht wahrscheinlich erscheinen, dass die Beiträge jetzt wird es vernünftig!) noch einmal sinken könnten. Im Gegenteil: Sie werden sich weiter noch oben entwickeln. Das ist die Realität. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der FDP) gen! Mit dem Gesetz zur Beitragsfestsetzung schafft die Jetzt kommen Sie bitte nicht mit dem Hinweis – der große Koalition die Voraussetzungen für Verlässlichkeit Kollege Brandner hat das neulich im Ausschuss versucht –, und Sicherheit bei der Rente einerseits und für eine dau- Sie hätten die 40 Prozent längst mehr als erreicht; der erhafte Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge an- Prozentsatz sei sogar niedriger, weil der Pflegebeitrag dererseits. Wir geben eine klare Botschaft an die Wirt- gegenfinanziert werde und man den Krankenversiche- schaft und an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rungszusatzbeitrag der Arbeitnehmer separat betrachten in Deutschland: Die Chancen für mehr Wachstum und müsse. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Beschäftigung in Deutschland werden von der großen Koalition, wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, Koalition und ihrer Politik nach Kräften unterstützt und dass Sie hier versuchen, das Ziel einfach umzudefinieren beflügelt. und die Argumentation nur noch auf die gemeinsam von (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierten Beitrags- sätze abzustellen. Herr Kollege Dr. Kolb, was Sie gesagt haben, stimmt schlichtweg nicht. (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wir zittern schon!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7019

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Sie haben behauptet, die Bundesregierung würde in ih- nicht, warum die Bundesregierung diese Szenarien über- (C) rem am Mittwoch im Kabinett verabschiedeten Renten- haupt in ihren Rentenversicherungsbericht aufnimmt, versicherungsbericht den Beschäftigungszuwachs der wenn solche Negativszenarien von vornherein ausge- nächsten Jahre zu optimistisch schätzen. schlossen werden können. Können Sie mir zustimmen? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ein- nicht gesagt!) fach Nein sagen!) – Doch, das haben Sie gesagt. Sie haben gesagt, wir wür- den von zu optimistischen Annahmen ausgehen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Dr. Kolb, nein, ich kann Ihnen nicht zustimmen, Sie haben gesagt, dass die Beitragssätze zur Renten- weil Sie hier bewusst Nebelkerzen werfen. versicherung für die kommenden Jahre höchst problema- tisch seien. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich lese nur, was (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Das steht hier in Ihrem Bericht steht!) drin!) Es war schon immer so, dass im Rentenversicherungs- Herr Kolb, der Sozialbeirat hat in seiner Stellungnahme bericht mehrere Varianten dargestellt werden. Wir rich- zum Rentenversicherungsbericht genau das Gegenteil ten uns politisch zu allen Zeiten an der mittleren Variante von dem, was Sie sagen, festgestellt. aus. Sie ist einigermaßen sicher gerechnet und besagt, dass wir die Beitragsziele, die wir uns politisch gesetzt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Ich habe haben, einhalten können, nämlich dass wir unter es schwarz auf weiß!) 20 Prozent Beitragssatz bei der Rentenversicherung blei- Ich zitiere: ben. Der Sozialbeirat begrüßt ausdrücklich, dass die mit- (Jörg Rohde [FDP]: Haarscharf!) telfristigen ökonomischen Grundannahmen für den Sie können den gesamten Rentenversicherungsbericht Rentenversicherungsbericht 2006 vorsichtiger und den Bericht des Sozialbeirates lesen. Sie werden (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: „Vorsichtiger“! Folgendes finden: Bei diesem Rentenversicherungsbe- Komparativ! Weniger falsch ist nicht richtig, richt ist die Bundesregierung hinsichtlich des Wirt- Herr Weiß!) schaftswachstums und der Entwicklung der Zahl der Beschäftigten von deutlich niedrigeren Annahmen aus- als in den vergangenen Jahren festgesetzt wurden. gegangen als der Sachverständigenrat. Deswegen rech- (B) … Die Berechnungen zeigen, dass sich die Finanz- net die Bundesregierung mit deutlich konservativeren (D) lage der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich Annahmen als die Sachverständigen. Sie hat sich also verbessert hat und mittelfristig weitgehend gesi- auf die besonders sichere Seite gestellt. chert ist. (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) Das ist ein positives Urteil und das Gegenteil von dem, was Sie, Herr Kolb, hier festgestellt haben. Deswegen können Sie das, was im Rentenversicherungs- bericht steht, nicht plötzlich problematisieren und nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kritisieren, dass da vielleicht zu gut gerechnet worden ist oder Unwägbarkeiten drin sind. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir werden sehen!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Sie müssten eigentlich sagen: endlich eine Bundes- Bitte schön. regierung, die bewusst vorsichtig rechnet, der von den Sachverständigen sogar vorgehalten werden kann, dass Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): sie viel besser hätte rechnen können. Das ist das Ergeb- Sie haben es selbst vorgetragen, es wurde der Kompa- nis des Rentenversicherungsberichtes. Deswegen ist das, rativ verwendet. Die Schätzung ist ehrlicher als in der was Sie hier festgestellt haben, schlichtweg falsch. Vergangenheit, aber leider doch noch ein bisschen zu op- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf timistisch. des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Das habe ich aber gar nicht in meiner Rede gesagt. Sie haben, Herr Kollege Kolb, echte Reformen ange- Sie hätten mir zuhören sollen. Ich habe gesagt: In vier kündigt. In der nächsten Sitzungswoche findet die erste von neun Varianten – es werden drei verschiedene Be- Lesung eines großen Reformvorhabens, der Rente mit 67, schäftigungsszenarien mit drei verschiedenen Lohnent- statt. Die große Koalition geht echte Reformen an. Es ist wicklungsszenarien kombiniert – kommen 20 oder mehr die FDP, die sich in einem Bundesparteitagsbeschluss Prozent Rentenversicherungsbeitrag in den Jahren 2008, leider darauf festgelegt hat, dass sie gegen die Rente mit 2009 und 2010 heraus. Stimmen Sie mir zu, dass damit 67 ist. Ihre Behauptung nicht mehr haltbar ist, es sei auf jeden Fall – egal was passiert – möglich, den Rentenversiche- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist nicht rungsbeitrag bei 19,9 Prozent zu halten? Ich verstehe wahr!) 7020 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Wenn hier jemand Reformen macht, dann doch die große regulären Renteneintrittsalters noch nicht festgelegt ha- (C) Koalition und nicht die FDP. ben, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Das kann (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ ich nicht so stehen lassen!) DIE GRÜNEN]: Das interessiert doch nie- manden!) Vizepräsidentin Petra Pau: weil wir glauben, dass man nicht einfach, wie Sie es ge- Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? tan haben, das bisherige feste Renteneintrittsalter durch ein höheres festes Regeleintrittsalter ersetzen kann, son- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): dern dass man von neuem überlegen und den Menschen Ja, sehr gerne. Selbstverständlich darf Kollege Kolb einen flexiblen Renteneintritt ermöglichen muss, – eine weitere Frage stellen. Vizepräsidentin Petra Pau: Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Kolb, versuchen Sie, zum Abschluss Ihrer Frage zu kommen. Ich mache allerdings darauf aufmerksam, dass sich die Antwort ein wenig auf die Frage beziehen sollte. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Die beiden – weil zwei Drittel der Menschen in diesem Land ge- sind doch mittlerweile ein eingespieltes Team, nau das wollen? Frau Präsidentin!) (Anton Schaaf [SPD]: Das ist doch völliger – Ja. Das habe ich schon gemerkt. Unfug!) Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, Herr Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Kollege Weiß? Frau Präsidentin, ich würde es sehr begrüßen, wenn sich die Antwort auf meine Frage beziehen würde. (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie sind gescheitert!) Herr Kollege Weiß, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP auf ihrem Bundesparteitag in Ro- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): stock in einem Antrag mit dem Titel „Rentenpolitik fair Herr Kollege Dr. Kolb, zunächst danke ich Ihnen sehr und generationengerecht gestalten“ sechs Punkte beraten herzlich für die Darlegung der Beschlüsse des Bundes- und fünf von ihnen beschlossen hat, parteitags der FDP. (B) (D) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Aber die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gerne! Ich Rente mit 67 haben Sie abgelehnt!) kann sie Ihnen auch schicken, wenn Sie daran zum Beispiel einen Schritt, Herr Kollege Brauksiepe, zu interessiert sind! – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ dem Sie sich nie werden durchringen können, nämlich CSU]: Sie waren aber falsch!) die Frühverrentung, die uns pro Jahr immerhin 7 Milliar- Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Bundesvor- den Euro kostet, unverzüglich zu beenden? Darüber hi- sitzende der FDP, der verehrte Herr Westerwelle, erst naus ging es um die Altersteilzeit, die 58er-Regelung kürzlich in einem Interview mit einem landesweit be- und weitere Maßnahmen wie die Entfernung des Kündi- kannten politischen Magazin geäußert hat gungsschutzes als eigenständiger Tatbestand im Kündi- gungsschutzgesetz. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war der „Focus“!) (Elke Ferner [SPD]: Ja, aber ohne Vertrauens- schutz! Das ist sehr berechenbar! Mein lieber – ich wollte im Parlament keine Schleichwerbung ma- Mann!) chen; deswegen habe ich mich neutral ausgedrückt –, dass sich die FDP gegen die Festlegung einer neuen Re- Das waren sehr mutige Beschlüsse. gelaltersgrenze bei 67 Jahren ausspreche. (Elke Ferner [SPD]: Nein! Das ist Kamikaze!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Das ist nicht bestätigt!) Was die Anhebung des regulären Renteneintrittsalters betrifft, haben wir uns noch nicht festgelegt. Im Übrigen würden wir uns sehr freuen, wenn die FDP im Rahmen der parlamentarischen Beratungen un- seres Gesetzentwurfs, die wir im Frühjahr des nächsten Vizepräsidentin Petra Pau: Jahres durchführen werden, Könnte es sein, dass eine Frage mit einem Fragezei- chen enden muss? Den Werbeblock zu Ihrem Parteitags- (Jörg Rohde [FDP]: Oh ja! Dafür werden be- antrag können wir vielleicht verschieben. stimmt schon richtig gute Vorschläge vorberei- tet!) (Heiterkeit) doch noch die Kurve kriegen und unserem Gesetzent- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): wurf in der zweiten und dritten Beratung zustimmen würde. Herr Kollege Weiß, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns im Hinblick auf die Anhebung des (Heiterkeit der Abg. Elke Ferner [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7021

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Wir sind sehr gespannt und freuen uns darauf. Angesichts der mit der Anhebung des Beitragssat- (C) zes auf 19,9 Prozent mittelfristig verbundenen Sta- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bilisierung des Beitragssatzes begrüßt der Sozial- der SPD) beirat diesen Schritt … Mit der dadurch möglichen Verehrte Kolleginnen und Kollegen, den Beitragssatz Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Rentenver- zur Rentenversicherung schreiben wir bei 19,9 Prozent sicherung kann nach Einschätzung des Sozialbei- fest. Das bedeutet, so die Voraussage des Schätzerkrei- rats einer anhaltenden Diskussion über die finan- ses, dass er bis zum Jahr 2012 konstant bleibt. Ausge- zielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung rechnet dabei wollen FDP und Grüne nicht mitmachen. in der Öffentlichkeit entgegengewirkt werden. Sie wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung für Genau so ist es. Deswegen, verehrte Kolleginnen und das kommende Jahr bei 19,7 Prozent festsetzen. Der Kollegen: Machen wir einen vernünftigen Schritt, sorgen Schätzerkreis sagt uns voraus, dass der Beitragssatz wir für einen stabilen Rentenversicherungsbeitrag! dann im Jahr 2008 auf 20,1 Prozent angehoben werden müsste; das hat der Staatssekretär schon vorgetragen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Kollege Weiß, nachdem mithilfe der FDP Ihre Rede- DIE GRÜNEN]: Aber nur, weil Sie mit der zeit mehr als verdoppelt wurde, Mehrwertsteuererhöhung die Konjunktur ab- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und würgen!) der SPD) Die Verstetigungsregelung hätte zur Folge, dass der Bei- bitte ich Sie, jetzt wirklich zum Schluss zu kommen. tragssatz bis zum Jahre 2010 bei 20,1 Prozent verbleiben würde. (Anton Schaaf [SPD]: Lasst ihn noch ein biss- chen, den Peter!) Jetzt muss jeder von uns – das kann auch jeder – eine ganz einfache Rechnung aufmachen und sich fragen: Welche Lösung ist für die deutsche Wirtschaft und für Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem Verehrte Frau Präsidentin, ich wollte, um bei Ihnen Strich günstiger? FDP und Grüne wollen den Beitrags- noch Gnade zu finden, gerade zu meinem Schlusssatz satz zur Rentenversicherung von 19,7 Prozent bis zum ansetzen. Jahre 2010 auf 20,1 Prozent erhöhen. CDU/CSU und (Klaus Brandner [SPD]: Lange Laufzeiten hat SPD wollen ihn im nächsten Jahr bei 19,9 Prozent fest- er! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schönen setzen und diese Beitragssatzhöhe bis zum Jahre 2012 Gruß an Tante Käthe, dann ist Schluss!) (B) beibehalten. Unter dem Strich ist die Lösung von Grü- (D) nen und FDP für die deutsche Wirtschaft und für die Ar- Vizepräsidentin Petra Pau: beitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich teurer als Einen Satz. der Vorschlag der großen Koalition. (Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Wir wollen den Beitragssatz zur Rentenversicherung Um es ganz einfach zu sagen: Durch die Anträge von so festsetzen, dass er möglichst viele Jahre stabil bleibt. FDP und Grünen würden die Wirtschaft und die Arbeit- Unter dem Strich bringt das den Arbeitnehmern und der nehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich belastet. Die Wirtschaft eher Entlastung als Belastung. Gleichzeitig große Koalition hingegen entlastet die Wirtschaft und senken wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. den seit 20 Jahren niedrigsten Stand. Das ist die gute (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Botschaft für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch hof- und die Wirtschaft in unserem Land. fentlich selbst nicht!) Vielen Dank. Diese Wahrheit muss deutlich ausgesprochen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Lieber den Spatz in der Hand Vizepräsidentin Petra Pau: als die Taube auf dem Dach!) Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Volker Schneider das Wort. FDP und Grüne wollen einen rentenpolitischen Zick- zackkurs. Die große Koalition sorgt für Verlässlichkeit. (Beifall bei der LINKEN) Das ist ein Faktum. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Das ist nicht nur die Sichtweise eines Abgeordneten gen! 0,2 Prozentpunkte oder 0,4 Prozentpunkte rauf bei der Koalition, sondern das hat auch der Sozialbeirat aus- der Rentenversicherung, 0 Prozentpunkte oder 0,3 Pro- drücklich festgestellt; auch darauf hat der Herr Staatsse- zentpunkte runter bei der Arbeitslosenversicherung, das kretär bereits hingewiesen. Ich zitiere den Sozialbeirat waren die zentralen Diskussions- und Streitpunkte in un- noch einmal: serer heutigen Diskussion. 7022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) (Anton Schaaf [SPD]: 2 Prozentpunkte oder (Anton Schaaf [SPD]: Da hat er Recht!) (C) 2,3 Prozentpunkte!) Derzeit wird insbesondere in den Reihen der CDU/ – Das war schon etwas vorher, lieber Kollege Schaaf. – CSU – wir haben es eben aber auch von Staatssekretär Das waren die bisherigen Beratungen in Plenum, Aus- Thönnes gehört – fast schon penetrant betont, dass der schuss und Anhörungen: Null-Komma-Beträge, und Sozialbeirat die mittelfristigen ökonomischen Grundan- doch hatte man teilweise den Eindruck, es würden die nahmen ausdrücklich als realistisch lobt. Dazu eine An- für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland merkung: Ich wünsche Ihnen wirklich, dass Ihre Annah- entscheidenden Debatten ausgetragen. men dieses Mal mehr der Realität entsprechen, als wir das von der Vergangenheit gewohnt sind. Ich wünsche Die Annahme, dass eine Senkung der Lohnneben- mir das insbesondere deshalb, weil wir wieder mehr Ver- kosten in dem hier diskutierten Umfang wesentliche lässlichkeit in der Rentenversicherung brauchen. Mit Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der deut- dem Vertrauen der Menschen in die Zukunft der Rente schen Wirtschaft und damit auf die Beschäftigungssitua- ist die Politik viel zu lange viel zu fahrlässig umgegan- tion hat, gehört – schöne Grüße an Herrn Rüttgers! – in gen. den Zyklus der Lebenslügen. Arbeitnehmer, die sich Ge- danken um ihre Rente machen oder die sich vor Arbeits- (Beifall bei der LINKEN) losigkeit fürchten, hätte bei unseren Diskussionen wahr- Nicht alle teilen Ihre Zuversicht so, wie der Sozialbei- scheinlich das Gefühl beschlichen, im falschen Film zu rat das tut. Das Deutsche Institut für Altersvorsorge sitzen. Die Bereitschaft, in eine Versicherung einzuzah- nennt den Bericht realitätsfern und kritisiert insbeson- len – das gilt auch für die Sozialversicherung –, und die dere die Annahmen zur künftigen Lohnentwicklung. Frage, wie viel man zu zahlen bereit ist, sind doch auch davon abhängig, was man im Schadensfall von dieser (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Versicherung erwarten darf. Fragen Sie sich doch ein- NEN]: Das Deutsche Institut für Altersvor- mal, mit wie viel Zustimmung man unter den pflichtver- sorge ist die Deutsche Bank! Wussten Sie sicherten Kunden der Renten- oder Arbeitslosenversi- das?) cherung rechnen darf! Oder umgekehrt: Meinen Sie Bei unterstellten Lohnsteigerungen von im Mittel nicht, es ist einem Arbeitnehmer relativ egal, ob er nun 2,5 Prozent muss man wirklich keine Kassandra sein, 19,5 oder 19,7 oder 19,9 Prozent an die Rentenversiche- um eine gewisse Skepsis an den Tag legen zu können. rung zahlt, wenn er dafür das Gefühl hat, seinen Lebens- abend unter halbwegs gesicherten Bedingungen gestal- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings!) ten zu können? Wie dem auch sei, in die Verlegenheit, Ihnen halbher- (B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja ein zig zustimmen zu müssen, haben Sie uns gar nicht erst (D) Freibrief für weitere Beitragserhöhungen, den gebracht, weil Sie die Arbeitslosenversicherung nun Sie da ausstellen!) wirklich bis an die Grenze fahren. Dabei behaupten Sie auch noch: Die Beitragssatzsenkung führt zu keinen Ein- – Erwarten Sie von der Linken etwas anderes? schränkungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei aktive Arbeitsmarktförderung wird auf hohem Niveau Abgeordneten der CDU/CSU) stabilisiert. Dies wird auch in den Folgejahren der Fall ein. – Herr Staatssekretär, das haben einige Sachverstän- Wir haben im Ausschuss signalisiert, dass wir uns mit dige in der Anhörung durchaus anders gesehen. einer Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags auf (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: 19,9 Prozent hätten einverstanden erklären können. Einer!) Doch missverstehen Sie das nicht als grundsätzliche Zu- stimmung zu Ihrer Rentenpolitik! Denn es ist uns nicht Wir haben das Gefühl, dass sich einige der Arbeitslo- entgangen – Frau Schewe-Gerigk, passen Sie jetzt auf; sen angesichts ihrer realen Situation schlicht verhöhnt das ist, glaube ich, auch Ihr Anliegen –, vorkommen, weil sie nicht verstehen können, dass auf der einen Seite Überschüsse erzielt und deshalb die Bei- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ träge gesenkt werden, während ihnen auf der anderen DIE GRÜNEN]: Die Linke ist immer etwas Seite oft nicht adäquat geholfen wird. regierungsgläubig!) Überschüsse müssen denen zurückgegeben werden, dass die Anhebung des Beitragssatzes entbehrlich gewe- die Beiträge gezahlt haben. Zusätzliche arbeitsmarkt- sen wäre, hätte die Bundesregierung nicht die Beitrags- politische Leistungen und die längere Zahlung des Ar- zahlung für Empfänger von Arbeitslosengeld II halbiert. beitslosengeldes I auch, ohne dass dabei Ältere gegen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Jüngere ausgespielt werden, hätten den Betroffenen neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE mehr geholfen als eine Senkung der Beiträge, die denen, GRÜNEN) die zwischenzeitlich arbeitslos geworden sind, definitiv nicht hilft. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zu- Wir wünschen uns im Interesse der Beitragszahler wie- stimmen. der mehr Kontinuität in der Rentenversicherung. Dann Ich danke Ihnen. macht es keinen Sinn, den Beitrag so auf Kante zu nä- hen, wie sich das die Grünen und die FDP wünschen. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7023

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: plante Beitragssatzsteigerung bei der Rentenversiche- (C) Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk. rung verzichten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr!) Das hat uns auch der Präsident der Deutschen Renten- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE versicherung Bund bestätigt. GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und bei der FDP) Die fünf Wirtschaftsweisen bringen den widersprüchli- chen Reformkurs der Bundesregierung zutreffend auf Die rentenversicherten Arbeitnehmer würden dadurch den Punkt – ich zitiere –: entlastet. Trotz der guten konjunkturellen Entwicklung blie- Angesichts der, wie wir heute gehört haben, knapp ben die Anstrengungen in den wichtigen Politikfel- 4 Millionen Arbeitslosen und dem weiterhin hohen An- dern im Dickicht widerstreitender Interessen ste- teil von Langzeitarbeitslosen bei bislang fehlender För- cken. derung der Beschäftigung ist die weitere Senkung der Arbeitslosenbeiträge ein Signal zum falschen Zeitpunkt. Diese Bilanz des Sachverständigenrats bezüglich der Politik der großen Koalition im ersten Regierungsjahr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gilt auch für das Vorhaben der Bundesregierung, das Frau Kollegin Pothmer, die Bundesagentur für Arbeit heute zur Abstimmung steht. ist nicht zum Sparen da, sondern sie soll qualifizieren Der Sachverständige Professor Horn – er wurde von und vermitteln. der Koalition als Sachverständiger benannt und schon (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vielfach zitiert – NEN]: Genau!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Guter Mann!) Über die progressive Beitragssenkung wollen wir die ar- hat Ihnen die konjunkturdämpfende Wirkung der Erhö- beitsmarktpolitisch effektivere Steuerung und Gestal- hung der Mehrwertsteuer bescheinigt. tung der Lohnnebenkosten erreichen. Die Koalitions- fraktionen bleiben mit ihrem Antrag weit dahinter (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben wir zurück. schwarz auf weiß!) Wir wollen die ungenutzten Überschüsse für eine ar- (B) Hinzu kommt die Erhöhung der Renten- und der Kran- beitsmarktpolitische Prioritätensetzung der BA verwen- (D) kenkassenbeiträge. Laut Professor Horn droht eine Sen- den. kung des Wachstums bis unterhalb der Schwelle, ab der eine positive Beschäftigungswirkung erzielt wird. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – halten aber eisern an der Umsetzung der Koalitionsver- Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die einbarung fest. Offenbar brauchen Sie die wortgetreue gehören doch den Beitragszahlern!) Umsetzung des Koalitionsvertrages, weil die Koalition Für uns steht ein Sonderprogramm für Ausbildung Ihnen sonst vielleicht auseinander bricht. an erster Stelle, das wir auch weiterhin – also auch nach (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: dem absehbaren Beschluss der Senkung des Beitrages Nein, sondern weil es vernünftig ist!) auf 4,2 Prozent – fordern. Die hierfür erforderlichen 650 Millionen Euro sind gut angelegt; denn sonst sind Aktuelle Entwicklungen und neu entstandene Spiel- die Ausbildungsverlierer von heute die fehlenden Fach- räume interessieren Sie dabei einfach nicht. Dazu zählen kräfte von morgen. im Bereich der Rentenversicherung höhere Einnahmen in Höhe von 700 Millionen Euro und Einsparungen des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundes beim zweckgebundenen Bundeszuschuss für Auch darüber haben wir heute Morgen in der Debatte Kindererziehungszeiten in Höhe von 300 Millionen bereits gesprochen. Euro. Auf der Belastungsseite der Rentenversicherung steht die gesunkene Zahl der Bezieher von Arbeitslosen- Aber auch die bessere Qualifizierung bisher ver- geld I, die zu Beziehern von Arbeitslosengeld II werden. nachlässigter Gruppen bzw. die gezielte Förderung der Dann wird nämlich nur noch die Hälfte der Versiche- Beschäftigungsfähigkeit von älteren Arbeitslosen gehö- rungsbeiträge entrichtet, was auch wieder 2 Milliarden ren auf die Agenda der Bundesagentur für Arbeit. Euro ausmacht. Meine Ausführungen sollen verdeutlichen, dass wir Durch die unerwarteten Steuermehreinnahmen wird Grüne die Weichen anders stellen. Wir lehnen die Erhö- Ihnen der Spielraum gegeben, die Einsparung bei den hung der Rentenversicherungsbeiträge und die weitere Rentenbeiträgen für Langzeitarbeitslose auszusetzen. Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ab und werden Ihrem Gesetzentwurf daher nicht zustim- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) men. Mit den dadurch gewonnenen zusätzlichen 2,1 Milliar- (Anton Schaaf [SPD]: Was sollen wir da den Euro könnten Sie im kommenden Jahr auf die ge- machen?) 7024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Vielen Dank. Was die Verwendung der Überschüsse der Bundes- (C) agentur für Qualifizierungs- und Förderangebote an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geht, darf ich Sie daran erinnern, dass Herr Weise – im- merhin Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Vizepräsidentin Petra Pau: Arbeit – im Ausschuss ausgeführt hat, dass der Einglie- Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Gregor Amann derungstitel im nächsten Jahr mit 3,3 Milliarden Euro in das Wort. der gleichen Höhe im Haushalt eingestellt ist wie in die- sem Jahr, und zwar bei niedrigeren Arbeitslosenzahlen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das bedeutet pro Kopf also mehr.

Gregor Amann (SPD): Alle Anforderungen der lokalen Agenturen wurden Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- befriedigt. Wie uns mitgeteilt wurde, wurde keine ein- gen! Um die Anhebung des Rentenversicherungsbeitra- zige abgelehnt. 218 Millionen Euro der Gesamtsumme ges auf 19,9 Prozent zum 1. Januar 2007 zu begründen, werden gezielt für die Förderung von Jugendlichen ein- reichen eigentlich zwei Wörter aus – meiner Ansicht gesetzt, unter anderem zur Finanzierung von 12 500 Be- nach hat das auch keiner der Oppositionsredner wider- rufsausbildungen in außerbetrieblichen Einrichtungen. legt –: Berechenbarkeit und Verlässlichkeit, und zwar Wir Sozialdemokraten begrüßen das und halten weiter- sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber. gehende Forderungen, wie sie in Ihrem Antrag gestellt werden, nicht für sinnvoll. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darauf kann man Unser Ziel kann es nicht sein, den Markt mit außerbe- sich verlassen, dass ihr mit den Beiträgen nach trieblichen Ausbildungsplätzen zu überschwemmen und oben marschiert!) die Wirtschaft damit aus ihrer Verantwortung zur Schaf- fung betrieblicher Arbeitsplätze zu entlassen. Wenn wir jetzt den Beitragssatz auf 19,9 Prozent anhe- ben, dann bleibt er für mehrere Jahre stabil und wir müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen die 20-Prozent-Grenze nicht überschreiten. der CDU/CSU) Herr Dr. Kolb hat vorhin wieder einmal behauptet, die Zum Antrag der FDP: Sie wollen den Beitragszahlern SPD sei bei den Beitragssätzen in der Rentenversiche- in Form von weitergehenden Beitragssenkungen ihr rung nicht glaubwürdig. Geld zurückgeben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ihr euch (B) Leidvolle Erfahrung!) vorher schamlos geholt habt!) (D) Wenn man die Beiträge in der Rentenversicherung über Das klingt zunächst einmal vernünftig, Jahrzehnte hinweg betrachtet, dann wird deutlich, dass gerade in der Zeit Ihrer Mitregierung die Rentenversi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch ver- cherungsbeiträge den größten Sprung gemacht haben. nünftig!) (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb aber Sie verschweigen dabei, dass die Bundesagentur für [FDP]: Ihr habt die Ökosteuer eingeführt! Ihr Arbeit seit 1988 Zuschüsse in zweistelliger Milliarden- habt die GAGFAH verkauft! Ihr habt die Bei- höhe aus dem Bundeshaushalt bekommen hat. tragsbemessungsgrenze eingeführt!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Kolb, haben Sie Insofern frage ich mich, wer glaubwürdiger ist: die SPD das vergessen? Die Erinnerung lässt nach! – oder Herr Dr. Kolb? Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein!) (Anton Schaaf [SPD]: Das wissen wir!) Wenn Sie die kumulierten Überschüsse mit dem Es ist durchaus legitim, zu fordern, den Beitrag kurz- Überschuss der Bundesagentur in diesem Jahr und in den fristig nicht über 19,7 Prozent anzuheben. Aber das führt nächsten Jahren verrechnen, dann bleibt für längere Zeit bei den Beiträgen zu einer Achterbahnfahrt oder zu stei- nichts mehr für eine Beitragssenkung übrig, nicht einmal genden Zuschüssen in die Rentenkasse aus Steuermitteln für die, die wir heute Abend beschließen wollen. im Jahr 2008. Das wollen wir mit unserem Gesetzent- wurf verhindern. Wir werden nachher über die Alternati- (Anton Schaaf [SPD]: So ist es!) ven Zickzackkurs oder Verlässlichkeit abstimmen. Was den zweiten Teil Ihres Antrags hinsichtlich der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) effizienteren Strukturen in der Arbeitsverwaltung an- Ich komme nun zu den beiden Anträgen der Opposi- geht, handelt es sich, glaube ich, um die übliche Niebel- tion. Zunächst zu den Grünen: Auf Ihr Progressivmodell Klausel in FDP-Anträgen zur Bundesagentur. will ich angesichts der Kürze meiner Redezeit jetzt nicht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eingehen. Wir werden über diesen Themenkomplex noch diskutieren. Wie Sie wissen, gibt es eine Arbeits- Sie wollen offensichtlich nicht wahrnehmen, dass die gruppe der Bundesregierung zum Thema Niedriglohn- Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit bereits in sektor. Gang ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7025

Gregor Amann (A) Wir werden Ihren Antrag aus diesem Grund ablehnen. gegeben, dass Beitragssatzsenkungen dann am meisten (C) Sinn machen, wenn sie nachhaltig sind. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Vizepräsidentin Petra Pau: Sehr richtig!) Das Wort hat der Kollege Stefan Müller für die CDU/ Genau das machen wir jetzt. Wenn sich die gute Arbeits- CSU-Fraktion. marktentwicklung fortsetzt, wird man sehen, ob weitere Spielräume für Beitragssatzsenkungen entstehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Dr. Kolb, lassen Sie mich ein Stück weit meiner Aber jetzt keine Gehässigkeiten! Sonst ver- Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, auf welchen doppele ich meine Redezeit! – Anton Schaaf Rat Sie seit neuestem hören. Sie bemühen seit der Anhö- [SPD]: Doch, ein paar noch!) rung Herrn Professor Horn, der – zugegeben – gesagt hat, dass die Mehrwertsteuererhöhung einen stark Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): dämpfenden Effekt haben werde. Ich finde, es ist bemer- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kenswert, dass Sie ausgerechnet diesen Mann zum Kron- Sie werden gestatten, dass ich zum Rentenversiche- zeugen Ihrer Politik machen. Herr Dr. Kolb, es interes- rungsbeitrag nichts mehr sage. Ich habe den Eindruck, siert mich, ob Sie dem Herrn Professor Horn auch an dass ich gegen 21.40 Uhr FDP, Grüne und Linke nicht anderer Stelle folgen. In der Anhörung hat er behauptet mehr davon überzeugen kann, dass unser Gesetzentwurf – Sie waren dabei –: vernünftig ist. Insofern gebe ich die Hoffnung auf. Deutschland ist heute sehr wettbewerbsfähig, wir Kollege Dr. Kolb, schade und außerordentlich bedau- haben die niedrigsten Arbeitskostensteigerungen erlich ist allerdings, dass die FDP der Senkung des Bei- innerhalb des Euroraumes seit längerer Zeit. tragssatzes in der Arbeitslosenversicherung nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zustimmt. Schließlich sind wir Ihrem Ansinnen nachge- kommen, freie Spielräume bei der Bundesagentur für Er sagt weiter: Arbeit zu nutzen. Demnach hätte die Lohnsteigerung um 1 bis 2 Pro- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben euch zentpunkte höher ausfallen können, ohne dass es zu getrieben!) einer nachhaltigen Verschlechterung der Wettbe- werbsfähigkeit gekommen wäre. Das will ich einmal so festhalten, Herr Kollege Dr. Kolb. (B) Sie haben schon einmal einen Antrag eingebracht; da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D) rüber haben wir bereits diskutiert. Natürlich haben Sie der SPD) gewusst, dass wir uns auf diesem Weg bewegen. Eine verrückte Welt, kann ich dazu nur sagen. Herr Kol- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auch große Ele- lege Dr. Kolb, vielleicht erläutern Sie uns das einmal. fanten werden mit kleinen Stöckchen vorwärts Oder kann es vielleicht nicht doch sein, dass Sie nur das bewegt!) herausgesucht haben, was Sie gebrauchen konnten? Wenn ja – das soll ja gelegentlich vorkommen –, dann Daher konnten Sie den jetzigen Antrag ungehindert ein- geben Sie es zu. bringen. Er ist von der Grundintention her sicherlich ver- nünftig. Wir werden das so machen. Umso bedauerlicher Tatsache ist jedenfalls, dass der gute Sachverständige ist, dass Sie sich einer weiteren Beitragssatzsenkung ver- Horn mit seiner Meinung zur Mehrwertsteuererhöhung schließen. ziemlich alleine dasteht. Ich möchte zitieren – das ist heute über die Agenturen gelaufen –: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Anton Schaaf [SPD]: Verweigern!) „Wir denken, dass die Dynamik nach Bremsspuren zu Beginn des nächsten Jahres doch trägt und der – Richtig, sogar verweigern. Aufschwung weitergeht“, erklärte vor kurzem Ifo- Konjunkturexperte Klaus Abberger. Es ist klar, dass das Geld bei der Bundesagentur für Arbeit nicht für irgendwelche Zwangsbeglückungsmaß- Ein weiteres Zitat: nahmen ausgegeben, sondern denjenigen zurückgegeben „Den robusten Konjunkturaufschwung wird auch wird, die es erwirtschaftet haben: den Beitragszahlern in die Mehrwertsteuererhöhung im kommenden Jahr unserem Land, den Arbeitgebern und den Arbeitneh- nicht aufhalten können“, meint auch Postbank- mern. Chefvolkswirt Bargel. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Amen!) neten der SPD) Diese Zitate ließen sich beliebig fortsetzen. Lassen wir Das heißt, der Beitragssatz in der Arbeitslosenversiche- uns einfach überraschen, wie es im nächsten Jahr aus- rung sinkt nicht um 2 Prozentpunkte, sondern um sieht. 2,3 Prozentpunkte auf 4,2 Prozent. Dieser Beitrag kann in den nächsten Jahren gehalten werden. Die Arbeitge- Abschließend möchte ich noch auf eines hinweisen, bervertreter haben uns in der Anhörung mit auf den Weg weil Sie gesagt haben, wir deuteten etwas um. 7026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: gen. Die Beschlussempfehlung ist damit gegen die Stim- (C) Kollege Müller, da der Kollege Kolb nicht so lieb men der Antragsteller angenommen. war, auch Ihnen die Redezeit zu verlängern, müssen Sie Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: jetzt bitte Ihren Schlusssatz sprechen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil, Mechthild Dy- Ich will nur auf eines hinweisen: Es lässt sich im „In- ckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion formationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft“ der FDP nachlesen, dass die Sozialversicherungsbeiträge endlich Fortentwicklung der Internationalen Rech- unter 40 Prozent liegen werden. Ich stelle Ihnen die Un- nungslegungsstandards im Rahmen der Präsi- terlage gern zur Verfügung. Erstmals seit 1995 wird die dentschaft Deutschlands in EU und G8 thema- Summe der paritätisch finanzierten Sozialversicherungs- tisieren beiträge im kommenden Jahr vermutlich die 40-Prozent- Marke unterschreiten. Ich finde – auf besonderen – Drucksache 16/3341 – Wunsch von Frau Pothmer sollte ich das festhalten –, das Überweisungsvorschlag: ist ein guter Tag für Deutschland. Rechtsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Herzlichen Dank. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre dazu keinen tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. eines Gesetzes über die Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beiträge und Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Hartfrid Beitragszuschüsse in der Alterssicherung der Landwirte Wolff hat für die FDP-Fraktion das Wort. für das Jahr 2007, Drucksache 16/3268. Der Ausschuss (Beifall bei der FDP) für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksa-che 16/3637, den Gesetz- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): (B) entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte (D) diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Interna- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- tionale Bilanzierungsstandards werden für die Wirt- stimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf schaft in Deutschland immer wichtiger. Kapitalmarktori- ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der entierte Unternehmen müssen die IFRS anwenden. Für Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Frak- Konzernabschlüsse anderer Unternehmen und für Ein- tion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. zelabschlüsse aller Kapitalgesellschaften besteht ein Wahlrecht zur Anwendung der internationalen Rech- Dritte Beratung nungslegungsvorschriften. Gleichzeitig muss weiterhin ein Abschluss nach dem deutschen HGB, auch aufgrund und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem des Maßgeblichkeitsgrundsatzes für steuerliche Zwecke, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – erstellt werden. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Der Großteil deutscher Unternehmen besteht aus mit- telständischen, nicht kapitalmarktorientierten Unterneh- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15 b. Unter men. 8 Prozent davon bilanzieren nach IFRS, andere Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- planen, dazu überzugehen. Der Druck auf die mittelstän- schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP dische Wirtschaft, nicht nur nach HGB zu bilanzieren, auf Drucksache 16/3091 mit dem Titel „Überschüsse der wächst. Für die Kreditgewährung und auch beim Rating Bundesagentur für Arbeit für weitere Beitragssenkungen hat ein IFRS-Abschluss immer größere Bedeutung. Des- verwenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- halb ist es dringend geboten, dass eigene Standards für lung? – Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist kleine und mittlere Unternehmen schneller verwirklicht die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der An- werden. tragsteller angenommen. (Beifall bei der FDP) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3637 die Die internationalen Bilanzierungsstandards sind in Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/ der derzeitigen Form für die meisten mittelständischen Die Grünen auf Drucksache 16/2509 mit dem Titel Unternehmen nicht geeignet. Ihnen liegt als Grundge- „Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für Ausbil- danke unter anderem die Kapitalmarktorientierung der dung, Qualifizierung und Progressiv-Modell verwen- Gesellschaften zugrunde. Die Bundesregierung hat auf den“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die mehrere Anfragen der FDP-Fraktion mitgeteilt, dass sie Gegenprobe! – Enthaltungen? – Es gibt keine Enthaltun- unsere Sorge bezüglich der Kompatibilität der interna- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7027

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) tionalen Rechnungslegungsstandards mit der stark mit- scher Unternehmen und von Kreditinstituten zu berück- (C) telstandsorientierten deutschen Wirtschaftsstruktur und sichtigen. Andererseits muss auch eine individuelle den Besonderheiten des deutschen Gesellschaftsrechts Entscheidungshoheit im Rahmen der Bilanzierungsvor- teilt. Hier ist vor allem die Kommanditgesellschaft mit gaben bestehen bleiben, zum Beispiel beim Maßstab der ihrem jederzeit kündbaren Gesellschaftskapital zu er- Werterhaltung. wähnen. Aufgrund der dargestellten wachsenden Relevanz in- Vielfach steht gerade für kleine und mittelständische ternationaler Rechnungslegungsstandards ist es von her- Unternehmen, aber auch für große Familienunternehmen ausragender Bedeutung, die deutschen Interessen und in Deutschland die über Generationen gehende Werter- insbesondere die Interessen des Mittelstandes in den haltung im Vordergrund, welche ihren Niederschlag Entwicklungen der internationalen Bilanzierungsstan- auch in der Rechtsform findet. Deshalb sind den Ent- dards zu stärkerer Bedeutung zu verhelfen. Die Präsi- scheidern sowohl im IASB als auch in der EU-Kommis- dentschaft Deutschlands in der EU und der G 8 bietet die sion die besonderen deutschen Interessen des Mittel- ideale Grundlage, diese Interessen verstärkt nach außen stands zu verdeutlichen und deshalb sind eigene Formen zu tragen und durchzusetzen. der Bilanzierungsstandards für den Mittelstand Vielen Dank. schnellstmöglich zu entwickeln. (Beifall bei der FDP) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Deutsche Unternehmen müssen vielfach nicht nur die Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von IFRS anwenden. Zum Beispiel bei einer Börsennotie- der CDU/CSU-Fraktion. rung in den USA besteht auch für deutsche Unternehmen eine zusätzliche Bilanzierungspflicht nach den amerika- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nischen Standards. Am 27. Februar dieses Jahres hat man sich auf einen Konvergenzfahrplan zwischen IFRS Antje Tillmann (CDU/CSU): und den amerikanischen Bilanzierungsstandards bis Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- 2008 geeinigt. Der Ausgang ist noch offen. gen! Zu einem attraktiven Finanzplatz gehört ein moder- nes und transparentes Bilanzrecht. Dass wir alle daran Die Annäherung der Bilanzierungsstandards ist interessiert sind, haben die konstruktiven Beratungen grundsätzlich zu befürworten. Es ist wichtig, gegenüber zum Bilanzrechtsreformgesetz in der vergangenen Le- dem Verhandlungspartner Vereinigte Staaten eine starke, gislaturperiode gezeigt. Hierbei spielt aufgrund eines einheitliche und europäische Position zu vertreten. (B) globalisierten Marktes auch eine Rolle, dass die Bilan- (D) (Beifall bei der FDP) zierungsregelungen möglichst international akzeptiert werden. Gerade die Einheitlichkeit der europäischen Position ist hier bedeutsam. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die Präsidentschaft Deutschlands in der EU und der G 8 bietet die ideale Grundlage, die Interessen der deut- Für kapitalmarktorientierte Unternehmen sind wir mit schen Wirtschaft verstärkt nach außen zu tragen und de- den International Financial Reporting Standards, IFRS, ren bessere Berücksichtigung zu fördern. Es ist traurig, auf einem guten Weg. Für kleine und mittlere Unterneh- Herr Staatssekretär, dass dieses Thema in den Planungen men können diese Standards noch nicht die Lösung sein. zur EU-Ratspräsidentschaft bisher mit keinem Wort er- Eine Anpassung an die Belange von kleinen und mittle- wähnt ist. Vor diesem Hintergrund fordert die FDP die ren Unternehmen ist für die Bilanzierung deutscher Un- Bundesregierung auf, sich erstens auf europäischer ternehmen wichtig. Ebene für eine stärkere Berücksichtigung der Interessen (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!) deutscher Unternehmen, insbesondere des Mittelstandes, bei der Fortentwicklung der IFRS einzusetzen, zweitens Dies haben sowohl die Bundesregierung als auch die darauf hinzuwirken, dass die Anwendung der IFRS für Koalitionsfraktionen in der Vergangenheit deutlich ge- nicht kapitalmarktorientierte, mittelständische Unterneh- macht. men weiterhin auf freiwilliger und nicht auf verpflich- Schon im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD tender Basis erfolgt, und, dass Deutschland drittens in haben wir uns für eine Fortentwicklung bestehender Re- der EU und der G 8 auf eine langfristige und sichere Fi- gelungen ausgesprochen. Wörtlich heißt es dort: nanzierung des IASB hinwirkt und die Konvergenz mit den Amerikanern vorantreibt. Die Arbeiten auf EU-Ebene zur Schaffung einer einheitlichen konsolidierten Bemessungsgrundlage (Beifall bei der FDP) werden wir aktiv mitgestalten, um ein modernes Rechnungslegungsvorschriften haben für die Außen- und wettbewerbsfähiges Bilanzsteuerrecht zu ent- darstellung von Unternehmen eine besondere Bedeutung wickeln. und sie beeinflussen auch die Unternehmenskultur; das Weiter heißt es: darf man nie vergessen. Dabei sind natürlich die Interes- sen von Anlegern und in- und ausländischen Investoren Die Modernisierung des Bilanzrechts und die wech- sowie von Wettbewerbern und Geschäftspartnern deut- selseitige Anerkennung deutscher, europäischer 7028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Antje Tillmann (A) und amerikanischer Rechnungslegungsvorschriften auf Drucksache 16/704 macht die Haltung der Bundesre- (C) sind vordringliche Maßnahmen zur Stärkung des gierung hinsichtlich der Einwirkung auf den IASB deut- Finanzplatzes Deutschland. lich. Darin heißt es: Darüber hinaus haben wir in den zurückliegenden Der IASB ist eine weltweit tätige private Organisa- Monaten intensive Gespräche mit betroffenen Unterneh- tion von Rechnungslegern. Er arbeitet im Bereich men, Banken, Wirtschaftsprüfern und anderen Sachver- der Rechnungslegung eng mit den nationalen Stan- ständigen geführt. Die Klausurtagung der Arbeitsgruppe dardsettern zusammen. der CDU/CSU-Fraktion im Januar 2007 wird dieses Thema zum Gegenstand haben. Auf Initiative gerade des Deutschen Rechungsle- gungs Standards Committee arbeitet der IASB derzeit an (Uwe Barth [FDP]: Viel Erfolg!) einer Änderung des International Accounting Standard 32. Das ist genau der, zu dem Sie eben richti- Dankenwerterweise haben Sie, liebe Kollegen der gerweise dargestellt haben, dass er durch die Umqualifi- FDP, zur Diskussion beigetragen, indem Sie allein in zierung von Eigen- in Fremdkapital bei Personengesell- diesem Jahr drei Kleine Anfragen zu diesem Thema ge- schaften den kleinen und mittleren Unternehmen Sorge stellt haben. bereitet. (Beifall des Abg. Uwe Barth [FDP] – Hartfrid Ob der IAS 32 nach einer Änderung für deutsche mit- Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Also hat es doch telständische Unternehmen geeignet ist, lässt sich erst Erfolg!) beurteilen, wenn die geänderte Fassung vorliegt. Wenn Mit Ihren Fragen haben Sie sehr deutlich auf die Pro- der Entwurf vorliegt, dann sind die deutschen Unterneh- bleme bei der Umsetzung internationaler Bilanzierungs- men aufgefordert, dazu intensiv Stellung zu nehmen, standards für den deutschen Mittelstand hingewiesen. was – das nur als Nebenbemerkung – bei der ursprüngli- Die Antworten der Bundesregierung waren sehr detail- chen Verabschiedung des IFRS nicht nur von der Bun- liert und gaben gute Hinweise auf den derzeitigen Stand desregierung, sondern offensichtlich auch von den Un- des Verfahrens. ternehmen selbst vergessen wurde. Rechtsverbindlich für europäische Unternehmen werden die vom IASB er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lassenen IFRS erst durch die Anerkennung seitens der neten der SPD) EU. Vor dem Hintergrund der Anfragen und der Antwor- Sie haben die Bundesregierung gefragt, ob sie auf eu- ten ist mir heute etwas unverständlich, warum Sie diesen ropäischer Ebene Einfluss nimmt. Die Bundesregierung (B) Antrag vorlegen; denn Ihre Forderungen in den Anfra- hat Ihnen bereits mitgeteilt, dass sie selbstverständlich in (D) gen sind jeweils weitestgehend erfüllt worden. den betreffenden EU-Gremien vertreten ist und dort sehr (Zuruf von der FDP: Das sind keine Forderun- wohl die Interessen deutscher Unternehmen wahr- gen!) nimmt. Auch halte ich die Aussage in Ihrem Antrag, durch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, über das wir im neten der SPD – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] kommenden Jahr diskutieren werden, solle die Rech- [FDP]: Das ist auch ihre Pflicht!) nungslegung nach HGB an die internationalen Stan- – Das ist ihre Pflicht, auch ohne dass sie von der FDP dards, IFRS, angenähert werden, für durchaus diskus- dazu aufgefordert wird. Ich will Ihnen ja nachweisen, sionsbedürftig. Zuvor ist von uns erst einmal die Frage dass das Pferd nicht mehr zum Reiten getragen werden zu klären, ob wir uns von der Einheitsbilanz, also der muss, sondern schon auf der Bahn ist. einen Bilanz für die Besteuerung und den Gläubiger- schutz, ohne weiteres verabschieden wollen. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die Aus- wirkungen waren aber noch nicht zu erken- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Interes- nen!) santer Ansatz!) Zwei Bilanzen bedeuten zweimal Bürokratiekosten. Darüber hinaus sehen wir keine Notwendigkeit für eine gesonderte Initiative der deutschen Präsidentschaft. Auch die Bundesregierung hat sich dazu wesentlich Es ist ausgesprochen wichtig – Sie haben sehr deutlich vorsichtiger geäußert. Sie will das Bilanzrecht zwar mo- darauf hingewiesen –, europäisch einheitlich vorzuge- dernisieren und nicht mehr zeitgerechte Wahlrechte ab- hen, um die deutschen Interessen durchzusetzen. Ein schaffen; eine Annäherung an internationale Bilanzie- Sonderweg kann da eher schaden als nützen. Deshalb rungsmaßstäbe muss ihres Erachtens jeweils im glauben wir, dass der Weg der Regierung richtig ist, die Einzelfall geprüft werden. Interessen Deutschlands im europäischen Kontext zu vertreten. Sie stellen Forderungen an die Bundesregierung auf. Unter den Nrn. 1 und 2 fordern Sie die Bundesregierung In Nr. 3 Ihres Antrags fordern Sie die Regierung auf, auf, sich sowohl beim International Accounting Stan- sich dafür einzusetzen, dass die Anwendung der Inter- dards Board als auch bei der EU-Kommission für die In- nationalen Bilanzierungsstandards bei mittelständi- teressen des deutschen Mittelstandes einzusetzen. Die schen Unternehmen auch weiterhin auf freiwilliger Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage Basis erfolgt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7029

