Plenarprotokoll 15/114

Deutscher

Stenografischer Bericht

114. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Inhalt:

Gedenken an die Opfer des 17. Juni 1953 . . . 10319 A Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 10330 A Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/ neten Renate Jäger, Verena Wohlleben, DIE GRÜNEN) ...... 10330 D und Hans-Christian Ströbele ...... 10319 C Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10332 C Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 10333 C nung ...... 10319 C Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 10334 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 24 . . . 10321 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 10335 C Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 10321 D (BÜNDNIS 90/ Begrüßung des Vizepräsidenten der Assem- DIE GRÜNEN) ...... 10338 A blée nationale Yves Bur ...... 10395 C Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 10339 A (CDU/CSU) ...... 10339 D Tagesordnungspunkt 3: Jella Teuchner (SPD) ...... 10341 D Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Eine neue Ernährungsbewegung für (BÜNDNIS 90/ Deutschland ...... 10322 A DIE GRÜNEN) ...... 10343 A Jörg Tauss (SPD) ...... 10344 B in Verbindung mit Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10344 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Ursula Heinen, Tagesordnungspunkt 4: Julia Klöckner, Peter H. Carstensen (Nord- Erste Beratung des von den Abgeordneten strand), weiterer Abgeordneter und der Frak- , Werner Lensing, Katherina tion der CDU/CSU: Über-, Fehl- und Reiche, weiteren Abgeordneten und der Frak- Mangelernährung wirksam bekämpfen tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- (Drucksache 15/3310) ...... 10322 A nes Gesetzes zur Modernisierung der dualen Renate Künast, Bundesministerin Berufsausbildung in Deutschland durch BMVEL ...... 10322 B Novellierung des Berufsbildungsrechts (Drucksache 15/2821)...... 10344 D Ursula Heinen (CDU/CSU) ...... 10326 A Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 10327 D in Verbindung mit II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Zusatztagesordnungspunkt 6: e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Erste Beratung des von den Abgeordneten setzes zur Umsetzung gemeinschafts- Ulrike Flach, , Christoph rechtlicher Vorschriften über die Hartmann (Homburg), weiteren Abgeordne- grenzüberschreitende Prozesskosten- ten und der Fraktion der FDP eingebrachten hilfe in Zivil- und Handelssachen in den Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Be- Mitgliedstaaten (EG-Prozesskostenhil- rufsausbildungsrechts fegesetz) (Drucksache 15/3325) ...... 10345 A (Drucksache 15/3281) ...... 10362 B Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) ...... 10345 A f) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, , Bundesministerin Cornelia Pieper, (Bay- BMBF ...... 10347 A reuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bessere organisato- Jörg Tauss (SPD) ...... 10348 A rische Kooperation zwischen Auswär- tigem Amt und Wissenschaftsorganisa- (CDU/CSU) ...... 10348 C tionen (Homburg) (FDP) . . . . . 10350 D (Drucksache 15/2759) ...... 10362 B Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ g) Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim DIE GRÜNEN) ...... 10352 B Otto (Frankfurt), (Münster), Rainer Brüderle und weiterer Abgeordne- Uwe Schummer (CDU/CSU) ...... 10353 D ter der Fraktion der FDP sowie der Abge- ordneten Holger Haibach, Kristina Köhler Hans-Werner Bertl (SPD) ...... 10354 D (Wiesbaden), Dr. Klaus W. Lippold (Of- (CDU/CSU) ...... 10356 C fenbach) und weiterer Abgeordneter der Fraktion der CDU/CSU: Engpass zwi- (fraktionslos) ...... 10357 D schen Wiesbadener Kreuz und Krifteler (SPD) ...... 10358 C Dreieck (Autobahn A 66) beseitigen (Drucksache 15/3104) ...... 10362 C Werner Lensing (CDU/CSU) ...... 10360 C

Zusatztagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 32: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Sie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- benten Gesetzes zur Änderung des So- zes zur Ausführung des Zusatzproto- zialgerichtsgesetzes (7. SGGÄndG) kolls vom 18. Dezember 1997 zum (Drucksache 15/3169) ...... 10362 C Übereinkommen über die Überstellung b) Erste Beratung des von den Fraktionen der verurteilter Personen SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksache 15/3179) ...... 10362 A GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Vierten Gesetzes zur Änderung des Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle, Melderechtsrahmengesetzes , weiteren Abgeordneten (Drucksache 15/3305) ...... 10362 D und der Fraktion der FDP eingebrachten c) Erste Beratung des von den Fraktionen der Entwurfs eines Gesetzes zur Anglei- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE chung der Pfändungsfreigrenzen in der GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sozialversicherung Gesetzes zum Abbau von Statistiken (Drucksache 15/2796) ...... 10362 A (Statistikabbaugesetz) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksache 15/3306) ...... 10362 D , Daniel Bahr (Münster), d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten brachten Entwurfs eines Gesetzes zum und der Fraktion der FDP eingebrachten Abbau von Statistiken Entwurfs eines Gesetzes zur Lockerung (Drucksache 15/2416) ...... 10362 D des Verbots wiederholter Befristungen (Drucksache 15/2804) ...... 10362 A e) Antrag der Abgeordneten Heidi Wright, Sören Bartol, , weiterer d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Abgeordneter und der Fraktion der SPD rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- sowie der Abgeordneten Franziska ten Gesetzes zur Änderung eisenbahn- Eichstädt-Bohlig, , rechtlicher Vorschriften Albert Schmidt (Ingolstadt), weiterer (Drucksache 15/3280) ...... 10362 B Abgeordneter und der Fraktion des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 III

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mehr des Kindes betreffend die Beteiligung Sicherheit für Radfahrer – insbeson- von Kindern an bewaffneten Konflikten dere Schutz vor Unfällen mit LKW im (Drucksachen 15/3176, 15/3340) ...... 10364 D Stadtverkehr (Drucksache 15/3330) ...... 10363 A g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- neten Peter Götz, Dirk Fischer (Hamburg), Tagesordnungspunkt 33: , weiterer Abgeordneter a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung und der Fraktion der CDU/CSU: Vorlage des von der Bundesregierung eingebrach- eines städtebaulichen Berichts ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- (Drucksachen 15/2158, 15/2896) ...... 10365 A kommen vom 14. Mai 2003 zwischen h) Beschlussempfehlung und Bericht des der Bundesrepublik Deutschland und Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und der Republik Polen zur Vermeidung Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet durch die Bundesregierung: Vorschlag der Steuern vom Einkommen und vom für eine Richtlinie des Europäischen Vermögen Parlaments und des Rates über Arsen, (Drucksachen 15/3171, 15/3264)...... 1036310300 B Kadmium, Quecksilber, Nickel und b) Zweite und dritte Beratung des von der polyzyklische aromatische Kohlenwas- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs serstoffe in der Luft eines Gesetzes zu dem Abkommen vom (Drucksachen 15/1613 Nr. 1.13, 15/2958) 10365 B 8. Juli 2003 zwischen der Regierung der i) Beschlussempfehlung und Bericht des Bundesrepublik Deutschland und der Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und mazedonischen Regierung über Soziale Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung Sicherheit durch die Bundesregierung: Vorschlag (Drucksachen 15/3172, 15/3335)...... 10363 C für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Grundwassers vor Verschmutzung des von der Bundesregierung eingebrach- (Drucksachen 15/1948 Nr. 1.8, 15/3138) ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem 10365 C Übereinkommen vom 14. Oktober 2003 j) – m) über die Beteiligung der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Republik Zypern, der Republik Lett- schusses: Sammelübersichten 124, 125, land, der Republik Litauen, der Re- 126 und 127 zu Petitionen publik Ungarn, der Republik Malta, (Drucksachen 15/3225, 15/3226, 15/3227, der Republik Polen, der Republik Slo- 15/3228) ...... 10365 D wenien und der Slowakischen Republik am Europäischen Wirtschaftsraum (Drucksachen 15/3173, 15/3343)...... 10363 D Tagesordnungspunkt 28: d) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur effektiveren Nutzung von Fünften Gesetzes zur Änderung des Futter- Dateien im Bereich der Staatsanwalt- mittelgesetzes schaften (Drucksachen 15/3170, 15/3342) ...... 10366 B (Drucksachen 15/1492, 15/3331)...... 10364 A e) Zweite und dritte Beratung des von den Zusatztagesordnungspunkt 8: Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN a) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- eingebrachten Entwurfs eines Dritten Ge- schusses: Übersicht 7 über die dem setzes zur Änderung des Gesetzes zur Deutschen Bundestag zugeleiteten Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Streitsachen vor dem Bundesverfas- Verantwortung und Zukunft“ sungsgericht (Drucksachen 15/3044, 15/3260)...... 10364 C (Drucksache 15/3334) ...... 10366 C f) Zweite Beratung und Schlussabstimmung b) Beschlussempfehlung und Bericht des des von der Bundesregierung eingebrach- Rechtsausschusses zu der Streitsache vor ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa- dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR kultativprotokoll vom 25. Mai 2000 412/04 zum Übereinkommen über die Rechte (Drucksache 15/3341) ...... 10366 C IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Tagesordnungspunkt 5: Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10388 D Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundes- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 10390 A tag – Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2003 (Drucksache 15/3150) ...... 10367 A Tagesordnungspunkt 7: Dr. (FDP) ...... 10367 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 10368 B zes zur Verbesserung des vorbeugenden Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 10370 C Hochwasserschutzes (Drucksachen 15/3168, 15/3214) ...... 10390 D Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10372 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Dr. (FDP) ...... 10374 A Reaktorsicherheit Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 10375 A Renate Jäger, Ulrike Mehl, Michael Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 10375 C Müller (Düsseldorf), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD so- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 10375 D wie der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, (Köln), Cornelia Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 10377 B Behm, weiterer Abgeordneter und der (CDU/CSU) ...... 10378 B Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Flüssen mehr Raum Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 10379 B geben – Ökologische Hochwasser- Gero Storjohann (CDU/CSU) ...... 10379 C vorsorge durch integriertes Flussge- bietsmanagement (Spandau) (SPD) ...... 10379 D – zu dem Antrag der Abgeordneten (CDU/CSU) ...... 10381 A Dr. Peter Paziorek, Ulrich Petzold, Vera Dominke (CDU/CSU) ...... 10382 B Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Vorsorgender Hochwasser- Tagesordnungspunkt 6: schutz im Binnenland Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- – zu dem Antrag der Abgeordneten ten , Steffen Kampeter, Birgit Homburger, Angelika Bernhard Kaster, weiterer Abgeordneter und Brunkhorst, Hans-Michael Goldmann, der Fraktion der CDU/CSU: Öffentlichkeits- weiterer Abgeordneter und der Frak- arbeit der Bundesregierung tion der FDP: Hochwasserschutz – (Drucksachen 15/1960, 15/2912) ...... 10383 A Solidarität erhalten, Eigenverant- wortung stärken in Verbindung mit (Drucksachen 15/1319, 15/1561, 15/1334, 15/2118) ...... 10391 A Renate Jäger (SPD) ...... 10391 B Zusatztagesordnungspunkt 9: Ulrich Petzold (CDU/CSU) ...... 10392 B Antrag der Abgeordneten Dietrich Austermann, Steffen Kampeter, Bernhard Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 10393 D Kaster, weiterer Abgeordneter und der Frak- (FDP) ...... 10394 D tion der CDU/CSU: Ausweitung der Öffent- lichkeitsarbeit der Bundesregierung in Zei- (SPD) ...... 10395 C ten knapper Kassen (CDU/CSU) ...... 10396 B (Drucksache 15/3311) ...... 10383 A Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 10383 B Tagesordnungspunkt 8: Gerhard Rübenkönig (SPD) ...... 10385 B Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 10387 B CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Evaluierung des Deutsch- Gerhard Rübenkönig (SPD) ...... 10387 D Französischen Jugendwerkes (FDP) ...... 10388 A (Drucksache 15/3326) ...... 10398 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 V

Monika Griefahn (SPD) ...... 10398 A Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 10422 B Dr. (CDU/CSU) . . . . . 10399 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10423 A Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10400 D (FDP) ...... 10401 C Zusatztagesordnungspunkt 10: (SPD) ...... 10402 B Antrag der Abgeordneten Hans Büttner (Ingolstadt), Detlef Dzembritzki, Siegmund Thomas Dörflinger (CDU/CSU) ...... 10403 B Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), Tagesordnungspunkt 9: Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Antrag der Abgeordneten Hartmut Büttner Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Schönebeck), , Wolfgang NEN: Zum Gedenken an die Opfer des Bosbach, weiterer Abgeordneter und der Kolonialkrieges im damaligen Deutsch- Fraktion der CDU/CSU: Jährliche Debatte Südwestafrika zum Stand der Rehabilitierung und Ent- (Drucksache 15/3329) ...... 10424 B schädigung der Opfer der SED-Diktatur Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD) ...... 10424 C (Drucksache 15/2818) ...... 10404 C (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 10425 D (CDU/CSU) ...... 10404 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 10405 C DIE GRÜNEN) ...... 10426 D Klaus Haupt (FDP) ...... 10407 A Ulrich Heinrich (FDP) ...... 10427 C Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 10407 C Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 10428 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10408 A Tagesordnungspunkt 13: Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 10408 D Große Anfrage der Abgeordneten Julia Klöckner, , Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Tagesordnungspunkt 10: CDU/CSU: Förderung der Organspende Antrag der Abgeordneten Jörg van , (Drucksache 15/2707) ...... 10429 B , Sibylle Laurischk, weiterer Thomas Rachel (CDU/CSU) ...... 10429 C Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rechtsstaatlichkeit der Telefonüberwa- Dr. (SPD) ...... 10430 C chung sichern Detlef Parr (FDP) ...... 10431 C (Drucksache 15/1583) ...... 10410 B Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . 10432 B Rainer Funke (FDP) ...... 10410 C Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 10433 C Hermann Bachmaier (SPD) ...... 10411 C Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) ...... 10434 C Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU) ...... 10413 A Marion Caspers-Merk, Parl. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Staatssekretärin BMGS ...... 10435 C DIE GRÜNEN) ...... 10414 C Petra Pau (fraktionslos) ...... 10415 D Tagesordnungspunkt 14: Alfred Hartenbach, Parl. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Staatssekretär BMJ ...... 10416 D schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- sen Tagesordnungspunkt 11: – zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Rehbock-Zureich, Sören Bartol, Uwe Erste Beratung des von der Bundesregierung Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Änderung des Deutsche-Welle-Gesetzes neten Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker (Drucksache 15/3278) ...... 10418 A Beck (Köln), Franziska Eichstädt-Bohlig, Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 10418 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: (Bremen) (CDU/CSU) . . . . 10418 D Die Bahnreform konsequent weiterfüh- (SPD) ...... 10421 A ren VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ dienstgesetzes und anderer Vorschriften CSU und der FDP: Leitlinien für die (Zweites Zivildienstgesetzänderungsge- Vollendung der Bahnreform setz – 2. ZDGÄndG) (Drucksache 15/3279) ...... 10454 C (Drucksachen 15/2658, 15/2156, 15/3268) . . 10436 D b) Erste Beratung des von den Abgeordneten , Parl. Staatssekretärin Ina Lenke, Klaus Haupt, Daniel Bahr BMVBW ...... 10437 A (Münster), weiteren Abgeordneten und Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) ...... 10438 A der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ rung des Zivildienstgesetzes (Zweites DIE GRÜNEN) ...... 10439 B Zivildienstgesetzänderungsgesetz – Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 10440 C 2. ZDGÄndG) (Drucksache 15/2482) ...... 10454 C Karin Rehbock-Zureich (SPD) ...... 10441 B Ina Lenke (FDP) ...... 10454 D (CDU/CSU) ...... 10442 A

Tagesordnungspunkt 17: Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bernd Neumann (Bremen), , Zweiter Bericht der Bundesrepublik weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Deutschland gemäß Art. 15 Abs. 1 der Eu- CDU/CSU: Förderung von Gedenkstätten ropäischen Charta der Regional- oder zur Diktaturgeschichte in Deutschland – Minderheitensprachen Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken (Drucksache 15/3200) ...... 10443 B aller Opfer der beiden deutschen Dikta- turen in Verbindung mit (Drucksache 15/3048) ...... 10455 C Günter Nooke (CDU/CSU) ...... 10455 D Zusatztagesordnungspunkt 11: Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . 10458 D Antrag der Fraktionen der SPD und des Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 10460 A BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Förde- (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ rung von Regional- und Minderheitenspra- DIE GRÜNEN) ...... chen in Deutschland 10460 D (Drucksache 15/3328) ...... 10443 C (CDU/CSU) ...... 10462 C Jochen Welt, Beauftragter der Bundes- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 10462 D regierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten ...... 10443 C Angelika Krüger-Leißner (SPD) ...... 10463 D Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 10445 B Peter H. Carstensen (Nordstrand) Tagesordnungspunkt 18: (CDU/CSU) ...... 10446 C Antrag der Abgeordneten Annette Faße, Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Gerold Reichenbach, , weiterer DIE GRÜNEN) ...... 10448 A Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Koppelin (FDP) ...... 10449 A Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: (CDU/CSU) ...... 10499 D Sicherheit vor der deutschen Küste verbes- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 10450 C sern – Küstenwache optimieren (Drucksache 15/3322) ...... 10465 A Karin Evers-Meyer (SPD) ...... 10451 C Maria Michalk (CDU/CSU) ...... 10453 A Tagesordnungspunkt 19: Henry Nitzsche (CDU/CSU) ...... 10453 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Tagesordnungspunkt 16: nungswesen a) Erste Beratung des von der Bundesregie- – zu dem Antrag der Fraktionen der rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNIS- ten Gesetzes zur Änderung des Zivil- SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 VII

Wirtschaftliche und organisatori- Balkanstaaten und ganz Südosteuropa sche Strukturen der Deutschen für das Jahr 2003 Flugsicherung dauerhaft verbessern (Drucksache 15/2464) ...... 10466 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Norbert Königshofen, weiterer Abge- der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, ordneter und der Fraktion der CDU/ Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, CSU: Wirtschaftliche und organisa- weiterer Abgeordneter und der Fraktion torische Strukturen der Deutschen der FDP: Grundsätzliche Neuausrich- Flugsicherung dauerhaft verbessern tung der EU-Hilfsmaßnahmen für Süd- osteuropa (Drucksachen 15/2393, 15/1322, 15/2634) 10465 C (Drucksachen 15/2424, 15/3333) ...... 10466 D b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Erträge der Deutschen Flugsi- cherung (DFS) durch das QTE-Lease Tagesordnungspunkt 21: (US-Cross Border Leasing Transac- a) Antrag der Abgeordneten Dagmar tion) vollständig bei der DFS als Eigen- Schmidt (Meschede), Karin Kortmann, kapital belassen (), weiterer Ab- (Drucksache 15/2827) ...... 10465 D geordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Tagesordnungspunkt 20: Volker Beck (Köln), Katrin Göring- Eckardt, und der Fraktion des a) Beschlussempfehlung und Bericht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ent- Ausschusses für Tourismus wicklungspartnerschaften mit der – zu dem Antrag der Abgeordneten Wirtschaft weiterentwickeln – gemein- Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate sam Armut bekämpfen Gradistanac, weiterer Abgeordneter (Drucksache 15/3327) ...... 10467 B und der Fraktion der SPD sowie der b) Antrag der Abgeordneten Peter Weiß Abgeordneten Undine Kurth (Quedlin- (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, burg), Rainder Steenblock, Volker Dr. , weiterer Abgeordne- Beck (Köln), weiterer Abgeordneter ter und der Fraktion der CDU/CSU: Men- und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ schen mit Behinderung in Entwick- DIE GRÜNEN: Chancen und Poten- lungszusammenarbeit einbeziehen ziale des Deutschlandtourismus in (Drucksache 15/2968) ...... 10467 C der erweiterten Europäischen Union konsequent nutzen Nächste Sitzung ...... 10467 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und Berichtigung ...... 10467 B der Fraktion der CDU/CSU: Den Tou- rismus stärken – Chancen der EU- Anlage 1 Erweiterung nutzen Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10469 A (Drucksachen 15/2980, 15/3192, 15/3347) 10466 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Anlage 2 Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Erklärung des Abgeordneten Reinhard Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abge- Schultz (Everswinkel) (SPD) zur Abstim- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: mung über die Zurückweisung des Einspruchs Unterstützung grenzübergreifender des Bundesrates gegen das Gesetz zur Siche- kommunaler Zusammenarbeit im Rah- rung der nachhaltigen Finanzierungsgrund- men der EU-Osterweiterung lagen der gesetzlichen Rentenversicherung (Drucksachen 15/1327, 15/3259) ...... 10466 B (113. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkt 2) . 10469 B

Tagesordnungspunkt 12: Anlage 3 a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse ihrer Bemühungen um die – Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Än- Weiterentwicklung der politischen und derung des Zivildienstgesetzes und ande- ökonomischen Gesamtstrategie für die rer Vorschriften VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

– Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Än- – Chancen und Potenziale des Deutschland- derung des Zivildienstgesetzes tourismus in der erweiterten Europäischen Union konsequent nutzen (Tagesordnungspunkt 16 a und b) – Den Tourismus stärken – Chancen der Andreas Weigel (SPD) ...... 10469 C EU-Erweiterung nutzen Andreas Scheuer (CDU/CSU) ...... 10470 D – Unterstützung grenzübergreifender kom- Willi Zylajew (CDU/CSU) ...... 10471 B munaler Zusammenarbeit im Rahmen der EU-Osterweiterung Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10472 A (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Brunhilde Irber (SPD) ...... 10484 D Staatssekretärin BMFSFJ ...... 10472 C Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 10486 B Jürgen Klimke (CDU/CSU) ...... 10487 D Anlage 4 Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 10488 D des Antrags: Sicherheit vor der deutschen Küste verbessern – Küstenwache optimieren Ernst Burgbacher (FDP) ...... 10489 D (Tagesordnungspunkt 18) Annette Faße (SPD) ...... 10473 C Anlage 7 Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: (CDU/CSU) ...... 10474 B – Bericht der Bundesregierung über die Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) ...... 10475 D Ergebnisse ihrer Bemühungen um die Weiterentwicklung der politischen und Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ ökonomischen Gesamtstrategie für die DIE GRÜNEN) ...... 10476 C Balkanstaaten und ganz Südosteuropa für Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 10477 B das Jahr 2003 Angelika Mertens, Parl. – Beschlussempfehlung und Bericht: Staatssekretärin BMVBW ...... 10477 D Grundsätzliche Neuausrichtung der EU- Hilfsmaßnahmen für Südosteuropa Anlage 5 (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 10490 C der Anträge: Karl-Theodor Freiherr von und – Wirtschaftliche und organisatorische zu Guttenberg (CDU/CSU) ...... 10491 D Strukturen der Deutschen Flugsicherung Michael Stübgen (CDU/CSU) ...... 10493 B dauerhaft verbessern Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 10494 A – Erträge der Deutschen Flugsicherung (DFS) durch das QTE-Lease (US-Cross Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 10494 C Border Leasing Transaction) vollständig bei der DFS als Eigenkapital belassen Anlage 8 (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Hans-Günter Bruckmann (SPD) ...... 10478 D der Anträge: Norbert Königshofen (CDU/CSU) ...... 10480 B – Entwicklungspartnerschaften mit der Eduard Oswald (CDU/CSU) ...... 10481 A Wirtschaft weiterentwickeln – gemein- sam Armut bekämpfen Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10482 D – Menschen mit Behinderung in Entwick- lungszusammenarbeit einbeziehen Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 10483 B (Tagesordnungspunkt 21 a und b) Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW ...... 10483 D (Meschede) (SPD) ...... 10495 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 10498 A Anlage 6 Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10499 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlungen und Berichte: Markus Löning (FDP) ...... 10500 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10319

(A) (C) Redetext

114. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir nun in die Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tagesordnung eintreten, möchte ich den beiden Kolle- Sitzung ist eröffnet. gen Bernd Schmidbauer und Hans-Christian Ströbele jeweils zu ihrem 65. Geburtstag sowie der Kollegin Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Verena Wohlleben zu ihrem 60. Geburtstag nachträg- Herren! Ich bitte Sie, sich zu erheben. lich die besten Wünsche des Hauses aussprechen. (Die Anwesenden erheben sich) (Beifall) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Heute vor 51 Jahren protestierten in Ostberlin und in der Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- DDR mutige Männer und Frauen gegen schlechte Ar- führten Punkte zu erweitern: beitsbedingungen, gegen Misswirtschaft und die Erhö- hung der Arbeitsnormen, also gegen eine indirekte Sen- 1 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren (B) kung der Löhne durch die SED-Führung. Doch das Wiederholungstaten durch Anordnung der Unterbrin- (D) waren nur die Anlässe für Massenproteste, die spontan gung in der Sicherungsverwahrung das ganze Land erfassten und nicht mehr und nicht weni- – Drucksache 15/3146 – ger forderten als Demokratie, politische Freiheit, gleiche (siehe 113. Sitzung) Rechte für alle. Schon damals wurde vielen Menschen klar, dass diese politischen Ziele nur unter der Bedin- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) gung der deutschen Einheit zu erreichen sein werden. Innenausschuss Dieser Aufstand hat viele Opfer gekostet: Für die einen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurde jede berufliche Zukunft abgeschnitten, andere 2 Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISESS 90/ mussten jahrelang ins Gefängnis, viele, zu viele bezahl- DIE GRÜNEN: Zurückweisung des Einspruches des Bun- ten mit ihrem Leben für ihre Sehnsucht nach Freiheit, desrates gegen das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Gerechtigkeit und Einheit. Wir gedenken der Opfer des Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversi- cherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) 17. Juni 1953. – Drucksache 15/3307 – Erst seit die deutsche Einheit 36 Jahre später von ei- (siehe 113. Sitzung) ner anderen Generation Ostdeutscher erreicht worden 3 Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ ist, die dieselbe Sehnsucht, dieselben politischen Ziele DIE GRÜNEN: Zurückweisung des Einspruches des Bun- hatten, werden wir den Menschen, die diesen Aufstand desrates gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbe- gewagt haben, wirklich gerecht. Sie waren geistige und werb (UWG) politische Vorgänger und mutige Vorbilder der Bürger- – Drucksache 15/3308 – bewegung des Herbstes von 1989. Sie lehren uns, dass (siehe 113. Sitzung) Freiheit und Demokratie nicht von selbst entstehen, son- 4 Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ dern erkämpft werden müssen, dass Freiheit und Demo- DIE GRÜNEN: Zurückweisung des Einspruches des Bun- kratie die Prinzipien politischer Ordnung sind, die mehr desrates gegen das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbe- schlusses über den Europäischen Haftbefehl und die als alle anderen dem Menschen gemäß sind. Und sie leh- Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der ren uns hoffentlich auch, dass Freiheit und Demokratie Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern immer wie- EuHbG) der neu des Engagements bedürfen, immer wieder neu – Drucksache 15/3309 – gelernt und verteidigt werden müssen. Auch deshalb (siehe 113. Sitzung) wollen wir die Männer und Frauen, die Helden und Op- 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Heinen, Julia fer des 17. Juni 1953 nie vergessen. – Ich danke Ihnen. Klöckner, Peter H. Carstensen (Nordstrand), weiterer 10320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Über-, Fehl- 8 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (C) und Mangelernährung wirksam bekämpfen (Ergänzung zu TOP 33) – Drucksache 15/3310 – a) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschus- Überweisungsvorschlag: ses (6. Ausschuss): Übersicht 7 über die dem Deut- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und schen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Landwirtschaft (f) Bundesverfassungsgericht Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/3334 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiteren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 412/04 Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Reform des Berufsausbildungs- – Drucksache 15/3341 – rechts Berichterstattung: – Drucksache 15/3325 – Andreas Schmidt (Mülheim) Überweisungsvorschlag: 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich Ausschuss für Bildung, Forschung und Austermann, Steffen Kampeter, Bernhard Kaster, weiterer Technikfolgenabschätzung (f) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ausweitung Innenausschuss der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung in Zeiten Rechtsausschuss knapper Kassen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/3311 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: 7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Haushaltsausschuss (f) Rechtsausschuss (Ergänzung zu TOP 32) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Landwirtschaft ten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Sozialgerichtsgesetzes (7. SGGÄndG) 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner (Ingol- – Drucksache 15/3169 – stadt), Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Ab- Überweisungsvorschlag: geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), Thilo Hoppe, Rechtsausschuss weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- (Federführung strittig) SES 90/DIE GRÜNEN: Zum Gedenken an die Opfer des Innenausschuss Kolonialkrieges im damaligen Deutsch-Südwestafrika b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des – Drucksache 15/3329 – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Melde- 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des (D) (B) rechtsrahmengesetzes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Förderung von Regio- – Drucksache 15/3305 – nal- und Minderheitensprachen in Deutschland Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/3328 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Innenausschuss (f) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Ausschuss für Bildung, Forschung und wurfs eines Gesetzes zum Abbau von Statistiken (Sta- Technikfolgenabschätzung tistikabbaugesetz) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 15/3306 – Ausschuss für Kultur und Medien Überweisungsvorschlag: 12 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bun- Innenausschuss (f) desbericht Forschung 2004 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/3300 – Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Überweisungsvorschlag: d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ent- Ausschuss für Bildung, Forschung und wurfs eines Gesetzes zum Abbau von Statistiken Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/2416 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Innenausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Wright, Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Innovationsstrate- Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter gie für Deutschland – Wissenschaft und Wirtschaft stär- und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten ken Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, Albert Schmidt (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der – Drucksache 15/3332 – Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mehr Überweisungsvorschlag: Sicherheit für Radfahrer – insbesondere Schutz vor Ausschuss für Bildung, Forschung und Unfällen mit LKW im Stadtverkehr Technikfolgenabschätzung (f) – Drucksache 15/3330 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Landwirtschaft Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10321

Präsident Wolfgang Thierse (A) 14 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung 16 Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (C) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenord- lung von Luftsicherheitsaufgaben nung – Drucksache 15/2361 – – Drucksache 15/904 – (Erste Beratung 89. Sitzung) (Erste Beratung 63. Sitzung) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble, Hartmut (7. Ausschuss) Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der – Drucksache 15/3339 – CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 35 und 87 a) Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Grasedieck – Drucksache 15/2649 – (Erste Beratung 100. Sitzung) Dr. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses 17 – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der (4. Ausschuss) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- – Drucksache 15/3338 – brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital Berichterstattung: Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach) – Drucksache 15/3189 – (Erste Beratung 111. Sitzung) Silke Stokar von Neuforn Ernst Burgbacher – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Wagniskapitalgesellschaften Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- geordneten Clemens Binninger, Wolfgang Bosbach, – Drucksache 15/1405 – Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Erste Beratung 73. Sitzung) tion der CDU/CSU: Mehr Sicherheit im Luftverkehr Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses – Drucksachen 15/747, 15/3338 – (7. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 15/3336 – Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach) Berichterstattung: Clemens Binninger Abgeordnete Stephan Hilsberg Silke Stokar von Neuforn Georg Fahrenschon Ernst Burgbacher (B) 15 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit (D) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung erforderlich, abgewichen werden. der nachträglichen Sicherungsverwahrung Ferner sollen die Tagesordnungspunkte 12 a und b – Drucksachen 15/2887, 15/2945 – – Gesamtstrategie für Südosteuropa – heute erst nach (Erste Beratung 105. Sitzung) Tagesordnungspunkt 20 sowie der Tagesordnungs- – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten punkt 26 – Güterkraftverkehrsgesetz – am Freitag als Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut letzter Tagesordnungspunkt beraten werden. Der Tages- Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der ordnungspunkt 28 – Futtermittelgesetz – soll ohne De- CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum batte behandelt werden. Des Weiteren soll Tagesord- Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederho- nungspunkt 24 – Bundesanstalt für Immobilienaufga- lungstaten durch nachträgliche Anordnung der Un- terbringung in der Sicherungsverwahrung ben – abgesetzt werden. – Drucksache 15/2576 – Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überwei- (Erste Beratung 100. Sitzung) sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einge- Der in der 112. Sitzung des Deutschen Bundestages brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Be- überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem völkerung vor schweren Wiederholungstaten durch Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsver- wahrung zur Mitberatung überwiesen werden. – Drucksache 15/3146 – Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. , Ulrich Heinrich, weiterer Ab- (Erste Beratung 113. Sitzung) geordneter und der Fraktion der FDP: Für einen Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses Helsinki-Prozess für den Nahen und Mittleren (6. Ausschuss) Osten – Drucksache 15/3346 – – Drucksache 15/3207 – Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm überwiesen: Joachim Stünker Auswärtiger Ausschuss (f) Dr. Jürgen Gehb Dr. Norbert Röttgen Sind Sie mit den genannten Vereinbarungen einver- standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- Jörg van Essen schlossen. 10322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatz- WHO spricht von einer Epidemie, wohl wissend, dass es (C) punkt 5 auf: sich hierbei nicht um etwas Ansteckendes handelt. Sie sagt, dass sich unser Lebensstil so verändert hat, dass 3 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung sich Übergewicht und Fettleibigkeit wie eine Epidemie Eine neue Ernährungsbewegung für Deutsch- auf der Welt ausbreiten. Wir alle wissen natürlich, dass land das nur der eine Teil des Problems ist. Der andere Teil lautet, dass weltweit circa 840 Millionen Menschen an ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Unterernährung leiden. Heinen, Julia Klöckner, Peter H. Carstensen (Nordstrand), weiterer Abgeordneter und der Schauen wir uns die USA an, die uns an dieser Stelle Fraktion der CDU/CSU einen leichten Wink geben, wohin die Entwicklung noch gehen kann. In den USA betragen die Behandlungskos- Über-, Fehl- und Mangelernährung wirksam ten für übergewichtige und fettleibige Menschen jährlich bekämpfen rund 117 Milliarden US-Dollar. Es wird davon ausge- – Drucksache 15/3310 – gangen, dass Fettleibigkeit und Bewegungsmangel Überweisungsvorschlag: schon 2005 das Rauchen als Todesursache Nummer eins Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und in den Statistiken der USA überholen wird. Landwirtschaft (f) Sportausschuss In Westeuropa sterben jährlich schätzungsweise Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 200 000 Menschen an den Folgen von Fettleibigkeit. Die Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Zahlen für Deutschland sind ebenso alarmierend. Die Zu der Regierungserklärung liegen ein Entschließungs- neuesten Erhebungen des Robert-Koch-Instituts besa- antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ gen, dass zwei Drittel der männlichen Bevölkerung und Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion gut die Hälfte der weiblichen Bevölkerung leicht bis der FDP vor. stark übergewichtig sind. Mindestens ein Drittel der ge- samten Gesundheitskosten werden durch Krankheiten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für verursacht, die durch Fehlernährung, Bewegungsmangel die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- und erhebliches Übergewicht beeinflusst werden. Das rung eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen muss man sich vor Augen halten: mindestens ein Drittel Widerspruch. Dann ist so beschlossen. der gesamten Gesundheitskosten. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Wenn wir das nicht ändern, werden wir die Kosten die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung des Gesundheitssystems nicht im Rahmen halten kön- (B) und Landwirtschaft, Renate Künast. nen. Bei ungebremstem Trend rechnen Experten damit, (D) dass in 40 Jahren jeder zweite Erwachsene adipös, also Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- fettleibig, ist. Das ist nicht zu finanzieren, ganz zu schutz, Ernährung und Landwirtschaft: schweigen von vielen anderen Fragen. Untersuchungen Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord- aus den USA zeigen: Die Kosten für Arbeitsausfälle auf- nete! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir ge- grund ernährungsmitbedingter Krankheiten werden für ben in unserem Gesundheitssystem jährlich weit über Unternehmen zu einem ernst zu nehmenden negativen 71 Milliarden Euro an Folgekosten für ernährungsmit- Wirtschaftsfaktor. bedingte Erkrankungen aus; so lauten die letzten Be- rechnungen. 71 Milliarden Euro pro Jahr – ich glaube, Mit diesem Problem muss sich dieses Haus beschäfti- das ist eine Zahl, die uns beeindruckt. gen, auch wenn nicht alle zuhören. Es gibt noch andere Fakten, die einen beeindrucken (Zuruf von der CDU/CSU) können. Eine britische Studie besagt zum Beispiel, dass – Jetzt habe ich gemerkt, dass doch jemand zuhört. Ich die heutige junge Generation die erste Generation sein wollte nur wissen, ob dieses Problem auch in der CDU wird, die vor ihren Eltern stirbt. Ein dreijähriges Mäd- erkannt wurde und jemanden interessiert. chen erlag einem Herzinfarkt infolge von Übergewicht. Mit ihren drei Jahren wog sie 38 Kilogramm. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Julia Wenn wir uns die Schuleingangsuntersuchungen an- Klöckner [CDU/CSU]: Wir können beides! – schauen, erkennen wir: Übergewicht und seine Folgen Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Bundesregie- sind ständig wachsende Probleme. Das sagen auch im- rung hat Abgeordnete nicht zu maßregeln! mer mehr Ärzte und Ärztinnen, die in diesem Bereich tä- Merken Sie sich das!) tig sind. Wir haben es an dieser Stelle tatsächlich mit einem er- – Nein, Herr Kauder, das würde ich nie wagen. nährungs- und gesundheitspolitischen Problem mit dra- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben ja matischen Auswirkungen zu tun. Die Weltgesundheits- noch 20 Minuten Zeit, sich zu steigern!) organisation schätzt, dass weltweit rund 1 Milliarde Menschen übergewichtig ist. Das ist ein Sechstel der Es geht hier auch um schweres individuelles Leid. Weltbevölkerung. Davon leiden mindestens 300 Millio- Nach Aussagen von Kinder- und Jugendärzten hat sich nen Menschen unter Fettleibigkeit, Adipositas. Die – das wurde bei Schuleingangsuntersuchungen festge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10323

Bundesministerin Renate Künast (A) stellt – die Zahl der Übergewichtigen in den letzten zehn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Jahren verdreifacht. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist aber Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Zahl langweilig!) der übergewichtigen Kinder bei Migrantenfamilien teilweise doppelt so hoch ist. Das heißt, wir haben es im – Wir wissen schon aus der Debatte über den demogra- Augenblick mit einem besonderen Integrationsproblem phischen Wandel, dass manche manches, was klar auf zu tun. dem Tisch liegt, lange Zeit langweilig fanden. Das hin- dert die Bundesregierung aber nicht daran, Wir wissen, dass Startchancen für alle eine Frage der Gerechtigkeit sind. So vielfältig die Ursachen für Über- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie ist besonders gewicht sind, so vielfältig müssen auch die Gegenstrate- langweilig!) gien gestaltet werden. Hier sind alle gefragt: die Eltern, die Schule, die öffentliche Hand, Unternehmer und die auf dieses Problem hinzuweisen und an einer Lösung zu Betroffenen. Wir müssen uns fragen: Was hat die Kinder arbeiten. aus dem Gleichgewicht gebracht? Wie können wir Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rechtigkeit herstellen? und bei der SPD) Es gibt vielfältige Ebenen. Eine Ebene sind die ent- Stellen Sie sich das vor: Bei den Schuleingangsunter- sprechenden Daten. Wir haben in diesem Jahr eine neue suchungen hat sich herausgestellt, dass sich die Zahl der nationale Verzehrserhebung begonnen. Sie soll Grund- übergewichtigen Kinder verdreifacht hat. Jedes fünfte lage für eine regelmäßige Ernährungsberichterstattung Kind und jeder dritte Jugendliche ist übergewichtig. sein. Das Robert-Koch-Institut führt zurzeit einen Kin- Man muss mittlerweile feststellen, dass zwischen 7 und der- und Jugend-Survey durch, der auch Auskunft über 8 Prozent der Kinder und Jugendlichen so übergewichtig das Ernährungs- und Bewegungsverhalten geben soll, sind, dass es das Stadium der Krankheit erreicht hat und damit wir die notwendigen Daten erhalten. Diese Daten von Kinderärzten als krankhaft bezeichnet wird. Mit die- werden wir später verwenden können, um zu diskutie- sem Punkt müssen wir uns befassen. ren: Wie sehen die Lebensmittel von morgen aus? Wie sollen verarbeitete Lebensmittel entwickelt werden, da- Verbunden sind damit schon bei Kindern und Jugend- mit sie unserem Lebensstil angepasst werden? Dieser lichen Bluthochdruck, koronare Herzerkrankungen, or- sieht so aus, dass immer weniger Energie verbraucht thopädische Erkrankungen und eine rasante Zunahme wird, während die Lebensmittel immer mehr Energie lie- von Diabetes Typ II. Wir alle wissen, was das für diese fern. (B) (D) Kinder heißt. Es bedeutet, dass das, was wir umgangs- Wir wissen: Wir müssen bei der Werbung ansetzen. sprachlich Altersdiabetes nennen, inzwischen immer Gerade so genannte Kinderlebensmittel – in Wahrheit mehr junge Menschen betrifft. Das Leben gerät im sind es Süßigkeiten – enthalten zu viel Fett und zu viel wahrsten Sinne des Wortes aus der Balance, so wie es Zucker. Hier ist die Verantwortung der Wirtschaft ge- umgekehrt bei Ess-Brech-Sucht und Magersucht aus der fragt, mit modernen Lebensmitteln den veränderten Le- Balance gerät. Die Ursachen können biologischer, sozia- bensstilen gerecht zu werden. Wir brauchen strengere ler, psychologischer und kultureller Herkunft sein. Sie Regeln für die Lebensmittelwerbung und die Lebensmit- alle – aber insbesondere der Lebensstil – spielen eine telkennzeichnung, das heißt Regeln für die nährwert- Rolle. Es geht um die Situation im privaten und – wie in und gesundheitsbezogenen Angaben über Lebensmittel. der Schule – im öffentlichen Raum. Das werden wir in Brüssel weiter unterstützen. Immer mehr Kinder, die in die Schule kommen, ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben auch aufgrund von Übergewicht motorische Defizite und bei der SPD) und Koordinationsstörungen. Das ist ein Hinweis auf re- duzierte Entwicklungschancen. Darüber hinaus laufen In Bezug auf die Gerechtigkeit ist eines selbstver- diese Kinder Gefahr, ausgegrenzt zu werden. ständlich: Wir müssen eine Strategie entwickeln, die auf sämtliche Lebensbereiche der Kinder zielt und ihnen Wir sagen: Gesunde Ernährung und Gesundheit sind Startchancen gibt. Wir brauchen selbstverständlich einen im Leben ein wichtiges Startkapital, unabhängig vom internationalen Rahmen. Im Mai dieses Jahres haben die Geldbeutel der Eltern. Sie sind auch eine wichtige Vo- Mitgliedstaaten der WHO den Aktionsplan „Globale raussetzung dafür, dass jedes Kind seine Möglichkeiten Strategie zur Ernährung, körperlichen Aktivität und Ge- und Chancen für Ausbildung und seinen weiteren Le- sundheit“ verabschiedet. Unsere Maßnahmen entspre- bensweg nutzen kann. chen längst dieser globalen Strategie und werden es auch in Zukunft tun. Wir müssen auf einen Zusammenhang hinweisen, der definitiv inakzeptabel ist, weshalb das Thema auch nicht Wir wissen: Prävention ist immer die beste Alterna- lustig ist oder an den Rand gedrängt werden darf: Es gibt tive und das Gebot der Stunde. Wir wissen: Der Lebens- einen evidenten Zusammenhang zwischen Armut, Her- stil und unsere Kultur haben sich verändert. Fernsehen kunft, Bildung und Übergewicht. Auf diese Fakten müs- und Computer dominieren die Freizeit unserer Kinder. sen wir unser Augenmerk richten, weil es nicht sein darf, Wir wissen: Wenn heute Kinder im öffentlichen Raum dass in Zukunft die Herkunft das Gewicht und damit die spielen, spielen sie nicht einfach draußen, sondern sie Chancen dieser Kinder bestimmt. befinden sich im Kindergarten, im Hort oder in der 10324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Bundesministerin Renate Künast (A) Schule. Deshalb müssen Ernährung und Bewegung ein richt die Reihe derer, die auf der Bank sitzen und nicht (C) Bestandteil dessen sein, was dort angeboten wird. Wir mitmachen, immer größer wird – das ist kein individuel- wissen: Fundiertes Wissen über Nahrung, Gesundheit les Problem –, das müssen Sie noch stärker berücksichti- und Ernährung muss zukünftig zum bildungspolitischen gen. Standard gehören. Dieses Wissen muss gesellschaftliche (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir können Kernkompetenz sein, die entwickelt und gepflegt wer- hingucken, wo die meisten herkommen! Gu- den muss. Die Kinder sollen nicht nur Rechnen, Schrei- cken wir nach Berlin!) ben und Lesen lernen, – Ich weiß, woher das kommt. Familien mit Migrations- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr einver- hintergrund haben es an dieser Stelle besonders schwer. standen, Frau Künast!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha!) sondern auch wissen, wie sie ihr eigenes körperliches Wohlbefinden organisieren. Das hat auch etwas mit der Integration im Zusammen- hang mit der Zuwanderung zu tun. Diese Menschen erle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben einen doppelten Kulturwandel, der darin besteht, und bei der SPD sowie des Abg. Hans-Michael dass sie sich gleichzeitig in der deutschen Kultur und in Goldmann [FDP]) der insgesamt veränderten Lebenswelt zurechtfinden Deshalb – Fachleute nennen das Setting-Ansätze – muss müssen. Das heißt auch, dass nicht nur die Schulen, son- bei der Ernährungsbildung tatsächlich alles einbezogen dern auch Sportverbände und andere Einrichtungen werden: die sonstige Lebenswelt der Kinder, die Eltern Konzepte entwickeln müssen, wie man diese Menschen und die gesamten Einrichtungen. hier integriert und wie man dieses Problem angeht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kernkompetenz Wir wissen alle, dass das auch etwas mit Landwirt- erwirbt man nicht mit Verordnungen!) schaft zu tun hat. Wir müssen wieder vermitteln, dass die gesündesten und besten Lebensmittel mit der besten Wir wissen: Der Umgang mit Lebensmitteln, die Zube- Energiebilanz, die ideal zu unserem Leben passen, un- reitung und gemeinsames Essen sind eine elementare verarbeitet sind und direkt vom Lande kommen. Kulturtechnik und ein gesellschaftlicher Wert. Dazu ge- hört, dass den Kindern die Beziehung zu den Lebensmit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teln vermittelt wird, dass sie erfahren, wie Pflanzen und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann wachsen, welche Bedeutung Lebensmittel für das kör- [FDP]: Sehr richtig! Jetzt meinen Sie Rind- perliche Wohlbefinden haben und wie man das Wohl- fleisch?) befinden erreicht. (B) – Nein, jetzt meine ich, wie man auf Neudeutsch sagt: (D) Ich begrüße sehr, um es positiv zu formulieren, dass „An apple per day keeps the doctor away.“ – Die Beson- die Kultus- und Jugendministerkonferenzen jetzt ange- derheiten der Landwirtschaft und unserer Landschaften fangen haben, sich mit dem Thema Bewegung und Er- können und müssen von Kindern konkret erfahren wer- nährung zu beschäftigen. den. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Schon Wir haben als Bundesregierung in den letzten Jahren lange!) viele Maßnahmen ergriffen, bei denen klar ist, dass wir sie weiter verfestigen, fortführen und ausbauen werden. Ich muss aber feststellen, dass das für sie noch ein langer Wir haben die Kampagne „Kinderleicht! – Besser Essen! Weg ist. Mehr bewegen!“ zur Ernährungsaufklärung und für (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber, aber!) mehr Bewegung initiiert. Im Rahmen dieser Kampagne haben wir – weil die Länder gesagt haben, sie hätten – Sie sagen: „Aber, aber!“ kein Geld und seien noch nicht so weit – 200 Fortbil- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich war dungsveranstaltungen für Erzieherinnen und Erzieher er- schon vor 20 Jahren auf solchen Konferen- möglicht, um diesen für ihre Erziehungsaufgaben das zen!) Basiswissen zu vermitteln, das in der Erziehung sonst nicht mehr weitergegeben wird. – Schauen Sie sich die aktuellen Papiere dazu an! (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr gut!) nicht Ihr Ernst!) Sie sagen, wir könnten uns diesem Thema nicht verwei- – Es ist so. Alle diese Kurse waren ausgebucht. gern; aber Sie tippen es immer in einem Halbsatz an. Wir haben den Beratungsservice „Fit Kid“ für bessere (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt Ernährungsangebote in Kitas und den Deutschen Prä- nicht!) ventionspreis für vorbildhafte Projekte der Prävention Sie machen sich viele Gedanken über die Frage, wie und Gesundheitsförderung eingeführt, an denen sich man denn Schulen finanziert und wie das Essen in die- auch wichtige Stiftungen beteiligen. In diesem Jahr wer- sem Zusammenhang zu integrieren ist. Dass es aber eine den unter dem Stichwort Prävention Maßnahmen zum Frage der Gerechtigkeit ist, wenn in manchen Altersjahr- Thema Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung gängen ein Viertel der Kinder übergewichtig ist – was prämiert, die sich speziell an Kinder und Jugendliche viele Folgeprobleme verursacht – und im Sportunter- richten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10325