Antje Tillmann (A) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist Sie ja sonst von Subventionsabbau und staatlichem (C) auch richtig so!) Finanzabbau sprechen. Ich frage Sie: Wieso können Sie diese Frage beantwor- Wir haben ausreichend Diskussionsstoff für die De- ten, bevor Sie überhaupt wissen, wie die internationalen batten zum angekündigten Bilanzrechtsmodernisie- Bilanzierungsstandards für mittelständische Unterneh- rungsgesetz. Ich glaube, dass die Antworten auf die An- men aussehen? fragen seitens der Regierung eine gute Grundlage sind. (Uwe Barth [FDP]: Das sollen Sie ja beant- Wir werden die aufgeworfenen Fragen im nächsten Jahr worten!) diskutieren. Ich freue mich darauf. Ich würde mich freuen, wenn all das, was Ihnen geantwortet wurde, bei – Die Frage muss nicht von uns beantwortet werden. Wir Ihnen auch ankäme. müssen den Entwurf der Standards sehen und können dann entscheiden, ob diese Standards im mittelständi- Diese Regierung braucht nicht zum Jagen getragen zu schen Bereich freiwillig anzuwenden sind oder ob sie so werden. Sie ist Motor dieser Initiative. Wir werden sie passend für unsere Unternehmen sind, dass wir sie sogar dabei unterstützen. verpflichtend machen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist eine Forderung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Wirtschaftsminister der Länder!) Den Beitrag der Kollegin Dr. Barbara Höll nehmen – Die Wirtschaftsminister der Länder beurteilen natür- wir zu Protokoll.1) lich den jetzigen und nicht den künftigen IFRS. Den können sie noch nicht kennen, weil er noch nicht vor- Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär liegt. Alfred Hartenbach. Unabhängig davon hat das Bundesministerium ein- deutig klargestellt, dass es weder geplant ist, die IFRS Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- zur Besteuerungsgrundlage zu machen, noch geplant ist, desministerin der Justiz: dass sie sich maßgeblich auf die steuerliche Gewinn- Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kolle- ermittlung auswirken. gen! Es ist sicherlich ein sehr unerotisches Thema, das Der vierte Forderungspunkt verweist darauf, dass sich wir heute Abend besprechen, aber es ist hoch interessant. die Bundesregierung in den Verhandlungen zum Kon- Denn die internationalen Rechnungslegungsstan- (B) vergenzfahrplan zur gegenseitigen Anerkennung von dards sind ein wichtiges Thema für die deutsche Wirt- (D) IFRS und US-GAAP, den amerikanischen Bilanzie- schaft. Die zunehmende Bedeutung der Standards dürfen rungsstandards, für die Interessen der deutschen Wirt- wir nicht unterschätzen. Ich bin in diesem Punkt mit den schaft stark machen soll. Damen und Herren Abgeordneten der FDP-Fraktion ganz einer Meinung, wie auch Sie, Frau Tillmann. Ganz offensichtlich haben Sie die Antworten auf Ihre Fragen gar nicht gelesen. Dann hätten Sie nämlich er- Sie haben allerdings – darauf hat Frau Tillmann kennen können, dass die Bundesregierung das seit Mo- schon hingewiesen – die einzelnen Punkte Ihres Antra- naten, wenn nicht seit Jahren auch tut. Auch da gibt es ges auch schon zum Gegenstand einer Reihe von keinen Bedarf, zusätzlich von Ihnen aufgefordert zu schriftlichen Fragen gemacht. Den Antworten der Bun- werden. desregierung werden Sie entnommen haben, dass wir dem Thema die nötige Aufmerksamkeit widmen, und Abschließend zu Ihrer Forderung nach Mitwirkung an zwar unabhängig von der deutschen EU-Ratspräsident- einer langfristigen und sicheren Finanzierung des schaft und dem G-8-Gipfel. Um genau zu sein: Wir tun IASB. Die Bundesregierung ist in den einschlägigen dies bereits seit den Verhandlungen zur IAS-Verordnung europäischen Gremien vertreten, um eine angemessene – IAS steht für: International Accounting Standards – Lösung zur Sicherstellung der Finanzierung des IASB zu und die begannen bekanntlich im Jahre 2002. Wie schön, finden. Wir vertreten die Auffassung, dass es sich hierbei dass jetzt endlich auch die Wirtschaftspartei, die Kolle- um ein privates Unternehmen handelt und deshalb die ginnen und Kollegen aus der FDP, auf den Geschmack freiwillige Finanzierung durch die Unternehmen die gekommen sind. oberste Option sein sollte. Wir haben Ihnen auch ein höchst persönliches Junior- Liebe Kollegen der FDP, da verwundert es schon sehr, Trainingsprogramm geboten. Ich stelle fest, verehrter dass ausgerechnet Sie in dem Augenblick, in dem es fi- Herr Wolff, Sie waren ein gelehriger Schüler, sonst hät- nanzielle Schwierigkeiten gibt, sofort nach staatlicher ten Sie nämlich einen solch schönen Antrag nicht stellen Finanzierung rufen. Eigentlich wäre es an Ihnen, gegen- können. Leider ist der Antrag überflüssig, weil all das, über den mittelständischen Unternehmen deutlich zu was Sie darin fordern, bereits gemacht wird. machen, dass es im eigenen Interesse dieser Unterneh- men liegt, dass der IASB auch mit deutscher Beteiligung (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Man finanziert wird. merkt es bloß nicht!) Das Erste, was Sie tun: Sie schreien nach staatlicher Förderung. Das passt nicht so richtig in Ihr Konzept, da 1) Anlage 4 7030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Es ist gerade so, als ob Sie Joachim Löw auffordern (Frank Schäffler [FDP]: Jawohl, Herr Lehrer!) (C) würden, er solle endlich das Training für die deutsche Fußballnationalmannschaft übernehmen. Aber das Auf EU-Ebene gibt es nach der letzten Erhöhung der macht er schon lange. Schwellenwerte für kleine und mittlere Unternehmen Überlegungen, weitere Erleichterungen im Zusammen- Genauso machen wir das auch. Die Standards spielen hang mit den Bilanzrichtlinien vorzunehmen. Dabei eine wichtige Rolle für die Unternehmen aus Deutsch- möchte ich betonen: Die Überlegungen gehen keines- land und Europa, die an der New Yorker Börse gelistet wegs dahin, dem Mittelstand die Anwendung von IFRS sind. Es ist zeitaufwendig und kostenintensiv, wenn sie vorzuschreiben. Daher sehe ich auch keinen Handlungs- zusätzlich zu ihrem IFRS-Abschluss, also dem Interna- bedarf für die deutsche Ratspräsidentschaft und erst tional-Financial-Reporting-Standards-Abschluss, noch recht nicht für die G-8-Präsidentschaft. einen Abschluss nach amerikanischen Standards vorle- gen müssen. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ich denke, Sie tun es! Das war ein Widerspruch!) (Frank Schäffler [FDP]: Richtig!) Dies gilt im Übrigen auch für die Frage nach der Auf europäischer Seite müssen wir deshalb entschlos- IASB-Finanzierung. Der Ecofin-Rat hat sich im Juli ein- sen auf eine baldige Anerkennung der IFRS einwirken. hellig dafür ausgesprochen, das bisherige Finanzierungs- Dafür hat sich Frau Bundesministerin Zypries auch per- system auf der Grundlage freiwilliger Beiträge zunächst sönlich gegenüber Kommissar McCreevy eingesetzt. fortzusetzen. Die EU-Kommission wird den Konvergenzprozess in (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk den nächsten zwei Jahren aktiv begleiten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sehr – Da dürft ihr ruhig klatschen; das ist gut. – Herr Kley gut!) hat als deutsches Mitglied der IASC-Foundation bei den und für gleiche Bedingungen für Emittenten innerhalb Unternehmen in Deutschland erfolgreich für die Sache und außerhalb der Gemeinschaft sorgen. Man muss uns geworben, wofür ihm nochmals herzlich gedankt sei. Es nicht, wie Frau Tillmann es schon gesagt hat, zum Rei- handelt sich also nicht um eine staatliche Intervention. ten zu scheuchen. Wir machen das. Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Hinweis, Wir haben aber selbstverständlich auch die Belange liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. der nicht an den Kapitalmärkten notierten Unternehmen Ihr Rundumschlag in Sachen Rechnungslegung – der (B) im Blick. In der Arbeitsgruppe des IASB, des Internatio- war ja sehr spannend und sehr schön – in allen Ehren, (D) nal Accounting Standards Board, zum Thema „IFRS für Sie müssen sich aber am Ende entscheiden, was Sie wol- kleine und mittlere Unternehmen“ treten wir dafür ein, len: international akzeptierte Standards oder hundert für mittelständische Unternehmen echte Erleichterun- Prozent HGB. Beides passt jedenfalls nicht ganz zusam- gen und vor allem praktikable Regelungen zu schaffen. men. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Da arbei- ten wir viel zu lange dran!) Wir können ja noch einmal ein ganz persönliches Kolloquium veranstalten. – Wir arbeiten, wir schwätzen nicht! (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Machen (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Viel zu wir!) lange!) Es war jedenfalls sehr nett mit Ihnen. Was nützen die besten Standards, wenn sie in der Praxis zu kompliziert sind und Unternehmen plötzlich ohne Ei- Vielen Dank. genkapital dastehen? Allerdings ist noch offen, inwie- weit das IASB dem nachkommen wird. Umso wichtiger (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ist es, dass mittelständischen Unternehmen eine vollwer- tige Alternative zu den IFRS zur Verfügung steht. Dieses Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ziel verfolgen wir in Deutschland mit der Erarbeitung Die Reden der Kollegen Jerzy Montag von den Grü- eines Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes. nen und Klaus Uwe Benneter von der SPD nehmen wir zu Protokoll.1) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sehr gut! Es dauert nur zu lange!) Damit schließe ich die Aussprache. Auch das ist Ihnen gesagt worden. Offensichtlich haben Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Sie da aber nicht gut zugehört. Drucksache 16/3341 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Doch!) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. – Hören Sie mir doch jetzt wenigstens einmal zu. Sie könnten noch etwas lernen. 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7031

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Deswegen haben wir bei der nationalen Umsetzung (C) darauf geachtet, die Meldeschwelle, ab der eine Verän- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- derung von Unternehmensanteilen, zum Beispiel da- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes durch, dass sich ein Anteilseigner einkauft, bekannt ge- zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des macht werden muss, von 5 auf 3 Prozent abzusenken. Europäischen Parlaments und des Rates vom Die FDP spricht sich in ihrem Antrag vehement dagegen 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der aus. Lieber Kollege Schäffler, ich kann das verstehen; Transparenzanforderungen in Bezug auf der Kampf gegen den Abstieg auf 5 Prozent und dann Informationen über Emittenten, deren Wert- auf 3 Prozent mag eine FDP-Eigenschaft sein. papiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der (Lachen bei der FDP) Richtlinie 2001/34/EG (Transparenzrichtlinie- Für Ihre Partei kann ich das akzeptieren, Umsetzungsgesetz – TUG) (Frank Schäffler [FDP]: Das glaube ich, dass – Drucksachen 16/2498, 16/2917 – Sie das können!) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- für den Finanzmarkt aber nicht. Denn die großen Finanz- schusses (7. Ausschuss) märkte, mit denen wir uns vergleichen sollten, haben schon längst niedrigere Meldeschwellen. Großbritannien – Drucksache 16/3644 – hat 3 Prozent, Italien 2 Prozent. Sie sprechen in Ihrem Berichterstattung: Antrag davon, dass die meisten Länder eine höhere Mel- Abgeordnete Georg Fahrenschon deschwelle hätten. Ich sage Ihnen bei allem Respekt vor Nina Hauer diesen Ländern – Slowakei, Zypern, Estland –: Das sind Frank Schäffler keine Vorbilder und nicht die Konkurrenten, mit denen unser Finanzmarkt sich messen muss. Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Deswegen sollten wir uns so orientieren, dass wir un- der FDP vor. seren Anlegern mehr Transparenz bieten können. Da- Interfraktionell ist vereinbart, dass die Aussprache durch soll auch öffentlich deutlich werden, wem Unter- eine halbe Stunde dauern soll. Gibt es Widerspruch? – nehmen gehören. Wir wollen mit dieser Meldeschwelle Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. ja auch verhindern, dass sich jemand anschleicht. Wir haben die Veränderungen im Fall der Deutschen Börse Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- alle öffentlich nachvollziehen können. Es muss für ein (B) nerin der Kollegin Nina Hauer von der SPD-Fraktion das Unternehmen gar nichts Schlechtes sein, wenn jemand (D) Wort. seine Anteile langsam aufstockt. Aber bei der schlechten Präsenz auf unseren deutschen Hauptversammlungen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kann es schon Auswirkungen haben, wenn jemand sei- nen Anteil von 2 auf 3 Prozent erhöht. Dadurch können Nina Hauer (SPD): unter Umständen wesentliche Unternehmensentschei- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! dungen beeinflusst werden. Das ist der Grund, warum Wir beraten heute abschließend über die Umsetzung der wir wollen, dass dieser Vorgang, der an sich in Ordnung EU-Transparenzrichtlinie in nationales Recht. Dabei ist, transparenter erkennbar wird. geht es um einen einheitlichen europäischen Standard, Was bei der Diskussion um die Umsetzung der EU- der für mehr Transparenz in börsennotierten Unter- Richtlinie immer eine Rolle spielt, ist die Frage, ob das nehmen sorgen soll. eins zu eins geschehen ist oder nicht. Wir bekennen uns zu der Partei, der wir angehören; manche bekennen sich Es gibt ja derzeit eine öffentliche Debatte nicht nur in zu dem Fußballverein, dem sie angehören. Aber muss der Politik, sondern auch in den Medien darüber, welche man denn aus der Frage einer Eins-zu-eins-Umsetzung Rolle Private-Equity-Unternehmen am Finanzmarkt und eine Religionsfrage machen? Wir haben die Richtlinie in unserer Unternehmenslandschaft spielen. Am beach- „eins zu eins plus“ umgesetzt. Wir haben natürlich die tenswertesten bei diesen ist, dass sich ihre Geschäfte Wahlrechte, die uns die Europäische Union einräumt, zum größten Teil im Verborgenen abspielen. genutzt, um damit auf unsere spezielle Situation einge- Unser Interesse ist aber eigentlich, dass der Finanz- hen zu können. Ich meine, das ist uns auch gelungen. markt in Deutschland transparenter und offener wird; Wir haben bei den Halbjahresberichten, die zwi- denn die Anleger müssen darauf vertrauen können, dass schen den Jahresabschlüssen liegen, darauf geachtet, die Bilanz des Unternehmens, in das sie investieren wol- dass die Prüfungen der Prüfstelle materiell und nicht for- len, richtig ist, dass die kursrelevanten Informationen, mell sind. Von einer formellen Prüfung hat kein Anleger die notwendig sind, um Entscheidungen zu treffen, re- etwas; er hat nur etwas von einer materiellen Prüfung. gelmäßig und rechtzeitig erfolgen und dass es Informa- Wir wollen, dass sich unsere Anleger auf die Prüfung tionen darüber gibt, wem das Unternehmen gehört und verlassen können. wie sich die Eigentumsverhältnisse verändern. Wir haben aber umgekehrt auch gesagt, wir brauchen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht noch mehr Bürokratie und keine unnötige Belas- der CDU/CSU) tung für die Unternehmen. Das ist auch der Grund, 7032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Nina Hauer (A) warum wir auf die Durchsicht durch Wirtschaftsprüfer Deswegen können wir mit dieser Umsetzung sehr zufrie- (C) verzichtet haben. Das war nicht nur der Vorschlag eini- den sein. ger Marktteilnehmer, sondern es war unser politischer Wille, dass an dieser Stelle keine unnötige Bürokratie Vielen Dank. geschaffen wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von Die Prüfung von Halbjahresberichten erfolgt dann, der FDP-Fraktion. wenn es einen Anlass dazu gibt, nicht stichprobenartig. Auch das haben wir nach langem Abwägen beschlossen, (Beifall bei der FDP) damit es weniger Bürokratie gibt, aber ein deutliches Si- gnal an die Investoren erfolgt, dass ein Unternehmen, Frank Schäffler (FDP): wenn es Unregelmäßigkeiten oder anderen Anlass zur Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Prüfung gibt, ordentlich geprüft wird. gen! Die FDP-Fraktion lehnt den vorliegenden Gesetz- entwurf ab. Wir erkennen aber an, dass der Gesetzent- Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass, wie es in wurf im Ausschuss noch verbessert wurde und einige der Richtlinie vorgesehen ist, die Zeitrahmen, die wir ge- von der Bundesregierung geplante bürokratische Belas- ben, so nah am realen Marktgeschehen sind, dass die tungen, die bereits zu erheblicher Unruhe in der Wirt- Unternehmen sie auch einhalten können. Wenn Zwi- schaft geführt hatten, zurückgenommen wurden. Wir schenmitteilungen abgegeben werden müssen, dann ist lehnen den Gesetzentwurf, wie gesagt, ab, weil er den- es weniger gut, diese in einem starren Zeitrahmen einzu- noch über die Eins-zu-eins-Umsetzung einer europäi- fordern; vernünftiger ist es, da für Flexibilität zu sorgen, schen Richtlinie hinausgeht. wie das auch andere große Finanzmärkte machen. Ich habe gerade schon Großbritannien erwähnt. Wir haben (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?) uns daran ein Beispiel genommen. Ich finde, das steht – Dazu komme ich gleich. dem deutschen Finanzmarkt gut an. Neben den von der Richtlinie vorgegebenen acht Mel- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) deschwellen führen Sie seitens der Koalition eine zusätz- liche Meldeschwelle bei 3 Prozent ein, wie Sie das im Wir legen eine Entschließung vor, an der sich alle Übrigen auch beim REITs-Entwurf tun. Sie hatten in Ih- Fraktionen des Parlaments beteiligen. Denn wir wollen, rem Koalitionsvertrag – an dieser Stelle wird man daran (B) dass die Umstellung, wonach Meldungen nicht mehr in erinnern dürfen – zum Stichwort „Integration des euro- (D) deutschen Tageszeitungen, in den Börsenpflichtblättern, päischen Finanzbinnenmarktes“ ausgeführt, dass Sie erscheinen sollen, sondern auf Internetplattformen Richtlinien nur noch eins zu eins umsetzen wollen. Hier – diese sollen nach diesem Gesetz europaweit zugäng- halten Sie sich nicht daran. Die Union ist der Heu- lich sein und in denen sollen europaweit Informationen schreckenrhetorik der SPD wieder einmal auf den Leim gesammelt werden –, einer Prüfphase unterzogen wird. gegangen. Es ist bemerkenswert, dass Sie das Beispiel Es wird eine Frist von anderthalb Jahren geben. Wir for- der Deutschen Börse, des Hortes des Kapitalismus in dern von unserer Regierung einen Bericht darüber, wie Deutschland, heranziehen, um diese zusätzliche Melde- diese Umstellung funktioniert hat. schwelle einzuführen. (Frank Schäffler [FDP]: Das ist das einzig Hinter dieser Geschichte steckt am Ende ein relativ Positive!) einseitiges Verständnis des Kapitalmarktes. Sie sprechen Wir wollen unsere Investoren und Anleger nicht ver- von „Anschleichen“. Dabei geht es darum, dass ein In- wirren. Jemand, der gerne in der Zeitung nachliest, wie vestor, der in ein Unternehmen investieren will, sich am sich die Situation des Unternehmens, in das er investiert, Ende als Eigentümer an diesem Unternehmen beteiligen verändert hat, soll die Chance haben, das auch weiterhin will. Wenn ein Vorstand einer Aktiengesellschaft dies auf diese Weise zu tun. Wir müssen aber nachprüfen, ob nicht will, kann er seine Aktionäre davon überzeugen, die Anleger diese Möglichkeit in Anspruch nehmen. ein Delisting zu beschließen oder die Aktien in Namens- Deswegen legen wir diese Entschließung vor und for- aktien umzuwandeln. Das Unternehmen kann auch von dern die Bundesregierung zu einem Bericht auf. Ich vornherein ausschließen, an die Börse zu gehen. Die denke, das ist dem Regelungsanlass angemessen. Ich Börse ist keine Einbahnstraße. freue mich, dass die Abstimmung darüber einvernehm- Sie vergessen, dass das Unternehmen nicht den Vor- lich erfolgt ist. ständen, sondern den Aktionären gehört. Ich denke, dass wir im Rahmen der nationalen Umset- (Beifall bei der FDP) zung dieser Richtlinie ein Gesetz beschließen, das dazu Das mussten sehr schmerzhaft die Deutsche Börse und beitragen wird, dass wir europaweit Standards haben die Herren Seifert und Breuer erfahren. werden, die für mehr Transparenz und die für Groß- investoren, aber auch für Kleinanleger für mehr Infor- Die zusätzliche Meldeschwelle führt – das hat die An- mationen über Unternehmen, in die sie investieren, sor- hörung im Ausschuss belegt – ganz klar zu einem Wett- gen werden. Das stärkt den Finanzplatz Deutschland. bewerbsnachteil für den Finanzplatz Deutschland. Wenn Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7033

Frank Schäffler (A) Sie argumentieren, dass in Großbritannien ebenfalls die ben, eine Schwelle von 3 Prozent festzulegen, quasi (C) 3-Prozent-Schwelle gilt, dann sage ich Ihnen, dass uns hochstilisieren, um einen Grund zu finden, sich aus der ein kleiner Wettbewerbsvorteil ganz gut anstünde und Verantwortung für den deutschen Finanzmarkt herauszu- sehr gut für den deutschen Finanzplatz wäre. stehlen, wirft ein schlechtes Zeichen auf die zukünftigen Arbeiten zur Verwirklichung des europäischen Finanz- Ganz konkret wurde in der Anhörung angeführt, dass marktes. die Aktionäre diese Meldungen nicht automatisch vor- nehmen können, sondern jede Meldung manuell ausge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- führt werden muss. Dies konterkariert das ansonsten von neten der SPD) Ihnen zumindest rhetorisch vertretene Ziel des Bürokra- tieabbaus. Gerade kleinen börsennotierten Unternehmen, Aus gutem Grunde sind in der europäischen Transpa- also mittelständischen Unternehmen, werden Sie mit der renzrichtlinie in Bezug auf die Informationen über Emit- 3-prozentigen Meldeschwelle schaden, da sich dann In- tenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem gere- vestmentfonds und Investoren sehr genau überlegen gelten Markt zugelassen sind, eine ganze Reihe von werden, ob sie ein meldepflichtiges Engagement wählen Pflichten vorgesehen: Pflichten zur Finanzberichterstat- oder nicht. tung, Pflichten zur Mitteilung und Veröffentlichung von Veränderungen des Stimmrechtsanteils, Pflichten zur Im Ausschuss hat die SPD dies „eins zu eins plus“ ge- Lieferung von notwendigen Informationen für die Wahr- nannt; auch Sie, Frau Kollegin Hauer, haben es gerade nehmung von Rechten aus Wertpapieren und Pflichten erwähnt. Für die Union sprach der Kollege Fahrenschon zur Veröffentlichung und Speicherung wichtiger Kapi- von „eins plus eins gleich drei“. Diese neue Art der talmarktinformationen. Man muss hinzufügen: Das sind Arithmetik ist sehr bemerkenswert. Das kennen wir von Pflichten, die man nicht nur in Deutschland erbringen der schwarz-roten Koalition schon genügend; denn eine muss, sondern die auch von allen auf den Wertpapier- ähnliche Argumentation wurde bei der Mehrwertsteuer- märkten handelnden Akteuren auf dem gesamten euro- erhöhung gewählt. Da hieß es: Zwei plus null gleich päischen Binnenmarkt abzuarbeiten sind. Das sind gute drei. Das ist eine Analogie, die zu erwähnen sich zu die- Pflichten. ser späten Stunde lohnt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vielen Dank. neten der SPD) (Beifall bei der FDP) Diese Pflichten leisten im volkswirtschaftlichen Sinne einen wichtigen Beitrag dazu, die Wirksamkeit, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Offenheit, die Integrität und die Transparenz der eu- (B) Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon ropäischen Kapitalmärkte zu stärken. Denn ein echter (D) von der CDU/CSU-Fraktion. Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen setzt voraus, dass alle Anleger – ob nun die kleinen oder die großen – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- problemlos und voller Vertrauen über Grenzen hinweg neten der SPD) investieren können.

Georg Fahrenschon (CDU/CSU): An dieser Stelle muss man sagen: Die Argumentation, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- die 5-Prozent-Schwelle sei im Vergleich zur 3-Prozent- ren! Lieber Herr Schäffler, Sie haben ja eine ordentliche Schwelle in Großbritannien ein Marktvorteil, nimmt Ih- Ausbildung zum Diplom-Betriebswirt gemacht. Gegebe- nen keiner ab. Denn wenn es einen Markt gibt, bei dem nenfalls haben sich da der Besuch von Vorlesungen und weltweit anerkannt ist, dass die Kräfte des Marktes, des der Erwerb von Scheinen in der Volkswirtschaftslehre Angebots und der Nachfrage, optimal wirken können, nicht ergeben. Ich will allerdings darauf hinweisen, dass dann ist dies in London. Dass wir schlechtere Bedingun- die Studenten der Volkswirtschaftslehre im ersten Se- gen als in London schaffen wollen, nimmt uns kein in- mester lernen und verinnerlichen, dass Märkte dann am ternationaler Anleger ab. Wir müssen es mindestens wirkungsvollsten sind, wenn alle Marktteilnehmer zeit- gleich gut machen wie Großbritannien. nah und gleichmäßig über dieselben Informationen ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fügen. Denn erst dann erfüllen der Markt und der damit neten der SPD) gefundene Preis ihre Lenkungsfunktion optimal. Das heißt, Transparenz ist an dieser Stelle, wenn Sie so wol- Die CDU/CSU ist mit zwei Zielen an die nationale len, das Blut im Kreislauf der Markteffizienz; denn da- Umsetzung gegangen. Wir haben uns einerseits vorge- rauf kommt es an. nommen, dass deutsche Unternehmer durch die natio- nale Umsetzung nicht stärker in die Pflicht genommen Lieber Herr Kollege, dass die FDP jetzt auf einmal werden, als nach der Richtlinie notwendig ist. Gleichzei- Gefallen an intransparenten Vorgängen findet, tig war es allerdings auch von Anfang an unser Interesse, (Frank Schäffler [FDP]: An einer Eins-zu- dass der Anlegerschutz und die Transparenz durch die eins-Umsetzung!) nationale Umsetzung erhöht werden. Dass wir uns da- rüber hinaus bereits im Koalitionsvertrag mit unserem können Sie der interessierten Öffentlichkeit an keiner Koalitionspartner darauf geeinigt haben, eine weitere Stelle nachvollziehbar erklären. Dass Sie die politische Regelung einzuführen, um Übernahmen durch Hedge- Entscheidung, statt bei der 5-Prozent-Schwelle zu blei- fonds oder andere Investoren frühzeitig aufzeigen zu 7034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Georg Fahrenschon (A) können, ist unser gutes Recht. Dieses Gesetz zeigt den Nichtabgabe einer entsprechenden Versicherung gegol- (C) politischen Willen und abermals die Handlungsstärke ten. Wir sind, glaube ich, mit Augenmaß an die Frage- der großen Koalition in Fragen des Finanzmarkts und stellung herangegangen und haben durch die Änderun- der Regulierung. gen herbeigeführt, dass es bei Nichtabgabe eines Bilanzeids nun nicht mehr zu strafrechtlichen Sanktio- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen kommt. Wir haben das rechtssystematisch richtig In den Berichterstattergesprächen konnten in diesem eingeordnet: Die Nichtabgabe des Bilanzeids wird nun Sinne wesentliche Änderungen auch gegenüber dem Ka- als Ordnungswidrigkeit betrachtet. Daneben überneh- binettsbeschluss erreicht werden. Wichtige Anregungen men wir das allgemein geltende Grundverständnis über aus der Anhörung und Vorschläge des Bundesrats wur- Meldungen „nach bestem Wissen“ in den Wortlaut des den aufgegriffen. Damit haben wir einen guten Beitrag Gesetzes. zur Eins-zu-eins-Umsetzung geleistet. Ich will mich an der Stelle bei allen Berichterstatterkollegen und auch bei An einer weiteren Stelle ist es uns gelungen, die Pa- der Arbeitsebene des Bundesfinanzministeriums ganz rallelität zum EHUG und zum Transparenzrichtlinie- herzlich für die sachliche, kollegiale und an der Sache Umsetzungsgesetz herauszuarbeiten. Wir haben nämlich orientierte Arbeit bedanken. im Bericht des Finanzausschusses klargestellt, dass hin- sichtlich der Bußgeldvorschrift des § 104 a des Handels- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gesetzbuchs die Einführung eines elektronischen Han- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE delsregisters zwar weiter vorangebracht wird, dass der GRÜNEN) Anwendungsbereich dieser Vorschrift aber lediglich auf Meine Damen und Herren, ich will in aller Kürze auf Kapitalmarktunternehmen beschränkt ist. Das heißt, der die fünf wichtigsten Änderungen eingehen, weil sie zei- deutsche Mittelstand und die Personengesellschaft wer- gen, mit welcher Intensität wir uns mit der Umsetzung den nicht unter das Dach des elektronischen Handelsre- auseinander gesetzt haben, und weil sie begründen, wa- gisters und auch nicht unter die Bußgeldvorschrift gezo- rum wir mit gutem Gewissen der nationalen Umsetzung gen. zustimmen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Erstens. Im ursprünglichen Gesetzentwurf sollten Halbjahresberichte sowohl bei Vorliegen eines konkre- Viertens. Wir haben erreicht, dass die Zwischenmit- ten Verdachts auf Rechnungslegungsverstöße als auch teilung der Geschäftsführung in Zukunft flexibel in ei- stichprobenhaft in gleicher Frequenz wie die Jahresab- nem Zeitraum zwischen zehn Wochen nach Beginn und (B) schlüsse einer Prüfung durch die BaFin oder die Deut- sechs Wochen vor Ende des betroffenen Sechsmonats- (D) sche Prüfstelle für Rechnungslegung unterzogen wer- zeitraums erstellt wird. den. Wir konnten gemeinsam durchsetzen, dass das Fünftens, last but not least, haben wir bei den Veröf- materielle Enforcement, bei dem wir aus gutem Grund fentlichungspflichten die Chance ergriffen, mit einem geblieben sind, nun allerdings bei den Halbjahresberich- Zwischenbericht der Bundesregierung zur Mitte des ten nur dann angewandt wird, wenn ein konkreter Anlass Jahres 2008 noch einmal innezuhalten, um abwägen zu vorliegt. Eine stichprobenhafte Überprüfung ist in Deutschland nicht zulässig. können, inwieweit die Veröffentlichung von Meldungen über Internet tatsächlich praktikabel ist und ob wir 2009 (Beifall bei der CDU/CSU) die Möglichkeit nutzen wollen, alle Meldungen, auch die Ad-hoc-Meldungen und die so genannten Final-Term- Das hat Vorteile für alle Beteiligten, weil wir frühzeitig Meldungen, im Internet zu veröffentlichen. Rechtsklarheit für den Jahresabschluss herstellen und weil wir die Unternehmen in die Lage versetzen, in Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit dem Streitfällen frühzeitig das Enforcement anzurufen und vorliegenden Entwurf eines Transparenzrichtlinie-Um- die Fragen klären zu lassen. setzungsgesetzes eine gute nationale Umsetzung abge- schlossen haben. Zum Schluss meiner Rede will ich Zweitens. Die Kollegin Hauer ist auf die Veränderun- gen bezüglich der prüferischen Durchsicht schon einge- noch einmal auf die Grundzüge der Volkswirtschafts- gangen. In Zukunft liegt in Deutschland die Beantwor- lehre zu sprechen kommen, lieber Kollege Schäffler. tung der Frage, ob die Abschlüsse von einem Transparenz ist aus mikroökologischer Sicht von elemen- Wirtschaftsprüfer durchgeschaut werden sollen, in der tarer Bedeutung für das Funktionieren eines Marktes und Hand und im Ermessen des Emittenten. Da ist sie auch seiner Effizienz. Makroökonomisch darf man jedoch die gut aufgehoben. Kosten der Transparenz nicht außer Acht lassen. Also muss auch hier die Regel gelten, dass die Kosten immer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen für die Anlieger stehen müssen. Beim TUG ist diese Balance Drittens. Bezogen auf den Bilanzeid sah die ur- gelungen. sprüngliche Regelung vor, dass unrichtige Versicherun- gen der gesetzlichen Vertreter einer Kapitalgesellschaft Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. im Rahmen des Bilanzeids zum Jahresabschluss als Straftatbestand erfasst werden. Dies hätte auch bei (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7035

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (C) Die Reden der Kollegen Dr. Axel Troost von den verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Linken und Dr. Gerhard Schick von Bündnis 90/Die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Grünen nehmen wir zu Protokoll.1) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich schließe die Aussprache. richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (11. Ausschuss) desregierung eingebrachten Entwurf eines Transparenz- – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- richtlinie-Umsetzungsgesetzes, Drucksachen 16/2498 und rung 16/2917. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3644, den Bericht der Bundesregierung über die Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Beschäftigung schwerbehinderter Men- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schen im öffentlichen Dienst des Bundes schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßel- in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bei Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der Linken. Recht statt Pflicht – Einschränkungen Dritte Beratung behinderter Menschen bei der Teilhabe am und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- öffentlichen Leben entgegenwirken stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Dr. Karl Addicks, , weiterer Stimmenverhältnis angenommen. Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wir kommen zur Abstimmung über den Ent- Teilhabe von Menschen mit Behinderungen schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- am öffentlichen Leben konsequent sichern sache 16/3675. Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – – Drucksachen 16/1100, 16/1476 Nr. 1.3, 16/949, Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen 16/853, 16/2840 – aller Fraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion. Berichterstattung: (B) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Abgeordnete Katja Kipping (D) sache 16/3644 empfiehlt der Finanzausschuss, eine Ent- Die Reden der Kollegen Hubert Hüppe, CDU/CSU, schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- Karin Evers-Meyer von der SPD, Jörg Rohde, FDP, empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Markus Kurth, Bündnis 90/ Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen Die Grünen, und Franz Thönnes für die Bundesregie- aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. rung werden zu Protokoll genommen.3) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Drucksache 16/2840. Unter Buchstabe a seiner Beschluss- Korte, Petra Pau, Kersten Naumann, weiterer Ab- empfehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis des geordneter und der Fraktion der LINKEN Berichts der Bundesregierung über die Beschäftigung Entschädigung für Opfer nationalsozialisti- schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des scher Verfolgung Bundes auf Drucksache 16/1100 eine Entschließung an- zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – – Drucksache 16/3536 – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Überweisungsvorschlag: fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions- Innenausschuss (f) fraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen. Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- nung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Die Reden der Kollegen Günter Baumann und Grünen auf Drucksache 16/949 mit dem Titel „Recht statt Manfred Kolbe, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD, Pflicht – Einschränkungen behinderter Menschen bei der Dr. Max Stadler, FDP, Jan Korte, Die Linke, und Volker Teilhabe am öffentlichen Leben entgegenwirken“. Wer Beck, Bündnis 90/Die Grünen, werden zu Protokoll stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- genommen.2) men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Drucksache 16/3536 an die in der Tagesordnung aufge- gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken bei Enthaltung der FDP-Fraktion.

1) Anlage 5 2) Anlage 6 3) Anlage 7 7036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c nannte Residenzpflicht. Der Aufenthalt ist auf den Land- (C) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2840 kreis oder den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt. die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Außerdem haben wir in unserer Republik völlig Drucksache 16/853 mit dem Titel „Teilhabe von unterschiedliche Auslegungen. In einer Millionenstadt Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben wie Köln haben 100 Prozent der geduldeten Ausländer konsequent sichern“. Wer stimmt für diese Beschluss- keine Arbeitserlaubnis bekommen; das konnte ich heute empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die in der Zeitung lesen. In einer so großen Stadt wie Mün- Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen chen haben 90 Prozent der Geduldeten eine Arbeits- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von FDP erlaubnis bekommen. und den Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü- nen. (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Jeder eine!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: – Bitte? Sie sind nicht laut genug, Frau Kollegin Philipp. Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Jeder! Nicht Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Monika La- 90 Prozent!) zar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Nein, es ist so. 90 Prozent haben eine Arbeitserlaubnis, 60 Prozent davon kommen deshalb völlig ohne Sozial- Für eine wirksame Bleiberechtsregelung für leistungen aus und immerhin 30 Prozent mit nur teil- langjährig in Deutschland geduldete Personen weise Sozialleistungen. Warum in Köln 100 Prozent – Drucksache 16/3340 – keine Arbeitserlaubnis bekommen, ist völlig unverständ- lich und zeigt, dass der Beschluss der Innenministerkon- Überweisungsvorschlag: ferenz hier zu kurz greift. Innenausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Es ist so, dass sich das, was bisher umgesetzt wurde Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – in Bayern gibt es beispielsweise schon einen Landes- erlass –, von Bundesland zu Bundesland ganz extrem Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die unterscheidet. In Bayern reicht es schon, wenn die Kin- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Bünd- der eine negative Schulabschlussprognose haben, um nis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es aus der Bleiberechtsregelung zu fallen. In Hamburg hin- Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. gegen müssen sie nur nachweisen, dass sie die Schule Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- besuchen. In dem einen Fall bekommen sie eine Aufent- haltserlaubnis und in dem anderen nicht. Dies alles ge- (B) ner das Wort dem Kollegen Josef Philip Winkler vom (D) Bündnis 90/Die Grünen. schieht unter dem gleichen Beschluss der Innenminister- konferenz. Dies ließe sich jetzt noch mit 20 oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 30 Beispielen fortsetzen. Dafür reicht meine Redezeit nicht. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Um dieses Kuddelmuddel zu überwinden, fordern wir NEN): die große Koalition erneut auf, eine bundesgesetzliche Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Regelung zu treffen, um einheitlich vorgehen zu können. Innenministerkonferenz ist mit ihrem Beschluss zum Bleiberecht für langjährig geduldete Flüchtlinge nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur weit hinter den Erwartungen der Kirchen und Flücht- Eine Verknüpfung der Bleiberechtsregelung mit einer lingsorganisationen zurückgeblieben. Sie ist auch – das Verschärfung des Aufenthalts- bzw. Asylbewerberleis- muss man einmal festhalten – der großen Koalition in tungsgesetzes lehnen wir ab. Denn die Leistungen, die die Gänze in den Rücken gefallen. Denn wir haben hier erst Asylbewerber bzw. die Geduldeten bekommen, sind vor 14 Tagen ganz andere Töne gehört. schon um ein Drittel geringer als der Sozialhilfesatz. Man Allerdings muss man sagen: Das Gerangel zwischen muss sich auf der Zunge zergehen lassen, dass diese den Koalitionsfraktionen – Herr Kollege Körper, da Sie Regelung, wie beschlossen wurde, um ein Jahr verlängert anwesend sind, beschimpfe ich Sie gleich persönlich – werden soll. Das finden wir inhuman und unsozial. erinnerte an die beiden alten Herren, die in der Muppet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Show auf dem Balkon sitzen. Herr Körper und Herr Bos- bach haben sich beschimpft und gesagt: Es stimmt ja gar Eine wirksame gesetzliche Bleiberechtsregelung für nicht, dass die Eckpunkte so sind, wie du sagst, dass wir die von diesem Beschluss der Innenministerkonferenz sie beschlossen hätten. Ich muss ehrlich sagen: Das war nicht betroffenen Geduldeten sollte nach unserer Mei- kein Beispiel für gute Regierungsarbeit in dieser Koali- nung zumindest folgende Kriterien erfüllen: Die tion. Begünstigten sollten keine Verlängerung des rechtswid- rigen Status der Duldung, sondern sofort eine Aufent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haltserlaubnis bekommen. Das Bleiberecht darf nicht da- Eine Verlängerung der Duldung, wie von der Innen- von abhängig gemacht werden, ob bereits eine ministerkonferenz jetzt beschlossen, reicht uns und den Arbeitsmöglichkeit besteht; das Kölner Beispiel, dass Menschen nicht. Dieser Aufenthaltstatus, der unsicher die Ausländerbehörden zum Teil keine erteilen, habe ich ist, schreckt Arbeitgeber ab. Schließlich gilt die so ge- angeführt. Es dürfen keine überzogenen Anforderungen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7037

Josef Philip Winkler (A) an die Erfüllung der Mitwirkungspflichten gestellt wer- Innenministerkonferenz nicht richtig dargestellt. Wichtig (C) den. Der Nachweis von Deutschkenntnissen darf nicht ist, dass im Interesse der betroffenen Menschen schnell zur Voraussetzung gemacht werden. für Rechtssicherheit gesorgt wurde. Viele von ihnen haben sich schon bei den Ausländerbehörden darum bemüht, in (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Warum?) die Bleiberechtsregelung einbezogen zu werden. – Es ist wichtig, dass sie Deutsch lernen. Aber man darf Da Sie die Kölner Ausländerbehörde angesprochen ha- Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung für das Blei- ben und ich sehe, dass der Kollege Uhl anwesend ist, berecht machen. Denn die Betroffenen hatten überhaupt möchte ich darauf hinweisen, dass wir die Qualität der Ar- keinen Anspruch darauf, Deutschkurse zu besuchen, beit der Kölner Ausländerbehörde im Rahmen der Bera- weil sie gar nicht integriert werden sollten. Schließlich tungen des Visa-Untersuchungsausschusses zu schätzen ist ihr Aufenthalt nicht rechtmäßig. Man muss zumindest gelernt haben. eine Übergangsfrist einführen und den Betroffenen sa- gen, dass sie ein Jahr, nachdem sie ihre Aufenthalts- Ich kann nur feststellen: Das, was Sie gesagt haben, erlaubnis bekommen haben, Deutschkenntnisse erwor- hat mit der Beschlusslage der Innenministerkonferenz ben haben müssen. Mit einer solchen Regelung wäre ich wirklich nichts zu tun. Natürlich müssen die Ausländer- durchaus einverstanden. Aber man darf Deutschkennt- behörden jetzt das umsetzen, was die Innenminister nisse nicht zur Voraussetzung erklären. Das lehnen wir beschlossen haben; so ist es gedacht. Man soll dann ein ab. Aufenthaltsrecht bekommen, wenn man eine Arbeit hat oder – auch das haben Sie etwas verkürzt dargestellt – Außerdem muss klar sein – das ist der wichtigste und wenn man ein konkretes Arbeitsangebot nachweisen letzte Punkt –, dass diejenigen, die potenziell unter eine kann. gesetzliche Bleiberechtsregelung fallen – Sie haben ja angekündigt, eine solche Regelung in Angriff nehmen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE zu wollen –, nicht mehr abgeschoben werden. Aus NRW GRÜNEN]: Das dauert aber!) zum Beispiel hören wir, dass Familien nach Afghanistan oder in den Irak abgeschoben werden sollen. Auch aus Dann fällt man aus der Nachrangigkeitsprüfung heraus. Hamburg gibt es solche Meldungen. Ich muss sagen: (Zuruf des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] Das lehnen wir mit aller Vehemenz ab. Niemand, der [FDP]) unter diese Regelung fallen könnte, darf in Nacht-und- Nebel-Aktionen kurz vor ihrem In-Kraft-Treten abgescho- – Herr Kollege Wolff, die Bleiberechtsregelung wurde ben werden. Dafür werden wir uns weiterhin einsetzen. von Innenministern der CDU/CSU, der SPD und, wenn ich das sagen darf, der FDP erarbeitet; ich meine den (B) Herzlichen Dank. „guten Wolf“, den Innenminister von Nordrhein-Westfalen. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen sich also entscheiden, ob Sie nur die große Koalition oder auch den Innenminister von Nordrhein- Westfalen beschimpfen wollen; denn auch er war daran Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: beteiligt. Wenn man Zurufe macht, sollte man etwas vor- Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der sichtiger sein. CDU/CSU-Fraktion. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Fragen (Beifall bei der CDU/CSU) Sie doch einmal Herrn Müntefering! – Gegen- ruf des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Reinhard Grindel (CDU/CSU): Der ist aber nicht Innenminister!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der – Herrn Müntefering fragen wir jeden Tag Kollege Josef Winkler hat an die beiden Alten in der Muppet Show, an Waldorf und Statler, erinnert. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sehr gut! Wenigstens ihn!) (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Ja, an Waldorf!) und wir bekommen jeden Tag gute Antworten. Sie haben sich nicht gegenseitig beschimpft, sondern sie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) haben diejenigen beschimpft, die unten aufgetreten sind. Die Art und Weise, wie Sie Ihren Antrag vorgestellt Aber jetzt ernsthaft: Es macht schon Sinn, wenn wir haben, hat mich eher an Miss Piggy erinnert: So, wie sie ein Bleiberecht an eine Beschäftigung koppeln. Unser schönzureden versucht, dass ihre Frisur toll ist, so haben Grundsatz bleibt natürlich – da stimmen wir mit der gro- auch Sie Ihren Antrag schönzureden versucht. ßen Mehrheit unserer Bevölkerung überein –: Wir wol- len keine Zuwanderung in die Sozialsysteme, wir wol- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Jo- len, wenn überhaupt, eine Zuwanderung in den sef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Arbeitsmarkt. Das hat nicht nur finanzielle, sondern NEN]: Wenn schon, dann Kermit!) auch integrationspolitische Gründe: Wir wissen doch ganz genau, dass derjenige, der von Sozialleistungen – Vergleiche sind eine schwierige Angelegenheit. lebt, oftmals auch in einer Parallelgesellschaft lebt, kein Bei aller Scherzhaftigkeit und allen Nachtgedanken, Deutsch spricht, keinen Kontakt hat zu Kollegen. Wir die man um diese Uhrzeit haben kann, muss ich sagen: wollen damit auch erreichen, dass diejenigen, die auf Dieses Thema ist zu ernst. Sie haben den Beschluss der Dauer bei uns leben, auch signalisieren, dass sie wirklich 7038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Reinhard Grindel (A) angekommen sind in unserem Land und bereit sind, sich Wir müssen uns einmal deutlich vor Augen führen, (C) hier wirtschaftlich, aber auch sprachlich, gesellschaftlich dass wir auch eine gewisse Mindestsorgfaltspflicht ge- und kulturell zu integrieren. Deswegen ist es keine sach- genüber den Mitarbeitern in Ausländerbehörden, bei der fremde Verknüpfung, wenn man sagt: Es gibt ein Bleibe- Länderpolizei und bei der Bundespolizei haben, die mit recht für diejenigen, die Arbeit haben oder ein Ar- der Rückführung von Ausländern nun wirklich ein beitsangebot nachweisen. schwieriges Geschäft zu erledigen haben. Leuten ein Bleiberecht zu geben, die jahrelang vorsätzlich gegen (Beifall bei der CDU/CSU) das geltende Recht verstoßen haben, Kollege Winkler, Sie haben das Asylbewerberleis- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tungsgesetz angesprochen. Es macht doch nun wirklich NEN]: Das besagt unser Antrag nicht!) keinen Sinn, Asylbewerbern oder Geduldeten den An- reiz, eine Arbeit aufzunehmen, dadurch stark zu be- wäre natürlich keine Motivation für diese Mitarbeiter, grenzen, dass man ihnen nach drei Jahren höhere Sozial- ihre schwierige Arbeit zu verrichten. Da würden wir leistungen in Aussicht stellt. Leute mit einem Bleiberecht belohnen, die es nicht ver- dient haben. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist, wenn sie keine Arbeitser- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- laubnis haben?) neten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn ge- Es muss doch genau andersherum sein: Es muss sich fordert? Wir nicht!) lohnen, eine Arbeit aufzunehmen. Weil die Innenminis- ter hier nicht hartherzig vorgegangen sind, sondern das Es geht auch nicht um Zahlen, lieber Kollege Wink- Problem gesehen haben, dass vor allen Dingen Familien ler. Ein Bleiberecht ist dann gut, wenn die Fälle erfasst mit Kindern selbstverständlich so hohe Sozialleistungen werden, bei denen man wirklich sagen muss: Aus huma- in Anspruch nehmen können, wie es mit niedrig qualifi- nitären Gründen – weil die Menschen bei uns verwurzelt zierter Beschäftigung an Lohn nicht zu erreichen wäre, sind, weil jetzt Deutschland ihre Heimat ist – oder auch haben sie in ihren Beschluss hineingeschrieben, dass aus dem Interesse unseres Landes ist es nicht vertretbar, man überwiegend nicht von Sozialleistungen abhängig sie jetzt noch in ihr ursprüngliches Herkunftsland abzu- sein soll, dass man seinen Lebensunterhalt überwiegend schieben. Wenn wir das sagen können, dann haben wir aus Beschäftigung bestreiten soll. Auch dabei haben die eine gute Bleiberechtsregelung. Ich bekenne deutlich: In Innenminister die soziale Lage der Familien, denen wir diesem Sinne haben die Innenminister der Länder eine ein Bleiberecht geben wollen, denen die Innenminister gute Bleiberechtsregelung geschaffen. Nun haben die In- (B) ein Bleiberecht geben wollen, sehr wohl im Blick. nenminister der Länder von einer Stufenlösung gespro- (D) chen, die sehr kurzfristig durch ihre Vereinbarung in (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Vollzug gesetzt worden ist, und einer möglichen weite- GRÜNEN]: Warum wollt ihr dann ein Gesetz ren Altfallregelung etwa in Form eines § 104 a Aufent- machen?) haltsgesetz. Darüber befinden wir uns in der Koalition in der Tat in einer intensiven Diskussion. Das festzustellen, ist entscheidend, weil Sie in Ihrem Antrag auch ein paar andere Bedingungen monieren, die Für uns als Innenpolitiker der CDU/CSU-Bundes- die Innenminister beschlossen haben. Es ist schon merk- tagsfraktion gilt dabei exakt der gleiche Grundsatz wie würdig – das muss man auch um diese Zeit in aller Deut- für alle Landesinnenminister: Wir wollen keine Zuwan- lichkeit sagen –, wenn Sie schreiben: derung in die Sozialsysteme, wir wollen eine Zuwande- rung in den Arbeitsmarkt, wir wollen Humanität und Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderun- Rechtsstaatlichkeit miteinander verbinden und wir wol- gen an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten ge- len mehr und nicht weniger für die Integration tun. Ich stellt werden. hoffe, wir kommen hier ein gutes Stück voran. Zu Deutsch: Sie wollen auch ein Bleiberecht für die- Herzlichen Dank. jenigen, die ihren langen Aufenthalt vorsätzlich selbst verschuldet haben, die selbst verschuldet haben, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ihre Kinder in einem für sie fremden Land aufwachsen mussten. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wer über seine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Identität nachhaltig getäuscht hat, wer sich dagegen zur Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der Wehr gesetzt hat, dass Passersatzpapiere ausgestellt wer- FDP-Fraktion. den, wer sich durch Untertauchen einer möglichen Ab- schiebung entzogen hat, der kann doch nicht im Ernst (Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler ein Bleiberecht bekommen! [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stell das alles einmal richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): müssen die Begründung lesen! Da haben wir das erläutert!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP begrüßt es, dass die Innenministerkonferenz einen Das wird mit der CDU/CSU nicht zu machen sein! Beschluss über eine Bleiberechtsregelung gefasst hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7039