Bundesministerin Renate Künast (A) Wir haben darüber hinaus mit dem Thema Gemein- Alter – Gesund essen, besser leben“ begonnen, bei der (C) schaftsverpflegung noch einen weiteren Ansatz ver- sich die Bundesregierung gezielt an die älteren Mitbür- folgt. Denn die Gemeinschaftsverpflegung nimmt zu gerinnen und Mitbürger wendet und bei der wir die ent- und sie löst bei manchen Kindern und Erwachsenen das sprechenden Verbände mit einbeziehen, die ihrerseits Problem erst aus. Deshalb beziehen wir in das 4-Milliar- Handlungsbedarf festgestellt haben. den-Euro-Programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“, Wir haben mit der finanziellen Unterstützung von mit dem das Angebot an Ganztagsschulen in der Bun- Qualitätsstandards zur Ernährung und Flüssigkeitsver- desrepublik erhöht werden soll, auch die Gemeinschafts- sorgung älterer Menschen auch den nötigen wissen- verpflegung mit ein, zum Beispiel wenn es darum geht, schaftlichen Hintergrund entwickelt, um allen ambulan- die entsprechenden Küchen zu bauen. ten und stationären Institutionen zu Hilfe zu kommen. Das ist aber noch nicht alles. Wir haben einen Anfang Ich habe jetzt viel darüber geredet, was wir begonnen gemacht und verfolgen es wegen der riesigen Nachfrage haben. Aber klar ist, dass Prävention gerade in diesem auch weiter – wir haben es bereits im Haushalt Bereich definitiv nicht allein vom Staat getragen werden verankert –, indem wir allen Schulen, die bereits einen kann. Sie muss vielmehr von der Gesellschaft gewollt Ganztagsbetrieb anbieten oder eine Ganztagsschule wer- und gelebt werden. Die Gesellschaft muss verstehen den wollen, einen kostenlosen Beratungsservice über die – ich erinnere daran –, dass sich seit den 80er-Jahren der Deutsche Gesellschaft für Ernährung anbieten, damit sie Lebensstil und das Lebensmittelangebot so verändert ha- selbst das Thema Ernährung aufbereiten, sich entspre- ben, dass uns im Jahr – mit steigender Tendenz – chend ausrüsten und lernen können, wie das Angebot ge- 70 Milliarden Euro an Gesundheitskosten aufgebürdet staltet werden kann. Unser Angebot wird auch angenom- werden. Wenn wir wollen, dass es eine Veränderung der men, weil das Problem an Schulen allgemein bekannt ist. Lebensgewohnheiten gibt, dann müssen wir bedenken, Das „Deutsche Forum Prävention und Gesund- dass das nicht von heute auf morgen zu erreichen ist. heitsförderung“ erarbeitet zurzeit sogar Empfehlungen Das ist vielmehr ein Prozess, der von vielen Schultern für gesundheitsförderliche Ganztagsschulen. Dieser An- getragen werden muss. Dazu brauchen wir ein breites satz umfasst weit mehr als das Thema Ernährung. Wir gesellschaftliches Bündnis mit dem ganzen Sachver- arbeiten an den notwendigen wissenschaftlichen Grund- stand, den wir in diesem Land haben. lagen. Die Bundesregierung finanziert mit dem Modell- Wir haben alle gesellschaftlichen Akteure zusammen- vorhaben „Reform der Ernährungs- und Verbraucherbil- geholt und bauen eine Plattform „Ernährung und Be- dung in Schulen“ die Erarbeitung solcher Konzepte. Wir wegung“. Ich hoffe, dass wir Ende dieses Monats mit finanzieren im Rahmen sozialökologischer Forschung den entsprechenden Akteuren diese Gründung tatsäch- (B) die Entwicklung von Strategien, die die subjektiven Fak- lich vorstellen werden. Wir haben die Verbände der Le- (D) toren einbeziehen, und wir haben einen weiteren Fokus, bensmittelwirtschaft sowie die Vertretung der Eltern, des und zwar die außerschulische Jugendbildung, in der wir Sports, der Kinderheilkunde bis hin zu den Gewerk- zahlreiche Projekte – zum Beispiel von sportorientierten schaften einbezogen. Auch Krankenkassen haben ihr In- Jugendverbänden – unterstützen. Wie Sie alle wissen, teresse bekundet. Wir wollen mit mehreren Ressorts und haben die wirklich dicken Kinder das Problem, dass es selbstverständlich unter Einbeziehung der Länder hier für sie bisher kaum ein Angebot gibt. Wir brauchen in ein breites Bündnis hinbekommen, um dafür Sorge zu der Bundesrepublik ein flächendeckendes Angebot, das tragen, dass das, was getan werden muss, nicht hier und Sport, Soziales und Freizeit für diese Kinder miteinander da, also in einzelnen Sektoren passiert, sondern dass es verbindet, um sie in entsprechenden Gruppen in der Be- flächendeckende Angebote gibt. In guten Kindergärten wältigung ihres Problems zu unterstützen. und Schulen sollte es zum Standard gehören, Vorgaben Ich möchte beim Thema Ernährung eine Zielgruppe für gute Ernährung und Bildung zu entwickeln. Hier soll ansprechen, die eine besondere Rolle spielt und sozusa- aber niemand etwas doppelt oder dreifach machen. Wir gen am anderen Ende des Lebens steht. Dabei handelt es wollen das Wissen zusammenpacken und wollen, dass sich um die Seniorinnen und Senioren. Gesundheit ist dieses Thema für die Kinder – bis hin zur Freizeitgestal- auch für sie ein zentrales Gut, um diese Phase ihres Le- tung – adäquat aufbereitet wird, damit sich ein anderer bens wohlverdient genießen zu können. Viele ältere Ernährungsstil entwickeln kann. Menschen ernähren sich bekanntlich zu einseitig; sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trinken zu wenig und sie bewegen sich zu wenig. Das ist und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann ein Problem, das – wenn sie sich nicht mehr selbst er- [FDP]: Sehr gut! Können wir auch Mitglied nähren können – bei der Gemeinschaftsverpflegung in werden?) Heimen und Krankenhäusern auftritt. – Wenn Sie möchten, dürfen auch Sie. Wir wissen, dass zur Erhaltung der körperlichen und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Okay, dann geistigen Fitness im Alter eine angepasste Ernährungs- gebe ich Ihnen gleich meine Beitrittserklä- weise unabdingbar ist, weil sich die Bedürfnisse des rung!) Körpers massiv wandeln. Wie gravierend diese Folgen sein können, wurde während der letzten Hitzeperiode Wir wissen – ich hoffe, dass ich das hinreichend dar- deutlich, als viele ältere Menschen mit folgenschweren gestellt habe –: Gute Ernährung entscheidet über die Kreislaufbeschwerden in Krankenhäuser eingeliefert Chancen eines Kindes und eines Jugendlichen im weite- wurden. Deshalb haben wir die Kampagne „Fit im ren Leben. Wir sehen heute, dass gerade Kinder aus 10326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Bundesministerin Renate Künast (A) sozial schwächeren Familien und Migrantenkinder hier vor den Folgen überhöhter Geschwindigkeit warnen. (C) größte Probleme haben. Deshalb ist klar: Gute Ernäh- Wir können Hinweise auf Zigarettenpackungen drucken. rung ist eine der zentralen Fragen der Gerechtigkeit. Wir Wir können Angaben über Fette, Salze und Kohlen- dürfen nicht zulassen, dass es einen negativen Zusam- hydrate auf Lebensmittelverpackungen drucken. Aber menhang zwischen Armut, Herkunft, Bildung und Über- der Staat oder das Parlament können dem Einzelnen gewicht gibt; denn sonst haben viele jungen Menschen ebenso wenig das Rauchen abgewöhnen wie ihn zur Diät schlechtere Chancen. zwingen. Wir können lediglich Hilfestellung geben. In diesem Sinne begrüßen und unterstützen wir Ihre Initia- Deshalb kann ich nur alle auffordern – einige haben ja tive. Aber wir dürfen den Menschen nicht vorgaukeln, schon danach gefragt –, an dieser Ernährungsbewegung wir nähmen ihnen den Entzug beim Rauchen oder die für Deutschland mitzuarbeiten. Ich glaube, wenn alle Hungergefühle beim Diäten ab. mitmachen, dann können wir sagen: Hiermit legen wir gemeinsam das Fundament für die Zukunft der nächsten (Beifall bei der CDU/CSU) Generation. Dass Sie die gesamte Lebensmittelwirtschaft in einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Plattform zusammengebunden haben, ist eine gute Leis- und bei der SPD) tung und wir begrüßen insbesondere das Engagement der Unternehmen. Schade ist nur, dass Sie zunächst mit Präsident Wolfgang Thierse: einer Zwangsabgabe gedroht und diese in Ihre Überle- Ich erteile das Wort Kollegin Ursula Heinen, CDU/ gungen einbezogen hatten. Davon sollten Sie auch bei CSU-Fraktion. zukünftigen Gesprächen und Verhandlungen Abstand nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ursula Heinen (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Gerade weil das Thema einer gesunden, ausgewoge- nen und Kollegen! Frau Ministerin, es ist unzweifelhaft: nen Ernährung und Lebensführung wichtig ist, gibt es ei- Ausgewogene Ernährung und Bewegung sind wichtige nige Fragen, die wir hier besprechen müssen. Themen. Die Zahlen sind bereits genannt worden: Jeder (Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE dritte Jugendliche und jedes fünfte Kind sind überge- GRÜNEN] bespricht sich mit Bundesministe- wichtig. Parallel dazu – das ist bei Ihnen leider etwas zu rin Renate Künast – Volker Kauder [CDU/ kurz gekommen – nimmt auch die Zahl der mangel- und CSU]: Sie scheint es auch nicht zu interessie- der unterernährten Kinder oft aufgrund falscher Schön- (B) ren! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Frau (D) heitsideale zu. Deshalb muss das Thema „Ernährung Ministerin! – Gegenruf des Abg. Michael und gesunde Lebensführung“ in der Tat aufgegriffen Müller [Düsseldorf] [SPD]: Zensor!) werden. Insofern haben Sie uns voll an Ihrer Seite und wir unterstützen Sie. Erstens. Die Zahlen und Fakten zum Problem der Über- und Fehlernährung sind seit einem Jahr der Welches ist aber der richtige Weg? Öffentlichkeit bekannt. Die Warnungen der WHO sind (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann ebenfalls seit einiger Zeit bekannt. Im letzten Sommer [FDP]) haben Sie einen entsprechenden Kongress veranstaltet, aber erst heute kommen Sie mit dieser Initiative ins Par- Wo ist der richtige Ort für eine solche Debatte? Wann ist lament. Ich hoffe nur, dass Sie das nicht tun, weil das ein der richtige Zeitpunkt für eine solche Debatte? – Sie ha- angenehmes, nettes, Sympathie schaffendes Thema ist, ben uns heute keinen Gesetzentwurf präsentiert. Wir dis- das von den unangenehmen Themen Ihrer Koalition ab- kutieren auch nicht über ein herausragendes politisches lenkt. Ereignis, und das, obwohl Regierungserklärungen ei- gentlich eine bedeutende verfassungspolitische Verbind- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lichkeit zukommen sollte. neten der FDP – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU) Zweitens. Wir alle wissen, dass sich gesunde Ernäh- Wir befürworten zwar Ihre Initiative. Aber wir möch- rung nicht gesetzlich und schon gar nicht über den Bund ten, dass sie in einem vernünftigen Verhältnis zu anderen regeln lässt. Aber das Wenige, was der Bund tun kann, Themen steht, dass auch über andere bedeutende The- muss er auch tun. Dazu gehört beispielsweise, die men in angemessener Länge diskutiert werden kann. Zuständigkeiten zu bündeln und zu koordinieren. Auch (Beifall bei der CDU/CSU) hier stellt sich die Frage: Warum haben Sie das Initiativ- recht, das Sie seit dieser Legislaturperiode besitzen, Wir möchten vor allem, dass Sie die Rolle, die der Staat nicht schon längst eingesetzt? beim Thema Ernährung einnehmen kann, ehrlich be- schreiben. Wer Übergewicht hat, trägt auch selbst Ver- Aus unserer Kleinen Anfrage zum Übergewicht bei antwortung. Wenn ich zu dick bin, ist das meine Schuld Kindern und Jugendlichen, die meine Kollegin Julia und nicht Ihre. Wenn ein Autofahrer zu schnell fährt, Klöckner initiiert hat, geht eindeutig hervor: Das Ver- trägt er selbst die Verantwortung. Wer raucht, trägt selbst braucherschutz- sowie das Gesundheitsministerium, das die Verantwortung. Wir können Schilder aufstellen und Bundesministerium für Bildung und Forschung und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10327

Ursula Heinen (A) selbst das Bundesumweltministerium legen Programme der Rechnungshof – das vorhandene Engagement der (C) zur Ernährungsaufklärung und Forschungsprogramme Bundesländer. zu diesem Thema auf. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Unkoordiniert!) jetzt die neue Masche!) Sowohl das Gesundheits- als auch das Verbraucher- Was ist also zu tun? Wir brauchen eine einheitliche schutzministerium haben jeweils Millionenbeträge für Strategie zur Bekämpfung der Über- und Fehlernäh- Aufklärungsmaßnahmen zur Ernährung vorgesehen. Das rung. Dazu zählt, wie Sie bereits gesagt haben, die ist doch ein klarer Hinweis auf Doppelstrukturen. Also Durchführung einer nationalen Verzehrstudie, die Auf- beantworten Sie uns die Frage: Wer macht denn nun ei- schluss über Ernährungsgewohnheiten gibt. Aber achten gentlich was? Sie auch darauf, dass diese Studie, die immerhin 2,3 Millionen Euro kostet, wissenschaftlich transparent (Beifall bei der CDU/CSU) ist und wissenschaftlich begleitet wird. Deshalb erwarten wir: Benennen Sie in der Bundesre- Wir müssen darüber hinaus die Prävention in den Vor- gierung trotz des Querschnittscharakters des Themas ein dergrund der Strategie stellen. Dazu gehören in der Tat eindeutig federführendes Ministerium! Nehmen Sie eine die Bereitstellung von Material zur Ernährungsaufklä- klare Aufgabenteilung zwischen den Ministerien vor und rung für Schulen und Ärzte, die Förderung von Ernäh- gewährleisten Sie, dass diese Aufgabenteilung auch tat- rungsberatung durch Kinderärzte usw. Aber auch hier ist sächlich durchgehalten wird! Doppelarbeiten kosten nur auf die wissenschaftliche Begleitung zu achten. Bei der Geld, Kampagne „Kinder leicht“, die Sie vorhin erwähnt ha- ben – dafür geben Sie immerhin ungefähr 1,85 Millionen (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Und Zeit!) Euro aus –, sind alle Beteiligten über die Wirksamkeit und zwar Geld des Steuerzahlers, ohne irgendeinem Be- sehr im Zweifel, weil es eben an wissenschaftlicher Be- troffenen tatsächlich zu nutzen. gleitung dieser Kampagne fehlt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Was in der Debatte bislang völlig zu kurz gekommen ist und was auch Sie falsch dargestellt haben, sind die Das heißt, Sie wissen noch nicht einmal, ob die Broschü- Leistungen der Bundesländer. Nicht erst gestern sind ren und Materialien, die Sie Erziehern in Kindergärten die Kultusminister bzw. die Länder – vielleicht die Kul- an die Hand geben, überhaupt wirken. tusministerkonferenz – darauf gekommen, etwas zu tun. Wir wollen Bewegung und Sport bei Kindern und Ju- (B) (D) Die Länder sind schon sehr, sehr lange an solchen Pro- gendlichen in der Tat fördern. Mit den Ländern sollten grammen beteiligt. Beispielsweise gibt es in Baden- Möglichkeiten der Ausdehnung des Schulsports entwi- Württemberg schon seit 1980 entsprechende Ernäh- ckelt werden. Zudem kann der Bau von Spiel- und rungsprogramme in den Kindergärten, seit 1985 bereits Sportstätten durch Änderung der Vorgaben beim Bau- entsprechende Programme in den Schulen. und Planungsrecht erleichtert werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen (Beifall bei der CDU/CSU) [SPD]: Keiner weiß was davon!) Es gibt also eine ganze Reihe von Möglichkeiten, Thüringen führt seit 1994 ein spezielles Programm für etwas zu tun. Aber ich meine, dass Sie mit allen Betei- Kindertagesstätten durch. Lehrpläne sehen dort Unter- ligten zusammenarbeiten sollten. Eine Plattform ist si- richtseinheiten zur Ernährung vor. cherlich ein richtiger Weg dorthin. Aber Sie dürfen die- ses Thema nicht um der Show willen hier in den (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wunderbar! Bundestag bringen, sondern nur dann, wenn Sie es mit Daraus kann man lernen!) der Ernährung und mit der Bewegung unserer Kinder Alle zuständigen Länderministerien – ich rate Ihnen, und Jugendlichen tatsächlich ernst meinen. zuzuhören – stellen Jahr für Jahr sechsstellige Beträge Recht herzlichen Dank. bereit, Sachsen beispielsweise 430 000 Euro jährlich, um Projekte und Programme durchzuführen. Unterstützt (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. werden diese Bemühungen durch Initiativen der Land- Hans-Michael Goldmann [FDP]) wirtschaftskammern und der Verbraucherzentralen, aber eben auch durch die regionalen Landfrauen- und Landju- Präsident Wolfgang Thierse: gendverbände. Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau! Das Kind braucht halt einen anderen Namen!) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Krasser Das Rad, Frau Künast, müssen wir also wirklich nicht können die Gegensätze nicht sein. Im Westsudan sterben neu erfinden. Ganz im Gegenteil, Sie mischen sich even- Kinder unter den Augen ihrer Mütter und Väter einen tuell massiv in die Kompetenzen der Länder ein und ge- schrecklichen Hungertod. In Schweden wird Eltern das fährden damit unter Umständen – das sagt Ihnen auch Sorgerecht entzogen, weil ihr fünfjähriges Kind mit 10328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Gabriele Hiller-Ohm (A) 43 Kilogramm zu verfetten droht. Bilder von Krankheit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) und Tod durch zu wenig Nahrung begleiten uns seit lan- DIE GRÜNEN) gem in den Medien. Doch jetzt werden auch die gegen- Die Statistik zur Fettleibigkeit in Deutschland zeigt: teiligen Folgen von Fehlernährung immer sichtbarer. Wir brauchen in unserer Gesellschaft dringend konzer- Übergewicht ist zu einem gravierenden weltweiten Ge- tierte Aktionen für mehr Bewegung und eine gesün- sundheitsproblem geworden. dere Ernährung. Wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Jeder Zweite (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des in unserem Land ist inzwischen zu dick. Da die Grundla- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen für Fehlernährung und Übergewicht bereits in der Die Fraktion der SPD begrüßt deshalb ausdrücklich die Kindheit gelegt werden, sind unsere Jüngsten besonders Initiative der Bundesregierung, die wir mit dem von uns hart betroffen; denn aus dicken Kindern werden in der vorliegenden Entschließungsantrag unterstützen. Regel dicke Erwachsene mit allen gesundheitlichen Risi- ken. Diese Risiken sind erheblich. Wenn wir nicht Ich greife drei Punkte aus unserem Entschließungsan- schnellstens gegensteuern, werden uns unsere Kinder trag heraus: immer seltener überleben. Dies ist ein ganz wichtiges Erste Forderung: Alle Verantwortlichen an einen Thema und es muss uns auch hier, im Plenum, interes- Tisch! Eltern, Ärzte, Kindergärten, Schulen, Kranken- sieren. kassen, aber auch die Lebensmittelindustrie und die Werbewirtschaft müssen gemeinsam ihren Beitrag zur Ursachen des Dilemmas sind neben genetischer Ver- Lösung des Problems leisten. Niemand darf sich verwei- anlagung Fehlernährung und mangelnde Bewegung. gern. Nicht nur wir Erwachsene, auch unsere Kinder werden immer träger. Sie toben weniger, schauen zu viel fern (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das bestim- und sitzen zu lange vor ihren Computern. Dieses Verhal- men Sie oder wie?) ten beginnt immer häufiger schon bei den ganz Kleinen. Zweite Forderung: Ressortübergreifende Vernetzung Das bedrückende Fazit eines englischen Wissenschaft- in der Bundesregierung stärken! lers lautet: Unter Dreijährige sind inzwischen genauso inaktiv wie Büroangestellte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Welche Bevölkerungsschichten sind besonders be- troffen? Übergewicht wird mehr und mehr zu einem Pro- Wir brauchen ressortübergreifende Strategien zur Prä- vention ernährungsbedingter Krankheiten. blem der armen Bevölkerungsschichten. Wer wenig (B) Geld hat, spart auch am Essen. Betroffene Familien er- Dritte Forderung: Kitas und Ganztagsschulen mit aus- (D) nähren sich in der Regel nicht ausgewogen. Sie essen zu gewogenen Ernährungsangeboten ausstatten! Die von einseitig und zu fett. Die gesundheitlichen Auswirkun- uns angeschobene Ganztagsschulbewegung wird in un- gen dieses Verhaltens sind den Betroffenen in der Regel serer Gesellschaft zu mehr Chancengleichheit beitragen nicht ausreichend bekannt. Übergewichtsprobleme neh- und soziale Gerechtigkeit fördern. Ein ausgewogenes men in diesen gesellschaftlichen Schichten besonders Ernährungsangebot in Schulen und Kindertagesstätten zu. Betroffen sind vor allem Kinder. Das lässt sich an wird dazu beitragen, der Fehlernährung unserer Kinder Schuleingangsuntersuchungen sehr deutlich aufzeigen. mit all ihren schlimmen Folgen entgegenzuwirken. Die Lebensperspektiven der Kinder aus ärmeren Haus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des halten sind durch die zunehmende Übergewichtsproble- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) matik deutlich eingeschränkt. Krankheiten mit negativen Auswirkungen auf das Berufsleben und sinkende Le- Auch die Oppositionsfraktionen haben Anträge vor- benserwartung sind vorprogrammiert. gelegt. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Selbst Hier müssen wir dringend etwas tun. Das ist nicht nur die!) eine Frage der Gesundheit, sondern auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit, der wir uns nicht entziehen dür- In einigen Punkten sind wir nicht weit auseinander. Na- fen. türlich brauchen wir eine bessere Ernährungserziehung in den Schulen und Kindertagesstätten. Natürlich wollen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch wir die Forschung zur Ernährungsvorsorge intensi- DIE GRÜNEN) vieren. Ganz klar: Das Verantwortungsbewusstsein von Vätern und Müttern muss gestärkt werden. Was können wir tun? Die Weltgesundheitsorganisa- tion, die WHO, hat Ende Mai einen Aktionsplan zur Zu- (Zuruf) rückdrängung des Problems der Fehlernährung verab- – Ja, sicher doch! – Mehr Sportangebote sind notwendig. schiedet. Darin werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Da hören die Übereinstimmungen aber auch schon auf. umfassende Aktionen gegen das Problem des Überge- wichts zu schmieden. Ich freue mich darüber, dass die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- Bundesregierung dieser Initiative so prompt gefolgt ist tion, fordern die Bundesregierung auf, verstärkt auf und Deutschland jetzt zu den ersten Staaten gehört, die Eigeninitiative der Verbraucherinnen und Verbraucher, Wettbewerb und Marktöffnung zu setzen Ernst machen und eine neue Ernährungsbewegung in Gang setzen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10329

Gabriele Hiller-Ohm (A) und – ich zitiere aus dem Entschließungsantrag der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) FDP – „den eingeschlagenen Kurs der einseitigen politi- SES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der schen Steuerung des Konsums zu beenden“. CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt doch gar nicht!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie brau- chen meine Rede nicht vorwegzunehmen!) So, meine Damen und Herren von der Opposition, sieht Ihr Engagement für die Verbraucherinnen und Verbrau- Sie lehnen Eingriffe in das Marktgeschehen und Werbe- cher in Wahrheit aus. Wenn es zum Schwur kommt, einschränkungen kategorisch ab. Der Markt wird es kneifen Sie. schon richten, meinen Sie. Tut er aber nicht, meine Da- men und Herren! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Lachen bei der CDU/CSU) Frau Ministerin Künast setzt in der neuen Ernäh- In Bezug auf die Übergewichtsproblematik gibt es zur- rungsbewegung auf freiwillige Selbstverpflichtung sei- zeit nämlich überhaupt keine Markteinschränkungen. tens der Wirtschaft. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ernährungs- doch überhaupt nicht!) plattform klingt besser!) Wir haben aber das Problem der Fehlernährung. Wir unterstützen dies ganz ausdrücklich. Ich hoffe sehr, An dieser Stelle, meine Damen und Herren von der meine Damen und Herren, dass dieses Konzept aufgehen FDP und der CDU/CSU, kommen Sie uns stets mit dem wird. mündigen Bürger, der selbst entscheiden könne, was für (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Luft- ihn gut sei. nummer!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der hat das Ich bin aber ein wenig skeptisch, denn verantwortliches Vertrauen in Ihre Partei verloren!) Handeln seitens der Lebensmittelindustrie und der Wer- Doch die Kaufentscheidungen der Verbraucherinnen und bewirtschaft hörte bisher sehr oft dann auf, wenn es um Verbraucher sind natürlich auch eng mit der Angebots- den Profit ging. Ich nenne ein Beispiel: Die Hemm- seite und mit der Vermarktung der Produkte verknüpft. schwelle zum Alkoholkonsum bei Kindern und Jugend- lichen wird durch kind- und jugendgerecht aufgemachte Ich greife als Beispiel nur einmal das Thema Kinder- alkoholhaltige Süßgetränke, so genannte Alcopops, (B) lebensmittel heraus. Wir fordern in Bezug auf die deutlich gesenkt. Die Verantwortlichen stört es ganz of- (D) Bewerbung von Kinderlebensmitteln Klarheit und Wahr- fensichtlich nicht, dass Deutschlands Kinder beim Alko- heit. Sie lehnen Werbeeinschränkungen bei Kinder- holmissbrauch schon heute den traurigen vierten Platz in lebensmitteln ab. Europa einnehmen. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Pfui! – Natürlich haben Menschen in unserem Land die freie Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht Wahl, das zu kaufen, was sie wollen, doch wir dürfen da- wahr!) bei den Einfluss der Werbung nicht außer Acht lassen. Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposi- Jeder weiß doch, was von der Werbung zu halten ist, ar- tion: Kennen Sie die neuesten Ergebnisse der Stiftung gumentieren Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Warentest zu Kinderlebensmitteln nicht? Kein einziges Opposition. der getesteten Produkte hält, was es verspricht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Meinen Sie (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich würde das jetzt Ihre Plakate?) Essen verbieten!) Doch der starke Einfluss der Werbung wird inzwischen Was die Werbung hier gerade in Bezug auf unsere Kin- noch nicht einmal mehr von der wirtschaftsnahen Zei- der macht, hat mit einer seriösen, verantwortungsvollen tung „Die Welt“ in Zweifel gezogen. Nach Bekanntwer- Produktinformation nicht im Geringsten etwas zu tun. den der jüngsten WHO-Schätzungen zum Übergewicht schreibt sie von einer Werbemaschinerie, die Kinder- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hirne impft und Kinder unentwegt zum Verzehr eigent- DIE GRÜNEN) lich ungesunder Lebensmittel verleitet. Um die richtigen Kaufentscheidungen fällen zu kön- Wir brauchen eine neue Ernährungsbewegung in nen, müssen die notwendigen Informationen bereitge- Deutschland. Wir brauchen aber auch eine neue Werte- stellt werden. Das ist doch klar. Wir hatten deshalb ein orientierung, die den Menschen und nicht vorrangig die Verbraucherinformationsgesetz vorgelegt. Interessen der Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt. Kom- men wir unserer Verantwortung nach. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben wir auch!) Danke schön. Sie torpedieren es, weil es Unternehmen finanziell zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sehr belasten könnte. DIE GRÜNEN) 10330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Zwangsabgabe, Werbeverbote, Diskriminierung – ich (C) Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Michael hatte heute Morgen das unendliche Vergnügen, im Fern- Goldmann, FDP-Fraktion. sehen neben Frau Höfken zu stehen, als sie wieder die deutsche Lebensmittelwirtschaft attackiert hat. Ich finde (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Gitta es unerträglich, wenn hier behauptet wird, junge Men- Connemann [CDU/CSU] und Julia Klöckner schen würden an dem Genuss bestimmter Produkte kre- [CDU/CSU]) pieren. Ich finde es unerträglich, wenn Sie Ihre Argu- mente darauf aufbauen, dass ein bedauernswertes Hans-Michael Goldmann (FDP): dreijähriges Kind an Übergewicht stirbt. Das wird der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Sache nicht gerecht. Hier geht es nicht darum, im Hau- Kollegen! Vielleicht einmal ein Wort vorweg: Es wäre drauf-Stil auf bestimmte Dinge hinzuweisen, sondern mir viel sympathischer, wenn wir von Ernährungsplatt- darum, zu bündeln, zusammenzuführen und Lösungs- form e.V. reden würden und nicht von Ernährungsbewe- wege zu entwickeln, die es – das will ich ganz deutlich gung. Man müsste einmal darüber nachdenken, ob ein sagen, Frau Künast – in vielfältiger Form schon gibt, solcher Begriff in diesem Zusammenhang nicht vermie- aber die von unten kommen müssen. Wir werden diesem den werden könnte. Problem im Verordnungsweg, im Gesetzgebungsweg (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht gerecht werden. Da haben Sie einen falschen An- der CDU/CSU) satz; Geschätzte Frau Ministerin, ich fand es prima, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie eine Regierungserklärung abgegeben haben. Ich bin da missbrauchen Sie ein Problem, das es bei Kindern, da etwas anderer Meinung als die Kollegin von der Erwachsenen und auch bei Senioren gibt, in unverant- CDU/CSU. Der Sachverhalt betrifft nämlich 80 Millio- wortlicher politischer Weise. nen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, Junge und Alte. Er betrifft einen riesigen Bereich unserer Wirt- Ich habe mit Erschrecken Ausführungen Ihrerseits schaft, nämlich den Ernährungssektor insgesamt, einen noch einmal nachgelesen. Auch heute haben Sie wieder der größten Arbeitgeber. Er betrifft sehr viele Arbeits- eine Studie zitiert, in der es heißt, dass die junge Genera- plätze. Deswegen ist es natürlich sehr richtig, sich mit tion die erste sei, die vor ihren Eltern sterbe. den Problemen und den Herausforderungen zu beschäfti- gen, die sich in diesem Bereich ergeben. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja! Es gibt diese Studie!) (Beifall bei der FDP) (B) Aber, liebe Frau Ministerin – das möchte ich einmal Präsident Wolfgang Thierse: (D) ganz schlicht sagen –, ich bin zutiefst enttäuscht von Ih- Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage rer Regierungserklärung. Sie sind den Ansprüchen, die der Kollegin Dümpe-Krüger? man an eine Regierungserklärung stellt – „erklären“ heißt ja: Zusammenhänge darstellen und Wechselwir- Hans-Michael Goldmann (FDP): kungen aufzeigen sowie Tiefgang in eine Rede hinein- Ich gestatte gerne eine Zwischenfrage. bringen –, schlicht und ergreifend nicht gerecht gewor- den. Ihre Ausführungen, die Sie uns hier dargeboten haben, kann man nicht anders als sehr flach bezeichnen. Präsident Wolfgang Thierse: Bitte schön. Wenn Sie sich Ihren Redetext – Sie haben ihn uns ja im Vorfeld zur Verfügung gestellt – noch einmal anse- hen, dann werden Sie selbst feststellen, dass Sie erst auf Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Seite 13 Ihrer 14-seitigen Ausführungen einen gewissen NEN): Lösungsansatz entwickeln. Das ist erschreckend. Herr Kollege, ich frage Sie, ob Ihnen bekannt ist und wie Sie bewerten, dass speziell das von der Ministerin Nein, das, was Sie uns hier vorgestellt haben, wird angesprochene Problem der Altersdiabetes bei Kindern dem, was Sie fordern, nämlich Kernkompetenzen, über- – ich rede nicht von der kindlichen Diabetes – ein Phä- haupt nicht gerecht. nomen ist, das es noch nie zuvor gegeben hat und das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wirklich ganz erschreckende Ausmaße angenommen hat, und ob Sie nicht auch der Ansicht sind, dass zu einer Wir sind gerne bereit, Ihnen zu helfen. Auch wir möch- Veränderung und Rückführung in diesem Bereich ein ten das bestehende Problem tiefgründig betrachten. Des- ganzheitlicher Ansatz notwendig ist, wie ihn die Minis- wegen wollen wir auch in der Plattform gerne mitwir- terin hier beschrieben hat. ken. Aber den Weg, den Sie aufzeigen, lehnen wir entschieden ab. Der Weg der Bevormundung, den Sie (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ immer wieder gehen, ist mit den liberalen Gedanken der DIE GRÜNEN und der SPD) Eigenverantwortung und des Selbst-Könnens nicht in Einklang zu bringen. Sie haben in Ihren Ausführungen Hans-Michael Goldmann (FDP): wieder deutlich gemacht, dass Sie sich in dieser Frage Geschätzte Kollegin, ich bin sehr entschieden der auf einem Irrweg befinden. Auffassung, dass Ihre Ministerin keinen ganzheitlichen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ansatz aufgezeigt hat, sondern einen staatsbezogenen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10331

Hans-Michael Goldmann (A) Ansatz. Wenn Sie an den Diskussionen, die wir gerade in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) letzter Zeit zu dem Thema hatten, an den Veranstaltun- der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ gen von der Lebensmittelwirtschaft, von Ärzten, von DIE GRÜNEN]: Sie haben uns doch Tiefgang Kindertagesstätten und von Schulen teilgenommen hät- versprochen! Wann kommt der denn mal?) ten, wenn Sie im Rahmen der Grünen Woche bei den Landfrauen Ihre Unterschrift geleistet hätten – alles Ak- Sie wollen den Bürgern den Appetit verderben. Sie un- tionen, die auf mehr Aufklärung in diesem Bereich ab- terscheiden Lebensmittel in schlecht und gut, in böse zielen und darauf, das Wissen und das Können zu erhö- und gut. hen –, dann würden Sie mir eine solche Frage nicht Sie sollten sich einmal mit den Erkenntnissen der stellen. Selbstverständlich müssen wir uns um diese Amerikaner in diesem Bereich beschäftigen. Dort gibt es Dinge bemühen. Es gibt auch Studien darüber, die Ihnen ein hohes Maß an Sorge, dass sich Kinder überhaupt bekannt sein müssten. nicht mehr ernähren, weil sie Angst davor haben, sich mit den falschen Lebensmitteln zu ernähren. Ich glaube, (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie scheinen sie es geht darum, das rechte Maß zu finden. Jeder, der mit nicht zu kennen!) Kindern zu tun hat – hiervon gibt es unter uns ja Aber diese Studien haben etwas mehr Substanz als zum einige –, weiß, dass Verbote – zum Beispiel: Iss keine Beispiel die Studie, die die Frau Ministerin hier ins Ge- Schokolade! – überhaupt nicht helfen. Es geht vielmehr spräch gebracht hat. Sie zeigt im Grunde genommen darum, aufzuzeigen, was passiert, wenn das Kind zu viel einen simplen Mechanismus auf: Die junge Generation Schokolade isst. Verteufeln hilft in diesem Bereich über- sei die erste, die vor ihren Eltern sterbe. Man darf es haupt nicht. zwar hier nicht sagen, aber: Das ist doch Schwachsinn! (Zuruf von der SPD: Das will auch niemand!) Das wird doch dem Problem überhaupt nicht gerecht! Ich hatte es schon angesprochen: In den USA zeich- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – nen sich die Ergebnisse der Indoktrination in Bezug auf Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das zeigt doch das Kalorienzählen – das, was Sie machen, ist Indoktri- das Problem auf, Herr Goldmann!) nation – längst ab. Das Problem ist doch nicht, dass die junge Generation (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vor der älteren stirbt, sondern das Problem ist, dass es in Das ist doch dummes Zeug ohne Tiefgang, dieser Gesellschaft eine Anzahl von jungen Menschen was Sie da erzählen!) – eine zu große Anzahl – gibt, die sich aufgrund gene- tischer Veranlagung, sozialer Kompetenzen – wir haben Amerikanische Kinder fürchten sich davor zu essen. Das (B) vorhin die Migrationsfrage angesprochen – und schlicht können Sie doch nicht wollen. (D) und ergreifend aufgrund von Bewegungsmangel selbst (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist doch lä- in die Situation versetzen, dass ihnen keine freiheitliche cherlich!) Teilnahme an unserer Gesellschaft mehr möglich ist. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben. Die- – Das, was Sie ausgeführt haben, war hochgradig lächer- ses Problem lässt sich, wie ich schon gesagt habe, nicht lich, geschätzte Kollegin. von oben nach unten lösen, sondern einzig und allein (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan von unten nach oben. Das weiß eigentlich jeder, der sich [FDP]) damit beschäftigt. Sie erklären, dicke Kinder hätten schlechte Startchancen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diese Aussage ist in Ordnung; damit sind wir einver- der CDU/CSU) standen. Aber sorgen Sie dafür, dass sich die Startchan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte es schon cen der Menschen verbessern! Stigmatisieren Sie diese angesprochen: Der Problemkreis ist komplex. Es geht Menschen nicht, sondern nehmen Sie sie in die Gesell- um mehr als um Übergewicht; es geht um Lebensstil und schaft hinein, Gesundheit. Ernährung allein und insbesondere, liebe (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollegin Höfken, einzelne Lebensmittel sind nicht für Was erzählen Sie da für einen Unsinn!) die Entstehung von Übergewicht verantwortlich. Das ist keine Erkenntnis von mir. Das ist auch nicht neu. Das indem Sie diese Plattform dafür nutzen, den Weg von hat Professor Müller schon vor vielen Jahren in einer unten nach oben auszugestalten! sehr interessanten Adipositaspräventionsstudie darge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stellt, die in Fachkreisen jeder kennt. Das Ergebnis ist der CDU/CSU) simpel: Gewichtsunterschiede von Kindern sind im We- sentlichen auf Unterschiede der körperlichen Aktivität Sie sagen, dass sich Kinder falsch ernähren. Wir wol- bzw. Inaktivität, auf soziale Aspekte und mögliche gene- len den Kindern sowie den Erzieherinnen und Erziehern tische Risiken zurückzuführen. vermitteln, wie man sich gesund ernährt. Wir Liberale wollen also einen ganz anderen politischen Weg be- Frau Künast, Sie wollen einen neuen Lebensstil und schreiten. neue Essgewohnheiten. Sie haben immer wieder „Wir wollen, wir wollen“ gesagt; aber nicht Sie müssen wol- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: len, sondern die Bürger. Sie haben ja gar nicht zugehört!) 10332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Hans-Michael Goldmann (A) Das hat auch nichts damit zu tun, dass wir uns aus der zu geben, sich bewusst zu ernähren und sich mehr zu be- (C) staatlichen Verantwortung zurückziehen wollen, Frau wegen, und die sozialen Defizite abzubauen! Seien Sie Künast. Wenn Sie jetzt sagen, das sei Quatsch, zeigt dies bitte ein Stück vernünftig und rücken Sie davon ab, von wieder, dass Sie sich mit diesem Thema nicht beschäftigt oben bestimmen zu wollen, was unten passiert! Dieser haben, Weg ist zum Scheitern verurteilt. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herzlichen Dank. Sie haben nicht zugehört!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sondern dieses Thema populistisch nutzen. Sie hüpfen im Bereich Ernährung, Verbraucherschutz und Land- Präsident Wolfgang Thierse: wirtschaft von einem Thema zum anderen. Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Höfken, Fraktion (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Bündnis 90/Die Grünen. CDU/CSU) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie hinterlassen an vielen Stellen Schaden. Sie haben bei Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrter Herr Prä- der Diskussion um BSE einen riesigen Schaden hinter- sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann den lassen. Sie haben die Gesamtproblematik dieses Themas Grünen bestimmt nicht mangelnde politische Hartnä- nie erkannt. Sie haben die Folgewirkungen dieses The- ckigkeit vorwerfen und unserer Ministerin ganz gewiss mas überhaupt nicht richtig zur Kenntnis genommen. Sie nicht. wollen seit Beginn Ihrer politischen Arbeit in diesem Hause beim Thema Verbraucherschutz den Verbrauchern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN etwas vorgeben, was der Verbraucher überhaupt nicht sowie bei Abgeordneten der SPD) nachvollzieht. Das, was Sie betreiben, ist aber eine hartnäckige Reali- Sie behaupten, wir wollten kein Verbraucherinforma- tätsverweigerung. tionsgesetz. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ja, ge- Hast du überhaupt nicht zugehört?) nau! – Ute Kumpf [SPD]: Ja doch!) Die Stiftung Warentest – bestimmt nicht irgendwelcher Das ist völliger Quatsch. Das stimmt schlicht und ergrei- politischer Ideologien verdächtig – sagt zum Beispiel, fend nicht. Wir wollen eine Regelung, die den Verbrau- Übergewicht und Fehlernährung seien eine Epidemie. cher in die Lage versetzt, selbst Erkenntnis zu gewin- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist (B) nen. Wir wollen keinen Angriff auf unternehmerisches (D) unwissenschaftlich!) Tun, der die Marktposition der Unternehmen gefährdet und wieder nationale Alleingänge im Hinblick auf euro- Ich denke, auch Ihnen wird das Lachen noch vergehen, päische Regelungen bedeutet. Genau das wollen wir wenn es um das Thema „dicke Kinder“ geht. nicht. Die alten Landwirtschaftsministerien unter Ihrer Re- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gierung haben, obwohl das Ministerium auch damals der CDU/CSU) Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hieß, die Frage der Ernährung auf die Land- Wir wollen das Informationsbedürfnis befriedigen. frauen abgeschoben – die hat man dann nicht ernst ge- Von einseitigen Schuldzuweisungen sind wir Gott sei nug genommen – oder haben Ernährung zu einer Privat- Dank meilenweit entfernt. Wir wollen „Ernährungskön- angelegenheit gemacht. nen“, Ernährungsbewusstsein. Wir sprechen uns klipp und klar zum Beispiel gegen die Schuldzuweisung aus, (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Warum sind die dass die Lebensmittelwirtschaft verantwortlich dafür nicht in der Plattform mit dabei?) ist – da machen Sie es sich viel zu leicht –, dass es alko- Wir aber werden Ernährung weiter auf die politische Ta- holkranke Menschen gibt. Sie können doch nicht ernst- gesordnung setzen, und zwar als politisches Thema. haft sagen, dass Alkoholismus etwas damit zu tun hat, dass jemand Wein herstellt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den Alcopops? Die zielen Ich sage dies dann noch einmal: Wir werden nicht bil- doch auf Kinder ab!) ligend in Kauf nehmen, wie die Menschheit in den Klauen von Cola und von Hamburgern krepiert. Sie können doch nicht ernsthaft sagen, dass Produkte wie Chips und Schokolade schon deshalb schlimm sind, (Widerspruch bei der CDU/CSU und der weil der eine oder andere diese Produkte aus Unkenntnis FDP – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das nicht sachgerecht und ernährungsbewusst verwendet. ist unerträglich! Ich finde das unverschämt!) Frau Künast, wir bieten Ihnen sehr nachdrücklich an: Das ist leider nicht übertrieben. Die WHO, die Weltge- Lassen Sie uns gemeinsam Wege gehen, die darauf ab- sundheitsorganisation, hat sehr klargestellt: Die Haupt- zielen, den Verbraucher zu informieren und zu konditio- ursache von nicht übertragbaren Krankheiten ist eine nieren, den jungen Menschen das Können an die Hand falsche Ernährung. Diese Ursache bedingt 60 Prozent Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10333

Ulrike Höfken (A) der Todesfälle. Mehr Menschen – das ist tragisch – lei- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) den inzwischen an Übergewichtigkeit als an Hunger. Wir Bitte. sehen Handlungsbedarf bei beiden Feldern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann (FDP): Hans-Michael Goldmann [FDP]: Unver- Durchaus geschätzte Kollegin Höfken, sind Sie be- schämt!) reit, zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Firma, die Sie jetzt schon einige Male als Krepierverursacher und als Das ist übrigens nicht nur weltweit ein Problem. Die denjenigen genannt haben, der irgendetwas in die Situation in Deutschland und in Europa ist genauso alar- Klauen nimmt, in besonderem Maße Sponsor von Ju- mierend. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir werden gendveranstaltungen, von Jugendsport und auch von Er- FDP, CDU und CSU dabei weiter in die Pflicht nehmen. wachsenensport ist und zum Beispiel im Rahmen der Wir werden nämlich nicht zulassen, dass die Verbrau- Fußballeuropameisterschaft in Portugal besonderen Ver- cher und die verzweifelten Eltern mit diesen Problemen pflichtungen nachkommt? allein gelassen werden. Eigenverantwortung ist ein großes Thema der Grünen und auch der Bundesregie- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE rung, genauso wie Aufklärung, genauso wie Informa- GRÜNEN]: Was hat das mit Ernährung zu tion. Wir brauchen aber dort, wo diese Probleme nicht tun?) mehr durch Selbstverantwortung gelöst werden können, – Haben Sie das verstanden? Soll ich das noch einmal Schutz und politische Steuerung. Übrigens ist die Initia- wiederholen? tive der Bundesministerin – auch das muss man ganz klar sagen – eine Initiative, die vor allem auf Eigenver- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ antwortung zielt. DIE GRÜNEN) Wir werden aber nicht zulassen, dass sich Bacardi Ich werde noch ein anderes Beispiel nennen. Wenn und Co mit den Alcopops weiter auf die Zielgruppe der ich aus dem Wedding zur Arbeit fahre, komme ich an ei- Kinder und Jugendlichen orientieren. Wir werden auch nem großen Sportgelände vorbei, wo sich ganz beson- nicht zulassen, dass weiter Werbefeldzüge für unsinnige ders Coca-Cola gerade für junge Menschen engagiert, Diäten die Jugendlichen in die Magersucht treiben. Wir die sonst wenig Chancen in unserer Gesellschaft haben. werden auch nicht dulden, dass Fehlernährung weiter Halten Sie es vor diesem Hintergrund nicht schlicht und durch Fehlinformationen unterstützt wird. ergreifend für unfair, dass Sie dieses Unternehmen, ohne dass es eine Chance hat, sich zu wehren, hier wegen sei- (Abg. Ulrike Höfken hält ein „Qoo“-Tetrapack ner Produkte an den Pranger stellen, hoch) (B) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- (D) Ich habe – das mache ich jetzt zum zweiten Mal – die- NIS 90/DIE GRÜNEN) ses Produkt „Qoo“ der Firma Coca-Cola mitgebracht. Ich habe diese Firma nicht besonders auf dem Kieker, die im Grunde genommen keineswegs so negativ einzu- das ist nur ein gutes schlechtes Beispiel. Es kostet übri- stufen sind, wie Sie das hier getan haben? Ist das nicht gens etwa 10 Euro pro Liter. Auf der Packung steht: unfair? „Der gesunde Trinkspaß“. Das ist eine ganz klare Fehlin- Ich frage auch den Herrn Präsidenten: Ist es zulässig, formation. Die Stiftung Warentest sagt: Es ist für Kinder dass man hier einen der größten Arbeitgeber in Deutsch- nicht geeignet. Darum sehen wir an solchen Punkten land in dieser Form in den Dreck zieht? Handlungsbedarf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie haben jetzt Ihre Interessensverteidigung deutlich genug gemacht. Dass die Milch übrigens 23 Cent pro Liter kostet und molkehaltige Functional-food-Produkte 4 Euro pro Liter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kosten, auch das werden wir weiter versuchen zu verän- sowie bei Abgeordneten der SPD) dern. Ich denke, Freikaufen nein, Mitverantwortung und Wir sagen Ihnen: Schieben Sie die politische Verant- Selbstverpflichtung ja. Das ist der Weg, den wir be- wortung nicht weiter von sich. Wir wollen hier weiter schreiten wollen. gemeinsam vorangehen. Wir lassen insbesondere der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN FDP nicht weiter durchgehen, dass sie kein Verbraucher- und bei der SPD) informationsgesetz, das diesen Titel wirklich tragen kann, keine Unterstützung für die Haushaltsmittel für Damit habe ich Ihre Frage beantwortet. Verbraucheraufklärung, keine EU-weiten Verbote für Sie selbst haben in Ihrem Antrag die Instrumente der solch irreführenden Werbungen und keine Beschränkung WHO-Strategie herausgestellt. Dann lassen Sie uns für Alcopops will. Sie wollen am liebsten nichts tun. doch einmal sehen, was diese WHO-Strategie eigentlich bedeutet. Denn diese Instrumente, die Sie fordern, leh- Präsident Wolfgang Thierse: nen Sie gleichzeitig alle ab: zum Beispiel in Schweden Kollegin Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage ein Werbeverbot, das sich auf Kinder unter zwölf Jahren des Kollegen Goldmann? richtet, zum Beispiel eine Fettsteuer in Großbritannien, 10334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Ulrike Höfken (A) zum Beispiel in Finnland Besteuerungs- und Subven- Staatssekretär Berninger reiste, um fettleibige Kinder zu (C) tionsabbauinstrumente im Hinblick auf die Lösung der besichtigen. Probleme bei Fehlernährungen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Verbote! ordneten der FDP) Gebote! Jawohl!) Ich weiß nicht, was es gebracht hat. Wenn für so etwas Die WHO-Strategie, die Sie selbst erwähnen, greift die Steuergelder ausgegeben werden, mag es ja in Ordnung Steuerungsinstrumente der Politik massiv auf. sein. Wir sagen: Eigenverantwortung ja, Selbstverpflich- (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat nur Geld tung ja, aber nicht, ohne dass ordnungspolitische Instru- gekostet!) mente, da wo es nötig ist, einbezogen werden. Wir for- dern Sie auf, die Bundesregierung und Frau Ministerin – Gekostet hat es einiges. Die dort gewonnenen Erkennt- Künast in ihrer Initiative zu unterstützen. Wir fordern nisse waren so groß, dass sie in die heutige Regierungs- Sie auf, bei den Ländern, gerade in Baden-Württemberg, erklärung eingeflossen sind. Man kann es bei dieser Er- Einfluss zu nehmen, dass sie die Verbraucherzentralen klärung aber nur Steuergelderverschwendung nennen. bei ihren Bemühungen in der Ernährungsaufklärung, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie hier so herausstellen, unterstützen und nicht weiter abbauen. Wir müssen eins sehen – das ist das Fatale –: Niemals zuvor hatten wir so viele gesunde Lebensmittel, wie (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Mecklenburg- wir sie heute haben. Vorpommern!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Wir fordern Sie auf, die Themen Gesundheit, Ernährung und Bewegung in Bildung und Ausbildung mit uns auf Das müssen wir einmal hervorheben, bevor hier ein allen Ebenen zu verankern. Wir fordern Sie auf, in die Schlag gegen diejenigen entsteht, die Nahrungsmittel Puschen zu kommen. Es ist Zeit dazu. Bewegen Sie sich herstellen. mit uns! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Danke schön. Man bekommt fast den Eindruck, dass dies die Haupttä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ter und Kriminelle sind, weil sie Nahrungsmittel anbie- sowie bei Abgeordneten der SPD) ten. Dass wir jetzt eine Auswahl an Nahrungsmitteln und (B) etwas in den Regalen haben, dafür können wir erst ein- (D) Präsident Wolfgang Thierse: mal dankbar sein. Wie wir uns dann ernähren, ist dann unsere Sache. Ich möchte nicht, dass mir irgendwann ein Kollege Goldmann, weil Sie auch mich gefragt ha- Ministerium mein tägliches Carepaket vorschreibt. Ich ben, antworte ich Ihnen: Ich denke, wir sind uns einig, habe das Recht, mich anders zu ernähren, als es mir die das Recht auf die freie Meinungsäußerung, das beson- Regierung vorschreiben will. ders in diesem Hause gilt, schließt die Kritik an Firmen, seien sie noch so groß, ein. Da sind wir uns einig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ruf von der SPD: Unerhört!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- Michael Goldmann [FDP]: Meinen Sie große Frau Ministerin, es ist richtig – ich lobe Sie also –, Kinder oder große Firmen?) dass Sie dieses Thema aufgreifen. Von Ihrer Rede war ich aber schon enttäuscht. Sie haben lediglich eine be- – Firmen, so groß sie auch sein mögen, können in die- schreibende Situationsanalyse gegeben. Das haben wir sem Hause kritisiert werden. Das ist das Recht auf freie hinlänglich lesen können, aber nicht nur von Ihnen. Die- Meinungsäußerung. ses Thema ist nicht von Ihnen erfunden worden, sondern Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Julia Klöckner, ist seit langem bekannt. Ich hätte mir von Ihnen das ge- CDU/CSU-Fraktion. wünscht, was unsere Kollegin, Frau Heinen, aufgegrif- fen hat, nämlich zu sagen, was zu tun ist. Das hat mir in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ihrer Regierungserklärung gefehlt. Wenn Sie schon eine solche Erklärungsform wählen, wäre das sehr ange- Julia Klöckner (CDU/CSU): bracht gewesen. Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU) und Kollegen! Es ist schon ziemlich bizarr, dass wir uns heute über das Thema Ernährung bzw. Übergewicht und Sie haben dieses Thema aus meiner Sicht viel zu spät Fettleibigkeit unterhalten müssen. Man stelle sich eine aufgegriffen und sich zu sehr an Werbe- und Imagewirk- solche Debatte einmal vor 40 Jahren oder aus dem Blick- samkeit ausgerichtet. In Ihrer Antwort auf unsere Kleine winkel von Menschen ärmerer Kontinente vor. Just an Anfrage ist nachzulesen, dass sich die einzelnen Minis- diesem Ort wird zu anderer Zeit über Entwicklungszu- terien des Themas viel zu unkoordiniert annehmen. Sie sammenarbeit und Welthungerhilfe debattiert. Wir müs- aber schreiben vorab ein 270-seitiges Buch mit dem Ti- sen uns mit einem Luxusproblem in Deutschland aus- tel „Die Dickmacher – Warum die Deutschen immer fet- einander setzen, und nicht nur in Amerika, wohin jüngst ter werden und was wir dagegen tun müssen“. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10335

Julia Klöckner (A) (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Hört! Hört! (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Wo kann man das erwerben? – Ursula Heinen und von der FDP) [CDU/CSU]: Wann gibt es das?) – Vielleicht könnten wir einmal klären, wer hier reden – Das soll im September erscheinen und 17 Euro kosten. darf. Es ist also nicht für die Schichten, die eigentlich betrof- fen sind. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Nur Ihr Konterfei, Frau Ministerin, ziert das Buch Frau Kollegin, Sie sind sehr gut zu verstehen. Auch „Die Dickmacher“. Ich halte es für sehr unpassend, dass bei Ihren Vorrednern gab es von der Fraktion der CDU/ nur Ihr Konterfei auf dem Buchumschlag zu sehen ist. CSU Zwischenrufe und der Redner war trotzdem zu hö- Die Frage ist: Worum geht es Ihnen eigentlich, wenn Sie ren. Ihr Bild auf einem solchen Buch abdrucken lassen? Geht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) es Ihnen um das Thema oder um Ihre Selbstdarstellung?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Julia Klöckner (CDU/CSU): Hans-Michael Goldmann [FDP]) Da gab es aber keine trilingualen Gespräche, um per- Ich möchte noch eine Frage stellen: Was passiert sönliche Ansichten auszutauschen. eigentlich mit der angekündigten Ernährungsplatt- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Viel- form? Gott sei Dank haben Sie Ihre Idee eines Zwangs- leicht diskutieren Sie lieber mit uns als mit und Straffonds für Nahrungsmittelhersteller verworfen, dem Präsidenten! Kommen Sie doch einmal weil Sie damit nicht durchkamen. zur Sache! – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wir (Renate Künast, Bundesministerin: Die hatte warten die ganze Zeit!) ich nie!) – Sie warten die ganze Zeit. Wir warten noch, bis die Re- – Wenn Sie die nie hatten, müssen Sie Ihre Pressemittei- gierungserklärung neu aufgelegt wird und wir wissen, lungen besser kontrollieren; denn nachzulesen ist dies. was Sie tun wollen. Wie ernst meinen Sie es überhaupt mit dieser Platt- Beängstigend ist für uns, dass in Ihrem Buch auf form? Sie sagen, Sie wollen sich mit Ärzten, Ernäh- 32 Seiten Bilder von Kalorienbomben gezeigt werden. rungsberatern, Sportlern, Vertretern der Ernährungsin- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) dustrie – nicht mit den Landfrauen; Frau Höfken hat die Meine Güte! Was soll denn das?) (D) Landfrauen hervorgehoben; es wäre schön, wenn man sie auch einladen würde – an einen runden Tisch setzen Sie kennen das Buch wahrscheinlich noch nicht. Ver- und mit ihnen Lösungsansätze erarbeiten. Jetzt frage ich ständlich, Ihre Überraschung! Man kann Nahrungsmittel mich: Tagt diese Plattform seit einem Jahr im Geheimen nicht in gut oder schlecht, in Bio oder konventionell un- oder wie können Sie in Ihrem Buch sonst deren Lö- terteilen. Entscheidend sind der Lebensstil, der Bewe- sungskonzept vorlegen? Ich kann mir darauf keinen gungsstil und die Ernährungweise. Reim machen. Schon der Untertitel Ihres Buches „Wa- rum die Deutschen immer fetter werden und was wir da- Besonders hervorzuheben ist die Verantwortung der gegen tun müssen“ deutet auf das Vorliegen einer Lö- Eltern. Ich weiß, dass Sie ein Problem mit Familienbil- sung hin. Entweder haben Sie mit dem Verlag vereinbart, dern haben. dass das bis September noch kommt, oder diejenigen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die an Ihrer Plattform mitarbeiten, bekommen gesagt, was sie zu denken und zu sagen haben. Sie können doch nicht sagen, dass der Staat eingreifen muss, weil die Eltern es nicht schaffen, ihren Kindern (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. das Richtige zu essen zu geben, zu kochen und sich mit Hans-Michael Goldmann [FDP]) dieser Thematik auseinander zu setzen. Man kann nicht Für uns ist es wichtig, dass Sie uns bitte mit einer Er- nur Symptome behandeln. Sie müssen auch an die nährungsdiktatur verschonen. Wurzel gehen. Es bringt nichts, wenn Sie die Kinder in teuere Kuren schicken. Nach drei Monaten kommen sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nach Hause und das Elend geht von vorne los. Das beste Beispiel hierfür ist das von Ihnen angestrebte Es ist nicht richtig, dass Sie ein Feuerwerk von Platt- Verbot der Health Claims. Wir sind auch gegen irrefüh- formen, Kampagnen und Bewegungen initiieren, sie rende Werbung. Dafür gibt es aber schon Gesetze. aber nicht koordinieren. Die eine Aktion kommt aus dem (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Siche- NEN]: Ach so! – Hans-Michael Goldmann rung, die andere aus Ihrem Ministerium, Frau Künast. [FDP]: Die ist verboten!) Das letztgenannte Ministerium lässt zu den Themen Bro- schüren drucken, zu denen das erstgenannte Ministerium – Es gibt diese Gesetze und es wäre schön, wenn Sie sich schon längst Broschüren bei der Bundeszentrale für ge- diese einmal zur Hand nehmen und überprüfen würden. sundheitliche Aufklärung in Auftrag gegeben hat und in- Ein Verstoß dagegen wird mit Strafen sanktioniert. zwischen verteilen lässt. 10336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Julia Klöckner (A) Ich verstehe nicht, warum Sie, Frau Künast, sich jetzt Wir kommen noch einmal auf das Thema Bewegung (C) als die Entdeckerin der Übergewichtsprävention feiern zu sprechen. Frau Künast, Sie haben in einigen Reden, lassen und glauben, Sie hätten dieses Thema erfunden unter anderem bei der Ernährungsindustrie, gesagt, dass und in Kindergärten, Schulen und Familien eingebracht. die Folgen von Fehlernährung durch das geringe Aus- Die Schulen arbeiten schon längst mit entsprechenden maß an Bewegung verschärft würden. Wir hingegen sa- Unterrichtsmaterialien. Ich finde, Sie sollten sich diese gen, es ist keine Frage von Haupt- oder Nebenursache, Unterlagen, die mit Steuergeldern finanziert wurden, zu- sondern diese Themen sind gleichrangig. Diese Gleich- nächst einmal anschauen und dann überlegen, was man rangigkeit gilt auch für das Thema Mangel- und Unterer- noch ergänzen kann. nährung. Bitte verschonen Sie uns davor, jetzt das eine Thema bevorzugt zu behandeln und im nächsten Jahr die Ich freue mich, dass das Innenministerium heute ver- Mangel- und Unterernährung auf die Plattform zu zie- treten ist, denn der Sport spielt auch eine Rolle. Dazu hen. haben wir bisher leider noch nichts gehört. Sie zitieren sehr gerne aus Studien. Sie müssten auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die der Charité gelesen haben, nach der 20 bis 30 Pro- Bewegung ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges zent der Patienten unterernährt sind und mit einem Ge- Thema. Fördern Sie doch bitte die Sportvereine und die- wichtsverlust von 10 Prozent eine Verdoppelung der Ge- jenigen, die ehrenamtlich tätig sind und damit eine so- sundheitskosten einhergeht. ziale Aufgabe erfüllen. Bitte lassen Sie uns dieses Thema gesamtgesellschaft- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – lich betrachten. Sprechen Sie, Frau Künast, auch einmal Renate Gradistanac [SPD]: Wer hat denn die mit der Gesundheitsministerin. Es wäre schön, wenn sie Übungsleiterpauschale eingeführt?) heute auch anwesend gewesen wäre. Schließlich betrifft es sie auch, weil sie Gelder für Materialien bereitstellt. Es herrscht, gelinde gesagt, ein Chaos bei der Abstim- mung zwischen den Ministerien. Imagekampagnen – auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und das müssen wir bedenken –, die diejenigen ansprechen, der FDP) die es gar nicht angeht, helfen wenig. Ich weiß, dass da- Wir bieten Ihnen unsere Hilfestellung an, sagen Ihnen mit auch Wähler angesprochen werden sollen. Das ist gerne, wer mit diesem Thema befasst ist. Wir helfen Ih- fein und in der Demokratie erlaubt. Es hilft aber denkbar nen auch beim Koordinieren der Ministerien, wenn es wenig, wenn die betroffenen sozialen Schichten, in de- sein muss. Wir sind für eine verantwortungsvolle, weit- nen sich fehlernährte Kinder befinden, die die meiste blickende und nachhaltige Politik, die im Denken und Zeit vor dem Fernseher und nicht auf dem Spielplatz (B) Handeln ideologie- und radikalitätsfrei ist und gesamtge- (D) verbringen und zu zuckerreich und zu fett essen, nicht sellschaftlich angelegt ist. Wir sind für eine Politik, die angesprochen werden. von einem mündigen Bürger und einer mündigen Bürge- Wir brauchen Vorbilder. Es ist kontraproduktiv – auch rin ausgeht, die von einem mündigen Verbraucher und das muss man berücksichtigen –, wenn Fußballspieler für Kunden ausgeht. Bei der Umsetzung einer solchen Poli- Fast-Food-Ketten Werbung machen. tik helfen wir Ihnen sehr gerne. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Fordern Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ein Verbot?) Präsident Wolfgang Thierse: Fatal ist aber noch etwas anderes – das haben sowohl Kollegin Heinen als auch Kollege Goldmann angespro- Ich erteile das Wort Kollegin Elvira Drobinski-Weiß, chen –: Versuchen Sie bitte nicht, aus einer Aktion oder SPD-Fraktion. einer Initiative ein kleines Feuerwerk zu veranstalten; (Beifall bei der SPD) das verpufft nämlich sehr schnell. Wir müssen ganzheit- lich denken. Der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen, er Elvira Drobinski-Weiß (SPD): hat verschiedene Dimensionen. Eine Dimension davon Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen ist die Frage, wo unsere Nahrungsmittel herkommen. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bezug zu den Nahrungsmitteln ist von Bedeutung. Wenn die Nahrungsmittel importiert werden, ich nicht Mit Dicken macht man gerne Späße mehr weiß, wo sie herkommen, ich nicht weiß, dass die Dicke haben Atemnot Kuh nicht lila ist, muss ich daraus die Schlussfolgerung Für Dicke gibt’s nichts anzuzieh’n ziehen, dass ich den Berufsstand fördern muss. Sie aber Dicke sind zu dick zum Flieh’n lassen die Bauern und Landwirte dahinvegetieren. So hieß es Ende der 70er-Jahre in einem Lied über Dicke (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von Marius Müller-Westernhagen. Der Text war damals der FDP) umstritten, Übergewichtige fühlten sich diskriminiert. Die Förderung der Bauern und Landwirte stellt eine ge- Nun, was für Erwachsene gilt, gilt in verstärktem samtgesellschaftliche Bereicherung dar. Sie kappen die Maße für Kinder und Jugendliche. Wir haben es heute Wurzel und beklagen anschließend, dass keine Blüte ent- schon mehrfach gehört: Jedes fünfte Kind und jeder steht. Sie müssen sich schon für ein Ziel entscheiden und dritte Jugendliche in Deutschland ist zu dick und muss nicht hin- und herspringen. sich deshalb solche Späße über Dicke anhören. „Fett- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10337

Elvira Drobinski-Weiß (A) wanst“, „Fettsack“, „Schwabbelkuh“ – der Hohn der Al- rund 30 Milliarden Euro aus. Es besteht also ein drin- (C) tersgenossen kennt kaum Grenzen. Die Opfer solcher gender Handlungsbedarf. Durch ein bewussteres Ernäh- Beschimpfungen befinden sich in einem Teufelskreis, rungsverhalten ließen sich ernährungsbedingte Krank- denn Spott und soziale Ausgrenzung führen zu Minder- heiten eindämmen und damit auch Mittel einsparen, die wertigkeitskomplexen und diese wiederum zu weiteren an anderer Stelle sinnvoll verwendet werden könnten. Fressattacken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Chips, Pommes, Hamburger, Schokoriegel und an- DIE GRÜNEN) dere Süßigkeiten – alles zu süß und zu fett. Von allem zu Wir müssen unsere Kinder und vor allem deren Eltern viel wird wahllos heruntergeschlungen. Viele dieser Kin- – das ist mir in den Beiträgen heute immer viel zu kurz der haben kein Verhältnis zum Essen, zur Nahrung und gekommen – für das Thema „gesunde Ernährung“ sensi- damit auch zu ihrem Körper: Sie essen nicht, weil sie bilisieren. Wir müssen sie über die fatalen Folgen eines Hunger haben, sondern sie stopfen in sich hinein, den falschen Essverhaltens aufklären. Dies ist natürlich, wie ganzen Tag lang, einfach so nebenher. Nur noch in weni- schon vielfach gefordert, auch eine wichtige Aufgabe gen Familien wird gemeinsam gegessen. Viele dieser der Kindergärten und Schulen. Dies ist aber auch eine übergewichtigen Kinder ernähren sich unbeaufsichtigt in gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Burger- und Imbissketten. Wann sie wirklich hungrig In unseren Antrag, den wir heute hier einbringen, sind sind und was ihr Körper braucht, um sich wohl zu füh- all diese Überlegungen mit eingeflossen. Zumindest ein len, dafür haben diese Kinder jedes Gefühl verloren. Ein Ziel ist auch dank der Bemühungen von Ministerin so gestörtes Körpergefühl spiegelt sich auch in der Frei- Künast um das Thema „gesunde Ernährung“ bereits er- zeitgestaltung der Kinder und Jugendlichen wider: reicht worden: Die Medien sind aufmerksam geworden. Fernsehen und mit dem Computer spielen – das ist be- Am 2. Juni 2004 erschien ein „Stern“-Artikel mit dem quem, da ist ein zu schwerer, unbeweglicher Körper Titel: „Generation XXL“. Im April gab es im ZDF drei auch nicht im Weg. Bewegung dagegen, Sport, das ist Sendungen unter dem Titel „Dicke Kinder – gefährliche anstrengend und da sehen dann auch alle, wie dick und Zukunft?“. „Geo“ hat ebenso wie „Die Zeit“ darüber be- unbeweglich man ist. richtet. Das heißt, die Berichterstattungen über unge- Dicke Kinder sind arme Kinder, dies stimmt im dop- sunde Ernährungsgewohnheiten und ihre Folgen nehmen pelten Sinn: Sie sind arm, weil sie gehänselt und ausge- zu. grenzt werden, und sie sind arm, weil sie eher sozial Unser Ziel muss es sein, den Trend zum Übergewicht schwachen Strukturen entstammen. Die ohnehin knap- durch Ernährungsaufklärung abzuschwächen und pen Mittel fließen dann meist nicht in gesunde – weil möglichst umzukehren. Bei diesem Ziel sind wir uns si- cher alle einig. Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen (B) letztendlich doch teurere – Lebensmittel. Die Kinder (D) werden sich selbst überlassen, nicht beaufsichtigt, nicht und Kollegen, unsere Initiativen zum Erreichen dieses zu gesundem Essverhalten oder einer aktiven Freizeitge- Ziels über alle Fraktionsgrenzen hinaus zu unterstützen. staltung angeleitet. Diese armen Kinder sind aber zu- Pommes und Hamburger ersetzen kein Mittagessen. gleich „reich“: Sie bekommen viel Taschengeld, das sie Genauso wenig sind Süßwaren und Knabberartikel Le- dann für Pommes und Süßigkeiten ausgeben. bensmittel im eigentlichen Sinne des Wortes, nämlich Falsche Ernährung verursacht Krankheiten – wir ha- Mittel zum Leben. Wäre es nicht eine Überlegung wert, ben es vorhin vielfach gehört –: Bluthochdruck, Zucker- ob ein ungesundes Essverhalten nicht auch finanziell un- krankheit, Gefäßverkalkung, Gelenkerkrankungen, er- attraktiver gestaltet werden sollte? Ist es gerechtfertigt, höhte Cholesterinwerte, bis hin zum Herzinfarkt reichen dass Süßwaren und Knabberartikel mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von 7 Prozent besteuert werden? die gesundheitlichen Folgen. Neue Studien zeigen zu- dem auch ein erheblich erhöhtes Krebsrisiko, insbeson- (Dr. [CDU/CSU]: Das bespre- dere des Krebses der Speiseröhre und des Dickdarms, chen Sie einmal mit Ihrem Finanzminister!) gerade bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen. Schließlich hat der Gesetzgeber bei der Einführung der Solche Krankheiten können bei ihnen keine Alterssymp- Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem zum tome sein, worauf Frau Ministerin Künast vorhin schon 1. Januar 1968 entschieden, dass fast alle Nahrungsmit- in sehr dramatischer Weise hingewiesen hat. tel – ausgenommen die meisten Getränke – aus „sozial- Übergewicht ist nicht allein ein deutsches Problem. politischen Erwägungen“ mit dem ermäßigten Satz be- Über 1 Milliarde übergewichtige Erwachsene und steuert werden. Was damals Sinn machte, ist vielleicht 17 Millionen übergewichtige Kinder weltweit meldet die nicht mehr aktuell. Solche „sozialpolitischen Erwägun- Weltgesundheitsorganisation, WHO, in ihrem jüngsten gen“ könnten gute Gründe dafür sein, ungesunde Nah- Bericht über globale Strategien der Ernährung. Sie rungsmittel finanziell unattraktiver und gesunde dafür spricht von einer Epidemie, und zwar einer Besorgnis er- attraktiver zu machen. regenden Epidemie. Auch in anderen Ländern wird über solche Maßnah- men nachgedacht. In Australien – vorhin wurden auch „Dicke Kinder kosten die Kassen 30 Milliar- schon andere Länder genannt – ist eine Fettsteuer im Ge- den Euro“ – so titelte die „Welt am Sonntag“ Ende Fe- spräch, eine Sonderabgabe auf Pommes, Hamburger, Sü- bruar. Durch falsche Ernährung verursachte Krankheiten ßigkeiten und Süßgetränke. sind eben auch ein Kostenfaktor für das deutsche Ge- sundheitssystem. Für die Behandlung dieser Krankhei- ( [CDU/CSU]: Enzymsteuer! ten geben die gesetzlichen Krankenkassen jährlich also Künaststeuer!) 10338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Elvira Drobinski-Weiß (A) Dort sind bereits 60 Prozent der Bevölkerung überge- Was besonders schlimm ist: Kinder sitzen im Zim- (C) wichtig. Die Zahl der Kinder mit Diabetes ist enorm an- mer, während draußen die Autos „spielen“. Kinder gestiegen. dürfen nicht mehr allein zur Schule radeln oder laufen, sondern werden gefahren. Dazu kommt, dass Schul- Ich möchte mit dem nochmaligen Appell an alle hier schließungen aufgrund zurückgehender Schülerzahlen im Haus schließen, unsere Initiativen für eine gesündere die Schulwege verlängern und Schulbusse erforderlich Ernährung, für mehr Bewegung sowie gegen Überge- machen. Sport ist das Schulfach, welches am häufigsten wicht und die dramatischen gesundheitlichen Folgen zu ausfällt. Schulsportgemeinschaften, die diesen Mangel unterstützen. ausgleichen, fehlen. Vielen Dank. Das Ergebnis dieser veränderten Lebensgewohnhei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten ist bei Kindern besonders gut messbar. Eine Analyse DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der Einschulungs- und Schulabgangsuntersuchungen des CDU/CSU und der FDP) Gesundheitsdienstes im Land Brandenburg stellt fest, dass die 1999 im Land Brandenburg untersuchten sechs- Präsident Wolfgang Thierse: und 16-jährigen Kinder und Jugendlichen durchschnitt- Kollegin Drobinski-Weiß, dies war Ihre erste Rede lich schwerer und größer sind sowie höhere Body-Mass- hier, nachdem Sie erst vier Wochen Mitglied des Deut- Indizes als zehn Jahre zuvor haben. Dementsprechend schen Bundestages sind. Unsere herzliche Gratulation. hat der Anteil übergewichtiger und stark übergewichti- ger Kinder und Jugendlicher zugenommen. Das ist in (Beifall – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: hohem Maße besorgniserregend; denn bekanntermaßen Danke!) werden aus dicken Kindern auch meist dicke Erwach- Ich erteile nun Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grü- sene mit all den gesundheitlichen Problemen. nen, das Wort. Die Bundesregierung hat bereits zahlreiche Maßnah- men ergriffen, um die Dreiecksbeziehung zwischen Be- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wegung, Ernährung und Gesundheit ins rechte Lot zu Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und bringen. Doch die Maßnahmen des Bundes allein rei- Kollegen! Die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen sind chen nicht aus. noch immer geprägt vom Hunger, den sie erlitten haben; Frau Klöckner wies vorhin darauf hin. Es wird gegessen, (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!) was auf den Tisch kommt; der Teller wird aufgegessen; Essen wirft man nicht weg – diese Worte haben sich tief Deshalb hat Bundesministerin Künast zu einer neuen Ernährungsbewegung für Deutschland aufgerufen. (B) in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Am Ende der (D) Nachkriegszeit kam die Fresswelle. Essen hatte nach Hier haben auch die Länder und Kommunen ihren Anteil dem Zweiten Weltkrieg für die Menschen große Bedeu- zu leisten. Frei nach dem Motto „Was Hänschen nicht tung. lernt, lernt Hans nimmermehr“ muss die Trendumkehr bei den Kindern ansetzen. Kinder müssen wieder raus an Bedingt durch die deutsche Teilung sind jedoch auch die frische Luft, müssen lernen, dass Essen Kultur ist in den Lebensgewohnheiten unterschiedliche Entwick- und Bewegung Spaß machen kann. Hier haben die Län- lungen in den zwei deutschen Staaten zu erkennen. Im der ihre Aufgabe. Westen begann der Siegeszug der Fertiggerichte. Gute Butter und Schokolade waren Zeichen des Wohlstands. Wir brauchen in Kitas und Schulen den Lerninhalt Er- Das eigene Auto wurde zum Statussymbol. Schwere nährung. Kinder sollen neben dem Schulessen auch körperliche Arbeit wurde durch Technik ersetzt. – Im Schulmilch bekommen. Das darf nicht an der Bequem- Osten war die Auswahl an Fertiggerichten durchaus lichkeit der Hausmeister scheitern, wie es mir erst jüngst überschaubar. Es wurde mehr selbst gekocht. Statt Butter aus Brandenburg geschildert wurde. Kinder müssen re- gab es Margarine. Schlagsahne war lange Zeit Bück- gelmäßig Sportunterricht erteilt bekommen. Vereins- ware. Wir stellten sie zu festlichen Anlässen her, indem sport darf nicht kaputt gespart werden. wir Butter und Milch mit dem Mixer wieder zusammen- fügten. Dafür aber gab es Schulmilch und Schulessen, Schulen, vor allen Dingen Grundschulen, müssen und zwar flächendeckend. Ich bin wohl nicht verdächtig, fußläufig erreichbar sein. Länder und Kommunen müs- DDR-nostalgisch zu sein, sondern schildere das ganz sen für sichere Schulwege sorgen, damit Kinder wieder wertfrei. mehr laufen und radeln können. Es gibt viel zu tun. Mit dem Mauerfall veränderte sich die Situation in Bei den Haushaltsberatungen können Landes- und Ostdeutschland plötzlich gravierend. Es hielten Fertig- Kommunalpolitiker beweisen, wie ernst sie es mit den produkte mit einem hohen Gehalt an Fett, Zucker, Zu- Investitionen in die Zukunft meinen. Ich bin auf eine satzstoffen und Geschmacksverstärkern Einzug. Eine neue Ernährungsbewegung in Deutschland gespannt. Folge: Der Geschmack der Konsumenten wandelte sich. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich bin auch Beispielsweise trinken heute jüngere Leute auch in Ost- gespannt!) deutschland viel süßere Produkte als meine Generation. Eine weitere Folge: Kinder kennen Obst- und Gemüse- Danke. sorten kaum noch im Rohzustand. Sie wissen nicht, wie man mit ihnen umgeht und wie ihr unverfälschter Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schmack ist. und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10339

(A) Präsident Wolfgang Thierse: ernähren kann, selbst wenn sie es wollte, weil diese (C) Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch. Menschen einfach nicht genug Geld in der Tasche ha- ben. Eine Voraussetzung für eine neue Ernährungsbewe- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): gung ist also auch die Bekämpfung von Armut in Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Deutschland. ren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir wissen Was Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit das!) der Agenda 2010 beschlossen haben, ist ein Armutspro- Um die Sache gleich auf den Punkt zu bringen: Die gramm für weite Teile der Bevölkerung und damit, Frau Agenda 2010 macht krank und dick. Das werde ich Künast, ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. gleich begründen. Doch vorher einige Worte zur Initia- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist blan- tive für eine neue Ernährungsbewegung in Deutschland. ker Unsinn! Das wissen Sie ganz genau!) Wir, die PDS, unterstützen die Initiative von Frau Künast in vielen Punkten. Zum Beispiel ist die Auffor- – Das ist überhaupt kein Unsinn. – Zu Beginn des nächs- derung an die Lebensmittelindustrie, kalorien- und fett- ten Jahres wird das Arbeitslosengeld II eingeführt wer- ärmere Lebensmittel herzustellen, sehr vernünftig. Die den. Was bedeutet Arbeitslosengeld II? Das bedeutet die Frage, an der sich das messen lassen muss, ist nur, ob die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe Lebensmittelindustrie dieser Aufforderung folgen wird. auf dem Niveau der Sozialhilfe. Das bedeutet, dass ein Da bin ich eher skeptisch. Mensch im Osten Deutschlands, der Arbeitslosenhilfe- empfänger war und Arbeitslosengeld-II-Bezieher wird, Frau Künast, bei mir entsteht oft der Eindruck, dass nur noch 331 Euro, ein Arbeitslosengeld-II-Bezieher in Sie die Menschen einfach nur besser erziehen wollen. Berlin und im Westen 345 Euro im Monat zur Verfügung Das halte ich nur zum Teil für richtig und möglich. Es ist haben wird. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, hier schon erörtert worden, dass es viele Gründe gibt, und Sie, Frau Künast: Wie soll man sich im Osten von warum sich Menschen ungesund ernähren. Einen Grund 331 Euro bzw. im Westen und in Berlin von 345 Euro möchte ich an dieser Stelle besonders betonen, da er in gesund ernähren? Wie wollen Sie auf der Basis des Ar- dieser Debatte zwar schon angesprochen wurde, aber et- beitslosengeldes II eine gesunde Ernährungsbewegung was zu kurz gekommen ist. für Deutschland durchsetzen? Das ist die entscheidende Frage. Armut befördert eine ungesunde Ernährung. Der So- zialhilfesatz in Deutschland reicht bei einer Familie nur Die Frage des Übergewichts ist vor allen Dingen eine (B) 20 Tage lang für eine gesunde Ernährung. Zu diesem Er- soziale Frage. Wenn diese soziale Frage nicht gelöst, (D) gebnis gelangten Forscher der Universität Gießen in sondern verschärft wird, wird sie diese Ernährungsbewe- einer Studie. Aus finanziellen Gründen verpflegten sich gung behindern bzw. verhindern. Sozialhilfeempfänger vorwiegend mit Brot, Kartoffeln (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) und Teigwaren – Sehr geehrte Frau Künast, bei mir entsteht der Ein- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eigentlich druck, dass die von Ihnen vorgestellte Initiative zwar ziemlich gut!) sehr gut gemeint ist, dass Sie viele gute Ideen haben und so die Ernährungswissenschaftlerin Lehmkühler, die auch viele Menschen auf eine vernünftige Weise zusam- diese Studie erarbeitet hat. Für ausreichend Obst und mengebracht haben, dass aber die zentrale Frage der so- Gemüse reicht das Geld nicht. Die Wissenschaftlerin be- zialen Absicherung nicht beantwortet wird. Sie wird richtet von den gravierenden Folgen, die diese Fehl- vielmehr durch die Agenda 2010 verschärft. Wenn die ernährung besonders bei Kindern hat. Mit dem Begriff rot-grüne Bundesregierung dieses Armutsprogramm „Streckphase“ beschreiben Betroffene, dass sie Geld und nicht korrigiert, wird in Deutschland keine Grundlage Essensreste oft bis zur nächsten Geldüberweisung stre- für eine gesunde Ernährung entstehen. Sie muss die cken müssen, damit ihr Haushalt über die Runden Agenda 2010 korrigieren, damit das Ziel von Frau kommt bzw. überhaupt etwas zum Essen und Trinken Künast umgesetzt werden kann. Dabei werden wir Sie auf den Tisch kommt. gerne unterstützen. Unabhängig von dieser Studie aus Gießen möchte ich Vielen Dank. noch eine andere von der Universität Kiel anführen, die (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) zu ähnlichen Ergebnissen über das Ernährungsverhalten von Kindern kommt. Dort wurde festgestellt – das ist wirklich alarmierend –, dass Jungen und Mädchen aus Präsident Wolfgang Thierse: ärmeren Familien oft übergewichtig seien und gleichzei- Ich erteile das Wort Kollegin Marlene Mortler, CDU/ tig aufgrund der Mangelernährung an Minderwuchs lit- CSU-Fraktion. ten. Wir reden hier nicht über Uganda oder den Sudan, (Beifall bei der CDU/CSU) wir reden über eines der reichsten Länder der Welt, über Deutschland. Marlene Mortler (CDU/CSU): Es gibt eine soziale Gruppe, die wegen der Agenda Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten 2010 immer größer werden wird, die sich nicht gesund Damen und Herren! Wir reden heute zur besten Sende- 10340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Marlene Mortler (A) und Redezeit im Plenum über Ernährung und Bewe- Ich als Bäuerin, Landfrau, Erzeugerin und Hauswirt- (C) gung. Ich habe durchaus Verständnis für die Menschen schafterin habe meine persönliche Regel und Lebenser- in unserem Land, die sich fragen: Habt ihr in Berlin fahrung. Die beste Medizin ist für mich, Produkte der keine anderen Sorgen? Saison und solche aus der Region zu genießen, und zwar bedarfsgerecht und – das ist das Sahnehäubchen oben- Die sozialen Sicherungssysteme kollabieren. drauf – abwechslungsreich. (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das ist doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Blödsinn!) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Die Schuldenberge wachsen und lassen unseren Nach- GRÜNEN) wuchs schon in jungen Jahren alt aussehen. Ich gebe zu, dass das zwar verdammt einfach klingt, aber – vor allem in Berlin – oft sehr schwer umzusetzen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Frau Künast Ministerin Künast kämpft gegen Kalorien und Kilo- kämpft dafür!) gramm. Gleichzeitig kämpfen Millionen Menschen auf der Welt um das nackte Überleben. Das ist verrückt. Es Ich erkenne Ihre Bemühungen durchaus an, die Men- muss uns auch zu denken geben, dass unter diesen Hun- schen in Deutschland wieder zu einem verantwortungs- gernden Millionen Bauern sind. Es sind Bauern, die Le- vollen Ernährungs- und Einkaufsverhalten sowie zu aus- bensmittel – also Mittel zum Leben – erzeugen. Das ist reichender Bewegung zu motivieren. Darin sind wir uns die eine Seite. einig. Wir beschäftigen uns heute mit der anderen Seite, Meine Anerkennung gilt aber auch allen Bäuerinnen nämlich damit, dass ernährungsbedingte Krankheiten, und Bauern in Deutschland. Sie erzeugen entweder auf die schon im Kindesalter auftreten, massiv auf dem Vor- konventionelle oder auf ökologische Weise hochwertige marsch sind. Ein neuer Umgang mit Essen und Trinken, Nahrungsmittel. Auf den Teller darf nur, was unserer mit Lebensmitteln und dem eigenen Körper ist in der Tat strengen deutschen Gesetzgebung entspricht. Frau Mi- eine wichtige Zukunftsaufgabe. nisterin, es spricht für sich, dass Sie immer wieder still- schweigend akzeptieren, dass viele ausländische Pro- Die Zahlen der WHO sind genannt worden. Auch die dukte importiert werden, die unseren Standards nicht in Großbritannien angedachte Fettsteuer ist bereits ange- entsprechen. Über diese Importe verlieren Sie kein Wort. sprochen worden. Ich selber konnte im Rahmen einer Delegationsreise in die USA feststellen, wie viele dicke (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Menschen bzw. Kinder dort leben. Ehrlich gesagt war Was aber nutzt die Erzeugung hochwertigster Nah- (D) auch ich schockiert. rungsmittel, wenn andererseits Wissen um den sachge- Der „Focus“ schreibt in seiner neuesten Ausgabe über rechten Umgang und die Verarbeitung immer mehr ver- die Wenig-Fett- bzw. Wenig-Kohlenhydrate-Manie in loren geht? Meine Tochter hat es einmal auf den Punkt den USA. Superfett und superdürr sind Extreme; es sind gebracht, als sie gesagt hat: Mama, viele verstehen, aus keine Lösungen. Darüber sind wir uns sicherlich einig. den besten Zutaten das schlimmste Essen zu kochen. Essstörungen sind im Gegensatz zu Übergewicht psy- Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass chosomatische Störungen, die vor allem in der Pubertät der schleichende Abschied von unseren Schulküchen zur auftreten. Sie wachsen sich nicht aus. Vielen wird die Beschleunigung des negativen Trends beim Ernährungs- Magersucht zum Lebensinhalt. verhalten beigetragen hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Eine exzessive Beschäftigung mit Körper und Ge- wicht sowie Diäten sind unter Jugendlichen weit verbrei- Dabei sind unsere Kinder doch begeistert und interes- tet. Untersuchungen zeigen, dass sich bereits Sieben- bis siert, wenn sie Lebensmittelerzeugung, Lebensmittelver- Zehnjährige zu dick finden und Diät halten. arbeitung und gesundes Essen richtig vermittelt bekom- men. Ich zitiere in diesem Zusammenhang Sie, sehr ver- ehrte Frau Künast: Nicht erst seit Frau Künast gibt es Aktionen und Pro- jekte. Ich denke an dieser Stelle an die Landfrauen. Sie Ernährungsbedingte Krankheiten verursachen er- tagen zur Stunde parallel in Berlin und beschäftigen sich hebliche Kosten. Sie werden auf etwa ein Drittel mit dem Thema „Hauswirtschaft und Ernährung“ wirk- der Gesamtkosten unseres Gesundheitswesens ge- lich ernsthaft. Ich denke unter anderem an die bayeri- schätzt. Die Zahlen müssten uns eigentlich wach- schen Landfrauen, die sich zu Ernährungsfachfrauen rütteln. fortgebildet haben und die sich im Rahmen des Ernäh- So äußerte sich Frau Künast im Mai 2001 vor dem Bun- rungsprojekts „Landfrauen machen Schule“ mit unseren desverband der Verbraucherzentralen in Berlin. Ich Produkten auseinander setzen. Ich denke insbesondere an hoffe, dass Sie nun nach drei Jahren endlich aufgewacht die Fachfrauen für Kinderernährung in Baden-Württem- sind und dieses ernste Thema auch ernsthaft angehen, berg. Dieses Bundesland stellt alleine 500 000 Euro pro und zwar nicht als Event, sondern bitte nachhaltig! Jahr für Aufklärung zur Verfügung. Ich denke weiter an die Gesundheitsinitiative „Bayern aktiv“, durch die Kin- (Beifall bei der CDU/CSU) der spielerisch erleben, welche Wirkungen ihr Ess- und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10341

Marlene Mortler (A) Bewegungsverhalten auf ihren Körper hat. Ich denke Neunjährigen heute bereits uncool. Den Sechsjährigen (C) ebenfalls an Schülerunternehmen zur gesunden Pausen- trennen Welten vom Vierjährigen; für den Achtjährigen verpflegung – sie werden fachlich und finanziell in Bay- ist der Sechsjährige ein Baby. Das heißt, die Kinderzeit ern unterstützt – oder an das Projekt „anschub.de“. Hier verkürzt sich, Kinder lassen sich immer früher immer haben das Kultusministerium, die Barmer Ersatzkasse weniger sagen, abgesehen davon, dass Jungen und Mäd- und die Bertelsmann-Stiftung von 2004 bis 2007 die Ini- chen eh in verschiedenen Universen leben. Meine Her- tiative ergriffen. Alles, was in der Schule zu einer gesun- ren, nehmen Sie es mir nicht krumm: Mädchen sind den Lebensführung beitragen kann, wird in der Modell- schneller reif, Jungen tun nur so. region Bad Kissingen mit Lehrern, Schülern und Eltern erprobt. Bestehende Aktivitäten wie Suchtprävention, (Beifall bei der CDU/CSU – Jella Teuchner gesunde Ernährung und die „Bewegte Schule“ werden in [SPD]: Das hält sich bis ins hohe Alter!) einem Gesamtkonzept gebündelt und wissenschaftlich Ist ein Produkt für Jungen gut, kaufen es Mädchen trotz- begleitet. dem; ist ein Produkt für Mädchen gut, mögen es Jungen Mehr Gesundheit bedeutet mehr Lebensqualität und noch lange nicht. Gesunde Ernährung geht den Jungen mehr Leistung in der Schule und später im Berufsleben, an der Backe vorbei. Aber alle Kinder wollen, dass es aber auch weniger Folgekosten für den Staat. Und mehr toll und vielfältig schmeckt, dass Essen sich im Mund Bewegung ist auch mehr Lebensqualität. Deshalb habe gut anfühlt und dass man im Mund damit spielen kann. ich in der letzten Woche auch eine Initiative des Deut- Meine Damen und Herren, alle wissen inzwischen, dass schen Kinderhilfswerkes unterstützt, bei der es um die Milch gesund ist. Aber wenn wir sagen, „Milch macht Forderung nach dem Recht von Kindern auf Spielen schön“, dann ist das ein größerer Anreiz, Milch zu trin- geht. Das ist ein Grundrecht. ken. Das heißt, wir müssen die Kinder dort abholen, wo sie stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie, Frau Ministerin, stehen mit Ihrer Plattform noch Wir alle kennen ja die Schilder „Spielen verboten“. Das in den Kinderschuhen und wir befürchten, dass nach der müsste eigentlich umgekehrt sein. medienwirksamen Sensibilisierung für dieses Thema die Mit der Macht der Medien und der Werbung sind Aufmerksamkeit ohne eine grundsätzliche Verbesserung weitere Einflussfaktoren hinzugekommen. Kinder be- der Situation verpufft. stimmen – das wissen wir – immer öfter, was auf den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Tisch kommt. Sie haben die Hosen an und sind viel be- achtete Konsumenten. Präsident Wolfgang Thierse: (B) Es ist schon richtig, wenn wir im Zusammenhang mit Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- (D) Kinderlebensmitteln von mehr Fett und Zucker spre- men. chen. Ich möchte an dieser Stelle trotzdem eine Lanze für die Ernährungsindustrie brechen. Erstens reagiert sie nur auf Verbraucherwünsche und zweitens gibt es Marlene Mortler (CDU/CSU): weder gesunde noch ungesunde Nahrungsmittel. Viel- Ich bin beim vorletzten Satz. – Ich ziehe hier eine Pa- mehr kommt es auf die Dosierung an. Ehrlich gesagt, rallele zur Agrarwende. In Wirklichkeit hat diese viel be- auch ich esse lieber ein Stück fetten als mageren Käse, schworene Agrarwende das Höfesterben beschleunigt. weil ich diesen wirklich genießen kann. Aber ich esse Meine Damen und Herren, die Vermittlung von Basis- vom fetten Käse etwas weniger. kompetenz bei Kindern und Jugendlichen wird nicht nur zu einer bewussten Ernährung führen, sondern auch zum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mündigen Verbraucher. Daran, sehr geehrte Frau Minis- Auch wenn Werbung vieles beeinflusst: Eltern kön- terin, werden wir Sie messen. nen mit ihren Kindern noch immer direkt reden. Deshalb Vielen Dank. brauchen wir mehr Eigenverantwortung. Sie ist sozu- sagen Pflicht. Aber wir wissen, dass die Familien nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alles leisten können. Frau Ministerin, Sie haben sich ja eine hohe Hürde gesetzt. Wenn wir Ernährungserziehung Präsident Wolfgang Thierse: wirklich ernst nehmen, dann müssen wir dafür sorgen, Ich erteile das Wort Kollegin Jella Teuchner, SPD- dass sie durchgängig und flächendeckend in allen Alters- Fraktion. stufen erfolgt.

Nur dann macht sie Sinn. Leider sind wir bisher über Jella Teuchner (SPD): den Projektcharakter nicht hinausgekommen. Das ist der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im nächste weitere wichtige Schlüssel. letzten Jahr hat die Fast-Food-Kette, die heute schon Ferner gilt es, die verschiedenen Zielgruppen unter- namentlich erwähnt worden ist, ihren Markenauftritt schiedlich anzusprechen. Wir wissen, dass die altersmä- komplett umgestaltet. Sie sponsert Sportwettbewerbe. ßige Entwicklung heute so schnell geht, dass Kinder, die Spaß, Bewegung und gesunde Ernährung sind die The- zwei Jahrgänge auseinander sind, kaum mehr unter men, mit denen das Unternehmen in die Öffentlichkeit einen Hut zu bringen sind. Was für den Neunjährigen tritt, in erster Linie natürlich aus wirtschaftlichem Eigen- vor zehn Jahren noch wahnsinnig cool war, ist für den interesse. 10342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Jella Teuchner (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die wollen Wir müssen dazu alle ins Boot holen: Die Eltern, die (C) Steuern zahlen!) Kindergärten, die Schulen, die Ärzte, die Krankenkas- sen, die Verbraucherverbände, die Lebensmittelindustrie In vielen Diskussionen gilt dieses Unternehmen als und die Werbewirtschaft. Sie alle müssen mithelfen, das Synonym für schlechte Ernährung. Dass das Unterneh- Wissen um die Ernährung aufzubauen und vor allem Be- men sein Image ändern will – weg vom Burger hin zum wegung zu fördern. knackigen Salat mit Michael Ballack als Markenbot- Wir brauchen aber auch eine Verbraucherinformation, schafter –, zeigt, dass die Diskussion um gute Ernährung die das Wissen um eine gesunde Ernährung vermittelt. mittlerweile in unserer Gesellschaft angekommen ist. Außerdem brauchen wir ein Produktangebot, das den Wir brauchen diese Diskussion. Ich denke, darüber sind Anforderungen an eine gesunde Ernährung entspricht. wir uns alle einig. Wir sind uns auch darüber einig, dass Es wird zu fett und zu süß gegessen; trotzdem gibt es gerade der steigende Anteil übergewichtiger Jugendli- kaum einen ungesüßten Fruchtsaft. Stiftung Warentest cher besorgniserregend ist. Wir dürfen aber nicht nur hat festgestellt, dass Produkte für Kinder zu viel Zucker, über Kinder und Jugendliche sprechen, denn deren Er- zu viel Fett und zu viele Kalorien enthalten. Hier haben nährung wird ja zum großen Teil durch die Eltern ge- auch die Lebensmittelhersteller eine Verantwortung, die prägt. sie wahrnehmen müssen. Das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Er- Wir können die Zeit aber nicht zurückdrehen. Unser nährung und Landwirtschaft hat die Leserinnen und Le- Lebensstil hat sich geändert. Unsere Aufgabe ist jetzt, ser der Zeitschrift „Eltern“ zu ihren Essgewohnheiten die Menschen darin zu unterstützen, ein Ernährungsver- befragt. Das Ergebnis bei einer Zielgruppe mit über- halten zu lernen, das diesem Lebensstil entspricht. Das durchschnittlichem Bildungsniveau: 22 Prozent der Fa- ist keine Aufgabe, die man den Märkten einfach so über- milien essen seltener als einmal am Tag gemeinsam. lassen kann. Im Entschließungsantrag der FDP werden 61 Prozent der Kinder verlassen den Tisch, bevor alle die Handlungsaufforderungen der WHO zitiert: weniger aufgegessen haben. Fett, Salz und Zucker in bereits bestehenden Produkten, die Förderung von gesunder Ernährung und Bewegung Das Büro für Technikfolgenabschätzung beschreibt in durch alle gesellschaftlichen Gruppen und eine Unter- seinen Basisanalysen zum TA-Projekt „Entwicklungs- stützung zur Durchsetzung dieser Ziele. Aber können tendenzen von Nahrungsmittelangebot und -nachfrage Sie mir eigentlich erklären, warum Sie im Forderungsteil und ihre Folgen“ eine Zunahme der Verwendung von so Ihres Antrages genau diese Handlungsaufforderungen so genannten Convenienceprodukten; Zeit, Interesse und vehement ablehnen? Fähigkeit zum aufwendigen Kochen in den privaten Frau Heinen, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass Sie (B) Haushalten nehmen deutlich ab. eine Bündelung und eine Federführung wollen; anderer- (D) seits haben Sie beanstandet, das Ganze sei eine Einmi- Nun sind Fertiggerichte und Tiefkühlkost nicht per se schung in Länderkompetenzen. Diese Aussage war also schlecht oder ungesund. Aber eines zeigt diese Entwick- nicht ganz eindeutig. lung deutlich: Wir nehmen uns nicht mehr die Zeit, die Ruhe oder die Muße, zu kochen und zu essen. Oft haben Ich komme auf die Ausführungen von Frau Klöckner wir sie leider aber auch nicht. Wir haben es mit einer zu sprechen. Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass Sie Entwicklung zu tun, durch die sich das Ernährungsver- heute früh ganz schlecht gefrühstückt haben. Der Be- reich Sport ist in der Rede der Ministerin nämlich sehr halten verändert; gleichzeitig bewegen wir uns weniger, wohl behandelt worden. Ich möchte schon daran erin- allein schon deshalb, weil wir im Normalfall im Sitzen nern, wer die Übungsleiterpauschale in diesem Bereich arbeiten. Das Wissen um die Ernährung und um die Le- erhöht hat. Das waren doch wir, während Sie all die bensmittel an sich geht verloren. Auch das halte ich für Jahre vorher geschlafen haben. einen wichtigen Punkt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es wird immer wieder von Kindern berichtet, die nur DIE GRÜNEN) lila Kühe zeichnen, weil sie noch nie eine lebende Kuh Wir konzentrieren uns in der heutigen Debatte auf gesehen haben. Glauben Sie denn wirklich, dass noch Übergewichtige und Fehlernährung. Defizite zeigen sich alle Erwachsenen wissen, wann man zum Beispiel meh- aber auch bei alten Menschen in Form von Unterernäh- lige oder fest kochende Kartoffeln verwendet? Die ver- rung und Austrocknung. Es ist daher richtig, dass es ne- schiedenen Jahreszeiten merkt man am Obstregal ja auch ben dem Programm „Kinder leicht“ das Programm „Fit nur noch an dem Preis für Erdbeeren. im Alter“ gibt. Wir werden beide Programme fortsetzen und weiterentwickeln. Sie allein reichen aber nicht aus. Veränderte Lebensstile, ein verändertes Bewegungs- Wir brauchen eine neue Ernährungsbewegung in verhalten und vor allem fehlendes Wissen um gesunde Deutschland, an der sich möglichst alle gesellschaftli- Ernährung, das sind die Gründe dafür, dass wir heute chen Gruppen beteiligen. diese Debatte führen müssen. Wir alle kennen die Folgen der Fehlernährung für den Einzelnen und für die Gesell- Heute Vormittag sprechen wir uns alle in dieser De- schaft. Wir müssen feststellen, dass die Lösung dieses batte für eine gesunde Ernährung aus. Es ist jetzt gerade Problems dringlicher wird. Wenn Kinder und Jugendli- 11 Uhr. Heute Mittag werden die meisten von uns leider che Krankheiten bekommen, die eigentlich nur bei Er- wieder keine Zeit dazu haben, in Ruhe etwas zu essen. wachsenen bekannt sind, dann ist es höchste Zeit, zu Ich bin mir sicher, dass wir das Plenum auch heute nicht handeln. für eine Mittagspause unterbrechen werden. Trotzdem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10343

Jella Teuchner (A) gilt auch heute: Wenn mittags nicht alle Abgeordneten cken muss. So entsteht eine Situation, von der Bauern (C) im Plenum sind, dann sind die, die fehlen, ein Vorbild: und Konsumenten gleichermaßen profitieren. Die Men- Sie nehmen sich die Zeit fürs Essen. schen merken wieder, dass Nahrungsmittel auch Lebens- mittel sein können, aber auch, was Qualität, Regionalität (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Oder das Ko- und Jahreszeit bedeuten. chen! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine ganz neue Begründung für das Fehlen!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner) Ich wünsche dazu Ruhe und Muße. Ich wünsche eine ge- segnete Mahlzeit. Wir müssen das Bewusstsein unserer Kinder schärfen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sie zum Beispiel auch wieder auf die Höfe bringen, DIE GRÜNEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sonntag!) damit sie erleben können, woher ihr Essen kommt. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kollegen Friedrich Ostendorff für die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jawohl!) Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. Kindergeburtstage auf dem Bauernhof anstatt, wie heute, im Fast-Food-Restaurant sind für Kinder sicherlich auch Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sehr spannend. NEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Herren! 49 Prozent der Bevölkerung sind überge- und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: wichtig, 13 Prozent stark übergewichtig. Übergewicht Dann müsst ihr verdeckte Ermittler einsetzen!) hat zwei Hauptursachen: mangelnde Bewegung, falsche Wir müssen mit unseren Produkten aber auch in die Ernährung. Wir essen nicht mehr, sondern wir essen Schulen gehen. Das Programm für 10 000 Ganztags- falsch. schulen, das wir aufgelegt haben, bietet die Chance auf (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) 5 Millionen gesunde, frische Mahlzeiten pro Tag. Landwirtschaft und Ernährung sind untrennbar mit- Meine Damen und Herren, ist es wirklich ein Fort- einander verbunden. Sitzen aber womöglich auch Bau- schritt, dass die Küche der unwichtigste Raum in der ern und übergewichtige Kinder in einem Boot? Sowohl Wohnung geworden ist? Ich habe immer bedauert, dass Kinder als auch Bäuerinnen und Bauern bekommen die Hauswirtschaftslehre aus den meisten Lehrplänen schmerzhaft zu spüren, was es bedeutet, wenn eine Ge- gestrichen wurde. Dies wurde sogar als Erfolg moderner sellschaft die Wertschätzung für ihre Nahrung verliert. Schulpolitik gefeiert. Moderne Ernährungslehre muss (B) wieder Schulfach werden. (D) Fehlernährung ist auch Folge von Missachtung und Unkenntnis der Herkunft und Qualität unserer Nah- (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- rungsmittel. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr rich- Das Wissen darüber, wie ein Haushalt zu organisieren ist tig!) und Lebensmittel bearbeitet werden, ist vielleicht ebenso wichtig wie das Wissen über Informatik. Für uns Bauern bedeutet diese Haltung einen oft gnaden- losen Preiskampf, weil die Bereitschaft fehlt, für gute Produkte gute Preise zu zahlen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Der Bereich Ernährung ist elementarer Bestandteil ei- Kollegen Tauss? ner sinnvollen Agrarpolitik. Das hat man bei der CDU- Wahlwerbung mit dem Apfel erkannt. Die einseitige Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lobbypolitik vergangener CDU/CSU-Zeiten hat aber zu NEN): einer Entfremdung zwischen Landwirtschaft und Ver- Nein, im Moment nicht; das können wir zum Schluss brauchern sowie vor allem von unserer Nahrung geführt. machen. Leider arbeitet die Opposition auch heute noch daran, diesen Prozess zu verstärken. Wir wollen Fast Food nicht abschaffen, aber unsere Ministerin Künast und wir sind mit einer Agrar- Kinder müssen lernen, was sie wann wie oft essen dür- wende angetreten, die die Landwirtschaft und vor allem fen. Slow Food und Good Food statt Fast Food, das ist ihre Produkte wieder in die Mitte der Gesellschaft rückt. die Zukunft. Viele unserer Mitmenschen haben das Ko- chen verlernt. Die Nahrungsmittelindustrie bringt mit (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- viel Werbung immer neue Convenience-Food-Angebote SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) auf den Markt, die oft nur sehr entfernt ahnen lassen, aus welchem Urprodukt sie entstanden sind. Schlimmer: Sie Deshalb sind wir froh darüber, Frau Klöckner, dass sich verführen unsere Kinder zum schnellen Essen nebenbei unser Staatssekretär auch über die Ernährungspolitik an- und schwören sie frühzeitig auf einen industriellen derer Länder informiert. Durchschnittsgeschmack ein. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wir auch!) Gezielte Kinderwerbung, meine Damen und Herren, Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, wollen wir müssen wir ächten. Warum sollen Kinder fragen, woher eine transparente Landwirtschaft, die sich nicht verste- Lebensmittel kommen, wenn man ihnen Fertiggerichte 10344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Friedrich Ostendorff (A) – diese sind zu süß oder zu salzig, enthalten zu viele Ka- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der meinte (C) lorien, sind zu ballastarm, zu fett, zu vitaminarm und ihn doch gar nicht, sondern uns!) auch zu teuer – vorsetzt? (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN]) NEN): Danke, Herr Tauss, für diesen Hinweis. Ich denke, 1 Kilogramm konventionell angebaute Kartoffeln dass wir hier einen sehr wichtigen Baustein dafür setzen, kostet 30 Cent, 1 Kilogramm Biokartoffeln 50 Cent, eine um unsere Kinder wieder an die Ernährung mit frischen Tüte Chips, 200 Gramm, 99 Cent; heute Morgen noch und gesunden Produkten zu gewöhnen. Wir erleben, im Edeka-Markt gesehen. Das heißt, die konventionell dass gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in angebauten Kartoffeln, legt man den Preis der Tüte Ganztagsschulen – hier spreche ich aus eigener Erfah- Chips zugrunde, kosten pro Kilogramm 4,95 Euro. rung; denn unser Betrieb beliefert seit vielen Jahren Kin- Unsere guten, frischen Produkte müssen wieder zu- dertagesstätten und Schulen mit Produkten von unserem rück auf die Speisekarte, auch deshalb, weil sie viel Hof – für die Vermittlung der Bedeutung von gesunden preiswerter sind. Richtige Ernährung ist eine gesamtge- und frischen Nahrungsmitteln sehr wichtig sind; denn sellschaftliche Aufgabe. Hier geht Aufklärung vor Ge- die Küchenleiterinnen und -leiter sind in der Regel sehr winnmaximierung; denn die Folgekosten müssen wir engagiert. Sie sind wichtige Multiplikatoren und sorgen alle tragen. dafür, dass auch die Kinder, die von zu Hause nicht ge- nügend an diesem Punkt mitbekommen, angehalten wer- Meine Damen und Herren, rot-grüne Agrar-, Ernäh- den, sich mit der Frage, wie sie sich richtig ernähren rungs- und Verbraucherpolitik will nicht nur regionale können, auseinander zu setzen. und verbrauchernahe Lebensmittelproduktion, sondern auch den Umgang mit guten Lebensmitteln fördern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb brauchen wir die Ernährungsplattform. Neben und bei der SPD sowie des Abg. Hans-Michael der auch sehr wichtigen Frage des Bewegungsmangels Goldmann [FDP]) – hier gilt für uns alle: Jeder Gang macht schlank – sind frische Lebensmittel sicherlich ein entscheidender He- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bel, einer falschen Ernährung durch Fertigprodukte zu begegnen. Ich schließe die Aussprache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen und bei der SPD) 15/3323 und 15/3324 sollen zur federführenden Bera- tung an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernäh- (B) rung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an den (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sportausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an den Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und Kollegen Jörg Tauss. Soziale Sicherung und an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung überwiesen Jörg Tauss (SPD): werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Lieber Herr Kollege, ich freue mich sehr, dass auch unser Ganztagsschulprogramm gewürdigt worden ist. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Die Würdigung des Ganztagsschulprogramms unter dem Drucksache 15/3310 an die in der Tagesordnung aufge- Gesichtspunkt der Einrichtung von Schulküchen, die führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- dazu führen, dass die Schülerinnen und Schüler gesund verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung ernährt werden, wäre doch möglicherweise der geeig- so beschlossen. nete Anlass für die Opposition, endlich ihre diskriminie- rende Definition des Ganztagsschulprogramms als Sup- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatz- penküchenprogramm aufzugeben. punkt 6 auf: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Uwe DIE GRÜNEN) Schummer, Werner Lensing, , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der Ich glaube, es wäre höchste Zeit, hier wieder die Kirche CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset- ins Dorf zu stellen, sich für diese Polemik zu entschuldi- zes zur Modernisierung der dualen Berufsaus- gen und deutlich zu machen, dass die Ganztagsschule bildung in Deutschland durch Novellierung selbstverständlich auch dazu da ist, die vernünftige Er- des Berufsbildungsrechts nährung von Kindern sicherzustellen. Wenn wir davon in Zukunft ausgehen könnten, hätten wir in diesem Punkt – Drucksache 15/2821 – schon einmal Einigkeit erzielt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir sind für Technikfolgenabschätzung (f) Kirchen im Dorf!) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Herr Kollege Ostendorff, Sie können antworten. Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10345