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Das war überfällig und hat meiner Meinung nach etwas (Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler (C) zu lange gedauert. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht bei Geduldeten!) Dadurch wird langjährig geduldeten Ausländern die Chance auf einen Daueraufenthalt gegeben, wenn sie Die Grünen erwecken mit ihrem Antrag den Ein- wirtschaftlich und sozial faktisch in der Bundesrepublik druck, Geduldete könnten sich allein dadurch, dass sie integriert sind. Mit einer solchen Bleiberechtsregelung sich acht Jahre lang hierzulande aufgehalten haben, ohne werden in vielen Tausenden Fällen für beide Seiten kost- aktiv etwas für ihre Integration zu tun, einen Anspruch spielige und nervenaufreibende Streitigkeiten über das auf ein Bleiberecht erwirken. Das erscheint mir wenig Aufenthaltsrecht von Menschen beendet, die in Wahrheit plausibel. Die Integration ist das entscheidende Merk- längst Teil unserer Gesellschaft sind. Den Betroffenen mal. Dabei ist Arbeit aber ein entscheidender Faktor. Da- und ihren Familien wird dadurch die notwendige Sicher- mit gebe ich Ihnen wieder Recht. heit für eine verlässliche Lebensplanung gegeben. Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigen- (Jörg Tauss [SPD]: Nur nicht in Baden- ständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist ein wichti- Württemberg!) ges Kriterium. Dies dient der Sicherstellung, dass keine – Herr Maurer, Entschuldigung, Herr Tauss, ich weiß gar Überinanspruchnahme der Sozialleistungen oder ein nicht, warum Sie dazwischenrufen. Missbrauch erfolgt. Dies dient aber auch der Integration. Durch die Arbeit wird es den Zuwanderern ermöglicht, (Jörg Tauss [SPD]: Bitte nicht mit Herrn Mau- finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, wodurch nicht rer verwechseln!) nur das Selbstwertgefühl der Berufstätigen, sondern auch ihrer Familienangehörigen gefördert wird. Dane- – Entschuldigung. – In vielen Fällen dient die Bleibe- ben werden durch die Arbeit soziale Kontakte ermög- rechtsregelung auch den Interessen mittelständischer licht und eine Akzeptanz in der Bevölkerung geschaffen. Unternehmen, in denen die Betroffenen seit Jahr und Tag Dies ist auch im Interesse der Gesellschaft als Ganzes. arbeiten bzw. beschäftigt sind. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Die FDP fordert, dass der IMK-Beschluss von den GRÜNEN]: Das bestreitet ja niemand!) Ausländerbehörden wohlwollend umgesetzt wird. Vor allem das Kindeswohl muss wesentlicher Bestandteil der Im Zusammenhang mit der bundesgesetzlichen Rege- Entscheidungen sein. Die FDP fordert die Bundesregie- lung muss die Arbeitserlaubnis allerdings ohne Restrik- rung auf, jetzt schnellstmöglich eine gesetzliche Bleibe- tion mit dem Bleiberecht gekoppelt werden und im Vor- rechtsregelung zu schaffen. Eine bundesgesetzliche (B) feld müssen Hürden für den Zugang zum Arbeitsmarkt (D) Regelung hat gegenüber der Regelung durch die Innen- beseitigt werden. minister den Vorteil der klaren Verbindlichkeit. Dies schafft Rechtssicherheit und macht die Regeln in rechts- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ staatlicher Weise transparent. Insofern stehen wir dem DIE GRÜNEN) Antrag der Grünen mit einer gewissen Sympathie gegen- über. Ansonsten ist das Erfordernis, selbst für den Lebensun- terhalt sorgen zu können, nicht praktikabel. Der sofor- Allerdings halten wir nichts davon, die Bedingung tige Zugang zum Arbeitsmarkt muss gewährleistet sein „gut integrierte Geduldete“ inhaltsleer zu lassen. und darf nicht durch Überbürokratisierung verhindert werden. (Ute Kumpf [SPD]: Was macht ihr denn in Ba- den-Württemberg?) Der Antrag der Grünen erscheint uns alles im allem vorwiegend als Schnellschuss. Ich habe aber die Hoff- So lehnen die Grünen die von uns geforderte Mitwir- nung, dass es möglich sein wird, hier im Hause frak- kungspflicht leider ab. Natürlich weisen die Grünen zu tionsübergreifend eine konsensfähige Lösung zu finden, Recht darauf hin, dass der Zugang zu Sprachkursen und wenn sich sowohl Herr Winkler als auch Herr Grindel Arbeitsplätzen für Geduldete bislang erschwert oder so- gar unmöglich war. Allerdings reicht die Frist von knapp ein bisschen bewegen. einem Jahr durchaus aus, um Sprachkenntnisse zu er- Die FDP hat eine Kleine Anfrage an die Bundesregie- werben. Wenn ich mich richtig erinnere, dann lautete der rung gerichtet, um auszuloten, welche Chancen beste- Beschluss der Innenministerkonferenz, dass das Beste- hen, eine sachlich sinnvolle, möglichst weit reichende hen des Sprachkurses A 2 gefordert wird. Das ist keine und doch auch das Integrationserfordernis möglichst klar riesige Hürde. präzisierende Bleiberechtsregelung zu finden. Wer sich sechs oder gar acht Jahre lang geduldet im Wir hoffen, dass es der Bundesregierung gelingt, kon- Land aufgehalten hat, der kann nach dem Zuwande- sensfähige Vorschläge zu unterbreiten. Die FDP wird rungsgesetz auch ohne Betreuung in staatlichen Kursen diesbezüglich parlamentarische Beratungen konstruktiv Deutsch gelernt haben. Es gibt jedenfalls sehr viele gute begleiten. Beispiele dafür. Ich denke, wir sollten die Integration nicht nur als eine Bringschuld des Staates ansehen, son- Vielen Dank. dern vor allem die aktive Mitwirkung der Zuwanderer einfordern. (Beifall bei der FDP) 7040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen der betroffenen Menschen –, eine umfassende und (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der klare Bleiberechtsregelung zu finden. SPD-Fraktion. Jetzt komme ich zu einem Punkt, bei dem ich mögli- (Beifall bei der SPD – Josef Philip Winkler cherweise zu seinem Erstaunen feststelle, dass Herr [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sag mal was Grindel Recht hat. Der Innenministerbeschluss ist in zu dem Bundesgesetz!) einem entscheidenden Punkt besser, als ich hier noch am 9. November eher kritisch-sorgenvoll angemerkt habe. Er ist deswegen besser, weil er nicht nur diejenigen be- Rüdiger Veit (SPD): günstigt, die tatsächlich bereits eine Arbeit haben bzw. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- an dem darauf folgenden Montag Arbeit gehabt haben, nächst einmal darf ich – ohne oberlehrerhaft wirken zu sondern weil er den Betroffenen, die über eine Duldung wollen – die Gelegenheit nutzen, um eine Korrektur an- verfügen, die Möglichkeit gibt, bis zum 30. September zubringen. Lieber Josef Winkler, wenn wir über das 2007 eine Arbeit zu suchen, um ihnen dann eine Aufent- Bleiberecht für langjährig in Deutschland geduldete haltserlaubnis zu geben, aus der wiederum die Berechti- Ausländerinnen und Ausländer reden, dann handelt es gung zum gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt sich nicht um einen – wie von Ihnen versehentlich gesagt folgt. Ich finde, dass dieser Punkt eine besondere Bedeu- worden ist – rechtswidrigen, sondern um einen rechtmä- tung hat und vielleicht sogar eine gewisse Trendwende ßigen Aufenthalt. Das ist sicherlich ein Lapsus Linguae, darstellt. den Sie hoffentlich im Protokoll korrigieren, damit nicht andere Sie womöglich daran festmachen, was sicherlich Ich bin mir auf der anderen Seite – aus der Sicht der weder in Ihrem noch in meinem Interesse wäre. Arbeitgeber – aber auch darüber klar, dass jemand, der nur eine Duldung vorweisen kann, bei der heutigen Ar- Meine zweite Bemerkung zu meinen Vorrednern rich- beitsmarktlage größere Schwierigkeiten hat, Arbeit zu tet sich an Herrn Grindel. Ich bin es fast ein bisschen finden, als jemand, der über eine Aufenthaltserlaubnis leid, dass bei diesem Thema immer wieder von der verfügt und einige Jahre bleiben kann. Zuwanderung in die Sozialsysteme die Rede ist, und zwar deswegen, weil die Leute schon da sind. Die Optimisten und Gutgesonnenen gehen davon aus, dass aufgrund der von der IMK beschlossenen Bleibe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartfrid rechtsregelung vielleicht sogar 40 000 bis 60 000 Men- Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ja!) schen in Deutschland bleiben können. Ich fürchte hinge- Sie sind schon in den sozialen Sicherungssystemen, so- gen, dass diese Zahl deutlich zu hoch gegriffen ist. Aber weit sie noch keine Arbeit haben. das sind alles Spekulationen. Es bleibt abzuwarten, wie (B) die Regelungen in den einzelnen Bundesländern ange- (D) Deswegen ist es nicht richtig, zu sagen, sie kämen zu wandt werden. Das wird sicherlich sehr unterschiedlich uns, um Sozialhilfe zu beantragen. Sie sind nämlich gehandhabt. schon da. Insgesamt sind es ungefähr 200 000, darunter rund 50 000 Kinder und Jugendliche. Dass sie nicht ar- Die Innenminister selber, aber auch die Bundespoliti- beiten dürfen und damit außerstande sind, für sich und ker betrachten die Regelung mittlerweile ganz entspannt ihre Familien den Lebensunterhalt zu bestreiten – es als einen ersten, aber wichtigen Schritt, Herr Winkler. wurden bereits einige Fallbeispiele genannt –, haben wir Sie meinen nicht unbedingt, dass man uns damit in den als Gesetzgeber verursacht. Das ist die Krux. Rücken fällt. Ich hatte am 9. November dargelegt, wie meine kritischen Bemerkungen zu dem, was aus der Be- (Beifall bei der SPD, der FDP und dem schlussfassung der Innenministerkonferenz drohte, ein- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zuordnen sind und warum ich glaube, dass eine gesetzli- che Regelung in der Tat besser wäre. Ich will Ihnen Ansonsten ist es schon fast ein Quantensprung in der gerne sagen, wo nach meiner persönlichen Meinung eine öffentlichen und auch politischen Diskussion in diesem gesetzliche Altfallregelung – inwieweit wir das in der Hause, wenn wir im Einzelnen über die Frage diskutie- Koalition durchsetzen können, ist eine ganz andere ren, wie ein Bleiberecht gewährt werden soll. Denn ich Frage – mehr Klarheit bringen könnte und wie wir sie erinnere mich noch an Zeiten, als es nicht unter allen umfassender ausgestalten könnten. Eigentlich wäre wün- Fraktionen im Deutschen Bundestag üblich war, festzu- schenswert gewesen, nicht mit einer Mindestaufenthalts- stellen, dass wir ein Bleiberecht wollen. Vielmehr gab es frist von sechs oder acht Jahren zu operieren, sondern einige – ich will jetzt keine Namen oder Fraktion nennen –, – um möglichst viele Menschen zu erfassen – von vier die die Notwendigkeit dringend bestritten haben. Jahren bei Familien mit minderjährigen Kindern und von (Zuruf des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] sechs Jahren bei Alleinstehenden auszugehen. Ich hoffe, [FDP]) dass wir die Kraft haben, den Bezug von lediglich ergän- zender Sozialhilfe – Herr Grindel, Sie haben das dan- – Richtig. Heute sagen das alle – auch die ganz Forschen kenswerterweise schon in die IMK-Regelung hinein- und Mutigen –, Gott sei Dank. Ich habe immer noch im interpretiert; ich bin nicht ganz so optimistisch – Ohr, was früher gesagt wurde: Vielleicht können wir ir- durchzusetzen. Eines ist jedenfalls völlig klar. Nicht nur gendwann 10 Prozent der 200 000 abschieben; wenn wir für die Betroffenen, sondern für uns alle und insbeson- großes Glück haben, sind es 20 Prozent. Deswegen muss dere für die sozialen Sicherungssysteme ist es allemal es in unser aller Interesse sein – nicht nur, aber auch we- besser, wenn Familien ihren Lebensunterhalt überwie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7041

Rüdiger Veit (A) gend selbst bestreiten können und vielleicht lediglich in Lassen Sie mich zum Schluss zu dem kommen, was (C) der Spitze auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind. Bundesminister Franz Müntefering gerade erarbeitet. Ich Das ist weniger und – mit Verlaub – billiger, als wenn sie halte es für richtig und vernünftig, dass seine Position dem Staat völlig auf der Tasche liegen, weil sie gar lautet: Wir wollen mindestens 100 000 von den rund nichts anderes dürfen. 200 000 in Deutschland geduldeten ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern hier dauerhaft inte- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) grieren. Wir wollen ihnen eine Aufenthaltserlaubnis ge- ben. Ich kann das nicht ausschließlich von dem K.-o.- Unterschiedlicher Auffassung mögen wir in der Frage Kriterium „vorhandener Arbeitsplatz“ abhängig machen, sein, wie Familienangehörige zu behandeln sind, wenn sondern ich muss ihnen auch dann eine Arbeitserlaubnis sich Vater oder Mutter im Rahmen eines Verwaltungs- geben, wenn sie einen Arbeitsplatz in Aussicht haben verfahrens nicht ganz korrekt verhalten haben oder wenn oder sich zumindest sehr ernsthaft und intensiv um einen ein Mitglied der Familie straffällig geworden ist. Wir Arbeitsplatz bemühen. Es gibt genügend Möglichkeiten, Sozialdemokraten sind der Meinung, dass das nicht das zu kontrollieren. Über diese Formulierungen sind zwangsläufig dazu führen darf, dass alle anderen Fami- wir intensiv im Gespräch. Ich hoffe, dass wir zu Lösun- lienmitglieder sozusagen im Wege der Sippenhaft von gen kommen. Dabei wäre es aus Sicht der SPD-Fraktion der Anwendung der Bleiberechtsregelung ausgeschlos- ein nicht zu unterschätzender Preis und keinesfalls be- sen sind. Hier brauchen wir differenzierte Regelungen. grüßenswert, wenn man das Asylbewerberleistungsge- Ich persönlich betone: Wenn sich ein einziges Familien- setz ändern müsste. Wünschenswert wäre, wenn wir zu mitglied entgegen unserer Rechtsordnung verhalten hat dem Ergebnis kämen: Wer sich vier Jahre in Deutsch- oder verhält, dann darf das nicht bedeuten, dass der ge- land geduldet aufgehalten hat, der soll einen gleichbe- samten Familie gesagt wird: Ihr habt Deutschland sofort rechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Das fände zu verlassen. ich wichtig und erfreulich. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Zum Schluss zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollegen von den Grünen: Ihr Antrag ist wegen seiner Argumentation zur Unterstützung des gemeinsamen An- Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen, liegens, von dem ich eingangs sagte, dass es erfreulich der nach meinem Dafürhalten in der Innenministerrege- ist, dass wir alle darüber reden und im Grundsatz einer lung ein bisschen vernachlässigt wurde. Das ist die Meinung sind, willkommen. Aber, in aller Bescheiden- Frage, wie wir die als Minderjährige ganz allein nach heit, wir hätten dieser Unterstützung nicht unbedingt be- Deutschland eingereisten jungen Leute behandeln. Wenn durft, weil wir uns seit Monaten in intensiven Gesprä- (B) wir mit sehr viel Geld dafür gesorgt haben, dass junge chen mit unserem neuen Koalitionspartner um eine (D) Menschen, die mit zwölf, 13 oder 14 Jahren hierher ge- Lösung bemühen. Lassen Sie uns das weiter auf dieser kommen sind, keine Verwandten mehr weder im Her- Ebene verfolgen. Dann mag vielleicht etwas Vernünfti- kunftsland noch irgendwo sonst auf der Welt haben und ges für die Betroffenen und unsere Gesellschaft dabei vielleicht schon ihren Schulabschluss hier gemacht ha- herauskommen. ben – manche haben erst in Deutschland eine Schule Danke schön. kennen gelernt –, beispielsweise in stationären Einrich- tungen der Jugendhilfe bei uns integriert wurden, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kann es nicht richtig sein, den Betreffenden zu sagen: In der CDU/CSU und der Abg. Irmingard dem Augenblick, in dem ihr volljährig werdet, ist jeder Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schutz weg und ihr habt Deutschland sofort zu verlas- NEN]) sen. – Das ist inhuman und absolut unvernünftig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/ Die Rede der Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion DIE GRÜNEN) Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1) Noch einmal: Es darf nicht wahr sein, dass wir zuerst (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Tausende im Monat ausgeben, diese Menschen in Damit schließe ich die Aussprache. Deutschland zu integrieren, um dann die ganze staatliche Energie darauf zu verwenden, sie loszuwerden, und zu Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf sagen: Wenn ihr volljährig seid, interessiert uns das alles Drucksache 16/3340 an die in der Tagesordnung aufge- nicht; dann geht dorthin, wo immer ihr jemanden findet. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- – Wahrscheinlich finden sie hier niemanden. Dafür brau- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. chen wir entweder eine Regelung in § 25 Abs. 5 des Jetzt haben wir noch fünf Tagesordnungspunkte, die Aufenthaltsgesetzes – das würde ich eindeutig bevorzu- alle zu Protokoll genommen werden. Ich bitte Sie, trotz- gen – oder zumindest eine klare Regelung im Gesetz dem noch anwesend zu bleiben, damit wir das formal über die Altfälle. Ich meine, dass hier eine Mindestver- richtig zu Ende bringen können. weildauer von vier Jahren ausreichend wäre.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) 1) Anlage 8 7042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: reiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Umweltfreundliche Stromversorgung von und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Schiffen in Häfen unterstützen Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Ing- – Drucksache 16/2791 – bert Liebing, Katherina Reiche (Potsdam), weite- Überweisungsvorschlag: rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Bülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und der Fraktion der SPD Bei den Reden, die zu Protokoll genommen werden, handelt es sich um die Reden der Kollegen Enak Ferle- Sensible Ökosysteme in der Tiefsee besser mann, CDU/CSU, Annette Faße und Dr. Margrit Wetzel schützen von der SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP, Dorothée – Drucksachen 16/3089, 16/3624 – Menzner, Die Linke, und Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.2) Berichterstattung: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Abgeordnete Ingbert Liebing schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Dirk Becker Drucksache 16/2736 zu dem Antrag der Fraktion der Angelika Brunkhorst FDP mit dem Titel „Defizite im Kampf gegen Trunken- Eva Bulling-Schröter heitsfahrten in der Seeschifffahrt beseitigen“. Der Aus- Cornelia Behm schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1158 Die Reden, die zu Protokoll genommen werden, sind abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- von den Kollegen Ingbert Liebing, CDU/CSU, Gabriele lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Groneberg und Dirk Becker von der SPD, Angelika schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und Brunkhorst, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.1) Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Tagesordnungspunkt 22 b: Interfraktionell wird Über- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit weisung der Vorlage auf Drucksache 16/2791 an die in auf Drucksache 16/3624 zu dem Antrag der Fraktionen der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- (B) (D) der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Sensible gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Ökosysteme in der Tiefsee besser schützen“. Der Aus- Dann ist so beschlossen. schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3089 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion richts des Ausschusses für die Angelegenheiten Die Linke, im Übrigen mit den Stimmen aller anderen der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu der Fraktionen angenommen. Unterrichtung durch die Bundesregierung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- schen Parlaments und des Rates zur Einrich- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tung des Europäischen Fonds für die Anpas- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und sung an die Globalisierung (inkl. 7301/06 Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag ADD 1, 7301/06 ADD 2 und 7301/06 ADD 3) der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Pa- trick Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer KOM (2006) 91 endg.; Ratsdok. 7301/06 Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksachen 16/1207 Nr. 1.12, 16/3639 – Defizite im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten Berichterstattung: in der Seeschifffahrt beseitigen Abgeordnete Veronika Bellmann Dr. Martin Schwanholz – Drucksachen 16/1158, 16/2736 – Markus Löning Alexander Ulrich Berichterstattung: Rainder Steenblock Abgeordnete Annette Faße Es handelt sich bei den Reden, die zu Protokoll ge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder nommen werden, um die Reden der Kollegen Veronika Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hof- Bellmann, CDU/CSU, Dr. Martin Schwanholz, SPD,

1) Anlage 9 2) Anlage 10 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7043

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Markus Löning, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, und Rain- nette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate (C) der Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1) Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Stellungnahme anzunehmen. Wer stimmt für Den Fahrradtourismus in Deutschland umfas- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- send fördern haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der – Drucksache 16/3609 – Oppositionsfraktionen angenommen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Sportausschuss Haushaltsausschuss Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein- Ausschuss für Gesundheit fachung des Insolvenzverfahrens Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 16/3227 – Wir nehmen die Reden der Kollegen Jürgen Klimke, Überweisungsvorschlag: CDU/CSU, Gabriele Hiller-Ohm, SPD, Ernst Burgba- Rechtsausschuss (f) cher, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke und Dr. Anton Hof- Innenausschuss 3) Finanzausschuss reiter, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Wir nehmen die Reden der Kollegen Dr. Günter Drucksache 16/3609 zur Federführung an den Aus- Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD, Sabine Leut- schuss für Tourismus und zur Mitberatung an den Sport- heusser-Schnarrenberger, FDP, Wolfgang Nešković, ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo- Die Linke, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und gie, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für zu Protokoll.2) Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- wurfs auf Drucksache 16/3227 an die in der Tagesord- sung so beschlossen. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ist die Überweisung so beschlossen. (B) ordnung. (D) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 1. Dezember 2006, Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus 9 Uhr, ein. Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Fried- rich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Frak- Die Sitzung ist geschlossen. tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten An- (Schluss: 23.11 Uhr)

1) Anlage 11 2) Anlage 12 3) Anlage 13

Berichtigung 69. Sitzung, Seite 6857 (B), dritter Absatz, der zweite Satz ist wie folgt zu lesen: „Dass das Ministerium ein großes Interesse hat, zügig zu einer Regelung zu kom- men, die § 9 b des Atomgesetzes entspricht – es muss sich um eine Lösung handeln, die die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge ga- rantiert –, dürfte sich daraus ergeben.“ und (D), zweiter Absatz, der erste Satz ist wie folgt zu le- sen: „Ich bleibe dabei, dass nach § 9 b des Atomgesetzes die Verpflichtung besteht, den Planfeststellungsbe- schluss für ein Endlager nur dann zu erteilen, wenn opti- mal Vorsorge nach Stand von Technik und Wissenschaft gegeben ist.“

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7045

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Binder, Karin DIE LINKE 30.11.2006 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 30.11.2006

Bluhm, Heidrun DIE LINKE 30.11.2006 Spanier, Wolfgang SPD 30.11.2006

Bollen, Clemens SPD 30.11.2006 Steppuhn, Andreas SPD 30.11.2006

Bülow, Marco SPD 30.11.2006 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 30.11.2006 DIE GRÜNEN Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 30.11.2006 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 30.11.2006 Dagdelen, Sevim DIE LINKE 30.11.2006 Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 30.11.2006 Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 30.11.2006 Margareta DIE GRÜNEN

Dobrindt, Alexander CDU/CSU 30.11.2006 Zeil, Martin FDP 30.11.2006

Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 30.11.2006 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 30.11.2006 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 30.11.2006

Glos, Michael CDU/CSU 30.11.2006 Anlage 2

(B) Heilmann, Lutz DIE LINKE 30.11.2006 Erklärung nach § 31 GO (D) Hilsberg, Stephan SPD 30.11.2006 des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Siebten Hoff, Elke FDP 30.11.2006 Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen- Gesetzes (Tagesordnungspunkt 9) Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 30.11.2006 DIE GRÜNEN Ich werde dem Stasi-Unterlagen-Gesetz (Siebtes Ge- setz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes) nicht Kunert, Katrin DIE LINKE 30.11.2006 zustimmen. Merten, Ulrike SPD 30.11.2006 Für mich geht es bei dieser Entscheidung um eine Frage des Rechtes, nicht um eine politische Frage. „Ver- Möller, Kornelia DIE LINKE 30.11.2006 jährung hat einen rechtspolitischen Sinn. Sie verzichtet der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens wegen auf Pflug, Johannes SPD 30.11.2006 die letzte Gerechtigkeit“. (Thomas Dehler) Pronold, Florian SPD 30.11.2006 Im „Tagesspiegel“ vom 3. November 2006 schreibt Reiche (Potsdam), CDU/CSU 30.11.2006 Professor Richard Schröder: „Zum Rechtsstaat gehört Katherina der Gedanke der Verjährung. Aber die Opfer fühlen sich beleidigt! Die Erfindung des unabhängigen Richters vor Reinke, Elke DIE LINKE 30.11.2006 einigen tausend Jahren beruht auf der Einsicht, dass die Wiederherstellung der Gerechtigkeit bei den Opfern Röspel, René SPD 30.11.2006 nicht in den besten Händen ist.“

Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 30.11.2006 Jedem Versuch einer Verlängerung der Verjährung Claudia DIE GRÜNEN mit rückwirkender Kraft werde ich nicht zustimmen. Rechtsstaatlicher Grundsatz ist, dass kein Gesetzgeber Dr. Scheer, Hermann SPD 30.11.2006 unter dem Eindruck von bereits abgeschlossenen Vor- gängen neue Gesetze erlässt. Das soll jedoch mit dem Schmidt (Nürnberg), SPD 30.11.2006 Siebten Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Ge- Renate setzes geschehen. 7046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Anlage 3 EU-Prospektrichtlinie beschlossen, eine endgültige Ent- (C) scheidung über die weitere Anerkennung der US-GAAP Erklärung nach § 31 GO innerhalb der EU erst Ende 2008 zu treffen. Im Vorfeld des Abgeordneten Detlef Parr (FDP) zur Ab- dieser Entscheidung hat Frau Ministerin Zypries in stimmung über den Entwurf eines Siebten Ge- einem gemeinsamen Schreiben mit Herrn Minister setzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Ge- Steinbrück an EU-Kommissar McCreevy darauf hinge- setzes (Tagesordnungspunkt 9) wiesen, dass dies zwar akzeptabel sei, aber jedenfalls Ende 2008 gleiche Voraussetzungen vorliegen müssten Versehentlich habe ich mich bei der gestrigen Abstim- mung im mitberatenden Sportausschuss bei der Drucksa- In Anbetracht des Zeitplans und der bereits laufenden che 16/2969 enthalten. Meine Enthaltung bezog sich al- Bemühungen ist keinesfalls erkennbar, warum in dieser lerdings auf einen Änderungsantrag von Bündnis 90/ Sache nun akuter Handlungsbedarf für den Zeitraum der Die Grünen, nicht jedoch auf die Novellierung des Stasi- deutschen Präsidentschaft in EU und G 8 bestehen soll. Unterlagen-Gesetzes. Diesem Gesetz stimme ich – wie In Teilbereichen wäre eine gesonderte deutsche Prä- die gesamte FDP-Bundestagsfraktion – zu. Diese Ab- sidentschaftsinitiative sogar hinderlich, wenn eine stimmung ist belegt durch zahlreiche öffentliche Äuße- Fortentwicklung der IFRS unter stärkerer Berücksichti- rungen zu diesem Thema, die in der Presse nachlesbar gung der Interessen deutscher Unternehmen, und hier sind. insbesondere des deutschen Mittelstandes, erfolgen soll. Eine Initiative durch Deutschland während der Rats- präsidentschaft, wie die FDP es vorschlägt, würde doch Anlage 4 als plumper Versuch erkannt, einseitig deutsche Interes- sen durchsetzen zu wollen, und wäre damit von vornhe- Zu Protokoll gegebene Reden rein zum Scheitern verurteilt. zur Beratung des Antrags: Fortentwicklung der Internationalen Rechnungslegungsstandards im Hier gibt es weitaus elegantere und erfolgverspre- Rahmen der Präsidentschaft Deutschlands in chendere Wege. Selbstverständlich bemüht sich die deut- EU und G 8 thematisieren (Tagesordnungs- sche Regierung, die Belange deutscher Interessen so punkt 16) weit wie möglich einzubringen. Dies geschieht auch bereits auf zwei Wegen: Über die „private Schiene“ ar- beitet das Deutsche Rechnungslegungs Standards Com- Klaus Uwe Benneter (SPD): Wenn ich mir den An- mittee, DRSC, der deutsche privatrechtlich organisierte trag „Fortentwicklung der Internationalen Rechnungs- Standardsetter für Rechnungslegung, mit dem BMJ stän- (B) legungsstandards im Rahmen der Präsidentschaft dig und eng zusammen an der Erarbeitung der Standards (D) Deutschlands in EU und G 8 thematisieren“ zu Gemüte des IASB und bringt hierbei deutsche Positionen ein. führe, fallen mir viele Spruchweisheiten ein. Unweiger- Über die „Regierungsschiene“ bringt die Bundesregierung lich fühle ich mich durch den Antrag an „des Kaisers entsprechende Standpunkte in den EU-Regelungsaus- neue Kleider“ erinnert. Denn er erweckt den Eindruck schuss für Bilanzrecht ein. Dieses Gremium entscheidet eines neuen, prächtigen Gewandes, doch bei näherer Be- im Rahmen des so genannten Komitologie-Verfahrens trachtung zeigt sich, dass die aufgeworfenen Fragen und über die Übernahme der einzelnen IASB-Standards in Problemstellungen alte Hüte sind. Auch die Geschichte das europäische Recht. von „Hase und Igel“ bietet sich an. Manchmal drängt es sich einfach auf, dass nur vorgetäuscht werden soll, hier Die Erfolgsaussichten einer Initiative der Bundesre- sei jemand schon immer vorn gewesen. gierung können zudem erst dann beurteilt werden, wenn Wie Sie sehr wohl wissen, rennen Sie von der FDP ein konkreter IASB-Entwurf vorliegt. Die Entwicklung mit Ihrem Antrag offene Scheunentore ein. Ich muss Sie des künftigen IASB-Standards „IFRS für KMU“ wird doch nicht daran erinnern, dass Sie es selbst waren, die derzeit im IASB fertig gestellt und wird voraussichtlich bereits mehrfach die Bundesregierung zu diesem The- im ersten Quartal 2007 der Öffentlichkeit vorgestellt menkomplex um Stellungnahmen gebeten haben. Daher werden. Erst dann wird sich ein konkreter Handlungs- ist Ihnen auch sehr wohl bekannt, dass sich die Bundes- bedarf abschätzen lassen können. regierung für die aufgeführten Ziele einsetzt und bereits Dessen ungeachtet hat das BMJ in den letzten Mona- an einer Lösung der Fragen und Probleme längst konti- ten immer betont, dass die IFRS mit der starken Beto- nuierlich arbeitet. nung des Informationsgedankens jedenfalls derzeit nicht Die Bundesregierung hat mehrfach betont, dass die geeignet erscheinen, für die mittelständischen Unterneh- Fortentwicklung der „International Financial Reporting men eine geeignete Bilanzierungsgrundlage darzustel- Standards“, IFRS, für das Bilanzrecht und die Bilanzie- len. Gerade deshalb bereiten wir den Entwurf des rung deutscher Unternehmen in der Tat sehr wichtig ist. Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes vor, der – ohne Auch die gegenseitige Anerkennung der IFRS und US- Aufgabe der bisher in Deutschland geltenden Bilanzie- amerikanischen Rechnungslegungsstandards ist ein rungsprinzipien – durch maßvolle Änderung einzelner wichtiges Ziel und daher auch in der Koalitionsvereinba- HGB-Vorschriften dazu führen soll, dass mittelständi- rung ausdrücklich erwähnt. Indessen hat aber die EU schen Unternehmen mit dem HGB-Bilanzrecht eine gerade vor einigen Wochen im Rahmen von Ausfüh- vollwertige Alternative zu den IFRS zur Verfügung rungsbestimmungen zur EU-Transparenzrichtlinie und steht. Ich verweise diesbezüglich auf die Ausführungen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7047

(A) aus dem Hause der Bundesministerin der Justiz und auf lichung von Unternehmen: Einzelne Geschäftsfelder oder (C) die vorliegenden Antworten der Bundesregierung. Unternehmenssteile werden in einen schädlichen Wettbe- werb zueinander gestellt, Unternehmen konzentrieren Der FDP-Antrag ist Rosstäuscherei. Niemand muss sich zunehmend auf das Kerngeschäft, Kapitaleigner er- uns im Zusammenhang neuer Rechnungslegungsvor- höhen ihren Einfluss zuungunsten von Managern und Ar- schriften auf internationale Gegebenheiten hinweisen. beitnehmervertretern und überhöhte Renditeansprüche Der heimische Mittelstand ist bei uns in guten Händen. führen zum Druck auf Löhne und die Arbeitsbedingun- Der Liebesdienerei der FDP bedarf der deutsche Mittel- gen der Beschäftigten. stand schon gar nicht. Rechnungslegungsstandards sind einerseits ein Teil dieses Problems. Andererseits würden transparente Un- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Die Bundestags- ternehmensberichte zwar an dieser falschen Ausrichtung fraktion Die Linke steht dem Konzept des Shareholder- am kurzfristigen Cashflow nichts ändern; aber sie eröff- Value, das einseitig auf die Steigerung des Marktwertes nen zumindest die Möglichkeit für Investoren, Gläubiger, von Unternehmen abzielt und die Managemententschei- aber eben auch für kritische Aktionäre oder Arbeitneh- dungen stärker als bisher an die Interessen der Kapi- mervertreter in den Aufsichtsräten, die Geschäftsprakti- taleigner, Shareholder bindet, kritisch gegenüber. Die ken und Zahlen kritisch zu prüfen. Dies gilt besonders für Diskussion um internationale Rechnungslegungsstan- European Works Councils, die Daten zum gesamten Kon- dards ist eng mit dem Trend zu einer so genannten wert- zern, seinen Segmenten und Einzelunternehmen in den orientierten Unternehmensführung verbunden. Spätes- verschiedenen Ländern brauchen. Wo Unklarheit über die tens durch die Bilanzskandale um Enron, Worldcom und wahre wirtschaftliche Situation von Unternehmensteilen andere Unternehmen rückten Fragen der Untemehmens- besteht, fällt es den Konzernleitungen leichter, die Beleg- berichterstattung und damit verbunden auch der Cor- schaften von Tochterunternehmen gegeneinander auszu- porate Governance in den Blickpunkt einer größeren Öf- spielen. Deshalb unterstützen auch die Gewerkschaften fentlichkeit. Zahlreiche Unternehmen versuchten und im Prinzip eine internationale Vereinheitlichung von versuchen immer noch durch fragwürdige Bilanzie- Rechnungslegungsstandards. rungsmethoden Umsätze und Gewinne aufzublähen und dadurch die Aktienkurse zu steigern. Das Platzen der Allerdings müssen die lAS-Regeln dringend verän- New-Economy-Spekulation hat Tausenden Beschäftig- dert werden: Immer noch gibt es zu viele Schlupflöcher, ten ihre Arbeitsplätze gekostet. Auslegungsschwierigkeiten und auch zu viele Ermes- sensspielräume bei der Bilanzierung, die eine Vergleich- Die FDP schweigt sich zu diesen Problemen in ihrem barkeit erschweren. Bei der Umstellung vom HGB auf Antrag aus. Stattdessen fordert sie die Bundesregierung das IFRS gilt es zu beachten, dass das deutsche Bilanz- (B) (D) dazu auf, bei der Internationalisierung von Rechnungsle- recht vom Vorsichtsprinzip geprägt ist, das Kapitalerhal- gungsvorschriften deutsche Interessen stärker zu berück- tung und Gläubiger sichern will. Die Bilanzregeln nach sichtigen. Das geht nicht nur am Problem vorbei, son- IFRS beinhalten dagegen mehr Informationen als die dern weist in eine völlig falsche Richtung! Rechnungslegung nach dem Handelsgesetzbuch, HGB. Auf EU-Ebene wurden in den letzten Jahren intensive Insgesamt betrachtet sind die lAS-Regeln detaillierter Anstrengungen in Richtung einer internationalen Stan- und enger als das deutsche Handelsrecht. Ansatz- und dardisierung der Rechnungslegungsvorschriften betrie- Bewertungsspielräume sind geringer, steuerrechtlich ben, welche mit der Einführung der International Finan- verursachte Verzerrungen stark eingeschränkt. Die Ge- cial Reporting Standards, IFRS, seit Jahresbeginn 2005 winnermittlung hat realistischer zu erfolgen. Außerdem ihren bisherigen Höhepunkt erreichten – mit unabsehba- gehen die Offenlegungsregeln sehr viel weiter als im ren Auswirkungen auf die Corporate Governance, die HGB. Aber es gibt auch große Probleme: Wenn die Bil- Bewertung der Unternehmen an den Aktienmärkten, dung stiller Reserven erschwert wird und höhere Ge- Veränderungen der unternehmensinternen Steuerung und winnausweise zu höheren Ausschüttungsforderungen Berichterstattung und die Arbeitsbeziehungen. der Aktionären führen, entzieht das Unternehmen Liqui- dität. Unter dem Diktat des Shareholder-Value wird die Rendite der Anteilseigner heute immer mehr zur zentra- Damit sind wir bei den eigentlichen Problemen: Eine len Kennziffer für alle Unternehmensstrategien. Einer- öffentliche Debatte zu internationalen Rechnungsle- seits sollen Entscheidungen und Aktivitäten, die sich als gungsstandards in der auch die Sicht von Arbeitnehme- nicht hinreichend rentabel erweisen und unkalkulierbar rinnen und Arbeitnehmern an der Ausrichtung am Share- und mit hohem Risiko behaftet sind, vermieden werden. holder-Value zum Tragen kommt, kann nicht stattfinden, Andererseits wären nur solche Strategien zu verfolgen, weil der Regelsetzer IASB als privatrechtlicher Verein die sowohl kurzfristig als auch langfristig einen mög- nationaler Verbände von Rechnungslegern und Wirt- lichst hohen verfügbaren Cashflow erbringen und damit schaftsprüfern organisiert ist. Private Standardsetzer wie den Unternehmenswert am Kapitalmarkt steigern. auch der US-amerikanische FASB, Financial Accoun- Gleichzeitig wird ein „Ausschüttungsautomatismus“ eta- ting Standards Board, sind beeinflussbar und eben nicht bliert, um das Wachstum der stillen Reserven zu be- unabhängig. Das hat der Enron-Skandal in den USA grenzen bzw. den Kapitalgebern zugänglich zu machen. deutlich gezeigt. Pikanterweise versuchte der Vorsit- zende des IASB, Paul Volcker, ein Vordenker der neoli- Neben dem höchst spekulativen Charakter solcher beralen Wende Ende der 70er-Jahre, noch im Februar Kennziffern führt dieses Konzept zur internen Vermarkt- 2001, Enron zu einer Spende für die Arbeit des IASB zu 7048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) bewegen. Enron war dem nicht abgeneigt, wollte aber folglich aussuchen, ob sie nach den neuen IFRS oder (C) wissen, inwieweit mit einer Spende Einfluss auf die Ar- weiterhin nach HGB-Regeln bilanzieren wollen. beit des IASB möglich wäre. Dies alles verschweigt die Wir haben dies bewusst so entschieden; denn die FDP natürlich und fordert die Bundesregierung lediglich Standards sind hoch komplex, einer fortwährenden auf, für eine langfristige und stabile Finanzierung der Überarbeitung unterworfen und schaffen in erster Linie IASB einzutreten. Am Skandal der privatwirtschaftli- Transparenz für Investoren und Anleger – sind also mehr chen Finanzierung dieses Gremiums und den damit ver- auf die Bedürfnisse am Kapitalmarkt als an die der klei- bundenen Abhängigkeiten ändert die FDP damit nichts. nen und mittelständischen Unternehmen zugeschnitten. Die einzelnen Standards des IASB gehen über einen Anlässlich der Bilanzrechtsreform hat der Bundestag so genannten Endorsement-Prozess in EU-Verordnungen 2005 die Bundesregierung aufgefordert, die Anwendung direkt in europäisches Recht und damit in nationales internationaler Rechnungslegungsstandards in Deutsch- Recht über. Hier wäre anzusetzen; denn der IASB ist ein land sachgerecht und transparent fortzuentwickeln. Un- undemokratisches Gremium. Nach unserer Auffassung ser damaliger Beschluss hat nichts an Aktualität verlo- ist es ein fataler Rückzug des Staates aus seiner Verant- ren: Er ist darauf gerichtet, die parlamentarische wortung, wenn Wirtschaftsprüfer bzw. deren Verbände Kontrolle bei der Standardsetzung zu verbessern. Noch nicht nur die Prüfung und Testierung von Unterneh- immer werden die IFRS von einem kleinen Gremium mensbilanzen hoheitlich übertragen bekommen, sondern – IAS-Board – nicht demokratisch gewählter Wirt- auch noch die internationalen Regeln dafür aufstellen. schaftsvertreter entwickelt, um dann ohne große öffentli- Die „Schriftgelehrten des Neoliberalismus“ – Rügemer – che Debatte ins europäische Recht zu „wandern“. Au- degenerieren so von einer Kontrollinstanz zu einem ver- ßerdem ist das IAS-Board angloamerikanisch geprägt längerten Arm der Unternehmensvorstände. Sie werden und berücksichtigt europäische Interessen und Marktge- vom Vorstand berufen und honoriert, der Folgeauftrag gebenheiten zu wenig. Die Bundesregierung sollte sich hängt vom Wohlverhalten gegenüber dem Auftraggeber deshalb für eine regional ausgewogene Zusammenset- ab. zung des Gremiums stark machen. Deshalb ist unsere Position klar: Wir brauchen eine Der Bundestagsbeschluss hat aber vor allem die Be- Initiative der Bundesregierung, die sich im Interesse der dürfnisse von kleinen und mittelständischen Unterneh- Stakeholder und hier vor allem der Arbeitnehmerseite men im Blick, die überwiegend die deutsche Wirtschaft dafür einsetzt, dass die Rechnungslegung und damit die prägen. Nach einer Studie der DIHK vom Juli 2005 zur Unternehmenspolitiken von Unternehmen transparent internationalen Rechnungslegung bei mittelständischen werden. Ein erster Schritt wäre, Gewerkschaften und Unternehmen sehen knapp 80 Prozent dieser Unterneh- (B) Parlamentarierinnen und Parlamentarier an der Diskus- men keinen Bedarf für eine Bilanzierung nach den gel- (D) sion und Ausarbeitung von Rechnungslegungsstandards tenden IFRS. Da einheitliche Standards aber generell zu zu beteiligen. Erst dann ließe sich auch über eine ange- höherer Transparenz und internationaler Vergleichbar- messene und zwischenstaatlich organisierte finanzielle keit von Unternehmensabschlüssen beitragen, sind sie Ausstattung dieser Gremien reden. auch für kleine und mittelgroße Unternehmen wün- schenswert. Deshalb müssen so genannte IFRS light ent- Eine gute Corporate Governance benötigt neben einer wickelt werden, die sich an den Bedürfnissen des Mittel- verbesserten Mitbestimmung natürlich auch unabhän- stands orientieren. gige Abschlussprüfer und ein starkes und unabhängiges Die Anwendung von IFRS light sollte aber freiwillig Überwachungsorgan. Die Adressaten von Jahresab- und die Möglichkeit zur ausschließlichen Anwendung schlüssen und Quartalsberichten – seien es Investoren, der HGB-Regeln erhalten bleiben. Die Komplexität der Gläubiger oder Arbeitnehmer – müssen auf die verant- Standards muss insgesamt reduziert werden. Sie müssen wortliche Wahrnehmung der Prüfungsaufgabe vertrauen für kleine und mittelständische Unternehmen praktikabel können. Dazu braucht es eine international vergleich- sein und auf die umfangreichen Angabepflichten der gel- bare, transparente Rechnungslegung und dazu braucht es tenden IFRS verzichten. Nur wenn es weniger Berichts- demokratisch legitimierte Gremien, die diese Regeln pflichten gibt, kann es für ein mittelständisches Unter- aufstellen. nehmen sinnvoll sein, die ohnehin mit Mehrkosten verbundene Umstellung auf das neue Bilanzierungssys- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die tem durchzuführen. Rechnungslegung in Unternehmen erfolgt zunehmend Wirf ordern die Bundesregierung deshalb auf, sich nach internationalen Standards, den so genannten IFRS, – auch im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft – bei International Financial Reporting Standards. Rot-Grün der Fortentwicklung der internationalen Rechnungsle- hat mit der Verabschiedung des Bilanzrechtsreformge- gungsstandards für mehr demokratische Kontrolle und setzes in der letzten Legislaturperiode kapitalmarkt- die Bedürfnisse von kleinen und mittelständischen Un- orientierte Unternehmen dazu verpflichtet, ab dem 1. Ja- ternehmen einzusetzen. Zusätzlich soll sie den Deut- nuar 2005 diese Standards für ihre Konzernabschlüsse schen Bundestag, wie in unserem Bundestagsbeschluss anzuwenden. Für alle anderen Konzernabschlüsse und gefordert, über den Bericht informieren, den die Kom- den Einzelabschluss haben wir, insbesondere zugunsten mission zur Funktionsweise der EU-Verordnung gegen- der kleinen und mittelständischen Unternehmen, ein über dem Europäischen Parlament und dem Rat zu er- Wahlrecht festgelegt. Diese Unternehmen können sich statten hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7049

(A) Anlage 5 Wir sollten das Gesetz zur Namensaktie in diesem (C) Sinne verbessern und uns fragen, ob nicht etwa die so Zu Protokoll gegebene Reden genannten freien Meldebestände verkleinert werden müssen, um den Unternehmen ein genaueres Bild über zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur ihre Aktionäre zu ermöglichen. Damit verbunden wäre Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des die Beförderung eines engen Verhältnisses zwischen Ak- Europäischen Parlaments und des Rates vom tionären und Unternehmen im Sinne einer langfristigen 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Zusammenarbeit, also dem Gegenteil der Shareholder- Transparenzanforderungen in Bezug auf In- Value-Strategie. formationen über Emittenten, deren Wertpa- piere zum Handel auf einem geregelten Markt Positiv ist auch der vorgesehene Bilanzeid zu bewer- zugelassen sind, und zur Änderung der Richtli- ten. Vorstände, die fürstlich bezahlt werden, müssen als nie 2001/34/EG (Transparenzrichtlinie-Umset- Gegenleistung auch eine entsprechende persönliche Ver- zungsgesetz – TUG) (Tagesordnungspunkt 17) antwortung übernehmen. Vor dem Hintergrund der an- dauernden und zum Teil als skandalös einzustufenden Gehaltssteigerungen der Vorstände ist das nur konse- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Was ist der Kern des quent. Vor allem für diejenigen, die von ihren Arbeitneh- Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes? Im Kern mern ständig mehr Leistung und Verantwortung einfor- spiegelt sich in der Transparenzrichtlinie der Konflikt dern. zwischen dem Finanzmarkt und dem gewerblichen Un- ternehmenssektor wider. Die zentrale Frage lautet: Wol- Mit unserer Philosophie überhaupt nicht vereinbar ist len wir dem Tatbestand weiter Vorschub leisten, dass das Herkunftslandprinzip. Wenn Transparenzrichtlinien Unternehmen aus den Spekulationszentralen auf den für hier gehandelte Unternehmen gelten, dann bitte schön Kaimaninseln, den Bahamas und sonst woher gesteuert für alle die gleichen. Deutschland als Schwergewicht und werden? Hat die Transparenzrichtlinie und das, was die mächtiger Player auf dem Weltmarkt sollte endlich die Bundesregierung darüber hinaus getan hat, die Gewichte vorhandenen Spielräume zur Re-Regulierung der Fi- zwischen den Unternehmen und damit zwischen den In- nanzmärkte nutzen und den Launen und Spekulations- teressen von Arbeitnehmern einer Region auf der einen blasen der Finanzmärkte Grenzen setzen. Die fortlau- Seite und den Interessen des Kapitalmarktes auf der an- fende Anpassung an die jeweils niedrigsten sozialen und deren Seite richtig verteilt? Wir meinen: Nein. Die Bun- ökologischen Standards muss beendet werden. Wir wol- desregierung hat sich hier nicht nur, aber vor allem in len kein sozial-ökologisches Race to the Bottom, sondern den Dienst der Spekulation, dubioser Hedge-Fonds und Standortbedingungen, die die nachhaltige Innovationsfä- (B) gieriger Private-Equity-Gesellschaften gestellt und die higkeit der Unternehmen und damit die Wettbewerbsfä- (D) Interessen der Unternehmen vernachlässigt. higkeit stärken. Diese Strategie steht eben nicht im Widerspruch zu den Arbeitnehmerinteressen. Sie steht Deutlich wird das zum Beispiel an der über die Richt- allerdings im Widerspruch zu den irrationalen Übertrei- linie hinausgehenden Forderung Quartals- und Halbjah- bungen der Finanzmärkte. Einer solchen Konzeption von resberichte mit einer steuerlichen Prüfung zu versehen. zukunftsfähiger und moderner Ökonomie wird die vorge- Das ist teurer und bürokratischer Unsinn zugunsten des legte Umsetzung der Transparenzrichtlinie leider nur in Finanzmarktes. Warum wollen die Bundesregierung und Ansätzen gerecht. Hier muss ein konsequenterer Weg be- die Europäische Kommission die Unternehmen ver- schriften werden. pflichten, ihre Prognosen und Unternehmensmitteilungen in den entferntesten Winkeln Europas für Hedge-Fonds Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mundgerecht zuzubereiten? Hier soll die Herrschaft des Heute verabschieden wir das Transparenzrichtlinie- Finanz- über das Realkapital, nennen Sie es Sharehoul- Umsetzungsgesetz – kurz TUG. Die damit umgesetzte der-Value, verfestigt werden. EU-Richtlinie ist Bestandteil des vom Europäischen Ich will hier nicht verschweigen, dass die Transpa- Rats beschlossenen Aktionsplans zur Verbesserung des renzrichtlinie auch wichtige und richtige Bestandteile Binnenmarkts für Finanzdienstleistungen. Sie zielt auf EU-weit einheitliche Regeln für die Berichtspflichten enthält, nämlich da, wo sie der Volkwirtschaft und – ich der Wertpapieremittenten ab. Kern der Regelungen sind betone – dem Volk nützt. Die diesbezügliche Senkung Bestimmungen zur Kapitalmarktpublizität und zu der Meldeschwelle für das Erreichen von bestimmten Stimmrechtsmitteilungen. Gemeinsam mit den Haf- Stimmrechtsquoten von fünf auf drei Prozent nützt den tungsbestimmungen für das Management sind das die Unternehmen. Das ist ein Beitrag, der das „Anschlei- wichtigsten Bereiche des Gesetzes. chen“ für Finanzinvestoren schwieriger macht. Wir be- grüßen es auch ausdrücklich, dass die Bundesregierung Im ersten Regierungsentwurf war geplant, die Halb- in diesem Punkt gegenüber dem Ansinnen des Bundesra- jahresberichte der Unternehmen einer verpflichtenden tes hart geblieben ist. Damit wird ein erster kleiner materiellen und formalen Prüfung zu unterziehen. Dieser Schritt unternommen, die Unternehmer im Kampf vor Vorschlag ist in der Anhörung von vielen Expertinnen unerwünschten und in den allermeisten Fällen schädli- und Experten weder als zielführend im Sinne von mehr chen bis desaströsen Übernahmeversuchen zu stärken. Transparenz angesehen worden, noch hatte er irgendet- Die Bundesregierung muss hier jedoch noch weiter ge- was mit dem Vorhaben der Bundesregierung zu tun, für hen. eine schlanke Bürokratie zu sorgen. Genau das Gegenteil 7050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) wäre nämlich der Fall gewesen: Mehrkosten für die Un- ten. Trotzdem hat die FDP laut aufgeschrieen: Wie bei (C) ternehmen und kaum Informationsgewinne für die An- anderen Gelegenheiten auch meint sie, dass mehr Trans- teilseignerinnen und Anteilseigner. Diese Regelung ist parenz automatisch zu weniger Wettbewerb führen auf Initiative der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen würde. Dabei ist das Gegenteil richtig: Nur wenn die und der Koalitionsfraktionen gestrichen worden. Den- Marktteilnehmer über möglichst viele relevanten Infor- noch sind börsennotierte Unternehmen mit der Vorlage mationen verfügen, können sie auch ihren eigenen Präfe- von Halbjahresberichten zu mehr Transparenz verpflich- renzen entsprechende Entscheidungen treffen – eine tet. Die Bilanzpolizei, also die Deutsche Prüfstelle für wichtige Voraussetzung für das Funktionieren von Rechnungslegung, wird allerdings nur bei konkretem Märkten. Mit dieser Vorschrift wird besser als bisher da- Anlass aktiv. Das ist im Sinne einer schlanken Bürokra- für gesorgt, dass sich Emittenten und Anlegerinnen und tie. Anleger auf Augenhöhe begegnen können. Um das korrekte Vorlegen von Bilanzen geht es auch Der Finanzplatz Deutschland wird gestärkt, weil er bei den Haftungsregelungen des Managements. Das Ge- nun noch besser in den EU-weiten Binnenmarkt inte- setz regelt die strafrechtlichen Bestimmungen bei griert ist. Deswegen werden wir diesem Gesetz zustim- Bilanzbetrug; das ist als Minimalanforderung notwen- men. dig. Wir wollen aber darüber hinaus gehen und haben die Bundesregierung deswegen aufgefordert, in einem eige- nen Gesetz zivilrechtliche Haftungsbestimmungen fest- Anlage 6 zulegen. Das würde dem Kampf gegen kriminelle Ma- chenschaften im Management der Unternehmen ein Zu Protokoll gegebene Reden weiteres Instrument in die Hand gegeben. Denn bei den zur Beratung des Antrags: Entschädigung für Haftungsregelungen für das Management bleibt das Ge- Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (Tages- setz bei der EU-Vorgabe stehen – leider. Dabei wäre an ordnungspunkt 18) dieser Stelle ein Schritt über die zurückhaltende europäi- sche Regelung hinaus sinnvoll gewesen. Die Anteilseig- nerinnen und Anteilseigner sollten im Schadensfall bei Günter Baumann (CDU/CSU): Der vorliegende Gericht direkt gegen die Verantwortlichen im Unterneh- Antrag lenkt unseren Blick mal wieder auf die Thematik men vorgehen können, Das haben wir in unserem Ent- des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik zur schließungsantrag deutlich gemacht. Denn nur wenn sie Zeit des Kalten Krieges. Es ist der Versuch, diejenigen, über dieses wirkungsvolle Instrument verfügen, wird es die erst einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat in den Unternehmen eine ausgeprägte Kultur der Sorg- beseitigen wollten und einen Unrechtsstaat nach DDR- (B) falt geben. Vorbild etablieren wollten, von Kollaborateuren zu Op- (D) fern zu stilisieren, nicht zuletzt um das sozialistische Re- Damit die größtmögliche Akribie des Managements gime der DDR mit dem der Bundesrepublik auf eine bei der Bilanzerstellung erfolgt, müssen Verstöße gegen Stufe zu stellen. In der 14. Wahlperiode bedienten sich dieses Prinzip mit deutlichen Sanktionen belegt werden die Antragsteller zur Begründung einer Gesetzesinitia- können. Das wäre mit der Möglichkeit einer zivilrechtli- tive der SED-Opfer, nun etliche Jahre später sollen es die chen Klage der Anlegerinnen und Anleger gegeben ge- Opfer nationalsozialistischer Verfolgung sein. Wie schon wesen. Eine Klagemöglichkeit nur gegen die Gesell- in der Debatte am 17. Juni 1992 wird die CDU/CSU- schaft genügt an dieser Stelle nicht. Denn – das haben Fraktion Ihren Antrag entschieden zurückweisen. Die uns die Erfahrungen aus der Zeit der New Economy ge- Opfer, die Sie in ihrem Antrag ansprechen, sind gerade zeigt – das Unternehmen ist unter Umständen im Falle keine Opfer einer Diktatur. einer Insolvenz nicht mehr greifbar und die Anteilseig- ner schauen dann in die Röhre. Deswegen wäre die Die KPD wurde 1956 durch das Bundesverfassungs- Schaffung einer Möglichkeit zum zivilrechtlichen Vor- gericht verboten, weil sie nach ihren Zielen und dem gehen für die Teilhaber ein sinnvoller Schritt gewesen. Verhalten ihrer Anhänger darauf aus war, die freiheitli- Sie hätte der Verantwortung des Individuums im Ma- che demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. nagement entsprochen. Allein dem Bundesverfassungsgericht obliegt dieses Entscheidungsmonopol nach Art. 21 Abs. 2 GG. Solange Die Koalitionsfraktionen behaupten, der nun vorlie- dies nicht geschehen ist, kann sich eine Partei in der Öf- gende Gesetzesentwurf sei eine Eins-zu-eins-Umsetzung fentlichkeit gegenüber der freiheitlichen demokratischen der EU-Vorgaben. Das ist wie so oft ein Irrtum. Denn Grundordnung noch so verfassungsfeindlich verhalten. schon allein dann, wenn die EU-Richtlinien Wahlrechte Das Gericht kann aber im Gegenzug eine Partei auch ermöglichen, kann ohnehin nicht mehr von einer Eins- dann für verfassungswidrig erklären, wenn nach zu-eins-Umsetzung gesprochen werden. menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer An einer Stelle haben wir von diesem Wahlrecht Ge- Zeit werde verwirklichen können. Damit spielte es aus brauch gemacht und die Meldeschwelle bei Stimm- damaliger Sicht gar keine Rolle, ob die KPD ihren Auf- rechtsänderungen von fünf Prozent auf drei Prozent ge- ruf zum „revolutionären Sturz Adenauers“ je in die Tat senkt. Das ist zu begrüßen, denn diese Vorschrift umsetzen konnte. verschafft den Anlegerinnen und Anlegern mehr Trans- parenz über die Eignerstruktur. Entsprechend können sie Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf dieser Information ihre Anlageentscheidung ausrich- zum KPD-Verbot kann aus heutiger Sicht nicht mehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7051

(A) aufgehoben werden und im Übrigen wollen wir dies Zweite Gesetz zur Änderung des Bundesentschädi- (C) auch nicht. Das verbietet uns schon das Prinzip der Ge- gungsgesetzes. waltenteilung. Somit ist auch die von ihnen geforderte Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes nicht Nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 Bundesentschädigungsgesetz durchsetzbar. Denn eines darf man nicht vergessen, das ist von der Entschädigung ausgeschlossen, wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheitlich-demokratische Grund- damals zur Anwendung gekommene politische Straf- ordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat. recht beruht auf einer rechtsstaatlichen Grundlage. Auch Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom wenn der Gesetzgeber 1968 mit dem Achten Strafrechts- 5. Juli 1973 muss der Betroffene bewusst das Ziel ver- änderungsgesetz rechtspolitisch gebotene Korrekturen folgt haben, mit seiner Tätigkeit einen aktiven Beitrag des politischen Strafrechts aus dem Jahr 1951 vorge- zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grund- nommen und mit dem Straffreiheitsgesetz eine Amnestie ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu leisten. geschaffen hat, sind die so genannten Staatsschutzurteile Eine strafrechtliche Verurteilung allein bildet keinen der 50er- und 60er-Jahre in einem rechtsstaatlichen Ver- Ausschlussgrund nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG. Der Rege- fahren erfolgt. lung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG liegt vielmehr die Erwä- Zum Schluss möchte ich betonen, dass mir in meiner gung zugrunde, dass es nicht gerechtfertigt ist, einer Per- politischen Arbeit die in ihrem Antrag angesprochene son eine öffentlich-rechtliche Entschädigung von einem Personengruppe – die Opfer der SED-Diktatur – beson- Staat zukommen zu lassen, dessen freiheitlich-demokra- ders am Herzen liegen. Anders als in der Bundesrepublik tische Grundordnung ebendiese Person durch aktiven waren die Richter und Staatsanwälte bei ihrer Urteilsfin- politischen Kampf zu beseitigen trachtet. dung innerhalb der DDR-Justiz nicht einem Rechtsstaat Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungs- verpflichtet. Unter diesem Blickwinkel waren dies hoch- mäßigkeit dieser Ausschlussregelung ausdrücklich ge- gradige Unrechtsurteile, die auf reine politische Verfol- billigt. Es führt hierzu aus, dass es angesichts der in gung und Unterdrückung aus waren. Die politische Art. 9 Abs. 2, Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz Strafjustiz der DDR war verbrecherisch und markantes zum Ausdruck gekommenen Grundentscheidung des Merkmal einer Diktatur. Diese Opfer müssen endlich für Verfassungsgebers für eine Bekämpfung der aktiven ihren mutigen Einsatz für Freiheit und Demokratie Ge- Feinde der demokratischen Werteordnung angemessen rechtigkeit erfahren. Durch die Festschreibung im Koali- sei, Entschädigungen zu versagen. Entscheidend hierfür tionsvertrag sind die Weichenstellungen für eine Opfer- ist das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutsch- pension getätigt. Nun müssen wir diese Zielsetzung auch land als demokratischer Rechtsstaat. zügig umsetzen. Soweit das Bundesverfassungsgericht mit vorgenann- (B) Wenn Sie als Fraktion Die Linke nach Aufarbeitung tem Urteil bei einer Tätigkeit für die KPD vor deren Ver- (D) ihrer eigenen Geschichte in der Demokratie ankommen bot im Jahre 1956 nur dann ein Bekämpfen der freiheit- wollen, dann sollten Sie Ihren Antrag zurückziehen. lich-demokratischen Grundordnung angenommen hat, wenn dabei gegen allgemeine Strafgesetze verstoßen wurde, kommt darin nicht zum Ausdruck, dass das We- Manfred Kolbe (CDU/CSU): Die durch nationalso- sen des Bekämpfens in einer Straftat zu sehen ist, son- zialistisches Unrecht verursachten Schäden erforderten dern dass im Hinblick auf das Parteienprinzip gegen den bereits unmittelbar nach Kriegsende Regelungen zur Verfolgten in subjektiver Hinsicht kein strafrechtlicher Wiedergutmachung. Besonders betroffen waren Perso- Vorwurf wegen einer Tätigkeit für eine verfassungs- nen, die aus Gründen politischer Gegnerschaft zum Na- rechtliche Partei erhoben werden kann, solange diese tionalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des nicht verboten ist. Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozia- listische Gewaltmaßnahmen Schäden erlitten hatten. Für Im Übrigen würde eine Streichung der Ausschlussre- diese Personen wurden deshalb frühzeitig von den Be- gelung weitestgehend ins Leere laufen, weil die gesetzli- satzungsmächten, den Gemeinden und seit ihrer Entste- chen Antragsfristen des BEG seit langem abgelaufen hung von den Ländern und dem Bund Regelungen ge- sind. Bundestag und Bundesregierung haben seit vielen troffen. Jahren zum Ausdruck gebracht, dass sie die Gesetzge- bung im Rahmen des BEG mit dem BEG-Schlussgesetz In der Anwendungspraxis des Bundesentschädi- aus dem Jahre 1965 als abgeschlossen betrachten und gungsgesetzes aus dem Jahr 1956 zeigte sich in den Fol- eine Novellierung dieses Gesetzes nicht in Erwägung gejahren Änderungsbedarf. Dabei war man sich darüber ziehen. klar, dass eine Novellierung nicht alle Forderungen der Diese Haltung wurde bei den parlamentarischen Be- Berechtigten berücksichtigen und auch im Hinblick auf ratungen über den Erlass und die Verbesserung außerge- den hohen Erledigungsstand nicht alle abgeschlossenen setzlicher Härteregelungen für Verfolgte und andere Op- Fälle wieder neu aufgerollt werden konnten. Die aus die- fer von NS-Unrechtsmaßnahmen wiederholt bekräftigt. sem Grunde angestrebte Novellierung sollte den endgül- Der Gesetzgeber hat das Ende des Kalten Krieges nicht tigen Abschluss der Gesetzgebung auf diesem Gebiet zum Anlass genommen, etwas an der bestehenden bilden. Nach vierjährigen eingehenden Beratungen in Rechtslage zu ändern. den zuständigen Ausschüssen des Bundestages und des Bundesrates erging am 14. September 1965 unter aus- Der Antrag der PDS ist eine Verhöhnung derer, die in drücklicher Kennzeichnung als Schlussgesetz das Deutschland Opfer von Diktaturen geworden sind. Er ist 7052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) der untaugliche Versuch, diejenigen, die einen freiheit- Betroffen sind von § 6 des Bundesentschädigungsge- (C) lich-demokratischen Rechtsstaat beseitigen und einen setzes zwei Personengruppen, zwischen denen das Ge- Unrechtsstaat nach DDR-Muster etablieren wollten, von setz unterscheidet. Zum einen solche Opfer des Natio- Antidemokraten zu Opfern zu erheben. nalsozialismus, die nach 1945 straffällig geworden sind, und auf der anderen Seite diejenigen, die aktiv für die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grund- Maik Reichel (SPD): Der heute hier eingebrachte ordnung gekämpft haben. Antrag der Linksfraktion „Entschädigung für Opfer na- tionalsozialistischer Verfolgung“, Drucksache 16/3536, Um klarzustellen: Für eine Verurteilung zu drei Jah- wird 50 Jahre nach dem Verbot der Kommunistischen ren Freiheitsstrafe reichte ein kleiner Ladendiebstahl Partei Deutschlands 1956 besprochen. Der Antrag zielt nicht aus. Die Rede ist stattdessen von schwersten Delik- darauf, ehemaligen Mitgliedern der KPD bzw. politisch ten gegen körperliche Unversehrtheit oder Besitzstände. tätigen Kommunisten ihnen versagte Ansprüche nach So sind von diesem Passus unter anderem Täter betrof- erlittener Verfolgung durch den Nationalsozialismus zu- fen, die rechtskräftig wegen Meineides, sexueller oder zugestehen. Dieser Antrag unterstellt, dass ehemalige körperlicher Gewalt bzw. schweren Raubes oder Dieb- Mitglieder der verbotenen KPD generell keine Entschä- stahls verurteilt wurden. digung nach Bundesentschädigungsgesetz erhalten ha- Zur zweiten Personengruppe, den wegen ihrer verfas- ben. Dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen. sungsfeindlichen Aktivität in Nähe zur KPD Betroffe- Eine bloße Mitgliedschaft oder eine Übernahme von nen, ist Folgendes zu sagen: Funktionen in der seit 1956 verbotenen KPD hat zu kei- Die KPD wurde am 17. August 1956 vom Ersten Se- nem Zeitpunkt zum Ausschluss von Leistungen nach nat des Bundesverfassungsgerichts verboten, als Partei, dem Bundesentschädigungsgesetz geführt. Dies wird un- die die freiheitlich-demokratische Grundordnung be- ter anderem deutlich in einem Urteil des Bundesgerichts- kämpft und somit gemäß Art. 21 Abs. 2 GG verfassungs- hofes aus dem Jahre 1973. Nach richterlicher Auffas- widrig ist. sung „muss der Betroffene bewusst das Ziel verfolgt haben, mit seiner Tätigkeit zum Kampf gegen die frei- Eingeleitet wurde dieses Parteiverbotsverfahren heitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepu- durch den „Antrag zur Feststellung der Verfassungswid- blik Deutschland“ beizutragen. rigkeit“ vom 23. November 1951. Dieser durch die Re- gierung Adenauer eingebrachte Antrag richtete sich Demnach bezieht sich der § 6 des Bundesentschädi- nicht nur gegen die KPD, sondern auch gegen die Sozia- gungsgesetzes nicht allgemein auf die Parteimitglied- listische Reichspartei, welche 1951 als nationalsozialis- schaft, sondern auf die Aktivitäten einer einzelnen Per- tisch galt. (B) (D) son, die auch Mitglied der KPD sein kann. Dieser Nach etwa fünf Jahren kam das Bundesverfassungs- Paragraph regelt einen Teil der Anspruchsgrundlage gericht in seinem Urteil – BVerfGE 5,85 – zu der Er- bzw. in diesem Fall Ausschlussgründe. Er besagt näm- kenntnis, dass es sich bei der KPD um eine verfassungs- lich – an dieser Stelle möchte ich kurz in Auszügen den feindliche Organisation handelt. Die Richter beriefen Gesetzestext zitieren: sich bei ihrer Entscheidung unter anderem auf das Be- „Von der Entschädigung ist ausgeschlossen …, 2. wer kenntnis der KPD zum Marxismus-Leninismus und ih- nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche demokratische ren Aufruf zum „Sturz des Adenauer-Regimes“. Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft In der Folge dieses Urteils hat man sowohl den Rich- hat; 3. wer nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbre- tern als auch den westdeutschen Bundesregierungen vor- chens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als geworfen, antikommunistische Hexenjagd zu betreiben drei Jahren verurteilt worden ist.“ Weiter heißt es in Ab- und allein wegen KPD-Mitgliedschaft ohne Augenmaß satz 3: „Der Anspruch auf Entschädigung ist verwirkt, Urteile zu fällen. Dass dem nicht so war, wissen Sie hof- wenn nach Festsetzung oder nach rechtskräftiger ge- fentlich genauso gut wie ich. Auch von einer „morali- richtlicher Entscheidung einer der Ausschließungs- schen und sozialen Ausgrenzung der kommunistischen gründe des Absatzes 1 Nr. 2 und 3 eintritt. Die nach Ein- Opfer des Nazi-Regimes“ und „Ausgrenzung der Kom- tritt eines Verwirkungsgrundes bewirkten Leistungen munistinnen und Kommunisten aus den Opferentschädi- können zurückgefordert werden.“ gungsleistungen“, wie es der Antrag formuliert, kann nicht die Rede sein. Im Übrigen ist im Einzelfall ein Härteausgleich nach § 171 des Bundesentschädigungsgesetzes bei Fällen be- Es finden sich genügend Beispiele, die das damalige sonderer Härte möglich. Laut einer Umfrage unter den Verfahren detaillierter beschreiben. So wurden in den Bundesländern Ende der 1990er-Jahre erhielten viele achtzehn Jahren von 1950 bis 1968 schätzungsweise nach § 6 BEG Ausgeschlossene in ebensolchen Härtefäl- 150 000 bis 200 000 Ermittlungsverfahren im Zusam- len finanzielle Unterstützung, was auch einem gemein- menhang mit einem Angriff auf die freiheitliche demo- samen Beschluss aller Länder vom Juli 1968 entsprach. kratische Grundordnung bzw. dem später folgenden Baden-Württemberg zum Beispiel hat allen Betroffenen KPD-Verbot eingeleitet. Lediglich ein Bruchteil davon einen solchen Härteausgleich nach § 171 gewährt. Somit führte zu einer Verurteilung. Es wird davon ausgegan- kann von einem „gesellschaftlichen Skandal in der Bun- gen, dass etwa fünf Prozent aller Verfahren zu einem Ur- desrepublik (West)“, wie es in der Antragsbegründung teil und einer damit verbunden Freiheitsstrafe geführt heißt, nicht gesprochen werden. haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7053

(A) Das Bundesverfassungsgericht hat übrigens in einem der Ausschluss eines Verfolgten von Entschädigungs- (C) Urteil von 1961 ausdrücklich die Ausschlussregelung leistungen nicht damit begründet werden könne, er habe des BEG für verfassungsmäßig erklärt, der ja die Erwä- die freiheitliche demokratische Grundordnung „be- gung zugrunde liegt, dass es nicht gerechtfertigt ist, eine kämpft“, wenn sich seine Tätigkeit darin erschöpfte, im öffentlich-rechtliche Entschädigung einer Person zu- Rahmen einer noch nicht verbotenen verfassungswidri- kommen zu lassen, die die freiheitliche demokratische gen Partei sich für die Verwirklichung ihrer Ziele mit all- Grundordnung durch aktiven politischen Kampf zu be- gemein erlaubten Mitteln einzusetzen. Von einem flä- seitigen trachtet. chendeckenden Ausschluss früherer Kommunisten von Entschädigungsleistungen kann also keine Rede sein. Die Anerkennung erlittenen Leids gleicht keineswegs die Unrechtmäßigkeit späterer antidemokratischer Betä- Wenn die Antragsteller mit ihrem Anliegen Erfolg ha- tigung aus. Gerade aus 40 Jahren Geschichte der DDR ben wollen, müssen sie mögliche Gerechtigkeitslücken wissen wir sehr wohl, wie einer Diktatur die nächste fol- schon sorgfältiger herausarbeiten. Nach unserer Auffas- gen kann, und sei sie auch die des Proletariats. sung muss eine Entschädigungsleistung jedenfalls dann ausgeschlossen bleiben, wenn der Betroffene die frei- Aus all den genannten Gründen wird die SPD-Bun- heitlich demokratische Grundordnung in strafrechtlich destagsfraktion an der bestehenden Regelung festhalten relevanter Weise bekämpft hat. und den Antrag der Linksfraktion ablehnen. Unabhängig davon ist es eine Sache der Diskussion unter Historikern, den Widerstand gegen den National- Dr. Max Stadler (FDP): Mit diesem Antrag zielt die sozialismus und dabei auch den von Kommunisten Fraktion Die Linke darauf ab, bestimmte Regelungen geleisteten Widerstand angemessen zu würdigen und des Bundesentschädigungsgesetzes zu revidieren. Nach sich mit der Behandlung dieses Personenkreises in der § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG wurden Personen, die die freiheit- Frühphase der Bundesrepublik Deutschland auseinander liche demokratische Grundordnung im Sinne des Grund- zu setzen. gesetzes bekämpft haben, von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen. Die Fraktion Die Linke möchte errei- chen, dass dieser Entschädigungsausschluss nicht auf Jan Korte (DIE LINKE): Am 17. August 1956 hat Mitglieder der damaligen Kommunistischen Partei das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Bundesre- Deutschlands, KPD, und andere Personen, die sich als gierung unter Konrad Adenauer, CDU, die Kommunisti- Kommunisten politisch betätigten, angewandt wird. sche Partei Deutschlands, KPD, verboten. Parallel zu dem fünfjährigen Verfahren wurden verschiedene Atta- Wenn man diesem Antrag folgen würde, würde im cken im Zuge eines antikommunistischen Konsenses der (B) nachhinein eine gesetzgeberische Grundentscheidung politischen Klasse und antikommunistischer Hysterie im (D) aus den 50er-Jahren aufgehoben, obwohl der Sachver- Zuge der Systemauseinandersetzung gegen Kommunis- halt bereits abgeschlossen ist. Dies begegnet rechtsstaat- tinnen und Kommunisten gefahren. lichen Bedenken. Rund 80 kommunistische Organisationen und Bünd- Zwar ist richtig, dass das KPD-Verbot historisch im nisgruppen wurden zwischen 1951 und 1958 verboten. Kontext des Kalten Krieges zu sehen ist. Das damalige 200 000 Personen waren von staatsanwaltschaftlichen Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist Ermittlungsverfahren betroffen. Über 10 000 Verurtei- historisch zu bewerten auf dem Hintergrund der deut- lungen waren die Folge. Unter den Verurteilten befanden schen Teilung. Ähnliche Verfahren gab es in anderen sich nicht nur Personen, die in kommunistischen Organi- westlichen Demokratien wie Frankreich, Österreich oder sationen oder in der Kommunistischen Partei aktiv wa- Italien gerade nicht. Andererseits besteht kein Zweifel, ren. Auch das Engagement in Gruppen oder Initiativen dass dieses Verbot auf der Grundlage des Art. 21 Abs. 2 wie zum Beispiel im „Hauptausschuss für Volksbefra- des Grundgesetzes rechtmäßig zustande gekommen ist gung über die Wiederbewaffnung“ oder in der „Gesell- und in Rechtskraft erwachsen ist. schaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft“ konnte empfindliche Strafen oder die Einschränkung von Bür- Der Gesetzgeber des Bundesentschädigungsgesetzes ger- und Freiheitsrechten nach sich ziehen. Auch Anhän- von 1956 hatte einen Ermessensspielraum, welcher Perso- ger bürgerlicher Parteien oder Mitglieder der Sozialde- nenkreis Anspruch auf Entschädigungsleistungen haben mokratischen Partei, SPD, die in diesen oder ähnlichen sollte und wer nicht. Hiervon hat er unter Berücksichti- Bewegungen aktiv waren, wurden in den ersten beiden gung der damaligen Verhältnisse maßvoll Gebrauch ge- Jahrzehnten des Bestehens der Bundesrepublik Deutsch- macht. In der Gesetzesbegründung heißt es ausdrück- land zu Opfern politischer Justiz. lich: „Es sei staatspolitisch geboten und rechtlich vertretbar, Verfolgte von der Entschädigung auszuschlie- Viele der damals mit friedlichem Protest politisch ßen, die durch ihr Verhalten die politische Ordnung des engagierten Menschen waren zuvor Opfer der national- heutigen Staates gestört haben. Doch liege in einer blo- sozialistischen Diktatur. Viele verbüßten mehrjährige ßen Mitgliedschaft in einer Partei, zum Beispiel in der Zuchthaus- oder KZ-Haftstrafen, wurden gefoltert und KPD oder SED, noch kein Bekämpfen der freiheitlichen misshandelt. Viele befanden sich im Untergrund und demokratischen Grundordnung; dieser Tatbestand sei kämpften gegen das menschenverachtende Regime der nur bei einem aktiven Verhalten erfüllt.“ Das Bundesver- Nazis. Derartige Erfahrungen und das erlittene Leid un- fassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der Aus- ter dem NS-Regime waren für viele Beweggründe, sich schlussformel bestätigt, aber zugleich festgestellt, dass gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands oder für die 7054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Verteidigung der Demokratie in Westdeutschland zu en- Auch das Verbot der Kommunistischen Partei (C) gagieren. Deutschlands kann eine juristische Abwertung und die moralische und soziale Ausgrenzung der kommunisti- Wir, die Fraktion Die Linke, wollen mit dem nun vor- schen Opfer des Naziregimes – das bedeutet nämlich die liegenden Antrag ein besonderes moralisches Unrecht Verweigerung der Entschädigungsleistung bis heute – aufheben helfen. Es ist unserer Ansicht nach moralisches weder juristisch noch moralisch rechtfertigen. Unrecht und juristisch nicht hinnehmbar, wenn Opfer na- tionalsozialistischer Verfolgung aufgrund ihrer Mitglied- Deshalb streiten wir mit unserem Antrag nicht nur für schaft in der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Wiedergutmachung für die Opfer der NS-Herrschaft. Deutschlands oder wegen politischer Tätigkeit als Kom- Nein, wir suchen auch nach einem breiten gesellschaftli- munisten nach 1949 die ihnen zustehenden Entschädi- chen und parlamentarischen Konsens in dieser Frage. gungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz Auch deshalb bitte ich Sie, dem Ansinnen unseres Antra- nicht erhalten bzw. erhalten haben oder schon gezahlte ges zu folgen und die Bundesregierung aufzufordern, das Entschädigungen zurückzahlen mussten. Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer nationalso- zialistischer Verfolgung dahin gehend zu ändern, dass Kommunisten, die wegen Widerstands gegen das NS- sichergestellt wird, dass, Personen von Entschädigungs- Regime im Konzentrationslager oder in den Fängen der leistungen nach diesem Gesetz nicht wegen Mitglied- Gestapo litten, haben wie andere Opfer nationalsozialis- schaft in der oder einer legalen Tätigkeit für die damalige tischer Verfolgung Anspruch auf Entschädigungsleistun- Kommunistische Partei Deutschlands ausgeschlossen gen nach dem Bundesentschädigungsgesetz erworben werden, dass Personen von Entschädigungsleistungen und zudem unsere höchste Anerkennung. Im Zuge des nach diesem Gesetz nicht ausgeschlossen werden, wenn Kalten Krieges und des Antikommunismus in der Bun- sie sich als Kommunisten politisch betätigten, und dass desrepublik Deutschland wurde Mitgliedern der KPD schon geleistete Entschädigungen, die nach § 6 Abs. 3 eine Entschädigung verweigert oder gar die schon ge- BEG zurückgezahlt wurden, den Betroffenen oder ihren leistete wieder zurückgefordert. Erben ausgezahlt werden. Unser Antrag hat das Ziel, noch lebenden und bereits verstorbenen Kommunistinnen und Kommunisten, die Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Opfer nationalsozialistischen Terrors waren, eine morali- Die Geschichte des Entschädigungsrechts für Opfer von sche, politische und juristische Anerkennung ihrer im NS-Unrecht in Deutschland ist wahrlich kein Ruhmes- Widerstand gegen das Naziregime erbrachten Opfer blatt. Es hat jahrzehntelang gedauert, bis mehr und mehr durch die Bundesrepublik Deutschland zuteil werden zu Opfergruppen in den Kreis der Leistungsberechtigten lassen und sie endlich auch auf dieser Ebene anderen – auf unterschiedlichster rechtlicher Grundlage – mit- (B) Opfern nationalsozialistischer Verfolgung gleichzustel- einbezogen wurden. Teilweise hochbetagte Opfer wur- (D) len. den so erst kurz vor ihrem Tod zu Anspruchsberechtig- Der derzeitige § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG legt fest, dass ten. Dies ist eine Schande und das muss an dieser Stelle Personen, die nach dem 23. Mai 1949 die freiheitlich de- noch einmal klipp und klar gesagt werden. mokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes Das Bundesentschädigungsgesetz, BEG, aus den bekämpft haben, von Entschädigungsleistungen ausge- 50er-Jahren war ein Gesetz, das Diskriminierung un- schlossen sind. In § 6 Abs. 3 BEG wird geregelt, dass ein zweifelhaft festgeschrieben hat. Das BEG benachteiligte Anspruch auf Entschädigung verwirkt ist und Leistun- vor allem ausländische Verfolgte und verschiedene deut- gen zurückgefordert werden können, wenn Ausschluss- sche Verfolgtengruppen, wie Sinti und Roma, Kommu- gründe nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 vorliegen. Selbst Leistun- nisten, Wehrdienstverweigerer, Homosexuelle, von dem gen, die nach Feststellen des Ausschlussgrundes gezahlt NS-Erbgesundheitsgesetz Betroffene und so genannte wurden, können zurückgefordert werden. Asoziale. Für Entschädigungsleistungen sollte meiner Meinung Erst unter Rot-Grün ist es maßgeblich gelungen, die nach ausschließlich, wie es im Vorwort des Bundesent- Leistungen für NS-Opfer auf anderem Wege wesentlich schädigungsgesetzes formuliert ist, die „Wiedergutma- auszubauen. Ich erinnere nur daran: In der 14. Wahl- chung für erlittenes Unrecht“ das entscheidende Krite- periode haben wir in einem großen Kraftakt die Entschä- rium sein, weil der „geleistete Widerstand ein Verdienst digung der NS-Zwangsarbeiter auf den Weg gebracht. In um das Wohl des deutschen Volkes und des Staates“ war. der 15. Wahlperiode folgten Verbesserungen für weitere Die Ausgrenzung von Kommunistinnen und Kommunis- NS-Opfer im Inland, zum Beispiel für Menschen, die im ten aus den Opferentschädigungsleistungen mag der ju- Nationalsozialismus zwangssterilisiert wurden. In Folge ristischen Umsetzung der Logik des Kalten Krieges ent- des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Un- sprochen haben. Sie aufrechtzuerhalten, widerspricht rechtsurteile, NS-Aufhebungsgesetz, sind weitere NS- heutigen rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem morali- Opfer ab 2005 in den Kreis der Leistungsberechtigten schen Verständnis vieler in diesem Lande. Dies ist umso einbezogen worden. Dies betrifft zum Beispiel Militär- bedrückender, als die Grundlage für den Ausschluss von justizopfer sowie Homosexuelle. Bislang war Strafhaft Entschädigungsansprüchen die Urteilssprüche von Staats- aufgrund des von den Nazis 1935 massiv verschärften anwälten und Richtern waren, die als Täter bereits unter Homosexuellenparagrafen 175 grundsätzlich nicht als dem Naziregime politische Prozesse geführt hatten und NS-Unrecht anerkannt gewesen. Das hat Rot-Grün auf nach 1949 erneut über Widerstandskämpfer zu Gericht Initiative meiner Fraktion geändert – entsprechend der saßen. 2002 von uns durchgesetzten Ergänzung des NS-Aufhe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7055

(A) bungsgesetzes, mit der Verurteilungen nach §§ 175, gierung zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen (C) 175 a Nr. 4 RStGB in der Zeit bis zum 7. Mai 1945 als im öffentlichen Dienst des Bundes“. Daneben werden NS-Unrecht pauschal aufgehoben wurden. noch zwei Anträge, einer von der FDP und einer von Bündnis 90/Die Grünen, behandelt, die sich mit dem Das im kalten Krieg befindliche Nachkriegsdeutsch- Merkzeichen B im Schwerbehindertenausweis beschäf- land hat sich immer wieder geweigert, überhaupt anzuer- tigen. Die beiden Anträge gehen letztlich auf eine Initia- kennen, dass ganze Opfergruppen in Deutschland von der tive der CDU/CSU aus der letzten Wahlperiode zurück. Entschädigung ausgeschlossen waren. Im Falle der kom- Die FDP hat diesen Antrag der Union, einschließlich der munistischen Opfer gab es da nichts zu leugnen: Das war Begründung, wortwörtlich abgeschrieben. Die CDU/ ein ganz bewusstes Außenvorlassen, weil man diese Men- CSU wollte schon damals eine Klarstellung durchsetzen: schen einer Entschädigung nicht für würdig erachtete. Es sollte deutlich gemacht werden, dass diejenigen, die Der Bundestag hat in den 50er-Jahren nachträglich in das auf dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen B Entschädigungsgesetz geschrieben, dass kommunistische haben, zwar das Recht haben, sich im öffentlichen Per- NS-Opfer keinen Anspruch auf Entschädigung hätten, sonenverkehr von einer Person begleiten zu lassen, dass und das, obwohl die US-Militärregierung in ihrem ersten sie aber nicht von einer Person begleitet werden müssen. Entschädigungsgesetz von 1947, an das sich das Bundes- entschädigungsgesetz laut Vertrag ja eigentlich anlehnen In der Vergangenheit hatte der Satz, welcher neben sollte, die Kommunisten nicht ausgenommen hatte. dem Merkzeichen B auf dem Schwerbehindertenausweis Anders als der Antrag der Linken jetzt suggeriert, aufgedruckt wurde, zu Missverständnissen geführt. Dieser sind Änderungen am BEG heute natürlich unsinnig, weil Satz lautete: „Die Notwendigkeit ständiger Begleitung es seit 1969 ein Schlussgesetz gibt, mit anderen Worten: ist nachgewiesen.“ Das führte zum Beispiel dazu, dass Das BEG ist ein totes Gesetz. Es werden danach zwar Menschen mit einem solchen Ausweis zurückgewiesen noch Leistungen ausgezahlt, eine Antragstellung ist je- wurden, wenn sie allein ins Schwimmbad gehen wollten. doch heute nicht mehr möglich. Anderen ist es passiert, dass man sie nicht allein im Bus mitfahren lassen wollte. Inzwischen hat sich dieses Pro- Gleichwohl gebe ich der Fraktion der Linken insofern blem unbürokratisch lösen lassen. Nachdem jetzt auch Recht, dass es nicht zuletzt eine moralische Verpflich- die SPD-Fraktion sowie Bündnis 90/Die Grünen unser tung der Bundesrepublik ist, das Unrecht dieses Aus- Anliegen unterstützen, wie man an ihrem Antrag erken- schlusses einer Entschädigung für Kommunisten auszu- nen kann, konnten wir einvernehmlich eine Änderung sprechen. Es sollte auch ein Weg gefunden werden, dass der Schwerbehindertenausweisverordnung vornehmen. zumindest diejenigen, die damals ihre Entschädigung Das Merkzeichen B wird jetzt durch den geänderten Satz wegen Unwürdigkeit zurückzahlen mussten, dieses Geld „Die Berechtigung zu Mitnahme einer Begleitperson ist wiederbekommen. Wie das aber konkret geschehen soll (B) nachgewiesen“ ergänzt. Somit ist eindeutig klargestellt, (D) – möglicherweise über Härtefonds –, dazu schweigt der dass es sich dabei um ein Recht und nicht um eine Antrag der Linken bedauerlicherweise. Hier hätte ich Pflicht zur Mitnahme handelt. mir etwas mehr Seriosität erhofft. Da diese Änderung bereits im Rahmen des Zweiten Kommunisten gehörten während der Nazidiktatur zu den aktivsten Widerstandskämpfern; sie wurden in den Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes um- Konzentrationslagern mannigfach geschunden und ge- gesetzt wurde, haben sich die vorliegenden Anträge von quält. Es gab und gibt keinerlei Grund, Menschen aus FDP und Bündnis 90/Die Grünen weitgehend erledigt. dieser Opfergruppe eine Entschädigung vorzuenthalten. Auch wenn das Merkzeichen B nicht unbedingt in einem Sachzusammenhang mit dem Betriebsrentengesetz steht, so war es uns doch wichtig, dieses für die Betroffenen Anlage 7 belastende Problem möglichst schnell zu lösen. Es bleibt allerdings ein weiterer Punkt im Antrag der FDP zu Zu Protokoll gegebene Reden erwähnen. Dabei geht es um eine bundeseinheitliche zur Beratung: Regelung für Parkerleichterungen für Schwerbehinderte ohne das Merkzeichen aG, das für „außergewöhnlich – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- gehbehindert“ steht. Auch die Union sieht hier für her- rung über die Beschäftigung schwerbehin- kömmliche Gruppen von Menschen mit Behinderungen, derter Menschen im öffentlichen Dienst des wie zum Beispiel „Ohnarmer als Contergangeschädigter“, Bundes Regelungsbedarf. Wir bleiben weiterhin im Gespräch – Antrag: Recht statt Pflicht – Einschränkun- und ich wünsche mir, dass sich im Verkehrsministerium gen behinderter Menschen bei der Teilhabe eine vernünftige Lösung finden lässt. am öffentlichen Leben entgegenwirken Nun komme ich zum Bericht der Bundesregierung – Antrag: Teilhabe von Menschen mit Behin- über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im derungen am öffentlichen Leben konsequent öffentlichen Dienst des Bundes. Wie Sie wissen, wird bis- sichern her dieser Bericht jährlich erstellt. Das Problem ist, dass wir erst jetzt – Ende 2006 – über die Entwicklung der (Tagesordnungspunkt 19) Jahre 2003/2004 diskutieren. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat mehrheitlich beschlossen, diesen Bericht Hubert Hüppe (CDU/CSU): Im Mittelpunkt dieses in den einmal pro Wahlperiode zu erstellenden „Bericht Tagesordnungspunktes steht der „Bericht der Bundesre- der Bundesregierung zur Lage behinderter Menschen 7056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) und der Entwicklung ihrer Teilhabe“ zu integrieren. Im vor allem auch Teilhabe an der Arbeitswelt. Hier müssen (C) Ausschuss wurde uns jedoch vonseiten des Ministeriums dringend neue Ansätze entwickelt und erprobt werden. signalisiert, dass auf Anfrage zeitnah weiter über die Das im Juni 2006 aufgelegte Programm „Job 4 000“ ist Situation von Schwerbehinderten im öffentlichen Dienst ein Mosaikstein. Es müssen weitere Möglichkeiten berichtet würde. Das gibt uns die Chance – und diese erprobt bzw. weitergeführt werden. Dazu könnte ein Chance sollten wir nutzen – zeitnäher und unbürokrati- „Budget für Arbeit“ beitragen, aber auch der Kombilohn. scher zu reagieren und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Auf jeden Fall – das macht diese Debatte deutlich – dür- fen wir uns nicht zurücklehnen, wenn es um die betroffe- Ich glaube, niemand hier im Hause bezweifelt, dass nen Menschen geht. der öffentliche Dienst bei der Bekämpfung der Arbeits- losigkeit schwerbehinderter Menschen eine besondere Vorbildfunktion hat. Angesichts der gesetzlich geforderten Karin Evers-Meyer (SPD): Ich will den vorliegen- Beschäftigungsquote von 5 bzw. 6 Prozent des Bundes den Bericht zur Beschäftigungssituation schwerbehin- ist der tatsächliche Anteil schwerbehinderter Menschen derter Menschen im öffentlichen Dienst und die beiden im öffentlichen Dienst in Höhe von 7,1 Prozent ein Er- Anträge von FDP und Bündnis 90/Die Grünen zum An- folg. Erfreulich ist, dass die Anzahl schwerbehinderter lass nehmen, etwas Allgemeines zur Situation der behin- Frauen im öffentlichen Dienst des Bundes um 3,8 Prozent derten Menschen in diesem Land zu sagen. gestiegen ist. Auch die Zahl der beschäftigten schwerbe- Wir haben es in den vergangenen acht Jahren ge- hinderten Menschen bei den öffentlichen Arbeitgebern schafft, den viel beschworenen Paradigmenwechsel in insgesamt, also Bund, Länder wie auch Kommunen, der Politik für behinderte Menschen einzuleiten. Wir konnte von 2002 auf 2003 auf nunmehr insgesamt 5,4 Pro- wollen weg davon, behinderte Menschen als reine Ob- zent gesteigert werden. Schaut man sich jedoch die Zah- jekte der Fürsorge zu betrachten und gemeinsam mit den len etwas genauer an, dann stellt man fest, es gibt auch behinderten Menschen und ihren Interessenvertretungen Entwicklungen, die nicht zufrieden stellend sind. So ist an einer Lebenswirklichkeit arbeiten, die es behinderten zwar im Berichtszeitraum, wie oben erwähnt, die Be- Menschen erlaubt, teilzuhaben und ein selbst bestimmtes schäftigungsquote beim Bund bei 7,1 Prozent gehalten Leben in einem natürlichen Umfeld zu führen. Dieser worden, allerdings hat sich die Zahl der Arbeitsplätze für Prozess hat begonnen, und wir haben ganz wesentliche schwerbehinderte Menschen insgesamt um 224 Plätze Meilensteine auf diesem Weg erreicht. Ich nenne hier nur verringert. Dabei ist aus dem Bericht nicht deutlich zuer- das Behindertengleichstellungsgesetz, das Sozialgesetz- kennen, ob es tatsächlich nicht sogar noch weniger Be- buch IX und das erst kürzlich in Kraft getretene Allge- schäftigte sind, da im Jahr 2004 durch eine Änderung meine Gleichbehandlungsgesetz. Wenn mir vor 20 Jah- des SGB IX mehrere Möglichkeiten von Mehrfachan- ren jemand erzählt hätte, wie heute behinderte Menschen (B) rechnungen geschaffen wurden. Mit anderen Worten, es (D) mit Assistenz und Persönlichem Budget ihr Leben führen gibt die Möglichkeit, besonders schwer zu vermittelnde können, hätte ich ihn für verrückt erklärt. schwerbehinderte Menschen mehrfach auf die Beschäfti- gungsquote anzurechnen. Wir sind aber noch längst nicht am Ende dieses We- Besonders bedauerlich ist allerdings, dass der Anteil ges angekommen. Es gibt noch ganz dicke Bretter zu schwerbehinderter Menschen bei den Neueinstellungen bohren. Denn nach wie vor gibt es große Barrieren in von 4,1 Prozent im Jahr 2003 auf 3,5 Prozent im Jahr 2004 den Köpfen. Nach wie vor wird auf beiden Seiten nicht zurückgegangen ist. Konkret bedeutet dies, dass nur genügend Integration gewagt. Das gilt nicht nur für den 22 schwerbehinderte Menschen mehr eingestellt wurden, Bereich Schule – in Deutschland werden nur 12 Prozent obwohl es im Jahr 2004 insgesamt 2 281 Neueinstellun- der behinderten Kinder unter einem Dach mit nicht be- gen mehr gab als im Jahr 2003. Dieser Trend, der sich hinderten Kindern unterrichtet –, sondern auch für den unter der damaligen rot-grünen Regierung eingeschli- Bereich Arbeitsmarkt, soweit sich hier die Betrachtungs- chen hat, darf sich nicht weiter fortsetzen. Es ist auch weise überhaupt trennen lässt; denn wer glaubt, mit der nicht hinnehmbar, dass die Gegenüberstellung der Zu- Integration in den Arbeitsmarkt könne man beim Vor- und Abgänge beschäftigter schwerbehinderter Menschen stellungsgespräch beginnen, der befindet sich meiner im Jahr 2004 einen negativen Saldo von 1 778 ergibt. Ansicht nach auf einem Irrweg. Hier liegt noch viel Ar- Wenn wir von der Wirtschaft mit Recht einfordern, mehr beit vor uns. Die Beschäftigungssituation schwerbehin- schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen und Pro- derter Menschen in Deutschland ist nicht gut. Deshalb gramme für Neueinstellungen mit entsprechender finan- bin ich Arbeitsminister Müntefering sehr dankbar, dass zieller Ausstattung aufzulegen, müssen wir uns fragen, sein Haus mit der Aktion „Job 4 000“ weiter aktiv die warum das beim Bund selbst nicht funktioniert. Chancen schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeits- markt verbessern wird. Mit dieser gut austarierten Mi- Wir alle freuen uns darüber, dass die Zahl der Arbeits- schung aus Aufklärung und Unterstützung werden wir losen im letzten halben Jahr um circa eine halbe Million schwerbehinderten Menschen weiterhelfen, einen Job zu zurückgegangen ist und wir endlich wieder einen Zu- finden. Die Rahmenbedingungen müssen selbstverständ- wachs an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhält- lich stimmen. Ziel muss echte Planungssicherheit für nissen haben. Allerdings müssen wir leider feststellen, eine dauerhafte Integration von behinderten Arbeitneh- dass die schwerbehinderten Arbeitssuchenden nicht da- mern in neue Beschäftigung sein. Wir müssen dabei im- von profitieren. Im Gegenteil, die Zahl der arbeitslosen mer wieder überprüfen, ob die Eingliederungszuschüsse Schwerbehinderten ist sogar gestiegen. Teilhabe an der an Arbeitgeber richtig ausgestaltet sind, ob es neue Gesellschaft bedeutet für Menschen mit Behinderung Lohnmodelle geben könnte oder ob andere bürokratische Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7057

(A) Hürden einer Einstellung behinderter Menschen im Weg wechsel, den der Gesetzgeber in der Behindertenhilfe (C) stehen. mit dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch, SGB IX, im Jahr 2001 eingeleitet hatte. Wie gesagt, geht es aus meiner Sicht vor allem darum, die Barrieren in den Köpfen zu überwinden. Neben der In ihrem Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 Bereitstellung fachlicher und finanzieller Unterstützung haben CDU/CSU und SPD ein Gesamtkonzept zur Ge- ist Aufgabe der Politik eben auch, in der Wirtschaft, bei staltung der Teilhabe, Pflege und Betreuung von Behin- Unternehmen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass derten, Pflegebedürftigen, chronisch Kranken und alten die Beschäftigung behinderter Arbeitnehmer kein Klotz Menschen angekündigt. Nach einem Jahr der Regie- am Bein, sondern ein Gewinn für jeden Betrieb ist. In rungskoalition müssen wir allerdings feststellen, dass ein den Personalabteilungen weit verbreitet ist immer noch derartiges Gesamtkonzept nicht erkennbar und offen- die Gleichung: behindert = leistungsgemindert. Das ist sichtlich auch nicht mehr geplant ist. natürlich fatal. Da muss sich in den Köpfen etwas än- dern! Dieses seit langem überholte Defizitmodell ver- Wir stehen vor großen Herausforderungen, dennoch nachlässigt völlig, dass angeblich leistungsgeminderte wird die Behindertenpolitik von der Bundesregierung Beschäftigte bei entsprechender Gestaltung des Arbeits- und den Koalitionsfraktionen weiterhin stiefmütterlich umfelds in der Lage sind, hochwertige Leistungen zu er- behandelt. Sonst hätten wir heute nach über einem Jahr bringen. Es wird meines Erachtens auch übersehen, dass schwarz-roter Regierungszeit eine bessere Bilanz. Menschen mit Behinderung oftmals bei Arbeitsdisziplin, Unter anderem aufgrund des Drängens der FDP-Bun- Zuverlässigkeit und Loyalität Punkte einfahren. Ich habe destagsfraktion können wir heute zumindest einen Er- in den vergangenen Monaten viele gute Beispiele ken- folg bilanzieren: Das Problem des Merkzeichens „B“ im nen gelernt, dass Unternehmen die Beschäftigung behin- Schwerbehindertenausweis, welches das Recht auf eine derter Arbeitnehmer als festen Bestandteil ihrer Perso- Begleitperson regeln sollte, wurde mittlerweile durch nalpolitik begreifen. Keines dieser Unternehmen hat eine entsprechende Gesetzesänderung behoben. diesen Schritt bereut, ganz im Gegenteil. Ich werde wei- ter mit diesen guten Beispielen durchs Land ziehen. Die Seit Februar waren wir uns über die Fraktionsgrenzen Überzeugungsarbeit ist mühsam; aber es ist eine Arbeit, hinweg einig, dass das Merkzeichen „B“ zu einem Hin- die sich lohnt. dernis geworden war, weil das Recht auf Begleitung in eine Pflicht auf Begleitung umgedeutet wurde. Hier- Der Bund, und darüber freue ich mich natürlich, hat durch wurde die eigenständige Teilnahme der Menschen sich offenbar schneller davon überzeugen lassen als die mit Behinderungen am öffentlichen Leben deutlich ein- Privatwirtschaft. Er gibt ausweislich des heute vorlie- geschränkt. Bis Oktober hat es dann letztlich gedauert, (B) genden Berichts zur Beschäftigungssituation schwerbe- bis die neue Regelung per Gesetz erfolgte. Behinderte (D) hinderter Menschen im öffentlichen Dienst ein gutes Menschen können jetzt besser und eigenständiger teilha- Bild ab. Mit über 7 Prozent liegen Bundesinstitutionen ben am öffentlichen Leben, zum Beispiel in Bus, Kino deutlich über der gesetzlichen Pflichtquote. Ich freue oder Schwimmbad, um nur einige Beispiele zu nennen. mich sehr darüber, auch wenn ich nicht verhehlen kann, dass ich das eigentlich für eine Selbstverständlichkeit Damit hat sich auch der erste Teil des heute zu disku- halte. Ich freue mich vor allem darüber, dass die Zahl der tierenden FDP-Antrages erledigt. Wir können also einen schwerbehinderten Frauen im öffentlichen Dienst des kleinen Erfolg verbuchen. Bundes weiter gestiegen ist, insgesamt um immerhin Der ebenfalls vorliegende Antrag der Grünen zum 3,8 Prozent. Einziger Wermutstropfen ist, dass der An- gleichen Thema geht uns nicht weit genug, denn er ent- teil schwerbehinderter Frauen in Führungspositionen ge- hält nur die Forderung nach dem Merkzeichen „B“ und genüber dem Vorjahr leicht zurückgegangen ist. Damit nicht die Forderung nach den Parkerleichterungen. Da- bleibt der Anteil schwerbehinderter Frauen in Führungs- her werden wir uns hier bei der Abstimmung enthalten. positionen unter 1 Prozent und damit unakzeptabel. Vom FDP-Antrag bleibt also der zweite Teil, die Park- Zu den Anträgen von FDP und Bündnis 90/Die Grü- erleichterungen für Menschen mit Behinderungen, als nen will ich an dieser Stelle nichts mehr sagen. Mein Forderung bestehen. Wir sollten aber die Anregung aus Haus hat die Änderung zum Merkzeichen B ja bereits im der CDU/CSU-Fraktion aus der letzten Legislaturpe- ersten Halbjahr dieses Jahres vorgelegt. Das hat viel zu riode bezüglich der Parkerleichterungen für Schwerbe- lange gedauert, da sind wir uns einig. Letztlich zählt aber hinderte, bei denen die gesundheitlichen Voraussetzun- das Ergebnis und es geht jetzt darum, dass wir dieses Er- gen für die Zuerkennung des Merkzeichen „aG“ nicht gebnis mit Nachdruck bekannt machen. Das Merkzei- vorliegen, hier im Bundestag diskutieren. chen B ist eine Berechtigung und keine Entmündigung! Hier wird seitens der SPD argumentiert, dies sei eine Jörg Rohde (FDP): Die Teilhabe von Menschen mit Sache der Länder. Ich dachte dagegen, die Straßenver- Behinderungen am allgemeinen gesellschaftlichen Le- kehrs-Ordnung sei Bundesangelegenheit in der Zuständig- ben ist seit Jahren eines der wesentlichen Ziele der Be- keit des Bundesverkehrsministers. Solange die Voraus- hindertenpolitik. setzungen für die Gewährung von Parkerleichterungen nicht bundeseinheitlich geregelt sind, bleibt es bei dem Selbstbestimmung und Teilnahme am Leben der Ge- heutigen Flickenteppich. Wir fordern die Bundesregie- meinschaft, Barrierefreiheit und Beseitigung von behin- rung auf, eine entsprechende Vereinheitlichung auf bun- derungsbedingten Nachteilen prägen den Paradigmen- desrechtlicher Ebene vorzubereiten. Aus unserer Sicht 7058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) würde sich eine Verankerung in der StVO bzw. den zu- die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ih- (C) gehörigen Verwaltungsvorschriften anbieten. rer Teilhabe“ anhängen. Auch beim trägerübergreifenden persönlichen Budget, Die Argumentation bezüglich des Bürokratieabbaus das behinderten Menschen ein Leben in Selbstbestim- ist bei diesem Thema lächerlich, zudem äußerte sich die mung und eigener Verantwortung ermöglicht, verschläft Kollegin Silvia Schmidt von der SPD dahin gehend, dass die Bundesregierung Fehlentwicklungen beim laufenden wir als Abgeordnete ja jedes Jahr entsprechende Fragen Modellversuch und unterlässt ein dringend notwendiges, an die Bundesregierung einreichen könnten. Das Daten- korrigierendes Nachjustieren. Das trägerübergreifende material muss auf jeden Fall erhoben werden – es gilt persönliche Budget steht für die Grundsätze „Ambulant schließlich jährlich die geforderte Beschäftigungsquote vor stationär“ und „Hilfe aus einer Hand“. Beides sogar zu überprüfen. Es wäre also leicht, den Bericht zusam- Ziele des Koalitionsvertrages, die die Bundesregierung menzustellen und zu veröffentlichen. Sicher werden wir bislang nicht aufgegriffen hat. zukünftig nun jährlich die Regierung fragen, wie denn die Beschäftigungsquote der Behinderten beim Bund Die von der SPD im Wahlkampf – Wahlprüfstein aussieht – da hätte es des Hinweises der Kollegin Deutscher Behindertenrat – angekündigte Überprüfung Schmidt nicht bedurft. Aber dies hat lange nicht die öf- einer Erhöhung des Pauschbetrages nach § 33 Einkom- fentliche Wirkung wie der Bericht der Bundesregierung, mensteuergesetz war unmittelbar nach der Wahl abge- den wir heute wahrscheinlich zum letzten Mal diskutie- schlossen. Ergebnis: Der Betrag wird definitiv nicht er- ren. höht. Dagegen wird das von Schwarz-Rot beschlossene Hier vergeben wir eine Chance, durch die Vorbild- Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz den Interessen der funktion des Bundes die Wirtschaft jedes Jahr auf dieses Menschen mit Behinderungen eher schaden als helfen. Thema hinzuweisen. Und wenn das Thema nicht me- Für Menschen mit Behinderung dürfte es künftig noch dienwirksam diskutiert wird, dann werden auch weniger schwerer werden, eine Beschäftigung auf dem ersten Ar- Manager und Unternehmer für das Thema sensibilisiert beitsmarkt oder eine Wohnung zu finden. Das AGG und den arbeitslosen Behinderten werden weniger Jobs im stellt für Arbeitgeber, Vermieter und viele andere nichts ersten Arbeitsmarkt angeboten. Ich fordere die Bundesre- anderes als eine bürokratische Hürde dar, die mit umso gierung daher auf, den Bericht über die Beschäftigung ausgefeilteren juristischen Schachzügen zu umgehen ist, schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des allerdings auf Kosten der Menschen mit Behinderung. Bundes weiterhin jährlich vorzulegen. Die Überwindung von Vorurteilen und Diskriminierun- gen ist aber eine gesellschaftliche Aufgabe, die einen Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Schon an der Tages- (B) Bewusstseinswandel beim Einzelnen voraussetzt. Ge- ordnung zur Plenumsdebatte zeigt sich, wie wichtig der (D) setze können dies nicht erreichen. Die FDP-Bundestags- Bundesregierung unmittelbar vor dem Welttag der Men- fraktion hat daher in dieser Woche eine große Anfrage schen mit Behinderungen am 3. Dezember das Thema bezüglich der Praxistauglichkeit des AGG auf den Weg ist: Nach 23.00 Uhr soll in einer halben Stunde über den gebracht. Bericht über die Beschäftigung schwerbehinderter Men- schen beim Bund sowie über zwei Anträge betreffend Abschließend möchte ich noch den „Bericht der Bun- der Teilhabe behinderter Menschen beraten werden. Zu desregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter dieser Zeit wird niemand im Plenum sein. Angesichts Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes“ bewerten. der Tatsache, dass Deutschland während seiner EU- Auf den ersten Blick können wir feststellen, dass der Ratspräsidentschaft auch maßgeblich an der Gestaltung Bund hier vorbildlich handelt und mit einer Quote von des „Europäischen Jahres der Chancengleichheit für 7,1 Prozent das selbst gesetzte Ziel von 5 bzw. 6 Prozent alle“ mitwirken soll, ist das schon ein merkwürdiges deutlich übertrifft. Dies ist vorbildlich und sollte vor Vorgehen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Fa- dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit unter den milienministerium als nationale Durchführungsstelle des Behinderten die Wirtschaft motivieren, es uns gleichzu- Jahres der Chancengleichheit den Sinn dieser Aktion tun. nicht erfasst. In ihrer Schwerpunktplanung zur EU-Rats- Auf den zweiten Blick täuscht diese Quote aber über präsidentschaft kommt das Thema „Menschen mit Be- die derzeitige Entwicklung hinweg, denn bei den insge- hinderung“ nicht vor und bei den einbezogenen Verbän- samt 11 935 Neueinstellungen werden Schwerbehinderte den aus der Zivilgesellschaft ist keiner dabei, der explizit und gleichgestellte behinderte Menschen nur unter- deren Interessen vertritt. Ich empfehle der Bundesregie- durchschnittlich zu 3,5 Prozent berücksichtigt, sodass rung daher namens der Linksfraktion, eine der zahlrei- wir das zurzeit erreichte hohe Niveau in der Zukunft chen Schulungen der Europäischen Kommission zu wahrscheinlich nicht halten können. Dies müssen wir als Vielfalt und Antidiskriminierung in Anspruch zu neh- Abgeordnete genau beobachten, damit der Bund seine men, bevor sie diesen verantwortungsvollen Job in der Vorbildfunktion nicht verliert. EU übernimmt. Daher kritisiere ich auch scharf, dass dies wahr- Zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit scheinlich der letzte Bericht in der vorliegenden Form und Soziales, Drucksache 16/2840, ist klar zu sagen: Die sein wird. Die Bundesregierung will den Bericht nicht Fraktion Die Linke, lehnt diese ab. Den Bericht der Bun- mehr wie bisher jährlich veröffentlichen, sondern nur desregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter noch alle vier Jahre an den allgemeinen „Bericht über Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes, Drucksa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7059