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Zu einer vertrauensvollen Kooperation sind Sie noch (C) Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann immer nicht in der Lage. Das zeigt sich allein daran, (Homburg), weiteren Abgeordneten und der dass Sie konstant die Anstrengungen ignoriert haben, die Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines die deutsche Wirtschaft im letzten Herbst mit ihrem Pro- Gesetzes zur Reform des Berufsausbildungs- gramm „Chancengarantie 2003“ unternommen hat, um rechts zusätzliche Ausbildungsplätze einzuwerben. Noch wich- tiger ist, dass es gelungen ist, viele Jugendliche in echten – Drucksache 15/3325 – Ausbildungsverhältnissen unterzubringen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Unter den jetzigen schwierigen wirtschaftlichen Be- Technikfolgenabschätzung (f) dingungen, von denen wir alle wissen, was sie für je- Innenausschuss des einzelne Unternehmen bedeuten, verpflichtet sich Rechtsausschuss die Wirtschaft, 30 000 neue Ausbildungsplätze und Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 25 000 Praktikumsplätze bereitzustellen. Das ist unter Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union den gegebenen Bedingungen mehr als beachtlich. Wir begrüßen das und sagen herzlichen Dank für diese Ini- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tiative der Wirtschaft. die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christoph Hartmann [Homburg] [FDP] – Jörg Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Tauss [SPD]: Vielen Dank! Vielen herzlichen gin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion. Dank!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass die Selbstverpflichtung der Bundesregierung, Herr Tauss, auf tönernen Füßen steht, das wissen wir; Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): denn Ihre Politik ist durch das Leitmotiv „Versprochen – gebrochen“ gekennzeichnet. In dieser Situation wird Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sich die Wirtschaft und werden sich die Jugendlichen Kollegen! In Deutschland gibt es erhebliche Probleme wiederfinden. und Hindernisse in Bezug auf die Ausbildung und Be- schäftigung junger Menschen. Wir alle kennen die (Beifall bei der CDU/CSU) Gründe dafür sehr genau. Die Probleme sind auch nicht mit der gestrigen Vereinbarung vom Tisch. Wir sind Ich will Sie an dieser Stelle ganz deutlich vor Selbst- lob und Legendenbildung warnen. Ich zitiere die „Süd- (B) nämlich konfrontiert mit einer katastrophalen wirtschaft- (D) lichen Lage, mit zu hohen Lohnkosten und mit einer oft deutsche Zeitung“ von heute, die mit Blick auf den Aus- unzureichenden schulischen Vorbildung der Auszubil- bildungspakt auf Ihr Selbstlob eingeht: denden und einem veralteten Berufsbildungsrecht. In Dieses Argument … lässt außer Acht, welche fata- den letzten sechs Jahren hat die Koalition keines dieser len Auswirkungen die Debatte der vergangenen Probleme gelöst. Im Gegenteil: Es ist schlimmer gewor- Monate bereits hatte. In der Realität, in den Betrie- den, anstatt dass es besser geworden wäre. ben also, hat das Projekt Ausbildungsabgabe zum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gegenteil des Gewünschten geführt: Die Zahl der neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Sie glau- angebotenen Ausbildungsplätze liegt heute um ben diesen Blödsinn wohl auch noch!) 23 000 niedriger als vor einem Jahr. Dies sei, so die „Süddeutsche Zeitung“, vor allem als Jetzt muss dringend umgesteuert werden. Wir brau- Folge des Vertrauensverlustes der Unternehmen in die chen eine bessere Wirtschaftspolitik. Wer mehr Ausbil- Politik der rot-grünen Bundesregierung zu interpretie- dungsplätze will, muss der Wirtschaft die richtigen ren. – So ist es und nicht anders. Chancen geben. Wir brauchen eine Verbesserung im Be- reich des Berufsbildungsrechts. Alle Stellschrauben sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu justieren, um jungen Menschen eine Chance zu ge- ben. Ich spreche hier bewusst von Stellschrauben und Wäre es nach Ihnen gegangen, Frau Bulmahn und nicht von Daumenschrauben; auch die rot-grüne Regierungskoalition, dann wäre heute die kontraproduktive Ausbildungsplatzgabe Gesetz und (Beifall bei der CDU/CSU) Realität. denn die Ausbildungsplatzabgabe, die Sie hier im (Werner Lensing [CDU/CSU]: Das muss man Deutschen Bundestag verabschiedet haben, war ein gro- sich einmal vorstellen!) ßer Fehler. Dieses Gesetzt war getragen von einem tiefen Nur weil die Union – das sage ich mit Fug und Recht – Misstrauen gegenüber Unternehmern, Handwerkern und den Vermittlungsausschuss angerufen hat, Selbstständigen in Deutschland. Eine Zwangsabgabe einführen zu wollen war der größte Fehler, den Sie je ge- (Nicolette Kressl [SPD]: So ein Blödsinn!) macht haben. haben wir den Weg freigemacht und dafür gesorgt, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. die Wirtschaft bereit war, einen solchen Ausbildungs- Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]) pakt zu schließen. 10346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Dr. Maria Böhmer (A) (Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) Die FDP hat nachgezogen. Ich sage herzlichen Dank (C) dafür, dass wir in vielen Fällen eine große Übereinstim- – Sie können darüber lachen, liebe Frau Kressl; das mung haben. zeigt, dass Sie noch nicht einmal das Verfahren kennen, nach dem im Bundesrat gearbeitet wird. Wenn wir nicht (Jörg Tauss [SPD]: Während Ihrer Regierungs- Nein gesagt hätten, gäbe es heute die Ausbildungsplatz- zeit gab es die bei diesem Thema nicht!) abgabe mit einer monströsen Bürokratie. Wir werden alles daransetzen, die Novellierung des Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. rufsbildungsrechtes so schnell wie möglich zu realisie- Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]) ren. Ich sage Ihnen auch ganz klar: Wir werden den Ich will vier Punkte nennen, auf die es uns ankommt Wunsch von Herrn Müntefering, der erklärt, dass die – die Kollegen Schummer, Lensing und Dobrindt wer- Ausbildungsplatzabgabe ruhen solle, auf keinen Fall er- den diese Punkte dann noch im Detail darlegen –: Wir füllen. Wir bleiben bei unserer Linie: Das Gesetz ruht wollen modernisieren, indem wir eine beschleunigte nicht, es gibt keine Hängepartie; das Gesetz muss weg. Überarbeitung und Neufassung von rund 350 Ausbil- So werden wir im Vermittlungsausschuss verfahren und dungsordnungen angegangen sind. Wir haben damit Sie werden dort Farbe bekennen müssen. schon in unserer Regierungsverantwortung begonnen. Ich darf daran erinnern, dass wir allein 1997 mit Blick (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. auf die neuen IT-Komponenten Ausbildungsordnungen Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]) für 49 Berufe neu geschaffen und vorgelegt haben. Aber wir brauchen schnellere Verfahren. Eine Dauer von der- Liebe Frau Kressl, im „Spiegel“ konnte ich nachle- zeit acht Monaten ist zu lang. Deshalb schlagen wir eine sen, wie überrascht Sie waren, dass Herr Müntefering Verfahrensstraffung vor. jetzt eine Kehrtwendung vollzogen hat, um sich, wie der „Spiegel“ schreibt, „ohne großen Gesichtsverlust aus (Jörg Tauss [SPD]: Zwei Wochen!) der Affäre zu ziehen“. Liebe Frau Kressl, wir waren Wir sprechen uns auch für gestreckte Prüfungen nicht überrascht; denn wir wissen, dass die SPD und die aus; denn es macht keinen Sinn, in Zwischenprüfungen Grünen jeden Tag gut sind für ein Überraschungsei, das nur den aktuellen Stand abzufragen, aber das Ergebnis sie dem Land und den Bürgerinnen und Bürgern ins Nest nicht in die Abschlussprüfung eingehen zu lassen. legen. Seit fünfeinhalb Jahren widerlegen Sie mit aller Kraft die Lebensweisheit von Wilhelm Busch, die da Wir setzen auf Flexibilisierung durch eine Ausbil- lautet: „Stets findet Überraschung statt, da, wo man’s dung in Stufen und wir wollen der Internationalisie- nicht erwartet hat.“ Von Ihnen könnten wir dagegen stets rung Rechnung tragen, indem wir sagen: Auch im Aus- (B) eine neue Kehrtwende erwarten. land erworbene Ausbildungen müssen angerechnet (D) werden. Dazu brauchen wir einen europatauglichen Aus- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: bildungspass. Sie haben zu viele Überraschungseier geges- sen!) (Jörg Tauss [SPD]: Guten Morgen!) Wir brauchen ein modernisiertes Berufsbildungsrecht. – Lieber Herr Tauss, „Guten Morgen“ gilt für Sie; Deshalb haben wir eine Gesetzesnovelle vorgelegt. Das (Lachen bei Abgeordneten der SPD) duale Ausbildungssystem muss gestärkt werden. Es ist die tragende Säule unserer beruflichen Ausbildung. Es denn Sie haben bis heute noch nicht einmal einen Ge- setzentwurf vorgelegt, über den wir im Parlament ver- ist und war die Grundlage für eine gute wirtschaftliche handeln könnten. Das ist ein Offenbarungseid. Entwicklung – wir sind oft darum beneidet worden –, aber es muss den neuen Anforderungen angepasst wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – den. Volker Kauder [CDU/CSU]: Offenkundige In- kompetenz in Berlin, sagen die Sozialdemo- Wir kritisieren, dass die Bundesregierung bis heute kraten!) keine Kabinettsvorlage – sie hat lediglich Eckpunkte vorgelegt – zustande gebracht hat. Frau Bulmahn, jetzt Ich will zwei Punkte ansprechen, von denen ich gibt es einen Referentenentwurf, mit dem Sie einen ge- denke, dass sie weit über die Frage hinausreichen, wie fährlichen Weg beschreiten. Sie beschreiten den Weg ei- wir das Berufsbildungsrecht – dies muss dringlich erfol- ner langsamen, aber stetigen Aushöhlung der dualen gen – reformieren. Wir müssen in einer Wissensgesell- Ausbildung; denn wenn Sie Vollzeitschulen mit der dua- schaft darauf achten, dass die berufliche Ausbildung mit len Ausbildung in Schule und Betrieb gleichsetzen, dann schulischer Bildung und anschließender Weiterbildung ist das kontraproduktiv und unverantwortlich. Sie wissen vernetzt ist. Auch hier treffen wir bei der Koalition auf genau: Die Vermittlungschancen junger Menschen mit einen Leerraum. Bis heute haben Sie kein schlüssiges vollzeitschulischer Ausbildung sind geringer als die der- Konzept für lebenslanges Lernen vorgelegt. Wir wer- jenigen, die im dualen System ausgebildet wurden. Des- den auch in dieser Sache eine Vorlage in das Parlament halb muss das duale System gestärkt werden, statt Irr- einbringen. wege zu beschreiten. Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es muss uns alle umtreiben, dass die Bugwelle der Hoffnungslo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sen immer größer wird. Nicolette Kressl [SPD]: Indem Sie Ausbil- dungsvergütungen kürzen!) (Zurufe von der SPD: Aha! – Endlich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10347

Dr. Maria Böhmer (A) Sie haben in Ihrer Koalitionsvereinbarung 2002 ge- stand steht auch das duale System der beruflichen Bil- (C) schrieben: dung. Ohne zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze können wir weder sicherstellen, dass alle Jugendlichen Unser Ziel ist: Kein junger Mensch darf nach der ein Ausbildungsplatzangebot erhalten, noch, dass die Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Wirtschaft die qualifizierten Arbeitskräfte bekommt, die Wir haben derzeit 500 000 junge Menschen unter sie braucht. 25 Jahren, die arbeitslos sind. Denen ist mit all dem, was Sie bisher getan haben, nicht gedient und nicht geholfen Meine sehr geehrten Damen und Herren, nur mit einer worden. Sie müssen umsteuern. Wir wollen eine bessere qualifizierten Ausbildung können wir junge Menschen schulische Vorbereitung, eine Modularisierung, – für unsere Gesellschaft gewinnen. Nur so sichern wir den Jugendlichen die Teilhabe und die Möglichkeit, ins- besondere ihre Berufschancen wahrzunehmen. Nur so Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: können wir sicherstellen, dass wir in zehn und auch in Frau Kollegin! 20 Jahren qualifizierte Menschen haben, die bereit sind, für dieses Land, für unsere Gesellschaft zu arbeiten, die Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): bereit sind, den Wohlstand zu sichern und unserem Land – die auch in die Schule hineinreicht. Wir wollen eine eine Zukunftsperspektive zu geben. stärkere Vernetzung zwischen Schule, beruflicher Aus- Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist aber bildung und Weiterbildung; nur so können die jungen auch deshalb eine der wichtigsten gesellschaftspoliti- Menschen in einem veränderten Ausbildungs- und Ar- schen Aufgaben, weil sich Unternehmen eben nur mit beitsmarkt bestehen. gut ausgebildeten Menschen im internationalen Wett- Wir haben Ihnen heute eine Novelle für das Berufsbil- bewerb behaupten können. Ich weise zu Recht immer dungsgesetz auf den Tisch gelegt. darauf hin, dass wir schon nach den Daten, die uns jetzt vorliegen, aufgrund der demographischen Entwicklung (Jörg Tauss [SPD]: Novelle? Ein Wisch, keine davon ausgehen müssen, dass, wenn wir auf der jetzigen Novelle!) Entwicklungsstufe stehen blieben, in zwölf oder 13 Jah- Greifen Sie zu, wie Ihr Kollege Clement gesagt hat! Sie ren rund 3,5 Millionen qualifizierte Fachkräfte fehlen haben die Aufgabe, sofort tätig zu werden. Frau würden. Deshalb muss es uns gelingen, das, was wir im Bulmahn, zögern Sie dieses Gesetzgebungsvorhaben Pakt vereinbart haben, umzusetzen. nicht unnötig hinaus! Handeln Sie jetzt! Das sind wir den jungen Menschen in unserem Land schuldig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Es geht nicht nur um ein einfaches Plus, also um bloße Quantität. Es geht vor allem auch um die Weiter- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: entwicklung der Qualität der beruflichen Bildung, und Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und zwar auf allen Ebenen. Forschung, Edelgard Bulmahn. (Ulrike Flach [FDP]: Dann wird es aber Zeit!) (Beifall bei der SPD) Mehr Qualität in der beruflichen Bildung, dieses Ziel Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung verfolgt die Bundesregierung mit dem Gesetz zur Re- und Forschung: form des Berufsbildungsgesetzes. Ich habe im Februar Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten 2004 die Eckwerte zur Reform der beruflichen Bildung Herren und Damen! Wenn es eine gesellschaftspolitische vorgelegt. Wir haben vor anderthalb Jahren – einige in Aufgabe gibt, die wir vor allen anderen zu lösen haben, diesem Haus haben das offensichtlich vergessen – be- dann ist es die, sicherzustellen, dass jungen Menschen reits eine kleine Novelle des Berufsbildungsgesetzes eine qualifizierte Ausbildung ermöglicht wird. durchgeführt, die zum Beispiel die Schaffung von Quali- fikationsbausteinen beinhaltete. Ich bedaure, dass offen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sichtlich auch diejenigen, die eigentlich Verantwortung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) für diesen Politikbereich tragen, das gar nicht zur Kennt- Ich bin froh, dass wir uns gestern mit einem nationa- nis genommen haben. Das wundert mich, ganz offen ge- len Ausbildungspakt zwischen Bundesregierung und sagt, ein wenig. Ich denke, man liest zumindest die Ge- der Wirtschaft in aller Deutlichkeit dazu verpflichtet ha- setze, für die man Verantwortung trägt und die man hier ben, zusätzliche Ausbildungsplätze für die jungen Men- beschließt. schen in Deutschland bereitzustellen und ihnen damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vor allen Dingen die Chance – die Lebenschance, die DIE GRÜNEN) Ausbildungschance – zu geben, die sie brauchen. Der Ausbildungspakt ist deshalb vor allem ein Erfolg für die jungen Menschen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Der nationale Ausbildungspakt ist ein Riesenschritt. Kollegen Tauss? Wir müssen in diesem Jahr aber noch spürbare Effekte auf dem Ausbildungsmarkt erzielen; denn auf dem Prüf- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ungern!) 10348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung [Bayreuth] [FDP]: Tauss, du warst schon dran! (C) und Forschung: So schlicht kann es nicht mehr werden!) Aber selbstverständlich. Volker Kauder (CDU/CSU): Jörg Tauss (SPD): Frau Ministerin, ich stelle meine Frage im Nachgang Vielen Dank, Frau Ministerin. – Ich teile Ihre Ein- zu dem, was Herr Tauss gesagt hat. Ich habe hier einen schätzung, was die Anforderungen an die künftige Be- Artikel aus der „Stuttgarter Zeitung“, in dem der frühere rufsausbildung und die Qualität der Berufsausbildung Vorsitzende der SPD in Baden-Württemberg, Ulrich – auch im internationalen Vergleich – angeht, vollstän- Maurer, sagt: dig. Würden Sie mir unter diesem Gesichtspunkt viel- Leider ist das Ausmaß offenkundiger Inkompetenz leicht sagen, welchen Sinn es dann hat, wenn im Gesetz- so groß, dass wir nicht nur ein Problem mit dem fal- entwurf der CDU/CSU steht: schen Kurs haben, sondern auch mit fehlendem Zum anderen gibt es bei Lehrlingen Vertrauen... – sie meinen wohl die Auszubildenden – Was sagen Sie zu diesem Vorwurf aus den eigenen Reihen? und in den Betrieben nach wie vor ein Bedürfnis nach weniger komplexen Tätigkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]) Sind Sie wie die Union der Auffassung, dass wir in Zu- kunft mit weniger komplexen Tätigkeiten, mit weniger Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Qualifikation in den Betrieben zu rechnen haben, oder und Forschung: glauben Sie, dass das Ziel „mehr Qualität“ den Zu- kunftsanforderungen gerecht wird? Herr Kauder, ich besitze eine eigene Urteilsfähigkeit; ich hoffe, Sie auch. Oder müssen Sie sich schon auf (Zurufe von der CDU/CSU) Presseartikel beziehen, um sich ein Urteil bilden zu kön- nen? Ich stimme der darin genannten Beurteilung nicht Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung zu. Da ich über eine eigene Urteilsfähigkeit verfüge, will und Forschung: ich noch einmal auf den Kern zurückkommen. Ich teile die Auffassung, die in dem Antrag zum Aus- Ich bedauere es, dass sich die CDU/CSU an der druck gebracht wird, nicht. Ich halte sie, offen gesagt, Anhörung zum Referentenentwurf, die heute stattfin- auch für etwas schlicht. Ich bin der Auffassung, dass in det, nicht beteiligt. Stattdessen tut Frau Böhmer so, als (B) der beruflichen Ausbildung immer mehr Qualifikationen ob es diesen Referentenentwurf gar nicht gäbe. (D) gefordert werden. Es gibt eine klare Entwicklung in un- serer Wirtschaft: Die Anforderungen an die Qualifikatio- (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Es geht um nen steigen. eine Kabinettsvorlage!) Ich halte es zweitens für wichtig, den Jugendlichen Ich möchte Sie ermuntern, sich konstruktiv an der Arbeit unterschiedliche Einstiegs- und Qualifikationswege an- und an der Debatte über diesen Gesetzentwurf zu beteili- zubieten. Das System der beruflichen Bildung muss es gen. den Jugendlichen ermöglichen, sich ausgehend von ihrer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beruflichen Bildung weiterbilden zu können. Das ist ein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wichtiger Eckpunkt des Gesetzentwurfs. Ich halte es für das Entscheidende, dass wir den Jugendlichen entspre- Ich denke, die Arbeit daran liegt im Interesse unserer ge- chend ihrer Voraussetzung unterschiedliche Angebote samten Gesellschaft. und Wege eröffnen. Es reicht nicht aus, simpel zu sagen, (Ulrike Flach [FDP]: Sind wir denn dazu ein- man brauche einfach weniger komplexe Anforderungen. geladen?) Wir brauchen unterschiedliche Wege. – Natürlich sind Sie dazu eingeladen, Frau Flach. Die Ich mache es der CDU/CSU zum Vorwurf, dass sie Oppositionsparteien sollten sich konstruktiv daran betei- ein Modell entwickelt hat, das zu schlicht ist. Es wird ligen. weder den Anforderungen der Jugendlichen noch denen der Wirtschaft gerecht. (Beifall bei der SPD) Deshalb sage ich auch noch einmal ausdrücklich, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Böhmer: Sie geben den Jugendlichen kein gutes Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zusatzfrage des Beispiel, wenn Sie Behauptungen in den Raum stellen, Kollegen Kauder? die der Sache überhaupt nicht entsprechen. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das sind Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Fakten!) und Forschung: Die Eckpunkte liegen seit 2004 vor. Sie hatten und ha- Auch diese gestatte ich, selbstverständlich. ben ausreichend Zeit, sich damit auseinander zu setzen. (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es wieder Die Anhörung zum Referentenentwurf findet heute statt. schlicht! – Gegenruf des Abg. Horst Friedrich Ich lade Sie noch einmal ausdrücklich ein, konstruktiv Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10349

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) an dieser Reform mitzuarbeiten. Wir packen hier die um- im Übrigen auch den Wettbewerb um die erfolgreichsten (C) fassendste Reform des Berufsbildungsgesetzes seit den Wege. In Zukunft, meine sehr geehrten Herren und 60er-Jahren an. Das ist – das sage ich ausdrücklich – un- Damen, können die Akteure vor Ort eine stärkere Koo- sere Zielsetzung. peration der betrieblichen und schulischen Systeme vereinbaren. Das ist im Übrigen der Wunsch aller Lan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten desregierungen, und zwar unabhängig von der Parteizu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gehörigkeit. Mit vielfältigen inhaltlichen und zeitlichen Wir wollen mit dieser Novelle erreichen, dass das Kombinationen wird es möglich, die Ausbildungsquali- duale Ausbildungssystem, die duale Berufsausbildung, tät zu steigern, alle Ausbildungskapazitäten optimal zu auch weiterhin das Markenzeichen des deutschen Bil- nutzen und strukturellen Veränderungen in der Wirt- dungssystems und der deutschen Wirtschaft bleibt. Eine schaft dadurch auch besser gerecht zu werden. qualitative Weiterentwicklung der beruflichen Bildung Ein Paradigmenwechsel von der betrieblichen hin zur umfasst deshalb für uns Qualität, Modernität, Flexibilität schulischen Ausbildung, wie Sie, Frau Böhmer, es hier und Internationalität. dargestellt haben, findet nicht statt und ist auch nicht be- Wir wollen keine Königswege gesetzgeberisch vorge- absichtigt. ben, sondern Flexibilität ausbauen und verstärken. Die- (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das steht sem Leitgedanken folgt auch der von uns vorgelegte drin!) Entwurf zur Reform der beruflichen Bildung. Dabei ste- hen folgende Ziele im Mittelpunkt: Wir wollen Innova- – Lesen Sie den Text vorher! tion durch rasche Modernisierung. Mit modernen und (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Natürlich passgenauen Ausbildungsberufen erschließen wir zu- habe ich ihn gelesen!) sätzliche Ausbildungsmöglichkeiten und verschaffen wir der Wirtschaft mehr qualifizierte Fachkräfte. Sie sollten den Jugendlichen kein schlechtes Beispiel ge- ben, indem Sie hier etwas anderes darstellen, als in dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Text steht. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese Bundesregierung hat seit 1999 bereits über DIE GRÜNEN) 160 Ausbildungsberufe modernisiert bzw. neu geschaf- fen. Das zeigt, dass wir diese Aufgabe seit 1998 offensiv Wir waren alle zu Recht darüber erschrocken, wie wenig angegangen sind. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen Textverständnis einige Jugendliche haben. Wir sollten wird im Übrigen inzwischen in diesen modernisierten hier kein entsprechendes Beispiel geben. (B) (D) bzw. neu geschaffenen Berufen ausgebildet. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Frau Bulmahn, Wir wollen Ausbildungschancen für alle. Mit neuen Sie reden anders, als Sie handeln!) Förderstrukturen und einer schrittweisen Qualifizierung In dem Referentenentwurf steht etwas völlig anderes als in anschlussfähigen Ausbildungsangeboten verbessern das, was Sie erzählt haben, Frau Böhmer. wir die Chancen für benachteiligte Jugendliche. Auch Stufenausbildungen gehören dazu. Im Übrigen gibt es (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Nein! Lesen seit diesem Jahr vier neue Berufe, die genau diesem Mo- Sie Ihre Eckpunkte! Lesen Sie Ihr Gesetz! – dell entsprechen. Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Nichts Neues!) Wir werden mögliche Zeitverzögerungen bei der Mo- dernisierung von Ausbildungsberufen noch weiter ab- Ich werde gleich noch einmal darauf eingehen. bauen. Bei der Entwicklung von zweijährigen Berufen Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass sich inzwi- beispielsweise wird entschieden, wenn sich die Sozial- schen über eine halbe Million Jugendlicher in schuli- partner nicht auf einen Konsens einigen können. schen Berufsbildungsmaßnahmen befindet, davon circa Es geht außerdem um die Berücksichtigung von Ver- 200 000 Jugendliche in vollzeitschulischen Berufsbil- bundausbildung und das Ermöglichen betrieblicher Ab- dungsgängen, die zu einem beruflichen Abschluss füh- weichungen von Ausbildungsordnungen. Durch mehr ren sollen. Kooperation von Betrieben und beruflichen Schulen Mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes eröffnen schaffen wir mehr Ausbildungsplätze und erhöhen die wir den Ländern die Möglichkeit, durch Vereinbarungen Ausbildungsqualität. der Landesregierungen mit den Kammern zu erreichen, dass die Jugendlichen in Zukunft eine Kammerprüfung Ein weiteres wichtiges Ziel: Mit der besseren Koope- ablegen können. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ration, mit der Verknüpfung von nationaler und internati- den Berufseinstieg. onaler Ausbildung, von Allgemein- und Berufsausbil- dung sowie von Ausbildung und Weiterbildung schaffen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir attraktive und anspruchsvolle Ausbildungsberufe. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das wollen die da drüben nicht!) Innovation durch Kooperation erreichen wir dadurch, dass die Verantwortlichen in der Region, in den Ländern, Mit der Verknüpfung von Aus- und Weiterbildung aber auch in den Gremien des Bundes mehr Entschei- schaffen wir im Übrigen konkrete Perspektiven für das dungs- und Handlungsspielräume erhalten. Das verstärkt berufliche Fortkommen. Klar konturierte, durchlässige 10350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Wege für berufliche Entwicklung und aufeinander auf- Die Tarifautonomie hat auch Auswirkungen auf die nicht (C) bauende Möglichkeiten zur beruflichen Höherqualifizie- vertraglich gebundenen Auszubildenden, die von der rung sind dafür notwendig. Mit dem neuen Gesetz wer- Absenkung allein betroffen wären. den wir gesondert zu prüfende Zusatzqualifikationen Der zweite Vorschlag beinhaltet die Erhöhung der einführen, die über das in Ausbildungsordnungen Fest- Dauer der Probezeit von drei auf sechs Monate bei gelegte hinausgehen. Dies eröffnet leistungsstarken Ju- gleichzeitiger Senkung der Ausbildungsdauer auf mög- gendlichen zugleich die Option, Teile einer Aufstiegs- lichst nur zwei Jahre. Auch das halte ich für nicht ziel- fortbildung bereits während der Erstausbildung zu führend. Für viel wichtiger und entscheidender halte ich absolvieren. das, was wir bereits vor eineinhalb Jahren mit der letzten Außerdem werden wir Kompetenzstandards in der Novelle geschaffen haben, dass Jugendlichen nämlich beruflichen Bildung einführen. Sie sind ein wirksames verschiedene Einstiegsmöglichkeiten eröffnet werden, Instrument zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwick- beispielsweise über sechsmonatige Qualifikationsbau- lung und sie erhöhen die Chancen unserer Fachkräfte auf steine – die Industrie hat die inhaltliche Ausgestaltung dem internationalen Arbeitsmarkt. Durch Kompetenz- dieser Qualifikationsbausteine inzwischen klar festge- standards können wir mehr Transparenz über Bildungs- legt – oder Praktika. Dieser von uns beschrittene Weg ziele und fachspezifische Kompetenzen erzielen. So bedeutet sowohl für die Wirtschaft als auch für die Ju- schaffen wir die Voraussetzung für mehr Vergleichbar- gendlichen einen wirklichen Fortschritt. keit und eine adäquate Anerkennung. Meine sehr geehrten Herren und Damen von der Als Antwort auf die Globalisierung muss die Berufs- CDU/CSU, ich muss Ihnen sagen, dass Ihr Gesetzent- ausbildung internationaler und vor allem europäischer wurf viel zu bürokratisch ist. Wir brauchen nicht mehr werden. Internationalität muss auch heißen, mehr Mobi- Bürokratie, sondern mehr Flexibilität in der beruflichen lität zu ermöglichen. Mit dem neuen Berufsausbil- Bildung. dungsgesetz werden Ausbildungsabschnitte im Ausland (Beifall bei Abgeordneten der SPD) erstmals ein gleichwertiger Teil einer anerkannten Be- rufsausbildung im dualen System. Deshalb sage ich ausdrücklich: Denken Sie um! Dann können wir die Reform der beruflichen Bildung gemein- (Ulrike Flach [FDP]: Das wurde auch Zeit!) sam voranbringen, und zwar im Interesse aller Beteilig- ten, vor allem natürlich im Interesse der jungen Men- Deutschland beteiligt sich darüber hinaus an den euro- schen, die eine berufliche Ausbildung benötigen, aber päischen Qualifikationen in der Europäischen Union. auch im Interesse unserer Wirtschaft. Dazu werden wir – das jedenfalls ist unsere Vorstel- (B) lung – ein System zur Sicherstellung der Anerkennung Vielen Dank. (D) entwickeln. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der vorgelegte Gesetzentwurf der CDU/CSU-Frak- DIE GRÜNEN) tion zur Modernisierung der beruflichen Bildung enthält nur zwei neue Punkte. Alles andere übernehmen Sie aus Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: unserem Entwurf. Das Wort hat der Kollege Christoph Hartmann, FDP- Fraktion. (Zustimmung des Abg. Dr. [SPD]) Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): Daraus kann ich schließen – das finde ich durchaus er- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und freulich –, dass es eine große Übereinstimmung gibt. Herren! Im Mai haben wir in diesem Haus über die Aus- bildungsplatzabgabe diskutiert. Alle Redner der Regie- (Werner Lensing [CDU/CSU]: Nach dem, was rungsfraktionen, angefangen bei der Bundesbildungsmi- Sie vortragen, habe ich Zweifel!) nisterin, haben der Opposition vorgeworfen, sie habe – Herr Lensing, ich habe unseren Entwurf vorgetragen. keine Konzepte. An zwei Punkten gehen Sie darüber hinaus. Das lässt (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ja auch berechtigt!) den Schluss zu, dass es eine große Übereinstimmung gibt. Jetzt legt ausgerechnet die Opposition Gesetzentwürfe vor, während sich Ihr Gesetzentwurf erst im Stadium des Ihre zwei zusätzlichen Vorschläge gehen zulasten der Referentenentwurfs befindet. Auszubildenden und tragen nicht zur Verbesserung der (Jörg Tauss [SPD]: Bitte?) beruflichen Ausbildung bei. Zur diesbezüglichen Anhörung ist die Opposition selbst- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) verständlich nicht eingeladen. Wer im Glashaus sitzt, Zum einen handelt es sich um den Vorschlag, die Aus- sollte nicht mit Steinen werfen. bildungsvergütung abzusenken. Im Gegensatz zu Ihnen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nehmen wir die Tarifautonomie ernst. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der von Ihnen geschlossene Ausbildungspakt wird DIE GRÜNEN) von uns begrüßt. Die Ausbildungsplatzabgabe ist zu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10351

Christoph Hartmann (Homburg) (A) nächst einmal auf Eis gelegt. In diesem Haus haben wir rieschwache, die es einfach nicht schaffen, in der vorge- (C) aber monatelang über die Ausbildungsplatzabgabe ge- gebenen Zeit das bisher notwendige Pensum zu lernen. stritten. Für sie brauchen wir dreieinhalbjährige Berufsausbil- dungen. Wir brauchen aber auch theoriegeminderte (Jörg Tauss [SPD]: Umlage!) zweijährige Berufsausbildungen; diese Notwendigkeit Fraktionen und Ministerien sind damit beschäftigt gewe- wird ja mittlerweile im ganzen Haus eingesehen. sen. Wenn Sie diese Ressourcen in ein modernes Berufs- Allerdings will ich auf eines hinweisen, Frau Ministe- ausbildungsgesetz gesteckt hätten, wären wir heute sehr rin, weil Sie immer sagen, das gibt es ja schon. viel weiter und es läge nicht erst ein Referentenentwurf vor. Das wäre das richtige Signal gewesen. (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ja, das gibt es schon, aber das ist, lieber Herr Tauss, erst bei 10 Prozent der Berufsausbildungen der Fall. Das ist Wir alle sind der Meinung, dass die berufliche Bil- viel zu wenig. Da besteht Handlungsbedarf, das muss dung eine der tragenden Säulen des deutschen Bildungs- sehr viel stärker ausgebaut werden. systems ist. Wir müssen sie weiterentwickeln, wir müs- sen die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herausforderungen annehmen. 90 000 Schüler verlas- der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wie viel sen jedes Jahr unsere Schulen ohne Abschluss. Immer Prozent wollen Sie denn? Nennen Sie einmal mehr Betriebe klagen darüber, dass sie keine geeigneten eine Prozentzahl!) Bewerber finden. 15 Prozent der Auszubildenden schaf- In vielen Punkten sind wir ähnlicher Meinung wie die fen die Ausbildung nicht. CDU/CSU: bezüglich der zweijährigen Berufsausbil- Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze geht dungen, der Ausbildungsplatzabgabe und der Vernet- zurück. Woran liegt das? Es liegt nicht an der mangeln- zung der Berufsvorbereitung. Das sind Punkte, die wir den Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen, schon in der letzten Legislaturperiode gefordert haben und für die wir in der letzten Legislaturperiode teilweise (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) von Ihrer Seite gescholten worden sind. Aber wir sagen auch ganz klar, dass uns der Gesetzentwurf, den Sie vor- es liegt an den politischen Rahmenbedingungen, gelegt haben, in einigen Punkten nicht weit genug geht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir brauchen mehr Flexibilität. So wollen wir den Kam- der CDU/CSU) mern die Möglichkeit einräumen, die Berufsbildungs- ausschüsse erheblich zu verkleinern; so werden Auf- (B) an der schwachen Konjunktur, an den Insolvenzen, da- wand, Zeit und Geld gespart. (D) ran, dass unsere Schulen besser werden müssen – wir müssen auch schwächeren Jugendlichen die Möglichkeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten geben, eine Berufsausbildung zu schaffen –, dass die der CDU/CSU) Kosten der Ausbildung zu hoch sind, dass der Verwal- Wir wollen – auch darauf will ich eingehen, weil Sie, tungsaufwand für die Ausbildung immens ist. Nur wenn Frau Ministerin, das ebenfalls angesprochen haben – die wir die schulischen und die wirtschaftlichen Rahmenbe- Ausbildungsvergütung flexibel gestalten, und zwar für dingungen verbessern, nur wenn wir die Ausbildungs- die, die außertariflich beschäftigt sind; deswegen hat das hindernisse aus dem Weg räumen, nur dann wird das im nichts mit einem Eingriff in die Tarifautonomie zu tun. gestern unterzeichneten Ausbildungspakt festgelegte Es ist besser, wenn ein Jugendlicher für 350 Euro im Ziel wirklich zu erreichen sein. Monat ausgebildet wird, als wenn er nicht ausgebildet wird, weil man ihm 750 Euro im Monat zahlen müsste. Wir brauchen die Modernisierung des Berufsausbil- dungsrechtes. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen Entbürokratisierung von Vorschriften, zum Beispiel über Sozialräume, Pausen oder Beschäfti- Dazu zählt die Modularisierung der Berufsausbil- gungszeiten. Ich kenne ein Beispiel einer jungen Frau, dung. Wir wollen einzelne Stufen haben, die aufeinan- die eine Ausbildung als Tischlerin machen wollte. Der der aufbauen, die mit der Berufsfähigkeit abschließen Ausbildungsvertrag war unterschrieben, aber er musste oder an die sich eine Fortsetzung der Berufsausbildung annulliert werden, weil in dem entsprechenden Ausbil- anschließen kann. Gerade das ist wichtig für Schulmüde, dungsbetrieb keine Damentoilette vorhanden ist. für theoretisch weniger Begabte, die sonst zu Ausbil- dungsabbrechern werden. Die Stufenausbildung ist viel (Jörg Tauss [SPD]: Dieser Gag wird seit besser als die Ersatzmaßnahmen JUMP Plus oder die 30 Jahren erzählt und wird dadurch nicht bes- Praktikumsvariante. Das ist ein Weg, den wir gehen soll- ser! Also hören Sie einmal auf damit, mit Ver- ten. laub!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten – Herr Tauss, es tut mir Leid, dass Sie heute nicht reden der CDU/CSU) dürfen. Wir brauchen mehr Flexibilität, gerade auch im Hin- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Es tut mir gar blick auf schwächere Jugendliche. Es gibt Theo- nicht Leid!) 10352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Christoph Hartmann (Homburg) (A) Aber eines ist dazu zu sagen: Diese Geschichte ist keine Freiwillige Zusagen und Vereinbarungen sind für uns (C) Geschichte, die 30 Jahre alt ist, sondern das ist eine Ge- Grüne grundsätzlich immer wichtige politische Ele- schichte, die aktuell ist. mente. Dem steht aber eine lange Liste von Beispielen gegenüber, bei denen zwar auf verpflichtende Gesetze (Jörg Tauss [SPD]: Zeigen Sie das mal her! Nen- zugunsten freiwilliger Lösungen verzichtet wurde, es nen Sie den Fall! Das möchte ich wissen!) aber nicht funktioniert hat. Beispielhaft möchte ich den Sie haben zwar einige bürokratische Hindernisse be- Klimaschutz oder die Vereinbarung zur Gleichberechti- seitigt, aber der Weg ist konsequent weiterzugehen. Sie gung von Männern und Frauen in Betrieben nennen – dagegen sind auf der halben Strecke stehen geblieben. Versprechen, die leider zu häufig nicht eingehalten wur- den. Im Interesse der jungen Menschen, gerade aber Hinzu kommt die Abschaffung der Verpflichtung, die auch im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes in der Jugendauszubildendenvertretung Tätigen zu darf das Thema Ausbildungspakt nicht in diese Liste von übernehmen, und zwar unabhängig von ihrer Qualifika- Themen eingereiht werden. tion. Eine Jugendauszubildendenvertretung ist ab einer Zahl von fünf Auszubildenden einzurichten. Da überlegt Eine gewisse Skepsis und eine konstruktive Beglei- sich doch jeder, ob er einen fünften Auszubildenden ein- tung des weiteren Prozesses sind aus meiner Sicht not- stellt. Hier herrscht Handlungsbedarf. Wir brauchen ein wendig. Hier sind wir alle auch als Abgeordnete vor Ort modernes, zukunftsfähiges und wettbewerbsorientiertes weiterhin gefordert. In Gesprächen mit Unternehmen Berufsbildungsrecht, das den Ansprüchen der Auszubil- nehme ich, wenn ich das mit dem Beginn der Diskussion denden und der Arbeitgeber entspricht. über die Umlage vergleiche, ein echtes Umdenken wahr. Viele suchen nach konstruktiven Lösungen. Der gestrige Ein solches Konzept hat Ihnen die FDP heute vorge- einstimmige Beschluss der Vertreter der regionalen legt. Legen Sie die Ausbildungsplatzabgabe nicht nur IHKn zum Ausbildungspakt zeigt das ganz deutlich. auf Eis, stoppen Sie sie endgültig! Jugendliche und Ar- beitgeber brauchen Sicherheit. Arbeiten Sie mit an der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Verbesserung der Berufsausbildung in Deutschland! SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Werner Helfen Sie mit, das in die Jahre gekommene System zu Lensing [CDU/CSU]: Das war aber ein dünner reformieren, damit es modern, flexibel und zukunftswei- Beifall!) send wird! Parallel dazu existiert mittlerweile auch ein hoher ge- Vielen Dank. sellschaftlicher Erwartungsdruck bezüglich der weiteren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Entwicklung des gesamten Themas Ausbildung in der CDU/CSU) Deutschland. (B) (D) Eines möchte ich aber noch einmal ganz deutlich sa- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen: Meine Hauptsorge gilt nach wie vor ganz besonders Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/ den jungen Menschen in unserem Land, die keine solche Die Grünen. starke Lobby wie die Wirtschaft haben. Am Ende dieses Prozesses dürfen sie nicht mithilfe von Gummibegriffen Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wie Ausbildungswilligkeit oder Ausbildungsfähigkeit Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- den schwarzen Peter zugeschoben bekommen; legen! Seit unserer letzten Diskussion hier im Haus zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thema Ausbildung hat sich in Deutschland doch wirk- und bei der SPD) lich noch einmal richtig etwas bewegt. Das sollte auch die Opposition anerkennen. Diese Größe besitzen Sie denn schließlich konnten sie sich das Schulsystem in hier und heute aber leider nicht. Deutschland, mit dem sie groß geworden sind, nicht aus- suchen. Die Defizite sind allseits bekannt. Die Länder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind hier nach wie vor in der Pflicht, etwas zu tun. Dies und bei der SPD) ist auch im Ausbildungspakt festgehalten. Frau Böhmer, diese Dynamik gerade aufseiten der Alle Jugendlichen, die schon lange oder für diesen Wirtschaft hätten wir uns schon in den vergangenen Jah- Herbst auf einen Ausbildungsplatz warten und nach ren gewünscht; denn dann wäre es gar nicht erst zu der einem solchen suchen, sollten sich jetzt motiviert fühlen, von Ihnen angesprochenen riesigen Bugwelle an jungen weil nun doch Hoffnung auf einen Ausbildungsplatz be- Leuten in Deutschland gekommen, die heute ohne Be- steht. Diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen. Na- rufsausbildung auf der Straße stehen und damit ohne türlich weiß auch ich, dass Berufsbilder komplexer wer- Chance auf eine gesellschaftliche Teilhabe in Deutsch- den und dass die Ansprüche an die Auszubildenden land sind. Gerade deshalb begrüßen wir ganz ausdrück- steigen. Können wir aber wirklich guten Gewissens die lich, dass mit dem vorgelegten Pakt auf halbfreiwilliger Zugangsvoraussetzungen für viele auch sehr praktisch Basis – so möchte ich es einmal nennen – nun ein großer orientierte Berufe einfach ändern und zum Beispiel die Schritt für die jungen Menschen in unserem Land ge- Hochschulreife als Eingangsvoraussetzung für den Beruf macht werden konnte. 30 000 neue Ausbildungsplätze des Friseurs einführen? pro Jahr und zusätzliche Praktikumsplätze stellen eine wichtige Zielmarke dar; mehr allerdings derzeit auch (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ein noch nicht. Quatsch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10353

Grietje Bettin (A) Wie sollen bei jungen Leuten mit einem ordentlichen der Wirtschaftsjunioren. Diese haben es sich zum Ziel (C) Real- oder Hauptschulabschluss Hoffnung und Bewer- gesetzt, Vorreiter in diesem Prozess des gesellschaftli- bungsmotivation entstehen? Ich bitte auch die Wirt- chen Umdenkens zu sein. Sie wollen in den eigenen Rei- schaft, das nicht aus den Augen zu verlieren. hen 1 000 zusätzliche Lehrstellen schaffen, und zwar ohne Vorbedingungen. Die Wirtschaftsjunioren sehen Nun aber zum zweiten zentralen Thema der heutigen klar, dass wir alle gut ausgebildete Menschen brauchen – Diskussion – dieses Thema war richtigerweise immer jetzt und in Zukunft. mit der Diskussion über die Ausbildungsumlage ver- knüpft –: der Reform der beruflichen Bildung, ganz kon- Es ist ein besonders hoffnungsvolles Signal, wenn die kret der Reform des Berufsbildungsgesetzes. Neben junge Generation anfängt, sich um die Zukunft anderer der reinen Anzahl an Ausbildungsplätzen ist die Struktur junger Menschen zu kümmern. Ich freue mich, dass des dualen Systems entscheidend. Das duale System war diese Initiative von allen Parteien, insbesondere von den und ist nach wie vor ein deutsches Aushängeschild und jungen Kollegen im Bundestag unterstützt wird. ein Standortvorteil. Aber auch dieser Teil des deutschen Unterm Strich bin ich mit den verschiedensten Ent- Bildungssystems muss den gesellschaftlichen Verände- wicklungen bei dem sehr wichtigen Thema Ausbildung rungen angepasst werden. Dazu haben meine Vorredne- im Interesse der zukünftigen Generationen ziemlich zu- rinnen und Vorredner schon einiges gesagt. Eine solche frieden. Wir alle dürfen uns aber noch nicht ausruhen Modernisierung der Struktur kann aus meiner Sicht zu und zurücklehnen. Noch ist der Dackel nicht gesattelt. einem Mehr an Ausbildungsplätzen führen. Lassen Sie Im Herbst wird eine erste Bilanz gezogen. Darauf warten mich kurz unsere grünen Vorstellungen zu der Moderni- wir gespannt. sierung der beruflichen Bildung skizzieren. Danke schön. Erstens. Wir müssen die Ausbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten verbessern. Eine Modularisie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung in einzelne Qualifikationsteile wird für diese und bei der SPD) Gruppe extrem hilfreich sein. Für uns aber ist gleichzei- tig wichtig, dass die Modularisierung nicht dazu führt, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass viele nur noch zu Hilfskräften ausgebildet werden. Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer, Wir wollen weiterhin den Anspruch auf volle Berufsbil- CDU/CSU-Fraktion. der bei Erreichen bestimmter Leistungsstufen sicherstel- len. Es muss verpflichtend geregelt sein, dass man über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Teilqualifikationen letztendlich zu vollen Berufsbildern (B) kommt. Uwe Schummer (CDU/CSU): (D) Zweitens. Für uns ist eine enge Kooperation der Lern- Meine Damen! Meine Herren! Ich gratuliere Ihnen orte notwendig. Dafür müssen auch die beruflichen zunächst zur Einsicht, dass die Ausbildungsplatzabgabe Schulen autonom werden. Nur so können sie flexibel auf gestrichen werden muss und Sie sich nur noch auf das die Ausbildungssituation vor Ort reagieren. Beerdigungsritual verständigen müssen. Wir begrüßen den Ausbildungspakt. Er wäre sicher schon früher mög- Drittens – das ist der letzte zentrale Punkt –: Sowohl lich gewesen, für die berufliche Bildung als auch für alle anderen Bil- dungsbereiche brauchen wir eine effektive Qualitätssi- (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) cherung. Gleiches gilt für die schon angesprochene In- wenn dieses Thema bereits im letzten Jahr zur Chefsache ternationalisierung. Die Anrechnung von Ausbildung in erklärt worden wäre und Gerhard Schröder es nicht im- verschiedenen Ländern muss zeitgemäß gelöst werden. mer und zu lange zu einer nachgeordneten Angelegen- heit nachgeordneter Ministerien gemacht hätte. Wir wer- Die Diskussionen zur BBiG-Reform laufen nun schon den sehr sorgsam darauf achten, dass kein seit einigen Monaten mal mehr, mal weniger intensiv. Verschiebebahnhof entsteht. So hatten wir im letzten Wir Grüne haben hier klare Vorstellungen und werden Jahr 162 692 Eintritte in berufsvorbereitende Maßnah- uns – wie hoffentlich auch die Opposition – weiter kon- men. In diesem Jahr sind bei den Arbeitsämtern gerade struktiv am Novellierungsprozess beteiligen. Ich hoffe, 71 716 berufsvorbereitende Maßnahmen ausgeschrie- dass sich Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam als ben. Das heißt, die Wirtschaft schafft es, neue Praktika modernisierungsfähig erweisen. Der Entwurf der Union und Einstiegskorridore zu organisieren, aber der Bund weicht inhaltlich natürlich in einigen Punkten von unse- kürzt mehr als die Hälfte. Das werden wir nicht zulassen. ren Vorstellungen ab. Aber im Ausschuss werden wir Der Bund darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. noch Gelegenheit haben, darüber weiter intensiv zu dis- kutieren. Ich persönlich sehe nach wie vor die Chance, (Beifall bei der CDU/CSU) zügig und unideologisch zu einer durchgreifenden Re- form des BBiG zu kommen. Natürlich ist der Ausbildungsmarkt im Zusammen- hang mit der generellen Beschäftigung zu sehen. Wir Abschließend noch ein kleiner Hinweis auf eine posi- haben im Jahresvergleich einen Abbau von 592 841 Be- tive Aktion zum Thema Ausbildung und parteiübergrei- schäftigungsverhältnissen. Wir haben ein Arbeitsmarkt- fende Zusammenarbeit. Am Dienstag war ich zusammen problem und dieses Arbeitsmarktproblem wirkt sich mit drei Kollegen der anderen Fraktionen – auch der auch auf die Ausbildungszahlen aus. Lassen Sie uns Kollege Hartmann war dabei – auf einer Veranstaltung trotzdem gemeinsam, sehr pragmatisch und zielführend, 10354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Uwe Schummer (A) wie Frau Bettin es vorhin ausgeführt hat, eine Beratung auch auf einen europatauglichen Ausbildungspass. Aus- (C) über die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes star- bildung und permanente Weiterbildung müssen stärker ten. Dem dient unser heutiger Entwurf. miteinander verzahnt werden. Dazu gehören auch Aus- bildungsverbünde bis hin zu Ausbildungspartnerschaften Bundeskanzler Schröder hat bereits in seiner ersten mit Betrieben aus anderen EU-Ländern, die stärker Regierungserklärung im November 1998 Folgendes ge- rechtlich abzusichern sind. sagt: „Ausbildung, Ausbildungsordnungen und Ausbil- dungsinhalte werden wir flexibler gestalten.“ In der Wir brauchen eine Dynamisierung. Die Entwicklung Koalitionsvereinbarung von 1998 heißt es: „Wir wol- eines Berufsbildes dauert im Konsensverfahren derzeit len … die Modernisierung und Verbesserung der Attrak- zu lange, weil sich Arbeitgeber und Gewerkschaften tivität der beruflichen Bildung vorantreiben.“ Nach nicht immer einigen können. Im Schnitt dauert die Ent- sechs Jahren ist es in der Tat Zeit, endlich damit anzu- wicklung eines neuen Berufsbildes zwei bis drei Jahre, fangen. Wir wollen die Berufsausbildung flexibilisieren. im Metall- und Elektrobereich bis zu sieben Jahren. Des- Dazu gehört die engere Kooperation der Ausbildungs- halb haben wir ein Schlichtersystem entwickelt. Danach orte, also zwischen der Berufsschule, der Kammer und wird der Schlichter von beiden Seiten ernannt. Er soll dem Ausbildungsbetrieb. Es muss auch möglich sein, nach sechs Monaten entscheiden. Wenn er nicht ent- Ausbildungsinhalte stärker an den Menschen und an den scheiden will, dann entscheidet der Wirtschafts- und betrieblichen Wirklichkeiten flexibel auszurichten, wenn Arbeitsminister. hierdurch das Ausbildungsziel nicht gefährdet wird. Zwei Drittel aller Betriebe, die nicht ausbilden, ver- (Werner Lensing [CDU/CSU]: Eindeutig!) weisen auf die Kosten. Auch das müssen wir zur Kennt- nis nehmen. Wenn wir keine Billigausbildung, sondern Wir haben 1,3 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre, Qualität haben wollen, dann müssen Betriebe gerade im die überhaupt keine Berufsausbildung haben. ersten Ausbildungsjahr investieren. Hier ist die Hürde (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Eine Kata- zur Einstellung am höchsten. strophe!) 2003 betrug die Ausbildungsvergütung in den west- Das heißt, jedes Jahr produziert unser Bildungssystem deutschen Ländern durchschnittlich 612 Euro. Die 100 000 junge Menschen ohne eine berufliche Perspek- Spannweite reichte von 250 bis 950 Euro. Deshalb bitte tive. ich darum, zu differenzieren: Auch die Kosten für die Ausbildungsvergütung sind ein Grund dafür, dass nicht Ich möchte einmal darstellen, wie sich die Berufsbil- genügend Ausbildungsplätze entstehen. der entwickelt haben. In der Pflege wurden nach der (B) letzten Neuordnung über 500 zusätzliche Theoriestun- Die Betriebs- und Tarifpartner sollen einen größeren (D) den angesetzt und es wurde die Tür für Hauptschüler Raum erhalten, Bündnisse für mehr Ausbildungsplätze zugeschlagen, obwohl gleichzeitig in Deutschland zu schmieden. Dies könnte bedeuten, dass Einstiegsver- 20 000 Alten- und Krankenpfleger fehlen. Wir sind das gütungen um ein Drittel abgesenkt werden, wenn im Ge- einzige Land, das das dreijährige Berufsbild des Tank- genzug zusätzliche Ausbildungsplätze entstehen. warts kennt. Demnächst kommt noch der Diplomtank- Der Ausbildungspakt alleine wird die Erosion der be- wart. trieblichen dualen Ausbildung nicht verhindern können. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Er bedarf der Ergänzung in Form einer Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes, das im Kern seit 1977 kaum Die Union will daher Einstiegskorridore für prak- verändert wurde. Im Interesse der Schulabgänger des tisch Begabte. Das hat ein gutes Beispiel ent- Jahres 2004 bitte ich Sie: Folgen Sie unserer Gesetzes- wickelt. Die erste Stufe ist der Krankenpflegehelfer, was initiative, aber folgen Sie uns zeitnah! automatisch zertifiziert wird. Dann kommt die zweite Stufe und dann entwickelt man das Berufsbild des klas- (Beifall bei der CDU/CSU) sischen Kranken- oder Altenpflegers. Ein weiteres Bei- spiel ist die Entwicklung vom Kfz-Facharbeiter zum Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Mechatroniker, vom Änderungsschneider zum Konfek- Nächster Redner ist der Kollege Hans-Werner Bertl, tionsschneider. Die Stufenausbildung, die heute die Aus- SPD-Fraktion. nahme ist, soll zur Regel werden: auf halber Strecke eine Zwischenzertifizierung, die motiviert, weiterzumachen. Hans-Werner Bertl (SPD): Wer dies nicht will oder kann, der soll die Möglichkeit erhalten, über Ausbildungsmodule die zweite Stufe Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- nachzuholen. „Alles oder nichts“ darf es nicht mehr ge- legen! Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag ben. traf sich gestern zu einer Sondervollversammlung in Berlin. Gestern Nachmittag wurden von vier Präsidenten (Beifall bei der CDU/CSU) der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sowie von Ministerin Bulmahn und Minister Clement im Bundes- Wir haben auch in der allgemeinen Bildung die Re- kanzleramt die Unterschriften für den Ausbildungspakt gel: Wer das Abitur nicht schafft, der erhält die mittlere geleistet. Reife, wer diese nicht erreicht, hat den Hauptschulab- schluss. Zertifizierungen sind Zwischenstationen und Seit über 20 Jahren erlebe ich Diskussionen zum nicht das Ende einer Bildungskarriere. Hierbei bauen wir Thema Jugendarbeitslosigkeit – jahreszeitlich bedingt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10355