(A) che 16/1100, nehme ich dahin gehend wohlwollend zur gilt aber trotzdem allen, die mit ihren Initiativen und Ak- (C) Kenntnis, als dass der Anteil schwerbehinderter Men- tivitäten dafür gesorgt haben, dass eine gesetzliche Klar- schen von 7,1 Prozent die geforderte Mindestbeschäfti- stellung erfolgt. gungsquote übersteigt. Der zu geringe Anteil von Frauen und der Anteil von Menschen mit Behinderungen im ge- Eine tatsächlich bessere Teilhabe behinderter Men- hobenen und höheren Dienst sind aber noch immer nicht schen und Chancengerechtigkeit wollen wir mit unserem zufrieden stellend. gestern eingebrachten Antrag für ein „Gesetz zum Aus- gleich behinderungsbedingter Nachteile (NAG)“ errei- Der öffentliche Dienst ist das eine, die Situation von chen. Danach wird allen schwerbehinderten Menschen Arbeitsuchenden mit Behinderungen auf dem allgemei- ab einem Grad der Behinderung von 50 unabhängig von nen Arbeitsmarkt das andere. Nach Angaben der Bun- Einkommen oder Vermögen ein persönliches Budget zu- desagentur für Arbeit bleibt der Arbeitsmarkt für behin- gestanden. Damit können sich die Betroffenen ihre not- derte Arbeitslose weiterhin „angespannt“. Im Oktober wendigen Hilfen selbst einkaufen, ohne sich beim So- waren offiziell 167 200 Menschen mit körperlichen oder zialamt einer Bedürftigkeitsprüfung zu unterziehen und geistigen Handicaps ohne Job gewesen. Das sind erst ihr gesamtes Hab und Gut veräußern zu müssen. Die 3 800 oder 2,3 Prozent mehr, als vor einem Jahr. Von ei- Einstellung personaler Assistenz oder Beschaffung von ner Beschäftigungsquote von 5 Prozent ist der Arbeits- Hilfsmitteln wird dann für die Betroffenen wesentlich markt meilenweit entfernt und auch beim Angebot von unproblematischer sein. Ausgebende Stelle soll das Ver- Lehrstellen für junge Menschen mit Behinderungen ist sorgungsamt sein, das auch den Bedarf ermittelt. Grund- die Lage auf dem ersten Arbeitsmarkt katastrophal. Inso- legendes Prinzip soll sein: Gleiche Leistung bei gleicher fern erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie ihre Behinderung. Bisher werden unterschiedliche Leistun- positiven Erfahrungen über die Einstellung und Beschäf- gen nach verschiedenen Gesetzen erbracht, je nachdem tigung von Menschen mit Behinderungen im öffentli- ob die Behinderung von Geburt an besteht oder durch ei- chen Dienst an die freie Wirtschaft weitergibt, besser nen Unfall erworben wurde. Die Leistungen sollen aus motiviert und informiert und eine spürsame Erhöhung Zahlungsverpflichtungen beispielsweise von Schadens- der Ausgleichsabgabe für Unternehmen, die die Min- verursachern sowie aus Steuermitteln bezahlt werden. destquote nicht erfüllen, vornimmt. Der bedarfsdeckende Ausgleich behinderungsbedingter Mit Befremden habe ich der Presse entnommen, dass Nachteile ist ein modernes Instrument der Selbstver- der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit plant, die Ar- wirklichung und der entscheidende Schritt zu einem beitsvermittlung für schwerbehinderte Menschen bei der neuen Grundsatz des Miteinanders. ZAV, Zentralstelle für Arbeitsvermittlung, in Bonn zu re- (B) duzieren oder gar abzuschaffen Ich fordere die Bundes- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit (D) regierung auf, die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung dem heute hier vorliegenden Bericht wird die Beschäfti- für schwerbehinderte Akademiker in Bonn zu erhalten. gungssituation Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst Der Entschließungsantrag der Koalition, nach dem des Bundes im Jahr 2004 dargestellt. Auch in diesem Be- künftig nur noch einmal pro Legislaturperiode über die richtsjahr ist es in den Bundesministerien sowie in den Beschäftigung behinderter Menschen beim Bund berich- Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentli- tet werden soll, ist nicht akzeptabel. Der bisher jährlich chen Rechts unter Bundesaufsicht gelungen, die Beschäf- erscheinende Bericht soll als Unterkapitel im Bericht tigungspflichtquote von 6 Prozent zu erfüllen. über die Lage behinderter Menschen verschwinden. Wir möchten aber jährlich nachvollziehen, wie sich die Be- Insgesamt liegt der Anteil Schwerbehinderter – wie schäftigungssituation beim Bund entwickelt. Nur so bereits im Vorjahr – bei 7,1 Prozent. Der Bund als Ar- können Verantwortliche zeitnah reagieren, wenn sich die beitgeber dient erneut als gutes Beispiel für die gelun- Situation verändert. Noch besser wäre es, der Behinder- gene Integration von Menschen mit Behinderungen in tenbericht stünde jedes Jahr auf der Tagesordnung. den ersten Arbeitsmarkt, auch wenn die Anzahl der mit Schwerbehinderten besetzten Arbeitsplätze nicht weiter Der Ausschuss Arbeit und Soziales empfiehlt außer- erhöht werden konnte, sondern weitgehend auf dem Ni- dem, die beiden Anträge zur besseren Teilhabe behinder- veau des Jahres 2003 – minus 170 Arbeitsplätze – stabi- ter Menschen von Bündnis 90/Die Grünen, Druck- lisiert wurde. Besonders hervorheben möchte ich den sache 16/949, und FDP, Drucksache 16/853, abzulehnen. hohen Anteil der beschäftigten Frauen mit Behinderun- Darin geht es vorrangig um das alte Problem des Merk- gen. Im öffentlichen Dienst des Bundes ist ihre Anzahl zeichens „B“ im Schwerbehindertenausweis mit dem auf 35,3 Prozent der Schwerbehinderten gestiegen. Dies Verweis: „Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist ist leider keine Selbstverständlichkeit: Frauen mit Behin- nachgewiesen.“ Das führte häufig dazu, dass Betroffe- derungen werden nach wie vor am Arbeitsplatz doppelt nen mit diesem Merkzeichen der Zugang zu Verkehrs- diskriminiert. mitteln und öffentlichen Einrichtungen verwehrt wird, wenn sie ohne Begleitung unterwegs sind. Die Anträge Kritisch erwähnen möchte ich, dass der Deutsche zielen sinnvollerweise auf klarstellende Formulierung Bundestag die Quote mit 6 Prozent nur sehr knapp er- dahin gehend, statt der Pflicht das Recht auf ständige füllt und somit deutlich hinter den übrigen Bundesein- Begleitung zu betonen. Da die Koalition mit einer eige- richtungen liegt. Hier brauchen wir weitere Anstrengun- nen parlamentarischen Initiative das Problem – hoffent- gen der Bundestagsverwaltung und aller Fraktionen. Ich lich – gelöst hat, haben sich die Anträge erledigt. Dank freue mich sehr, verkünden zu können, dass die grüne 7060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Bundestagsfraktion die Anzahl ihrer Mitarbeiterinnen pflicht sollten ursprünglich die Bundesdienststellen dazu (C) und Mitarbeiter mit Behinderungen erhöht hat. angehalten werden, verstärkt Kriegsbeschädigte einzu- stellen. Heute wird dokumentiert, dass die Bundesver- An der heutigen Debatte sieht man sehr deutlich, wie waltung ihre Verpflichtung, schwerbehinderte Menschen wichtig eine regelmäßige Beschäftigung des Deutschen Bundestags mit der Beschäftigungssituation Schwerbe- zu beschäftigen, seit vielen Jahren mit steigender Ten- hinderter im öffentlichen Dienst ist. Aus diesem Grund denz erfüllt. Im Jahr 2004 konnten wiederum 7,1 Prozent kritisiere ich den Beschluss der Koalitionsfraktionen, Beschäftigtenquote erreicht werden. Sie liegt damit über künftig nur noch einmal pro Legislaturperiode im Rah- der Pflichtquote von 5 bzw. 6 Prozent. men des Berichts über die Lage behinderter Menschen Die Bundesverwaltung ist damit seit Jahren vorbild- und die Entwicklung ihrer Teilhabe, der über die Be- lich bei der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen. schäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentli- Gleichzeitig ist die Steigerung der Quote in den letzten chen Dienst des Bundes, zu berichten. Jahren ein Indiz dafür, dass die beschäftigungsfördern- Fehlentwicklungen werden künftig später erkannt. den Maßnahmen der letzten beiden Legislaturperioden Der heute vorliegende Bericht zeigt, dass die Neueinstel- Wirkung zeigen. Es ist letztlich das Zusammenspiel aller lungen Schwerbehinderter in den öffentlichen Dienst Maßnahmen und Initiativen, das die Situation der behin- leicht rückläufig sind. Es ist doch zentral, dass solche derten Menschen verbessert. Daher führt eine ganzheitli- Entwicklungen frühzeitig festgestellt werden, um dann che Betrachtung weiter als die isolierte Betrachtung ein- auch schnell handeln zu können. Wenn nun nur noch alle zelner Aspekte. vier Jahre berichtet wird, so wird die Möglichkeit ge- schaffen, die Verantwortung für eventuelle Fehlentwick- Dies spricht dafür, die Beschäftigung schwerbehin- lungen leicht auf die vorherige Regierung zu schieben. derter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes künftig nicht mehr gesondert darzustellen, sondern mit Zugleich wird den Abgeordneten die Möglichkeit ge- dem Bericht über die Lage der behinderten Menschen nommen, regelmäßig in den Wahlkreisen die Beschäfti- und die Entwicklung ihrer Teilhabe zu verknüpfen, um gungserfolge der öffentlichen Hand zu kommunizieren. ihn so umfassender und damit insgesamt aussagekräfti- Nur so können wir aber mit Nachdruck an die freie Wirt- schaft appellieren, diesem guten Beispiel zu folgen. ger zu gestalten. Den Informationsbedürfnissen des Ge- setzgebers und der Öffentlichkeit kann damit künftig Ich möchte abschließend auch noch positiv hervorhe- besser Rechnung getragen werden. Dies ist das Ziel des ben, dass die Regierungsfraktionen den Anregungen aus Entschließungsantrags, der Ihnen vorliegt und um des- unserem Antrag „Recht statt Pflicht – Einschränkungen sen Unterstützung ich Sie bitte. (B) behinderter Menschen bei der Teilhabe am öffentlichen (D) Leben entgegenwirken“ weitgehend gefolgt ist. Mit den Daneben liegen noch zwei Anträge zur Abstimmung Änderungen, die zusammen mit dem Betriebsrentenge- vor, die die Teilhabe behinderter Menschen betreffen. setz verabschiedet wurden, konnte unserem Antrag Ge- Dies ist einmal ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die nüge getan werden. Künftig werden die Regelungen für Grünen, mit dem Änderungen hinsichtlich der Schwer- Nachteilsausgleiche im Schwerbehindertenrecht präziser behindertenausweise mit dem so genannten Merkzei- gefasst. chen „B“ (Begleitung) durchgesetzt werden sollen. Ziel Ich freue mich, dass wir auch die Regierungsfraktio- ist, ungewollte Diskriminierungen von Menschen mit nen davon überzeugt haben, dass behinderten Menschen Behinderung zu vermeiden. Die dafür erforderliche, ein selbstbestimmtes und von umfassender Teilhabe ge- wichtige Klarstellung im Behindertenrecht haben wir be- prägtes Leben in der Mitte der Gesellschaft ermöglicht reits vorgenommen. Sie ist in dem Betriebsrentenände- werden muss. rungsgesetz enthalten, das von Bundestag und Bundesrat bereits verabschiedet wurde und demnächst in Kraft tre- ten wird. Der vorliegende Antrag hat sich damit zeitlich Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- bereits überholt, sodass er abzulehnen ist. nister für Arbeit und Soziales: Die Bundesregierung be- richtet einmal in der Legislaturperiode über die Lage der Den zweiten Antrag hat die FDP-Fraktion vorgelegt behinderten Menschen und die Entwicklung ihrer Teil- mit dem Ziel, die Gruppe der Personen, die Parkerleich- habe, zuletzt im Dezember 2004 (Drucksache 15/4575). terungen in Anspruch nehmen können, zu erweitern. Dieser Bericht erfasst alle relevanten Bereiche der Politik Dieser Antrag wird im Interesse der Menschen, die für behinderte Menschen. Auf seiner Grundlage können schon heute einen Anspruch auf Parkerleichterungen ha- Maßnahmen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter ben, abgelehnt. Denn bei allen Bestrebungen, Anliegen Menschen optimiert, mögliche Fehlentwicklungen recht- von Menschen mit Behinderungen zu entsprechen, darf zeitig erkannt und gegengesteuert werden. Ziel ist, dass nicht aus dem Blickfeld geraten, dass eine Ausweitung das SGB IX auch in Zukunft für eine verlässliche und des Personenkreises für diejenigen schwerbehinderten nachhaltige Integration behinderter Menschen steht. Menschen nachteilig wäre, für die ursprünglich die Park- Darüber hinaus berichtet die Bundesregierung jähr- erleichterungen geschaffen wurden. Dies sind außerge- lich über die Beschäftigung schwerbehinderter Men- wöhnlich gehbehinderte Menschen, deren Gehvermögen schen im öffentlichen Dienst des Bundes. Diese Berichte auf das Schwerste eingeschränkt ist und die daher auf ei- gehen auf Beschlüsse des Deutschen Bundestages aus nen möglichst kurzen Weg vom Fahrzeug zu ihrem den Jahren 1959 und 1964 zurück. Durch die Berichts- Zielort angewiesen sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7061

(A) Zudem darf die Ursache für den Wunsch einzelner In- von Zehntausenden und nichts anderes. Verschiedene (C) teressengruppen, Parkerleichterungen in Anspruch neh- Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen haben be- men zu können, nicht aus dem Blick geraten. So haben reits bestätigt, dass nur wenige Geduldete in ihrem Zu- einzelne Länder vom Bundesrecht abweichende Länder- ständigkeitsbereich unter die Regelung fallen dürften. regelungen erlassen und damit Personengruppen die In- anspruchnahme von Parkerleichterungen verschafft, die Wie viel die Einigung der Innenministerkonferenz nicht außergewöhnlich gehbehindert sind. Bemühungen wirklich wert ist, zeigen die weiteren Beschlüsse. Bei des Bundes, hier eine Vereinheitlichung zu erzielen, der Innenministerkonferenz wurde auch über das scheiterten bislang an dem Unwillen der Länder, bereits Schicksal von circa 10 000 geduldeten Irakern gespro- begünstigte Personengruppen auszuschließen, sodass chen. Dass sich der Irak faktisch im Bürgerkrieg befin- nur eine bundeseinheitliche Regelung in Betracht käme, det, wurde ignoriert. Stattdessen wird im Bericht lako- die den Besitzstand aller Länder berücksichtigt. nisch festgehalten: „Die IMK stellt fest, dass nun mit der Rückführung von ausreisepflichtigen Irakern begonnen Eine solche Vereinheitlichung würde aber zu einer zu werden kann.“ Zunächst sollen straffällig gewordene Ira- starken Ausdehnung des berechtigten Personenkreises ker abgeschoben werden, dann auch alle übrigen. Wir führen. So gibt es in Deutschland alleine 300 000 Perso- wissen aber aus Berichten von Flüchtlingsorganisatio- nen, die an Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa erkrankt nen, dass auch schon jetzt Iraker, gleich ob Christen oder sind, und 100 000 Stomaträger. Damit stiege die Zahl Muslime, abgeschoben werden. Beschließt so etwas je- der Berechtigten um über 50 Prozent, ohne dass auch der mand, der Menschen helfen will? Wohl kaum! Die In- verfügbare Parkraum im gleichen Maße gesteigert nenminister haben mit beiden Beschlüssen deutlich ge- werden könnte. Für die eigentliche Zielgruppe der Park- macht, dass sie in erster Linie die Abschiebung von erleichterungen – außergewöhnlich gehbehinderte Men- möglichst vielen Menschen interessiert und sonst nichts. schen – bedeutete dies eine erhebliche Schlechterstel- lung, die vermieden werden muss. Der Antrag der Grünen geht in die richtige Richtung, ist aber nicht entschieden genug. Er lässt den Ausländer- Der eine Antrag hat sich zeitlich überholt und der behörden in der Frage der angeblich oder tatsächlich zweite trägt noch zu einer Verbesserung von Menschen selbst geschaffenen Abschiebungshindernisse immer mit Behinderungen bei bzw. sein Anliegen ist eher auf noch einen Ermessensspielraum. Die Erfahrungen aus Länderebene zu verfolgen. der Praxis zeigen, dass dieses Ermessen selten im Sinne der Betroffenen ausgeübt wird. Daher muss hier eine klare Linie gelten: Wer sich einen bestimmten Zeitraum Anlage 8 geduldet in Deutschland aufgehalten hat, hat automa- (B) tisch Zugang zum Bleiberecht. Und dafür muss es eine (D) Zu Protokoll gegebene Rede dauerhafte gesetzliche Regelung geben, die auch in Zu- kunft Kettenduldungen verhindert. zur Beratung des Antrags: Für eine wirksame Bleiberechtsregelung für langjährig in Deutsch- Es gibt aber einen weiteren Punkt, zu dem der Antrag land geduldete Personen (Tagesordnungspunkt 20) der Grünen überhaupt nichts sagt: die Verweigerung des Bleiberechts für Geduldete, denen extremistische Be- Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Innenministerkonfe- strebungen vorgeworfen werden. Im Antrag fehlt die renz hat vor zwei Wochen eine Regelung beschlossen, Absage an Gesinnungsabschiebungen auch von Flücht- die alle Hoffnungen auf ein humanitäres Bleiberecht zer- lingen und Asylbewerbern, deren Anerkennung widerru- schlagen hat. In der Pressekonferenz haben sich die In- fen wurde. Da werden Menschen abgeschoben, denen nenminister zwar gegenseitig auf die Schulter geklopft eine Straftat nicht nachgewiesen werden kann, denen le- und waren offensichtlich stolz auf den gefundenen Kom- diglich irgendeine extremistische Gesinnung vorgewor- promiss. Aber stolz können sie darauf sein, die Öffent- fen wird. Deshalb will man sie loswerden. Besonders be- lichkeit massiv getäuscht zu haben. Diese dachte näm- troffen sind davon Kurdinnen und Kurden, auch wenn in lich, hier sei eine gute Lösung für zahlreiche Menschen der Öffentlichkeit so getan wird, als wären nur islami- gefunden worden, die seit vielen Jahren mit so genann- sche Extremisten betroffen. Diese Politik, mithilfe von ten Duldungen in Deutschland leben, ohne bislang auch Abschiebungen anscheinend politische Konflikte in nur die geringste Chance zur Integration bekommen zu Deutschland zu lösen, wird inzwischen offenbar auch haben. Von insgesamt 100 000 Menschen war die Rede, von den Grünen getragen. Solange es dazu keine Klar- deren Schicksal sich nun bessern werde. stellung gibt, werden wir solchen Anträgen nicht zustim- men. Wenn man sich den Beschluss genauer anschaut, wird man feststellen müssen: Es ist ein fauler Kompromiss Wir werden zur Einführung eines umfassenden und mit vielen Löchern. Gerade bei denjenigen, die eine humanitären Bleiberechts noch einen eigenen Antrag großzügige Regelung brauchen, herrscht weiterhin Unsi- einbringen. Denn wir wollen nicht, dass allein erzie- cherheit. Ob eine allein stehende Mutter oder ein Rent- hende Mütter und Väter, alte Menschen, Kinder im ner eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, soll auch Schulalter oder Jugendliche in der Ausbildung vom gu- künftig im Ermessen der Ausländerbehörden stehen. Bei ten Willen der Innenminister und Behördenmitarbeiter dem Paket, das die Innenminister uns hier verkaufen abhängen, wenn sie ein Bleiberecht in Anspruch nehmen wollen, handelt es sich um eine Mogelpackung zulasten wollen. 7062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Anlage 9 später dringend benötigen könnten. Die Meere nehmen (C) die Hälfte des weltweiten CO2-Ausstoßes auf und tragen Zu Protokoll gegebene Reden damit eine wesentliche Last der globalen Klimaverände- zur Beratung des Antrags: Sensible Ökosysteme rung. Versauerung der Meere verändert die Ökosysteme, in der Tiefsee besser schützen (Tagesordnungs- Nahrungsketten reißen. Dennoch fließt in die Erfor- punkt 21) schung der Meere nach wie vor nur ein Bruchteil der Mittel, die für die Erforschung des Weltraums zur Verfü- gung stehen. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Lange Zeit dachten wir, Leben sei ohne Sonne nicht möglich. Geht man un- Es hat in der Vergangenheit auf regionaler, nationaler ter Wasser, verlischt das letzte Sonnenlicht nach etwa und auch globaler Ebene viele Anstrengungen gegeben, 400 Metern vollständig. Deswegen ist die Menschheit in der Gefährdung der Meere zu begegnen. Aber gerade die der Vergangenheit dem Irrtum aufgesessen, dass es in Tiefsee, zu der vornehmlich Meeresregionen gehören, der Tiefsee keinerlei Leben geben kann. Inzwischen sind die außerhalb der nationalen Hoheitsgewässer liegen, ist wir klüger. Die durchschnittliche Tiefe des Ozeanbodens bis heute unzureichend geschützt und eine wirkungs- liegt bei ungefähr 4 000 Metern, schon hier herrscht ab- volle Kontrolle von Schutzmechanismen, zum Beispiel solute Finsternis. Fische aber wurden noch in einer Tiefe Fischereiauflagen, ist hier kaum möglich. unterhalb von 8 000 Metern gefangen! Vor einigen Monaten haben wir hier einen Antrag der Wir müssen also langsam umdenken in Bezug auf un- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen diskutiert, der sere Vorstellungen von der Tiefsee. In völliger Dunkel- ein generelles Moratorium für Grundschleppnetzfische- heit und kalten Strömungen gedeihen Korallen, die kein rei in der Tiefsee verlangt. Wir haben diesen Antrag sei- Hobbytaucher je zu Gesicht bekommt. Die Korallen nerzeit abgelehnt, weil er ein wichtiges Thema leider zu strahlen in Weiß und leuchtendem Rot; Fische, Seesterne undifferenziert abhandeln wollte. Das Thema ist wichtig, und Krebse bewegen sich zwischen den verästelten weil in der Tat bestimmte Arten von Grundschleppnetz- Kalkskeletten. Doch dieses Riff erstrahlt nur im Schein- fischerei die eingangs beschriebenen Ökosysteme, Kalt- werferlicht eines Tauchboots. Wer jemals Videoaufnah- wasserkorallenriffe oder Seeberge, unwiederbringlich men aus einem solchen Tauchboot gesehen hat, wird die zerstören. Es ist gut, dass die deutsche Fischerei dies eindrucksvolle Vielfalt der Bilder nicht vergessen. Aber nicht praktiziert. Aber das Thema der Tiefseeökologie außerhalb dieses Scheinwerferlichts herrscht die Finster- muss breiter aufgegriffen werden. Wir tun dies mit unse- nis der Tiefe. Kaltwasser-Korallenriffe, die Stiefge- rem Antrag. schwister der tropischen Schnorchelattraktionen, spie- Zwei Drittel der Erdoberfläche zählen zum maritimen len aber offenbar eine zentrale Rolle für das Leben unter (B) Lebensraum. Die Bevölkerung dieser Regionen und die (D) Wasser. Als Laichgrund und Kinderstube vieler Fisch- dort ansässige Wirtschaft leben vom Meer und dessen arten spielen die Riffe eine zentrale Rolle im Lebens- Bewirtschaftung. Es geht hier also auch um eine faire kreislauf der Tiefsee und bilden so einen Hotspot der Ar- und vernünftige Güterabwägung. Zugleich geht es ge- tenvielfalt. Vom Meeresboden erheben sich gigantische nauso darum, diese maritime Lebensgrundlage auch für Seeberge. Würden sie an Land stehen und für unser künftige Generationen zu erhalten und dem Gebot der Auge sichtbar sein, so fielen sie unter die eindrucks- Nachhaltigkeit Rechnung zu tragen. vollsten Landschaftsgebilde der Welt. Die erhöhte Pro- duktion von Biomasse an und auf diesen Seebergen Sicher – es gibt unterschiedliche Interessenlagen. Ich macht sie zu Oasen der Ozeane, deren vielfältiger Ein- habe deshalb diese unterschiedlichen Interessen an einen fluss für verschiedenste biologische Prozesse unschätz- Tisch geholt. Können Sie sich vorstellen, dass Green- bar ist. Hydrothermale Quellen, so genannte Schwarze peace und der Deutsche Fischereiverband auch gemein- und Weiße Raucher, die sich am Grund der Tiefsee fin- same Interessen vertreten? Ja, genau das haben wir den, bilden eigene Biotope mit vielen, meist nur in die- erreicht und auf dieser Grundlage unseren Antrag erar- ser Umgebung lebenden Arten. Einige Forscher weisen beitet. Greenpeace spendet Beifall und der Fischereiver- der Umgebung von Schwarzen Rauchern eine zentrale band unterstützt es – das ist ein Erfolg für den gemeinsa- Bedeutung in der Entwicklung des Lebens auf der Erde men Schutz der Tiefseeökologie, dessen Wert wir gar zu. Einige Biologen erwarten sogar, ähnliches Leben auf nicht hoch genug schätzen können. Monden der Gasplaneten wie zum Beispiel dem Jupiter- mond Europa zu finden. Sie sehen also, wir wissen Kernforderung ist es, die Erforschung der Ökosys- schon einiges, noch lange aber nicht alles über das Le- teme der Tiefsee massiv zu beschleunigen, damit wir ben der Tiefsee. sensible Habitate auf hoher See gezielt schützen können. Das muss dann auch die Einrichtung notwendiger Und dennoch: wir wissen heute über die Rückseite Schutzgebiete beinhalten. Und wenn es die regionalen des Mondes weit mehr als über das Leben in der Tiefsee Fischereimanagementorganisationen auch in Zukunft – und das, obwohl die Weltmeere unser Leben vielfältig versäumen, effektive Schutzmaßnahmen zu ergreifen, beeinflussen: Sie decken einen Großteil des Nahrungs- schließt das auch ein befristetes Verbot von Fischerei- bedarfs von Milliarden von Menschen. Die Haupttrans- praktiken, die das marine Ökosystem dauerhaft schädi- portwege für den Güterverkehr ziehen sich wie ein Netz gen, mit ein. Ein Fehlverhalten der regionalen Fischerei- über das Wasser, ohne die das Weltwirtschaftssystem managementorganisationen scheint mir aber momentan schlicht zum Erliegen käme. Und am Meeresgrund la- gar nicht das vordringlichste Problem zu sein. Viel ver- gern wahrscheinlich Bodenschätze, die wir früher oder heerender sind offensichtlich die Folgen der illegalen Fi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7063

(A) scherei. In diesem Punkt ist schnelles Handeln gefordert. gesamte Gleichgewicht des Meeres. Grundschleppnetz- (C) Wir brauchen effektive Kontrollen und wirksame Sank- fischerei und andere zerstörerische Fischereipraktiken, tionen – und zwar weltweit. All das sind Forderungen aber auch Überfischung und illegale Fischerei führen zu unseres Antrags. irreversiblen Störungen des ökologischen Gleichgewichts des Meeres, deren Folgen besonders für die Entwick- Die mittel- und langfristigen Auswirkungen von zer- lungs- und Schwellenländer spürbar sind. störerischen Fischereipraktiken, Verschmutzung und in zunehmendem Maße auch des fortschreitenden Klima- Heute sind bereits 60 Prozent der weltweit 200 wirt- wandels auf die Meere rücken zunehmend in den Blick- schaftlich bedeutendsten Fischarten bis an ihre Grenzen punkt der Öffentlichkeit. Frank Schätzings Bestseller befischt oder sogar schon überfischt. Neben der eben „Der Schwarm“ hat dem Thema der Meere und der Tief- beschriebenen nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichteten see sicherlich einen kräftigen Schutz im öffentlichen Be- Befischung der Weltmeere ist hierfür auch der stetig stei- wusstsein verliehen. gende Bedarf an Fisch die Ursache. Denn von den inter- Damit das Thema „Schutz der Tiefsee“ und damit national agierenden Fischereiflotten werden mehr Fische verbunden der „Schutz der Meere“ noch weiter ins Be- gefangen als geboren werden. wusstsein der Menschen und im Besonderen der Kinder Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklungs- rückt, die später mit den schwerwiegenden Folgen der und Schwellenländer? Zwei Drittel der Weltbevölkerung Umweltzerstörung zu kämpfen haben, rufen die CDU- decken nach Angaben der Ernährungs- und Landwirt- Abgeordneten aus Schleswig-Holstein in Zusammen- arbeit mit dem Kieler Leibniz-lnstitut für Meereswissen- schaftsorganisation der Vereinten Nationen über 40 Pro- schaften IFM-GEOMAR zu einem Malwettbewerb auf: zent ihres Proteinbedarfs mit Fischereiprodukten. Für Unter dem Motto „Malt die Tiefsee, wie Ihr sie Euch mehr als 1 Milliarde Menschen in Süd- und Ostasien bei- vorstellt“ können sich alle 5. und 6. Klassen in Schles- spielsweise gilt Fisch als die wichtigste Eiweißquelle. wig-Holstein beteiligen. Dies ist ein praktisches Beispiel Die Entwicklungsländer liefern mehr als 70 Prozent der für Bewusstseinsbildung. gesamten Fischereierträge. Sie sind vom Rückgang der Fischbestände besonders hart betroffen. Wir wissen, dass Wir müssen dafür sorgen, dass die Nutzung der Meere die Nutznießer vorrangig die Industrieländer sind. Sie nachhaltig erfolgt und sowohl deren einzigartige Arten- unterhalten Fischereiflotten in den fischreichen Gewäs- vielfalt als auch altbekannte sowie noch unentdeckte sern vieler Entwicklungsländer. Ressourcen für die kommenden Generationen erhalten bleiben. Dazu ist es auch notwendig, Schutzmechanis- Mit dem vorliegenden Antrag lenken wir den Blick auf men in Kraft zu setzen, selbst dann, wenn der Schutzbe- die Notwendigkeit, das empfindliche ökologische Gleich- (B) darf noch nicht nachgewiesen ist. Wir bekennen uns zum gewicht der Ozeane zu erhalten. Ebenso notwendig ist es (D) Vorsorgeprinzip. Wenn wir so lange warten wollen, bis aber auch, die gravierenden Beeinträchtigungen der die Tiefseeökologie erforscht ist, bevor wir überlegen, Ernährungssicherheit für die Entwicklungs- und Schwel- ob es dort etwas zu schützen gibt, dann dürfte jeglicher lenländer abzuwenden. Eine nachhaltige und verantwor- Schutz zu spät kommen. Wir dürfen nicht abwarten, bis tungsvolle Fischerei ist wichtig, damit den Fischern an alles zerstört ist, bevor Schutzmechanismen greifen. Wir den Küsten Afrikas, Lateinamerikas und Asiens nicht müssen jetzt handeln. Wir wissen aber auch: Dies kön- die Existenzgrundlage entzogen wird. nen wir nicht in nationalen Alleingängen regeln. Wir brauchen hierfür eine gemeinsame Linie in der EU und Dieser Antrag bringt die Bedeutung einer nachhaltigen Durchsetzungskraft auf internationaler Ebene. Deshalb Entwicklung zum Ausdruck und steht somit im Kontext ist es gut, dass die Bundesregierung die Zielsetzung un- der Millenniumsentwicklungsziele. Ziel 7 besagt, dass seres Antrags unterstützt. wir uns für die Sicherung der ökologischen Nachhaltig- keit einsetzen. Deshalb ist es richtig und wichtig, wie wir Gemeinsam können wir unseren Beitrag dafür leisten, in unserem Antrag fordern, dass im politischen Dialog dass die einzigartigen Schätze der Tiefsee, die Geheim- die Bedeutung der ökologischen Systeme der Tiefsee nisse und Wunder der Meere, auch für künftige Genera- gerade für die Entwicklungs- und Schwellenländer ver- tionen erhalten bleiben und ihnen sichere Lebensgrund- mittelt wird – und dass es in unser aller Interesse liegt, lagen bieten. das marine Ökosystem vor zerstörerischen Fischerei- praktiken zu schützen. Gabriele Groneberg (SPD): Mit Schleppnetzen, die 2 Kilometer hinunter reichen auf den Meeresgrund, kön- Dirk Becker (SPD): Das Meer ist noch immer ein nen heutzutage Fische gefangen werden, die sogar der weitestgehend unerforschtes Gebiet. Vor allem die Tief- Wissenschaft noch weitgehend unbekannt sind. Von deren see, die 80 Prozent der Weltmeere repräsentiert und ins- Existenz haben wir bisher gar nichts gewusst. Einige gesamt 62 Prozent der gesamten Erdoberfläche bedeckt, dieser Fische, die in den dunklen Tiefen der Ozeane ge- fangen werden, werden bis zu 80 Jahre alt. Diese Arten ist bisher minimal erforscht. Von den 318 Millionen reagieren besonders sensibel auf Veränderungen in ihrer Quadratkilometern, die die Tiefsee umfasst, sind erst Population. 0,1 Prozent genauer untersucht worden. Obwohl die Weltmeere eine doppelt so große Fläche unserer Erde Das massive Eingreifen in dieses hochempfindliche bedecken wie alle Kontinente zusammen, wissen wir Ökosystem der Tiefsee hat gravierende Folgen für das über sie weniger als über den Mond. 7064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Vor allem Kleinstlebewesen, die Mikroben – das sind tierenden Korallenriffe sind irreversibel zerstört, 24 Pro- (C) Bakterien, Viren und mikroskopisch kleine Algen –, zent stehen kurz vor dem Kollaps und weitere 26 Pro- sind, obwohl sie fast die gesamte Biomasse stellen, wei- zent sind längerfristig gefährdet. Diese Tatbestände testgehend unerforscht. Lediglich 7 000 Arten, das sind erfordern verstärkte Maßnahmen zum Schutz dieser sen- rund 5 Prozent der geschätzten Gesamtanzahl, sind kata- siblen Ökosysteme in der Tiefsee. logisiert. Mikroben übernehmen nicht nur für das marine Ökosystem äußerst wichtige Funktionen. Neben ihrer Vor dem Hintergrund der erläuterten Entwicklungen Fähigkeit, durch den Abbau von Methan auch unter müssen wir dafür Sorge tragen, dass vor allen Dingen Wasser ohne Sauerstoff die Entstehung von Ökosyste- die Erforschung der Tiefsee beschleunigt und besonders men zu ermöglichen, produzieren sie ferner große Teile gefördert wird. Nur so lassen sich neue Erkenntnisse des Sauerstoffs der Erde. zum Schutz der Tiefsee gewinnen. Der im Jahre 2000 begonnene globale „census of ma- In Hinsicht auf die ökonomischen Folgen der Überfi- rine life“, den man als „Volkszählung unter Wasser“ be- schung und illegaler Fischereitechniken, besonders für zeichnen kann, ist ein erster, dringend notwendiger Ver- Entwicklungs- und Schwellenländer, ist es unerlässlich, such, sämtliche Arten der Weltmeere zu katalogisieren. destruktive Fischereiregelungen zu unterbinden sowie Seit Beginn des Zensus wurden 13 000 neue marine Ar- nachhaltige Fischereipraktiken zu fördern. Aber vor al- ten registriert, darunter 106 bis zu diesem Zeitpunkt un- lem müssen wir die immense Bedrohung der biologi- bekannte Fischarten. Allein vor der Küste Afrikas wur- schen Vielfalt der Tiefsee unverzüglich stoppen. den seit Beginn der Untersuchungen pro Quadratmeter Um dieses Ziel zu erreichen, sollten wir uns an den 500 neue Arten von Pflanzen, Mikroben oder Fischen Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats der Bun- entdeckt. desregierung Globale Umweltveränderungen – WBGU – Taxonomen kommen offensichtlich angesichts der orientieren, der die Errichtung von internationalen Mee- großen, unbekannten biologischen Vielfalt der Meere resschutzgebieten anrät. Diese Schutzgebiete sollen min- mit ihrer Arbeit kaum nach. Bisher sind nur 250 000 ma- destens 20 bis 30 Prozent der Fläche mariner Ökosysteme rine Tier- und Pflanzenarten bekannt, was aber tatsäch- umfassen. Sie übernehmen wichtige Schutzfunktionen, lich alles in den Weltmeeren wächst und schwimmt, lässt die darin bestehen, erstens die Anpassungsfähigkeit der sich nur vage vermuten. Experten schätzen, dass in der Ökosysteme zu erhöhen, zweitens anthropogene Fakto- Tiefsee bis zu mehrere Millionen verschiedene Arten le- ren wie die Überfischung und die Habitatzerstörung ein- ben. Doch obwohl wir so geringe Kenntnisse über diesen zudämmen und schließlich drittens Schutzgebiete als faszinierenden und für den Menschen so wichtigen Le- Instrument des Fischereimanagements zur Erhaltung bensraum besitzen, gefährden wir täglich dieses hoch- kommerziell nutzbarer Fischbestände einzurichten. (B) (D) komplexe marine Ökosystem. Um die Integrität von Bioregionen zu bewahren, bio- Bis zum heutigen Tag sind durch Überfischung be- logische Ressourcen zu sichern, zukünftige Biopoten- reits 47 Prozent der Ressourcen in den Weltmeeren kom- ziale zu erhalten und die Regelungsfunktionen dieses un- plett ausgeschöpft. Einhergehend mit illegalen und zer- ermesslichen globalen Naturerbes zu bewahren, sind die störerischen Fischereipraktiken stellen sie eine immense Maßnahmen, die im Koalitionsantrag stehen, umzuset- Bedrohung nicht nur für die biologische Vielfalt der zen. Diese Ziele und ihre globale Bedeutung müssen zu- Meere dar. Besonders in Entwicklungs- und Schwellen- dem stärker durch einen politischen Dialog in der inter- ländern nehmen Überfischung und gefährdende Fische- nationalen Gemeinschaft kommuniziert werden. reipraktiken den Menschen sowohl ihre Nahrungsgrund- Damit wir diesen faszinierenden Lebensraum der lage als auch nachhaltige ökonomische Potenziale. Tiefsee nicht weiter zerstören, bevor er uns in seiner Ferner sind die Meere durch den anthropogenen Kli- ganzen Vielfalt bekannt ist, möchte ich Sie bitten, dem mawandel weiteren Bedrohungen ausgesetzt. So führt Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zur die Erderwärmung zu einer gleichzeitigen Erwärmung Verbesserung des Schutzes sensibler Ökosysteme in der der Weltmeere und zu einer starken Übersäuerung. Diese Tiefsee zuzustimmen. Faktoren haben nachweislich schädigende und irrever- sible Konsequenzen für die biologische Vielfalt der Angelika Brunkhorst (FDP): Die Meere mit ihren Meere. So verursachen sie beispielsweise nicht von der vielfältigen Ökosystemen sind unterschiedlichsten Be- Natur vorgesehene Artenwanderungen in arktische Ge- einträchtigungen ausgesetzt. Die wirtschaftliche Nut- biete, was eine gravierende Veränderung der Ökosys- zung der Meere hat in den vergangenen Jahrzehnten temstruktur zur Folge hat. Besonders hervorzuheben ist stark zugenommen und neue Nutzungsinteressen gewin- die daraus resultierende Gefährdung der Kaltwasser- nen heute zunehmend an Bedeutung. Korallenriffe. Sie gelten als „Regenwald des Meeres“ Trotz einiger Erfolge, die seit den ersten internationa- und übernehmen wichtige Funktionen im Schutz vor len Abkommen im Meeresschutz zu verzeichnen sind, Tsunamis. Zudem stellen sie einen großen kulturellen ist nach wie vor der Schutz der Meere eine große He- Wert dar, der auch für den Tourismus bedeutsam ist. rausforderung. Alarmierend sind weiterhin die Auswir- Allerdings sprechen Experten schon seit mehr als kungen einer schonungslosen Ausbeutung der Fisch- zehn Jahren von einer „Korallenriffkrise“. Ihre Anpas- fauna sowie die Ausrottung vieler Arten im Lebensraum sungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen Meer. Die Schäden, die den Meeresregionen durch ist weltweit überschritten. Bereits 20 Prozent aller exis- Schadstoffeinträge und durch unangepasstes menschli- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7065

(A) ches Handeln zugefügt werden, sind oft irreparabel. Es kannt und zum anderen laufen die natürlichen Prozesse (C) sind vor allem schleichende Prozesse, die langfristig be- in den Tiefen der Meere deutlich langsamer ab. Abgese- sonders schädigend wirken. hen von den Fangquoten sind die Fangmethoden an sich ein weiteres Problem. Beim Tiefseefischfang entstehen Ein Beispiel sind die noch immer zu hohen Nährstoff- immense Schäden am Meeresboden. Auch für den Geo- und Schwermetalleinträge. Dazu kommen Schädigungen körper Meeresboden gilt, dass er noch wenig erforscht durch die Schifffahrt, unterschiedliche Offshore-Nutzun- ist. gen sowie Veränderungen durch den Klimawandel. Na- tionalparke und Schutzgebiete müssen auch in Zukunft Ziel der Politik muss gesicherter Schutz der Tiefsee unangetastet bleiben. Der Schutz ökologisch hochsensi- sein, bei einer gut überwachten, nachhaltigen Nutzung bler Meeresgebiete, wie zum Beispiel der Antarktis, muss der Meeresressourcen. auch auf internationaler Ebene weiterentwickelt werden. Der globale Verlust biologischer Vielfalt und die Zer- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Anlass des störung von Lebensräumen an Land setzen sich auch in Antrags der Koalition dürften zwei Dinge gewesen sein: den Weltmeeren fort. Gleichgewichte in der Nahrungs- erstens die bevorstehende Beratung der Meeresstrategie- kette der Meerestiere verschieben sich und die Klima- Richtlinie im Rat und im Parlament, die unter deutscher erwärmung führt zu einer Versauerung der Meere, Tem- Präsidentschaft weitergeführt oder sogar abgeschlossen peraturen und Wasserstände steigen. wird, und zweitens natürlich der letztens bereits beratene Antrag der Grünen zum Verbot der Grundschleppnetz- Über den Lebensraum Tiefsee wissen wir bislang zu fischerei. wenig. Es bedarf hier zusätzlicher Forschungsanstren- gungen, um die unterschiedlichen Prozesse zu beschrei- Angesichts der Herausforderungen an den Meeres- ben, effektive Schutzmaßnahmen ergreifen und ausge- schutz ist der Koalitionsantrag in seiner Allgemeinheit wogene Nutzungen definieren zu können. aber eine traurige Nummer. Er fällt hinter den Antrag der grünen Kollegen zurück. Union und SPD konnten sich Die politische Entscheidungsfindung zum Schutz der nicht zu einer klaren Forderung nach einem Moratorium Meere kann nur unter der Betrachtung des ganzen Öko- für die Grundschleppnetzfischerei durchringen, geschweige systems erfolgen. Dieser Ökosystemansatz soll demnach denn zu einer Verbotsforderung. auch zur Etablierung der effizientesten Schutzmaßnah- men führen. Grundsätzlich sollte im Meeresumwelt- Wir denken, die Politik der Bundesregierung ist ähnlich schutz nach dem Vorsorge- und Verursacherprinzip ge- zwiespältig wie dieser Antrag. Da gibt es allgemeine, handelt werden. unverbindliche Forderungen in Papieren auf der einen Seite. Auf der anderen Seite steht dann das Agieren der (B) Eine nachhaltige Fischerei, die die Bestände erhält, Bundesregierung beispielsweise im Fischereiministerrat. (D) und der art- und tierschutzgerechte Fischfang sind zen- Und hier ist bislang nicht durchgedrungen, dass sich trale Ziele der Liberalen. Es ist dringend geboten, um- Deutschland besonders intensiv für den Meeresschutz weltfreundlichere Fangmethoden einzusetzen. Es ist eingesetzt hätte. dazu eine kohärente Fischereipolitik erforderlich, die die Fischbestände schonend bewirtschaftet. Der politische Dieser Ministerrat hat aber eine Reihe von Beschlüssen Weg sollte hinführen zu einem Management der welt- zu verantworten, die einer nachhaltigen Meeresschutz- weiten Fischbestände. politik Hohn sprechen. So werden die Empfehlungen des Wissenschaftsgremiums ICES regelmäßig in den Wind Die Festlegung und Überwachung von Fangquoten ist geschlagen, beispielsweise beim Dorsch in der östlichen konsequenter zu verfolgen. Bisher fügen illegale Fang- Ostsee. Statt einem Fangstopp wurde für 2007 nur eine praktiken den Fischbeständen erhebliche Schäden zu zehnprozentige Reduzierung der Fangmenge auf circa und unterlaufen die internationalen Abkommen. Die ge- 40 000 Tonnen beschlossen. Im letzten Jahr war dies meinsame Fischereipolitik der EU hat beim Schutz der ähnlich. Die Chancen, dass sich der Ostseedorsch erholt, Fischpopulationen nicht die gewünschten Erfolge ge- sind nach Einschätzung des WWF nunmehr gering. bracht. Um der Überfischung weiter entgegenzutreten, sollte entsprechend den wissenschaftlichen Erkenntnis- Diese Ignoranz ist vollkommen unverständlich. sen die Einstellung der Fischerei von bestimmten Fisch- Schließlich sind die Nachrichten von der Überfischung der arten oder in bestimmten Fanggebieten umgesetzt wer- Weltmeere dramatisch, wie auch gerade die in „Science“ den. Zu einer Verbesserung der Situation kann ebenfalls veröffentlichte Studie kanadischer Wissenschaftler zeigte. die Öko-Zertifizierung von Fischprodukten dienen. Danach sagen die Experten einen Kollaps aller wirt- schaftlich genutzten Fischbestände bis 2048 voraus. In Anbetracht der Probleme mit der illegalen Fische- rei, Überschreitung der Fangquote und Fischen in frem- Die EU-Fischereiminister haben dessen ungeachtet den Gewässern, ist eine weitere Reduzierung der Fang- gerade beschlossen, das Verbot der Treibnetzjagd auf quoten allein nicht zielführend. Nur wenn diese Schwertfische und auf Rote Thunfische im Mittelmeer Vorgaben in der Praxis auch durchgesetzt und überwacht wieder aufzuheben, anstatt dem illegalen Treiben dort werden, haben weitere Beschränkungen der Fangquoten ein Ende zu setzen. Trotz eines seit 2002 bestehenden einen Sinn. EU-Verbotes für Treibnetzfischereien operiert eine Flotte von über 440 Treibnetzfischern im Mittelmeer und Die Tiefsee muss besonderen Schutz genießen. Zum nimmt den qualvollen Tod von jährlich Tausenden von einen ist sie für uns weitestgehend noch immer unbe- Meeressäugern, Schildkröten und Seevögeln in Kauf. 7066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Das ist ein Skandal und zeigt, wie ernst es die Fischerei- Lieber Kollege Ortel, unsere Zustimmung hat nichts (C) minister mit dem Meeresschutz tatsächlich meinen! damit zu tun, dass wir damit von unserem eigenen Antrag abrücken und Ihren als den besseren anerkennen würden. Die Koalition hat angesichts dieser Entwicklung leider Zwar ist Ihr Antrag umfassender, das will ich gerne aner- nicht den Mut, klare Forderungen an die Bundesregie- kennen. Mit unserem Antrag wollten, wir hingegen sehr rung zu stellen, und zwar anscheinend deshalb nicht, weil fokussiert auf ein spezielles Problem aufmerksam ma- man sich hinter wolkigen Formulierungen schön verste- chen und eine bestimmte politische Forderung in die Dis- cken kann. Und mit der Fischereiwirtschaft möchte sich kussion bringen. Denn die Grundschleppnetzfischerei in das Land mit dem größten Fischverbrauch in Europa der Tiefsee zerstört einen der letzten ökologischen nicht so recht anlegen. Schätze unserer Erde. Sie ist purer Raubbau. Und gemes- sen daran ist Ihr Antrag für uns letztlich doch eine Ent- Auch im Hinblick auf die Meeresstrategie-Richtlinie täuschung. Denn Sie konnten sich als Koalitionsfraktio- geht die Koalition auf keinen der Kritikpunkte ein, die nen nicht dazu durchringen, sich ausdrücklich für ein der Sachverständigenrat für Umweltfragen formuliert Moratorium für die Grundschleppnetzfischerei auf der hat. Stichworte wären hier vor allem: Eine Re-Nationali- hohen See auszusprechen, wie wir Grüne es mit unserem sierung der Meeresschutzpolitik darf in Europa nicht Antrag gefordert haben. zugelassen werden. Zudem ist in der Richtlinie die bis- lang fehlende Verbindung von der europäischen Meeres- Zwar ist kaum vorstellbar, wie die Bundesregierung schutzgesetzgebung zu den internationalen Abkommen die weit reichenden Forderungen dieses Antrags zum und zu anderen europäischen Umweltgesetzen herzustel- Schutz der Tiefsee umsetzen könnte, ohne für ein Mora- len. torium zu stimmen. Dennoch bleibt als Manko, dass Ihr Antrag die Bundesregierung eben nicht ausdrücklich da- Wir meinen im Übrigen, den Forderungen der Umwelt- ran bindet, sich öffentlich für ein solches Moratorium verbände, wie Greenpeace und WWF, nach Meeresschutz- auszusprechen, geschweige denn, sich gegenüber ande- gebieten sollte endlich Rechnung getragen werden. ren Ländern dafür einzusetzen. Damit wird es wohl da- Zudem muss sich der Fangdruck erheblich verringern. bei bleiben, dass die deutsche Regierung beim Thema Moratorium für die Tiefsee-Grundschleppnetzfischerei Insgesamt steht sicher auch nichts Falsches im Antrag. mit einer unklaren Haltung herumeiern wird. Denn Um- Aber das ist irgendwie zu wenig für eine Zustimmung. welt-, Agrar- und Außenministerium sind offensichtlich nicht in der Lage, sich auf eine eindeutige Unterstützung Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir des Moratoriums zu einigen. Sei es, weil das Außenamt Bündnisgrüne freuen uns darüber, dass die Koalition die- diplomatische Rücksichten auf Länder wie Spanien neh- (B) sen Antrag zum Schutz der Tiefseeökosysteme einge- men will, das wesentlicher Akteur in der Grundschlepp- (D) bracht hat. Denn damit reagieren Sie endlich auf unseren netzfischerei in der Tiefsee ist, sei es weil die Beamten Antrag für ein Moratorium der Grundschleppnetzfische- im Agrarministerium eine zu große Nähe zu Fischereiin- rei in der Tiefsee. Allerdings mussten wir sehr lange teressen haben. – über ein halbes Jahr – darauf warten. Wir hatten ei- Ich will Ihnen sagen, warum uns eine eindeutige und gentlich einen eigenen Antrag zum Moratorium von Ih- öffentliche Positionierung der Bundesregierung in dieser nen erwartet, nachdem wir unseren vorgelegt hatten. Frage so wichtig ist und warum wir glauben, dass es Über fünf Monate haben wir Ihnen Zeit dazu gegeben. ohne diese klare Haltung keine Chance geben wird, das Weil wir dann Ende September die Hoffnung aufgeben Moratorium zu erreichen. Ich habe den spanischen Bot- hatten, beraumten wir für Ende September die zweite schafter deswegen angeschrieben. Denn Spanien lehnt Lesung unseres Antrages an. Und dann die Überra- als Hauptakteur in dieser Branche – wen wundert es – schung: Einen Monat später legten Sie doch noch einen das Moratorium ab. Ich habe daher in meinem Schreiben Antrag vor. Nun ja. Besser spät als nie. an Spanien appelliert, seine Position zu überdenken. Wir werden diesem Antrag zustimmen. Denn wir ha- Wissen Sie, was mir der Herr Botschafter antwortete? Er ben keine Aussagen darin gefunden, die wir für falsch schrieb mir, dass die Haltung Spaniens mit der der EU hielten. Natürlich unterstützen wir die bessere Erfor- übereinstimme, dass also die EU der Ansicht sei, dass das Moratorium für die Grundschleppnetzfischerei keine schung und den Schutz der Tiefsee, die Einrichtung von Lösung darstellen würde. Schutzgebieten auf der hohen See, die Beförderung nachhaltiger Fischereipraktiken, ein Verbot zerstöreri- Wenn also Spanien die EU bei dieser Frage in der Ta- scher Fischereipraktiken, Fischereiregelungen, die Über- sche hat, dann bedarf es schon einer klaren Haltung ge- fischung verhindern, eine wirksame Kontrolle dieser Fi- genüber den Mitgliedstaaten, um erreichen zu können, schereiregelungen und den internationalen politischen dass diese Festlegung auf EU-Ebene korrigiert wird. Dialog über alles das. Aber auch dann, wenn sich die EU gar nicht so klar ge- äußert haben sollte, gälte es, dieser Lesart der EU-Posi- In all diesen Forderungen können wir durchaus einen tion deutlich zu widersprechen. Ansonsten bleibt sie so Erfolg unserer Initiative sehen. Denn ohne unseren An- als Fakt im Raume stehen. trag für das Moratorium – so viel lässt sich, glaube ich, feststellen – hätte es Ihren Antrag sicher nicht gegeben. Wenn ich nun Ihre Weigerung sehe, die Bundesregie- Nun gilt es, das Handeln der Bundesregierung an den rung zu einer aktiven Haltung für das Moratorium zu Forderungen Ihres Antrags zu messen. verpflichten, dann muss man sehr skeptisch sein, dass es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7067

(A) zu einer klaren Positionierung der EU kommen wird. Im Grundsätzlichen, wenn auch nicht in allen Einzel- (C) Und ohne diese klare Haltung der EU wird es auch in der heiten, gab es über alle Fraktionen Konsens, dem Pro- UN-Generalversammlung kaum eine Mehrheit geben. blem des Alkoholmissbrauchs den Kampf anzusagen. Das ist in der Debatte im letzten Jahr deutlich geworden. Aus diesem Grund muss ich sagen: Ja, wir können Ihrem Antrag zustimmen, weil alle Forderungen unter- Deshalb finde ich es erstaunlich, dass Sie, liebe Kol- stützenswert sind. Aber dennoch ist Ihr Antrag eine Ent- leginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, ein Jahr täuschung, weil er nicht die Konsequenz zieht, die später das gleiche Thema erneut bewegen. Aber immer- Grundschleppnetzfischerei umgehend zu stoppen. Sonst hin – das ist zu begrüßen – haben Sie als Oppositions- ist in einigen Jahren, wenn die vorgeschlagenen Initiati- fraktion die Nachfrage angeregt, was sich inzwischen ven greifen, überhaupt nichts mehr da, was man schüt- aufgrund der Debatte in 2005 getan hat. Meine Fraktion zen kann. hat also in der Ausschusssitzung Ende Juni 2006 den Ball aufgenommen und die Bundesregierung gebeten, dem Verkehrsausschuss einen Bericht zu geben, welche Anlage 10 Maßnahmen gegen Trunkenheitsfahrten auf See bereits ergriffen worden sind und bei welchen Vorhaben eine Zu Protokoll gegebene Reden Umsetzung noch aussteht. zur Beratung: Staatssekretär Großmann hat in der Ausschussbera- tung Mitte August dieses Jahres einen Bericht der Bun- – Beschlussempfehlung und Bericht: Defizite desregierung übermittelt. Aus diesem Bericht geht her- im Kampf gegen Trunkenheitsfahrten in der vor, dass Maßnahmen gegen den Alkoholmissbrauch auf Seeschifffahrt beseitigen See eingeleitet worden sind. Die Bundesregierung nimmt das Problem ernst, wie im Übrigen die Koali- – Antrag: Umweltfreundliche Stromversor- tionsfraktionen auch. gung von Schiffen in Häfen unterstützen Nun schauen wir einmal, wo wir stehen. Es hat erste (Tagesordnungspunkt 22 a und b) Rechtsänderungen auf nationaler Ebene gegeben und weitere Maßnahmen sollen demnächst folgen. Die Enak Ferlemann (CDU/CSU): „The same procedure Zwölfte Verordnung zur Änderung seeverkehrsrechtli- as last year?“, fragt Butler James Miss Sophie in der cher Vorschriften hat im Bereich der Sportschifffahrt und Kultsendung „Dinner for one“ an ihrem neunzigsten Ge- durch Herabsetzung der Promillegrenze in deutschen burtstag. „The same procedure as every year, James“ Gewässern von 0,8 auf 0,5 für alle Schiffe sowie null (B) antwortet Miss Sophie ihrem Butler und das Publikum Promille für Schiffsführer bestimmter Fahrzeugarten, (D) lacht. Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der nämlich den Fahrgastschiffen und bestimmte Gefahrgut- FDP, sie haben nicht vor, das Thema Trunkenheitsfahr- schiffe, erste Verbesserungen gebracht. Die zur Führung ten in der Seeschifffahrt in den gleichen Kultstatus zu von Fahrgast- bzw. Gefahrgutschiffen im Rahmen der heben, den dieser Sketch hat. politischen Diskussion vorgeschlagenen Klarstellung, dass im Dienst befindliche Besatzungsmitglieder – die Ich bin mit Ihnen sehr wohl der Meinung, dass das entsprechende Null-Promille-Grenze gilt nur für die Thema ernst ist. Sie ziehen es aber erneut aus dem Hut, Schiffsführer – nicht unter der Wirkung von Alkohol ste- nachdem wir es gerade erst Mitte 2005 ausführlich bera- hen dürfen, ist durch Artikel 1 bis 3 der Achten Sicher- ten haben. In 2005 gab es gleich drei Anträge, den der heitsanpassungsverordnung erfolgt. Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen – damals noch gemeinsam in der Regierungsverantwor- Die Verordnung zur Umsetzung europarechtlicher tung – meiner Fraktion und Ihren Vorläuferantrag „Pro- Vorschriften auf dem Gebiet der Seeschifffahrt tritt am millegrenze in der Seeschifffahrt“. 1. Dezember 2006 in Kraft. Sie enthält insbesondere im Bereich des Erwerbs und Entzugs von Befähigungszeug- In 2005 habe ich an gleicher Stelle ausgeführt: nissen in der Handelsschifffahrt Verschärfungen bei Al- koholmissbrauch. Sie enthält zusätzliche Kriterien im Heute sind hohe Sicherheitsstandards für die See- Hinblick auf die Zuverlässigkeit und persönliche Eig- schifffahrt von großer Bedeutung. Die aber schließen nung von Bewerbern und Inhabern von Befähigungs- den Genuss von Alkohol am Steuer eines Seeschiffes zeugnissen in der Berufsschifffahrt. Als unzuverlässig aus. Zu groß sind die Risiken und Folgen für unsere wird eingestuft, wer wiederholt gegen die Vorschriften Küsten und Seestraßen, wenn es alkoholbedingt zu zum Alkoholkonsum verstoßen hat. Unzuverlässigkeit Schäden kommt. Ich begrüße deshalb die Einigkeit aller kann zum Entzug des Befähigungszeugnisses führen Fraktionen, gemeinsam an mehr Sicherheitsbewusstsein bzw. schließt die Erteilung eines Befähigungszeugnisses auf dem Meer durch die jetzt geforderten Maßnahmen aus. arbeiten zu wollen. Sie können sicher sein, dass auch die Reedereien Mehr Sicherheit tut Not. Das haben uns die Zahlen durch diese Vorschriften sensibilisiert worden sind und der unfallunabhängigen Kontrollen in der Seeschifffahrt entsprechend auf ihr Personal achten werden. aus den Jahren 2001 bis 2003 gezeigt. In diesen Jahren haben Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt dreifach Ein erstes Gesetz zur Änderung seeverkehrsrechtli- zugenommen. cher Vorschriften ist in Vorbereitung, das durch Ände- 7068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) rung des Seeaufgabengesetzes und des Seeunfalluntersu- kung des Alkoholkonsums. Die sind ausreichend und (C) chungsgesetzes Fahrverbote auch außerhalb konkreter umfassend erforscht und liegen in den Ergebnissen vor. Gefährdungen und Datenaustausch über Alkoholauffäl- ligkeiten regeln soll. Die Bundesregierung prüft in die- Drittens: Es ist bereits jetzt Aufgabe der Ärzte, bei sem Zusammenhang auch, inwieweit der sofortige Ent- Gesundheitsuntersuchungen zur Seediensttauglichkeit zug einer Fahrerlaubnis für Sportbootfahrer wegen auf den Missbrauch von Suchtmitteln zu achten. Alkoholmissbrauchs angeordnet werden kann. Die Ab- Viertens: Soweit Sie ein zentrales Überwachungsre- stimmungen dazu laufen. gister fordern, hält Ihnen die Bundesregierung zu Recht Aus dem von mir zitierten Bericht der Bundesregie- das Seeleute-Befähigungsregister beim Bundesamt für rung folgt allerdings auch, dass eine grundlegende Revi- Seeschifffahrt und Hydrographie vor. Das ist doch nichts sion des SUG nicht beabsichtigt ist. Das frühere SUG anderes als ein Zentralregister und kann deshalb unter hatte eine Reihe von Schwachstellen, die durch Einfüh- Beachtung der datenschutzrechtlichen Voraussetzungen rung der Vorprüfungsstelle und der Neugestaltung der weiter ausgestaltet werden. Seeämter beseitigt wurden. Diese Haltung ist nicht neu Ich komme zum Schluss: Wie heißt der letzte Satz und deshalb nützt Ihnen Ihre Trotzkopfhaltung nichts, von James, dem Butler in „Dinner for one“? „I will do Forderungen in Wiederholung aufzustellen, die schon in my very best.“ Ich denke, wir Verkehrspolitiker konnten der Vergangenheit keine Mehrheiten gefunden haben. die Bundesregierung ganz in diesem Sinne mit unseren Anträgen in 2005 dazu antreiben, ihr Bestes zu geben. Im Übrigen gilt auch bei diesem Thema, sich von der Aus diesen Gründen lehnt meine Fraktion Ihren Antrag kleinräumigen nationalen Sichtweise abzuwenden. In ab. dieses Feld gehört die Absenkung der Promillegrenze. Viel wichtiger ist es, auf die europäische und internatio- Mit dem Antrag der Bündnis 90/Die Grünen, der mit nale Sicht abzuheben. Die Bundesregierung will das tun. dem Thema des Alkoholmissbrauchs auf See nichts zu Sie ist nach ihrem Bericht bestrebt, über die nationale tun hat, dennoch unter dem gleichen Tagesordnungs- Gesetzgebung hinaus auf internationaler Ebene eine punkt eingebracht wird, sollten wir uns im Hinblick auf weltweite Einführung von Obergrenzen beim Alkohol- die Vorstellungen, die hier von der EU gekommen sind, konsum in der Seeschifffahrt zu erreichen. bald im Ausschuss auseinandersetzen. Ich kann mir vor- stellen, dass auch hier eine sachliche Vorarbeit vom Sie haben den 44. Verkehrsgerichtstag in Goslar zum Ministerium wünschenswert und hilfreich wäre. Das Anlass für Ihren Antrag genommen. Was dort an Überle- Thema hat ernste Hintergründe. Es gibt aber auch Be- gungen und Forderungen geäußert worden ist, hat die troffene außerhalb dieses Hauses, deren Interessen wir Bundesregierung auch gehört. Aufgrund der Forderun- (B) rechtzeitig einbeziehen sollten. Einen zeitlichen Druck (D) gen, die da als sinnvoll und notwendig beschrieben wor- haben wir nicht. Es ist damit genügend Zeit zur Beratung den sind, hat sie aktuell im Rahmen der internationalen vorhanden. Rechtssetzung und durch Initiativen auf internationaler Ebene vor, weiter gegen den Alkoholmissbrauch auf See zu Felde zu ziehen. Annette Faße (SPD): Nahezu bei jedem zweiten Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang ist Alkohol im Gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten im Spiel. Wir wissen, dass bereits ab 0,2 Promille BAK Schiffssicherheitsausschuss der Internationalen See- – Blutalkoholkonzentration – die Reaktionsgeschwin- schifffahrts-Organisation in London hat Deutschland eine digkeit abnimmt: Fehleinschätzungen häufen sich, die weltweit geltende Regelung von Alkoholbeschränkungen Konzentrationsfähigkeit wird deutlich geringer. durch Änderung der Wachdienstvorschriften des Inter- nationalen Übereinkommens über die Normen für die Aus diesen Gründen nehmen wir Verkehrspolitiker Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen der SPD-Bundestagsfraktion den Alkoholmissbrauch im und den Wachdienst von Seeleuten – STCW-Überein- Verkehr sehr ernst. Das haben wir schon immer getan. kommen – vorgeschlagen. Darüber ist man aber noch in Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir einen der Diskussion. Auch wenn dies Zeit braucht, so ist doch Antrag beschlossen, der dem Alkoholmissbrauch auf klar, dass eine internationale Lösung der auf der europäi- See entgegenwirken sollte. Dieser Antrag wurde übri- schen Ebene vorzuziehen ist. Der Charakter der See- gens von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen schifffahrt ist nun einmal global. und von der damaligen Oppositionsfraktion CDU/CSU gemeinsam verabschiedet. Seitdem hat es die ersten Nun zu Ihren letzten vier Forderungen Ihres Antra- Rechtsänderungen auf nationaler Ebene gegeben, wei- ges: tere Maßnahmen werden demnächst folgen. Erstens: Was soll eine wissenschaftliche Untersu- Erste Verbesserungen auf nationaler Ebene hat die chung unter Auswertung aller national und international 12. Verordnung zur Änderung seeverkehrsrechtlicher bekannt gewordenen Alkoholmissbräuche? Das erinnert Vorschriften gebracht: zum Beispiel im Bereich Sport- mich an die „Feuerzangenbowle“ und den viel zitierten schifffahrt und durch die Herabsetzung der Promille- Satz des Professors Bommel, gespielt von Paul Hen- grenze in deutschen Gewässern von 0,8 auf 0,5 bezie- ckels: „Da stellen wir uns mal janz dumm.“ hungsweise Nullpromille. Zweitens: Was soll das bringen? Wir kennen doch die Jetzt gilt wie in der Binnenschifffahrt und im Straßen- Ursachen der Alkoholabhängigkeit genauso wie die Wir- verkehr auch auf deutschen Seeschifffahrtsstraßen eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7069

(A) Promillegrenze von 0,5 Promille. Für besonders gefähr- und den Wachdienst von Seeleuten vorgeschlagen, die (C) liche Gefahrguttransporte und Fahrgastschiffe haben wir noch im Einzelnen diskutiert werden. die Null-Promille-Grenze eingeführt. Diese Null-Pro- mille-Grenze gilt nur für die Schiffsführer. Wir sind gut aufgestellt, wir benötigen keine wissen- schaftliche Untersuchung unter Auswertung aller natio- Die 12. Verordnung zur Änderung seeverkehrsrechtli- nal und international bekannt gewordenen Alkoholmiss- cher Vorschriften mit weiteren Maßnahmen ist bereits bräuche, wie Herr Goldmann fordert. Die Ursachen für am 6. August 2005 in Kraft getreten. Alkoholabhängigkeit und die Wirkung von Alkoholkon- sum sind uns ausreichend bekannt und bereits umfassend Die geplante Verordnung zur Umsetzung europa- erforscht. rechtlicher Vorschriften auf dem Gebiet der Seeschiff- fahrt wird insbesondere im Bereich des Erwerbs und Auch die Gesundheitsuntersuchungen zur Seedienst- Entzugs von Befähigungszeugnissen in der Handels- tauglichkeit ist bereits Aufgabe der Ärzte. Dazu gehört schifffahrt Verschärfungen bei Alkoholmissbrauch ent- selbstverständlich, dass die Ärzte auf Suchtmittelmiss- halten. brauch bzw. -abhängigkeit achten. Als Unterstützung für den Arzt gibt es durch die Bundeszentrale für gesund- Zusätzlich werden Kriterien im Hinblick auf die Zu- heitliche Aufklärung sowohl Handlungsempfehlungen verlässigkeit und persönliche Eignung von Bewerbern und Inhabern von Befähigungszeugnissen in der Berufs- zur Frühintervention bei Menschen mit Alkoholproble- men als auch entsprechende Screeninginstrumente. schifffahrt eingeführt. Danach wird derjenige als un- zuverlässig eingestuft, der wiederholt gegen die Vor- schriften zum Alkoholkonsum verstoßen hat. Dr. Margrit Wetzel (SPD): Ein spannendes Zu- Unzuverlässigkeit kann zum Entzug des Befähigungs- kunftsthema hat uns die Fraktion des Bündnisses 90/Die zeugnisses führen bzw. schließt die Erteilung eines Befä- Grünen da am späten Plenarabend beschert und zualler- higungszeugnisses aus. erst gebührt ihr dafür durchaus Dank. Der Antrag enthält eine Fülle absolut richtiger und wichtiger Informationen. Reine Trunkenheitsfahrten – das heißt ohne konkrete Kein Wunder, ist er doch in vielen Passagen nahezu Gefährdung der Schiffsicherheit oder der Meeresum- wortgleich mit der Empfehlung der EU-Kommission welt – sollen durch Änderung des Seeaufgabengesetzes, über die Förderung der Landstromversorgung von Schif- SeeAufG, und des Seeunfalluntersuchungsgesetzes, fen in Häfen vom Mai 2006. Zumindest eine Bitte der SUG, geahndet werden. Wir wollen nicht warten, bis et- Kommission erfüllen Sie damit: den Punkt 5 der Emp- was passiert. Das, was im Straßenverkehr bereits gang fehlung, das maritime Umfeld für dieses wichtige und gäbe ist, soll auch in der Seeschifffahrt so sein. Thema zu sensibilisieren. (B) (D) In diesem Zusammenhang wird auch geprüft, inwie- Damit hört meine Begeisterung dann aber auch schon weit der sofortige Entzug einer Fahrerlaubnis für Sport- auf. Schade, dass Sie sich nur um Schiffsliegeplätze sor- bootfahrer wegen Alkoholmissbrauchs angeordnet wer- gen, die in der Nähe von lärmbelasteten Wohngebieten den kann. Der Abstimmungsprozess dazu läuft liegen. Durch meine Mitarbeit in Seemannsmission und momentan. Deutschem Nautischem Verein weiß ich, welche Pro- Für die wirksame Bekämpfung von Alkoholmiss- bleme durch Übermüdung der Besatzungen entstehen, brauch in der Seeschifffahrt brauchen wir jedoch keine die gequält durch den ständigen Motorenlärm der Hilfs- grundlegende Revision des SUG, wie von der FDP ge- diesel nicht ausreichend schlafen können. Man muss wünscht. Das frühere SUG hatte eine Reihe gravierender sich die Frage stellen, ob Sie sich überhaupt wirklich mit Schwachstellen, die zum Beispiel durch die Einführung dem Problem befasst haben, ja sogar, ob Sie über mögli- der Vorprüfungsstelle und die Neugestaltung der Aufga- che Realisierungschancen der Landstromversorgung ben der Seeämter beseitigt wurden. Ein von der FDP ge- überhaupt ernsthaft nachgedacht haben: fordertes Zentralregister besteht bereits beim Bundesamt Erstens. Die Landstromversorgung ist nur eine der für Seeschifffahrt und Hydrographie in Gestalt des See- Möglichkeiten, von Schiffen ausgehende Schadstoffe in leute-Befähigungsregisters! Dieses Register kann unter Häfen zu reduzieren. Die für 2010 geplante Reduzierung Beachtung der datenschutzrechtlichen Voraussetzungen des Schwefelgehalts auf 0,1 Prozent bei Kraftstoffen, die weiter ausgestaltet werden. Schiffe in Häfen verbrauchen, ist eine weitere. Darüber Neben all diesen nationalen Regelungen dürfen wir hinaus blasen Schiffe ihre Abgase ungefiltert in die Luft. nicht außer Acht lassen, dass eine internationale Lösung Auch mit Filtertechniken wäre viel zu gewinnen, Letzte- wegen des globalen Charakters der Seeschifffahrt einer res übrigens nicht nur in Häfen, sondern auch auf den Lösung auf nur europäischer oder gar nationaler Ebene Meeren. vorzuziehen ist! Zweitens. Die Landstromversorgung müsste für viele Gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten hat Arten sehr verschiedener Schiffe konzipiert werden: Was Deutschland im Schiffssicherheitsausschuss der Interna- für kleinere Schiffe, die oft im Hafen liegen, bereits er- tionalen Seeschifffahrts-Organisation, IMO, in London folgt, weil es umweltfreundlich und durchaus wirtschaft- eine weltweit geltende Regelung von Alkoholbeschrän- lich sein kann, ist auch für Fähren mit immer gleichen kungen durch Änderung der Wachdienstvorschriften des Routen, Liegeplätzen und einem geringeren Stromver- Internationalen Übereinkommens über Normen für die brauch im Hafen durchaus darstellbar und wird auch Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen schon praktiziert. Auch für einige andere Schiffstypen 7070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) würde die Entwicklung zeitnah erfolgen können und nen, Transformatoren, entsprechende Höchstspannungs- (C) kann durchaus sinnvoll und auch wirtschaftlich sein. kabeltrommelsysteme, die passgenau zwischen Schiff und Landstation sind. Außerdem muss die Frequenz der Kritisch allerdings wird es für solche Schiffe, die zum 50-Hz-Landversorgung für die auf 60 Hz ausgelegten Beispiel bei wechselnden Routen und Häfen sehr viel Bordnetze kompatibel gemacht werden. Das sind techni- Energie für ihre Ladung – zum Beispiel für Schwergut, sche Herausforderungen, die sehr kostenintensiv sind Ladungspumpen etc. – brauchen oder während der ge- und die auch nicht über das BIMSCHG oder eine ge- samten Hafenliegezeit eine hohe Zahl von Kühlcontai- meinsame Planung von Bund, Ländern und Energiever- nern versorgen müssen. Der Strombedarf eines solchen sorgern allein zu bewältigen sind. Was passiert denn bei Schiffes wird mit fünf bis sieben Megawatt angenom- Stromausfall – bei dem Spitzenbedarf? Haben Sie be- men. Das sind Spitzenlasten, die zurzeit noch dafür sor- dacht, dass wir auch neue Sicherheitsrisiken für Leib und gen würden, dass ganze Stadtteile aufgrund der Sicher- Leben der Arbeiter mit zu bewältigen hätten? heitsmaßnahmen der EVU vom Netz fallen würden. Wie stellt sich das bei mehren, ja bei vielen Schiffen gleich- Einig sind wir aber sicherlich darin, dass wir uns in- zeitig dar? tensiv mit dem Thema befassen müssen, dass die Indus- trie unsere Unterstützung für ihre innovativen Lösungen Drittens. Dabei zeigt sich das eigentliche Problem: hat, dass die IMO internationale Mindestanforderungen Die Häfen bräuchten leistungsstarke eigene Kraftwerke schnellstmöglich definieren und die ISO die Schnittstel- für die Versorgung der Schiffe. Das aber ist eine richtig len klären muss, damit die „Stecker auch in die Dose teure Sache, die kaum durch Bundestagsbeschluss über passen“, dass die für die Häfen zuständigen Länder ein das BIMSCHG geregelt werden kann. Auch rechtlich eigenständiges politisches Interesse an „sauberen“ Häfen müsste eine Anbindung an das BIMSCHG gründlich ge- haben müssen und dass die Reeder bei zukünftigen prüft werden. Das ist im Zuge der Ausschussberatungen Schiffsneubauten vorausschauend planen müssen; denn sicher zu leisten. Aber eine gründliche Skepsis, dass immerhin sind einige amerikanische Häfen bereits seit teure Großinvestitionen der Energieversorgungsunter- Jahren zumindest konzeptionell Vorreiter auf dem Weg nehmen mit den entsprechenden aufwendigen Planungen zur landgestützten Stromversorgung. und kostenintensiven Maßnahmen in den Häfen, in der Zuständigkeit der Länder, der Hafenbetreiber und den Wenn das alles auf einem guten Weg ist, dann bin ich von teuren Umrüstungen betroffenen Terminals, der sicher, dass auch unsere Haushälter und Finanzpolitiker Reeder, die ihre Schiffe entsprechend bauen bzw. umrüs- wissen, dass deutsche Häfen im europäischen Verbund ten müssen und wie Sie, liebe Kollegen von den Grünen, wettbewerbsfähige Strompreise brauchen. Bis dahin ist das alles über das BIMSCHG veranlassen wollen, ist aber noch ein vor allem technisch harter Weg zurückzu- (B) wohl schon angebracht. legen, bei dem immer die Einzelfallprüfung, die je ein- (D) Während die Empfehlung der EU-Kommission abso- zelne Abwägung des Nutzen-Kosten-Verhältnisses der lut ernst genommen und unterstützt werden muss, kann geeigneten Lösung zur Schadstoff- und Lärmreduzie- man über Ihren Antrag aber nur den Kopf schütteln. Na- rung von Schiffen in Häfen voranstehen muss. türlich müssen wir, sprich die Bundesregierung, gemein- Fazit: Ihr Antrag ist gut gemeint, aber nicht gut ge- sam mit den anderen Mitgliedstaaten der EU bei interna- macht. Er hilft umweltpolitisch nicht wirklich, schafft tionalen Zusammentreffen der IMO und ISO energisch neue Probleme statt die richtige Entwicklung nachdrück- daran arbeiten, internationale Mindestanforderungen lich zu unterstützen – kurz: Ob Sie hier nicht doch eher und harmonisierte Normen für die landgestützte Strom- das Kind mit dem Bade ausschütten, werden wir in den versorgung zu entwickeln. Was nützt es uns, wenn die anstehenden Ausschussberatungen prüfen. Kontinente verschiedene technische Systeme aufbauen, die mit den eintreffenden Schiffen nicht kompatibel sind? Nichts! Im Gegenteil: Dann sind Schiffe von öko- Hans-Michael Goldmann (FDP): Eigentlich ist es logisch und ökonomisch bewussten Reedern teuer aus- nicht zu glauben, dass wir uns im Plenum des Bundes- gerüstet worden und fahren ihr Equipment nutzlos auf tages schon wieder mit dem Thema Verbesserungen im den Meeren herum. Wie überzeugen wir die Energiever- Kampf gegen Alkoholmissbrauch in der Seeschifffahrt sorger, dass sie in große Kraftwerke investieren, wenn beschäftigen müssen. Man sollte meinen, dass solche nicht sicher ist, dass die Schiffe – allein deutsche Reeder rechtstechnischen Probleme schnell von einer Regierung haben derzeit über 700 Neubauten geordert – so ausge- abgestellt werden und wir uns wieder anderen Themen rüstet sind, dass sie Landstrom für ihre Hafenbetriebs- zuwenden können. Doch leider weit gefehlt. zeiten abnehmen können? Es hat mich wirklich erschüttert, dass die große Koali- Die Industrie, zumal die deutsche Industrie, ist perfekt tion in der Ausschusssitzung schlicht bestritten hat, dass vorbereitet: Namhafte Anbieter sind mit marktfähigen es in diesem Bereich überhaupt noch Probleme gibt. Sie Entwicklungen in Vorleistung getreten und haben die po- sind einfach abgetaucht und weigern sich die offensicht- litischen Entwicklungen der nächsten Jahre antizipiert. lichen Probleme zur Kenntnis zu nehmen. Dabei habe Sie verdienen unsere volle politische Unterstützung. Die ich einige Kollegen, wie Wolfgang Börnsen, noch im Probleme, die zu bewältigen sind, liegen schließlich Ohr, wie sie im Sommer 2004 laut tönten, dass es nicht nicht nur in der Menge des verfügbaren Stroms; sie lie- angehen könne, dass besoffene ausländische Kapitäne gen auch in den unterschiedlichen Spannungen von nach der Ausnüchterung wieder die Brücke besteigen Land- und Schiffsstrom. Es braucht also Umspannstatio- und weiterfahren können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7071

(A) Doch leider ist dies immer noch Realität. Seit der Ver- selbst, als auch von Verdi und maritimen Verbänden. Es (C) abschiedung des unseligen SUG im Jahr 2002 haben wir wurde ausgeführt, dass diese Regelung zu unvertret- die Gesetzeslücke, die es der Wasserschutzpolizei unmög- baren Wertungswidersprüchen führen würde, weil schon lich macht, solchen Trunkenbolden im Sofortvollzug das die Einnahme eines Löffels Hustensaft den Tatbestand Handwerk zu legen. erfüllte. Der Deutsche Nautische Verein und der Deut- sche Verkehrsgerichtstag haben ihnen schließlich ins Es interessiert Sie einfach nicht, dass sowohl der Stammbuch geschrieben, dass die juristisch bessere Deutsche Nautische Verein, als auch der Deutsche Ver- Formulierung wäre: „Darf in der Dienstzeit nicht unter kehrsgerichtstag übereinstimmend festgestellt haben, Wirkung alkoholischer Getränke stehen.“ dass diese Regelungslücke besteht und sie durch eine kleine Gesetzesänderung zu schließen ist. Der wohlmeinende Dritte würde jetzt sicher glauben, dass man auf solchen Ratschluss sicher gehört habe, Offensichtlich muss erst wieder ein Unfall passieren, doch wiederum weit gefehlt. Stattdessen hat man dieses bis die werten Kollegen von SPD und CDU/CSU auf- Jahr wiederum § 3 Abs. 5 in dieser Vorschrift geändert: tauchen und dann sicher wieder die Schlagzeilen der Boulevardblätter füllen werden. Ich sehe es schon vor In Ruhezeiten und sonstigen Erholungszeiten darf er meinem geistigen Auge: CDU/SPD fordern: Wir brau- chen umgehend schärfere Gesetze! Es ist wirklich traurig, – der Kapitän dass Sie sich weigern, schon vor dem nächsten Unfall alkoholische Getränke zu sich nehmen, wenn sicher- für mehr Sicherheit auf deutschen Gewässern zu sorgen. gestellt ist, dass er bei der Übernahme sicherheitsre- Stattdessen haben sie die Schiffsoffiziersausbildungsver- levanter Aufgaben nicht mehr unter Wirkung solcher ordnung und innerhalb eines Jahres jetzt schon zweimal Getränke steht. die Seeschifffahrtsstraßenordnung geändert und behaup- ten, damit ihren Auftrag erfüllt zu haben. Man kann sich nur wundern. Offensichtlich kommen nur den Fachleuten von der Küste dazu kritische Fragen in Über die Ausbildungsverordnung hat das Ministerium den Sinn, den Damen und Herren von der Regierung und nun festgelegt, dass bei Beinahe-Unfällen künftig nicht der sie tragenden Koalition leider nicht. Wann sind diese die Seeämter, sondern das Bundesamt für Seeschifffahrt Ruhezeiten und wer definiert sie? Genau: Der Kapitän! Er und Hydrografie für Patententzüge zuständig ist. Ich kann nun jederzeit selbst bestimmen, und das auch noch frage: Wo ist hierfür die dem Grundgesetz entsprechende ganz kurzfristig, wenn die Wasserschutzpolizei gerade Ermächtigungsgrundlage, die solche Eingriffe in die an Bord kommt, dass er nun seine Ruhezeit nehme. Die Berufsausübungsfreiheit nach Art, Zweck und Ausmaß Signalwirkung einer solchen Vorschrift ist vor dem Hin- erlaubt? § 142 Seemannsgesetz genügt diesen Ansprüchen tergrund der Diskussion, die wir seit über zwei Jahren (B) jedenfalls in keiner Weise. (D) unter dem Motto „Null Toleranz für Alkohol an Bord“ Dasselbe Ministerium hat übrigens bei entsprechenden führen, verheerend. Wasserschutzpolizisten haben mir Rechtsgrundlagen im Straßenverkehr alles Wesentliche bestätigt, dass die Regelung völlig unpraktikabel ist. im STVG geregelt. Es kommt wohl auf die Abteilung im Einige Kollegen von der Koalition wissen das doch BMVBS an, ob Verfassungsrecht geprüft wird oder nicht. auch. Ausgerechnet für die sensibelsten Sicherheits- Abgesehen davon hat der Deutsche Bundestag 2005 be- bereiche – Passagiere und gefährliche Gefahrgüter – schlossen, dass auch dieser Teil der Patenentziehung von werden solche Weichmacher eingebaut. Das ist jetzt der WSD Nord als Aufgabe ausgeführt werden soll, damit noch schlimmer als unter dem alten Recht. die Einheitlichkeit der Bewertungsmaßstäbe erhalten bleibt. Doch dieser Beschluss hat offensichtlich weder das Nach ständiger Rechtsprechung passiert einem Kapitän Ministerium noch die sie tragende Koalition interessiert. nichts, wenn er mit einem Blutalkoholwert unterhalb von 0,3 Promille kontrolliert wird. Nach den Vorstellun- Auch diese Vorschrift lässt im Übrigen weder Rechts- gen der Regierung darf er sich nur nicht dabei beobachten grundlagen gegen Inhaber ausländischer Kapitäne erken- lassen, wie er den Alkohol innerhalb der Dienstzeiten zu nen noch sieht sie die Möglichkeit einer vorläufigen sich nimmt. Oder er erklärt sich während einer Kontrolle Anordnung der Patententziehung vor. Erst wenn die Ent- der Einfachheit halber kurzerhand als in der Ruhephase ziehung bereits stattgefunden hat und der Betroffene die befindlich, um ungeschoren saufen zu können. Er muss Entscheidung anficht, kann der sofortige Vollzug ange- nur rechtzeitig einen seiner Offiziere wecken. ordnet werden. Das hat nichts mit der vorläufigen Anordnung zu tun, ein Instrument, das der Behörde Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ermöglicht, sofort und ohne vorausgegangen Grundver- Ich weiß, dass die allermeisten Kapitäne sehr verantwor- waltungsakt einen volltrunkenen Kapitän aus dem Ver- tungsvoll ihre Aufgaben wahrnehmen. Doch um diese kehr zu ziehen, wie das im alten SeeUG ohne Probleme geht es hier ja auch nicht. Es geht um die, bei denen möglich war. eigentlich schon die regelmäßigen Kontrollen der See- Berufsgenossenschaft zutage fördern müssten, dass sie ein Weiterhin hat das Ministerium im August 2005 in der Alkoholproblem haben. Es geht um die Kapitäne, die Seeschifffahrtsstraßenordnung für Fahrgastschiffe und regelmäßig einen über den Durst trinken. Angesichts der bestimmte Gefahrguttransporte einen Passus aufgenom- Entwicklung der Seeschifffahrt bedarf es in unseren Tagen men, wonach ein Kapitän auf seinem Schiff keinen gar nicht mehr eines Tankerunfalls, um an unseren Küsten Alkohol zu sich nehmen darf. Für diese Formulierung für verheerende Schäden zu sorgen. Großcontainerschiffe gab es viel Kritik, Kritik sowohl aus dem Ministerium transportieren heutzutage oft mehr Öl als früher so man- 7072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) cher Tanker. Mit Ignoranz spielen Sie mit der Sicherheit Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) von Mensch und Natur an den deutschen Küsten. NEN): Am 25. November meldete die Deutsche Presse- agentur, dass ein junger Matrose völlig betrunken mit ei- Dorothée Menzner (DIE LINKE): Hier sind zwei nem Fischkutter unkontrolliert durch den Büsumer Anträge zu beraten, die auf den ersten Blick wenig ge- Hafen gefahren sei. Was nach einer Posse klingt, kann mein haben. Doch wenn wir uns klarmachen, dass beide verheerende Folgen haben, wie die traurigen Beispiele sich erheblicher Gefahrenquellen annehmen, dann sieht der verunglückten Öl- und Chemietanker „Erika“ und das schon anders aus. „Prestige“ gezeigt haben. Besorgniserregend ist, dass die Zahl der amtlich festgestellten erhöhten Alkoholwerte in Zunächst zu den Schiffen, dann zu den Seeleuten. den letzten Jahren stark gestiegen ist. Um es deutlich zu Schiffsmotoren, die auch die Generatoren mit Strom ver- sagen: Alkoholmissbrauch gefährdet die Sicherheit von sorgen, werden meist mit schwerem Bunkeröl betrieben, Mensch und Meeresumwelt. Hinzu kommen die Folge- nicht nur auf See, sondern auch in den Häfen. Durch ihre kosten für Tourismus, Fischfang und Schadensbeseiti- Abgase – besonders Schwefeldioxid ist zu nennen – tra- gung. Darum ist es dringend an der Zeit, Alkoholmiss- gen sie zur Luftbelastung bei, insbesondere die Motoren brauch in der Seeschifffahrt zu bekämpfen und die der Kühlcontainerschiffe, die viel Energie schlucken. Sicherheitsstandards in der Seeschifffahrt in ganz Eur- Nicht nur den Verband Deutscher Reeder beschäftigt opa zu erhöhen. Jedes Jahr werden zum Beispiel dieses Problem, auch die EU-Kommission hat das 800 Millionen Tonnen Öl allein über die Häfen in der Thema seit 2002 auf der Agenda. Sie will die landseitige Europäischen Union umgeschlagen. Insbesondere die Stromversorgung für Schiffe fördern, die in den Häfen Nord- und Ostsee sind einem erheblichen Unfallrisiko liegen. Sie empfiehlt dies allen Mitgliedsländern. Die und damit der Gefahr einer Ölpest ausgesetzt. Hier be- meisten der Ostseeanrainerstaaten haben sich bereits steht dringender Handlungsbedarf. verständigt, die landseitige Stromversorgung von Schif- Für Gefahrguttransporte, also Tankschiffe oder See- fen in Häfen zu fördern. Ab 2010 müssen alle Schiffe in schiffe, die radioaktive Stoffe befördern, fordern wir den EU-Häfen ohnehin Kraftstoffe mit höchstens einem eine Nulltoleranzregelung, also eine Null-Promille- Zehntel Prozent Schwefelgehalt verwenden. Nur Grenze. Die Promillegrenze für alle anderen Schiffe und Schiffe, die eine landseitige Stromversorgung nutzen Sportboote soll von derzeit 0,8 auf 0,5 Promille gesenkt können, werden von dieser Auflage befreit. werden. Was bei Autofahrern selbstverständlich ist, wol- Die Linke unterstützt den Antrag der Bündnisgrünen. len wir auch für den Seeverkehr: Wir wollen eine stär- Die Bundesregierung muss alles tun, um die Belastung, kere Prävention durch mehr Kontrollen in den Häfen und die von Schiffen in Häfen ausgeht, zu verringern. Die standardmäßige Blutuntersuchungen bei der Seetaug- (B) landseitige Stromversorgung muss Standard sein. lichkeitsuntersuchung. Die rechtlichen Voraussetzungen (D) sollen so geändert werden, dass die zuständige „Wasser- Nun zu den Seeleuten: Die Seefahrt und die „Buddel schifffahrtsdirektion Nord“ ein Aussetzen der Fahrer- voll Rum“? Da gibt es Klischees, die Seemannsgarn laubnis verfügen kann, wenn Eignungszweifel bestehen. sind. Hier wird verklärt, was unverantwortlich ist: See- fahrer, die betrunken ein Schiff lenken. Natürlich gilt Wenn wir über Meeresverschmutzung und Seesicher- kein Generalverdacht. Doch Alkohol ist ein Problem. Da heit sprechen, müssen wir auch über die Schadstoffbe- gilt nun mal für alle: Die Lizenz ist futsch, wenn zu viel lastung durch Schiffe reden. Schiffe sind Hauptverursa- Alkohol im Spiel ist und gegen betrunkene Seeleute gibt cher giftiger Emissionen wie Stickoxide und es zuweilen zu wenig Handhabe. Das Thema beschäf- Schwefeloxide, Schiffsemissionen belasten nicht nur die tigte im Januar 2006 sogar den Verkehrsgerichtstag in Meeresumwelt, in Hafenstädten verursachen sie bis zu Goslar. 90 Prozent der Belastung mit diesen Gasen. Dabei nimmt die Bedeutung des Seeverkehrs zu: Heute werden Wie die FDP in ihrem Antrag zu Recht feststellt, ist es rund 95 Prozent des interkontinentalen Warenaustau- bei manchen Schiffsführern, die keine deutschen Staats- sches über See abgewickelt. Die Hafenumschlagszahlen angehörigen sind, schwierig, diesen das Patent zu entzie- steigen. Damit steigen aber auch die seeverkehrsbeding- hen. Nach der Ausnüchterung wieder aufs Schiff? Ein ten Emissionen auf See und während der Liegezeit der unhaltbarer Zustand! Da müssen wir nachbessern. Schiffe in den Häfen: Wissenschaftler haben im Auftrag der Europäischen Kommission herausgefunden, dass die Alle, die sich in der Seeschifffahrt nur etwas ausken- weltweiten Schiffsemissionen bis zum Jahr 2010 auf die nen, wissen, dass das Bordleben bei langer Seefahrt auf Größenordnung von 75 Prozent aller an Land verursach- die Kraft, auf die Nerven und auf die Seele drücken kann. ten Emissionen ansteigen werden. Alkoholmissbrauch kann die Folge sein. Deshalb legt Die Linke Wert darauf, auch die Bekämpfung der Ursachen, Wir wollen die Belastung durch Schiffsemissionen Therapie einleitende und begleitende Maßnahmen mit in verringern. Damit müssen wir im Hafen anfangen. Eine das Repertoire zu nehmen. Das gehört – neben regel- Möglichkeit dazu ist die so genannte Landanschlussver- mäßiger Kontrolle – zur Vorbeugung unbedingt mit dazu. sorgung. Wenn wir die Schiffe während ihrer Liegezeit Eine reine Überprüfung, so wie im FDP-Antrag formu- in den Häfen mit Landstrom versorgen, können die liert, reicht nicht, um das Problem ernsthaft anzupacken. Hilfsmotoren abgeschaltet werden. So gewinnen alle: Trotzdem sehen wir – die Fraktion Die Linke – im Antrag Weniger Abgase der Dieselmotoren bedeuten saubere der FDP einen Schritt in die richtige Richtung, sodass wir Luft, die Hafenanrainer freuen sich über den Lärm- auch diesem zustimmen. schutz, die Stadtwerke profitieren vom zusätzlichen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7073

(A) Stromabsatz und die Energiekosten der Fähren sinken, Sachen Arbeitsmarktpolitik und wissen genau, an wel- (C) da der Strom der Stadtwerke günstiger ist als der durch chen Stellen Handlungsbedarf besteht. Hilfsdiesel erzeugte. Der Ausstoß an Kohlenmonoxid re- duziert sich auf nahezu Null, der von Kohlendioxid und In Deutschland stehen eine ganze Reihe von arbeits- Stickoxiden um mehr als die Hälfte. marktpolitischen Instrumenten zur Verfügung, um Men- schen zu unterstützen, die – sei es durch die Globalisie- Mit unserem Antrag „Umweltfreundliche Stromver- rung oder aufgrund anderer Zwänge – ihre Arbeit sorgung von Schiffen in Häfen unterstützen“ fordern wir verloren haben. die Bundesregierung auf, Schritte zu unternehmen, um die Landanschlussversorgung in Häfen sicherzustellen. Die nationalen Instrumente bieten gemeinsam mit Die Europäische Kommission hat die Einsparpotenziale dem seit langem existierenden Europäischen Sozialfonds erkannt und fordert die Mitgliedstaaten auf, zu prüfen, bereits ausreichende Möglichkeiten zur Förderung von wie sich der Aufbau einer Landstromversorgung reali- Arbeitslosen. sieren lässt. Warum also dieser Fonds? – Eine Antwort lässt sich Lübeck macht es vor: In einem EU-Projekt, das vom erahnen, wenn man betrachtet, wer den Vorschlag für Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reak- Leistungen aus dem Globalisierungsfonds macht: die torsicherheit gefördert wird, wird an der Einrichtung ei- EU-Kommission. Sie wird also der Heilsbringer für in nes ersten Landanschlusses gearbeitet. akute Not geratene Arbeitnehmer sein und ihnen zur Seite springen. Das wird ihrem Image sicher nicht scha- Die Bundesregierung sollte diesem guten Beispiel den. Wir kennen diese Vorgehensweise in Deutschland folgen. In Kooperation mit Hamburg, Bremen, Nieder- gut aus vergangenen Tagen – beispielsweise im Zuge der sachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpom- Holzmann-Pleite. mern bietet sich ihr die Chance, die Initiative für einen Die Kommission betätigt sich also als Wunderheiler. umweltfreundlichen Seeverkehr in Deutschland und der Die Kosten tragen – wie immer – die Mitgliedstaaten Europäischen Union zu ergreifen. Einheitliche und ver- und damit die Steuerzahler. bindliche Normen müssen international für alle Häfen gelten. Hier kann die Bundesregierung eine Vorreiter- Abgesehen davon enthebt sie vor allem die großen rolle übernehmen und bei der Überarbeitung des „Inter- Unternehmen ihrer Fürsorge- und Sozialpflicht nach dem nationalen Übereinkommens zur Verhütung von Meeres- Motto: „Es ist überhaupt nicht schlimm, mein Unterneh- verschmutzung durch Schiffe“ die Steckdose im Hafen men ins Ausland zu verlagern. Ich kann weiter profitabel zum internationalen Standard machen. arbeiten. Das Schicksal der Arbeitnehmer kann ich ge- trost der EU überlassen. Die wird das Schlimmste schon (B) finanziell abfedern.“ Dies zeugt von Verantwortungslo- (D) Anlage 11 sigkeit, das mag sein. Ein solches Denken wird durch den von der EU-Kommission installierten Fonds aber gera- Zu Protokoll gegebene Reden dezu befördert. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Darüber hinaus gibt es zahlreiche Ungereimtheiten im Berichts: Vorschlag für eine Verordnung des Verordnungsentwurf. So steht der Globalisierungsfonds Europäischen Parlaments und des Rates zur im Widerspruch zu den von der Kommission selbst Einrichtung des Europäischen Fonds für die nachdrücklich angemahnten Wirtschafts- und Arbeits- Anpassung an die Globalisierung (inkl. 7301/06 marktreformen. Es besteht die Gefahr, dass nun Mit- ADD 1, 7301/06 ADD 2 und 7301/06 ADD 3) gliedstaaten Mittel erhalten, die ihre Hausaufgaben bei (Tagesordnungspunkt 23) den notwendigen strukturellen Reformen nur unzurei- chend erledigt haben. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Der Deutsche Bundestag befasst sich heute mit der Einführung eines Zu kritisieren sind auch die äußerst technokratischen neuen EU-Fonds. Dieser Fonds steht exemplarisch für Kriterien, welche für die Erlangung einer entsprechen- eine verfehlte Politik der EU-Kommission. Anstatt sich den Hilfe erfüllt werden müssen. Mir ist noch immer un- auf Kernaufgaben zu beschränken, wird versucht, immer klar, wie es gelingen soll, den Nachweis zu erbringen, neue Aufgabenfelder zu erschließen und parallel dazu dass Arbeitsplatzverluste eindeutig auf die Auswirkun- immer mehr Finanzmittel zu verteilen. gen der Globalisierung zurückzuführen sind. Ergebnis dieser Unklarheiten ist ein erneutes Aufblähen der Büro- Der europäische Globalisierungsfonds soll mit 500 Mil- kratie, denn unkomplizierte Entscheidungen sind bezüg- lionen Euro im Jahr die Wiedereingliederung von Arbeit- lich dieses Fonds wohl kaum zu erwarten. nehmern in den Arbeitsmarkt unterstützen, die durch weit reichende Veränderungen im Welthandelsgefüge ihren Viel eher ist zu erwarten, dass die ausgereichten Mit- Arbeitsplatz verloren haben. tel vor allem bei Pleiten und Verlagerungen großer Fir- men und Konzerne wirksam werden. Die in den Krite- Die Unterstützung von Menschen, die ihre Arbeit ver- rien genannten mindestens 1 000 abgebauten Stellen loren haben, ist sicher sinnvoll und richtig. Allerdings sind zumindest für große Teile Ostdeutschlands kaum zu muss das unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität ge- erreichen. Dass Stellenverluste in solcher Höhe nicht zu schehen, das heißt in diesem Fall durch die Mitgliedstaa- erwarten sind, ist nur vordergründig positiv. Im Um- ten. Diese verfügen über die notwendige Kompetenz in kehrschluss bedeutet es, dass ehemalige Beschäftigte 7074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) kleiner und mittelgroßer Unternehmen kaum oder gar Deutschland wird auch ohne diesen Fonds in der Lage (C) nicht von einer Förderung durch den EGF profitieren sein, in Zukunft im globalen Wettbewerb bestehen zu werden. Und jeder weiß, dass gerade diese Unternehmen können. Dafür muss es allerdings seine Innovationskraft das Rückgrat der deutschen Wirtschaft – insbesondere weiter ausbauen und Bildung, Forschung und Entwick- der im Osten Deutschlands – bilden. Der Mittelstand lung weiter fördern, wie es beispielsweise mit dem In- bleibt im bisherigen Verordnungsentwurf zu diesem vestitionsprogramm der Bundesregierung in Höhe von Fonds außen vor. Hier geht es um die großen, medien- 6 Milliarden Euro geschieht. wirksamen Pleiten. Die Europäische Union sollte sich in Zukunft auf die Würde man ernsthaft struktur- und beschäftigungspo- Um- und Durchsetzung der bereits existierenden Pro- litischen Gesichtspunkten Rechnung tragen, wären Maß- jekte zur Struktur- und Wirtschaftsförderung konzentrie- nahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch ren. Eine effektive und gezielte Mittelverwendung und den Ausbau von Forschung, Bildung, Qualifizierung und tatsächlicher Bürokratieabbau würden bereits den Mehr- die Modernisierung der Infrastruktur vorzuziehen, so wert erbringen, der beim vorliegenden Globalisierungs- wie die Bundesregierung es in ihrem nationalen Reform- fonds vergeblich gesucht wird. Eine verbesserte Öffent- programm angekündigt hat und nun umsetzt. lichkeitsarbeit sowie eine konsequente, am Bürger ausgerichtete Politik würde auch die angestrebte Image- Deutschland befindet sich auf einem guten Weg und verbesserung für die Kommission bewirken. die Bundesregierung hilft durch ihre Wirtschaft- und Ar- beitsmarktpolitik den Arbeitnehmern direkt. Dadurch verbesserte Arbeitsplatzchancen helfen Arbeitnehmerin- Dr. Martin Schwanholz (SPD): „Die Soziale Markt- nen und Arbeitnehmern letztlich mehr als zeitlich be- wirtschaft europäischer Prägung muss sich gegenüber grenzte Unterstützungsgelder. Ohnehin bleibt fraglich, anderen Wirtschaftsmodellen in Asien und Amerika inwiefern die Kommission in der Lage ist, wirklich stärker durchsetzen. […] Europa muss ein aktiver Ge- schnelle Hilfe zu leisten. Arbeitnehmer, die von Entlas- stalter der Globalisierung sein.“ Das hat vorgestern nicht sungen betroffen sind, brauchen direkte Unterstützung, einer meiner Parteifreunde gesagt, sondern Edmund welche durch nationale Soforthilfeprogramme wesent- Stoiber in seiner Rede vor dem CDU-Parteitag in Dres- lich besser geleistet werden kann. Die Bundesagentur für den. Ich stimme Herrn Stoiber da voll und ganz zu. Die Arbeit ist in Deutschland mit den entsprechenden Mit- SPD fordert seit langem, dass wir in Europa endlich da- teln ausgestattet. mit anfangen, unser Sozialmodell als Standortvorteil zu begreifen und nicht als Wettbewerbshindernis. Aus den genannten Gründen ist es bedauerlich, dass (B) die Bundesregierung der Einrichtung dieses Fonds zuge- Wir Sozialdemokraten sagen zudem: Europa muss die (D) stimmt hat, auch wenn er Teil des Gesamtpakets zur fi- Globalisierung sozial gestalten. Das große Erfolgspro- nanziellen Vorausschau für die Jahre 2007 bis 2013 ist. jekt Binnenmarkt wird auf Dauer nicht funktionieren Der Deutsche Bundestag will durch den heute einge- ohne faire Rahmenbedingungen und ohne europäische brachten Antrag deutlich machen, dass er seine Pflichten Antworten auf die negativen Folgen von Globalisierung. gemäß § 23 Grundgesetz ernst nimmt. Ein bloßes Durch- Mit dem Europäischen Globalisierungsfonds unter- winken solcher europäischer Bürokratiemonster darf es nimmt Europa den Versuch, denjenigen unter die Arme nicht mehr geben. Deshalb haben die mit dem Fonds be- zu greifen, die ihre Jobs aufgrund globaler Handelsent- fassten Ausschüsse des Deutschen Bundestags sich in- wicklungen verloren haben. Bis zu 500 Millionen Euro tensiv mit dem Thema auseinander gesetzt und ihn in- sollen dafür ab kommendem Jahr aus dem europäischen haltlich abgelehnt. Dennoch lässt sich an der Existenz Haushalt zur Verfügung stehen. Dabei wird es sich aus- des Fonds nichts mehr ändern. Allerdings muss die Aus- schließlich um Gelder handeln, die an anderer Stelle gestaltung so vorgenommen werden, dass die Mittel nicht ausgeschöpft wurden. Die Bedenken gegen den sachgerecht eingesetzt werden. So muss gewährleistet Globalisierungsfonds sind klar und liegen auf der Hand: werden, dass der Fonds nur zum Einsatz kommt, wenn Mit dem Europäischen Sozialfonds verfügt die EU be- tatsächlich schwer wiegende branchenbezogene Notla- reits über ein erprobtes Instrument, um die Beschäfti- gen entstanden sind, die auf die Globalisierung zurück- gung in der EU zu fördern. Worin der Mehrwert des zuführen sind. Nichtsdestotrotz dürfen die Arbeitnehmer aus kleinen und mittelgroßen Unternehmen nicht außen neuen Fonds liegt, ist zweifelhaft. Der Nachweis, dass vor bleiben. Entlassungen eindeutig durch Globalisierung bedingt sind, wird schwer zu erbringen sein. Letztlich liegt die Weiterhin muss sichergestellt werden, dass die Mit- Entscheidung darüber bei der Kommission. Hier sind gliedstaaten einen angemessenen Eigenanteil erbringen Ungerechtigkeiten und Streit geradezu vorprogrammiert. müssen, um Mitnahmeeffekte zu verhindern. Der Globa- Zudem ist es schwer zu erklären, dass Arbeitnehmern lisierungsfonds darf ausschließlich aus budgetierten und keine Unterstützung erhalten, wenn ihr Unternehmen in nicht ausgenutzten Verpflichtungen des Vorjahres finan- ein anderes EU-Land abwandert, während ein anderer ziert werden. Auch wenn die Laufzeit sechs Jahre be- Arbeitsloser Hilfe erhalten kann, weil sein Unternehmen trägt, muss schnellstmöglich evaluiert werden, inwiefern in einen Drittstaat abwandert. Mit den 500 Millionen der Fonds überhaupt Wirkung erzielt. Sollte dies nicht Euro – allein die Strukturfonds schlagen mit circa der Fall sein, fordere ich die Kommission auf, diesen 44 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche – liegt der Ver- Fonds abzuwickeln und der Farce ein Ende zu bereiten. dacht von Symbolpolitik nahe. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7075