Hans-Werner Bertl (A) nur kurzfristig in der Öffentlichkeit – und stelle fest, zugunsten derjenigen, die eine Ausbildung brauchen, (C) dass Politik für die Kompensation eines Mangels zustän- wie auch für diejenigen, die in wenigen Jahren die Aus- dig ist, die eigentlich von denen geleistet werden müsste, gebildeten brauchen. die zuständig sind und dies nicht wollen oder vielleicht manchmal nicht können. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Notwehr!?) Seit einigen Wochen steht das Thema wieder im Fo- – Ja, Notwehr. kus der Öffentlichkeit. Ich will Ihnen offen sagen: Ich bin so optimistisch, den Vertretern der deutschen Wirt- In der Diskussion über unser duales System und in schaft, die gestern ihre Unterschrift geleistet haben, zu der Auseinandersetzung über den vorliegenden Gesetz- trauen und zuzutrauen, dass sie es diesmal ernst meinen. entwurf hat es mich gewundert, wie filibusterhaft sich Ich habe am 7. Mai in der Debatte über das Ausbildungs- Teile der Medien, aber auch die Opposition seitenweise platzsicherungsgesetz die im „Spiegel“ aufgeführte Liste damit beschäftigt haben, Sinn oder Unsinn, Probleme des Versagens hinsichtlich der Selbstverpflichtungen der der Anwendung und die Konsequenzen des Gesetzes für deutschen Wirtschaft zitiert und auf die Entschuldigung die Wirtschaft ausgiebig zu diskutieren. von Hans-Olaf Henkel hingewiesen, der diese Bilanz des Versagens als Notwehr gegenüber der Politik abgetan Ich habe aber kaum einmal den Appell lesen können, hat. nun endlich in diesem Land die Ärmel aufzukrempeln, sich zusammenzusetzen und ein Problem zu lösen, Heute bin ich zuversichtlicher und will der deutschen (Beifall bei der SPD) Wirtschaft einen großen Vertrauensvorschuss geben. Ich glaube, dass sie ihr Versprechen diesmal halten will und welches auch unter den gegenwärtigen, sicherlich nicht dies auch schaffen wird. Meinen sie es ernst, ist das Er- einfachen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in unse- füllen der Zusagen – angesichts der Tatsache, dass nur rem Land lösbar ist. 23 Prozent der ausbildungsberechtigten Unternehmen auch tatsächlich ausbilden – sicherlich eine der leichtes- Ich sage Ihnen von der Opposition: Sie sollten da- ten Übungen; es ist kein großer Kraftakt. rüber nachdenken, ob es Sinn macht, eine Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen dafür zu kritisie- Wir werden erleben, dass sich die Repräsentanten der ren, dass sie im Angesicht stetig steigender Jugend- Wirtschaft mit der Solidarität ihrer Mitglieder auseinan- arbeitslosigkeit aus berechtigter Sorge zu einem Instru- der zu setzen haben – eine Erfahrung, die letztendlich ment greifen, welches eine Lösung sein kann und ihre Legitimation dokumentieren wird. welches von uns so offen strukturiert worden ist, dass es (B) die Verantwortung derjenigen in den Vordergrund stellt, (D) (Beifall bei der SPD) die für Ausbildung zuständig sind. Ein solches Gesetz zu Wir in der Politik kennen solche Erfahrungen, aber wann machen ist sicherlich ungewöhnlich und neu. Aber viel- hat es je in unserem Land eine Sondervollversammlung leicht wollte man es nicht verstehen. des Deutschen Industrie- und Handelskammertages ge- (Werner Lensing [CDU/CSU]: Der geballte geben, um den jungen Menschen, die in wenigen Tagen Sachverstand steht gegen Ihre Ausführungen, ihre Schulen verlassen, ernsthaft zu helfen? Ich glaube, Herr Kollege! – Widerspruch des Abg. Jörg indem sie beim Bundeskanzler, im Fokus der Öffentlich- Tauss [SPD]) keit, ihre Unterschrift geleistet haben, sind sie eine große Verpflichtung eingegangen, auf deren Einhaltung jetzt Was ist daran falsch, wenn durch aktives, freiwilliges geachtet werden muss. Handeln ein Gesetz überflüssig sein wird? Ist das nicht der eigentlich erwünschte Zustand einer Zivilgesell- (Beifall bei der SPD) schaft, nämlich sich dort verantwortlich zu erklären, wo man Verantwortung auch wahrnehmen kann, oder geht Wir können zwar über den einen oder anderen Satz es hier nur noch um Kritik und um das Skandalisieren der Vereinbarung streiten, rätseln oder ihn so interpretie- ohne Rücksicht darauf, dass es hier letztendlich um Ju- ren, wie auch immer er in unsere Vorbehalte zu passen gendliche geht? scheint. Was aber in diesem Jahr letztlich zählt, sind die realen Angebote, sind die zusätzlich gewonnenen (Beifall bei der SPD) Lebenschancen für junge Menschen und ist die Bot- Wenn Letzteres der Fall ist, dann muss ich Ihnen sagen, schaft: „Wir brauchen euch! Wir lassen es nicht zu, dass dass das für mich billige und auch ein Stück weit er- ihr ins Abseits gestellt werdet.“ Die Bilanz wird von uns bärmliche Opposition ist; denn ein konstruktiver Vor- im Parlament zu bewerten sein. Im Lichte dieser Bilanz schlag zur Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit, der hat das Parlament die Souveränität, zu entscheiden, ob echte Alternativen geboten hätte, ist von Ihnen nicht in das auf Eis gelegte Gesetz aufgetaut wird oder weiter lie- die Diskussion eingebracht worden. gen bleibt. Das verstehe ich – ich will das deutlich zum Ausdruck bringen – nach wie vor nicht als Drohung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch das habe ich bereits in der Debatte am 7. Mai aus- DIE GRÜNEN) geführt. Unser Motiv ist Notwehr Die Zusage der Wirtschaft, bis 2007 jährlich (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist doch 30 000 neue Ausbildungsplätze und 25 000 Prakti- lächerlich! Misstrauen!) kumsplätze für den Erwerb von betrieblichen 10356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Hans-Werner Bertl (A) Einstiegsqualifikationen anzubieten, ist ein positives Menschen in Zukunftslosigkeit, in Arbeitslosigkeit, in (C) Signal an junge Menschen Chancenlosigkeit entlassen. Ich glaube, es hat sich ge- lohnt, diesen Weg zu gehen, gestern die Unterschriften (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist aber noch einzuholen und gemeinsam zu leisten. nicht Ihr Verdienst!) Danke schön. – doch! – und auch für den Fortbestand des dualen Sys- tems. Wir alle wissen, dass dieses hochgelobte System (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dringender Reformen bedarf. Ich bin davon überzeugt, DIE GRÜNEN) dass es keine Selbstverpflichtung der Wirtschaft gege- ben hätte, wenn wir nicht initiativ geworden wären. Man Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sollte also bei der Beurteilung derjenigen sehr vorsichtig Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/ sein, die diesen schwierigen Weg mit der Wirtschaft ent- CSU-Fraktion. wickelt haben, und sie nicht vorschnell diskreditieren. Vielleicht haben wir beispielsweise im Rahmen der No- (Beifall bei der CDU/CSU – Werner Lensing vellierung des Berufsbildungsgesetzes die Möglichkeit, [CDU/CSU]: Jetzt kommt einer der Höhe- die Verantwortung dieses Parlaments für die Zukunft punkte!) junger Menschen etwas deutlicher zu machen, indem wir die Anträge, über die heute diskutiert wird, ein Stück zu- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): sammenführen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Bertl, wenn Sie schon der Opposition die Ich glaube, dass die Novellierung des Berufsbildungs- Berechtigung absprechen, in dieser Frage die Regierung gesetzes – das ist eben deutlich gemacht worden – von zu kritisieren, empfehle ich Ihnen: Schauen Sie sich uns vorbereitet ist. Ich sage Ihnen von der CDU/CSU heute einfach einmal die Presselandschaft an. Dann wer- und FDP ganz offen: Obwohl einige Sachverhalte richtig den Sie feststellen, dass offensichtlich eine Erleichterung dargestellt sind, greifen Ihre beiden Gesetzentwürfe durch dieses Land geht, weil Ihre vollkommen verfehlte letztendlich zu kurz. Es kann nicht nur um Reduzierung Ausbildungsplatzabgabe gescheitert ist. von Ausbildungsbestandteilen auf betriebliche Belange und um Vereinfachung der Ausbildung gehen. Wir müs- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Werner sen vielmehr sehr sorgfältig darüber nachdenken, welche Bertl [SPD]: Erleichterung, weil junge Men- strukturellen Anpassungen und Veränderungen das duale schen Chancen bekommen! Das ist eine be- System benötigt. Wir wollen mehr jungen Menschen rechtigte Erleichterung!) eine berufliche Erstausbildung ermöglichen. Wir wollen (B) außerdem die regionale Verantwortung stärken. Das Sys- In seiner Einschätzung, dass dies ein guter Tag für die (D) tem der Prüfungen gehört ebenfalls auf den Prüfstand. jungen Menschen in Deutschland gewesen sein kann, Sprechen Sie mit Ausbildern! Sie werden feststellen, wie stimme ich dem Bundeskanzler ausdrücklich zu. Aber verzweifelt manche von diesen sind, weil sie sechs Wo- eine Glanzleistung dieser Bundesregierung ist das beim chen vor der Abschlussprüfung Systeme vermitteln müs- besten Willen nicht gewesen. Im Gegenteil, auf den sen, die zwar von den Prüfern beherrscht werden, die Punkt kommend muss man sagen: Das Schlimmste ist aber in der Wirklichkeit unserer Arbeitswelt überhaupt verhindert worden, keine Rolle mehr spielen. Das ist ein ganz wichtiger (Jörg Tauss [SPD]: Nichts als Gemäkel!) Aspekt. aber das Vertrauen der Menschen in die Verantwortung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Bundesregierung, das Wichtige und das Richtige zu DIE GRÜNEN) tun, wurde sicherlich nicht gestärkt. Einen Aspekt finde ich besonders wichtig. Wir müs- (Ute Kumpf [SPD]: Es geht uns um die sen die Berufsbildungsforschung zu einem Bestandteil Jungen!) und zu einem Aufgabenbereich des Berufsbildungsge- Wir bitten Sie einfach: Lassen Sie uns jetzt gemein- setzes machen. Nur dann sind wir in der Lage, die Zu- sam den nächsten Schritt machen. Sonst erhöhen Sie das kunftsfähigkeit des dualen Berufsausbildungssystems zu Risiko, dass Ihr Ausbildungspakt scheitert und für die sichern und den jungen Menschen damit Möglichkeiten jungen Menschen in Deutschland wieder nichts dabei zur Selbstgestaltung ihres Lebens zu geben sowie beruf- herauskommt. liche Mobilität zukunftsfest zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, gestern war ein guter Tag für die jungen Menschen in Deutschland – sofern sich diejenigen, die Wir haben bereits vor Monaten angemahnt, das Be- gestern unterschrieben haben, bewusst sind, dass sie jetzt rufsbildungsgesetz zu reformieren. Wir haben heute in auf die Solidarität ihrer Mitglieder in den Verbänden an- unserem Gesetzentwurf klare Forderungen dargelegt, gewiesen sind und dass das Ganze im Fokus der Öffent- die ich gern noch einmal wiederhole: Erstens. Wir brau- lichkeit stattfindet, was lange nicht mehr der Fall war. chen in einem hohen Maß mehr Flexibilisierung und Das Thema Berufsausbildung, das heißt Lebenschancen Kostensenkung in der Ausbildung. Zweitens. Es muss zu für junge Menschen, steht vielleicht von nun an perma- einer Beschleunigung bei der Entwicklung neuer Berufs- nent im Fokus der Öffentlichkeit. Es darf nicht länger felder kommen. Drittens. Die Anzahl der ausbildungsfä- hingenommen werden, dass wir Hunderttausende junge higen Betriebe muss gesteigert werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10357

Alexander Dobrindt (A) (Beifall bei der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Natürlich!) (C) Das sind die zentralen Vorschläge, deren Realisierung Selbstverständlich spielt dieser Kostenfaktor heute eine dringend notwendig ist, damit der Ausbildungspakt Rolle. Mir ist es allemal lieber, wenn ein Ausbildungs- wirklich erfolgreich sein kann. Machen Sie das Richtige platz mit einer Vergütung von 500 Euro geschaffen wird, mit uns, denn die Begeisterung der Menschen ob dieses als dass einer mit 750 Euro nicht geschaffen wird. Schauspiels Ausbildungsplatzabgabe hält sich bisher (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: äußerst in Grenzen. Wenn Sie – den Eindruck habe ich Eine Schimäre, die Sie hier aufbauen!) bei Ihren Reden bekommen – dieses Schauspiel jetzt gern als Teil der Strategie darstellen, die Wirtschaft zu Leider sagt Ihr Ausbildungspakt darüber überhaupt einer akzeptablen Vereinbarung zu zwingen, nichts, Herr Tauss. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Lachhaft!) (Jörg Tauss [SPD]: Sie haben ihn ja nicht ein- mal gelesen! – Gegenruf des Abg. Werner kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit eindrucksvoll Lensing [CDU/CSU]: Das ist eine Unterstel- unter Beweis gestellt haben, wie man mit dem größt- lung!) möglichen Aufwand den größtmöglichen Schaden errei- chen kann. Es reicht nicht aus, zu argumentieren, dass die fehlenden Ausbildungsplätze von heute die nicht vorhandenen (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl Fachkräfte von morgen sind. Wir brauchen einen Ausbil- [SPD]: Seit wann ist der Pakt ein Schaden? – dungspakt, der jetzt die Ausbildung für die Betriebe wie- Jörg Tauss [SPD]: Der Pakt ist doch kein Scha- der attraktiver macht, damit wir den ausbildungswilligen den!) Jugendlichen einen akzeptablen Start ins Berufsleben er- – Schaden deshalb, weil Unternehmer und Investoren möglichen können. heute irritiert sind, weil sie sich über die zukünftigen Wir müssen hier – darin stimme ich mit dem Bundes- Rahmenbedingungen des Wirtschaftsstandorts Deutsch- kanzler ausdrücklich überein – ein gesamtgesellschaftli- land nicht mehr im Klaren sind und weil Sie die Jugend- ches Problem lösen. Wir dürfen es eben nicht isoliert lichen, die eine Lehrstelle suchen, verunsichert haben, betrachten. Deswegen brauchen wir einen Maßnahmen- indem Sie ihnen vorgegaukelt haben, das Lehrstellenpro- mix, der die Chancen auf zusätzliche Ausbildungsplätze blem sei per Gesetz von oben regelbar. Beides verur- in Deutschland steigen lässt. Ein erheblicher Beitrag, um sacht einen erheblichen Schaden am Wirtschaftsstandort diese Steigerung vorzunehmen, ist die Flexibilisierung Deutschland. des Berufsbildungsrechts, so wie es unser Gesetzentwurf vorsieht. Ich bitte Sie, diesem zu folgen. (B) Dabei ist die Aufgabenstellung klar: Wir brauchen (D) mehr Ausbildungsplätze für junge Menschen. Natürlich (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: geht dies nur, wenn die freiwillige Bereitschaft der Das ist ein Bürokratieentwurf!) Wirtschaft dazu vorhanden ist. Es ist die Aufgabe der Politik, hierbei unterstützend zu wirken und die mögli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, anstatt zu- Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. sätzliche Hürden einzubauen. Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren Petra Pau (fraktionslos): ist eine Vielzahl von Betrieben ihrer Aufgabe nachge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kommen und hat im Rahmen der Nachvermittlung zu- Zum dritten Mal binnen zweier Monate befassen wir uns sätzliche Ausbildungsplätze bereitgestellt, mit großen heute mit der Berufsausbildung. Dieses Mal haben CDU Anstrengungen, zum Teil bis an die Grenze der Leis- und CSU die Vorlage mit dem Entwurf eines Gesetzes tungsfähigkeit. Bei 40 000 Unternehmenspleiten in zur Modernisierung der dualen Berufsausbildung gege- Deutschland ist das nachvollziehbar. Natürlich bildet ein ben. Ich möchte eine Binsenweisheit voranstellen: Man Unternehmen nur dann aus, wenn es eine Zukunftsper- kann nur modernisieren, was es auch gibt. Das duale spektive hat, und investiert ein Unternehmen nur dann System der Berufsausbildung hat in der Bundesrepublik 30 000 Euro in die Ausbildung eines Lehrlings, wenn es schwere Schwindsucht, weil immer weniger Unterneh- eine Chance sieht, diesen Lehrling auch weiter beschäf- men Ausbildung anbieten. Drei von vier Unternehmen in tigen zu können. Das ist die eigentliche Misere und diese Deutschland bilden nicht aus und circa 200 000 Jugend- Misere können Sie mit Ihrem Ausbildungspakt allein liche erhalten keine betriebliche oder gar keine Ausbil- nicht lösen. dung. Das ist übrigens der Hintergrund, warum die PDS der Ausbildungsumlage zugestimmt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) SPD und Grüne haben die Umlage versprochen. Wir Wir müssen an den Rahmenbedingungen etwas än- haben sie hier vor wenigen Wochen debattiert und auch dern. Dazu gehört zwangsläufig, dass das Berufsbil- gemeinsam beschlossen. Nun aber wird Rot-Grün wort- dungsgesetz noch mehr an die Anforderungen der Unter- brüchig. Die Umlage sei hinfällig, höre ich. Stattdessen nehmen angepasst wird. Ausbildung muss flexibler und gibt es nun einen Ausbildungspakt mit der Industrie. kostengünstiger werden und natürlich müssen die Unter- nehmen auch bei den Ausbildungsvergütungen Ein- (Jörg Tauss [SPD]: Das steht im Gesetz, Frau schränkungen vornehmen können. Kollegin!) 10358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Petra Pau (A) Selbst wenn diese Lehrstellen geschaffen werden, haben Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ (C) wir den 200 000, die auf der Strecke bleiben, damit noch CSU, bin ich dann allerdings auch bei den Differenzen keine Alternative geboten. zwischen uns als PDS und Ihrem Entwurf. Die Opposi- tion zur Rechten möchte – das kommt auch in dem heute (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- vorliegenden FDP-Entwurf zum Ausdruck – flinke Aus- tionslos]) bildungsgänge zweiter und dritter Klasse zum halben Mich erinnert das, was Sie im Moment hier auffüh- Preis. Sie wollen die Ausbildungszeit verkürzen. Sie ren, an ein bekanntes Sprichwort: „Lieber den Spatz in wollen Theorie aus den Programmen streichen. Sie wol- der Hand als die Taube auf dem Dach!“ Ihr Tausch, Pakt len den Auszubildenden obendrein auch noch ans Geld. gegen Umlage, geht allerdings genau andersherum: Sie Einem solchen Bildungs- und Sozialabbau zulasten Ju- geben die Taube aus der Hand für einen immer noch flü- gendlicher, wie ihn die CDU/CSU hier vorschlägt, wird gellahmen Spatz. die PDS natürlich nicht zustimmen. 30 000 Ausbildungsplätze sind in Aussicht gestellt. Danke schön. Wir alle wissen aber – der DGB hat es vorgerechnet –: Das reicht hinten und vorne nicht, um das vorhandene (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Lehrstellendefizit wirklich zu beheben. Hinzu kommt: tionslos]) Der Pakt ist ohne Gewähr. Wenn er überprüft wird, dann haben wir den nächsten Jahrgang enttäuschter Jugendli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: cher ohne Lehrstelle vor der Tür stehen. Deshalb wieder- Das Wort hat der Kollege Willi Brase, SPD-Fraktion. hole ich: Das duale System lässt sich nur modernisieren, wenn es von der Schwindsucht geheilt wird. Willi Brase (SPD): (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! tionslos]) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle stimmen Genau dazu bedarf es einer Ausbildungsumlage. Da hilft wohl in der Einschätzung überein: Für die jungen Leute auch kein Paktieren mit Sündern. und für die Eltern ist es gut, dass wir seit mehreren Mo- naten eine intensive Diskussion über die Zukunft der Ju- Gestern wurde ich hier in der Fragestunde des Bun- gendlichen in unserem Land führen. destages auf meine Frage, was mit dem Umlagegesetz werde, von der Bundesregierung belehrt, das sei Sache (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Parlaments. Daher möchte ich die Kolleginnen und DIE GRÜNEN) (B) Kollegen der Koalition fragen: Was tun Sie heute Nacht Wir wissen, dass wir die zahlenmäßigen Probleme lösen (D) im Vermittlungsausschuss? Nehmen Sie das beschlos- müssen. Aber wir sollten die inhaltlichen und strukturel- sene Gesetz tatsächlich zurück, wie es im Pakt verein- len Entwicklungen nicht vergessen: Wo stehen wir? Wel- bart ist? Legen Sie es auf Eis? Oder wollen Sie dieses che wichtigen Fragen sind im Bereich der beruflichen Gesetz beschließen und es nicht anwenden, wenn der Bildung zu debattieren, zu lösen und wo sind Entschei- Pakt erfüllt wird, so wie es im Gesetz beschrieben ist? dungen auf den Weg zu bringen? So viel Ehrlichkeit muss in der Politik schon herrschen. Ich möchte in Erinnerung rufen, wie eigentlich die (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Ausgangslage der dualen Ausbildung in unserem Land tionslos]) ist und welche Entwicklungstendenzen wir in den letz- Nun zum Gegenstand der heutigen Debatte. CDU und ten Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen mussten. Die Aus- CSU unterbreiten konkrete Vorschläge für eine bessere bildungsquote ist seit 1980 von deutlich über 7 Prozent und moderne Berufsausbildung. Das ist gut. Auch wir auf 5 Prozent gesunken, in manchen Facharbeitsmärk- fordern seit langem eine gründliche Reform der Ausbil- ten, auch in innovativen Bereichen, auf unter 3 Prozent. dung. Die PDS hat ihr Diskussionsangebot dazu aktuell Wenn wir nicht handeln würden, bestünde die Gefahr, in einer „Magdeburger Erklärung“ vorgelegt. Wir kön- dass sich die betriebliche Berufsausbildung zu einer nen uns durchaus mit einigen Vorstellungen der CDU/ Restgröße für lernschwache Jugendliche, möglicher- CSU anfreunden, etwa damit, dass Ausbildungsgänge weise, wenn man manchen Entwürfen glauben darf, als Module angeboten werden, dass Berufsabschlüsse in- auch für einen Niedriglohnsektor, entwickelt. Ich glaube, ternational vergleichbar sein und anerkannt werden sol- dass wir das nicht zulassen können. len oder dass erworbene Qualitäten in einem Ausbil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dungspass verbrieft werden sollen. DIE GRÜNEN) Wir können auch gern über eine andere Prüfungsord- nung reden. Über eine bessere Koordinierung zwischen Wir haben eine schleichende Verstaatlichung der Be- betrieblicher und schulischer Ausbildung müssen wir rufsausbildung zu verzeichnen. Zwischen 1993 und dringend reden. Überhaupt sollte doch unser gemeinsa- 2001 stieg die Zahl der Schüler an Vollzeitschulen um mes Ziel sein, eine solide Ausbildung und damit faire 50 Prozent auf über 542 000. Wir sollten dabei nicht ver- Lebenschancen für Jugendliche zu schaffen. gessen: Das Alter beim Einstieg in die Berufsausbildung liegt mittlerweile bei über 19 Jahren. Das sind Verände- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- rungen in den letzten 20, 30 Jahren, die wir zur Kenntnis tionslos]) nehmen müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10359

Willi Brase (A) Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass mit dem Re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) ferentenentwurf zum Berufsbildungsgesetz jetzt der Weg zu einer weiteren Debatte und dann auch zu einer Ent- Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe wird es scheidungsfindung im Deutschen Bundestag gegangen auch sein, zu überlegen, wie wir einen Teil der jungen Leute mitnehmen können. Lassen Sie mich in diesem wird. Wir werden dabei die Entwürfe der Opposition si- Zusammenhang noch etwas zu zweijährigen Ausbil- cherlich gründlich prüfen; dungsgängen bzw. zur Ausbildung in so genannten (Werner Lensing [CDU/CSU]: Wohlwollend!) theoriegeminderten Berufen sagen. Wir wissen, dass das Arbeitsplatzangebot in den nächsten acht bis zehn Jahren wir wissen, dass wir es gemeinsam machen müssen. für An- und Ungelernte weiterhin sinken wird. Gleich- Ich möchte auf wenige Punkte eingehen. zeitig aber junge Leute massiv in zwei- oder sogar ein- jährige, wie manchmal gewünscht wird, Ausbildungs- In den vorliegenden Entwürfen von Union und FDP gänge zu schicken würde doch letztendlich bedeuten, – teilweise auch in denen, die aus der Gesellschaft he- dass wir ihnen von vornherein eine Hypothek mit auf raus entwickelt wurden – werden Stufenausbildung, ver- den Weg geben, denn sie werden kaum eine vernünftige kürzte Ausbildung, Module als wichtige Reformziele Perspektive haben. Diesen Widerspruch müssen wir in dargestellt. Wir müssen aufpassen, glaube ich, dass wir den Beratungen auflösen. hier nicht einen falschen Weg gehen. Durch solche Ver- kürzungen könnten das Berufsprinzip und die Beschäfti- (Beifall bei der SPD) gungsfähigkeit der jungen Leute aufs Spiel gesetzt wer- Es ist nun einmal so, dass es die entsprechenden Arbeits- den. platzangebote nicht mehr gibt. (Beifall bei der SPD) Ausbilder sagen aus der Praxis heraus zu diesem Pro- Wir wissen, dass der große Vorteil der dualen Ausbil- blem: Geben Sie mir etwas mehr Zeit für die Ausbildung dung der weiche und effektive Übergang von der Schule dieser jungen Leute, dann schaffe ich es, auch die in die Arbeitswelt sowie – damit nach wie vor verbun- Schwächeren, die so genannten benachteiligten Jugend- den – eine niedrige erste und zweite Schwelle ist. Wenn lichen, so weit zu bringen, dass sie die gleiche Qualifika- wir es europäisch betrachten, kommen wir zu dem Er- tion erreichen, wie sie in einem klassischen drei- oder gebnis, dass die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen in dreieinhalbjährigen Ausbildungsgang erwerben können. Deutschland aufgrund dieses Berufsbildungssystems Wir sollten den Menschen diesen Weg nicht verbauen, und der Beschäftigungsfähigkeit nach wie vor wesent- sondern ihnen diese Chance geben. lich geringer ist als in anderen Ländern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) (D) Ich warne davor, dieses Positive, diese Fähigkeit des Be- Meine Damen und Herren, es wird immer wieder da- rufsbildungssystems durch eine schnelle, möglicher- rüber diskutiert – das wurde auch heute in der Debatte weise vorschnelle und zu brutale Einführung von Stufen- deutlich –, dass die Kosten für die Ausbildung zu hoch ausbildung und Verkürzung von Ausbildungsgängen sind, weil die Ausbildungsvergütungen zu hoch sind. aufs Spiel zu setzen. Mitarbeiter des Bundesinstituts für berufliche Bildung haben sich in der Ausgabe 3/2004 der Zeitschrift „Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rufsbildung in Wissenschaft und Praxis“ der Frage ange- Wir wollen – das muss eine Reform erreichen – die nommen, welche Bedeutung die Ausbildungsvergütung berufliche Identität als Voraussetzung für Leistungsbe- in der dualen Ausbildung hat. Ihr Urteil ist sehr eindeu- reitschaft, Qualitätsbewusstsein, Verantwortung und In- tig: Eine pauschale Diskussion um die Höhe der Ausbil- tegration in die Gesellschaft. Es muss doch eigentlich dungsvergütungen ist nicht angemessen und wird der tat- das Ziel sein, die Facharbeitsmärkte zu revitalisieren; sächlichen Situation nicht gerecht. Lassen Sie mich Stichwort: Kernberuflichkeit. Das heißt, wir müssen um- einige wenige Aussagen hier kurz darstellen: fassend deutlich machen: Für uns ist neben dem Hoch- Erstens. Ein wichtiger Maßstab für die Bewertung der schulbereich vor allem der berufliche Bereich derjenige, Ausbildungsvergütungen ist das Niveau der Löhne und der das Land, die Facharbeiter und die Qualität nach Gehälter der Fachkräfte. Sie haben also festgestellt, vorne bringt. dass die Höhe der Ausbildungsvergütungen sich auch in Wir brauchen sie, damit auch unsere Gesellschaft nicht tariflich gebundenen Bereichen am Niveau der all- weiterhin innovativ ist. gemein gezahlten Löhne und Gehälter orientiert. Gegen- über den Fachkräften in der Wirtschaft verdienen Auszu- (Beifall bei der SPD) bildende ungefähr ein Viertel, gegenüber Beschäftigten im öffentlichen Dienst 28 Prozent und gegenüber denen Deshalb sind wir auch dagegen, die einzelnen Ausbil- im Handwerk 22 Prozent. Allein diese Feststellung dungsordnungen auf der horizontalen Ebene noch stär- macht schon deutlich, dass man mit der Forderung, die ker zu zerpflücken. Denken Sie nur einmal daran, Ausbildungsvergütungen pauschal um 20 oder 30 zu welche Ausbildungsordnungen es mittlerweile im kauf- kürzen, nicht weiterkommt. Im Gegenteil: Damit werden männischen Bereich gibt: Das geht vom Fitness- bis zum wieder einmal nur die Jugendlichen belastet. Diese Form Sportkaufmann. Ich glaube, wir wären gut beraten, wenn der Politik sollten wir nicht mitmachen. wir bei der Debatte in den nächsten Monaten überlegten, wie wir die Kernberufe wieder stärken könnten. (Beifall bei der SPD) 10360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Willi Brase (A) Ein zweiter Punkt: In Diskussionen wird immer wie- Werner Lensing (CDU/CSU): (C) der gesagt, die hohen Ausbildungsvergütungen verhin- Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! derten, dass Unternehmen Jugendliche einstellen. In die- Unser heutiger Gesetzentwurf ist gerade nach dem ges- sem Artikel wird genau das Gegenteil zum Ausdruck trigen Abschluss eines Ausbildungspaktes besonders gebracht. Gerade im Bereich der Facharbeiter wird wichtig, weil er – im Gegensatz zu Ihrer wenig substan- durch die Höhe der Ausbildungsvergütung der Anreiz ziellen Kritik, Frau Bundesministerin Bulmahn – eine dafür geschaffen, dass sich überhaupt qualifizierte junge effektive Lösung zur Beseitigung des Lehrstellenman- Leute für diesen Weg entscheiden. gels und die geeignete Antwort auf den bildungspoliti- schen Stillstand der Bundesregierung bietet. Es wurde schließlich untersucht, ob nicht Auszubil- dende durch ihre Leistung dazu beitragen, letztendlich (Beifall bei der CDU/CSU) die Ausbildungsvergütung zu refinanzieren. Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- Diese Aussagen bestätigen eindeutig unsere Politik. tion, anknüpfend an das, was Herr Schummer aus meiner Wenn wir also das Angebot an Facharbeitern aufrechter- Fraktion gesagt hat, möchte ich das erklären: Als Vertre- halten und diesen Bereich weiter stärken wollen, dann ter der Opposition hat man bekanntlich nur selten Gele- wäre es absolut kontraproduktiv, bei den Ausbildungs- genheit, die Regierung zu loben; vergütungen zu sparen. Es wäre nicht zielführend, einen solchen Weg einzuschlagen. Das würde genau in die fal- (Zuruf von der SPD: Die Gelegenheit haben sche Richtung gehen. Sie oft!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg aber im Interesse unserer Jugendlichen möchte ich ihr Tauss [SPD]: Das müssen wir Herrn Hartmann doch zum gestern abgeschlossenen Ausbildungspakt noch einmal erklären!) gratulieren – jawohl: gratulieren. Ich gratuliere schließ- lich aus Überzeugung, weil die Regierung mit dem Ab- Meine Damen und Herren, ich würde gern noch etwas schluss des Ausbildungspaktes genau das umgesetzt hat zu der Forderung sagen – sie taucht immer wieder auf –, – wenn auch mit Abstrichen –, was die Union seit Wo- bei schulischen Berufsausbildungen im Rahmen einer chen und Monaten mit allerbesten Argumenten gefordert Reform von BBiG und Handwerksordnung Kammerprü- hat. fungen zuzulassen. Ich glaube, dass wir mehr als gut be- raten sind, darüber in den nächsten Monaten in Ruhe in (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. den Ausschüssen zu diskutieren. Welche Konsequenzen Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) hat das, wenn wir die Möglichkeiten, nach einem schuli- Das heißt in gutem CDU/CSU-Deutsch: Freiwilligkeit (B) schen Ausbildungsgang an externen Kammerprüfungen statt Zwang, überzeugende Einsicht statt diktierter Ver- (D) teilzunehmen, ausweiten? Lösen wir damit möglicher- nunft, Einzelverträge statt Megabürokratie. weise die Berufsfähigkeit, die Beschäftigungsfähigkeit, die Orientierung auf die Facharbeitsmärkte auf? Ich Gleichwohl ist die von Ihnen im Vorfeld praktizierte stelle das hier bewusst als Frage in der Hoffnung, dass „Politik mit der Brechstange“ gescheitert, weil die Re- wir im weiteren Verfahren zu einer sachgerechten Lö- gierenden, wie die Verhandlungen zeigten, ganz offen- sung kommen. sichtlich im Stehen anders denken als im Sitzen. Wir wollen nicht – (Zuruf von der SPD: Das war das Florett!) Deutlich wurde: Was Schröder nicht gelernt hat, lernt der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: so genannte Münte nimmermehr. Herr Kollege, Ihre Redezeit! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Willi Brase (SPD): Deshalb ist Herr Müntefering nicht von ungefähr umge- – danach höre ich auf, Frau Präsidentin –, dass das fallen und mit ihm Teile seiner SPD-Fraktion. Es ist ein Berufsprinzip und die berufliche Bildung in der Bundes- Sieg über die Kollektivität des Unsinns. republik Deutschland durch eine massive weitere Ver- ( [CDU/CSU]: Sehr gut!) schulung sozusagen begraben werden. Im Gegenteil, wir müssen die betrieblichen Ausbildungsplätze stärken. In Sie haben das Gesetz zur Ausbildungsplatzabgabe diesem Sinne sollten wir in den nächsten Monaten disku- im Vorfeld wider besseres Wissen durch den Bundestag tieren. gepresst und es anschließend im Bundesrat einfach ver- schimmeln lassen – in der Hoffnung, dass kein vernunft- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. begabter Mensch einen solchen Unsinn weiter zu verfol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen gedenkt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Herr Kollege Bertl, weil Sie eben mit fast brüchiger Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion. Stimme und leuchtenden Augen die Vorteile des Ausbil- dungspaktes gepriesen haben, lassen Sie mich folgende (Beifall bei der CDU/CSU) Bemerkungen machen: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10361

Werner Lensing (A) (Hans-Werner Bertl [SPD]: Ich habe die Er- Drittens. Mit einem europatauglichen Ausbildungs- (C) wartungen geschildert, die wir haben!) pass – Frau Kollegin Böhmer hat schon darauf hinge- wiesen – werden alle erworbenen Qualifikationen ein- Erstens kann der Staat die Erfüllung dieses Paktes ge- heitlich erfasst. nauso wenig einfordern, wie die Verbände die Unterneh- men zur Ausbildung zwingen können. Und schließlich viertens: Wir wollen vor allem die Stufenausbildung für dreijährige Ausbildungsgänge. Zweitens hat Rot-Grün mit dem Pakt nichts Neues er- Gerade für Berufsstarter sind schnelle Erfolgserlebnisse reicht; denn die in dem Ausbildungspakt vereinbarten von unschätzbarem Wert. Angebote bestanden – das haben wir wiederholt gesagt und das stimmt so, auch wenn Sie anderer Auffassung Ich fasse zusammen: Unsere Novelle ist, wenn man sind – seitens der Wirtschaft bereits lange vor Ihren Be- sie objektiv betrachtet – und dazu in der Lage ist –, in mühungen zur Zwangsabgabe. sich geschlossen und übersichtlich. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! – Nicolette (Nicolette Kressl [SPD]: Übersichtlich schon!) Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr!) So bleibt sie auch für kleine Unternehmen, die ausbil- den, überschaubar und eigenständig handhabbar. Es gibt nach wie vor keine Garantien und voraussichtlich auch keine Ausbildungsplätze für alle Jugendlichen, Wir wollen, dass die Motivation aller Beteiligten, weil die Betriebe nicht gesamt-, sondern betriebswirt- auch derjenigen im Schulbereich, also aller Lehrerinnen schaftlich entscheiden. und Lehrer sowie aller Schülerinnen und Schüler, geför- dert wird. Aber das setzt ein deutliches Bekenntnis zum Drittens ist es höchst zweifelhaft, dass in diesem Jahr hohen Gut der Leistung voraus. Wer jedoch Leistung bei anhaltend schlechter Konjunktur und hoher Insol- gesellschaftlich niederredet, macht diese nicht erstre- venzquote netto mehr Ausbildungsplätze angeboten benswert. werden als im Vorjahr. (Zuruf von der SPD: Wer tut das denn?) (Widerspruch bei der SPD) Leistung darf kein Schimpfwort sein oder gar als Syno- – Da lassen Sie besser Ihre Lippen davon. nym für Inhumanität verteufelt werden, wie dies trauri- gerweise viele Jahre in manchen Bundesländern durch Viertens. Verlierer auf der ganzen Linie sind die Ge- sozialdemokratische Regierungen vorexerziert wurde. werkschaften. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Deshalb stelle ich fest – auch das wollen wir mit unse- Sie haben zu hoch gepokert und verweigern sich nun rem Antrag –: Wer Leistung angemessen fordert und för- dem Pakt. Sie fordern nur von anderen. Herr Bertl, ich dert, handelt zutiefst human. frage mich zusätzlich, warum sich jetzt, wenn man allge- mein so begeistert ist, wiederum ganze Teile Ihrer Frak- Mein Fazit – ich weiß, dass Sie alle es hören wol- tion an dieser Stelle verweigern. len –: Eine solide Ausbildung ist der Schlüssel zu beruf- lichem Erfolg. Unsere duale Ausbildung ist ein zielge- (Nicolette Kressl [SPD]: Blödsinn! – Hans- richteter Weg dorthin und weltweit anerkannt. Diese Werner Bertl [SPD]: Wer verweigert sich wirksam zu fördern und zu modernisieren, das ist der In- denn?) halt unseres Entwurfs. Und schließlich: Dies alles ge- schieht auf dem Weg der Freiwilligkeit und der gesell- Ich habe den Eindruck: Die SPD steht weiter im Abseits. schaftlichen und wirtschaftlichen Verantwortung. Für Zwang und Verstaatlichung ist hier kein Platz. (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es! – Wei- tere Zurufe von der CDU/CSU: Da bleiben sie Wir sind natürlich gesprächsbereit gegenüber allen stehen! – Da holt sie keiner ab!) anderen Fraktionen, solange sie sich unseren guten Vor- stellungen anschließen. Gerade in dieser Situation kommt unser Entwurf ei- nes Gesetzes zur Modernisierung des Berufsbildungs- Vielen Dank. rechts wie gerufen. Er wird die Ausbildung nunmehr (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU moderner, schneller und kompakter gestalten. Ich will sowie bei Abgeordneten der FDP) das anhand einiger Aspekte begründen:

Erstens. Mit der Schaffung gesetzlicher Grundlagen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: für die Verbundausbildung räumen wir weitere Hürden Ich schließe die Aussprache. zur Schaffung neuer Ausbildungsplätze aus dem Wege. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- Zweitens. Wir bieten den Unternehmen durch die for- würfe auf den Drucksachen 15/2821 und 15/3325 an die cierte Erstellung neuer Berufsbilder gezielt Anreize, in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- nach den konkreten wirtschaftlichen Gegebenheiten aus- schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das zubilden. Das von uns hierfür erarbeitete Schlichtermo- ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- dell ist wegweisend. schlossen. 10362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 g sowie reuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) die Zusatzpunkte 7 a bis 7 e auf: der FDP 32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Bessere organisatorische Kooperation zwi- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausfüh- schen Auswärtigem Amt und Wissenschaftsor- rung des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember ganisationen 1997 zum Übereinkommen über die Überstel- – Drucksache 15/2759 – lung verurteilter Personen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/3179 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Otto (Frankfurt), Daniel Bahr (Münster), Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle, Ernst Rainer Brüderle und weiterer Abgeordneter der Burgbacher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Holger Haibach, Kristina Köhler (Wiesbaden), Gesetzes zur Angleichung der Pfändungs- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) und weiterer freigrenzen in der Sozialversicherung Abgeordneter der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 15/2796 – Engpass zwischen Wiesbadener Kreuz und Krifteler Dreieck (Autobahn A 66) beseitigen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) – Drucksache 15/3104 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Überweisungsvorschlag: c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Niebel, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, ZP 7 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP gebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes Lockerung des Verbots wiederholter Befris- (7. SGGÄndG) tungen – Drucksache 15/3169 – – Drucksache 15/2804 – Überweisungsvorschlag: (B) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (D) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Rechtsausschuss Innenausschuss (Federführung strittig) Rechtsausschuss Innenausschus Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Änderung des Melderechtsrahmengesetzes gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften – Drucksache 15/3305 – – Drucksache 15/3280 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Rechtsausschuss und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft von Statistiken (Statistikabbaugesetz) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 15/3306 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und zung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über Landwirtschaft die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe in d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Statis- (EG-Prozesskostenhilfegesetz) tiken – Drucksache 15/3281 – – Drucksache 15/2416 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Innenausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Flach, Cornelia Pieper, Horst Friedrich (Bay- Landwirtschaft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10363

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi meidung der Doppelbesteuerung auf dem Ge- (C) Wright, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer biet der Steuern vom Einkommen und vom Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie Vermögen der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, – Drucksache 15/3171 – Winfried Hermann, Albert Schmidt (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des (Erste Beratung 111. Sitzung) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Mehr Sicherheit für Radfahrer – insbesondere schusses (7. Ausschuss) Schutz vor Unfällen mit LKW im Stadtver- kehr – Drucksache 15/3264 – – Drucksache 15/3330 – Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Peter Rzepka Rechtsausschuss Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3264, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- ten Verfahren ohne Debatte. ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- Wir kommen zunächst zu den Tagesordnungspunk- setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an- ten 32 a bis 32 g sowie zu den Zusatzpunkten 7 b bis 7 e, genommen. also noch nicht zum Zusatzpunkt 7 a. Interfraktionell Tagesordnungspunkt 33 b: wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Überweisungen so beschlossen. zu dem Abkommen vom 8. Juli 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- Wir kommen nunmehr zu Zusatzpunkt 7 a. Es wird land und der mazedonischen Regierung über interfraktionell vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Soziale Sicherheit Drucksache 15/3169 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung ist – Drucksache 15/3172 – jedoch strittig. Die Fraktionen der SPD und des Bünd- (Erste Beratung 111. Sitzung) nisses 90/Die Grünen wünschen Federführung beim (B) (D) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung. Die Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Fraktion der CDU/CSU wünscht Federführung beim ses für Gesundheit und Soziale Sicherung Rechtsausschuss. (13. Ausschuss) Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei- – Drucksache 15/3335 – sungsvorschlag der Fraktion der CDU/CSU: Federfüh- Berichterstattung: rung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für diesen Abgeordneter Dr. Wolfgang Wodarg Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit Mehr- Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung heit der Stimmen des Hauses abgelehnt. empfiehlt auf Drucksache 15/3335, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak- wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen: Fe- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf derführung beim Ausschuss für Gesundheit und Soziale ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Sicherung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von Fraktion der CDU/CSU angenommen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Damit liegt die Dritte Beratung Federführung beim Ausschuss für Gesundheit und So- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ziale Sicherung. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 33 a ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- bis 33 m und 28 sowie zu den Zusatzpunkten 8 a und 8 b. setzentwurf ist mit demselben Votum wie in der zweiten Es handelt sich um die Beschlussfassung, zu Vorlagen, Beratung angenommen. zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 33 c: Tagesordnungspunkt 33 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen eines Gesetzes zu dem Abkommen vom vom 14. Oktober 2003 über die Beteiligung 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik der Tschechischen Republik, der Republik Deutschland und der Republik Polen zur Ver- Estland, der Republik Zypern, der Republik 10364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Lettland, der Republik Litauen, der Republik Tagesordnungspunkt 33 e: (C) Ungarn, der Republik Malta, der Republik Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Polen, der Republik Slowenien und der Slowa- nen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- kischen Republik am Europäischen Wirt- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs schaftsraum eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Ge- – Drucksache 15/3173 – setzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinne- rung, Verantwortung und Zukunft“ (Erste Beratung 111. Sitzung) – Drucksache 15/3044 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Erste Beratung 108. Sitzung) ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- schusses (4. Ausschuss) – Drucksache 15/3343 – – Drucksache 15/3260 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Günter Gloser Abgeordnete Marga Elser (Altötting) Rainder Steenblock Volker Beck (Köln) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Gisela Piltz Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3260, schen Union empfiehlt auf Drucksache 15/3343, den Ge- den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- men der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der men. CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 33 d: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ef- ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- (B) (D) fektiveren Nutzung von Dateien im Bereich setzentwurf ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnis- der Staatsanwaltschaften ses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. – Drucksache 15/1492 – Tagesordnungspunkt 33 f: (Erste Beratung 63. Sitzung) Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- gebrachten Gesetzentwurf zu dem Fakultativprotokoll schusses (6. Ausschuss) vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Benachteiligung – Drucksache 15/3331 – (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Beteili- Berichterstattung: gung, nicht Benachteiligung!) Abgeordnete Erika Simm von Kindern an bewaffneten Konflikten, Druck- Daniela Raab sache 15/3176. Jerzy Montag Jörg van Essen (Michael Glos [CDU/CSU]: Es heißt „Beteili- gung“, nicht „Benachteiligung“!) Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3331, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3340, men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- ben. – Wer stimmt dagegen? – – setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- (Michael Glos [CDU/CSU]: Da kann ich nicht men des ganzen Hauses angenommen. mitmachen, es heißt „Beteiligung“!) Dritte Beratung – Entschuldigung, ich wiederhole die Abstimmung. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Tagesordnungspunkt 33 f: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll men. vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10365

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) die Rechte des Kindes betreffend die Beteili- mium, Quecksilber, Nickel und polyzyklische (C) gung von Kindern an bewaffneten Konflikten aromatische Kohlenwasserstoffe in der Luft – Drucksache 15/3176 – KOM (2003) 423 endg.; Ratsdok. 11645/03 (Erste Beratung 111. Sitzung) – Drucksachen 15/1613 Nr. 1.13, 15/2958 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Berichterstattung: schusses (6. Ausschuss) Abgeordnete Astrid Klug Marie-Luise Dött – Drucksache 15/3340 – Winfried Hermann Berichterstattung: Birgit Homburger Abgeordnete Sabine Bätzing Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Irmingard Schewe-Gerigk diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Jörg van Essen tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegen- men wollen, sich zu erheben. – stimmen der CDU/CSU und bei Enthaltung der FDP angenommen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Okay, jetzt stimmen wir zu!) Tagesordnungspunkt 33 i: Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz men. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der Un- terrichtung durch die Bundesregierung (Zuruf von der CDU/CSU: Wir passen wenigstens auf!) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz des Tagesordnungspunkt 33 g: Grundwassers vor Verschmutzung Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- KOM (2003) 550 endg.; Ratsdok. 12985/03 richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag – Drucksachen 15/1948 Nr. 1.8, 15/3138 – (B) der Abgeordneten Peter Götz, Dirk Fischer Berichterstattung: (D) (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- Abgeordnete ter und der Fraktion der CDU/CSU Ulrich Petzold Vorlage eines städtebaulichen Berichts Winfried Hermann Birgit Homburger – Drucksachen 15/2158, 15/2896 – Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- Berichterstattung: tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Abgeordnete Petra Weis diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/ men des ganzen Hauses angenommen. CSU auf Drucksache 15/2158 zur Vorlage eines städte- Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des baulichen Berichts für erledigt zu erklären. Wer stimmt Petitionsausschusses. für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Tagesordnungspunkt 33 j: men des ganzen Hauses angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- ausschusses (2. Ausschuss) sache 15/2896 empfiehlt der Ausschuss die Annahme Sammelübersicht 124 zu Petitionen einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- – Drucksache 15/3225 – schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Hauses angenommen. tungen? – Die Sammelübersicht 124 ist mit den Stimmen Tagesordnungspunkt 33 h: des ganzen Hauses angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 33 k: richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der Un- ausschusses (2. Ausschuss) terrichtung durch die Bundesregierung Sammelübersicht 125 zu Petitionen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Arsen, Kad- – Drucksache 15/3226 – 10366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – (C) tungen? – Die Sammelübersicht 125 ist mit den Stimmen Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter des ganzen Hauses angenommen. Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ange- Tagesordnungspunkt 33 l: nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Dritte Beratung ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 126 zu Petitionen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – – Drucksache 15/3227 – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist damit mit demselben Votum wie bei der zweiten Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Beratung angenommen. tungen? – Die Sammelübersicht 126 ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim- Zusatzpunkt 8 a: men der CDU/CSU und der FDP angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Tagesordnungspunkt 33 m: ausschusses (6. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Übersicht 7 ausschusses (2. Ausschuss) über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Sammelübersicht 127 zu Petitionen ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht – Drucksache 15/3228 – – Drucksache 15/3334 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht 127 ist mit den Stimmen Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegen- genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung stimmen der CDU/CSU angenommen. ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Zusatzpunkt 8 b: sache 15/2826 empfiehlt der Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschluss- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (B) empfehlung? richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) (D) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Was ist das? zu der Streitsache vor dem Bundesverfas- Das ist neu! Das ist nicht ausgedruckt! – Ute sungsgericht 2 BvR 412/04 Kumpf [SPD]: Das ist neu!) – Drucksache 15/3341 – – Gut, dann rufe ich Tagesordnungspunkt 28 auf: Berichterstattung: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Andreas Schmidt (Mülheim) regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgeset- Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- zes empfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzuge- ben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessvertre- – Drucksache 15/3170 – ter für den Deutschen Bundestag zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – (Erste Beratung 111. Sitzung) Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- der CDU/CSU angenommen. wirtschaft (10. Ausschuss) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Drucksache 15/3342 – NEN]: Peinlich!) Berichterstattung: Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 33 g, weil Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier wir über eine Empfehlung noch nicht abgestimmt haben. Julia Klöckner Dabei geht es um die Beschlussempfehlung des Aus- Friedrich Ostendorff schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Hans-Michael Goldmann Drucksache 15/2896. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das haben Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- wir doch gemacht! – Ute Kumpf [SPD]: Da- lung auf Drucksache 15/3342, den Gesetzentwurf in der rüber haben wir abgestimmt!) Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen – Entschuldigung, darüber wurde bereits abgestimmt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10367

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: und Arbeit und auch im Zuständigkeitsbereich des Bun- (C) desministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Beratung des Berichts des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Wichtig war und ist es, dass der Petitionsausschuss in seinem Handeln von seinen Möglichkeiten mutig Ge- Bitten und Beschwerden an den Deutschen brauch gemacht und die Vielzahl der ihm zur Verfügung Bundestag stehenden Instrumente entschlossen eingesetzt hat. Es Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des gilt, sich im Gespräch mit Betroffenen und vor Ort ein Deutschen Bundestages im Jahr 2003 Bild zu machen, bei strittigen Petitionen Akteneinsicht zu nehmen und Regierungsmitglieder vor den Ausschuss – Drucksache 15/3150 – einzuladen bzw. im kleinen Kreis anzuhören. Diese In- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für strumente einzusetzen halte ich für das A und O der Peti- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich tionsbearbeitung. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege CDU/CSU sowie des Abg. Josef Philip Dr. Karlheinz Guttmacher, FDP-Fraktion. Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Immerhin zwei Drittel der Neueingaben im Jahr 2003 Dr. Karlheinz Guttmacher (FDP): sind Beschwerden über die Arbeit von Behörden, Be- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- schwerden über zu viel Bürokratie. In den Fällen, in de- ginnen und Kollegen! Am 25. Mai dieses Jahres habe ich nen konkrete Verbesserungsvorschläge vorgebracht und gemeinsam mit Vertretern aller Fraktionen unseres Hau- die Änderung gesetzlicher Regelung gefordert werden, ses den Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses des zum Beispiel zum Rentenrecht der neuen Bundesländer, Jahres 2003 dem Herrn Bundestagspräsidenten überge- sollten wir stärker am Ball bleiben, damit aus Petitionen ben und ihn anschließend der Öffentlichkeit vorgestellt. dauerhafte Verbesserungen, zum Beispiel bei gesetzli- chen Regelungen, hervorgehen. Die Presseresonanz war außerordentlich gut. Es wurde deutlich, dass die Ausübung des Petitionsrechts Sehen wir ein Anliegen als berechtigt an und glauben, – jedenfalls auch – ein Seismograph für die Stimmung dass es für ein Gesetzgebungsverfahren von Belang ist, unserer Bevölkerung ist. Es ist erstaunlich und erfreu- geben wir es den Fraktionen zur Kenntnis. Wir wün- lich, wie stark sich Bürger über Petitionen in die Politik schen uns mehr Mut im Plenum und in den Fraktionen, einbringen, und was hier an bürgerschaftlichem die Vorschläge der Bürger konstruktiv aufzunehmen. Ein (B) Engagement deutlich wird, zeugt von allem anderen als schönes und positives Beispiel aus jüngster Zeit ist die (D) von Politikverdrossenheit. Forderung an die Post, aktualisierte Postleitzahlbücher zu veröffentlichen. Die Idee eines Bürgers, vom Peti- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tionsausschuss aufgenommen, den Fraktionen zur der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Kenntnis gegeben, führte dazu, dass wir hoffen können, GRÜNEN) dass die Post endlich Konsequenzen zieht und ein Post- Die Gesundheitsstrukturreform, die Reformen auf leitzahlbuch in aktueller Form auf den Markt bringt. dem Arbeitsmarkt, aber auch die Überarbeitung des Ich habe vorhin von der Eingabenseite gesprochen, Bundesverkehrswegeplans waren wesentliche Themen die zeigt, wo den Bürger der Schuh drückt. Erwähnen dieser Petitionen. Auch die in den neuen und den alten möchte ich aber auch einige Aspekte von dem, was wir Bundesländern nach wie vor vorhandenen Unterschiede erreichen konnten. Ich finde es erfreulich, dass alles in in den rentenrechtlichen Regelungen bewegten im Be- allem bei nahezu jeder zweiten Petition für den Petenten richtszeitraum zahlreiche Bürgerinnen und Bürger. etwas getan werden konnte, sei es auch nur, dass ihm die Insofern hat sich der Petitionsausschuss seinem Auf- Sach- und Rechtslage in verständlicher Form vermittelt trag entsprechend der Herausforderung gestellt und ein worden ist und er einsah, dass und warum seine Be- enormes Arbeitspensum absolviert: 15 534 Petitions- schwerde keinen Erfolg haben konnte. Ich möchte kurz verfahren, 12 Prozent mehr als im Jahr 2002, wurden aus dem Brief eines Bürgers zitieren: eingeleitet. Der Ausschuss hat in 19 Sitzungen über Das Ergebnis der Prüfung ist für mich negativ aus- 14 451 Petitionen beraten und sie dem Deutschen Bun- gefallen, für die umfassende und einleuchtende Er- destag zur Abstimmung vorgelegt. Meine lieben läuterung jedoch meinen aufrichtigen Dank. Freunde, dieses Arbeitspensum wäre ohne die gute Zu- sammenarbeit im Ausschuss und die Unterstützung sei- Auch so kann man Vertrauen in die Politik schaffen. tens des Ausschussdienstes nicht zu bewältigen gewe- sen. Ihnen allen gilt mein ganz besonderer Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- (Beifall im ganzen Hause) SES 90/DIE GRÜNEN) Über ein Drittel der Petitionen entfällt auf den Zu- Dem Petitionsausschuss ist es im Jahr 2003 erneut ge- ständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Ge- lungen, in einer Vielzahl von Petitionen wesentlich mehr sundheit und Soziale Sicherung. Beachtliche Steigerun- zu erreichen. So war es möglich, im Rentenrecht Lösun- gen gab es auch im Bundesministerium für Wirtschaft gen zu finden, die in Einzelfällen für mehr Gerechtigkeit 10368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Dr. Karlheinz Guttmacher (A) sorgten und den Betroffenen die Gewissheit gaben, sich gruppe „Petitionen“ und damit auch aller Abgeordneten- (C) an die richtige Stelle gewandt zu haben. Ich nenne hier büros dem Ausschussdienst Dank sagen darf für die – nur beispielhaft – die Verbesserung der Alterssiche- vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit im Jahre rung für Landwirte. 2003. Ehrlicherweise muss man sagen: Es gab sie schon vor 2003 und sie hat natürlich nicht am 31. Dezember Ich möchte schließlich noch ein weiteres Beispiel be- 2003 aufgehört, sondern setzt sich bis heute fort. Ein gu- sonders erwähnen, wo sich der Petitionsausschuss ter Grund, davon ausgehen zu dürfen, dass das weiterhin bemühte, zur Beseitigung einer Ungleichbehandlung anhält. Wenn es auch kleine Ausnahmen gab – so ist das beizutragen. Es handelt sich um Petitionen zum Gesund- im Leben –, bestätigt das, dass es ein gutes Miteinander heitssektor, in denen die Gleichberechtigung von alter- gibt. Des Rätsels Lösung liegt allerdings, wie ich glaube, nativen Heilmethoden und solchen der Schulmedizin auch darin, dass sich alle, die an Petitionen arbeiten, der gefordert wurde. Der Ausschuss vertrat hier nach einge- Beantwortung der Fragestellungen und der Erfüllung der hender Beratung die Auffassung, dass die gesetzliche Wünsche der Petenten und Petentinnen widmen und da- Krankenversicherung den Petenten mehr Wahlmöglich- mit auf gutem Kurs sind. keiten bezüglich der Therapien bieten sollte. Die Peti- tionen wurden folglich der Bundesregierung überwiesen, Mit Petitionen sind wir mitten im Leben: Wir sind bei damit sie in die Überlegungen zur Reform des Gesund- Menschen aller Lebensalter und aller Lebenslagen, wir heitswesens mit einfließen. sind bei Männern und Frauen – zugegebenermaßen ha- ben uns Männer 2003 öfter geschrieben als Frauen –, wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ganz wesentli- sind bei Deutschen und Nichtdeutschen, wir sind in allen cher Aspekt der Arbeit des Petitionsausschusses ist für Regionen dieser Republik – gelegentlich sogar im Aus- mich – dies auch ganz im Sinne und in Würdigung mei- land –, eben bei all denjenigen, denen Art. 17 unseres ner verstorbenen Ausschussvorsitzenden Marita Sehn –, Grundgesetzes das Petitionsrecht einräumt. Allerdings die Nähe zu den Menschen zu suchen. Wir haben am sind wir auch mitten im Leben in einer Zeit großer Ver- Ende des Berichtsjahres beschlossen, auf Verbraucher- änderungen; ob es eine große Zeit werden wird, kann messen Bürgersprechstunden durchzuführen. Die ersten man ja immer erst im Nachhinein feststellen. Wir alle Termine, die wir in Berlin bzw. im Mai in Mannheim sind, was die Politik anbelangt, von tief greifenden Re- wahrgenommen haben, lassen erkennen, wie sehr diese formen betroffen. Das zieht natürlich auch viele Petitio- Sprechstunden von den Menschen unseres Landes ange- nen von Menschen, die von diesem Wandel betroffen nommen werden. So haben wir vereinbart, dass wir sol- sind, nach sich. – Wenn der Vorsitzende nickt, kann ich che Sprechstunden auch im Herbst in Plauen und Nürn- nur sagen: Ja, das sehen wir wohl alle so. – Das spiegeln berg abhalten werden. Wir unterstreichen damit, wie die täglichen Eingänge wider. ernst wir es mit der Beteiligung der Bürger an der Politik (B) (D) meinen. Deshalb braucht man auch keine prophetische Gabe, um vorauszusagen, dass wir 2004 und auch in den (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto nächsten Jahren nicht an Arbeitsmangel leiden werden. Solms) Wir wissen das, weil es während der Arbeit des Peti- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ebenso wie tionsausschusses schon einmal eine große Welle gab, die ich vorhin dem Ausschussdienst gedankt habe, möchte ungleich größer war als die jetzige: Damit haben uns ich mich auch bei allen Ausschussmitgliedern des Peti- viele Bürger und Bürgerinnen gerade aus den neuen tionsausschusses für ihre engagierte, konstruktive, aber Bundesländern nach der Wiedervereinigung ein großes auch kollegiale Arbeit bedanken. Vertrauen entgegengebracht und sie haben viel Hoffnung in die Arbeit dieses Ausschusses gesetzt. Vielen Dank. Was tun wir eigentlich? Ich finde, wenn man einen (Beifall im ganzen Hause) Jahresbericht diskutiert und so viele Zuhörer und Zuhö- rerinnen hat, dann lohnt es sich, einmal kurz zu erwäh- Vizepräsident Dr. : nen, was wir eigentlich machen. Als Erstes tun wir Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller getreu meinem Motto natürlich das Notwendige: Im We- von der SPD-Fraktion. sentlichen ist es am Ausschussdienst, sauber zu recher- chieren, was an dem, was Petenten und Petentinnen vor- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): tragen, dran ist. Ich erwähnte es schon: Er tut das Tu erst das Notwendige, dann das Mögliche und exzellent. plötzlich schaffst du das Unmögliche. Dann kommt das Mögliche. Hier sind die Parlamenta- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe rier unter uns gefragt. Wir loten aus, wo wir wie helfen Kolleginnen und Kollegen! Diesen Spruch habe ich vor können. Unsere klassischen Instrumente sind Material- wenigen Tagen in einem Zug der Deutschen Bahn gele- überweisung, Erwägung und Berücksichtigung, was sen. Ich war so frei, zu glauben, dass er sich nicht nur als unser stärkstes Schwert ist. Wir erwarten dann schon, Losung für die Deutsche Bahn eignet, sondern ein Motto dass dem Votum unseres Ausschusses gefolgt wird. Ich ist, das wir auch gut für unsere Petitionsarbeit verwen- bin mir sicher: Im Verlauf der Debatte, die wir jetzt füh- den können. ren, hören wir dazu sehr viele Beispiele. Ich freue mich sehr, dass ich hier heute im Namen der Was zeichnet unsere Arbeit aus? Wir sehen uns jeden SPD-Bundestagsfraktion, insbesondere der Arbeits- einzelnen Fall mit großer Aufmerksamkeit an. Das heißt, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10369

Gabriele Lösekrug-Möller (A) wir sind anders als sonst in der parlamentarischen Ar- Gesamtgeschehen im Lot halten. Auch da suchen wir (C) beit, wo es – ich sage es einmal in Anführungsstrichen – nach guten Lösungen. Aber ich will auch ehrlich sein: um größere Würfe geht, bei jedem einzelnen Menschen, Wir finden sie nicht immer zum Wohle der Petenten. der uns schreibt. Teilweise sind sie mit den großen Wür- Ich will die Debatte um den Jahresbericht 2003 nut- fen nicht zufrieden, weil sie ein bisschen anders davon zen, um einige zukünftige Vorhaben zu schildern; denn betroffen sind, als sich das die Gesetzgeber gedacht ha- Rot-Grün will an einer Stelle versuchen, bisher Unmög- ben, oder aber sie machen weitere Vorschläge, wie wir liches möglich zu machen. Wir haben an zwei Stellen das, was wir tun, verbessern können. eine Änderung der Verfahrensgrundsätze – wir werden Wir suchen in diesem Ausschuss nach Lösungen. Ich nach der Sommerpause eine entsprechende Vorlage in sage es frank und frei und bin stolz darauf: Das tun wir den Ausschuss einbringen – in Angriff genommen. Wir oft über Fraktionsgrenzen hinweg. Das ist, wenn ich an möchten nämlich gerne, dass unser gutes altes Petitions- das derzeitige politische Klima in diesem Hause denke, recht – das darf man wohl so sagen – eine Veränderung gar nicht alltäglich. Ich sage allen Dank, die dazu beitra- in zwei Punkten erfährt: Wir möchten zum einen gerne, gen. Das geht wirklich quer durch alle Fraktionen des dass Petitionen per E-Mail eingereicht werden können. Hauses. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Viel (Beifall im ganzen Hause) Vergnügen!) Uns eint auch noch etwas anderes: Wir sind ziemliche Jetzt mögen manche fragen: Wie kann es sein, dass es Sturköpfe und legen bei der Durchsetzung unserer Voten das immer noch nicht gibt? Recht haben sie. Inzwischen Hartnäckigkeit und Ausdauer an den Tag. Das zeich- haben wir E-Government und Online-Kommunikation. net uns aus. Ich denke, das wissen die Petenten und Pe- Wir wissen, mittlerweile sind 40 Millionen Bundesbür- tentinnen, die sich an uns wenden, auch zu schätzen, ger online. Wenn ich dann höre „Viel Vergnügen!“, dann weil sie sich sicher sein können, dass wir ihr Anliegen kann ich nur sagen: So viel Mut braucht man dazu gar nicht nur lesen, sondern auch prüfen und dass wir nach nicht. Lösungen suchen. Dies tun wir – das hat der Herr Vor- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ich meine sitzende auch schon erwähnt – oftmals in Bereichen, in das ernst!) denen man meint, dass immer noch ganze Gruppen von wiehernden Amtsschimmeln durch unsere Amtsstuben Bei den Petitionen, die uns per E-Mail erreichen, erwar- preschen. Dort können wir helfen und sagen, dass wir ten wir, dass der gesamte Name mit kompletter Adresse das nicht so lassen und dass wir bessere Lösungen finden angegeben ist. Das ist nicht anders als bei denen, die uns wollen. Oftmals finden wir diese auch. schon heute Postkarten schreiben, Briefe an uns senden (B) oder uns Faxe schicken. Deshalb wollen wir auch die (D) Natürlich laden wir hin und wieder auch Regierungs- Zuteilung von Petitionen auf dem modernen und zeitge- vertreter ein, weil wir – das sage ich auch als eine die mäßen Weg der E-Mails möglich machen. Mehrheit vertretende Rednerin – nicht immer damit zu- frieden sind, wie unsere Bundesregierung mit unseren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erwägungsbeschlüssen umgeht. Wenn Regierungsver- DIE GRÜNEN) treter sagen, dass sie unserer Einladung außerordentlich Wir gehen einmal davon aus, dass es uns gelingen gerne folgen, dann kann ich nur sagen: Dem dürfen Sie wird, diese Regelung am 1. Januar 2005 in Kraft treten nicht zu 100 Prozent Glauben schenken. Ansonsten dür- zu lassen. Wir denken dabei insbesondere an junge fen Sie das immer; aber an dieser Stelle legen wir schon Leute, die immer weniger schriftlichen Verkehr mit Be- Wert darauf, dass wir das Regierungshandeln kritisch hörden pflegen und gerne E-Mails nutzen. Es ist auch hinterfragen wollen. Das tun wir auch. Oftmals haben richtig, diese Kommunikationsform in das Recht einzu- wir eine große Dialogbereitschaft der Regierungsmit- binden. Eine Änderung der Verfahrensgrundsätze wird glieder erlebt, sodass wir am Ende eine Lösung finden dafür, wie gesagt, nötig sein. konnten, die wirklich zum Wohle des Petenten war. Des- halb kann ich nur sagen – denken Sie an mein Bahn- Wir wollen noch einen zweiten Ansatz verwirklichen. motto –: Hin und wieder schaffen wir auch Unmögli- Wir singen landauf, landab von Schleswig-Holstein bis ches, allerdings nicht immer. insbesondere nach Bayern das Hohelied auf direkte De- mokratie und die Beteiligung der Bürger. Die Bürger sol- Herr Guttmacher, Sie als Vorsitzender haben zu Recht len den Staat aktiv gestalten und unterstützen. Wenn man darauf hingewiesen, dass uns in der Petitionsarbeit häu- das aber auf dem Weg der Massen- und Sammelpetition fig Anliegen von Petenten vorliegen, die sich an uns tut, dann gibt das geltende Recht eine besondere Würdi- wenden, weil sie tiefe Ungerechtigkeiten aus der DDR- gung dieses umfassenden Ereignisses noch nicht her. Vergangenheit empfinden. Das bezieht sich manchmal auf Immobilien und häufig auf Rentenfragen. Das sind Das sollten wir ändern und das wollen wir auch tun. immer wieder Themen. Es ist ganz schwierig, hier gute Wir möchten für Sammel- und Massenpetitionen mit Lösungen zu finden. einem Quorum von 50 000 erreichen, dass es zumindest für diese Petenten oder ihre Vertreter eine öffentliche Sie appellieren, Mut zu haben. Ich glaube, den hat der Anhörung im Ausschuss gibt. Wenn es darum geht, Un- gesamte Ausschuss. Allerdings spüren wir dort auch im- terschriften zu sammeln, darf sich das nicht beliebig mer wieder unsere Grenzen. Wir führen eine große De- lange hinziehen. Man muss nach Einreichen innerhalb batte um die Renten. Wir müssen sehen, dass wir das von drei Wochen auf dieses Quorum kommen. Wir 10370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Gabriele Lösekrug-Möller (A) glauben, dass wir damit einen Schritt auf dem Weg zu CDU/CSU und des Abg. Dr. Karlheinz (C) noch mehr Bürgernähe machen. Wir nehmen diejenigen Guttmacher [FDP]) ernst, die mitgestalten wollen. Das ist ein vielleicht klei- ner, aber, wie ich finde, ein guter und richtiger Schritt in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die richtige Richtung. Das Wort hat der Kollege Günter Baumann von der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CDU/CSU-Fraktion. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Andreas Scheuer Ich will nicht verhehlen, dass wir dabei viel Unter- [CDU/CSU]: Das ist ein guter Mann!) stützung haben. Das, was ich gerade beschrieben habe, gibt es auch für das Petitionsrecht in der Bundesre- Günter Baumann (CDU/CSU): publik. Ich meine die Vereinigung zur Förderung des Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wich- Petitionsrechts in der Demokratie e. V., die seit Jahren tigste Botschaft, die wir heute den Menschen in sehr aktiv ist und von uns geschätzt wird. Diese Vereini- Deutschland überbringen sollten, ist, dass wir bei mehr gung hat eine Fülle von Vorschlägen erarbeitet, was wir als 50 Prozent aller Petitionen etwas für die Menschen im Sinne einer bürgernahen Petitionsrechtsgestaltung tun konnten. Es gab oft spürbare Verbesserungen. Wir ändern können. Wir haben uns erlaubt, zwei Vorschläge haben nicht immer das maximale Ziel, aber meistens ei- als Anregung aufzunehmen. Ich denke, das ist der rich- nen Kompromiss erreicht. Wir haben mehr als 50 Pro- tige Weg. An dieser Stelle ein Dankeschön an diese Ver- zent der Menschen in irgendeiner Form geholfen. einigung. Wir als Parlament können froh sein, dass es solche Zusammenschlüsse gibt, die uns daran erinnern: Art. 17 unseres Grundgesetzes – wir kennen ihn alle – Ihr seid schon ganz gut; an bestimmten Stellen könnt ihr lautet: allerdings noch besser werden. – Dem wollen wir gerne nachkommen. Jedermann hat das Recht, sich … mit Beschwerden … an die Volksvertretung zu wenden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dies haben letztes Jahr über 15 000 Bürger, Bürgerbe- wegungen und Vereinigungen getan. Es waren – das ist Mir bleibt nicht mehr allzu viel Redezeit, aber sie erstaunlich – über 8 000 aus den neuen Bundesländern. muss ausreichen, um ein Lob für die Zusammenarbeit 56 Prozent kamen somit aus den fünf neuen Ländern. der Petitionsausschüsse auf Bundes-, Länder- und euro- päischer Ebene auszusprechen. Ich denke, wir sind einen Es ist aus meiner Sicht nicht verwunderlich, dass die großen Schritt vorangekommen. Mein Dank gilt auch Zahl der Petitionen im Jahre 2003 angestiegen ist. Ursa- (B) (D) dem Vorsitzenden, der unsere Arbeit mit großem Nach- chen sehe ich in der hohen Regelungsdichte und Büro- druck vorantreibt. Wir sind sehr stolz auf ihn und ich be- kratie in Deutschland, in der hohen Arbeitslosigkeit, in danke mich bei ihm herzlich. der Rentenkürzung, in einer Vielzahl von ungelösten so- zialen Problemen, in Schwierigkeiten bei der Umsetzung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der Gesundheitsreform, die viele persönlich betroffen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hat, und in der gesamten wirtschaftlichen Lage, die wir Wir alle machen gut mit. Ich halte unseren Ausschuss zurzeit haben. Der Petitionsausschuss ist eine Art Seis- wirklich für ein gutes Team. Wir sind sehr einsatzfreudig mograph, der die Sorgen und Nöte der Menschen in un- und sehr fleißig. Hin und wieder leisten wir uns einen serem Land widerspiegelt. parteipolitischen Schlagabtausch. Wenn ich mir die Red- Aus unserer Sicht bedeutsame Petitionen werden be- nerliste anschaue, vermute ich, dass auch diese Debatte sonders behandelt. Sie werden von uns zur Berücksichti- davon nicht frei sein wird. Aber auch darauf freuen wir gung überwiesen. Dies haben wir im letzten Jahr mit uns, weil die lebendige Debatte gut für die Petitionsar- 81 Petitionen getan. beit ist. Ein Fall ist besonders erwähnenswert: Wir haben den (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Haben Sie je- Bürgern des oberbayerischen Ortes Valley geholfen, dass manden Bestimmten in Verdacht?) eine amerikanische Sendeanlage, die Belastungen für – Herr Scheuer, ich gehe jede Wette ein, dass das so ist. die Bürger erzeugte, abgeschaltet wurde. Weil gute Reden kluge Zitate zieren sollen, möchte Besondere Befugnisse des Petitionsausschusses sind ich mit einem solchen Zitat enden. Jean-Jacques für unsere Arbeit besonders wichtig. Dazu gehört zum Rousseau hat einmal gesagt: „Sobald einer über die Beispiel der Ortstermin, bei dem wir unmittelbar vor Ort Staatsangelegenheiten sagt ‚Was geht’s mich an?, muss mit den Betroffenen und Verantwortlichen über die Pro- man damit rechnen, dass der Staat verloren ist.“ Wir als bleme diskutieren können. Dies treibt manchmal ganz Mitglieder des Petitionsausschusses wissen uns mit allen besondere Blüten. Ich möchte von einem Beispiel be- Petenten und Petentinnen auf der richtigen Seite: der le- richten. So wurden unmittelbar vor einer Besichtigung bendigen Demokratie. Das finde ich gut so. von erheblichen Bergbauschäden im saarländischen Völklingen-Fürstenhausen im Auftrag des Bergbauun- Herzlichen Dank. ternehmens, bevor wir kamen, noch rasch Risse gekittet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und die Häuser angestrichen. Uns sollten potemkinsche DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Dörfer vorgeführt werden. Das kann man sich natürlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10371

Günter Baumann (A) nicht gefallen lassen. Das ist eine Missachtung des Par- Er wurde aber über Jahre hinweg bitter enttäuscht. Nach (C) laments, der Abgeordneten. sieben Jahren teilte ihm das Landesvermögensamt erst- mals mit, dass eine Rückgabe abgelehnt werde und kein (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ Entschädigungsanspruch bestehe. An dieser Haltung hat DIE GRÜNEN und der FDP) sich in den Folgejahren nichts geändert. Das Landesver- Auch das Recht, Akten einzusehen oder einen Vertre- mögensamt beruft sich auf den Restitutionsausschluss ter der Bundesregierung anzuhören, erweist sich gele- bei Enteignungen in den Jahren 1945 bis 1949. Dass die gentlich als hilfreich. Dabei ist manchmal erstaunlich, erste Enteignung durch die Gestapo erfolgte, wird nicht mit welcher Hartnäckigkeit manche Institutionen ein Ge- anerkannt. spräch mit dem Ausschuss verweigern, wobei wir doch gerade in diesen Gesprächen eine Reihe von Fragen klä- Kurz nach der Wende waren die lukrativen Grundstü- ren, die jeweiligen Standpunkte austauschen und oft cke zu Niedrigstpreisen an ehemalige Funktionäre der auch Kompromisse finden können. DDR verkauft worden. Der Petent hat einen sehr bösen Verdacht: Wollte etwa die Landesbehörde diese Ver- Meine Vorredner wiesen bereits darauf hin, dass im käufe in irgendeiner Form schützen? Petitionsausschuss vieles im Konsens geschieht. Aber hin und wieder lassen sich die Standpunkte der Fraktio- Der Petitionsausschuss des Bundestags hat sich all die nen nicht miteinander vereinbaren. Dann bleibt für die Jahre mit mehreren Erwägungsbeschlüssen parteiüber- Oppositionsfraktionen die Möglichkeit, eine Einzelaus- greifend für den Petenten eingesetzt. Das Problem war weisung zu verlangen oder einen Änderungsantrag zu aber, dass aufgrund der bundesstaatlichen Ordnung die stellen. Dies haben wir im letzten Jahr zweimal getan. Landtage für die Landesbehörden zuständig sind. Der Einmal ging es um den Erhalt des Bundeswehrstandortes brandenburgische Landtag ist der Meinung des branden- in Bayreuth. Zum anderen wollten wir der sudetendeut- burgischen Landesvermögensamts gefolgt, sodass zu- schen Ackermann-Gemeinde, einer hoch angesehenen nächst keine Hilfe möglich war. Dennoch könnte die Pe- katholischen Gemeinschaft, zu einem Kulturreferenten tition jetzt noch ein gutes Ende finden. Der Bund hat den verhelfen, um etwas zur deutsch-tschechischen Versöh- Vermögensanspruch des Petenten bereits anerkannt. Das nung beizutragen. Wir haben aber leider keine Mehrheit ist der erste Erfolg. im Ausschuss gefunden. Der zweite Erfolg könnte sich daraus ergeben, dass Die große Zahl von Eingaben macht auch deutlich, wir zum 1. Januar 2004 im Bundestag eine Gesetzesän- dass die Menschen in Deutschland große Hoffnungen in derung beschlossen haben, derzufolge das Bundesver- uns setzen. Oft ist eine Petition ihre letzte Möglichkeit, mögensamt für Enteignungen aus der NS-Zeit zuständig Hilfe zu bekommen, weil sie schon an vielen Behörden (B) ist. Damit kann nun dem Petenten nach fast 60 Jahren (D) und anderen Stellen gescheitert sind. Gerechtigkeit widerfahren. Als Abgeordneter aus Sachsen möchte ich einige Bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie spiele aus der Arbeit des Ausschusses aus den neuen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Bundesländern vortragen. Ein entscheidendes Thema ist GRÜNEN und der FDP) dabei die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur. Dazu zählen insbesondere offene Vermögensfragen. Der Petitionsausschuss erfährt auch immer wieder Viele Petenten klagen über willkürliche Entscheidungen von DDR-Recht, das im Einigungsvertrag übersehen der Landesvermögensämter. Ein Fall, in dem wir 2003 worden ist, zum Beispiel die so genannten stecken endlich Fortschritte erzielen konnten, ist wegen seiner gebliebenen Entschädigungen. Dabei handelt es sich menschlichen und historischen Dimension besonders um Entschädigungen, die nach den Enteignungsgesetzen dramatisch, weil sich hier die kommunistische und die zwar der DDR zugesprochen, aber in der Praxis nicht ge- nationalsozialistische Unrechtsepoche bei einer Person leistet worden sind. Wer nun glaubte, nach der Wende ei- überschneiden. nen Anspruch auf eine solche Entschädigung geltend Ein Bürger aus Brasilien, der 1997 80 Jahre alt war machen zu können, wurde von den Vermögensämtern und von Sozialhilfe lebt, hat sich an den Petitionsaus- schwer enttäuscht. Für eine Auszahlung fehlte im Ver- schuss gewandt, weil ihm das brandenburgische Landes- mögensgesetz die rechtliche Grundlage. vermögensamt die Rückgabe seines ehemaligen Fami- Der Petitionsausschuss hat dieses Thema jahrelang lienbesitzes verweigert hatte. Die Familie des Petenten immer wieder aufgegriffen und entsprechende Be- war 1945 – das ist zu beachten – gleich zweimal enteig- schlüsse gefasst. Wir konnten im Dezember vergange- net worden, und zwar erst von der Gestapo und dann von nen Jahres im Bundestag das Entschädigungserfüllungs- der sowjetischen Militäradministration. Der Vater wurde gesetz verabschieden, sodass den Bürgern im Prinzip von der Gestapo erschossen und die Mutter hat sich aus geholfen werden konnte. Aber bedauerlicherweise ist Verzweiflung selbst das Leben genommen. Zu DDR- der Anspruch auf sechs Monate befristet. Diese Frist ist Zeiten wurden die an einem See in Brandenburg gelege- leider gestern abgelaufen, sodass sicherlich einige diese nen herrlichen Wassergrundstücke des ehemaligen Land- Frist versäumt haben. Vielen ist aber bestimmt geholfen wirtschaftsbetriebs als so genannte Wochenendgrundstü- worden. Ich denke, wenn weitere Fälle bekannt werden, cke an Funktionäre des DDR-Regimes vergeben. dann werden wir sicherlich wie bisher parteiübergrei- Als der Petent in Brasilien von der Wende erfuhr, fend Möglichkeiten finden, um diesen Menschen zu hel- hatte er die Hoffnung, endlich Gerechtigkeit zu erfahren. fen. 10372 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Günter Baumann (A) Kompliziert im Einzelfall und den Betroffenen sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (C) schwer zu vermitteln ist das Rentenrecht. Das gilt insbe- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- sondere für die neuen Länder, wo eine Reihe von Proble- NISSES 90/DIE GRÜNEN) men offen ist, bei denen wir den Bürgern nicht immer helfen, aber zumindest durch eine Erläuterung oder Er- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: klärung den Sachverhalt vermitteln können. Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Winkler von Mir persönlich ist aber eine Gruppe von Betroffenen Bündnis 90/Die Grünen. ganz besonders wichtig. Es sind diejenigen, die über- haupt keine oder nur geringste Ansprüche an das Ren- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tensystem stellen können, weil ihnen eine normale Er- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- werbsbiografie in der DDR verweigert wurde. Die ren! Opfer des SED-Regimes haben bis heute nicht die ren- tenrechtliche Kompensation erfahren, die ihnen auf- Mit Mühen und Beschwerden wird man allein fer- grund ihres mutigen Einsatzes für Freiheit und Demo- tig, aber die Freude muss man teilen. kratie zweifellos zustünde. Dass wir uns – damit meine So sagt der norwegische Dichter Henrik Ibsen. Daher ich alle in diesem Lande, die seit der Wende politische teile ich mit Ihnen meine Freude über die hervorragende Verantwortung tragen – hier sehr schwer tun, ist und Bilanz des Jahresberichts 2003 des Petitionsausschusses, bleibt beschämend. Es ist für unsere Demokratie, glaube den wir heute vorlegen. Ich hoffe, dass möglichst viele ich, und auch für unser nationales Gedächtnis wichtig, Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande nicht nur die dass wir hier etwas tun. Gerade heute, am 17. Juni, dem Arbeit des Petitionsausschusses zur Kenntnis nehmen, 51. Jahrestag des Volksaufstands in der ehemaligen sondern auch die Möglichkeiten, die sich durch das Peti- DDR, sollten wir parteiübergreifend über eine Verbesse- tionsrecht bieten, noch mehr nutzen, als sie das bisher rung der Situation der Opfer des SED-Regimes erneut tun. nachdenken. Ich möchte gleich zu Beginn auf die Ausführungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Frau Lösekrug-Möller eingehen; denn ich habe ge- neten der FDP) merkt, dass in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion leichte Ich bitte die Kollegen der Regierungsfraktionen – darauf Unruhe herrschte. Herr Ramsauer hat uns insbesondere hoffe ich –, mit uns gemeinsam das Thema noch einmal bei den E-Mail-Petitionen viel Spaß gewünscht. Diesen anzugehen. Staatsnahe Funktionäre der ehemaligen werden wir mit Sicherheit haben. Herr Baumann, wir DDR und Stasi-Mitarbeiter konnten in den vergangenen waren in Schottland und haben gesehen, dass beim Peti- (B) Jahren die Begrenzung ihrer Zusatzrenten vor Gericht tionsausschuss des schottischen Parlaments ein ähnli- (D) zweimal aufheben lassen. Es darf nicht sein, dass die Tä- ches Verfahren über E-Mail sehr gut funktioniert und ter mehrmals belohnt worden sind, während die Opfer schon seit Jahren erprobt wird. Ich empfehle die Lektüre immer wieder durch das Raster fallen. des Reiseberichtes. Dann wird vielleicht verständlich, wieso wir entsprechende Überlegungen angestellt haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Der Bundestag wird demnächst erneut über eine Geset- zesinitiative zur Einführung einer Opferrente beraten. Der Jahresbericht 2003 zeigt: Ob es um die Bewilli- Ein entsprechender Antrag wurde von den Bundeslän- gung eines Rollstuhls, die Gewährung einer Altersrente dern Sachsen und Thüringen in den Bundesrat einge- ohne Abschläge oder den Lärmschutz in Wohngebieten bracht. geht – das betrifft also alle Ressorts der Bundesregie- rung –, wenn niemand mehr helfen kann, dann hilft eine Die Debatte über den Jahresbericht 2003 des Peti- Petition. Die Anzahl wurde schon erwähnt. Bei nahezu tionsausschusses gibt mir Gelegenheit, im Namen der jeder zweiten Petition von den vielen Tausend konnte et- CDU/CSU-Bundestagsfraktion allen Mitarbeiterinnen was für die Petenten erreicht werden. Ich denke, das ist und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihre fleißige, eine sehr gute Erfolgsbilanz. Man muss dabei bedenken, kompetente und immer sehr kollegiale Arbeit ganz herz- dass oft einzelne Petitionen von vielen Tausend Bürgern lich zu danken. Ohne ihre Tätigkeit wäre es uns nicht unterstützt werden, sodass sich das multipliziert. möglich, die Berge von Akten zu bewältigen. Einen ganz herzlichen Dank! Jede Petition ist in meinen Augen auch Ausdruck des Vertrauens der Bürger in das Parlament, dass es ihre An- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- liegen ernst nimmt. Man kann sagen: Die Bürgerinnen NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) und Bürger haben viel mehr Lust, sich in die demokrati- Wir als Abgeordnete haben mit großem Engagement, schen Abläufe einzumischen, als man glaubt. Zumindest fleißiger Arbeit und meistens in sachlichem Meinungs- ist es bei weitem nicht so dramatisch, wie die Wahlbetei- streit dazu beigetragen, dass vielen Bürgern im Land ge- ligung bei mancher Wahl glauben macht. Zumindest auf holfen werden konnte. Das stärkt das Vertrauen in unsere Bundesebene sehe ich das nicht so dramatisch. lebendige Demokratie und ermutigt uns, gemeinsam die- Inhalt der Eingaben, die uns auf den Tisch flattern, sen Dienst für unsere Bürger fortzuführen. sind auch nicht nur Gejammer und Gestöhne. Es sind Herzlichen Dank. viele Ideen, Verbesserungsvorschläge, manchmal auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10373

Josef Philip Winkler (A) Visionen, sehr selten Unsinn, meistens sehr positive (Günter Baumann [CDU/CSU]: Ihr müsst (C) Dinge. Deshalb sage ich auch: Petitionen sind Ausdruck dann auch mehr Lehren annehmen!) von Initiative, Kreativität und Verantwortung der Bürger. Darauf sage ich, Herr Baumann: Wir nehmen die Lehren Ich will ein besonders interessantes Beispiel vortra- durchaus an. Ich denke, die Zahl der gelösten Petitionen gen. Es geht um die Petition des Vaters einer schwerbe- zeigt das auch. hinderten Tochter. Der Vater hat dem Petitionsausschuss mitgeteilt, dass ihm bei der Beantragung von Pflegegeld, Die zunehmende Zahl von Massenpetitionen deutet weil er die Tochter zu Hause pflegt, der Pflegepauschal- darauf hin, dass immer mehr Menschen, die eigentlich betrag nur dann gewährt wird, wenn er die Kosten mit die direkte Demokratie wollen, den Umweg über das Pe- Einzelbelegen nachweist. Weil er ein Kind und nicht titionsrecht nehmen, weil es derzeit in Deutschland einen älteren Angehörigen pflegt, bekommt er nicht den keine Möglichkeit gibt, Volksentscheide durchzuführen, Pauschalbetrag, sondern muss alles Spitze auf Knopf da die Union und die Mehrheit der FDP das entspre- nachweisen. chende Gesetz abgelehnt haben. Auch hier wird sich das Rad der Geschichte noch weiter drehen und wir werden Ich denke, es war richtig, dass wir vom Petitionsaus- in dieser Wahlperiode einen erneuten Anlauf starten. schuss im Jahr 2002 parteiübergreifend die Bundesregie- rung und auch die Fraktionen aufgefordert haben, da Ab- Wir sehen auch Hinweise darauf, in welche Richtung hilfe zu schaffen. 2003 haben wir, wie ich durchaus mit wir die Gesetzgebung weiterentwickeln müssen. Man Stolz verkünden kann, den Arbeitsauftrag als erfüllt an- muss ganz klar sagen, dass wir gerade im Bereich der sehen können. Das Gesetz wurde geändert. Durch eine Kranken- und Rentenversicherung große Veränderun- Änderung des Einkommensteuergesetzes mit dem Steu- gen vornehmen müssen, um das System, das wir richtig errechtsänderungsgesetz 2003 konnte dem Beschluss des finden, zu erhalten. In diesem Bereich gehen die Einga- Ausschusses in vollem Umfang entsprochen werden. ben sprunghaft in die Höhe. Aus unserer Sicht zeigt die Vielzahl der Petitionen, dass eigentlich ein neues System Ich habe diesen Petenten besonders herausgehoben, gefunden werden muss, eine Bürgerversicherung, damit weil er nicht nur für seinen Einzelfall eine Petition ge- die Krankenversicherung und die Rentenversicherung schrieben hat – seine Situation war ja schon schlimm auf stabile Grundlagen gestellt werden können. genug –, sondern weil er darum gebeten hat, das Pro- blem generell auch für andere Familien, denen es ähn- (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Aber viele lich geht, zu lösen. Das haben wir jetzt geschafft und Petitionen besagen das Gegenteil!) deshalb muss ich diesem Petenten stellvertretend für Ich will noch anfügen, dass insbesondere im Bereich (B) viele andere herzlich danken und ihm Respekt zollen. Zuwanderungs- und Asylrecht eine große Anzahl von (D) (Beifall im ganzen Hause) Petitionen eingeht. Heute ist es offensichtlich zu einer endgültigen Einigung über ein Zuwanderungsgesetz ge- Man kann also sagen: Das Petitionsrecht ist eine Art kommen. Ich kenne die Inhalte leider noch nicht ganz. Sauerstoffkur für die Demokratie. Für diese Kur gebührt Eines ist aber sicherlich nicht enthalten, nämlich eine auch Dank. Ich schließe mich namens der Fraktion Bleiberechtsregelung für Hunderttausende von Men- Bündnis 90/Die Grünen dem Dank der anderen Fraktio- schen, die sich seit langem hier aufhalten. Es ist sehr be- nen ausdrücklich an und bedanke mich insbesondere bei dauerlich, dass das nicht erreicht werden konnte. So wer- dem Ausschussdienst der Fraktionen, aber natürlich den wir auch aus diesem Bereich noch lange viele auch bei dem des Deutschen Bundestages. Stellvertre- Petitionen bekommen. Ich finde, es ist schade, dass das tend möchte ich namentlich Herrn Dr. Rakenius, den in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht mit gelöst Leiter der Unterabteilung Petitionen und Eingaben, und wurde. Herrn Finger, den Leiter des Sekretariats, nennen, die Zum Schluss: beide hier Platz genommen haben. Herzlichen Dank! Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt. Der an- (Beifall im ganzen Hause) dere packt sie kräftig an und handelt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, solange in So sagte Dante. Insofern, liebe Bürgerinnen und Bürger: einer Demokratie Gesetze gemacht werden, werden auch Handeln Sie! Schicken Sie uns Petitionen, womöglich Fehler gemacht, und solange Fehler gemacht werden, auch per E-Mail! Dann handeln wir und versuchen, alles braucht eine Demokratie Bürgerinnen und Bürger, die zu tun, um Ihren berechtigten Anliegen zum Erfolg zu den Gesetzgeber auf die Fehler aufmerksam machen. verhelfen, und das, wenn es irgend geht, liebe Kollegin- Herr Kollege Scheuer, die Opposition schafft das nen und Kollegen im ganzen Haus, einheitlich und par- manchmal nicht ganz allein. „Das ist das Schöne an der teiübergreifend. Demokratie: Man muss sich nicht alles gefallen lassen“, schreibt die „Mitteldeutsche Zeitung“ in diesem Zusam- Herzlichen Dank. menhang. Insofern kann man, einen anderen Anwurf aus der Opposition aufgreifend, auch sagen: Die Petenten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die sich an den Bundestag richten, sind die preiswertes- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ten Politikberater, die man sich wünschen kann, und er- CDU/CSU und des Abg. Dr. Karlheinz sparen uns so manchen Euro. Guttmacher [FDP]) 10374 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vollzugs von Verwaltungsmaßnahmen bis zur Entschei- (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing dung über eine Petition gefordert. Sie wollten – um nur von der FDP-Fraktion. einige Ihrer Forderungen zu nennen – erweiterte Akten- einsichts- und Aktenbeiziehungsrechte, die Schaffung Dr. Volker Wissing (FDP): eines Selbstaufgriffsrechts, das Recht der Ausschuss- minderheit, von den Informationsrechten Gebrauch zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die machen, und die Darlegung der Auffassung von Aus- zahlreichen Petitionen sind ein deutliches Zeichen: Die schussmehrheit und -minderheit in der Beschlussbegrün- Bürgerinnen und Bürger vertrauen dem Petitionsaus- dung. schuss. Sie verdeutlichen, wie wichtig dieser Ausschuss ist. Er ist für viele die letzte Anlaufstelle, eine echte Al- (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Papier ist ge- ternative zur Resignation. Es wäre für das Ansehen der duldig! Das kennen wir von Rot-Grün!) Politik fatal, dieses Vertrauen zu enttäuschen. Man hätte fast annehmen können, Sie seien auf dem Wir dürfen mit dem Erreichten deshalb nicht zufrie- Weg zu einer Partei der Bürgerrechte. Aber was ist von den sein, sondern wir müssen uns bemühen, das Gute Ihren Ankündigungen geblieben? Nicht eine einzige Ih- weiterzuentwickeln. Wir müssen uns ständig fragen, was rer Forderungen wurde umgesetzt. Die weiter steigende wir tun können, damit der Petitionsausschuss die Interes- Zahl an Petitionen zeigt, wie wichtig dieser Ausschuss sen der Bürgerinnen und Bürger noch besser und noch ist. Ich bin sicher, diese Zahl wäre noch höher, wenn wir effizienter vertreten kann. Das Petitionsrecht muss auf das Petitionsrecht weiter ausbauten. den Prüfstand. Dort, wo es nötig ist, müssen wir es refor- mieren. Qualitätskontrolle ist einer der wichtigsten Stattdessen beobachten wir eine Entwicklung in eine Schritte zur Qualitätssicherung. ganz andere Richtung. Die Regierung neigt immer mehr (Beifall bei der FDP) dazu, ohne Not selbst Bürgerbeauftragte einzurichten. Wozu brauchen wir denn eigentlich eine Patientenbeauf- Unser Petitionsrecht ist seit 1975 unverändert. Die tragte, wenn wir einen Petitionsausschuss haben? Was Gesellschaft hat sich inzwischen – in vielen Bereichen kann Frau Kühn-Mengel, was der Petitionsausschuss sogar dramatisch – verändert. Wir müssen uns deshalb nicht kann? fragen: Wie können wir das Petitionsrecht so gestalten, dass es den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gerecht wird? Die Voraussetzungen für eine solche Re- der CDU/CSU) form sind gut; denn auch die Regierungsparteien, SPD Durch solche Bürgerbeauftragte werden Bürgeranliegen und Grüne, sehen die Notwendigkeit zur Umgestaltung (B) letztlich am Parlament vorbei behandelt, vom Parlament (D) des Petitionsrechts. So steht zum Beispiel im Koalitions- fern gehalten und direkt auf Regierungsebene erledigt. vertrag: Dadurch wird das Näheverhältnis zwischen Parlament Wir wollen das Petitionsrecht, über die Lösung in- und Petenten gestört. Für die Bürgerinnen und Bürger dividueller Anliegen hinaus, zu einem politischen entsteht der nicht gerade positive Eindruck, dass sich die Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und Bürger aus- Abgeordneten nicht mehr unmittelbar um ihre Anliegen gestalten. kümmern. Es geht ein hohes Maß an Transparenz und parlamentarischer Kontrolle verloren. Am Ende steht (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE eine Schwächung dieses Parlaments. GRÜNEN]: Gut zitiert!) Ich sage es Ihnen ganz offen: Die FDP hat große Be- Sie haben sich viel vorgenommen, Herr Winkler. denken gegen die inflationäre Einführung von Regie- Aber sind Sie diesem Anspruch denn gerecht geworden? rungsbeauftragten auf den verschiedensten Politikfel- Was ist denn inzwischen passiert? Haben Sie das Petiti- dern. Der Petitionsausschuss ist das zentrale Gremium onsrecht zu einem politischen Mitwirkungsrecht der für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. Dabei, Bürgerinnen und Bürger weiterentwickelt? liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte es auch bleiben. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Aber, Herr Wissing! – Gudrun Schaich-Walch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten [SPD]: Sie hätten die Reden mal umschreiben der CDU/CSU) können!) Wir sollten gemeinsam darauf hinwirken, dass die Anlie- Wo sind die angekündigten Reformen? Ihrem wohlfor- gen der Bürgerinnen und Bürger nicht auf eine Vielzahl mulierten Anspruch stehen bisher leider keine Taten ge- von Stellen verteilt werden, sondern zusammengeführt genüber. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen: werden, und zwar hier beim Parlament. Nur so können Was für einen Stellenwert hat das Petitionsrecht für Sie? wir den Anliegen wirklich die erforderliche politische Wirkung verleihen. Die Grünen haben vor der Bundestagswahl – Herr Winkler, jetzt können Sie meinen Zitaten weiter folgen – Die FDP will einen starken und selbstbewussten Peti- einen umfangreichen Forderungskatalog an die Vereini- tionsausschuss, einen Petitionsausschuss, der mit den gung zur Förderung des Petitionsrechts in der Demokra- notwendigen Rechten ausgestattet ist, um den Bürgerin- tie geschickt. Damals haben Sie – ich weiß nicht, ob Sie nen und Bürgern über den Wahltag hinaus politische das schon vergessen haben – die Aussetzung des Mitwirkungsmöglichkeiten zu sichern. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10375

Dr. Volker Wissing (A) Wir haben die Initiative ergriffen und eine Große An- Insofern, Herr Kollege, würde ich sagen: Bleiben Sie (C) frage in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir bitte sachlich und gehen Sie nicht nach den Wahlprüf- möchten, dass Sie von der Bundesregierung den Bürge- steinen, sondern nach dem Koalitionsvertrag, den Sie ja rinnen und Bürgern Klarheit darüber verschaffen, wie zitiert haben! Ernst es Ihnen mit der Ausgestaltung des Petitionsrechts ist. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Kurze Halb- wertszeit! – Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den Bürge- Gilt die noch?) rinnen und Bürgern ein Petitionsrecht an die Hand zu ge- ben, welches sie in die Lage versetzt, unsere Gesell- Danach handeln wir in diesem Punkt. Wir entwickeln schaft auf direkte Weise aktiv mitzugestalten! Die dieses Instrument weiter. Insofern verstehe ich Ihre An- Umsetzung eines solchen Vorhabens würde allen politi- würfe wirklich nicht. schen Parteien in diesem Hohen Hause zur Ehre gerei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen und führte zu einer Stärkung unserer Demokratie. und bei der SPD) Vielen Dank. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zur Erwiderung Herr Kollege Dr. Wissing. der CDU/CSU) Dr. Volker Wissing (FDP): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu meinen Erfahrungen. Ich habe inzwischen die Er- Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen fahrung gemacht, dass in vielen Bereichen Ihren Ankün- Josef Winkler das Wort. digungen keine Taten folgen.