(A) Wir aus dem Europaausschuss empfehlen dennoch schaubaren Zeitspanne betroffen sind und wenn die Ent- (C) nicht, diese Brüsseler Vorlage abzulehnen. Warum? Ers- lassungen eine beträchtliche negative Auswirkung auf tens: Den Beschluss, den Globalisierungsfonds einzu- die regionale Wirtschaft haben. Aus demselben Grund richten, haben die europäischen Staats- und Regierungs- sollen die Mitgliedstaaten die aus dem Globalisierungs- chefs getroffen, als sie im Dezember letzten Jahres nach fonds geförderten Maßnahmen mindestens zur Hälfte zähem Ringen endlich eine Einigung über den EU-Haus- kofinanzieren. Sie sollen mit den Geldern auch keines- haltsrahmen in den Jahren 2007 bis 2013 gefunden ha- falls ihre sozialen Sicherungssysteme entlasten: Einkom- ben. Der Fonds war Teil dieses Kompromisspakets. Alle mensbeihilfen oder Lohnsubventionen, wie ursprünglich haben dem zugestimmt, auch die Frau Bundeskanzlerin. von der Kommission vorgeschlagen, sollen nicht aus Zu Recht. Erinnern wir uns kurz an die verfahrene Situa- dem Globalisierungsfonds gezahlt werden. Verhand- tion: Europa in der Krise, weil die Franzosen und die lungserfolge in den genannten Punkten sind bereits Niederländer den Verfassungsvertrag abgelehnt hatten. absehbar. Und so wie es aussieht, wird der Globalisie- Nettozahler wie Deutschland wollten den EU-Haushalt rungsfonds zunächst nur die Laufzeit der Finanzierungs- strikt auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens be- periode von 2007 bis 2013 als Instrument zur Verfügung grenzen. Die Nettoempfänger wollten natürlich mehr stehen. Danach wird neu entschieden. Geld. Und dazwischen Tony Blair, der seinen Britenra- batt mit Händen und Füßen verteidigen wollte. Deutsch- Zu guter Letzt: Die SPD findet es richtig und überfäl- land hat bei den Verhandlungen entscheidend dazu bei- lig, dass nun auch in Brüssel die Erkenntnis gereift ist, getragen, einen für alle tragfähigen Kompromiss zu dass Globalisierung Gewinner und Verlierer hat. Globa- stiften. Am Ende ist es nicht 1 Prozent geworden, son- lisierung führt nicht automatisch und überall zu mehr dern sind es 1,045 Prozent oder gut 860 Milliarden Euro, Jobs und zu besseren Arbeits- und Lebensbedingungen die Brüssel maximal in den kommenden Jahren aus den für jeden. Es wird nicht reichen, den Binnenmarkt zu nationalen Haushalten zufließen. Gegenüber den ur- vollenden. Wir müssen die Europäische Union endlich sprünglichen Plänen der Kommission bedeutet das für als sozialen Raum entwickeln. Aus diesem Grund haben uns jährliche Entlastungen in Milliardenhöhe. wir uns dafür stark gemacht, dass bloße Standortverlage- rungen von Unternehmen nicht mehr mit europäischen Hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Geldern gefördert werden. Mit Erfolg. Aus diesem Opposition, diesen Kompromiss wegen des Europäi- Grund arbeiten wir daran, die Bemessungsgrundlage bei schen Globalisierungsfonds platzen lassen? Dann hätten der Besteuerung von Unternehmen europaweit zu ver- Sie nicht nur eine unkluge Entscheidung im Sinne deut- einheitlichen. scher Interessen getroffen. Sie hätten auch verantwor- tungslos gehandelt. Es war entscheidend, dass die EU Die Menschen in Frankreich haben die EU-Verfas- (B) Ende des letzten Jahres eine Lösung in dieser schwieri- sung mehrheitlich abgelehnt, weil sie sich mit ihren (D) gen Frage gefunden hat. Europa hat damit bewiesen, Ängsten von Europa allein gelassen fühlen. Weil Europa dass es auch in einer schweren Krise handlungsfähig ist keine Antworten hat auf die schwierigen Seiten der Glo- und zu Ergebnissen gelangen kann. balisierung, die den Einzelnen im Kern seiner Existenz treffen können. Die Ängste sind groß, auch bei uns in Zweitens: Mit bloßer Ablehnung kommt man in Eu- Deutschland. Die Menschen erwarten zu Recht, dass sie ropa häufig nicht weiter. Vor allem dann nicht, wenn von der Politik nicht im Stich gelassen werden, wenn sie eine Mehrheit im Rat die Entscheidungen trifft. Der Eu- ihre Jobs verlieren, weil die Arbeiter in China zu einem ropäische Globalisierungsfonds wird kommen, so oder Bruchteil ihres Lohnes produzieren. Der Europäische so. Schlicht und ergreifend, weil eine Mehrheit der euro- Globalisierungsfonds ist da ganz sicher nicht das non päischen Regierungen ihn will. Und er wird dann auch plus Ultra. Aber eines ist auch klar: Den Menschen ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- ziemlich egal, ob die Unterstützung, die sie bekommen, land zur Verfügung stehen. Bei aller Kritik in der Sache: aus Berliner oder Brüsseler Geldern stammt. Der nächste Fall Benq kommt bestimmt. Ich bin ge- spannt, wer von Ihnen sich nicht um Gelder bemühen Das Soziale Europa wird ein Schwerpunktthema un- wird, sobald Menschen in seinem Wahlkreis betroffen serer Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 sein. sind. Daher ist es wichtig und richtig, dass wir Einfluss Wenn Europa die Globalisierung aktiv und sozial gestal- auf die konkrete Ausgestaltung des Fonds nehmen. Es ten soll, müssen wir sagen, wie wir das anstellen wollen. nutzt niemanden hier, wenn der zuständige Bundesar- Nur so kann Europa bei den Bürgerinnen und Bürgern beitsminister als Totalverweigerer an den Brüsseler Ver- Vertrauen und Glaubwürdigkeit wiedergewinnen. Nur so handlungstischen sitzt. Auch nicht, wenn er dafür das werden wir unseren European Way of Life – wie der Mandat des Deutschen Bundestages in der Tasche hat. amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin unser europäi- sches Gesellschaftsmodell genannt hat – auch in Zeiten Unter den beschriebenen Umständen sind wir zu al- der Globalisierung weiterführen können. lererst daran interessiert, dass der Globalisierungsfonds nicht ausufert zu einem Ersatzinstrument für nationale Arbeitsmarktpolitik in einigen Staaten. Die Mitglieds- Markus Löning (FDP): Es ist schon ein beachtlicher staaten sind in erster Linie dafür verantwortlich, dass Vorgang: Da macht die Bundeskanzlerin auf dem Euro- Menschen wieder in Arbeit kommen. Und sie sollen es päischen Rat im Dezember 2005 Zugeständnisse in auch bleiben. Der Globalisierungsfonds soll ausschließ- Höhe dreistelliger Millionenbeträge und die Regierungs- lich in erheblichen Fällen zum Tragen kommen: wenn fraktionen runzeln die Stirn und stimmen dem Ganzen mindestens 1 000 Arbeitsplätze in einer kurzen, über- am Ende doch zu. 7076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Mit der Beschlussempfehlung zum europäischen Glo- Steuergeldern erkauft. Die Bürger haben ein Recht da- (C) balisierungsfonds macht die Regierungskoalition einen rauf, dass mit ihrem Geld sorgsam umgegangen wird. schweren Fehler. In den nächsten sieben Jahren sollen gut Das ist vor allem dann der Fall, wenn ihnen Europa in ih- 500 Millionen Euro jährlich für arbeitsmarktpolitische rem täglichen Leben einen echten Mehrwert bietet, sei es Maßnahmen vonseiten der EU ausgegeben werden. Über bei Banküberweisungen oder bei den Roaminggebühren. den gesamten Zeitraum der gesamten finanziellen Vo- Ein milliardenschwerer Globalisierungsfonds gehört nicht rausschau sind das 3,5 Milliarden Euro. Niemand weiß dazu. heute, wie genau diese Maßnahmen aussehen sollen und wie lange es diesen Fonds geben wird. Im Übrigen ist er auch mit Steuergeldern erkauft, die hierzulande dringend an anderen Stellen benötigt wer- Was in dem Verordnungsentwurf steht, der am den; denn – das muss auch einmal festgehalten werden – 1. Dezember 2006 abschließend im Rat beraten werden der Fonds wird sich aus Mitteln zusammensetzen, die soll, könnte genauso gut aus der Feder ihres Vizekanzlers sich aus Einsparungen innerhalb des Haushaltes der EU stammen. So soll bei der Arbeitssuche, Weiterbildung ergeben und eigentlich den Mitgliedstaaten zurücküber- und bei der Gründung von Unternehmen durch Arbeits- wiesen werden müssten. lose finanzielle Unterstützung an die Betroffenen fließen. Zum einen sollte man sich diese Art der Argumentation Unbeschadet der inhaltlichen Würdigung dieser Maß- gut merken, wenn es um die nächste Mittelausstattung nahmen ist kritikwürdig, dass diese Maßnahmen neben geht; denn offensichtlich bestehen erhebliche Einsparpo- bereits bestehenden nationalstaatlichen Anstrengungen tenziale. Zum anderen werden diese Mittel in Bildung, stehen sollen. Die Mittel werden also draufgesattelt. Innovation und Forschung dringend benötigt. Ich kann Nicht nur, dass Sie damit Arbeitslose erster und zweiter mir lebhaft vorstellen, wie Ihre Pressemitteilungen aus- Klasse schaffen; denn dass machen Sie, wenn sie die sehen würden, wenn Sie die gleiche Summe in Bildung, Unterstützung im Fall von Arbeitslosigkeit davon abhän- Innovation oder Forschung gesteckt hätten. Dass Sie gig machen, ob man von einem größeren Unternehmen gleiches nicht beim Globalisierungsfonds machen, entlassen wird oder von einem kleineren Unternehmen. spricht Bände. Sie schaffen auch doppelte Strukturen mit doppelten Verwaltungen. Auch die in der Beschlussvorlage benutzte Argumen- tation der Regierungsfraktionen, man könne bereits be- Das ist der entscheidende Kritikpunkt der Liberalen an schlossene Finanzkompromisse im Nachhinein nicht dem Globalisierungsfonds. Sie schaffen mehr Bürokratie, mehr infrage stellen, steht auf wackligen Füßen. Denn um der Europäischen Union ein sozialeres Erschei- wenn der Bundestag seine Kontrollfunktion wirklich nungsbild zu verpassen, anstelle dass Sie hier zu Hause ernst nehmen will, muss er sich dieses Recht nehmen. (B) in Deutschland endlich die Reformen in Gang setzen, die Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Bundestag in Eu- (D) nötig sind, um das zarte Pflänzchen Aufschwung weiter ropafragen zu einem reinen Abnickgremium verkommt. wachsen zu lassen. Mit dieser Logik des nacheilenden Gehorsams höhlen die Regierungsfraktionen letztlich auch die Vereinba- Da beruhigt es auch nicht, dass die Bundesregierung rung zwischen Bundesregierung und Bundestag aus. ständig betont, dass man sich im Rat bemühen werde, den Anwendungsbereich des Fonds einzugrenzen. Wie Sie verpassen hier eine Chance, nicht nur Ihr Recht das in der Praxis aussieht, konnten wir erst heute bei der gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen, son- Grundrechteagentur sehen. dern auch eine Chance, Ihr gutes Recht einzufordern, schneller und umfassender durch die Bundesregierung Sie tragen dazu bei, dass zusätzliche Bürokratie ge- darüber informiert zu werden, welchen Dingen sie in eu- schaffen und bereits bestehende Ressourcen dupliziert ropäischen Räten zustimmt. werden. Mit der Beschlussempfehlung setzen Sie sich im Übrigen über die Stellungnahmen des Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftsausschusses hinweg. Alle drei Ausschüsse Ulla Lötzer (DIE LINKE): Wir haben mit Interesse haben die Vorlage abgelehnt – auch mit den Stimmen zur Kenntnis genommen, dass auch von der EU-Kom- Ihrer Kollegen, meine Damen und Herren aus den Regie- mission die negativen Auswirkungen der Globalisierung rungsfraktionen. Das ist schon deshalb bemerkenswert, auf den Arbeitsmarkt zur Kenntnis genommen worden weil offensichtlich die Kollegen und Kolleginnen der sind. Die Kommission schreibt selbst dazu: „Es besteht Regierungsfraktionen in den Fachausschüssen, die ganz beträchtliche Asymmetrie zwischen den Vorteilen der wesentlich von dem europäischen Globalisierungsfonds Öffnung, die diffus sind und häufig einige Zeit brauchen, betroffen sind, eine gänzlich andere Auffassung als ihre bis sie zutage treten, und den ungünstigen Wirkungen, Kollegen im Europaausschuss vertreten. die deutlicher sichtbar sind, unmittelbar eintreten und sich auf bestimmte Einzelpersonen und Gebiete konzen- Das zeigt vor allem eines: Inhaltliche Unterstützung trieren.“ hat dieser Globalisierungsfonds im Deutschen Bundestag nicht. Letztlich geht es allein darum, die längst überwun- Tatsächlich führt die neoliberale Globalisierung zu ei- den geglaubte Scheckbuchdiplomatie Ihrer Kanzlerin im ner Verdrängungskonkurrenz um Weltmarktanteile. Sie deutschen Parlament still und leise absegnen zu lassen. führt zu einer Politik, die sich an Wettbewerbsfähigkeit Der Kompromiss zur finanziellen Vorausschau, der als und den Interessen der großen Konzerne und Finanz- großer europäischer Erfolg der Bundeskanzlerin verkauft marktakteure orientiert und in diesem Sinne reguliert be- wurde, entpuppt sich Stück für Stück als viel zu teuer mit ziehungsweise dereguliert. An die Stelle wohlfahrtstaat- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7077

(A) lichen Ausgleichs durch Politik ist das Leitbild des terstützung der Sozialpläne von Großunternehmen. Statt- (C) Wettbewerbsstaates getreten – auch in der EU. Men- dessen brauchen wir eine koordinierte umfassende schen, Länder und Ländergruppen werden sozial und europäische Wirtschaftspolitik, die sozial und tariflich wirtschaftlich marginalisiert. geschützte Beschäftigung fördert und europäische Kon- zerne in die soziale und ökologische Verantwortung ein- Trotzdem können wir dem Globalisierungsanpas- bindet, statt ihre Verantwortungslosigkeit finanziell aus sungsfonds nicht zustimmen, da er in der vorliegenden Steuermitteln zu fördern. Form eine reine PR-Maßnahme darstellt.

Erstens kommt der Globalisierungsfonds nur Großun- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ternehmen zugute. Er greift erst bei mindestens 1 000 NEN): Die Globalisierung ist weder Schicksal noch Na- Entlassungen. Die Großunternehmen können sich da- turgesetz, sondern ein Prozess, der politisch gestaltet durch bei Massenentlassungen indirekt einen Sozialplan werden muss. Mit ihr stehen wir vor zentralen Heraus- mitfinanzieren lassen. Das heißt, dass im Endeffekt die forderungen: Armutsbekämpfung und Entwicklung von Entscheidung für Massenentlassungen und Standortver- Wirtschaft und Arbeitsmärkten, ökologische Nachhaltig- lagerung in ein Nicht-EU-Land sogar noch erleichtert keit und globale Sicherheit. Wir wollen die Globalisie- wird. Standortverlagerungen und Flexibilisierung der rung mithilfe reformierter Institutionen, wirksamer Kon- Wertschöpfungsketten betreffen heute jedoch nicht mehr fliktschlichtungsmechanismen und klarer Regeln positiv nur große multinationale Unternehmen. Grenzüber- gestalten. Der Fonds zur Anpassung an die Globalisie- schreitende Standortverlagerungen und Umstrukturie- rung ist jedoch kein geeignetes Instrument hierzu; dop- rungen sind vermehrt auch für kleine und mittelständige pelt er doch genau die Maßnahmen, die auf nationaler Unternehmen von existenzieller Bedeutung. Diese sind Ebene und mit den bisherigen europäischen Struktur- aber von dem Fonds ausgeschlossen. fonds bereits durchgeführt werden. Zweitens greift der Fonds nicht bei Arbeitsplatzverla- Beschlossen wurde er bei Frau Merkels großem An- gerungen innerhalb der Europäischen Union. So können trittsauftritt beim Europäischen Rat am 15./16. Dezem- die belgischen Volkswagenbeschäftigten, deren Arbeits- ber 2005. Mit ihm sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- plätze nach Deutschland verlagert werden, nicht auf Hil- nehmer, die wegen größerer Strukturveränderungen im fen aus diesem Fonds zurückgreifen. Welthandelsgefüge arbeitslos geworden sind, unterstützt Drittens unterstellt ein Sonderfonds für Globalisie- werden. Somit sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- rungsopfer, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nehmer, die als Folge der Globalisierung von Entlassun- die aufgrund der Globalisierung arbeitslos werden, be- gen bedroht sind, zusätzliche Unterstützung erhalten, (B) sondere Härten zu tragen hätten. Die Kommission ver- nicht aber diejenigen, die aus anderen nicht von ihnen zu (D) sucht dies damit zu begründen, dass diese Arbeitnehme- verantwortenden Gründen ihren Arbeitsplatz verloren rinnen und Arbeitnehmer älter und nicht adäquat haben. Diese künstliche Unterscheidung ist zutiefst un- ausgebildet wären. Damit seien sie länger arbeitslos und gerecht. Fraglich ist auch, wie nachgewiesen werden nur in geringer entlohnte Beschäftigungsverhältnisse soll, dass ein Arbeitsplatzverlust eindeutig auf die Aus- wieder vermittelbar. Das ist eine kühne These, mit der wirkungen der Globalisierung zurückzuführen ist. Das sich nur um die Anforderungen einer generellen Beschäf- Ziel dieses Fonds ist also begrüßenswert, die Ausgestal- tigungspolitik herumgedrückt wird; ganz zu schweigen tung jedoch mangelhaft und ungerecht. davon, dass es im Einzelfall schwierig werden könnte, Ebenso spricht gegen diesen neuen Fonds, dass wir mit nachzuweisen, welche Massenentlassung Folge der Glo- den europäischen Strukturfonds bereits äußerst erfolgrei- balisierung und welche Folge anderer Entwicklungen ist. che Strukturen haben, die Maßnahmen für Arbeitslose ini- Doch die Probleme liegen nicht nur beim Geltungsbe- tiieren und finanzieren. Gerade der Europäische Sozial- reich des Fonds, sie liegen auch bei der Art der geförder- fonds unterstützt zum Beispiel die Qualifikation und Be- ten Maßnahmen. Einerseits droht bei Maßnahmen wie schäftigung von Arbeitslosen, berufsvorbereitende Maß- vorübergehenden Lohnkostenzuschüssen für ältere Ar- nahmen für Jugendliche, die berufliche Weiterbildung beitnehmer, dass diese dauerhaft in Niedriglohnsektoren von Erwerbstätigen, die soziale Integration von Benach- abgedrängt werden können. Andererseits zeigen alle Er- teiligten oder die Chancengleichheit von Frauen und fahrungen, dass Unternehmen Arbeitnehmer nicht des- Männern. Er geht also weit über das hinaus, was der Glo- wegen einstellen, weil sie Lohnkostenzuschüsse bekom- balisierungsfonds erreichen soll, soll aber künftig mit die- men. Sie stellen ein, wenn sie Bedarf an Arbeitskräften sem in Konkurrenz stehen. haben. Die Gefahr bei solchen Instrumenten ist, dass es zu hohen Mitnahmeeffekten kommen kann. Diese mangelnde Logik sehen wir auch in der unsi- cheren und unklaren Positionierung der großen Koali- Der Globalisierungsanpassungsfonds dient letztlich tion. In ihrem im EU-Ausschuss vorgelegten Antrag nur als Feigenblatt für eine Politik, die insgesamt auf den zum Globalisierungsfonds zeigt sie deutlich, dass sie globalen Wettbewerb setzt. Das zeigt neben aller ande- große Bedenken gegenüber diesem Fonds hegt, stimmt ren Kritik die geringe Kapitalausstattung von 500 Mil- mit Bündnis 90/Die Grünen darin überein, dass der lionen Euro für 25 Mitgliedstaaten. Was wir brauchen, Mehrwert dieses Fonds mehr als fraglich ist und lehnt ist jedoch keine Alibihandlung, sondern eine Abkehr wie auch wir eine künstliche und intransparente Un- von dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik der Europäi- gleichbehandlung der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- schen Union. Wir brauchen keinen Sonderfonds zur Un- nehmer ab, um sich aber dann bereits vor der morgigen 7078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Abstimmung geschlagen zu geben, da eine Ablehnung ja Mit der Einführung der Insolvenzordnung hat der da- (C) wirkungslos wäre. Im Antrag heißt das dann so: Da die malige Gesetzgeber Neuland betreten, sodass es nun an Entscheidung über den EGF mit qualifizierter Mehrheit der Zeit ist, die Vorschriften einer kritischen Würdigung im Rat getroffen wird und die erforderliche Mehrheit als zu unterziehen. Die Bundesregierung hat dies getan und gesichert gilt, wäre eine Ablehnung des EGF durch die unterbreitet uns heute einige gute Vorschläge, wie die In- Bundesregierung wirkungslos. Aufgeben schon vor der solvenzordnung für die Regelinsolvenz in einigen Berei- Abstimmung? Und das, obwohl Deutschland nach dem chen sinnvoll fortentwickelt werden kann. üblichen EU-Finanzschlüssel an der Finanzierung dieses Die Weiterführung des Betriebs nach der Insolvenz Fonds mit 20 Prozent beteiligt ist, was jährlich 100 Mil- kann dadurch erschwert werden, dass dem Unternehmen lionen Euro ausmacht? Wie passt das zusammen mit überlebenswichtige Betriebsmittel entzogen werden. dem eisernen Sparwillen, der während der Verhandlun- Fehlt der Firma beispielsweise eine wichtige Maschine, gen um die Ausgestaltung des nächsten mehrjährigen weil der Sicherungsnehmer sie wieder an sich genom- EU-Finanzrahmens exerziert wurde? Dies mündete da- men hat, ist an eine Aufrechterhaltung der Produktion rin, dass bevor überhaupt über inhaltliche Prioritäten der nicht mehr zu denken. Die Sanierung des Unternehmens politischen Arbeit der Europäischen Union für die kom- kann damit zum Scheitern verurteilt sein. Der Vorschlag menden Jahre verhandelt wurde, erst mal eine Grenze der Bundesregierung zur erleichterten Fortführung des von einem Prozent der EU-Wirtschaftskraft als maxi- Unternehmens im Eröffnungsverfahren greift diese Pro- male Obergrenze für diesen Finanzrahmen sowohl von blematik auf und führt zu mehr Rechtssicherheit. Da- CDU/CSU als auch von der SPD gefordert wurde. Wie nach wird es nun nicht mehr darauf ankommen, wann passt das zusammen mit der Ablehnung des Fonds im der Insolvenzverwalter die betroffenen Gegenstände in Haushaltsausschuss und im Ausschuss für Wirtschaft Besitz genommen hat, sondern das Gericht kann bereits und Technologie? Gar nicht! Es ist einfach Ausdruck ei- mit der Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters ner in sich zerstrittenen großen Koalition. gleichzeitig die Einziehung und Verwertung untersagen, um den Betrieb weiter laufen zu lassen. Anlage 12 Für den Gläubiger bedeutet dies selbstverständlich ei- nen Eingriff in seine Eigentümerposition. Aber dieser Zu Protokoll gegebene Reden Eingriff bleibt an strenge Voraussetzungen geknüpft und wird nicht ohne einen Entschädigungsanspruch gewährt. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Die Anordnung darf daher richtigerweise nur für Gegen- Vereinfachung des Insolvenzverfahrens (Tages- stände ergehen, die für die Fortführung des Betriebes ordnungspunkt 24) von erheblicher Bedeutung sind und daher unerlässlich (B) (D) für den Sanierungszweck sein müssen. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Die beste Politik gegen die Insolvenz von Unternehmen ist eine gute Ein weiterer Eingriff in die Rechte des Gläubigers, Wirtschaftspolitik. Die steigenden Konjunkturdaten füh- sofern er Vermieter oder Verpächter ist, ergibt sich aus ren zugleich zu einer sinkenden Zahl von Firmenpleiten. der Einführung einer Kündigungsfrist von drei Monaten. Dies zeigen auch aktuelle Zahlen. Der Bundesverband Praktisch wichtig wird dies insbesondere für den Fall der Deutscher Inkasso-Unternehmen rechnet in diesem Jahr Raummiete. Bislang wird der Insolvenzverwalter auf die mit knapp über 30 000 zahlungsunfähigen Unternehmen – gesetzlichen Kündigungsfristen hingewiesen und damit ein Rückgang von 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr. auf die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches. Bei Trotz dieser erfreulichen Entwicklung bedürfen die ver- Gewerbeimmobilien kann daher der Zeitraum bis zu bleibenden Insolvenzfälle einer Regelung, die möglichst neun Monate ausmachen, in dem der Insolvenzverwalter zu einer Sanierung des Unternehmens führt, ohne dabei an den Mietvertrag gebunden bleibt. den Gläubigerschutz außer Acht zu lassen. Eine derartig langfristige Bindung belastet jedoch die Masse in erheblicher Weise. Dies wäre noch zu rechtfer- Mit der Einführung der Insolvenzordnung im Jahre tigen, wenn andere Dauerschuldverhältnisse ebenso be- 1999 und der Ablösung der Konkursordnung ist ein Pa- handelt würden. Der Arbeitnehmer eines insolventen Un- radigmenwechsel herbeigeführt worden. In dem Zeit- ternehmens ist indes nicht in einer derart komfortablen raum zwischen 1985 und 1990 wurden über drei Viertel Situation. Seinem Anspruch aus dem Kündigungsschutz- der Konkursanträge mit der Begründung abgewiesen, es gesetz oder auch aus dem BGB kann der Insolvenzver- sei keine hinreichende Vermögensmasse vorhanden. walter die Kündigungsfrist aus § 113 Insolvenzordnung Durch die Insolvenzordnung konnte dieser Trend ge- entgegenhalten. Demnach hat der Insolvenzverwalter die stoppt werden. So liegt beispielsweise bei insolventen Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis innerhalb von drei Kapitalgesellschaften die Eröffnungsquote inzwischen Monaten zum Monatsende zu kündigen. Vom Arbeitneh- bei über 60 Prozent. Nur wenn es zur Eröffnung des In- mer wird hier ein Sonderopfer verlangt, sodass es in der solvenzverfahrens kommt, kann ein geordnetes Verfah- Tat nicht unbillig erscheint, die Kündigungsfrist für ren in Gang gesetzt werden, um die Gläubiger wenigs- Dienstverträge auch auf Miet-und Pachtverhältnisse aus- tens mit einem Teil ihrer Forderung vernünftig zu zudehnen. befriedigen, was letztendlich im Interesse aller Beteilig- ten ist und den Mangel in der Insolvenz gerecht verteilt. Im Hinblick auf andere Gesetzesvorhaben im Bereich Mehr eröffnete Verfahren führen daher auch zu mehr des Insolvenzrechts möchte ich aber klar herausstellen, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. dass die Einschränkung der Rechte privater Gläubiger im Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7079

(A) Insolvenzverfahren einzig und allein der Sanierung des solvenzverwaltern bei den Gerichten nicht erlaubt sind. (C) Unternehmens zugute kommen soll. Daher gibt es keinen Gerade wenn man keine zusätzlichen Voraussetzungen an Sinn, die Privilegierung auf der Seite der privaten Gläu- die Ausübung der Insolvenzverwaltung stellt, kann man biger herunterzuschrauben, um sie dann bei den öffentli- nicht eine geschlossene Gesellschaft von Insolvenzver- chen Gläubiger gleich wieder hochzudrehen – wenn sie waltern zulassen. Die verfassungsrechtlichen Bedenken mir an dieser Stelle diesen sich geradezu aufdrängenden gegen die geschlossenen Listen aufzugreifen, war daher Hinweis auf ein ebenfalls anhängiges Gesetzgebungsver- notwendig. fahren zum Insolvenzrecht erlauben. Ein anderes Ziel der Insolvenzordnung war und ist nämlich auch weiterhin die Die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Ände- Gleichbehandlung der Gläubiger. Wenn aber die Insol- rungen fügen sich in das System der Insolvenzordnung venzordnung von allen Betroffenen akzeptiert werden ein und ergänzen es an Stellen, an denen sich Korrektur- soll, dürfen wir nicht die Bevorzugung einer bestimmten bedarf gezeigt hat. Wir als CDU/CSU-Fraktion begrüßen Gläubigergruppe zulassen. diesen Regierungsentwurf in seiner Grundausrichtung daher nachdrücklich. Über etwaige Optimierungen und Ebenso zu begrüßen ist die Absicht der Bundesregie- Probleme in Detailfragen zu sprechen, werden wir im rung, den Insolvenzschuldner zu einer selbstständigen Rechtsausschuss noch ausreichend Gelegenheit haben. Tätigkeit zu bewegen, ohne dabei die Insolvenzmasse zu Durch keinen Änderungsvorschlag der Bundesregierung belasten. Der Schuldner soll wieder in ein geregeltes Er- werden jedoch die Koordinaten derart verschoben, dass werbsleben zurückfinden können. Wir wären allerdings die ursprünglichen Ziele der Insolvenzordnung aus den schlecht beraten, dem Schuldner dabei den Weg in die Augen verloren würden. Ich wäre froh, ich könnte dies Selbstständigkeit zu versperren. auch über andere Gesetzesvorhaben der Regierung zum Die jetzige Gesetzeslage hingegen führt faktisch zu Insolvenzrecht sagen. diesem Ergebnis, da alle Einkünfte, die ein selbstständi- Vor allen Dingen warne ich davor, eine bestimmte ger Schuldner nach der Insolvenzeröffnung erzielt, zur Gläubigergruppe zu bevorzugen. Wer vom privaten Insolvenzmasse gezählt werden. Sofern ein Schuldner Gläubiger Opfer verlangt, der sollte dies bei seinen nun doch selbstständig tätig wird, steht der Insolvenz- Überlegungen im Hinterkopf behalten, wenn er sich für verwalter vor dem Problem, dass bei Duldung oder Billi- eine Besserstellung von öffentlichen Gläubigern im In- gung dieser Tätigkeit die Verbindlichkeiten, die der solvenzverfahren einsetzt. Die prinzipielle Gleichbe- Schuldner im Rahmen seiner neuen Tätigkeit eingegan- handlung von privaten und öffentlichen Gläubigern war gen ist, zu Masseverbindlichkeiten werden können. ein wichtiger Regelungszweck der Insolvenzordnung. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Rege- Daran sollte auch weiterhin nicht gerüttelt werden. (B) lung sorgt an dieser Stelle für eine Klarstellung und er- (D) möglicht es dem Insolvenzverwalter, derartige Verbind- Dirk Manzewski (SPD): Am heutigen Abend debat- lichkeiten aus der Masse herauszuhalten, vorausgesetzt tieren wir hier über den Gesetzesentwurf der Bundesre- selbstverständlich, die Gläubiger stimmen zu. Das heißt gierung zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens. Das aber nicht, dass ein selbstständiger besser gestellt wer- Ziel des Gesetzesentwurfs ist es, erforderliche Anpas- den würde als ein abhängig beschäftigter Schuldner, da sungen an die Anfang 1999 in Kraft getretene Insolvenz- die Pfändungsgrenzen wie beim Arbeitseinkommen ordnung vorzunehmen. Das Gesetz greift dabei insbe- gelten. Alles, was über diesem Betrag liegt, fließt dann sondere in der Vergangenheit festgestellte Defizite im in die Insolvenzmasse. Letztlich kommt diese Lösung Unternehmensinsolvenzverfahren auf. dem Insolvenzschuldner und seinen Gläubigern zustat- ten. – Letztendlich kommt diese Lösung dem Insolvenz- Ich halte die in diesem Zusammenhang vorgeschlage- schuldner und seinen Gläubigern zugute. nen Änderungen für insgesamt genommen sehr gelun- gen. Lassen Sie mich aufgrund des fortgeschrittenen Das Justizministerium hat sich in seinem Entwurf Abends und der mir verbleibenden geringen Zeit zum auch intensiv mit der Frage beschäftigt, wie die Auswahl Gesetzentwurf nur eine besonders positive Anmerkung der Insolvenzverwalter verbessert werden kann. Ich machen und einige Nachfragen stellen. glaube, das BMJ hat gut daran getan, es bei der Klarstel- lung in § 56 Insolvenzordnung zu belassen. Die aufge- Soweit der Gesetzesentwurf klarstellt, dass bei der zeigten Beispiele aus Österreich und Frankreich über- Auswahl des Insolvenzverwalters die Verwendung so ge- zeugen nicht. Insbesondere das französische Modell nannter geschlossener Listen unzulässig ist, halte ich dies würde deutlich mehr Reglementierung an einer Stelle für richtig. Die Gerichte müssen künftig die Insolvenz- bringen, wo dies in der Praxis nicht vonnöten ist. verwalter aus dem Kreis aller Personen auswählen, die sich zur Übernahme von Insolvenzverwaltungen bereit Die Insolvenzverwalter in Deutschland machen eine erklärt haben. Der Gesetzentwurf sorgt damit nicht nur gute Arbeit. Die Zulassung als Insolvenzverwalter nun an für mehr Transparenz bei der Auswahl des Insolvenz- eine Prüfung zu knüpfen, der zudem noch ein mehrjähri- verwalters durch das Gericht; er berücksichtigt damit ger Vorbereitungsdienst vorherzugehen hat, würde nur auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unnötigen bürokratischen Aufwand bringen, ohne die Ge- aus dem Jahr 2004, das insoweit die Beachtung des währ zu geben, nachher tatsächlich eine bessere Abwick- Gleichbehandlungsgrundsatzes anmahnte. lung der Insolvenzen zu erreichen. Richtig und wichtig vor dem Hintergrund des Bundesverfassungsgerichtsur- Ich frage mich allerdings, ob die im Gesetz vorgese- teils ist die Klarstellung, dass geschlossene Listen von In- hene Möglichkeit, die Bereitschaft zur Übernahme auf 7080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) bestimmte Insolvenzverwaltungen zu beschränken, im Verwalter von der Freigabe keinen Gebrauch macht und (C) Licht der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG nicht die Fortführung der gewerblichen Tätigkeit durch den problematisch ist; denn ein zu bestellender Insolvenzver- Insolvenzschuldner duldet, die durch den so genannten walter muss bereit und aufgrund seiner Qualifikation Neuerwerb begründeten Verbindlichkeiten automatisch auch in der Lage sein, allen Anforderungen gerecht zu zu Masseverbindlichkeiten werden sollen. Eine direkte werden. Insofern halte ich den Vorschlag des Bundesra- Handlung des Verwalters liegt ja nicht vor. tes, diese Regelung zu streichen, für überlegenswert. Wie gesagt ist dieses ansonsten ein für mich gelunge- Soweit in Insolvenzsachen von Printveröffentlichun- ner Entwurf. Erlauben Sie mir noch, meiner Freude Aus- gen Abstand genommen und als Regelfall nur noch eine druck darüber zu verleihen, dass von der Bundesregie- elektronische Bekanntmachung im Internet stattfinden rung in der Begründung zu diesem Gesetzesentwurf soll, melde ich auch leichte Bedenken an. Richtig ist si- zutreffend darauf hingewiesen wird, dass die „neue“ In- cherlich, dass durch diese Art der Bekanntmachung die solvenzordnung sich bewährt und im Gegensatz zur „al- entsprechenden Kosten gesenkt werden können. Ob die ten“ Konkursordnung zu einer viel größeren Eröffnungs- hierfür einzuführende bundeseinheitliche Internetplatt- quote geführt hat. Diese Erkenntnis hätte uns beim so form jedoch die gewünschten Erfolge bringen, werden genannten Gesetz zur Anpassung des Rechts der Insol- die anstehenden Beratungen zeigen. venzanfechtung viele Diskussionen erspart. Immerhin werden Gläubiger hierdurch gezwungen, immer wieder einmal pro forma diese Internetplattform Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): aufzusuchen, um sich über etwaige Insolvenzen von Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Das gilt ganz besonders Schuldnern zu informieren. Vielleicht wäre es deshalb für die Reformbemühungen der Bundesregierung im sinnvoller, altes und neues System zunächst noch etwas Bereich Insolvenzrecht. Nach der Pleite – anders kann nebenher laufen zu lassen. Interessant wäre es auch, zu man es wirklich nicht nennen – mit der beabsichtigten erfahren, welche Erfahrungen Nordrhein-Westfalen mit Besserstellung des Fiskus und der Sozialkassen im Insol- ihrer diesbezüglichen Internetplattform gemacht hat. venzverfahren und dem Schlingerkurs in Sachen Ver- Soweit im Gesetzesentwurf vorgeschlagen wird, im braucherinsolvenzverfahren wird nun bei den Unterneh- Wege gerichtlich angeordneter Sicherungsmaßnahmen mensinsolvenzen etwas vorgelegt, was sich nach erster ein Verwertungs- und Einziehungsverbot gegenüber Durchsicht als ganz brauchbar erweist. Aussonderungsberechtigten und Sicherungsgläubigern Bevor ich zu den Inhalten komme, möchte ich noch ein zu verhängen, um insbesondere die Nutzung von solchen Wort zum Verfahren sagen. Ich finde es absolut nicht in sicherungsübereigneten Betriebsmitteln zu ermögli- Ordnung, dass Änderungen, die die Insolvenzordnung auf (B) chen, die für eine Fortführung des Betriebes von wesent- (D) den Kopf gestellt hätten, teilweise durch die Hintertür licher Bedeutung sind, habe ich noch Klärungsbedarf. eingeführt werden sollten. Ich erinnere in diesem Zusam- Zwar soll den Interessen der absonderungsberechtigten menhang nur an den fehlgeschlagenen Versuch, in das Gläubiger sowie der Aussonderungsberechtigten durch Jahressteuergesetz 2007 Vorrechte für den Fiskus hinein- Anordnung einer Zinszahlungspflicht sowie einer Ent- zuschreiben. Hier sollte das Parlament offensichtlich schädigungsregelung für den durch die Nutzung einge- hinter die Fichte geführt werden. Erst nachdem die Oppo- tretenen Wertverlust Rechnung getragen werden. Es sitionsfraktionen massiv Krach geschlagen hatten und stellt sich mir jedoch die Frage, ob ein Verwalter in die- auch die Presse auf das Thema aufmerksam geworden sem frühen Verfahrensstadium überhaupt einschätzen war, hat die Bundesregierung von dem Versuch, wesent- kann, hierfür dann nach vollzogener Nutzung zum späte- liche Grundprinzipien und Errungenschaften der neuen ren Zeitpunkt auch noch genug Geld für die Erstattung Insolvenzordnung auszuhebeln, Abstand genommen. des Wertverlustes zu haben, und wonach sich die Ent- schädigungsregelung dann richtet. Wenig zielführend war auch der Versuch der Bundes- Klärungsbedarf habe ich auch noch, soweit eine Re- regierung, im Entwurf eines Gesetzes zum Pfändungs- gelung geschaffen werden soll, nach der der Insolvenz- schutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts verwalter die Möglichkeit hat, das Vermögen aus einer der Insolvenzanfechtung Unstreitiges und Streitiges mit- selbstständigen Tätigkeit des Schuldners nicht zur Insol- einander zu vermischen. Es bedurfte erst der Sachver- venzmasse zu zählen, um den Schuldner so zu der selbst- ständigenanhörung, die mit einer beispiellosen Ohrfeige ständigen Tätigkeit zu motivieren. Gerade diese Erwei- für die Bundesregierung endete, um zu verhindern, dass terung der Insolvenzmasse gehörte bislang zu den die Sozialkassen und der Fiskus in der Insolvenz eine maßgeblichen Änderungen der „neuen“ Insolvenzord- deutlich bessere Behandlung erfahren als alle anderen nung, da sich hierdurch die Aussicht der Insolvenzgläu- Gläubiger. biger auf eine bessere Quote bei der Befriedigung ihrer Ich appelliere an die Bundesregierung, wieder zur Forderungen erhöhen sollte. Vernunft zu kommen. Die Insolvenzordnung darf nicht Abgesehen davon, dass zu erwarten ist, dass die Gläu- zum Experimentierfeld der Finanzminister werden. Der biger gegen die entsprechende so genannte Freigabeer- Bundeshaushalt lässt sich nicht mit Vorrechten für den klärung gerichtlich vorgehen und damit die Insolvenzge- Fiskus sanieren, die sozialen Sicherungssysteme nicht richte zusätzlich belasten dürften, erscheint es mir nicht mit Vorrechten für die Sozialkassen und die Justizhaus- unproblematisch zu sein, wie in der Begründung des Ge- halte der Länder nicht mit Einsparungen zulasten der setzentwurfs einfach davon auszugehen, dass, wenn der Schwächsten, namentlich der mittellosen Verbraucher. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7081

(A) Nach all diesen insolvenzrechtlichen Irrungen und für einen derart schwer wiegenden Eingriff in das Eigen- (C) Wirrungen ist es nun das Ziel der Bundesregierung, das tum existiert. Insolvenzverfahren zu vereinfachen. Unter anderem sollen künftig öffentliche Bekanntmachungen in Insolvenzsa- Alles in allem können wir bereits heute feststellen, chen nur noch über das Internet vorgenommen werden. dass sich die beabsichtigten Änderungen im Rahmen Zur Begründung führen Sie an, der Verbreitungsgrad des halten und die gesetzgeberische Grundentscheidung im Internet sei stark gestiegen. Es bestünden keine techni- Zusammenhang mit der am 1. Januar 1999 in Kraft schen Hindernisse mehr, von Printveröffentlichungen getretenen Insolvenzordnung achten. Offensichtlich hat Abschied zu nehmen und als Regelfall nur noch eine die Bundesregierung bei diesem Gesetzentwurf auf die elektronische Bekanntmachung vorzusehen. Dies ist Praxis gehört und deren Anregungen in den Gesetzent- grundsätzlich richtig. Es wird aber die Frage zu diskutieren wurf eingearbeitet. Darin hebt sich dieser Gesetzentwurf sein, ob nicht für eine Übergangszeit beide Veröffent- wohltuend von den erwähnten Entwürfen zur Insolvenz- lichungsformen gleichberechtigt nebeneinander stehen ordnung ab, bei denen die Bundesregierung den Einflüs- sollten. terungen des Fiskus nachgegeben und die berechtigten Anliegen der Praxis ignoriert hatte. Ferner planen Sie, so genannte geschlossene Listen zu verbieten, in die Bewerbungen als Insolvenzverwalter nur Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Der vorliegende aufgenommen werden, wenn eine Person ausscheidet. Ge- Entwurf ist tatsächlich geeignet, dem Regel-lnsolvenz- gen die Verwendung geschlossener Listen gab es schon verfahren einige begrüßenswerte Vereinfachungen zu lange verfassungsrechtliche Bedenken. Eine gesetzliche bescheren. Sie werden aber verstehen, dass ich mich mit Klarstellung dahin, dass der Insolvenzverwalter aus dem meiner knappen Redezeit zunächst solchen Aspekten des Kreis aller zur Übernahme bereiten Personen ausgewählt Entwurfs widmen werde, die mir nicht gefallen, und das werden muss, ist daher zu begrüßen. Lob strategisch an das Ende stelle. Was die Frage des Rechtsschutzes übergangener Be- werber anbetrifft, werden wir uns auch mit der Entschei- Ausweislich der Entwurfsbegründung erheben die dung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 2006 Entwurfsverfasser für sich den sehr umfassenden An- zur Insolvenzverwalterbestellung auseinander setzen spruch, die Erfahrungen aus der Reform des Jahres 1999 müssen. Karlsruhe hat festgestellt, dass es mit dem einer Evaluierung unterzogen und die daraus zu behe- grundgesetzlichen Gebot des effektiven Rechtsschutzes benden Mängel erkannt und beseitigt zu haben. Dem ist vereinbar sei, eine Anfechtung der Bestellung zum zu widersprechen. Der Entwurf leidet vor allem an sol- Insolvenzverwalter durch Mitbewerber zu versagen. Ich chen Mängeln, die er gerade nicht beseitigt. denke, die Entscheidung ist richtig. Das Verfassungsge- (B) Kaum ein Wort wird im Entwurf zum Insolvenzar- (D) richt hat die Interessen der Gläubiger und der Schuldner beitsrecht verloren, insbesondere keines zu der Notwen- an einem zügigen Ablauf des Insolvenzverfahrens höher digkeit einer Neufassung des § 113 Insolvenzordnung. bewertet als die Interessen des Mitbewerbers an beruf- Dabei hat die befasste Bund/Länder-Gruppe diesem licher Betätigung. Wo jedoch keine Anfechtung möglich Thema in ihrem Abschlussbericht immerhin neun dichte ist, kommt der Entscheidung des Gerichts bei der Aus- Seiten gewidmet, in denen sie ihrer ablehnenden Stel- wahl des vorläufigen Insolvenzverwalters umso größere lungnahme zumindest Erwägungen des Für und Wider Bedeutung zu. Hier ist von den Gerichten eine besondere zur Seite stellt. Im vorliegenden Entwurf vermisse ich Verantwortung zu fordern. Da der Gesetzentwurf davon diese Auseinandersetzung. absieht, das Auswahlverfahren Einschränkungen zu unterwerfen, die über das Verbot der Verwendung Vor allem die Gewerkschaften haben in der Vergan- geschlossener Listen hinausgehen, sind die Fachgerichte genheit wiederholt und deutlich auf einen Novellie- umso mehr aufgefordert, unter Beteiligung aller Ver- rungsbedarf zu § 113 Insolvenzordnung hingewiesen. Zu bände für die Vorauswahlliste Kriterien zu entwickeln. Recht; denn die durch § 113 Insolvenzordnung ermög- lichte dreimonatige Fristprivilegierung für die Kündi- Des Weiteren sieht die Bundesregierung vor, dass gung von Dienstverhältnissen – unterhalb der individual- Sanierungen unter engen Voraussetzungen im eröffneten vertraglichen, tarifvertraglichen und der gesetzlichen Verfahren bereits vor dem Gerichtstermin zugelassen wer- Grenzen – ist schlicht unerträglich. den, um außergewöhnlich günstige Bewertungschancen bereits in diesem frühen Verfahrensstadium nutzen zu § 113 enthält ein Menschenbild, das abzulehnen ist, können. Für den Insolvenzverwalter wird ferner die das der vorliegende Entwurf jedoch bestätigt. Die Be- Möglichkeit eröffnet, einzelne Gegenstände aus der schäftigten eines Unternehmens sind gerade kein Hin- Masse freizugeben. Nach summarischer Prüfung sind dernis zur Sanierung und auch keine zu vermeidende Be- diese Änderungen als moderat zu bewerten. Ob es richtig lastung der Insolvenzmasse. Die Beschäftigten sind ist, davon abzusehen, dem vorläufigen Insolvenzver- vielmehr die ersten und wichtigsten Gläubiger dieser walter im Eröffnungsverfahren die Möglichkeit zur Masse; denn sie haben dem Unternehmen seine Masse Gesamtveräußerung des Betriebes zu geben, werden die beschert, indem sie diesem Unternehmen an jedem Ar- weiteren Beratungen zeigen. Als Eigentumspartei legt beitstag ihre Kraft, ihren Einsatz, ihre Zeit und einen die FDP jedenfalls Wert darauf, dass dem Schuldner sein großen Teil ihrer Freiheit geopfert haben. Es sind daher Unternehmen nicht bereits zu einem Zeitpunkt entzogen ihre Beschäftigung und ihre unverkürzten Ansprüche, wird, in dem möglicherweise noch gar kein Insolvenz- die absoluten Vorzug verdienen und vor jeder Beein- grund vorliegt und zu dem folglich keine Berechtigung trächtigung zu schützen sind. Die Macher des § 113 In- 7082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) solvenzordnung dagegen überlassen die Beschäftigten auch für die Diskussion zum vorliegenden Gesetzesent- (C) zum baldmöglichsten Zeitpunkt sich selbst und schützen wurf nicht abhanden kommt. stattdessen vorwiegend die Kreditgeber und die Ge- schäftspartner des Unternehmens. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dem Des Weiteren sieht der Entwurf – trotz der bejahenden vorliegenden Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur und eindeutigen Empfehlung der Bund/Länder-Gruppe Vereinfachung des Insolvenzverfahrens stimmt die Frak- Insolvenzrecht – immer noch keine gerichtliche Über- tion des Bündnisses 90/Die Grünen grundsätzlich zu. prüfung der Feststellung der Masseunzulänglichkeit Das geplante Gesetz kann einige der in der Praxis ent- durch den Insolvenzverwalter vor. Im Entwurf wird dies standene Defizite beheben. in erster Linie mit fehlenden Dokumentationen zum Be- darf eines solchen Rechtsmittels begründet. Durch die beabsichtigten Änderungen soll klargestellt werden, dass der Insolvenzverwalter aus dem Kreis aller Ich erinnere zum Verständnis des Problems an die zur Übernahme bereiten Personen ausgewählt werden geltende Rechtslage, insbesondere daran, dass das Mittel muss. Das ist besonders erfreulich. So wird die gegen- der Erinnerung gemäß § 766 Zivilprozessordnung für wärtig übliche Praxis beendet, dass manche Insolvenz- den angesprochenen Fall gerade keine Handhabe bietet. gerichte einen Insolvenzverwalter oder eine Insolvenz- Demnach ist eine judikative Beurteilung der Rechtmä- verwalterin nur auswählen, wenn er oder sie auf einer ßigkeit der Masseunzulänglichkeitsfeststellung allenfalls Liste des Gerichts steht. Die Einführung solcher Listen inzident möglich, und zwar im Rahmen der prozessge- ist gesetzlich nicht vorgesehen und rechtsstaatlich be- richtlichen Beurteilung einer Haftung des Insolvenzver- denklich. Für außenstehende Interessenten besteht so- walters. Dessen Haftung wollten Sie als Gläubiger viel- lange keine Möglichkeit, Zugang zu dieser Liste zu fin- leicht gar nicht breit klären lassen. Dennoch ist diese den, wie nicht ein Insolvenzverwalter von der Liste Erörterung derzeit der einzige Weg, um zur Beurteilung verstirbt und Platz für einen Nachrücker macht. Diese Ihres eigentlichen Problems zu gelangen. Es ist dies Praxis behindert aber die verfassungsrechtlich ge- auch ein ungerechter Weg, da er jeden, der nur mit der schützte freie Berufswahl. Die geplante Regelung in der Masseunzulänglichkeitsprüfung unzufrieden ist, zwingt, Insolvenzordnung wird diese Praxis hoffentlich beenden. den Insolvenzverwalter in die Haftung zu nehmen, ob- wohl er ansonsten dazu weder Antrieb noch Veranlas- Positiv ist auch, dass in Zukunft die öffentlichen Be- sung hätte. kanntmachungen in Insolvenzsachen im Internet vorge- nommen werden sollen. Wir unterstützen diese Moderni- Die Entwurfsersteller stellen fest, zur Häufigkeit sol- sierung. Die Veröffentlichungskosten können durch die cher Umgehungsprozesse lägen leider ebenfalls keine Internetöffnung gesenkt werden. Das entlastet die Insol- (B) Dokumentationen vor. Man kann die Entwurfsersteller venzmasse und damit die Insolvenzgläubiger und in (D) beruhigen. Dokumentationen sind gar nicht erforderlich. Stundungsfällen auch die Justizhaushalte. Allerdings be- Denn selbst wenn sich bis heute kein Bedarf nach einem deutet es auch Nachteile, wenn die Veröffentlichung im gesonderten Rechtsmittel gegen Masseunzulänglich- Internet zum Regelfall wird. Gegenwärtig werden die öf- keitsanzeigen herausgestellt hätte oder sich dieser Be- fentlichen Bekanntmachungen in Insolvenzsachen im darf niemals dokumentieren ließe, gilt dennoch der Jus- Bundesanzeiger, aber auch in Tageszeitungen veröffent- tizgewähranspruch, ein Prinzip jenseits von Angebot licht. Für die Gläubiger kann die Internetveröffentli- und Nachfrage. Zu allen Akten der öffentlichen Gewalt chung zu einem Nachteil führen, weil sie nicht mehr ist in einem Rechtsstaat zwingend judikative Kontrolle beim Lesen der Zeitung über Insolvenznachrichten stol- bereitzustellen. pern. Vor allem müssen die Tageszeitungen Umsatzein- bußen hinnehmen, wenn die Insolvenzbekanntmachun- Auch das Lob zum Schluss betrifft eine Auslassung gen nur noch im Internet veröffentlicht werden. Wir im Entwurf, jedoch in diesem Fall eine sehr sinnvolle sollten deshalb eine mehrjährige Übergangszeit schaf- Auslassung, für die sich auch die Linke stark gemacht fen, in der Insolvenzbekanntmachungen sowohl im In- hat. Was in diesem Entwurf dankbarerweise nicht erneut ternet als auch in den Printmedien möglich sind. Es auftaucht, ist der Versuch einer Selbstprivilegierung der reicht nicht aus, es den Ländern zu überlassen, ob sie öffentlichen Hand im Insolvenzverfahren. Diesen Ver- weitere Veröffentlichungen zulassen wollen. Mit dem such gab es im Mai. Als die Mehrheit dieses Hauses EHUG haben wir eine solche Übergangssituation gesetz- während der 35. Sitzung den Regierungsentwurf eines lich geregelt. Gesetzes zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung kri- Wir freuen uns vor allem, dass die Bundesregierung tiklos durch die erste Beratung winkte, hatte sie gar nicht gegenwärtig das Insolvenzrecht in mehreren Bereichen bemerkt, dass sich hinter dem harmlosen Namen des reformiert. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Anpas- Entwurfs auch eine teilweise Wiedereinführung des Fis- sung des Rechts der Insolvenzanfechtung werden Rege- kusprivilegs verbarg. Es folgte das bisher einzigartige lungen geschaffen, um die Alters- und Hinterbliebenen- Beispiel für einen echten Diskurs im Rechtsauschuss, in rente vor Vollstreckung zu schützen. Zugleich hat das dem es den Vertretern der Opposition gemeinsam mit Bundesjustizministerium in einem Eckpunktepapier auf- den Sachverständigen gelang, die Vertreter der Koalition gezeigt, wie das Verfahren der Verbraucherinsolvenz so und die Entwurfsersteller des Ministeriums von diesem gestaltet werden soll, dass verschuldeten Privatpersonen Vorhaben vorläufig abzubringen. Wir hoffen, dass die in absehbarer Zeit ein wirtschaftlicher Neuanfang mög- bessere Einsicht bis zur Beschlussfassung anhält und lich ist, ohne dass dabei – wie bislang – für die Justiz- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7083