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NEN): Deswegen wollte ich Sie eben an Ihre großen Ziele erin- Danke, Herr Präsident. – Lieber Herr Kollege nern, von denen nicht nur wenig, sondern gar nichts um- Dr. Wissing, ich schreibe es einmal Ihrer Unerfahrenheit gesetzt worden ist. Sie sagen nun, es müsse nicht immer als gerade erst ins Parlament gekommener Kollege zu, gleich alles gemacht werden. Ein bisschen wäre ja auch schon etwas. In diesem Bereich – das muss ich Ihnen lei- (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na, na!) der vorhalten – hat sich aber überhaupt nichts getan. Ihre dass Sie die Wahlprüfsteine als Gesetzgebungsvor- großen Versprechungen, im Bereich des Petitionsrechts (D) (B) schläge verstehen wollen. Natürlich haben die Grünen die Bürgerrechte zu stärken, sind – die Erfahrung habe seit vielen Jahren sehr weit gehende Überlegungen dazu, ich gemacht – eine reine Nullnummer geblieben. (Ernst Burgbacher [FDP]: Sie machen nur im- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – mer das Gegenteil! – Andreas Scheuer [CDU/ Günter Baumann [CDU/CSU]: Das war ein CSU]: Komischerweise immer vor Wahlta- Eigentor!) gen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wie man das Petitionsrecht weiterentwickeln kann. Frau Kollegin Lösekrug-Möller hat eben einige Dinge vorge- Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht stellt, die wir jetzt angehen wollen. Sie hätten Ihre Rede von der SPD-Fraktion. dementsprechend noch korrigieren können. Das klappt im nächsten Jahr vielleicht besser. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Peti- Die Vorschläge, die wir haben, gehen durchaus wei- tionsausschuss tritt einmal im Jahr aus dem Dunkel der ter. Das ist ein Katalog von bis zu 50 unterschiedlichen parlamentarischen Arbeit ins Licht des Plenarsaals. Ich Dingen. So soll zum Beispiel die Opposition gestärkt denke, das ist etwas, was man fast mit dem Ausspruch werden. von Brecht „Die im Dunklen sieht man nicht“ verglei- (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Sie richten chen könnte. sich schon auf die Zeit nach 2006 ein!) (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Haben Sie ein – Mir ist klar, dass Ihnen im Moment besonders am Her- poetisches Seminar gemacht?) zen liegt, dass ich diese Forderung durchsetze. – Das hätten Sie, Herr Scheuer, manchmal nötig. Aber Aber ich sage einmal so: Es muss nicht alles auf ein- lassen wir das heute einmal. mal kommen. Man sollte ein so wohldurchdachtes In- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) strument wie das Petitionsrecht nicht von heute auf mor- gen überfrachten, aber nach und nach, denke ich, sollte Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen, darunter man neue Elemente ins Petitionsrecht einführen. So wie ganz vielen Neuen, ganz herzlich danken sowie auch un- ich das einschätze, wird diese Position, dass nicht alles serem neuen Vorsitzenden, der Nachfolger unserer durch immer so bleiben muss, wie es ist, auch vom Koalitions- einen tragischen Unfall ums Leben gekommenen Vorsit- partner geteilt. zenden wurde, für seine ruhige und gelassene Art, die 10376 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) Ausschusssitzungen sehr sachlich und konstruktiv zu 14 000 Bürgerinnen und Bürger haben Eingaben zum (C) führen. Vielen Dank, Herr Guttmacher. Irakkrieg gemacht, fast alle mit dem Tenor: Bitte keine Kriegsbeteiligung, keine Hilfen dazu! Ich glaube, mit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der Entscheidung der Regierung, sich nicht an Kriegs- GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abge- einsätzen zu beteiligen, ist man dem Anliegen dieser ordneten der FDP) 14 000 Petenten wirklich gerecht geworden. Mit der Ich denke, es tut gut, im parlamentarischen Ablauf so et- Beendigung des Krieges eröffnet sich hoffentlich auch was zu erleben. Wir zwei gehören ja mit zu den alten Ha- eine Chance auf Befriedung im Nahen Osten. Die ganz sen in diesem Ausschuss und haben dabei erkannt: Für große Außenpolitik reicht also bis in unseren Ausschuss die Petentinnen und Petenten ist die Sachorientierung hinein. das Beste. Es gibt ebenfalls Anliegen, die ganz alltägliche Dinge Ich möchte klarstellen, was der Petitionsausschuss betreffen. Zum Beispiel herrscht Unverständnis, warum ist – gerade auch bei meinen Vorrednern kam das nicht eine Behörde bestimmt, dass der Briefkasten vor einem immer ganz deutlich zum Ausdruck –: Wir sind kein Altersheim abgebaut wird, sodass die Menschen bis zu Gnadenausschuss. Wir können uns nicht über bestehen- 1 000 Meter weit zum nächsten Briefkasten – das ist der des Recht hinwegsetzen. Das heißt, wir haben uns an Radius, in dem ein Briefkasten stehen muss – gehen Recht, das gesetzt ist, zu halten. müssen, was Menschen, die in einem Altersheim leben, oft nicht möglich ist. Eine entsprechende Petition ging Außerdem können wir die Gewaltenteilung, die die ein, weitere waren sozusagen in Arbeit und sollten ein- bundesrepublikanische Verfassung vorgibt, nicht aufhe- gereicht werden. Die Verhandlungen mit der Behörde ben. Ein Urteil eines Gerichtes, über das ein Petent klagt, haben dazu geführt, dass die Briefkästen vor Altershei- können wir nicht hinwegfegen. Wir können dem Peten- men vom Abbau ausgenommen und dort belassen wer- ten nur empfehlen, den Rechtsweg zu beschreiten. den. Dadurch wird Bürgernähe vermittelt. Schließlich haben wir auch nicht die Aufgabe, Regie- Wir haben sehr viele Beschwerden, Anliegen und Bit- rung zu sein. Ihnen, Herr Dr. Wissing, muss ich einfach ten zum Thema Gesundheit erhalten, auch auf dem Ge- noch einmal sagen: Gewaltenteilung beinhaltet, dass biet der Kinderheilbehandlung. Da genügt es manchmal, eine Patientenbeauftragte eine Beauftragte der Regie- das Bundesversicherungsamt oder die Behörden, die zu rung ist, der Petitionsausschuss aber eine Einrichtung entscheiden haben, darauf aufmerksam zu machen, dass des Parlaments, nämlich der Legislative. Diese beiden sie die Kinder nicht wie Erwachsene behandeln dürfen, Dinge muss man sauber auseinander halten. Das ist ganz sondern sie im Sinne von Kindern behandeln müssen. wichtig. Ansonsten würde das Parlament untergemischt. Die Kinder haben eine kleinere Lobby; das sage ich auch (B) (D) Auch als Mitglied einer Fraktion, die die Regierung als Kinderbeauftragte meiner Fraktion. stellt, lege ich darauf großen Wert. Ich habe eigentlich gedacht, Ihnen als Jurist wäre das klar. Ich glaube, an diesen Einzelfällen wird deutlich, dass der Petitionsausschuss Bürgernähe hat und sie nicht erst (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten suchen muss. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Viele Anliegen, die den Petitionsausschuss zurzeit er- Vielleicht liegt es aber auch daran, dass unsere Arbeit reichen, betreffen die gesetzliche Krankenversicherung. nicht gerne gemacht wird, wenn man sie nicht kennt. Aufgrund der unterschiedlichen Erwerbsbiographien, Deshalb sind manche Fraktionen dazu übergangen, zu aber auch der persönlichen Biographien, die teilweise rollieren. Das heißt, einige Kollegen werden ausge- durch Scheidung, Trennung oder anderes gekennzeich- tauscht und andere rücken nach. Es fällt nämlich massiv net sind, kann es dazu kommen, dass Menschen auf ein- Arbeit an; diese kostet viel Zeit, aber ist in keinster mal keine Krankenversicherung mehr haben. Das kann Weise öffentlichkeitswirksam. Als Politiker, egal wel- man sich eigentlich kaum vorstellen und es sind sicher cher Couleur, leben wir ja nach dem Grundsatz: Tue Gu- Einzelfälle. Aber wenn sich die Fraktionen des Bundes- tes und rede darüber! Wir können aber nicht über Einzel- tages schon um eine Reform bemühen, sollten in den fälle öffentlich reden. Wir müssen entscheiden, und Überlegungen auch diese Fälle berücksichtigt werden. zwar, wie ich denke, oft im Sinne der Petentinnen und Deshalb fordern wir das Gesundheitsministerium zuneh- Petenten. Wir können allerdings die Daten des Einzel- mend auf, bei einer Reform darauf zu achten, dass die nen, dem wir geholfen haben, nicht veröffentlichen. Gruppe derer, die nicht erfasst werden und durch das be- Deshalb ist diese Arbeit nicht sehr beliebt. Trotzdem gibt treffende Netz fallen, von vornherein sehr klein gehalten es Abgeordnete, die schon zwei oder drei Wahlperioden wird. in diesem Ausschuss sind. Hierfür gibt es Gründe: Das liegt an der Bürgernähe, an der Sacharbeit, die dort ge- Wenn man die Erfolge dieser Arbeit sieht, macht man leistet wird, und an unserem präzisen Vorgehen. Die Ba- die Arbeit gern. Wenn man sie länger macht, stellt man sis für Entscheidungen wird uns durch die Vorbereitun- fest, dass sie auch für einen persönlich ein Gewinn ist. gen hervorragender Fachleute des Ausschussdienstes Man lernt unheimlich viel. Ich denke, Abgeordnete, die gelegt. sich in der Parlamentsarbeit auskennen – nicht ganz neue Abgeordnete, die sich im parlamentarischen Ablauf erst Ich will an ein paar Beispielen zeigen, wie weit die zurechtfinden müssen –, sollten einmal für längere Zeit Sachverhalte reichen, die bei uns im Petitionsausschuss in den Petitionsausschuss gehen, um zu sehen, welche eingereicht werden. Ich nehme das Beispiel Irakkrieg. Gesetze gut gemacht sind und bei welchen vielleicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10377

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) handwerkliche Fehler gemacht worden sind – das betrifft das Ersuchen. Bei dem Wort „Angriff“ habe ich etwas (C) alle Regierungen –, wo Schwachstellen sind, was man gestutzt und einen Augenblick nachgedacht: Wer greift im Vorfeld besser machen kann und wie man im Nach- hier eigentlich wen an? Der Petent den Staat oder umge- hinein korrigieren kann. kehrt? Der Petent den Gesetzgeber oder umgekehrt? Der Petent den Ausschuss, seine Mitarbeiter, die Politik? Diese Arbeit ist es, die den Petitionsausschuss aus- Wird überhaupt angegriffen? Fühle ich mich angegrif- zeichnet. Ich vergleiche ihn mit der Beschwerdeabtei- fen? Nein, selbstverständlich nicht. lung in einem guten Unternehmen wie zum Beispiel BMW oder Mercedes. Wenn dort eine Beschwerde Vor allen Dingen Politiker und Politikerinnen sollten kommt, dass jemand Schwierigkeiten mit seinem Neu- nicht lügen. Deshalb will auch ich hier der Wahrheit die wagen hat, dann kann das ein Einzelfall sein. Wenn aber Ehre geben. Manchmal sind Petitionen, die in den Be- mehrere Beschwerden kommen, kann man feststellen, richterstatterkreislauf hineinkommen, in Wortwahl und dass vielleicht doch etwas an der Hinterachse geändert, Ausdruck derart aggressiv, böse und polemisch, dass sie der Einstieg vergrößert oder was auch immer korrigiert sehr wohl als Angriff gewertet werden könnten. Auch werden muss. Ein gutes Management in einer Firma be- Drohanrufe und Drohschreiben haben der eine oder an- achtet die Wünsche der Kunden. Der Petitionsausschuss dere von uns schon erhalten. Aber sind nicht Aggressivi- sorgt dafür, dass unsere Bürgerinnen und Bürger wie tät und Boshaftigkeit auch ein Ausdruck von Ohnmacht, Kunden behandelt werden. Diese Bürgerinnen und Bür- Hilf- und Ausweglosigkeit und Frustration über den ger haben uns ja gewählt. Staat, die Gesetze und deren Durchführung? In diesem Sinne glaube ich, dass der Petitionsaus- Selbstverständlich bearbeite ich Petitionen, die in schuss zwar eine Reform braucht, aber in seiner Grund- sachlicher und emotionsloser Form vorgebracht werden, tendenz nicht angetastet werden darf. Ich denke, dass wir lieber und auch viel einfacher. Hierbei komme ich dann uns mit ganz viel Stolz präsentieren können. Wir arbei- zu der anderen Bedeutung dieses lateinischen Wortes. ten in einem Ausschuss, der öffentlich wenig beachtet „Petitio“ heißt Ersuchen und bezeichnet die Bitte, eine wird. Er bekommt nur einmal im Jahr Redezeit im Parla- „schriftlich formulierte Eingabe, Beschwerde oder ein ment, in diesem Jahr heute. Ansonsten sind wir jeden Gesuch an eine staatliche Stelle … bzw. an eine Volks- Mittwoch die Ersten, die im Ausschuss sitzen, von halb vertretung“, die in der Regel hierfür einen Ausschuss acht bis neun Uhr, und die Anliegen der Menschen be- eingerichtet hat; so das „Politiklexikon“. Da dies so ist, handeln, meistens über die Grenzen der Fraktionen hin- werden von uns alle Petitionen bearbeitet, egal in wel- weg. Ich finde das gut. Es hat sich jetzt auch etwas Ruhe cher Form, Ausdrucksweise oder Wortwahl sie einge- über unsere Arbeit gelegt. Nach den anfänglichen Verir- reicht werden. Das ist gut so. Denn die Zulässigkeit von rungen in politische Hinterzimmer und Diskussionszir- (B) Petitionen ist ein Bestandteil demokratischer Grund- (D) kel sind wir jetzt größtenteils zur Sacharbeit zurückge- rechte. kehrt. Ein paar brauchen noch ein bisschen Zeit, die wir ihnen auch geben, damit sie mit uns zusammenfinden Oft genug gibt es positive Ergebnisse zu vermelden. und wir gemeinsam eine an der Sache orientierte Lösung So kann eine 85-jährige Frau mit ihrem nunmehr von der finden. Krankenkasse bewilligten Rollstuhl wieder am gesell- schaftlichen Leben inner- und außerhalb des Altershei- Ich wünsche uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit mes teilnehmen. Einige andere Beispiele aus dem und die Einbindung aller. Dann schaffen wir es auch, im Gesundheitsbereich haben Sie schon gehört, auch das Sinne der Bürger zu handeln. Beispiel jener Schülerin, deren Vater wir, lieber Josef Danke schön. Winkler, darüber informiert haben, dass jetzt alles den richtigen Weg geht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Aber manchmal kann man als Berichterstatter auch in Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) Gewissenskonflikte kommen. Damit meine ich jetzt nicht Konflikte, bei denen es darum geht, ob ein Petent Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: als Fußballer in die Nationalmannschaft aufgenommen Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer von werden soll oder nicht, wobei ich nicht weiß, ob das an der CDU/CSU-Fraktion. dem Ergebnis von vorgestern etwas geändert hätte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Ich spreche von ernsthaften, tiefer gehenden Gewissens- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): konflikten, denen sich jeder von Ihnen schon einmal aus- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! gesetzt gefühlt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch Sie kennen das sicherlich: Sie sind Mitglied im Petitionsausschuss, ha- Aus meiner aktuellen Berichterstattung kann ich von ben Hunderte von Petitionen gelesen und bearbeitet und einem Petenten berichten, der sich darüber beklagt, dass plötzlich stellen Sie sich die Frage: Petition, was heißt seine Krankenkasse die Kosten für eine Organtrans- das eigentlich? Woher kommt dieses Wort? Was steckt plantation, die im Ausland auf eigene Veranlassung dahinter? Welche Bedeutung hat es? Ich habe einmal durchgeführt wurde, nicht übernimmt. Zweifellos ist hier nachgeschaut: „Petition“ kommt aus dem Lateinischen, Geld gespart worden. Dem Petenten konnte im Ausland stammt von dem Wort „petitio“ und heißt: der Angriff, – im Übrigen schnell – geholfen werden. Auch unter 10378 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Sibylle Pfeiffer (A) Kostengesichtspunkten hätte man dem Ersuchen durch- Ich möchte mich aber nicht dagegen aussprechen, (C) aus stattgeben können. dass zukünftig Petitionen per E-Mail eingereicht werden können. Bis jetzt bedarf es einer besonderen Aber es gibt neben den Vorschriften, die für uns alle Form, nämlich der Briefform. Wenn wir also Eingaben gelten, weitere Aspekte, die beachtet werden sollten. In per E-Mail zulassen, muss das formblattgebunden ge- Deutschland gibt es ein Transplantationsgesetz und schehen, damit die Angelegenheit ernst genommen wird europaweit eine Vermittlungsstelle für Organtransplan- und damit wir sie gut bearbeiten können. Zusätzlich tate. Wenn ein Dialysepatient eine neue Niere transplan- brauchen wir ein System, das diese Form der Eingabe tiert bekommen soll, muss er sich auf einer Warteliste beherrscht. Dass Systemeinführungen auch schief gehen eintragen lassen und abwarten, bis für ihn eine entspre- können, haben Sie uns mit der Maut demonstriert. chende Niere gefunden wurde. Er kann nicht einfach in ein Land gehen, in dem es diese Vorschriften nicht gibt, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE und sich dort eine Niere kaufen. Denn wir alle wissen, GRÜNEN]: Das waren die Firmen, die gepatzt dass es in vielen Ländern illegalen Organhandel gibt, der haben, und nicht die Regierung!) auf mafiösen Strukturen aufgebaut ist. Menschen lassen sich gegen Bezahlung freiwillig ihre Organe entnehmen, Deswegen: Vorsicht! Das System muss gut sein, damit um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Es gibt es im Sinne der Petenten vorangeht. Hinweise darauf, dass Menschen umgebracht werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) um ihre Körper regelrecht ausschlachten zu können. Diese Organe landen dann auf dem Weltmarkt und wer- Aus meinem Arbeitsbereich Verkehr und Wohnungs- den transplantiert. wesen möchte ich gerne einige Beispiele aus dem Jahr 2003 vorstellen. Aus Berlin gibt es zu berichten, dass Ich will auf den Anfang meiner Rede zurückkommen. sich ein Petent über die werbliche Nutzung der Fenster Ich glaube, dass dem illegalen Organhandel durch Kos- an Linienbussen des öffentlichen Personennahverkehrs tenübernahme von staatlicher Seite nicht Vorschub ge- beschwert hat. Es ging um das vollflächige Verkleben leistet werden darf. Deshalb ist in diesem Zusammen- der Busfenster mit Werbung. Durch Werbung, die nur hang der Begriff „Eingabe“ falsch. Der Begriff noch ein Loch übrig lässt, kann man schlecht schauen; „Petition“ stammt aus dem Lateinischen. Petitionen gibt man fühlt sich etwas irritiert. Als Berichterstatter habe es seit über 2 000 Jahren. Seit jeher setzten Kaiser, Fürs- ich diese Auffassung des Petenten durchaus nachvollzie- ten und Volksvertretungen solche Instrumente ein, um zu hen können und sein Begehren unterstützt. In Berlin gibt erfahren, was das Volk von ihnen hält. es bei vielen Doppeldeckerbussen gute Beispiele, die Ganz zum Schluss möchte ich noch eines sagen: Herr zeigen, dass man interessante Werbung von außen an- (B) Kollege Wissing hat nach dem Stellenwert gefragt. bringen kann, ohne dass die Sicht aus dem Fenster be- (D) Wenn ich mir die Besetzung der Regierungsbank an- einträchtigt wird. schaue, dann macht mich das ein bisschen traurig. Aber Allein durch die Debatte im Ausschuss und durch da bis jetzt der Staatssekretär beim Bundesminister der Veröffentlichungen in der Presse ist das Anliegen des Verteidigung anwesend war, Petenten deutlich artikuliert worden, wenngleich es im (Zuruf von der CDU/CSU: Er hört trotzdem Ausschuss keine Mehrheit fand. Ich bin dankbar, dass es nicht zu!) dieses Instrument des Petitionsausschusses gibt; denn der Petent findet sein Anliegen wieder. könnte es sein – ich weiß es nicht genau –, dass dieses Thema vielleicht doch etwas mit Angriff zu tun hat. Bei einem weiteren Fall ging es um die Veräußerung bundeseigener Wohngebäude auf der Insel Sylt nach Vielen Dank. Abzug der Bundeswehr. 78 Petenten hatten beanstandet, dass der Bund beabsichtige, auf Sylt 539 Wohneinheiten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu veräußern. Da Sylt ein hochpreisiger Tourismusstand- ort in einmaliger Insellage ist, gelten hier natürlich an- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dere Marktgegebenheiten. Die Petenten befürchteten Das Wort hat jetzt der Kollege Gero Storjohann von deshalb zu Recht drastische Mieterhöhungen bei Veräu- der CDU/CSU-Fraktion. ßerung an Investoren. In der logischen Konsequenz hätte dies den Fortzug von der Insel auf das Festland für viele (Beifall bei der CDU/CSU) Mietparteien bedeutet. Gerade vor dem Hintergrund, dass viele Mieter diese Wohnungen jahrelang als Dienst- Gero Storjohann (CDU/CSU): wohnungen genutzt haben, hätte es eine erhebliche Härte Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und bedeutet, diese gewachsene Nachbarschaft aufzugeben, Herren! In der Bundesrepublik Deutschland ist das Peti- zumal der Bund eine besondere Fürsorgepflicht gegen- tionsrecht in Art. 17 des Grundgesetzes festgelegt. In der über seinen Mietern haben sollte. Urdemokratie, nämlich im Vereinigten Königreich, gibt (Beifall bei der CDU/CSU) es kein Petitionsrecht. Herr Kollege Winkler hat vorhin Schottland als Beispiel aufgeführt. Dort handelt es sich Mittlerweile hat es hier, auch mit großer Unterstüt- aber um ein Regionalparlament, das es erst seit 1999 zung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, einen ersten gibt. Man kann also nicht davon sprechen, dass man dort Teilerfolg gegeben. So übernimmt die Insel Sylt zu- jahrelange Erfahrung hat. nächst ein Paket von insgesamt 68 Wohnungen. Für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10379

Gero Storjohann (A) diese wurde ein akzeptabler Preis für beide Seiten ver- hier vom Kollegen Storjohann als Wildwechselque- (C) einbart und auch die Mieter, somit die Petenten, sind mit rungshilfe angeführt wurde. Ich glaube nicht, dass eine dieser Lösung einverstanden. Ich hoffe, dass bei der rest- breite Überdeckelung zu einer Verbesserung des dörfli- lichen Abwicklung und Übernahme der Wohnungen chen Klimas führen würde, weil man sich auf dieser ebenfalls eine einvernehmliche Lösung zustande kom- Brücke von beiden Ortsteilen, sozusagen Auge in Auge men kann. und Hand in Hand, begegnen könnte. Der jetzt erzielte Kompromiss – man muss auch berücksichtigen, was jen- Mit einer Petition aus Gremersdorf im Kreis Osthol- seits der Beschlusslage des Petitionsausschusses erreicht stein im schönen Schleswig-Holstein begehren die Ein- wurde – muss wirklich als angemessen betrachtet wer- wohner, die Verlängerung der Autobahn A 1 innerhalb den. Insofern war der Beschluss auf Abschluss dieser der Ortslage Gremersdorf auf einer Länge von Petition sachgerecht und richtig. 70 Metern zu überdeckeln. Dadurch wären die Folgen der Zerschneidung ihres Ortes durch den Ausbau der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesstraße B 207 zur Autobahn gemindert. DIE GRÜNEN) Im Vertrauen auf eine mündliche Zusage des Bundes hatte die Gemeinde seinerzeit auf eine Klage gegen das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausbauvorhaben dieses Bauabschnitts verzichtet. Am Zur Erwiderung, Herr Storjohann. 24. April 2003 hatte sich der Petitionsausschuss auf An- trag meiner Fraktion beim Ortstermin ein Bild von der Gero Storjohann (CDU/CSU): Lage in Gremersdorf gemacht. Es ist bedauerlich, dass Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau SPD und Grüne im Petitionsausschuss einer Kompro- Lösekrug-Möller, wir hatten das Votum des schleswig- misslösung von 50 Meter Überdeckelung nicht zugäng- holsteinischen Petitionsausschusses im Rücken, als wir lich waren und die Petition abgelehnt haben. uns mit dieser Thematik beschäftigten. Es gab in Schles- wig-Holstein und in der Gemeinde Gremersdorf den par- (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist teiübergreifenden Wunsch, eine Überdeckelung von unfair!) 70 Metern zu bauen. Im Ergebnis sind 30 Meter heraus- Festzustellen ist: Wenn wir hier über eine 70 Meter gekommen. lange Wildwechselquerungshilfe über die Autobahn zu Um einer räumlichen Trennung dieser Gemeinde für entscheiden hätten, wäre eine rot-grüne Zustimmung die nächsten Jahrhunderte entgegenzuwirken, hielten wir – da bin ich mir ziemlich sicher – eher zu erreichen ge- dieses Anliegen für angebracht und hätten uns die Unter- wesen. stützung auch von Ihrer Fraktion gewünscht. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Dies macht deutlich, dass manche Probleme im Petiti- onsausschuss zurzeit nicht gelöst werden können, son- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dern erst mit neuen Mehrheiten nach der Bundestags- Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der wahl 2006. SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Swen Schulz (Spandau) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Meine Damen und Herren! Die Kollegin Rupprecht hat Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin vorhin das Licht des Plenarsaals angesprochen. Ich Lösekrug-Möller das Wort. denke, wir genießen die ansprechende Architektur des modernisierten Reichstagsgebäudes, weil viel Glas und Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Helligkeit eine angenehme Atmosphäre schaffen. Diese Ich möchte meine Kurzintervention auf das beziehen, Gestaltung ist aber auch ein Symbol: Jeder Bürger und was der Kollege Storjohann bezüglich der Petition aus jede Bürgerin kann auf der Kuppel oder von der Straße Gremersdorf ausführte, und dazu ergänzend vortragen, ans Fenster herantreten und uns, ihren Volksvertretern, dass in dieser Gemeinde bereits ein großer Kompromiss auf die Finger schauen. Das ist ein schönes Symbol für erzielt worden war, bevor man zu der Auffassung ge- Transparenz und Offenheit. langte, 100 Prozent seines Wunsches auf dem Petitions- weg erreichen zu wollen. Eine institutionelle Entsprechung beim Bundestag über das Symbolische hinaus ist der Petitionsausschuss. Wir sind gerade in der aktuellen Diskussion des Bun- Mit ihm öffnet das Parlament den Menschen die Türen. desverkehrswegeplans gut beraten, genau darauf zu ach- Sie können eintreten, ohne abschreckende Formalia be- ten, eine gerechte Verteilung der ohnehin schwer zu ver- achten zu müssen, ihre Position, ihre Kritik und ihre Vor- teilenden Mittel nach sachlichen Geboten zu betreiben. schläge direkt beim Deutschen Bundestag platzieren und Daran sollte sich auch ein Petitionsausschuss halten. sie damit auf die politische Tagesordnung setzen. Eine tolle Sache! Jetzt geht es um die Gemeinde Gremersdorf. Hier wurde eine Lösung weit über das übliche Maß hinaus ge- Als ich aber zu Beginn der Wahlperiode erzählte, ich troffen. Das, was im Rahmen einer Petition verfolgt sei unter anderem in den Petitionsausschuss gekommen, wurde, weist in keiner Weise Parallelen zu dem auf, was erntete ich meist mitleidige Blicke und Kommentare 10380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Swen Schulz (Spandau) (A) wie: Viel Arbeit, wenig Renommee; na ja, als Jüngster Menschen. Die Tätigkeit im Petitionsausschuss trägt (C) meiner Landessgruppe hätte ich wohl in den Ausschuss deswegen auch ganz sicher zur Erdung der politischen müssen, und Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Umso Arbeit bei. größer war meine Freude darüber, dass ich es nicht nur mit versprengten, in den Petitionsausschuss gezwunge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nen Neulingen zu tun hatte, sondern dass engagierte, GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- zum Teil gestandene Abgeordnete anspruchsvolle Arbeit ten der CDU/CSU) gestalten. In diesem Sinne sind wir „Bundestag at its best“. Wir Nach anderthalb Jahren kann ich bestätigen: Die Tä- diskutieren miteinander: einmal streitig, einmal auf der tigkeit ist tatsächlich lehrreich. Sie ist voller Abwechs- Suche nach gemeinsamen Lösungen, aber immer entlang lungen und von Bedeutung. Ich musste aber auch fest- der Eingaben der Bürgerinnen und Bürger. Da fallen die stellen, dass der Petitionsausschuss häufig immer noch Situationen, in denen ich mich über die Union ärgere, unterschätzt wird. Wir müssen darum in unserem Bemü- weil sie wieder einmal parteipolitisches Kapital aus einer hen fortfahren, die Bedeutung des Ausschusses zu er- Petition schlagen will, gar nicht so sehr ins Gewicht. klären und sein Ansehen zu heben: bei den Bürgern, den (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Sie machen Medien und den Kolleginnen und Kollegen. Es wäre das ja nie! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Es darüber hinaus auch schön, wenn uns die Bundesregie- hatte so schön angefangen!) rung noch mehr wertschätzen würde als sowieso schon. Allerdings ist das auch nicht so wichtig, solange sie tut, – Na ja, es mag ja sein, dass es zu früheren Zeiten in an- was wir wollen. deren Konstellationen auch einmal so war, auch wenn ich mir das gar nicht vorstellen kann. (Heiterkeit) Der Jahresbericht 2003 des Petitionsausschusses hat Wir müssen verdeutlichen, welche Funktion, welchen im Gegensatz zu dem des Jahres 2002 in den Medien besonderen Charakter der Petitionsausschuss hat. In ihm starke Beachtung gefunden. Das liegt wohl daran, dass werden Anliegen aus allen Politikbereichen erörtert und es 2002 einen Rückgang der Petitionen gab und 2003 häufiger, als angenommen wird, können wir den Men- wieder einen Zuwachs. Während der Rückgang im schen helfen. Vielfach führen Petitionen zu politischen Jahre 2002 nicht weiter erklärt wurde, wurde der Zu- Debatten, Initiativen und Änderungen der Rechtslage. wachs im Jahre 2003 als Zeichen für die Unzufrieden- Mit der großartigen Unterstützung seines Dienstes greift heit der Bürger gewertet und auf die Politik der Regie- der Petitionsausschuss Anregungen der Bürger auf und rungskoalition zurückgeführt. speist sie mit Anmerkungen versehen in Bundesregie- (B) rung und Bundestag ein. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist (D) logisch!) Wir machen das, so denke ich, ohne Scheu vor Selbst- korrektur; denn wir wissen, dass Politik und Verwaltung Herr Baumann hat das hier eben so vorgetragen. Man Fehler machen, aber auch nicht alle aus einem Gesetz re- muss berücksichtigen, dass viele Petitionen nichts mit sultierenden praktischen Probleme vorhersehen können. aktuellen Entscheidungen der Regierungskoalition zu Manchmal ergeben sich erst nach Jahren so vertrackte tun haben, in anderen wird die Regierung kritisiert, in individuelle Konstellationen, in denen eine lang erprobte manchen wird sie aber auch unterstützt. Rechtslage nun zu inakzeptablen Ergebnissen führt. Mit 15 534 Petitionen haben wir den zweitniedrigsten Manchmal werden Probleme ganz neu von Bürgern Wert seit der Wiedervereinigung. Was sagt uns das, liebe angepackt und uns erreichen Vorschläge, die wir aufgrei- Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, über die fen. Natürlich gibt es auch Petitionen, in denen aktuelle Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit den je- öffentliche Debatten kommentiert, bekannte Forderun- weiligen Regierungen? Wir sollten solche Rechenspiele gen unterstützt werden. Es gibt also viele verschiedene unterlassen; denn sie lassen das Petitionswesen im fal- Motive für Menschen, uns zu schreiben. schen Licht erscheinen. Auffallend ist über die Jahre die Häufigkeit von Peti- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des tionen aus den neuen Bundesländern. Die Bürger dort BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wenden sich an den Ausschuss in den gewissermaßen Wir sollten das Petitionswesen stärken, indem wir in üblichen Bereichen und zusätzlich in den Fragen, die der Öffentlichkeit dafür werben und den Menschen deut- sich aus der Einheit und ihren Folgen ergeben. Auch da- lich machen, dass es sinnvoll ist, sich an uns zu wenden. ran sehen wir, dass das Zusammenwachsen Zeit benötigt Einige Initiativen der Öffentlichkeitsarbeit sind schon und manchmal immer noch Handlungsbedarf besteht. erfolgreich ergriffen worden, etwa Bürgersprechstunden Nun werden im Petitionsausschuss selbstverständlich bei Messen. Wir können uns darüber hinaus einiges vor- auch parteipolitische Unterschiede deutlich. Wenn ein stellen, was den direkten Kontakt mit Bürgerinnen und Petent eine kontroverse Forderung formuliert, entsteht Bürgern verbessert, beispielsweise die Einrichtung von darüber natürlich eine Debatte. Das gehört sich auch so. Telefonhotlines. Das würde unsere Unterstützung fin- Es gibt aber auch – vielleicht mehr als in anderen Aus- den. Wir dürfen nicht nur in Berlin sitzen und darauf schüssen des Bundestages – Gespräche jenseits der Par- warten, dass die Leute von sich aus auf die Idee kom- teilinien, weil es häufig eben nicht um ideologische Fra- men, uns zu schreiben. Wir müssen zu den Leuten gehen gen geht, sondern um die tatsächlichen Erfahrungen der und sie ansprechen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10381

Swen Schulz (Spandau) (A) Diese Initiativen sollten von einer Modernisierung im Petitionsausschuss bekommen diese abstrakten (C) des Petitionsrechts begleitet werden. Kollegin Lösekrug- Grundentscheidungen einen Namen, sie werden greif- Möller hat dazu Ausführungen gemacht. Das Petitions- bar; denn sie stammen mitten aus dem Leben und die recht kann direkt demokratische Entscheidungsverfahren Schicksalsbeschreibungen sind sehr persönlich. Meine nicht ersetzen oder umgekehrt. Der Charakter von Peti- Kollegen Pfeiffer und Baumann haben schon darauf hin- tionen und Volksentscheiden ist unterschiedlich. So- gewiesen. Herr Baumann hat das Schicksal eines Bür- lange sich die CDU/CSU aber gegen mehr Rechte für die gers aus den neuen Bundesländern angeführt. Frau Bürger sträubt und damit nur kokettiert, wenn es partei- Kollegin Pfeiffer hat ebenfalls ein Einzelschicksal exem- politisch in den Kram passt, plarisch angeführt. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Ich denke, ich spreche für alle Kolleginnen und Kol- CSU]: Das ist eine wüste Unterstellung! Das legen, wenn ich sage, dass die Hoffnungen, aber auch ist doch Unsinn, was Sie erzählen!) gerade die Sorgen nicht nur inhaltlich, sondern, je nach etwa im Zusammenhang mit der Europäischen Union, ist Einzelfall, auch emotional sehr bewegend sind. Man er- ein modernisiertes Petitionsrecht die bedeutendste Mög- hält eine Petitionsmappe, meist stoßweise, ins Büro ge- lichkeit für die Bürger, zwischen den Wahlen auf die Po- liefert und muss als Berichterstatter ein Votum abgeben. litik einzuwirken. Ich denke, dass ist einer von vielen gu- Man liest die Petition und gibt seine Stellungnahme ab. ten Gründen, den Ausschuss zu stärken, und für mich, Oft muss man vorher aufgrund der Dramatik eines Falles daran mitzuwirken. schlucken, man muss die Petition erst einmal weglegen, darüber nachdenken, die Petition und das Einzelschick- Vielen Dank. sal erst einmal verdauen. Man muss überlegen, wie man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ helfen kann. Man bespricht sich mit den Mitarbeitern, DIE GRÜNEN) den Fachexperten und kommt dann nach genaueren Ab- wägungen zum Ergebnis. Ich beschreibe das so ausführ- lich, um zum Ausdruck zu bringen, dass wir uns das alle Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – über Fraktionsgrenzen hinweg – nicht leicht machen Das Wort hat der Kollege Andreas Scheuer von der und dass wir uns mit den Einzelfällen beschäftigen. Das CDU/CSU-Fraktion. soll an dieser Stelle auch einmal gesagt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Andreas Scheuer (CDU/CSU): (B) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Leben ist eben der beste Lehrmeister für die Poli- (D) Herr Kollege Schulz, im Großen und Ganzen war Ihre tik, indem es die Auswirkungen unser aller Politik, Herr Rede okay, sodass wir mitgehen konnten. Gegen den bö- Kollege Schulz, im positiven, aber auch im negativen sen Unterton und die Unterstellungen verwehren wir uns Sinne aufzeigt. Aus der Besprechung eines Einzelfalles allerdings aufs Schärfste. Die Unionsfraktion leistet ei- wird im Ausschuss häufig eine hitzige Grundsatzdis- nen großen Beitrag. Betrachten Sie die Ausschussreali- kussion, bei der jede Fraktion ihre Grundposition klar tät: Wie oft wollen wir den Bürgern noch einen Schritt macht. Viele von uns nehmen diese Beispiele in die weiter entgegenkommen, während Sie, weil Sie in der Fachausschüsse mit, um dort auf die Problemlagen und Regierung sind und auf Ihre Genossen hören müssen, im Fehlentwicklungen hinzuweisen. Die oberste Maxime Ausschuss auf die Bremse drücken? Die Mehrheitsver- für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dabei: Wie hältnisse im Ausschuss sind nun einmal eindeutig. können wir helfen? Ich möchte die Tätigkeit noch mit ei- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE nem Leitbild verbinden: Politik als Dienstleister für die GRÜNEN]: Wir müssen auch den Haushalt Menschen. Vorhin ist der Begriff „Kunde“ gefallen; das verabschieden! Wenn Sie Geld ausgeben wol- gefällt mir weniger. Ich sage: Wir müssen Dienstleister len, das wir nicht haben!) für die Menschen sein. Lassen wir die Ausschussrealität für sich sprechen und Sehr geehrte Damen und Herren, bei der Durchsicht veranstalten wir hier keine Schaufensterreden. des Jahresberichtes 2003 sind mir eine Reihe von Peti- tionen aufgefallen, die Anlass gegeben hätten, hier rück- (Beifall bei der CDU/CSU – Swen Schulz blickend erwähnt zu werden; die Vorredner haben es [Spandau] [SPD]: Sind Sie für Volksent- zum Teil schon gemacht. Ich möchte mich auf meinen scheide?) Fachbereich – dem Bereich des Ausschusses für Familie, Die Tätigkeit im Petitionsausschuss will ich mit drei Senioren, Frauen und Jugend – konzentrieren: Ich habe Begriffen beschreiben: arbeitsintensiv, lehrreich und mein Augenmerk im Petitionsausschuss auf die Kinder hoch spannend. Als Abgeordneter im Deutschen Bun- und Jugendlichen gelegt, auf die Familien. Die Stabilität destag beschäftigt man sich neben den Bürgeranliegen wie auch die Zukunft unserer Gesellschaft sind durch ihr aus der Heimat sachpolitisch zumeist mit sehr vielen ab- Wohl gesichert. Gründe, die Familien dazu zu bewegen, strakten Politikfeldern, Gesetzen und Regelungen, leider eine Petition einzureichen, gibt es viele. Ich möchte hier, auch mit sehr viel Papier. Wir diskutieren in den Fach- Frau Kollegin Rupprecht, nicht auf die verfehlten gesell- ausschüssen grundsätzliche Positionen und fällen Ent- schaftspolitischen und familienpolitischen Schwer- scheidungen. Durch die Einzelanliegen und Schicksale punkte der rot-grünen Bundesregierung eingehen; das 10382 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Andreas Scheuer (A) machen wir bei der anderen Veranstaltung des Ausschus- im Bereich der Bundesausbildungsförderung. Wenn (C) ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. hier der Petitionsausschuss nur in relativ wenigen Fällen Abhilfe schaffen konnte, so lag das häufig daran, dass Im Jahr 2003 haben verschiedene Petitionen das Wohl das Anliegen der Petentinnen und Petenten mit der In- unserer Kinder in den Mittelpunkt gerückt: die Petition tention des Bundesausbildungsförderungsgesetzes nicht zur Behandlungspflege während des Schulbesuchs, die unbedingt übereinstimmte, das auf die Herstellung und Einstufung pflegebedürftiger Kinder in der Pflegeversi- Sicherung sozialer Chancengleichheit und nicht auf die cherung oder auch die Bewilligung der Kinderheilbe- Beseitigung genereller Ungerechtigkeiten gerichtet ist. handlung. Vielfach liegt der Grund für eine Petition in einem für den Bürger oft nicht mehr zu durchdringenden Da mir nur wenig Zeit verbleibt, möchte ich jetzt an oder gar beherrschbaren Regelwerk. Eine Bürokratie, die einem konkreten Beispiel verdeutlichen, welche Mög- mit den besten Absichten geschaffen wurde, hat Ausar- lichkeiten dieser Ausschuss hat, politisch Änderungen tungen entwickelt. Der Souverän, der Bürger, versteht anzuschieben, wenn er diese Möglichkeiten denn auch diese Ausartungen nicht mehr. Oft werden dann Ver- nutzt. zweiflung und – das sei hier auch einmal gesagt – Wut zum Anlass, eine Petition zu schreiben. Die erste Petition, die ich als frisch gebackenes Mit- glied des Petitionsausschusses auf den Tisch bekam, Neben Bitten erreicht uns auch eine Vielzahl von richtete sich auf das Anliegen, Fachhochschulingenieu- wertvollen Vorschlägen. So enthielt eine Petition zu den ren den gleichberechtigten Zugang zum Referendariat Heimkosten ganz konkrete Forderungen und Vorschläge. für den höheren öffentlichen Dienst zu ermöglichen wie Ich möchte mich zum Schluss bei allen Bürgerinnen Universitätsingenieuren. Diese Petition wurde von allen und Bürgern für ihre offene Art und für ihre klare Spra- deutschen Fachhochschulen ebenso unterstützt wie etwa che bedanken. Das soll auch für uns für die nächste Zeit von der Hochschulrektorenkonferenz, in der auch Uni- Auftrag sein: eine Sprache zu finden – gerade auch, versitätsleitungen sitzen. wenn sich der Petitionsausschuss nach außen wendet –, die die Menschen verstehen, und die komplizierten Ein- Aus eigener interner Kenntnis weiß ich um die Quali- zelschicksale klar und deutlich darzustellen. Lassen Sie tät und das hohe auch wissenschaftliche Niveau einer In- uns so weiterarbeiten! genieurausbildung an den Fachhochschulen. Deshalb schien mir dieses Anliegen gerechtfertigt und seine Um- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. setzung längst überfällig zu sein. Ich glaubte also, es sei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ein Selbstgänger, nachdem ich die Mitglieder meiner Ar- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE beitsgruppe im Petitionsausschuss von meinem Votum, (B) GRÜNEN und der FDP) nämlich Überweisung zur Berücksichtigung – das (D) höchste Votum –, überzeugt hatte. Dabei hatte ich das Zitat von Hans-Jochen Vogel im Auge, man müsse von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Politikern erwarten können, dass Wort und Tat überein- Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt stimmen; denn schließlich lesen sich die Stellungnah- hat die Kollegin Vera Dominke von der CDU/CSU-Frak- men von Politikern der Mehrheitsfraktionen zu diesem tion das Wort. Thema in den einschlägigen Fachmedien so: Der bil- (Beifall bei der CDU/CSU) dungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion sieht in sei- ner Faktion „Anzeichen dafür, dass Veränderungen zu- Vera Dominke (CDU/CSU): gunsten der Fachhochschulen möglich sind.“ Ein Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die anderes Zitat: „Bündnis 90/Die Grünen sind die einzige lange Rednerliste, die jetzt mit mir zu Ende geht, doku- Partei, in der Konsens besteht: Die Gleichwertigkeit der mentiert die unendliche Vielfalt der Themen, mit denen Fachhochschulen mit den Universitäten muss endlich in sich der Petitionsausschuss befasst: Es gibt wohl kein den Gesetzen realisiert werden.“ Arbeitsgebiet in diesem Hohen Haus, auf dem eine Ab- Hier hätte es in der Hand des Petitionsausschusses ge- geordnete es mit so vielen unterschiedlichen Lebensfel- legen, den bestehenden Anachronismus zu beseitigen dern zu tun bekommt, auf denen einzelne Menschen un- und einen fraktionsübergreifenden Anstoß zum Ab- seres Landes individuellen oder auch allgemeinen schneiden alter Zöpfe zu geben. Die Mitglieder der Handlungsbedarf formulieren. Koalitionsfraktionen verweigerten sich aber der Weiter- Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit ganz kurz auf die leitung der Petition und beerdigten diese sang- und klag- Statistik lenken: Von den natürlichen Personen, die im los. Jahre 2003 eine Petition einreichten, sind nur knapp ein Drittel Frauen, mehr als zwei Drittel sind Männer. Das (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE liegt nun sicherlich nicht daran, dass es für die Frauen in GRÜNEN]: Sie wurde ordentlich abgeschlos- unserem Lande so viel weniger Probleme gibt als für die sen und nicht beerdigt!) Männer – wahrscheinlich sind die Frauen nur zu mehr So enttäuschend dieses Abstimmerlebnis auch war, Duldsamkeit erzogen; „sozialisiert“ nennt man das ja stelle ich zum Abschluss, weil ich jetzt die letzte Redne- heute. rin bin, aber doch versöhnlich fest, dass so etwas nicht Relativ wenige Petitionen betrafen den Bildungs- und der Regelfall im Petitionsausschuss ist. Als Regelfall er- Ausbildungsbereich. Häufig ging es dabei um Probleme lebe ich vielmehr die sachorientierte und am Wohl des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10383

Vera Dominke (A) Einzelfalls ausgerichtete Debatte und Entscheidungsfin- Es ist so, dass Öffentlichkeitsarbeit von jeder Bundes- (C) dung. Möge das so bleiben. regierung betrieben wird. Öffentlichkeitsarbeit ergibt sich schon aus dem Grundgesetz, abgeleitet aus Art. 5 Vielen Dank. bzw. 20: Eine jede Bundesregierung ist dazu verpflich- (Beifall im ganzen Hause) tet, die Bürger zu informieren und vor allen Dingen aufzuklären. Unsere Verfassung und auch das Bundes- verfassungsgericht gehen aber davon aus, dass Öffent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lichkeitsarbeit die politische Regierungsarbeit begleiten Ich schließe die Aussprache. soll und nicht umgekehrt. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 sowie Was brachte unsere Große Anfrage ans Licht, deren Zusatzpunkt 9 auf: Beratung heute auf der Tagesordnung steht? Was wollen wir mit unserem Antrag? Hat es nicht zu allen Zeiten 6 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kritik an der Darstellung der Regierung gegeben, und Dietrich Austermann, Steffen Kampeter, zwar bei jeder Bundesregierung? Sind wir vielleicht Bernhard Kaster, weiterer Abgeordneter und der kleinlich? Regen wir uns über missratene Plakate auf, Fraktion der CDU/CSU also Peanuts? Nein, in einer Zeit der Rekordverschul- Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung dung verprassen Sie Steuergelder für die teuerste PR-Of- fensive in der Geschichte der Bundesrepublik. – Drucksachen 15/1960, 15/2912 – (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Ein Skandal!) ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich Austermann, Steffen Kampeter, Bernhard Kaster, Das ist so. Auf die Zahlen werde ich noch zu sprechen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der kommen. CDU/CSU Das heutige Ausmaß der Öffentlichkeitsarbeit ist laut Ausweitung der Öffentlichkeitsarbeit der Bun- Bundesrechnungshof mit dem der Vorgängerregierungen desregierung in Zeiten knapper Kassen überhaupt nicht mehr vergleichbar. Die Chancengleich- heit im politischen Wettbewerb von Regierung und Op- – Drucksache 15/3311 – position soll durch den gigantischen Einsatz von Steuer- Überweisungsvorschlag: geldern verhindert werden. Vor allem aber – ich komme Haushaltsausschuss (f) zum Kern – haben Sie gerade in den letzten zwölf Mona- Rechtsausschuss ten die mediale Inszenierung zum Mittelpunkt der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und eigentlichen Politik gemacht. (B) Landwirtschaft (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Andreas Scheuer [CDU/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die CSU]: Alles nur Verpackung!) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vor lauter Panik, Konzept- und Hilflosigkeit jagt eine millionenteure Kampagne die andere. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/CSU- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Fraktion das Wort. GRÜNEN]: Wer hat Ihnen denn das aufge- schrieben?) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie tragen meistens Namen, die die unerfüllten Sehn- süchte der Koalition auf den Punkt bringen: „Erfolg Bernhard Kaster (CDU/CSU): braucht alle“, Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gestern vernommen, dass Herr Regierungsspre- (Otto Fricke [FDP]: Jedenfalls die SPD!) cher Dr. Steg sich darüber beschwert hat, dass die Öf- „Teamarbeit für Deutschland“, „Zeit für mehr“, fentlichkeitsarbeit der Regierung von uns immer und im- „Deutschland bewegt sich“. Die Zeit ist zu schade, um mer wieder kritisiert würde. all das aufzuzählen, was sich teure Werbestrategen für (Otto Fricke [FDP]: Die Kritik ist ja auch diese Bundesregierung an Ankündigungen ausdenken. sachgerecht!) Insgesamt gab es mehr als ein Dutzend Werbekampa- Ich kann hier einen Vorschlag machen: Das lässt sich gnen allein in den letzten zwölf Monaten. Fragen Sie sehr schnell abstellen: Führen Sie die Öffentlichkeitsar- einmal Unternehmer in der Privatwirtschaft. Sie alle ha- beit wieder auf das normale Maß zurück. Reagieren Sie ben schon Probleme, Plakatwände zu mieten. Überall hat nicht nur auf die Kritik der Opposition, sondern auch auf die Bundesregierung breitflächig plakatiert. Ich frage: die des Bundesrechnungshofes! Halten Sie sich an Ver- Was ist das für ein Politikverständnis? Ich will ein Bei- gabe- und Haushaltsrecht! Dann wird unsere Kritik ver- spiel von vielen nennen. Auf unsere Anfrage hin musste stummen. die Bundesregierung einräumen, dass die Regierungs- propaganda alleine für die so genannte Agenda 2010 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fast 17 Millionen Euro durch Anzeigen oder so genannte neten der FDP) Mega-Light-Plakate verpulvert hat. 10384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Bernhard Kaster (A) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE haltstitel für Öffentlichkeitsarbeit. Das muss hier einmal (C) GRÜNEN]: „Propaganda“ ist nicht der rich- gesagt werden. tige Begriff! Sie sollten ihn zurücknehmen und überdenken!) (Beifall bei der CDU/CSU – Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Und dann nicht einmal hier an- 17 Millionen Euro in noch nicht einmal zehn Monaten wesend sein!) verpulvert, und zwar lange bevor überhaupt ein einziges Gerade die Zuschussprogramme sind die neuen Lieb- Gesetz dieser Agenda 2010 beschlossen war. Sie haben lingskühe für die rot-grüne PR-Arbeit. Fördermittel für 17 Millionen Euro für eine Regierungserklärung ausge- erneuerbare Energien, Wohnungsmodernisierung oder geben, mit der dem Bürger erklärt wurde, dass er sparen Zuschüsse für den Ökolandbau werden dreist für Image- soll. pflege abgezweigt. Alles wird entgegen dem Haushalts- Es geht uns nicht darum, darüber zu streiten, ob die recht, entgegen den Vorgaben des Bundesrechnungshofs Kosten für Öffentlichkeitsarbeit um 5, 10 oder 15 Pro- im Kleingedruckten des Haushaltes verschleiert. zent gestiegen sind, obwohl dies angesichts der aktuellen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Haushaltssituation vollkommen überzogen wäre. Nein, GRÜNEN]: Verdrehen Sie doch nicht so die der Skandal besteht darin, dass Sie mit Täuschen, Trick- Tatsachen! – Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Ein sen und Tarnen den Aufwand für Imagewerbung entge- Skandal ist das!) gen allen offiziellen Ankündigungen fast verdreifacht haben. Das ist das wahre Ausmaß Ihrer Öffentlichkeits- Das kann nicht sein. Die Spezialisten dafür sind Herr arbeit und deswegen mit früheren Zeiten nicht mehr ver- Minister Stolpe und Herr Minister Trittin oder auch Frau gleichbar. Ministerin Bulmahn. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn man zu den offiziellen PR-Mitteln, den Mitteln für Fachinformationen und den Werbeetats der Zuschuss- Unsere Große Anfrage, zahlreiche Kleine Anfragen, programme auch noch die PR-Millionen der nachgela- vor allem aber mehrere Rechnungshofberichte haben es gerten Bereiche wie etwa der Bundesagentur für Arbeit ans Licht gebracht: Sie haben sich längst nicht mehr da- addiert, dann kommt man auf eine Summe von fast einer rauf beschränkt, die offiziell im Haushalt ausgewiesenen Viertelmilliarde Euro, die die Bundesregierung für Öf- Mittel für Öffentlichkeitsarbeit in Anspruch zu nehmen. fentlichkeitsarbeit ausgibt. Fast 250 Millionen Euro! Da Nein, Sie missbrauchen in großem Stil Haushaltsmittel, brechen in Sachen Öffentlichkeitsarbeit wirklich alle die beispielsweise für Fachpublikationen veranschlagt Dämme. sind, für ganz platte Imagewerbung. Eigentlich hatte der (B) Bundestag diese Gelder für fachliche Broschüren zur Dabei kommen diese Gelder, zumindest in großen (D) Verfügung gestellt. An der Spitze solcher missbräuchli- Teilen, einem Netzwerk parteinaher, sogar parteieigener chen Inanspruchnahme steht das Haus von Umweltmi- Dienste und Agenturen zugute. Wer sich im Wahlkampf nister Trittin. von Rot-Grün engagiert, wird in Regierungszeiten mit millionenschweren Werbeaufträgen aus Steuergeldern (Otto Fricke [FDP]: Wen wundert’s!) überhäuft. Ich zeige Ihnen einmal eine Fachpublikation des Hauses. (Otto Fricke [FDP]: Pfui!) Sie sieht folgendermaßen aus: Was macht Jürgen Trittin Das ist nachweisbar. heute? Abschalten. (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Zum goldenen (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Er würde besser Hirschen!) abgeschaltet!) Die SPD-Fraktion ist sich nicht zu schade, ihre Regie- Das ist eine fachliche Information aus dem Umweltmi- rungsbeteiligung finanziell zu nutzen. Zeitgleich zur nisterium. Kampagne der Bundesregierung hat die SPD beispiels- weise eine Anzeigenkampagne zum Thema Ganztags- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE schule entwickelt, eine ganz kleine Kampagne aller- GRÜNEN]: Ich glaube, dass Sie das ärgert! dings, die vielleicht 100 000 Euro gekostet hat. Aber die Uns freut das!) große Kampagne ist aus Steuermitteln finanziert worden. Wir sprechen hier nicht von Peanuts. Im Haushalt stehen Das sind Einspareffekte, die genutzt werden. für diese Fachinformationen fast 80 Millionen Euro zur (Otto Fricke [FDP]: Da sieht man, wie viel Verfügung, und zwar zusätzlich zu den offiziellen Mit- Geld die SPD hat!) teln für Öffentlichkeitsarbeit in Höhe von weit über 80 Millionen Euro. Jürgen Trittin hat es mit dieser Täu- Das Ganze gipfelt darin, dass Regierungssprecher Béla schung geschafft, sich im Umweltministerium quasi ein Anda kleines Nebenbundespresseamt zu schaffen. Obwohl er (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Wo ist er offiziell nur 293 000 Euro und damit einen der kleinsten denn?) Werbe- und PR-Etats überhaupt hat, gibt sein Haus in Wahrheit mehrere Millionen Euro für Imagepflege aus. – Wo ist er heute? Vielleicht kann ich einen Hinweis ge- Bezahlt werden alle diese Plakate und Anzeigen aus al- ben – von Teilen seiner Auftragnehmer Preise und Aus- len möglichen Haushaltstiteln, nur nicht aus dem Haus- zeichnungen erhält und sie natürlich stolz entgegen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10385