(A) haushalte unnötige Kosten entstehen. Wir werden in der gruppe kommen wird. Gegebenenfalls wird man dann (C) weiteren Diskussion darauf achten, dass dabei der Erfolg überlegen können, ob diese Qualitätskriterien auch gesetz- der Verbraucherinsolvenz nicht wieder aufgegeben wird. lich verankert werden sollen. Die ständige Anpassung des Insolvenzrechts an die In dem Gesetzentwurf ist auch eine Klarstellung ent- Bedürfnisse der Praxis ist wichtig. Die bundesdeutsche halten, die zumindest bei einigen Betroffenen zu einer Marktwirtschaft bedeutet für alle Marktteilnehmenden gewissen Verunsicherung geführt hat. Ich meine die An- – Verbraucher und Verbraucherinnen ebenso wie für Un- ordnung des Insolvenzgerichts, dass Aussonderungsan- ternehmer und Unternehmerinnen – das ständige Risiko, sprüche im Insolvenzeröffnungsverfahren nicht durchge- sich zu verschulden. Mit diesem Risiko der Insolvenz setzt werden können. Dies ist wohl aber nach Auffassung muss jeder leben. Wir brauchen aber Regelungen, die im zahlreicher Gerichte und der überwiegenden Auffassung Falle einer Insolvenz für alle Beteiligten eine akzeptable der Literatur bereits geltendes (Richter-)Recht. Mir ist Situation schaffen. Den Verschuldeten muss der wirt- bewusst, dass dies für einige Berechtigte mit gewissen schaftliche Neustart möglich sein, sie müssen sich in ab- Härten verbunden sein kann, doch sind diese im Interesse sehbarer Zeit von den Schulden lösen können. Die Gläu- der Sanierung erhaltenswerter Unternehmen hinzunehmen. biger müssen darauf vertrauen können, dass sie im Fall der Insolvenz nicht gegenüber anderen Gläubigern be- Von den Änderungen, auf die die Praxis längst wartet, nachteiligt werden. Zudem dürfen sie erwarten, dass die ist die öffentliche Bekanntmachung über das Internet zu Verschuldeten sich anstrengen, um die Schulden abzube- nennen. Nachdem der Verbreitungsgrad des Internets in zahlen. Wir wollen uns deshalb dafür einsetzen, dass das den letzten Jahren weiter stark angestiegen ist und nach- Insolvenzrecht jeweils so gestaltet wird, dass es diese dem die technischen Voraussetzungen geschaffen wurden, unterschiedlichen Bedürfnisse der Praxis befriedigen auf einer bundeseinheitlichen Internetplattform das Insol- kann. venzgeschehen lückenlos zu dokumentieren, bestehen keine Hindernisgründe mehr, von Printveröffentlichungen in Insolvenzsachen Abschied zu nehmen und als Regelfall Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der nur noch eine elektronische Bekanntmachungsform vor- Bundesministerin für Justiz: Der Gesetzentwurf verfolgt zusehen. Insofern darf ich an unsere österreichischen das Ziel, die von der Bund/Länder-Arbeitsgruppe „Insol- Nachbarn erinnern, die bereits seit mehreren Jahren ledig- venzrecht“, den angehörten Kreisen und der insolvenz- lich noch eine Veröffentlichung über ihre internetgestützte rechtlichen Fachliteratur aufgezeigten Defizite im Regel- Ediktsdatei vorsehen. Wie mir berichtet wurde, ist diese insolvenzverfahren zu beheben. Ein Gutteil der in dem Art der Veröffentlichung deutlich effektiver als jede Ver- Gesetzentwurf enthaltenen Änderungsvorschläge sind öffentlichung in einer Tageszeitung. (B) lediglich rechtstechnischer Natur und dürften – so haben (D) auch die eingegangenen Stellungnahmen gezeigt – nicht Lassen Sie mich abschließend zu meinen Ausführungen weiter umstritten sein. Lassen Sie mich von den etwas noch auf einen Vorschlag eingehen, der für selbstständig bedeutsameren Änderungen beispielhaft einige nennen. tätige Schuldner von erheblicher Bedeutung sein, kann. Ich glaube, wir sind alle einer Auffassung: Es ist sinn- Aus meiner Sicht ist hier an erster Stelle die Auswahl voll, wenn der Schuldner erwerbstätig ist, und es kann des Insolvenzverwalters zu nennen. Insofern beschränkt kein Ziel des Insolvenzverfahrens sein, den Schuldner sich der Gesetzentwurf zunächst auf eine minimale Rege- auf mehrere Jahre als Empfänger von ALG II abzustem- lung, als er lediglich in Übereinstimmung mit der Recht- peln. Deshalb sieht in Anlehnung an das insolvenzrecht- sprechung des Bundesverfassungsgerichts klarstellt, dass liche Institut der Freigabe der Gesetzentwurf vor, dass die Verwendung geschlossener Verwalterlisten durch die der Insolvenzverwalter erklären kann, Vermögen aus einer Insolvenzgerichte unzulässig ist. Insofern ist eine Ver- selbstständigen Tätigkeit des Schuldners gehöre nicht fahrensgestaltung bei der Auswahl vorzusehen, die zur Insolvenzmasse. Dies hätte sowohl für die Gläubiger einerseits dem Richter eine zügige Eignungsprüfung für als auch für den Schuldner einen erheblichen Vorteil. das konkrete Verfahren ermöglicht, andererseits ihm Der Schuldner könnte eine selbstständige Tätigkeit wei- jedoch auch hinreichende Informationen für eine pflicht- ter fortführen oder sich durch die Ausübung einer solchen gemäße Ausübung des Auswahlermessens verschafft. Tätigkeit eine neue wirtschaftliche Existenz schaffen. Insofern hat das Bundesverfassungsgericht die Forde- rung erhoben, die Gerichte dürften sich nicht auf das Macht der Verwalter allerdings von dieser Möglichkeit Erstellen einer Liste mit Namen und Anschriften interes- keinen Gebrauch und duldet er wissentlich die Fortfüh- sierter Bewerber beschränken, sondern hätten die für rung der gewerblichen Tätigkeit durch den Insolvenz- eine sachgerechte Ermessensausübung notwendigen Da- schuldner, dann würden nach diesem Konzept die durch ten zu erheben, zu verifizieren und zu strukturieren. den Neuerwerb begründeten Verbindlichkeiten zu Masse- verbindlichkeiten, da insofern eine dem Insolvenzver- Ich halte es für sinnvoll, dass wir uns zunächst mit die- walter zurechenbare Handlung vorliegt. Der Insolvenz- sem zurückhaltenden Regelungskonzept begnügen und verwalter hat somit künftig abzuwägen, was für die die weitere Entwicklung beobachten. Ich begrüße es inso- Masse vorteilhafter ist: die Einbeziehung des Neuerwerbs fern nachdrücklich, dass die Insolvenzverwalter initiativ in die Insolvenzmasse und damit die Inkaufnahme der geworden sind und selbst Qualitätskriterien für die Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den Eignung von Insolvenzverwaltern festlegen wollen. Wir Schuldner oder die Freigabe und damit der Verzicht auf sollten deshalb zunächst abwarten, zu welchem Ergebnis den Neuerwerb des Schuldners. Nur zur Klarstellung sei die von den Insolvenzverwaltern eingesetzte Arbeits- noch darauf hingewiesen, dass auch im letztgenannten 7084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Fall die einfachen Insolvenzgläubiger nicht leer ausgehen Berlin geradelt und habe dabei auch eine weite Strecke (C) würden, sondern der Schuldner die Masse so zu stellen auf dem Elberadweg zurückgelegt. hat, als wäre er ein angemessenes Dienstverhältnis einge- Die stärkere Nutzung des Fahrrads ist gesundheitsför- gangen. Nehmen wir an, der Schuldner verdient als selbst- dernd, weil die Fitness verbessert und Übergewicht vor- ständiger Handelsvertreter im Durchschnitt 2 000 Euro gebeugt wird. Gleichzeitig hat Rad fahren positiven Ein- und ein abhängig beschäftigter Handelsvertreter würde fluss auf Blutdruck, Muskulatur und Atemwege. Es ebenfalls 2 000 Euro erhalten, so hätte unser Schuldner wirkt präventiv gegen Rückenleiden und Herz-Kreis- 1 115 Euro an die Insolvenzmasse abzuführen. lauf-Erkrankungen. Diese Effekte sind immer wieder Die Änderungsvorschläge des Gesetzentwurfs werden durch Studien belegt worden, zuletzt durch die Studie auch nach Einschätzung der Landesjustizverwaltungen zu „Radfahren und Gesundheit“ der Sporthochschule Köln. einer deutlichen Entlastung der Insolvenzgerichte beitra- Eine Fahrradreise kann Anstoß für eine verstärkte Nut- gen. Ich hoffe deshalb im Interesse der Insolvenzpraxis, zung des Fahrrads im Alltag, zum Beispiel für den Weg aber auch im Interesse der Schuldner, dass der Gesetzent- zum Arbeitsort, sein. Es ist also festzuhalten, dass wurf möglichst bald verabschiedet werden kann. Radreisen die Gesundheit der Menschen nachhaltig stär- ken können. Es ist der zunehmende Stellenwert, den Naturerlebnis Anlage 13 sowie sportliche und gesundheitliche Aspekte beim Rei- sen spielen, der zum Wachstum des Fahrradtourismus Zu Protokoll gegebene Reden beigetragen hat. Doch die positiven Nebeneffekte sind auch außerhalb der gesundheitlichen Aspekte beträcht- zur Beratung des Antrags: Den Fahrradtouris- lich: mus in Deutschland umfassend fördern (Tages- ordnungspunkt 25) So reisen Fahrradtouristen besonders gern in Deutsch- land. Mehr als 50 Prozent entscheiden sich für das Inland als Urlaubsort. Schließlich bietet Deutschland ein gut aus- Jürgen Klimke (CDU/CSU): Der Fahrradtourismus gebautes Radwegenetz, fahrradfreundliche Unterkünfte hat sich zu einer touristischen Wachstumsbranche entwi- und eine Vielzahl von noch unentdeckten Sehenswürdig- ckelt, die erhebliche positive Auswirkungen sowohl auf keiten und Naturlandschaften. die Entwicklung des Deutschlandtourismus als auch auf die wirtschaftliche Entwicklung vieler strukturschwacher Fahrradtouristen konzentrieren sich gerade nicht auf Regionen hat. Die ADFC-Radreiseanalyse 2006 ergibt, touristische Hotspots. Es zählt vielmehr ein intaktes Landschaftsbild mit Sehenswürdigkeiten am Wege. (B) dass im Jahr 2005 45,4 Prozent der Deutschen das Fahrrad (D) im Urlaub nutzten – 2004 waren es nur 40,7 Prozent –, Während der Bustourist in Würzburg anhält und dann 14,3 Prozent nutzten es häufig oder sehr häufig. Zwei Mil- wieder in Rothenburg ob der Tauber, wird der Radrei- lionen Deutsche planen in den nächsten drei Jahren „ziem- sende auch die Sehenswürdigkeiten im Main- und Tau- lich sicher“ eine Radreise. Über 4 200 fahrradfreundliche bertal anschauen. Ländliche Regionen ohne touristische Beherbergungsbetriebe – Bett & Bike – haben sich auf Highlights, die es sonst schwer haben, Touristen anzu- Radreisende spezialisiert. Die Angebote der Deutschen sprechen, können sich zu erstrangigen Radreisezielen Zentrale für Tourismus zum Fahrradtourismus verzeich- entwickeln. Wenn Sie sich die Bedeutung des Radtouris- nen monatlich 70 000 Zugriffe, der Katalog „Deutschland mus in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder per Rad entdecken“ wird in 500 000 Exemplaren gedruckt Niedersachsen anschauen, wird deutlich, dass Fahrrad- und in 26 Ländern vertrieben. Allein diese Fakten zeigen tourismus gerade für strukturschwache Gebiete erhebli- den Stellenwert, den der Fahrradtourismus in Deutschland che wirtschaftliche Potenziale bietet. genießt. Fahrradtouristen kaufen qualitativ hochwertigere Fahr- Fahrradtourismus ermöglicht ein intensives Natur- und räder und umfangreiches Zubehör oft aus deutscher Pro- Kulturerlebnis in Verbindung mit sportlicher Betätigung. duktion. Sie tragen damit ganz entscheidend zum Um- Dabei kann man die Fortbewegung auf dem Fahrrad mit satzwachstum der deutschen Fahrradhersteller bei. dem Aufenthalt im Luxushotel ebenso kombinieren wie Fahrradtouristen schonen die Umwelt: Ein Urlaub auf mit der Unterkunft auf Zeltplätzen oder in Jugendherber- dem Rad hilft aktiv bei der Senkung der Kohlendioxid- gen. Das macht Fahrradtourismus für viele Menschen in emissionen, besonders wenn auch für An- und Abreise Deutschland so interessant. umweltfreundliche Verkehrsmittel genutzt werden. Zu- dem benötigen Fahrradfahrer nur wenig Verkehrsraum Ein Familienurlaub auf dem Fahrrad stellt sicher eine und beugen somit Staus vor. Gleichzeitig entspannt der kostengünstigsten Möglichkeiten dar, auf einer Rund- Fahrradbenutzung am Urlaubsort die angespannte Park- reise die Schönheiten einer Region kennen zu lernen. platzsituation im Umfeld touristischer Ziele. Schließlich Gleichzeitig bietet eine Radreise auch dem gestressten verursachen Fahrräder auch fast keine Lärmemissionen. Manager oder leitenden Angestellten eine Gelegenheit, den Kopf freizubekommen und der Bewegungsarmut des Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich, Berufs abzuhelfen. Ich selbst bin ein leidenschaftlicher dass sich der Fahrradtourismus in Deutschland so positiv Radfahrer, sowohl in meiner unmittelbaren Umgebung entwickelt. Allerdings sollte dies für die Politik kein An- als auch auf überregionalen Radwegen: So bin ich in die- lass sein, diesem Trend tatenlos zuzuschauen; denn sem Jahr bereits zum zweiten Mal von Hamburg nach Fahrradtourismus ist ein Tourismussektor, der mehr als Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7085

(A) andere der Aufmerksamkeit der Politik bedarf. Diesen Ein anderer Punkt betrifft die Deutsche Bahn: Ob- (C) Bedarf habe ich bereits in der vergangenen Legislaturpe- wohl Fahrradtourismus immer beliebter wird, geht die riode erkannt und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat Fahrradmitnahme im Fernverkehr der Deutschen Bahn bereits Ende 2003 einen Antrag mit dem Titel „Fahrrad- AG eher zurück. Das hat aus meiner Sicht damit zu tun, tourismus umfassend fördern“ eingebracht. Der vorlie- dass eine Fahrradmitnahme in ICE-Zügen immer noch gende Antrag ist eine Weiterentwicklung dieser Initia- nicht möglich ist. Gleichzeitig werden auf immer mehr tive, die wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner Strecken ICEs eingesetzt: Wenn wir uns in Zukunft SPD vorangebracht haben. – zum Beispiel – über eine neue ICE-Strecke Berlin–Ro- stock freuen können, dann hat das für mich einen bitte- Fahrradtouristen benötigen ein Netz gut ausgebauter ren Beigeschmack. Denn im selben Moment schränkt und ausgeschilderter Radwege. Um weiterhin auch aus- sich das Angebot an Fahrradstellplätzen auf der Strecke ländische Fahrradreisende nach Deutschland zu holen, ein. Die Folge davon ist, dass Fahrradtouristen in den brauchen wir weitere attraktive Radwege und müssen die Fahrzeiten unflexibler werden oder sogar Umwege in vorhandenen instand setzen. Die Radwege sollten den Kauf nehmen müssen. Bedürfnissen der Radfahrer entsprechen, das heißt, sie sollten über einen ausreichend ebenen Fahrbahnbelag, Sicher, es gibt bauartbedingte Hindernisse für eine eine ausreichende Breite und eine gute Beschilderung Fahrradmitnahme in der jetzigen ICE-Generation. Der verfügen. Doch genauso wichtig ist, dass die Radwege Radtransport erfordert zudem eine besonders ausgeklü- durch eine attraktive Umgebung führen: Wünschenswert gelte Planung, damit sich die Aufenthaltsdauer an den sind mehr Einzelradwege, die nicht direkt neben Fern- Bahnhöfen nicht verlängert. Doch diese Hindernisse straßen liegen, sondern dem Radfahrer ein ungetrübtes sollten sich in zukünftigen ICE-Generationen beseitigen Naturerlebnis bieten. Mehr als alles andere benötigen wir lassen. Ich vertrete außerdem die Auffassung, dass eine mehr Radwege an Flussläufen und Wasserwegen: Wenn Fahrradmitnahme sich durchaus auch für die Bahn renta- man sich die Liste der beliebtesten Radwege in Deutsch- bel gestalten lässt. Der Freizeitradler, der am Zielort ge- land anschaut, dann findet man dort in den vergangenen legentlich Rad fahren möchte, ist mit einem Leihrad vor Jahren den Donauradweg, den Ostseeradweg und vor al- Ort sicher besser bedient. Der Fahrradtourist, der für lem den Elberadweg ganz oben. Wasserwege an Fluss- seine Radtouren ein teures Markenfahrrad gekauft hat, läufen sind außerordentlich beliebt: wird darauf im Urlaub ebenso wenig verzichten wollen Das Reisen am Flussufer bietet immer wieder reiz- wie auf die direkte Anreise im ICE. Diesen Personen- volle Ausblicke und bietet alle Annehmlichkeiten, die kreis, der für die Fahrradmitnahme auch etwas mehr zu wir mit Reisen am Wasser verbinden. Radwege am Was- zahlen bereit ist, sollte die Bahn mit der Fahrradmit- ser sind weitgehend eben und damit auch für Familien nahme im ICE durchaus ansprechen. Gleichzeitig ist je- (B) (D) oder ältere Radfahrer geeignet. Viele historische Orte doch darauf zu achten, dass es in anderen Zügen weiter- und Sehenswürdigkeiten konzentrieren sich entlang von hin ein ausreichendes, kostengünstiges Angebot zur Flussläufen, so dass eine Radreise am Flussufer nicht Fahrradmitnahme gibt. nur landschaftliche, sondern auch kulturelle Höhepunkte Wir fordern deshalb Gespräche der Bundesregierung zu bieten vermag. mit der Deutschen Bahn AG, mit dem Ziel, eine Steige- Diese Argumente überzeugen offenbar immer mehr rung der Fahrradmitnahme zu erreichen. Ich meine, dass Radtouristen: So wurden 2005 auf Deutschlands belieb- die ökologischen Verkehrsträger Bahn und Fahrrad ko- testem Radweg, dem Elberadweg, eine Anzahl von etwa operieren sollten, weil gerade für umweltbewusste Rad- 140 000 Radlern geschätzt, die eine mehrtägige Tour auf touristen eine Anreise per Bahn dazugehört. Gute An- dem Elberadweg unternommen haben. Noch einmal so sätze – wie der Prospekt „Bahn und Bike“ oder die er- viele Radfahrer unternahmen eine Tagestour auf diesem weiterten Angebote im Nachtzugbereich – können nicht Radweg. darüber hinwegtäuschen, dass es an anderen Stellen, durchaus auch im Nahverkehr, noch Nachholbedarf gibt. Deshalb ist es mir ein ganz besonderes Anliegen – wie wir es auch in unserem Antrag festgeschrieben ha- Ein weiteres Bedürfnis der Fahrradfahrer betrifft den ben –, gemeinsam mit den Ländern auf den Aus- und Sicherheitsaspekt: Dabei ist zunächst einmal der best- Neubau von Radwegen an Wasserwegen hinzuwirken. mögliche Schutz vor Fahrraddiebstählen zu nennen. Hier haben sich die Fahrradstationen an einigen deutschen Generell ist es aus meiner Sicht sinnvoll, dass beim Bahnhöfen als probates Mittel erwiesen. Die Einrichtung Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick- weiterer Fahrradstationen ist jedoch sinnvoll und not- lung eine länderübergreifende Koordinierungsstelle ein- wendig. Sinnvoll zur Abschreckung vor Diebstählen und gerichtet wird, die die Weiterentwicklung und Verein- zur besseren Wiederauffindbarkeit gestohlener Räder ist heitlichung des Radverkehrswegenetzes vorantreiben auch die weitere Codierung von Fahrrädern. Diese Maß- sowie sich um Abstimmung zwischen Ministerium und nahme fordern wir von der Bundesregierung in Zusam- den Ländern und Kommunen bemühen soll. Das Bei- menarbeit mit den Ländern. spiel maritimer Koordinator hat aus meiner Sicht bewie- sen, wie wichtig eine konkrete Ansprechstelle für ein ab- Noch wichtiger ist jedoch der Aspekt der Sicherheit gegrenztes Thema sein kann. Ich würde mich deshalb von Radfahrern im Verkehrsgeschehen. Hier sehe ich sehr freuen, wenn die von uns im Antrag geforderte Prü- vor allem das Problem der schlechten Sichtbarkeit von fung ergibt, dass eine solche Koordinierungsstelle einge- Fahrrädern und Radfahrern aufgrund der schmalen Sil- richtet werden kann. houette dieser Verkehrsteilnehmer im Vergleich zu 7086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Kraftfahrzeugen. Hier sollte sich die Verbesserung der steller Deutschlands. Autos wurden bei Opel erst nach (C) Sichtbarkeit nicht nur auf das Fahrrad reduzieren, son- dem Tode des Firmengründers gebaut. dern es sollten auch Überlegungen angestellt werden, in- wieweit Radfahrer in das Sicherheitskonzept integriert Dass Radfahren etwas Schönes und Angenehmes ist, werden können. Dieses könnte zum Beispiel durch das das muss ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Tragen von Kleidung mit reflektierenden Elementen ge- nicht näher erläutern. Hier wird jede und jeder seine ei- schehen. genen Erfahrungen gesammelt haben. Doch wie sieht es nun mit dem Nutzen des Radfahrens, und insbesondere Deutschland hat sich als radtouristische Destination der Fahrradreisen, aus? Ich greife vier Aspekte heraus! etabliert, weil hier hervorragende Bedingungen für Fahr- radtourismus bestehen, die weiter ausgebaut werden. Erstens. Rad fahren ist gesund. Es verbessert die Fit- Doch auch hier gilt das Motto „Tue Gutes und rede da- ness, hilft gegen Bewegungsmangel und Übergewicht, rüber!“ Denn während der Elberadweg in Deutschland stärkt die Muskulatur, die Gelenke und die Atemwege. schon einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hat, sind Es trägt zudem zur Prävention von Herz-Kreislauf-Er- unsere attraktiven Radwege im europäischen Ausland krankungen und Rückenleiden bei. eher Geheimtipps. Ich halte es für wichtig, dass gerade Zweitens. Rad fahren schont Klima, Umwelt und im Auslandsmarketing der Deutschen Zentrale für Tou- Ressourcen. Dies gilt beim Fahrradtourismus besonders rismus, DZT, der Aspekt Fahrradtourismus eine größere dann, wenn auch Hin- und Rückreise mit umweltfreund- Rolle spielt. Zwar hat sich hier der von der DZT und lichen Verkehrsmitteln erfolgen. Weitere Vorteile sind dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club, ADFC, die kaum vorhandenen Lärmemissionen sowie der von gemeinsam erarbeitete zweisprachige Katalog „Deutsch- Fahrrädern beanspruchte geringe Verkehrsraum, der zur land per Rad entdecken“ als erfolgreiches Marketingin- Vermeidung von Staus und zur Entspannung der Park- strument erwiesen; es besteht jedoch noch Verbesse- platzsituation beiträgt. Auch Autofahrer profitieren so- rungsbedarf. Auch hier möchte ich gerade auf die großen mit vom wachsenden Radverkehr. Radrouten an Elbe, Weser, Donau und Ostsee verweisen, die sich für deutsche Besucher als besonders attraktiv er- Drittens. Der Fahrradtourismus ist ein wichtiger wirt- wiesen haben und die auch ein hohes Potenzial für aus- schaftlicher Faktor. Er stärkt die heimische, besonders ländische Besucher bieten dürften. die mittelständische Wirtschaft und schafft Arbeits- plätze. Im Jahr 2005 wurden in Deutschland fast 5 Mil- Ich freue mich, dass es mir gemeinsam mit meiner lionen Fahrräder verkauft. Der Umsatz des Fahrradhan- Kollegin Hiller-Ohm von der SPD gelungen ist, einen dels lag bei über 4 Milliarden Euro. Im Fahrradhandel Antrag zu entwickeln, der nicht nur das Thema Fahrrad- sind mehr als 50 000 Menschen in über 6 800 Betrieben (B) (D) tourismus stärker in die Öffentlichkeit bringt, sondern beschäftigt. Im Fahrradtourismus betrug der jährliche eine Reihe ganz konkreter und durchweg sinnvoller For- Umsatz rund 5 Milliarden Euro. Darüber hinaus findet derungen aufstellt. Diese Punkte reichen von einer länder- Fahrradtourismus vorwiegend in ländlichen Gebieten übergreifenden Koordinierungsstelle über den weiteren statt, die dadurch eine Chance auf wirtschaftlichen Auf- Radwegebau – auch und gerade an Flüssen und Wasser- schwung erhalten. In einigen Flächenländem entsteht wegen – bis zur Verbesserung der Fahrradmitnahme durch fast ein Drittel des tourismusbedingten Umsatzes durch die Deutsche Bahn AG. Konkrete Verbesserungen beim Radfahrer. Vor allem für Hotelbetreiber und Gastwirte Marketing sind ebenso in unserem Antrag enthalten wie erschließt der zunehmende Fahrradtourismus ein beacht- Vorschläge für mehr Sicherheit für Radfahrer. liches Gästepotenzial. Ich meine, dass es uns mit dem vorliegenden Antrag Viertens: Rad fahren ist ein demokratisches Vergnü- gelungen ist, eine Reihe sinnvoller Forderungen, unter gen, weil es quer durch alle Altersgruppen und soziale anderem des ADFC, aufzugreifen und konkrete Umset- Schichten betrieben wird. Bei den Radurlaubern reicht zungsvorschläge zu machen. Mit diesem Antrag der die Bandbreite von jungen, preisbewussten Rucksack- Koalitionsfraktionen stellen wir die Weichen für eine touristen über Familien bis zu kaufkräftigen Reisenden, weitere positive Entwicklung des Fahrradtourismus in die für die höherpreisige Hotellerie und Gastronomie so- Deutschland. Außerdem macht die Initiative ebenso wie wie die Fahrradhersteller besonders interessante Kundin- die sachorientierte Zusammenarbeit mit meiner Kollegin nen und Kunden sind. Gabriele Hiller-Ohm deutlich, dass die Kooperation in der großen Koalition viel besser funktioniert als von den Die Förderung des Fahrradtourismus erfreut sich Medien gern behauptet wird. schon seit längerer Zeit einer breiten Zustimmung in die- sem Hause. Das hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur in mehreren Anträgen aus den verschiedenen Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Begeisterte Radfahrer Fraktionen niedergeschlagen, sondern vor allem im Jahr und Radfahrerinnen finden sich in allen politischen La- 2002 auf unsere Initiative hin verabschiedeten Nationa- gern, allen gesellschaftlichen Schichten und jeder Al- len Radverkehrsplan 2002 bis 2012. Dieser hat als erster tersklasse. Und das nicht erst seit gestern. Der deutsche Masterplan für die Förderung des Radverkehrs auf allen Industrielle Adam Opel erkannte bereits im 19. Jahrhun- politischen Ebenen bereits wichtige Impulse für den dert: „Bei keiner anderen Erfindung ist das Nützliche mit Fahrradtourismus gesetzt. Viele der Maßnahmen des dem Angenehmen so innig verbunden wie beim Fahr- Radverkehrsplanes kommen den Pedaltouristen zugute, rad.“ Die Firma Opel war damals der größte Fahrradher- allen voran der durch das D-Netz angestoßene Ausbau Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7087

(A) regionaler und überregionaler Radwege sowie die Weg- zung und gemeinsame Bewerbung fahrradtouristischer (C) weisung der Routen. Angebote mit dem Städte- und Kulturtourismus sowie wassertouristischen Angeboten. Da viele Maßnahmen zur Förderung des Fahrradur- laubs in der Verantwortung von Ländern und Kommu- Was nun den Ausbau der Infrastruktur für den Fahr- nen liegen, hat der Bund in erster Linie eine koordinie- radtourismus betrifft, sind wir im Wesentlichen auf die rende Funktion. In vielen Bereichen können wir nur Aktivitäten von Ländern und Kommunen angewiesen. gemeinsam mit den Ländern und Kommunen Fort- Die Bundesregierung soll hier jedoch ihre koordinieren- schritte erzielen oder auf sie einwirken, damit sie aktiv den Möglichkeiten noch stärker ausschöpfen und darauf werden. Die Möglichkeiten, die wir auf Bundesebene hinwirken, dass das D-Netz weiter ausgebaut und ge- haben, werden wir jedoch noch stärker nutzen. Daran pflegt wird. Eine gute Grundlage sind die Empfehlungen orientieren sich die Forderungen unseres Antrages. Ich der Studie „Analyse und Perspektiven der Bundesrad- werde nun auf die Kernpunkte eingehen. routen im Rahmen des Nationalen Radverkehrsplanes“. Eine wesentliche Aufgabe sehen wir in der Zusam- Die Bundesregierung soll sich weiterhin dafür einset- menführung, Bündelung und Abstimmung der Aktivitä- zen, dass der Ausbau und die einheitliche Ausschilde- ten zur Förderung des Fahrradtourismus. Bei einer span- rung von Radwegen vorangetrieben werden, dass die nenden Konferenz der SPD-Bundestagsfraktion zum Qualität der touristischen und baulichen Infrastruktur Thema „Mobil in den Urlaub – Mobil am Urlaubsort“, die von bzw. entlang der Radfernrouten regelmäßig geprüft in dieser Woche stattfand, war der Fahrradtourismus ein wird. Fahrradwege in der Nähe von Flüssen und Wasser- zentrales Thema. Mir wurde von Vertreterinnen und Ver- straßen sind besonders beliebt. Deshalb wollen wir, dass tretern der Radverkehrsverbände bestätigt, dass im Be- diese Routen neu- beziehungsweise ausgebaut werden. reich der bundesweiten Vereinheitlichung von Fahr- Hierfür stellt der Bund bereits jetzt jährlich 10 Millionen radrouten und Beschilderung noch große Defizite Euro zur Verfügung. Diese Mittel wurden jedoch in der bestehen. Vergangenheit nur zu einem geringen Teil abgerufen. Das muss sich ändern. Wir schlagen daher zweierlei vor: Erstens. Wir brau- chen eine länderübergreifende Koordinierungsstelle. Es Um eine bessere Ausnutzung zu erreichen, sollen soll geprüft werden, ob diese beim Bundesministerium Städte und Gemeinden deshalb verstärkt auf die Mög- für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung eingerichtet wer- lichkeit hingewiesen werden, beim Ausbau von Be- den kann. Sie soll sich insbesondere um die Weiterent- triebswegen an Bundeswasserstraßen Verträge mit den wicklung und Vereinheitlichung der Infrastruktur sowie Wasser- und Schifffahrtsämtern über die Nutzung und um die notwendige Abstimmung zwischen den Bundes- Verkehrssicherungspflicht für den Fahrradverkehr abzu- (B) ministerien und mit Ländern und Kommunen kümmern. schließen. Dem Fahrradverkehr darf kein Cent der zur (D) Wir würden dadurch den Überblick über die bestehende Verfügung gestellten Mittel verloren gehen. Deshalb ha- Infrastruktur und bereits erfolgte oder laufende Maßnah- ben wir im Haushaltsplan bereits vorgesorgt. Durch eine men verbessern, mehr Transparenz schaffen und auch gegenseitige Übertragbarkeit des Haushaltstitels mit an- den Erfahrungsaustausch zwischen den Ebenen optimie- deren Radverkehrstiteln ist jetzt sichergestellt, dass die ren. Die Etablierung von bundesweit einheitlichen Stan- Gelder auf jeden Fall den Radfahrern zugute kommen. dards könnte erleichtert werden. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass die vorhande- nen Radwege an Wasserstraßen national und internatio- Nicht alle Maßnahmen zur Förderung des Radtouris- nal stärker vermarktet werden. mus lassen sich jedoch am besten durch eine staatliche Stelle regeln. Bei der Vermarktung der Angebote setzen Ein wichtiger Partner für die Stärkung des Fahrradur- wir daher auf das Know-how, das im Verbandsbereich laubs ist die Deutsche Bahn AG. Leider ist die Fahrrad- bereits besteht und seit Jahren erfolgreich eingesetzt mitnahme im Fernverkehr immer noch unzureichend, vor wird. Als Beispiel nenne ich hier den Katalog „Deutsch- allem im ICE, der auf immer mehr Strecken verkehrt. Die land per Rad entdecken“, der von der Deutschen Zen- Benutzung von Nahverkehrszügen ist aufgrund der län- trale für Tourismus gemeinsam mit dem Allgemeinen geren Fahrzeiten und des häufigen Umsteigens mit Deutschen Fahrrad-Club, ADFC, herausgegeben wird. Gepäck und Rädern keine wirkliche Alternative. Wir set- zen dennoch weiterhin auf den Dialog mit der Bahn. Wir halten deshalb zweitens die Schaffung einer zen- Schließlich liegt es auch in ihrem eigenen Interesse, die tralen Vermarktungsstelle des Fahrradtourismus für nö- wachsende Zielgruppe der Radurlauber nicht auszugren- tig, die bei einem Verein oder Verband angesiedelt wer- zen. Die Erweiterung des Angebotes in den City-Night- den könnte. Ziel ist, dass die touristischen Angebote und Line- und den DB-Nachtzügen hat ja gezeigt, dass durch das Marketing für den Tourismusstandort Deutschland die Fahrradmitnahme deutliche Zuwächse zu erzielen verstärkt auf die Bedürfnisse der Fahrradtouristinnen sind. und -touristen abgestimmt werden. Mit unserem Antrag erfinden wir das Rad nicht neu. Diese beiden Forderungen fanden bei unserer Konfe- Wir zeigen Wege auf, wie wir den Fahrradtourismus- renz große Zustimmung, ebenso unser Anliegen, das standort Deutschland weiter voranbringen und noch er- Radreiseziel Deutschland, insbesondere auf internatio- folgreicher machen können. Denn, wie der ehemalige naler Ebene, noch intensiver über nationale Tourismus- Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel so tref- verbände und die Deutsche Zentrale für Tourismus zu fend sagte: „Es ist auf dem Fahrrad wie in der Wirt- vermarkten. Wichtig ist uns auch eine stärkere Vernet- schaft: Wer sich nicht fortbewegt, fällt um.“ 7088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Ernst Burgbacher (FDP): Fahrradtourismus ist „Aufgabe des Beauftragten wird es sein, die Aktivitä- (C) ohne Zweifel eine Wachstumsbranche, ein wichtiger ten der Bundesregierung im Bereich der Tourismuspolitik Wirtschaftsfaktor, eine umweltschonende Art der Fort- stärker zu koordinieren und konzeptionell auszubauen.“ bewegung und eine gesundheitsfördernde Urlaubsform. So heißt es in der Pressemitteilung des Bundeswirt- Dies wird ausführlich im Antrag der Koalitionsfraktio- schaftsministeriums vom 14. Dezember 2005, mit der be- nen dargelegt, und soweit stimme ich mit den Antrag- kannt gegeben wurde, dass Ernst Hinsken zum Touris- stellern völlig überein. musbeauftragten der Bundesregierung ernannt wurde. Nun hat der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung Deutschland ist ein beliebtes Radreiseziel. 2005 hat selbst einen Antrag unterzeichnet, in dem gefordert wird, der Fahrradtourismus erneut zugelegt. 45,4 Prozent aller im Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Deutschen nutzen das Rad im Urlaub, 14,3 Prozent von eine länderübergreifende Koordinierungsstelle mit Blick ihnen sogar „häufig“ bis „sehr häufig“. Dies geht aus auf den Fahrradtourismus einzurichten. Was soll man den „Zahlen, Daten, Fakten – Tourismus in Deutschland davon halten? Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich je- 2005“ vom Deutschen Tourismusverband hervor. 2 Mil- denfalls entschieden für eine Bündelung der Tourismus- lionen Deutsche planen in den nächsten drei Jahren laut kompetenzen in der Bundesregierung, konkret im Bun- „ADFC Radreiseanalyse 2006“ „ziemlich sicher“ min- deswirtschaftsministerium ein. destens eine Radreise. Für weitere 3,4 Millionen Deut- sche kommt ein Fahrradurlaub generell infrage. 89 Pro- In Punkt 7 des Antrags wird die Bundesregierung auf- zent der Radurlaube sind Haupturlaubsreisen. gefordert, die Realisierungsmöglichkeit einer zentralen Stelle für die Vermarktung des Fahrradtourismus zu prü- Die touristischen Angebote für Fahrradtourismus ha- fen. Vor allem die Deutsche Zentrale für Tourismus wirbt ben sich in den vergangenen Jahren erheblich vergrößert gemeinsam mit dem ADFC sehr erfolgreich für Radrei- und verbessert. Gab es im Jahr 1995 lediglich 215 vom sen in Deutschland. Ein Blick auf die Homepage der ADFC zertifizierte fahrradfreundliche Beherbergungs- DZT illustriert dies. Informationen zu „Bahn & Bike“, betriebe „Bett & Bike“, so stieg diese Zahl bis März „Bett & Bike“, auch Wellness per Rad – um nur einige 2006 auf über 4 238 Betriebe in 2 910 Orten Deutsch- lands. Allein im letzten Jahr war im Osten Deutschlands Stichworte zu nennen – werden informativ präsentiert, ein Zuwachs von 26 Prozent zu verzeichnen. ebenso Tourenvorschläge und eine Fülle weiterer Tipps für den informations- und ratsuchenden Radler. Das er- Die Branche hat sich auf die gestiegene Nachfrage folgreichste Marketinginstrument für den deutschen nach fahrrad- und radlerfreundlichen Unterkünften und Radtourismus ist laut „ADFC-Radreiseanalyse 2006“ der Angeboten eingerichtet und das größere, vielfältige An- gemeinsame Katalog „Deutschland per Rad entdecken“, dessen 5. Auflage mit 500 000 deutschen und englischen (B) gebot gewinnt neue, zusätzliche Fahrradtouristen. (D) Radreiseveranstalter verbuchten im Jahr 2005 zweistel- Exemplaren 140 Radrouten in Deutschland präsentiert lige Zuwachsraten. Auch Busreiseveranstalter, die sich und in 26 Ländern vertrieben wird. auf die Bedürfnisse dieser Klientel eingestellt haben, er- zielten mit speziellen Fahrradanhängern und besonderen Für eine „zentrale Fahrradtourismusvermarktungs- Pauschalangeboten im vergangenen Jahr deutliche Zu- stelle“ besteht daher kein Bedarf. Auch unter Wettbe- wachsraten. Durch die Schaffung attraktiver Fahrradan- werbsgesichtspunkten lehnt die FDP eine solche Zentral- gebote können insbesondere in strukturschwachen Ge- stelle ab. bieten, die sich für diese Urlaubsform besonders Ich bin ferner überzeugt, dass Tourismuswirtschaft, anbieten, Arbeitsplätze geschaffen werden. Der jährliche Tourismusverantwortliche und auch die Länder und Umsatz beim Fahrradtourismus liegt über 5 Milliarden Kommunen das Potenzial des Fahrradtourismus erkannt Euro und kann durch eine bessere Koordinierung des haben, und ich bezweifle stark, dass auf DZT und Tou- deutschlandweiten Radfernwegenetzes weiter gesteigert rismusverbände seitens der Bundesregierung eingewirkt werden. werden muss, damit „sie den Gesundheitsaspekt bei der Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist sicher gut ge- Werbung für den Fahrradtourismus stärker berücksichti- meint, aber nicht notwendig, um auf die wirtschaftliche gen“, wie in Punkt 11 des Antrags gefordert. Ich bin der Bedeutung des Fahrradtourismus aufmerksam zu ma- Überzeugung, dass wir den Tourismuswerbern schon chen. Konkrete politische Handlungsfelder werden in selbst überlassen sollten, wie sie ihre Arbeit machen. Die dem Antrag nicht aufgezeigt. Es geht vielmehr darum, beachtlichen Erfolge, die sie vorzuweisen haben, zeigen, die Bundesregierung aufzufordern, Sachverhalte „zu dass sie ihr Handwerk verstehen. prüfen“, auf Länder und Kommunen oder auch Touris- musorganisationen und Verbände „hinzuwirken“ bzw. Kurzum, die im Antrag von CDU/CSU und SPD auf- „einzuwirken“ oder etwas „nachzufragen“. geführten Forderungen gehen entweder an den falschen Adressaten, da die konkrete politische Umsetzung nicht Punkt 1 in diesem „Forderungskatalog“ des Antrags im Aufgabenbereich der Bundesregierung liegt, oder richtet sich auf eine länderübergreifende Koordinie- aber in die falsche Richtung. Selbstverständlich gilt es, rungsstelle beim Bundesministerium für Verkehr, Bau den Fahrradtourismus wie auch andere Urlaubsformen und Stadtentwicklung. Dies verwundert mich sehr. Denn im Interesse des Tourismusstandorts Deutschland poli- gibt es nicht eigens einen Tourismusbeauftragten der tisch zu fördern und zu unterstützen, doch ich sehe nicht, Bundesregierung, der im Bundeswirtschaftsministerium dass dieser Antrag der Koalitionsfraktionen hierfür das angesiedelt ist? geeignete Instrument ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006 7089

(A) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Mein Wahlkreis – die Wenn wir den Fahrradverkehr fördern wollen, brau- (C) Oberlausitz – ist ein Mekka für Radfahrer. Begeisterte chen wir eine durchgängige barrierefreie Infrastruktur in Radfahrerinnen und Radfahrer finden in der Oberlausitz, den Kommunen. zum Beispiel entlang der Neiße, ein sehr gut ausgebautes und beschildertes Radwegenetz, dazu eine Landschaft Wenn wir den Fahrradverkehr fördern wollen, sollten mit ausgedehnten Wäldern, mit stillen Teichen und Seen, wir aufhören mit der Privatisierung und Ausdünnung mit Berggipfeln und herrlichen Aussichten, mit sorgsam von Bahnen und anderen öffentlichen Verkehrsträgern restaurierten, Jahrhunderte alten Häusern in stillen Dör- und -linien. Wenn wir den Fahrradverkehr fördern wol- fern, mit interessanten Städten voller Geschichte. len, sollten barrierefreie Bahnhöfe überall Pflicht wer- den und nicht erst ab einer willkürlich festgelegten Zahl Die Oberlausitz per Rad entdecken – das neue Güte- von ein- bzw. aussteigenden Fahrgästen. siegel „Oberlausitz per Rad“ garantiert hohe Servicequa- lität rund ums Rad fahren. Problemlos kann man jeder- Wenn wir den Fahrradverkehr im Alltag fördern, för- zeit bei allen zertifizierten Partnern Fahrräder mieten dern wir auch den Fahrradtourismus. Wir sollten aber und sie dort oder bei einem anderen Partner wieder abge- nicht nur den Radverkehr, sondern auch die Fortbewe- ben. Diese Flexibilität durch den Hol- und Bringservice gung zu Fuß, mit Rollstühlen oder dem Skateboard im bzw. den Gepäcktransfer ist nur einer der zahlreichen Blick haben. Notwendig ist auch ein Mehr an gegenseiti- Vorteile, die die Oberlausitz für Urlauber und Freizeit- ger Rücksichtnahme und an Sicherheit im Straßenver- radler anbietet. Auf reizvolle Weise lassen sich hier kehr. Sie kennen das Problem des Radfahrers im toten Freude am Rad fahren, Entspannen in der Natur und Winkel des Autofahrers, zugeparkte Radwege, aber auch Kennenlernen von Traditionen und Geschichte der Ober- Probleme mit Radfahrern, die die Straßenverkehrsord- lausitz verbinden. nung nicht kennen oder kennen wollen. Ähnliches lässt sich sicher auch über andere Regio- Vielen der im Antrag aufgeführten Punkte kann die nen in Deutschland berichten, denn es gibt inzwischen Fraktion Die Linke zustimmen. Über manche Punkte viele sehr attraktive Angebote für den Fahrradtourismus. werden wir in den Ausschüssen noch einmal diskutieren müssen, damit es nicht bei zahnlosen Appellen in Rich- Den Antrag zur Förderung des Fahrradtourismus hat tung Länder und Kommunen sowie Bahn und touristi- sich der Bundestag als letzten Punkt auf die heutige Ta- schen Einrichtungen bleibt. gesordnung gesetzt. Statt der geplanten 30 Minuten De- batte um 2.40 Uhr werden die Reden nicht gehalten, son- Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dern zu Protokoll gegeben. Ich nehme an, dass in allen Fünf Jahre nach Vorlage des unter Rot-Grün aufgelegten (B) zu Protokoll gegebenen Reden steht, dass der Fahrrad- Nationalen Radverkehrsplans 2002 bis 2012 zur Förde- (D) tourismus wichtig, wachsend und förderwürdig ist. Da- rung des Radverkehrs hat die große Koalition es ge- gegen ist nichts einzuwenden. Die Fortbewegung zu Fuß schafft, sich zum ersten Mal parlamentarisch initiativ und mit dem Fahrrad, ob im Alltag oder im Urlaub, ist mit dem Fahrradverkehr zu beschäftigen. Glückwunsch! gesund und gut für die Umwelt. Der Nationale Radverkehrsplans ist nächstes Jahr Mit der Förderung des Fahrradtourismus befasst sich fünf Jahre in Kraft. Es wäre an der Zeit, Bilanz zu ziehen der Bundestag nicht zum ersten Mal. 1992 gab es zum und Konzepte zur Förderung des Fahrradverkehrs vorzu- Beispiel einen Antrag der SPD, der dem jetzt vorliegen- legen. Stattdessen legt die große Koalition einen Antrag den der Koalitionsfraktionen sehr ähnelt. Da die SPD vor, der Bekanntes und Richtiges aus dem Nationalen nicht in der Regierung war, wurde ihr Antrag zwei Jahre Radverkehrsplan zitiert und an die Bundesregierung ge- später abgelehnt. 2003 hat dann die CDU/CSU einen richtete Forderungen enthält, die im Kern zwar alle nicht Antrag zur Förderung des Fahrradtourismus gestellt. falsch, aber in ihrer Unverbindlichkeit nicht mehr zu Auch dieser wurde abgelehnt, weil er nicht von einer Re- überbieten sind. Von den 13 Punkten, zu denen der Bun- gierungsfraktion gestellt wurde. Nun also ein Antrag von destag die Bundesregierung auffordern soll, sind zwei CDU/CSU und SPD gemeinsam. Damit ist diesmal die Prüfaufträge und neun Aufforderungen an die Bundes- Zustimmung zum Antrag gewiss. regierung, einzuwirken oder hinzuwirken. Es soll auch Unbestritten ist, dass auf dem Gebiet des Fahrradtou- ergriffen und vorangebracht werden. Bei der bundes- rismus und der Entwicklung von Radwegenetzen einiges eigenen DB soll sogar nur nachgefragt werden. in den letzten Jahren passiert ist. Trotzdem kommen wir Den Feststellungen und den Aufforderungen können bei bestimmten Problemen nicht oder nur sehr langsam wir problemlos zustimmen. Ob es dem Fahrradverkehr voran. Wenn wir den Fahrradverkehr fördern wollen, hilft, wenn dieser Antrag einmal hier beschlossen wird, brauchen wir überall Verkehrsschulen, in denen alle Kin- wage ich zu bezweifeln. der rechtzeitig lernen, sich sicher mit dem Fahrrad im öffentlichen Verkehr zu bewegen. Wenn wir den Fahr- Der Antrag ist gegenüber dem bisherigen Diskus- radverkehr fördern wollen, brauchen wir überall fahrrad- sionsstand in Sachen Fahrradverkehrsförderung sogar freundliche Städte und Gemeinden mit entsprechenden ein Rückschritt, wenn man ehrlich ist. Sie machen aus Wegen, Verkehrswegeeinrichtungen und Abstellplätzen. einem nachgewiesenermaßen vollwertigen Verkehrsmit- Mich ärgert, wenn ich immer wieder neue oder erneuerte tel – das Fahrrad hat einen Anteil am Verkehrsaufkom- Bundes- und Landesstraßen sehe, bei denen wieder der men wie der öffentliche Personenverkehr – ein Freizeit- Radweg „vergessen“ wurde. und Tourismusvehikel. 7090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 70. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. November 2006

(A) Dort, wo weitgehend gesellschaftlicher Konsens be- die Bundesregierung, die DB zu fragen, ob und unter (C) steht, nämlich beim Fahrradtourismus, machen Sie einen welchen Voraussetzungen eine Steigerung der Fahrrad- schönen Antrag. Dort, wo es ans Eingemachte geht, beförderung insbesondere im Fernverkehr erreicht wer- nämlich bei der Alltagsnutzung des Fahrrads, kneifen den kann, vorsichtig ausgedrückt, in die Irre. Sie. Ich gebe zu, dass man die Straßenbaulastträger in den Kommunen nicht aus Ihrer Verantwortung, mehr für Es reicht nicht, sich auf dem Gebiet des Fahrradtou- den Fahrradverkehr zu tun, entlassen soll. Den Ord- rismus zu sonnen. Das Fahrrad ist nach Veröffentlichun- nungsrahmen bestimmt aber zum großen Teil der Bund. gen aus Ihren eigenen Häusern das einzige Verkehrsmit- Straßenverkehrs-Ordnung, Richtlinien und Verwaltungs- tel mit dem Ihre eingegangenen CO2-Reduzierungsziele vorschriften sind nicht fahrradverkehrsgerecht. im Verkehrsbereich erreicht werden können. Da tut sich aber nichts bei der großen Koalition. Lassen Sie mich an einem Beispiel aus dem Forde- rungskatalog illustrieren, wie wenig hilfreich Ihr Antrag Vielleicht erlauben Sie mir noch eine Anmerkung ist: Das noch bundeseigene Unternehmen Deutsche zum Ende meiner Rede: Wenn den Kollegen von der Bahn AG wird, wenn das dritte Eisenbahnpaket umge- großen Koalition der Fahrradverkehr so wichtig ist, soll- setzt sein wird, auf internationalen Strecken Fahrräder ten Sie Ihre Anträge in Zukunft etwas früher veröffentli- mitnehmen müssen. Da führt doch eine Aufforderung an chen.

(B) (D)

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