Bernhard Kaster (A) nimmt. So weit sind wir gekommen. Dank abstatten ( [CDU/CSU]: Ist (C) beim Regierungssprecher können inzwischen viele. Es überfällig!) winken noch viele Preise. Vielleicht steht gerade wieder eine Preisverleihung an. gibt mir die Gelegenheit, hier in aller Deutlichkeit die Unterstellungen und Halbwahrheiten, Kernaufgaben der Öffentlichkeitsarbeit – so der Bun- desrechnungshof – werden neuerdings von Werbeagen- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Der Bundes- turen wahrgenommen. Zahlreiche üppige Rahmenver- regierung endlich mal geradezurücken!) träge werden abgeschlossen, zum Teil sogar über die die von einigen Damen und Herren der Opposition und Dauer der Legislaturperiode hinaus. Welche Heuchelei, insbesondere von Ihnen, Herr Kaster, heute vorgetragen wenn dann auf der Homepage des Bundespresseamtes wurden, entschieden zurückzuweisen. auf die umfassende sachliche Informationsvermittlung auf der Grundlage der Verfassung verwiesen wird. (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Was war daran falsch?) (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig! Das Wer wollte bestreiten, dass es zu den vornehmsten muss auch so sein! Das ist der Job einer Regie- Rechten des Parlaments gehört, die Bundesregierung zu rung! Sie kommuniziert mit den Bürgern!) kontrollieren? Dazu gehört auch die Öffentlichkeitsar- Wie die Wirklichkeit aussieht, habe ich beschrieben. beit der Bundesregierung, über die wir heute diskutieren. Dennoch gelingt es Ihnen, werter Kollege Kaster, durch Wir appellieren an die Bundesregierung und die Koa- unermüdliche Fragen und Pressemitteilungen dieser In- lition: Hören Sie endlich auf, solche Unsummen für formationsarbeit zusätzlich Aufmerksamkeit zu ver- platte Werbung zu verprassen! Fangen Sie hier mit dem schaffen. Das ist in Zeiten knapper Gelder – auch für die Sparen an! Öffentlichkeitsarbeit – eine dauerhafte Unterstützung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Herzlichen Dank dafür! Otto Fricke [FDP]) (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig Das Geld ist hinausgeworfen. Der Bürger hat sehr wohl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ein Gespür für Information und dafür, was platte Image- Leider setzen Sie sich aber nicht ernsthaft und sach- pflege ist. Die Ergebnisse der Wahlen in der letzten Zeit gerecht mit den Maßnahmen und Vorhaben des Presse- zeigen, dass dieses Gespür vorhanden ist. und Informationsamtes der Bundesregierung auseinan- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE der, wie es Aufgabe und Pflicht der parlamentarischen (B) GRÜNEN]: Wir machen das nicht von Wahl- Kontrolle wäre. Vielmehr kreisen die zahlreichen münd- (D) ergebnissen abhängig!) lichen und schriftlichen Fragen, Kleinen und Großen Anfragen immer wieder um dieselben verschwörungs- Fangen Sie hier mit dem Sparen an! Kündigen Sie die theoretischen Ansätze. teuren Rahmenverträge mit Werbeagenturen! Kehren Sie zur sachlichen Information zurück! Halten Sie endlich Der Antrag, den Sie diesbezüglich diese Woche vor- die rechtlichen Rahmenbedingungen ein! Beenden Sie gelegt haben, reiht sich nahtlos in Ihre unhaltbaren Spe- das Tarnen und Täuschen! Es muss auch im Haushalt kulationen ein. Darin wird entweder der Verdacht der wieder gelten: Wo Werbung drin ist, muss auch „Wer- Vetternwirtschaft in die Welt gesetzt oder es wird der bung“ draufstehen. Vorwurf der unzulässigen Wahlwerbung auf Kosten des Steuerzahlers erhoben. Den jeweils für die Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung arbeitenden Agenturen, die als Schaltagenturen die Der Inhalt muss wieder wichtiger werden als die Ver- Gestaltung und Produktion von Anzeigenschaltungen packung. Rudi Völler hätte es auch nichts genützt, wenn oder Kinospots realisieren, wird dabei unterstellt, dass er bei dem Spiel gegen Holland nur – vielleicht einem sich deren Kassen mit zig Millionen Euro füllen. Rat von Ihnen folgend – rund ums Stadion Plakate mit In diesem Zusammenhang sei auf die Reihe der Klei- der Aufschrift „Tor“ aufgestellt hätte. nen Anfragen der CDU/CSU-Fraktion aus dem (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Sommer 2002 verwiesen. Noch bevor die fünf Kleinen der FDP – Josef Philip Winkler [BÜND- Anfragen in Serie die Bundesregierung erreichten, kur- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So eine Torheit!) sierten die über 150 Einzelfragen bereits in den Medien. Ein solches Verfahren ist meiner Meinung nach nicht in Vielen Dank. Ordnung.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler Das Wort hat der Kollege Gerhard Rübenkönig von [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Abg. der SPD-Fraktion. Andreas Scheuer [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Gerhard Rübenkönig (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: heutige Debatte über die Große Anfrage der Union zur Herr Kollege Rübenkönig, erlauben Sie eine Zwi- Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung schenfrage? 10386 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Gerhard Rübenkönig (SPD): Die Große Anfrage der CDU/CSU gibt auch Gelegen- (C) Nein, danke. heit, deutlich zu machen, dass die eingesetzten Haushaltsmittel für die Öffentlichkeitsarbeit der Bun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: desregierung im Vergleich zu den Ausgaben der Vorgän- Keine Zwischenfrage. gerregierung bis 2003 deutlich rückläufig waren. Wir ha- ben darüber mehrfach auch im Haushaltsausschuss diskutiert. Mit Ihnen bin ich ebenfalls der Meinung, dass Gerhard Rübenkönig (SPD): wir alles dafür tun sollten, dass das Geld des Steuerzah- Im Juni 2003 wurde gar von Ihnen, Herr Kollege lers ziel- und zweckgerichtet eingesetzt wird, dass also Kaster, eine Strafanzeige gegen das Bundespresseamt Ziele und Maßnahmen der Regierung so gut, wie es eben wegen Veruntreuung von Haushaltsmitteln erstattet. Die geht, kommuniziert werden. Es entspricht dabei nicht Anzeige erlangte eine breite Aufmerksamkeit in den den Tatsachen, von einer „drastischen Erhöhung der Boulevardblättern. Die anschließend erfolgte Ohrfeige Mittel für Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung“ zu der Staatsanwaltschaft in Richtung des Kollegen Kaster sprechen, so wie es in den Vorbemerkungen der Frage- – nämlich die Einstellungsverfügung – steller unterstellt wird. Hören Sie doch endlich mit sol- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE chen Spekulationen auf! Sie sind schlichtweg falsch und GRÜNEN]: Hört! Hört!) werden auch dadurch nicht wahrer, dass sie von Ihnen ständig wiederholt werden. wurde hingegen von den Kollegen der Opposition publi- zistisch vernachlässigt. Das ist besonders deshalb zu be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dauern, weil in der Einstellungsverfügung der Staatsan- DIE GRÜNEN) waltschaft deutlich wurde, dass Tatsachen für eine strafrechtliche Verfolgung in keiner Weise vorlagen. 1998, also im letzten Jahr der Vorgängerregierung, belie- fen sich die Ausgaben der Bundesregierung für Öffent- Im Gegenteil: Die Staatsanwaltschaft hatte bei der lichkeitsarbeit insgesamt auf 80 Millionen Euro bei ei- Prüfung des Sachverhalts festgestellt, dass es in der Re- nem Gesamtetat des Bundes von 233,6 Milliarden Euro. gierung Kohl Hinweise auf eindeutig überhöhte Zahlun- Seither lagen die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit Jahr gen gegeben habe. Die Vorgänge aus der Spätphase der für Jahr darunter, und zwar auch in den Bundestagswahl- CDU/CSU-Regierung könnten leider nicht mehr straf- jahren, was im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit völlig rechtlich verfolgt werden; denn sie seien im Zweifel ver- anders ist. jährt. (Otto Fricke [FDP]: Wenn ein Zweifel besteht, Die wenigen Mittel sind kommunikativ so zu bün- (B) muss man auch ermitteln! Erzählen Sie doch deln, dass eine größtmögliche Aufmerksamkeit erzielt (D) keinen Quatsch!) wird. Jeder, der sich professionell mit Kommunikation beschäftigt, weiß, dass es deshalb hilfreich ist, mit Leit- Auf dieser Grundlage wundert es mich nicht, dass das agenturen zusammenzuarbeiten. Das macht diese Bun- Interesse der Kollegen von CDU und CSU angesichts desregierung nicht anders als die Vorgängerregierung. dieses Ergebnisses jäh erlahmte. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass das BPA (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE die Leistungen ausgeschrieben und die Leitagenturen im GRÜNEN]: Skandalös!) Wettbewerb ermittelt hat. Dass sowohl bei der jetzigen als auch bei der alten Bundesregierung dabei Agenturen Insoweit könnte wohl unser Kollege Koppelin – er ist zum Zuge kommen bzw. kamen, die Erfahrung in politi- leider nicht anwesend – Recht gehabt haben, als er be- scher Kommunikation gesammelt haben, wird nieman- reits im Dezember 2002 – man höre! – gegenüber der den erstaunen. „taz“ zum Bericht des Bundesrechnungshofes sagte, die Affäre sei künstlich hochgezogen. Er fügte hinzu – ich (Otto Fricke [FDP]: Aber möglichst bei der zitiere weiter aus der „taz“ vom 28. Dezember 2002 –: SPD!) Da haben andere Regierungen, auch solche, an de- Die federführend vom BPA betreute Kommunikation nen wir selbst beteiligt waren, schon Schlimmeres zur Agenda 2010 ist für mich der Beweis dafür, dass angestellt. auch mit geringen Mitteln eine große Öffentlichkeits- wirksamkeit erzielt werden kann. Diese Auffassung (Otto Fricke [FDP]: Das bleibt aber falsch!) scheint auch die Fachwelt zu teilen, was – Sie haben es Lieber Herr Kollege Kaster, lassen Sie mich in Anbe- vorhin angesprochen – durch die Auszeichnung sowohl tracht der Fußballeuropameisterschaft – Sie haben be- des Bundespresseamtes mit dem Politik-Award im letz- reits darauf hingewiesen – Folgendes formulieren: Sie ten Jahr als auch des Pressesprechers der Bundesregie- haben mit Ihrer Strafanzeige ein ordentliches Eigentor rung mit dem Gold Award in diesem Jahr deutlich wird. geschossen. Das hat die Mannschaft von Völler – Gott Die Verleihung des Gold Award an den Staatssekretär sei Dank – nicht getan. Nicht die rot-grün geführte Bun- Béla Anda war dem Kollegen Austermann sogar eine desregierung ist hier zu kritisieren, sondern die Verant- Frage im Bundestag wert. Auch wenn es Herrn wortlichen aus den Regierungsjahren der CDU/CSU. Austermann – leider ist er nicht anwesend – nicht gefällt: Die Marke „Agenda 2010“ – Herr Kaster, hören Sie gut (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) zu! – ist stark und mittlerweile 89 Prozent der Menschen Nehmen Sie dies doch endlich einmal zur Kenntnis! bekannt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10387

Gerhard Rübenkönig (A) An diesem nur ganz kurz dargestellten Beispiel wird auch in vielen Publikationen schon gesagt worden ist: (C) Folgendes deutlich: Die untersuchten Zeiträume von 1994 bis 1998 und von 1998 bis 2002 sind nur bedingt vergleichbar – ich Erstens. Das Bundespresseamt setzt die knappen zitiere –: Haushaltsmittel zielgerichtet und wirkungsvoll ein. Zweitens. Die Öffentlichkeitsarbeit ist für die Erfül- Eine vergleichbare Leitagentur für einen so wesent- lung des Auftrags notwendig, politische Vorhaben, ge- lichen und finanziell bedeutsamen Teil der Öffent- rade auch unpopuläre, zu erläutern, zu erklären und für lichkeitsarbeit gab es im ersten Betrachtungszeit- Verständnis zu werben. Das ist bei der Regierungskom- raum nicht. munikation zur Agenda 2010 gelungen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN]: Da haben Sie aber lange gesucht, DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Das ha- bis Sie das gefunden haben!) ben wir am Sonntag gemerkt!) Ein weiterer wichtiger Punkt: Wenn Sie jetzt hier sa- Drittens. Deshalb ist Regierungskommunikation ein gen, die Staatsanwaltschaft konnte kein Strafverfahren notwendiger Beitrag, um das Vertrauen der Bürgerinnen einleiten, muss ich aus dem entsprechenden Schreiben – und Bürger in das Funktionieren der vom Grundgesetz es ging um die Kritik des Bundesrechnungshofes, um geschaffenen Staatsordnung zu leisten, genauso wie es Verstöße gegen das Vergaberecht etc. – zitieren. Es heißt das Bundesverfassungsgericht postuliert hat. in dem Schreiben: Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hören Das von Ihnen geschilderte Verhalten mag unter Sie doch endlich auf mit Ihren Unterstellungen und Ver- mancherlei Aspekten diskussionswürdig sein. dächtigungen. Hören Sie auf, die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung in eine Ecke drängen zu wollen, in Jetzt komme ich zum dem eigentlichen Problem in die sie nicht hineingehört. Lernen Sie endlich, konstruk- dieser Angelegenheit. Die Antwort lautet: tive Oppositionsarbeit zu machen; denn trotz der Ergeb- Hierbei gibt es keine Anhaltspunkte für die Schät- nisse vom vergangenen Sonntag, die uns sehr enttäuscht zung eines Schadens, weil ein möglicherweise er- haben – das sage ich ganz offen –, bin ich der festen zielbarer niedriger Preis spekulativ und jedenfalls Überzeugung, dass Sie diese Kenntnisse noch weiter mangels tatsächlicher Anhaltspunkte nicht konkre- über das Jahr 2006 hinaus brauchen werden. tisierbar ist. Ich danke Ihnen. Das heißt nichts anderes, als dass Sie, wenn eine Ver- (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gabe nicht nach Ausschreibung erfolgt, natürlich nicht (D) DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ die Möglichkeit haben, einen Schaden anhand einer Ver- CSU]: Der Redenschreiber war gut!) gleichsberechnung festzustellen. Das wollte ich der Voll- ständigkeit halber hier noch gesagt haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Kollegen Bernhard Kaster. GRÜNEN]: Das war überflüssig!)

Bernhard Kaster (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Werter Herr Kollege, ich stelle zunächst einmal fest, dass Sie auf die Vermehrung der Öffentlichkeitsmittel Zur Erwiderung der Kollege Gerhard Rübenkönig. neben den offiziellen Mitteln für Öffentlichkeitsarbeit, die zu einer wahren Verdreifachung der Ausgaben ge- Gerhard Rübenkönig (SPD): führt hat, mit keinem Wort eingegangen sind. Herr Kollege Kaster, auf das Thema Strafverfahren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) möchte ich nicht weiter eingehen, weil wir darüber be- reits ausführlich diskutiert haben. Sie wollten die Aussa- Soweit Sie sich auf Zahlen berufen, die auch in der Be- gen, die dort in Bezug auf die Regierung Kohl gemacht antwortung der Großen Anfrage genannt sind, sind auch worden sind, ganz gern nicht veröffentlicht haben. Die- diese falsch. Im Vergleich zu 1998 beziehen Sie sich auf ser Regierung ist jedenfalls nichts nachzuweisen, auch eine Zahl von 80 Millionen. Bei den Kosten allein für wenn Sie es eben noch einmal versucht haben. die Bundesregierung sind wir inzwischen bei 86 oder 87 Millionen. Man muss aber darauf hinweisen, dass be- Ich will aber auch zu den Zahlen einiges sagen. Sie reits unmittelbar nach dem Regierungswechsel ein sagen zu Recht, die Zahlen 1998/99 seien höher gewe- Betrag von 4,1 Millionen Euro aus der Zuordnung zur sen. Sie müssen aber auch einmal richtig in den Haushalt Öffentlichkeitsarbeit – es war der Titel 685 11, heute schauen. Sie haben die Sollzahlen angeführt, Sie müssen 685 07 – herausgenommen und an anderer Stelle neu aber die Istzahlen heranziehen. Die Istzahlen liegen we- verbucht worden ist. Schon allein deshalb stimmt die sentlich unter den von Ihnen genannten Zahlen. Sie sind ganze Vergleichsrechnung nicht. damit erheblich niedriger als unter der CDU/CSU-ge- führten Bundesregierung. Ich muss aber auch auf Ihre Vergleiche eingehen. Ich gebe das wieder, was vom Bundesregierungshof und Danke schön. 10388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Gerhard Rübenkönig (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Sachverhalte braucht seine Zeit. Dafür braucht man (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto keine Werbung und keine großen Bilder. Diese Sachver- Fricke [FDP]: Dann werden Sie sie im Jahr halte müssen vom Bürger verstanden werden. 2005 absenken!) Ich möchte Ihnen dazu folgendes Beispiel nennen: Es gibt von der Bundesregierung ein wunderschönes Plakat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mit einem Arbeiter in seinem Blaumann; er hat einen Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke von der Helm auf und hinter ihm ist ein großer roter Haken. Ich FDP-Fraktion. bin in meiner Heimatstadt gefragt worden, ob das be- deute, die SPD wolle, dass man seine Arbeit an den ro- Otto Fricke (FDP): ten Nagel hänge. Wenn man mit Bildern Öffentlichkeits- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- arbeit macht, dann kann das doch irgendwie nicht das gen! Wenn ein Unternehmen seine Öffentlichkeitsarbeit Ergebnis sein. intensiviert, dann gibt es dafür zwei Gründe: Entweder (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE hat man ein gutes Produkt und will es besser bekannt GRÜNEN]: Warum haben Sie es nicht er- machen oder man hat ein schlechtes Produkt und ver- klärt?) sucht, es auf Teufel komm raus zu verkaufen. – Warum habe ich es nicht erklärt? Wenn es so weit ist, (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Die Regierung dass schon die Opposition erklären muss, was die Regie- will Ladenhüter verkaufen!) rung will, dann ist es, glaube ich, Zeit, dass die Opposi- Jetzt wende ich das einmal auf das an, was Sie ma- tion die Regierung übernimmt. chen, meine Damen und Herren von der Koalition: Ent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) weder haben Sie ein gutes Produkt. Aber Sie selbst wol- len doch wohl nicht behaupten, dass Ihre Produkte Da mir nur drei Minuten Redezeit bleiben, will ich unbekannt sind. Dass das, was Sie produzieren, bekannt noch auf Folgendes hinweisen: Der informative Gehalt wird, dafür sorgt schon die deutsche Presse. Oder aber muss in den Vordergrund gestellt werden. Informativer – ich glaube, das ist eher der Fall – Sie haben ein Gehalt heißt: Man benutzt andere Medien als die nor- schlechtes Produkt und wollen durch das, was Sie an Öf- male Werbebranche. Genau das machen Sie nicht. Sie fentlichkeitsarbeit machen, verdecken, wie schlecht die- gehen über das Werbemedium Zeitung. Was Sie aber ses Produkt tatsächlich ist. machen müssen, ist, Informationswege zu nutzen, die nah an den Bürger herankommen, durch die mit den (Dr. Volker Wissing [FDP]: So ist es!) Bürgern detailliert geredet wird, um sie mitzunehmen. (B) (D) Was dabei herauskommt, konnten Sie am vergange- Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf das Thema nen Sonntag sehen. Sie erkennen daran, dass Ihr Produkt verdeckte Finanzierung. Die Koalition hat gestern im schlecht ist. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hoffe, dass Haushaltsausschuss einen Beschluss zur Ganztags- Ihr Produkt verbessert wird und dass es zu besseren Er- schule gefasst. Es stehen 5 Millionen Euro zur Verfü- gebnissen für unseren Gesamtstaat kommt. Aber wenn gung, um Öffentlichkeitsarbeit für die Ganztagsschule ich in Ihre Reihen schaue und höre, was Sie so sagen, zu machen. Das kann ich nicht verstehen. Sie sagen im- dann habe ich die Befürchtung, dass die Einzigen, die mer, das sei so ein tolles Projekt und das finde so großen von Ihrer Produktwerbung profitieren, dort in der Mitte Anklang. Trotzdem geben Sie dafür 5 Millionen Euro bei den Grünen sitzen, um sich auf Ihre Kosten zu berei- aus. chern. Machen Sie Ihre Öffentlichkeitsarbeit doch bitte so, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass Sie die dicken Bretter bohren und nicht nur die dün- NEN]: Wie kommen Sie denn darauf?) nen. Wenn Sie die dünnen bohren, dann brechen sie und Die FDP sagt deutlich: Öffentlichkeitsarbeit soll der dann kommt dabei nichts heraus. Information dienen – Herr Rübenkönig, Sie haben das Danke. ausgeführt – und eben nicht der Suggestion. Das bedeu- tet auch: Öffentlichkeitsarbeit soll nicht der Autosugges- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tion dienen. Was Sie betreiben, ist Autosuggestion. Sie glauben, dass es Ihnen über Öffentlichkeitsarbeit im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sinne von Werbung gelingt, die Bürger mitzunehmen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt- Das werden Sie nicht schaffen. Das geht einfach nicht. Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir informieren sie! Wir haben Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE ein Recht darauf!) GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- Bei der wunderschönen Broschüre zur Agenda 2010 nächst ein Wort zum Kollegen Fricke: Ich glaube, Politik hat der Bürger doch eher das Gefühl, dass ihm die rote ist komplexer, als dass man sie einfach als Produkt ver- Karte gezeigt wird, als dass er informiert wird. Wir Poli- kaufen könnte. tiker haben die Aufgabe, komplexe Sachverhalte ordent- lich darzustellen und uns nicht einfach nur über (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Plattitüden zu unterhalten. Die Vermittlung komplexer Kastner) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10389

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) Du hast versucht, das in der Rede zumindest anzudeuten. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (C) Ich fände es gut, wenn wir alle ernst nähmen, dass es so GRÜNEN]: Die sollten Sie einmal lesen! einfach nicht ist. Dann würden Sie etwas verstehen!) Dann aber schon zu denen, die die Große Anfrage ge- Andere Beispiele: „Umweltbericht 2002“, „Umwelt- stellt und den Antrag eingebracht haben. Ich habe bereits politik – Erneuerbare Energien in Zahlen“, „Beschäfti- bei der Vorbereitung auf den heutigen Diskussionstermin gungspotenziale einer dauerhaft umweltgerechten Ent- gedacht: Das darf doch nicht wahr sein! Kollege wicklung“. Das sind Beispiele von Fachpublikationen, Seehofer bescheinigt Ihrer Partei, dass Sie im Endeffekt die sehr ernst zu nehmen und für die Kommunikation Wahlversprechen machen, die ungefähr 100 Millio- mit der Gesellschaft sehr wichtig sind. nen Euro kosten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE und bei der SPD) GRÜNEN]: Milliarden!) Ich will zu dem Thema kommen, um das es eigentlich – Milliarden. Entschuldigung, ich war bei der falschen geht. Insgesamt sind wir in einer Situation, in der es auf- Größenordnung. – Da geht es um Steuergeschenke, Fa- grund der Kompliziertheit der Themen – es sind eben miliengeld, Kopfpauschalen usw. Im letzten Herbst oder nicht Produkte, sondern politische Themen – sehr wich- im Dezember waren Sie im Vermittlungsausschuss zu tig ist, dass sich die Politik mediale Instrumente in feige, die Eigenheimzulage zu streichen. Sie sind bei der neuer Weise aneignet, mit denen sie mit der Gesellschaft Entfernungspauschale eingeknickt. kommunizieren kann. Außerdem stecken wir in einem ( [CDU/CSU]: Was hat das mit dem politischen Transformationsprozess, der so intensiv und Werbeetat zu tun? – Weiterer Zuruf von der ernst ist, dass es besonders wichtig ist, mit der Gesell- CDU/CSU: Wir reden über den Werbeetat!) schaft zu kommunizieren, die Gesellschaft zu informie- ren und die Gesellschaft aufzuklären – das nicht nur mit Ich kann auch die Wohnungsbauprämie, den Agrardiesel Fachpublikationen, sondern auch mit Instrumenten zum und, und, und nennen. Bei allen großen Sparsummen Erreichen medialer Aufmerksamkeit, die die Menschen knicken Sie ein und sind zu feige, die Auseinanderset- überhaupt erst an die Themen heranführen, zung mit der Gesellschaft zu suchen, weil Sie sich das wahltaktisch nicht trauen. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist modern! Das wissen die Jetzt gehen Sie ganz mutig an ein Thema heran, bei aber nicht!) dem es im Endeffekt um 6 Millionen Euro Differenz zu (B) den Ausgaben geht, die Sie unter der Kohl-Regierung sodass sie gegebenenfalls bereit sind, solche Fachpubli- (D) getätigt haben. kationen ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen und sich auch selbst dem Transformationsprozess zu stellen. Sie (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: wissen sehr genau, dass wir ohne solche Instrumente 150 Millionen!) dem Politikverdruss eher weiteren Vorschub leisten. Bei aller Liebe, Kollege Kaster: Es waren unter Ihrer Re- gierung 80,2 Millionen Euro – jetzt bin ich wieder im Wir haben intensive Diskussionen: Rentenreform, Bereich von Millionen; vorhin war es eindeutig der Be- Gesundheitsreform, Umwelt- und Naturschutz, Energie- wende, Steuerreform, gesunde Ernährung usw. Wir reich von Milliarden – und unter unserer Regierung liegt haben ein sehr großes Spektrum an Themen. Wenn Sie die Summe bei 86,7 Millionen Euro. Insofern sind das meinen, dass wir angesichts dessen Werbepolitik wie in 6,5 Millionen Euro mehr. Wir haben die Ausgaben für den 50er-Jahren machen können, dann haben Sie die den Bereich zwischendurch deutlich gesenkt. Sie be- Zeichen der Zeit nicht erkannt. Selbstverständlich steht haupten, das sei transferiert worden. Das entspricht nicht die politische Kommunikation in Konkurrenz zu den den Tatsachen. Wir haben das dann auf das genannte Vo- modernen Werbekommunikationsbotschaften, die pri- lumen angehoben. Alles andere ist von Ihnen schlicht vatwirtschaftliche Akteure in die Gesellschaft hineintra- zusammengesucht. gen. Dem müssen wir uns stellen. Dem müssen auch Sie (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE sich stellen. Um es ganz praktisch zu sagen: Dazu gibt es GRÜNEN]: Genau!) auch ein Instrument. Oppositionsfraktionen haben einen erhöhten Etat, damit sie auch ihrerseits intensiver mit der Sie haben sich insbesondere über die Fachpublika- Gesellschaft kommunizieren können. tionen unseres Ministers Trittin beschwert. (Otto Fricke [FDP]: 10 Prozent!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wunderbare Sachen sind das!) Letzte Bemerkung, Kollege Fricke: Die Kommunika- tion ausschließlich der Presseberichterstattung und Ich habe es geschafft, mir in der Kürze der Zeit ein paar dem Fernsehen zu überlassen würde ich für äußerst ge- dieser Publikationen zu besorgen, und zeige sie Ihnen. fährlich halten. Es wäre die Bankrotterklärung der Poli- „Aus Verantwortung für die Zukunft – Umweltpolitik als tik, wenn sie sich völlig dem Windchen ausliefern globale Herausforderung“ – ist das aus Ihrer Sicht eine müsste, das die Medien machen, die natürlich ihre eige- Fachpublikation oder steht darin nur dummes Ge- nen Interessen verfolgen, wenn es darum geht, was sie schwätz? der Gesellschaft mitteilen wollen. 10390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) Jede Regierung hat diese Verantwortung. Diese Re- Reichtum von unten nach oben verteilt wie unter dieser (C) gierung nimmt sie völlig korrekt und richtig wahr. In rot-grünen Regierung. dem Sinne fände ich es gut, wenn wir uns an dem Thema nicht weiter verkämpften. In dem Maß, wie das betrie- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE ben wird – es wird sparsam und vernünftig betrieben –, GRÜNEN]: Warum sind Sie denn 2002 aus sollten wir das gegenseitig anerkennen, wer auch immer dem Parlament herausgeflogen? Was hatten wann an der Regierung ist. Sie denn für eine Agentur?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir sind nicht in der Regierung, Herr Kollege, und und bei der SPD sowie des Abg. Ulrich auch 2002 nicht für die Regierung angetreten. Petzold [CDU/CSU]) Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen: die Praxisge- bühr. Frau kann jeden Tag erklären, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Gesundheitsreform jetzt endlich greift und die Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. Kassen viel Geld sparen. Ja, die Gesundheitsreform greift, sie greift schamlos in die Taschen der Kranken und der sozial Schwachen. Das hat sicher jeder der Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Gäste, die hier oben auf der Tribüne sitzen, in diesem Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Jahr schon bei Arztbesuchen erfahren. Nach dieser Ge- Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der sundheitsreform kann man nur jedem wünschen: Lieber PDS. reich und gesund als arm und krank. Im Frühsommer 2003 habe ich im Haushaltsaus- (Otto Fricke [FDP]: Lieber glücklich und ge- schuss des Bundestages nach einem merkwürdigen Be- sund!) ratervertrag gefragt. Der damalige Chef der Bundesan- stalt für Arbeit, Herr Gerster, hatte Millionen springen Meine Damen und Herren von der SPD, Sie könnten lassen, um sein Image aufzubessern. Wenige Wochen Millionen bei der Öffentlichkeitsarbeit sparen, wenn Sie später war das Image nicht besser und der Beratervertrag endlich die Politik machen, für die Sie einmal von Ihren gelöst. Wenige Monate später war Herr Gerster sogar Wählerinnen und Wählern gewählt wurden, indem Sie seinen Job los. nämlich die Gerechtigkeitslücke in unserer Gesell- Die CDU/CSU hat nun meine Anfrage aufgegriffen schaft schließen. und daraus eine richtig große Kampagne gestartet. Ich finde es einerseits gut, wenn meine Ideen aufgegriffen (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) werden, doch, meine Damen und Herren der CDU/CSU, (B) Es wäre eine falsche Entscheidung, wenn eine sozialde- (D) mit Ihrer Anfrage haben Sie wirklich überzogen. Sie ge- mokratische Partei wie die SPD ihre soziale Kompetenz hen auch am Problem vorbei. Die Bundesregierung hat ganz aufgeben wollte. Die Menschen haben ja am nämlich ein ganz anderes Problem. Sie glaubt immer Sonntag mit ihrer Stimmabgabe ein, wie ich glaube, noch – auch nach der für die SPD verlorenen Europa- deutliches Zeichen gesetzt: Sie erwarten von der SPD wahl –, dass sie ausschließlich ein Vermittlungsproblem eine soziale Politik, ansonsten werden sie keine Stimme hat und die Wählerinnen und Wähler die Politik der Re- gierung noch nicht richtig verstanden haben. Doch diese mehr für die SPD abgeben. Annahme, meine Damen und Herren von der SPD, ist Vielen Dank. ein gefährlicher Trugschluss. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Die Wähler haben die Agenda 2010 sehr wohl verstan- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den und am Sonntag mit ihrer Stimmabgabe dazu ihre Ich schließe die Aussprache. Meinung gesagt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Es mache nun wirklich keinen Sinn, wenn die Bun- Drucksache 15/3311 an die in der Tagesordnung aufge- desregierung mit immer mehr Geld für Werbeagenturen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- versuchen würde, ihr Image aufzubessern. Jede Werbe- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung agentur der Welt wäre im Augenblick mit einer Kampa- so beschlossen. gne für die Politik der SPD restlos überfordert. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- GRÜNEN]: Das ist reine Information!) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- Sie müssen nicht Ihre Werbestrategie ändern, meine Da- serung des vorbeugenden Hochwasserschutzes men und Herren, Sie müssen Ihre Politik ändern. – Drucksachen 15/3168, 15/3214 – (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ihren Wählern haben Sie 1998 und 2002 eine sozialere Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Politik als unter versprochen, doch selbst Landwirtschaft unter der Regierung Kohl wurde nicht so dramatisch Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10391

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- werden mussten, das alles ist doch wohl Mahnung ge- (C) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz nug, präventiv zu handeln. und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) Die allgemeinen Ziele des vorliegenden Gesetzent- – zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Jäger, wurfes sind meines Erachtens allgemein akzeptiert; zum Ulrike Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), weite- Teil finden sie sich auch in den Anträgen der Opposition rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie wieder. Dabei geht es hauptsächlich darum, Über- der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Volker schwemmungsgebiete und überschwemmungsgefähr- Beck (Köln), Cornelia Behm, weiterer Abgeord- dete Gebiete festzulegen und sie mit geeigneten Schutz- neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ regelungen zu versehen. Es geht darum, die natürlichen DIE GRÜNEN Überflutungsflächen den Flüssen weitestmöglich zu- rückzugeben, zumindest aber die verbliebenen Flächen Den Flüssen mehr Raum geben – Ökologische zu erhalten. Es geht auch darum, die Siedlungsentwick- Hochwasservorsorge durch integriertes Fluss- lung den Erfordernissen des Hochwasserschutzes anzu- gebietsmanagement passen sowie den Ausbau und den Unterhalt von Flüssen dem Hochwasserschutz unterzuordnen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer (Ham- Uns allen ist bewusst, dass die Hauptverantwortung burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion für den Hochwasserschutz per Grundgesetz bei den Län- der CDU/CSU dern liegt; doch die Ereignisse der Vergangenheit zeigen, dass es notwendig ist, die Länder mit einer geeigneten Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnen- Rahmengesetzgebung hierbei zu unterstützen. land (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Homburger, , Hans-Michael Von Bundesseite können verbesserte Rahmenbedin- Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- gungen aber nur durch Änderungen der hochwasser- tion der FDP relevanten Vorschriften in Bundesgesetzen erfolgen, Hochwasserschutz – Solidarität erhalten, Ei- daher auch die Struktur eines Artikelgesetzes. Im Was- serhaushaltsgesetz sollen einheitliche Leitlinien für die genverantwortung stärken staatliche Gewässerbewirtschaftung, für eine allge- – Drucksachen 15/1319, 15/1561, 15/1334, 15/2118 – meine Schadensminderungspflicht aller Betroffenen, auch des einzelnen Bürgers, und für schnellere Informa- (B) Berichterstattung: tion und Frühwarnung vorgegeben werden. Konkret (D) Abgeordnete Renate Jäger werden die Länder verpflichtet, auf der Basis des hun- Ulrich Petzold dertjährlichen Hochwassers Überschwemmungsgebiete Dr. Reinhard Loske förmlich festzusetzen und dort künftig keine neuen Bau- Birgit Homburger gebiete mehr in die Bauleitpläne aufzunehmen. Die Nut- zung des Bodens in diesen Gebieten soll generell am Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Hochwasserschutz ausgerichtet werden. Dies kommt Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre auch der allgemein anerkannten Grundforderung entge- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gen, den Flüssen mehr Raum zu geben. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Aus den negativen Erfahrungen der letzten Hochwas- Kollegin Renate Jäger, SPD-Fraktion, der ich bei dieser ser resultieren auch weitere Regelungsaufträge für die Gelegenheit auch herzlich zum Geburtstag gratuliere. Länder. So soll zum Beispiel die Neuinstallation von Ölheizungsanlagen in Überschwemmungsgebieten ver- (Beifall) boten werden, wenn geeignete Alternativen bestehen. Letzteres möchte ich hervorheben, um Missverständnis- Renate Jäger (SPD): sen vorzubeugen: wenn geeignete Alternativen bestehen. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen Auch sollte der Ackerbau in Überschwemmungsgebie- und Kollegen! Knapp zwei Jahre ist die Hochwasserka- ten nur zugelassen werden, wenn Bodenerosion und tastrophe an Elbe und Donau vorbei. Die schlimmen Schadstoffeintrag in die Gewässer nicht zu erwarten Bilder sind im öffentlichen Bewusstsein, so scheint es, sind. Auf die Problematik des Ackerbaus in Abflussbe- mehr und mehr verblasst. Auch die Bildbände über die reichen von Überschwemmungsgebieten wird mein Kol- Katastrophe sind wieder weitgehend von den Auslageti- lege Gustav Herzog noch etwas differenzierter eingehen. schen der Buchhandlungen verschwunden. Unser politi- Auch für die überschwemmungsgefährdeten Gebiete, scher Wille aber, weitere Rechtsgrundlagen für den vor- die entweder über das hundertjährliche Hochwasser hi- beugenden Hochwasserschutz zu schaffen, darf einfach nausreichen oder bei bestimmten Hochwasserständen nicht zerbröseln und darf nicht in kleinen Diskussions- überflutet werden, zum Beispiel wenn Deiche brechen, runden zerredet werden. sollen Schutzmaßnahmen vorgesehen werden. Diese (Beifall bei der SPD) überschwemmungsgefährdeten Gebiete sind – das ist ein neues Instrument – ebenfalls in Kartenform zu publizie- Rund 9 Milliarden Euro Gesamtschäden, über 20 Tote, ren, damit auch Ein- und Anwohner sowie Gewerbetrei- Tausende Existenzen, die mühsam wieder aufgebaut bende darüber klar informiert sind. 10392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Renate Jäger (A) Die Erstellung abgestimmter bundeseinheitlicher bei war, dass wir jedes Mal, wenn es politisch opportun (C) Hochwasserschutzpläne ist eine der wichtigsten Neue- erschien, wenn politisches Kapital daraus geschlagen rungen dieses Gesetzes. Sie sollen dem Zweck dienen, werden konnte, von Aktionen des Bundesumweltminis- schadlosen Wasserabfluss zu gewährleisten, technische ters zum Hochwasserschutz überrascht – oder sollte man Schutzmaßnahmen festzulegen und Rückhalteflächen lieber sagen: beglückt – wurden. wieder herzustellen bzw. neu zu schaffen. Dazu gehört auch die Wiederherstellung von Auen einschließlich der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dazugehörigen Auenwälder. Rückhalteflächen sind da- neten der FDP) mit in den Raumordnungsplänen klar auszuweisen. Das erste Mal war im Herbst 2002, kurz vor der Bundes- Wir sind uns bewusst, dass diese umfangreichen tagswahl, das Fünfpunkteprogramm. Doch dann hörten Maßnahmen in einer Frist von vier Jahren die Länder in wir ein Jahr lang nichts mehr. Das zweite Mal war am starkem Maße fordern. Trotzdem sollte die enge Fristset- ersten Jahrestag des Elbehochwassers im August 2003: zung meines Erachtens beibehalten werden, damit wir Es wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt. Toll, dachten wir. jederzeit auf ein mögliches Hochwasser vorbereitet sind. Doch dann hörten wir wieder ein Jahr nichts mehr. Bei der Bekämpfung von Hochwassergefahren ist es (Heiterkeit der Abg. Gitta Connemann [CDU/ dringend geboten, das gesamte Flusseinzugsgebiet als CSU]) Ganzheit zu behandeln. Deshalb muss in den Flussge- Jetzt, zu Ehren des zweiten Jahrestages des Elbehoch- bietseinheiten eine enge Zusammenarbeit aller Institu- tionen gewährleistet werden. Schutzmaßnahmen müs- wassers, werden wir mit einem Gesetzentwurf beglückt, sen an der Stelle eines Flusses erfolgen, an der sie am der endlich auch die Hürden des Kabinettstisches über- wirksamsten und am wirtschaftlichsten sind. Dabei kom- wunden hat. Dieser Gesetzentwurf wird nun aber mit ei- men die Betroffenen natürlich nicht umhin, sich auch nem Zeitdruck versehen, der nach zwei Jahren Bumme- über einen angemessenen Interessenausgleich zu ver- lei nicht zu verstehen ist. ständigen. Die Bundesregierung kann – so haben wir es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- im Gesetz festgelegt – als Vermittler angerufen werden, neten der FDP) wenn es denn keine Einigung gibt. Sehr geehrter Herr Minister, eine sachliche und ziel- Da große Flüsse auch als Wasserstraßen genutzt strebige Aufarbeitung eines solchen dramatischen Ereig- werden, soll im Bundeswasserstraßengesetz klargestellt nisses, wie ich es persönlich an der Elbe an vorderster werden, dass Maßnahmen zur Unterhaltung und zum Stelle mit Sandsäcken in der Hand mitgemacht habe, Aus- oder Neubau hochwasserneutral durchzuführen sind. (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: Sie sind ein richtiger Held!) (D) Mit diesem Grobabriss wollte ich Ihnen den Gesetz- entwurf einmal vorstellen. Ich wünsche mir, dass dieser stelle ich mir anders vor – und die Menschen vor Ort Gesetzesvorschlag konstruktiv beraten wird. Den unter- auch. schiedlichen Aspekten und Interessen trägt dieser Ge- setzentwurf bereits grundsätzlich Rechnung. Über De- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr wahr!) tailfragen sollten wir ideologiefrei diskutieren, damit wir Uns wird heute ein Gesetzentwurf mit einer Zeitschiene am Ende ein wirklich wirkungsvolles Gesetz verabschie- vorgelegt, die man nur unter dem Motto „Friss, Vogel, den können. oder stirb!“ verstehen kann. Innerhalb von nur wenig Vielen Dank. mehr als einem Monat, also innerhalb von zwei Sit- zungswochen, soll die in fast zwei Jahren versäumte Zeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aufgeholt werden. Zwischen der Schlussberatung im DIE GRÜNEN) Ausschuss und einer zweiten und dritten Lesung im Ple- num liegt nach Ihrem Plan ein Tag. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das ist Das Wort hat der Kollege Ulrich Petzold, CDU/CSU- das grüne demokratische Verständnis!) Fraktion. Es gibt also keine Zeit mehr für Veränderungen. Warum (Beifall bei der CDU/CSU) fragt man uns eigentlich noch? Wozu sollen wir als Par- lamentarier überhaupt noch die Hand heben? Ulrich Petzold (CDU/CSU): (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Richtig!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wenn ich das vor- Wie toll die Qualität dieses Gesetzentwurfes trotz liegende Gesetz zum vorbeugenden Hochwasserschutz der zweijährigen Werkelei ist, wird durch die Aus- mit dem Begriff „Aktionismus“ überschreibe, werden schüsse des Bundesrates dokumentiert. 59 Änderungsan- mir wohl viele derer zustimmen, die die quälend lange träge gab es dort, von denen 51 eine teilweise deutliche Geschichte dieses Gesetzes mitverfolgt haben. Bezugs- Mehrheit auch von den von Ihnen regierten Ländern er- punkt dieses Gesetzes, wie auch in der Begründung be- fahren haben. Ist es Absicht der Bundesregierung, einen nannt, ist das Hochwasserereignis an der Elbe, eine Ka- handwerklich so bedenklichen Gesetzentwurf durch den tastrophe, die nicht in diesem Jahr, nicht im vorigen Jahr, Bundestag zu jagen, um ihn in den Vermittlungsaus- nein, im Jahr 2002 stattgefunden hat. Das Schlimme da- schuss zu schicken und anschließend die ganze Schuld Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10393

Ulrich Petzold (A) für diesen übermäßigen Zeitverzug dem Vermittlungs- nem Wahlkreis, waren es vier Deichbrüche. Diese Zahl (C) ausschuss anlasten zu können? war allerdings schon hoch genug. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Unerhört!) Ein weiteres Märchen ist die Vergiftung des Elbwassers. Über die Erforderlichkeit von Hochwasserschutz- Wir haben sowohl das Elbwasser als auch anschießend maßnahmen wie Wasserrückhaltung, Renaturierung, die Böden einer intensiven Prüfung unterzogen und in Regenwasserversickerung, Bau von Poldern, Deichrück- keinem Fall eine unzulässig hohe Vergiftung festgestellt. verlegungen und Deichertüchtigungen sind wir uns si- Was dann stank, war das in der sommerlichen Hitze ste- cher schnell einig. Auch in den Bereichen des Baupla- hende Brackwasser, das durch Gräben, die vorher aus nungsrechtes, des Raumordnungsrechtes oder bei der ökologischen Gründen nicht ausgemäht werden durften, Benennung überschwemmungsgefährdeter Gebiete ent- nicht abfloss. hält der Gesetzentwurf durchaus richtige Ansätze. Es ist Auch wenn wir die Nebelkerzen endlich beiseite räu- richtig, die Menschen in Bebauungsgebieten auf die men, bleiben noch wichtige Fragen offen: Wonach sollen Hochwassergefährdung hinzuweisen und ihnen scha- wir die Schutzmaßnahmen wirklich ausrichten? Bis zu densmindernde Bauweisen abzuverlangen. Aber weswe- welchen Hochwassermarken soll die Eigenverantwor- gen müssen auch für Waldgebiete Überschwemmungs- tung gehen? gefährdungen ausgewiesen werden? Die Kassen der Länder und Kommunen sind leer. Wir sollten sie nicht Ich bin all den Menschen dankbar, die mit tätiger mit Ausgaben für unnötige Verwaltungsakte belasten. Hilfe oder Geld dazu beigetragen haben, die Schäden während der Hochwasserkatastrophe zu verhindern oder (Beifall bei der CDU/CSU) zu beseitigen. Ich bin stolz auf die Menschen, die die Är- Das Ackerbauverbot in Überschwemmungs- und mel hochgekrempelt und nicht erst auf Hilfe gewartet Abflussgebieten hört sich sehr schön an. Doch unsere haben. Als die Hilfe kam, haben sie diese sinnvoll einge- Vorfahren haben die fruchtbaren Flussauen an Saale, setzt. Weser und Rhein seit Jahrhunderten oftmals für hoch- (Beifall bei der CDU/CSU) wertige Landwirtschaft genutzt, ohne dass ihnen der Bo- den weggeschwemmt wurde. Plötzlich soll diese lange Ich finde es toll, dass unsere Menschen während der landwirtschaftliche Erfahrung nichts mehr wert sein? Jahrhundertkatastrophe und beim Wiederaufbau zusam- Nachdem selbst Frau Ministerin Höhn festgestellt hat, mengestanden haben. dass diese Regelung in Ihrem Gesetz über das Ziel hinausschießt, sind Sie, liebe Kollegen von der SPD, Man kann sich nicht gegen alles und jedes und schon endlich ins Grübeln gekommen und haben sich grünen gar nicht gegen Jahrhundertkatastrophen versichern, wie (B) (D) Profilierungsversuchen widersetzt. es in Anträgen zum heutigen Thema suggeriert wird. Hier ist Solidarität gefragt. Deswegen sind wir ein Volk Unverantwortlich ist es allerdings auch, in welcher und nicht nur ein Bund von anonymen Steuerzahlern. Art und Weise die Länder in der derzeitigen Haushalts- lage mit Kosten belastet werden sollen. Die Kosten für Ich danke Ihnen. Ausgleichsleistungen für die Landwirtschaft sind bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. der derzeitigen Regelung im Gesetz ein Kostenblock, Michael Kauch [FDP]) der von den Ländern nicht zu schultern ist und der nach Ihren eigenen Ausführungen in der Begründung, Herr Minister, nicht einmal einschätzbar ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Natur- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja!) schutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin. Wenn Minister Trittin die Klage der Länder über die Kostenbelastung damit abtut, dass er sie auf die Scha- Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- denshöhe durch die Hochwasserereignisse verweist, schutz und Reaktorsicherheit: sollte er sich doch einmal fragen: Wo sind die Schäden Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau entstanden und wodurch sind sie entstanden? Die im- Jäger, Sie haben darauf hingewiesen: Die Flutkatastro- mense Schadenshöhe wurde in erster Linie durch Schä- phe im Jahre 2002 hat 21 Menschen in Deutschland das den an Gebäuden und nur zu einem geringeren Teil Leben gekostet und unmittelbare Sachschäden in Höhe durch Schäden an landwirtschaftlichen Kulturen be- von 9 Milliarden Euro verursacht. stimmt. Der Landwirtschaft jetzt einen Großteil der Kos- ten für den Hochwasserschutz aufzudrücken entspricht Wir müssen damit rechnen, dass aufgrund der globa- nicht den Schadensereignissen. len Erwärmung solche Wetterphänomene, also auch Starkregenereignisse, künftig wieder eintreten. Wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU) also von einer Jahrhundertflut sprechen, sollten wir uns Zum Zweiten. Die Schäden sind in erster Linie durch besser nicht darauf verlassen, dass sie nur einmal in Deichbrüche, also durch das Versagen von Hochwasser- 100 Jahren auftritt. schutzeinrichtungen, entstanden. Woher Bundesminister (Ulrike Mehl [SPD]: So ist es!) Trittin allerdings die Zahl von 100 Deichbrüchen an der Elbe nimmt, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Im am Wenn es aber so ist, dass wir uns auf solche Katastro- stärksten betroffenen Gebiet an der Mittelelbe, in mei- phen einstellen müssen, dann gilt doch der Grundsatz, 10394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Bundesminister Jürgen Trittin (A) dass es klüger ist, Schäden vorher zu verhindern, anstatt Solche Aktionspläne müssen auch das beinhalten, was (C) sie nachträglich zu beseitigen. wir entlang der Elbe – Herr Petzold, Sie wissen das – teil- weise schon freiwillig gemacht haben. Wir müssen zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beispiel die Deiche rückbauen, um den Flüssen mehr und bei der SPD) Raum zu geben. Wir müssen den Flüssen ihren Raum Es ist klüger vorzubeugen, als Schadensersatz zu leisten. lassen, damit sie sich ausdehnen können, ohne Schäden Diese Erkenntnisse sind der Hintergrund für dieses Ge- anzurichten. setz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasser- 2002 gab es in den Havelpoldern, wo Mais angebaut schutzes. Das bedarf bundeseinheitlicher Vorgaben. Wir wurde, ein großes Fischsterben. Darüber hinaus haben setzen hier nur einen Rahmen. Es kann doch nicht wahr wir massive Schadstoffabflüsse und Erosionen in diesen sein, dass es bis heute in Deutschland unterschiedliche Bereichen feststellen müssen. Wir sind uns wahrschein- Definitionen des Begriffs Hochwasser gibt, obwohl lich in einer ruhigen Diskussion darin einig, dass das manche Flüsse durch ganz Deutschland, andere sogar keine gute fachliche Praxis war. Deswegen darf in den durch ganz Europa fließen. Weil Vorbeugung die erste Abflussbereichen, in denen Erosionen unmittelbar dro- Voraussetzung ist, müssen wir Überschwemmungsge- hen, keine Grünlandnutzung mehr stattfinden. Übri- biete nach einem einheitlichen Standard auf der Grund- gens verbietet schon heute die gute fachliche Praxis, lage des so genannten hundertjährlichen Hochwassers Grünland in Erosionsgebieten umzubrechen. So steht es festlegen. Das ist die Basis, auf der Kooperationen zwi- auch im geltenden Bundesnaturschutzgesetz. Unsere schen den Ländern stattfinden können. Perspektive bis 2013 ist daher, diesen Zustand überall Wir führen auch eine neue Kategorie ein. Damit zie- dort wieder herzustellen, wo er zurzeit nicht vorhanden hen wir die Konsequenz aus den Erfahrungen mit den ist. Deichbrüchen. Lieber Kollege Petzold, es waren erheb- Wir müssen schließlich auch Sorge tragen, dass nicht lich mehr als vier. Dass Deiche, Schotte und Ähnliches weiter die Ausnahme die Regel ist. Schon heute dürfen keine hundertprozentige Sicherheit bieten, haben wir bit- nach dem Wasserhaushaltsgesetz neue Baugebiete in ter erfahren. Deswegen dürfen in überschwemmungs- Überschwemmungsgebieten nur in Ausnahmefällen gefährdeten Gebieten, die künftig auszuweisen sind, ausgewiesen werden. Diese Ausnahme ist aber vielfach keine Ölheizungen und – das füge ich hinzu – keine Re- zur Regel gemacht worden. Unser Ziel ist es, diese Aus- chenzentren und Ähnliches in den Kellern vorhanden nahmen zu unterbinden; denn wir wollen den Flüssen ih- sein. Solches würde zur Schadensmaximierung statt zur ren Raum geben. Solche Baugebiete, solche Gewerbege- Schadensminimierung führen. biete sind die Flutopfer von morgen. Das gilt es heute durch eine solche Regelung zu verhindern. (B) Wir geben – hier liegt der Kern des Konflikts mit den (D) Ländern – den Ländern bestimmte Hausaufgaben auf. In Ich füge hinzu: Ich glaube, wir tun alle gut daran – bei der Regel sind das aber keine neuen Hausaufgaben; denn allen Schwierigkeiten, die solche Regelungen natürlich im Wasserhaushaltsgesetz und in anderen rechtlichen für jeden von uns mit sich bringen –, aus dem Jahrhun- Vorschriften gibt es bereits entsprechende Vorgaben. Wir derthochwasser zu lernen. Lernen heißt ganz konkret: tragen alle in diversen Ländern Mitverantwortung und Vorbeugen statt Schadenersatz. wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir es mit Vollzugsdefiziten zu tun haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aus diesem Grund setzen wir eine Frist, bis zu der die Das Wort hat der Kollege Michael Kauch, FDP-Frak- Hausaufgaben erledigt sein müssen. tion. Darüber hinaus machen wir diese Gebiete für die Bür- Michael Kauch (FDP): gerinnen und Bürger transparent. Künftig soll in der Bauleitplanung und in den Raumordnungsplänen ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenige kennzeichnet sein, was ein Überschwemmungsgebiet Ereignisse haben in Deutschland eine solche Welle der oder ein überschwemmungsgefährdetes Gebiet ist, damit Solidarität erzeugt wie das verheerende Hochwasser in jeder, der etwas plant, sich darauf einstellen kann. Ostdeutschland. Wir waren uns damals einig: Solchen Ereignissen müssen wir besser vorbeugen. Wir brauchen Hochwasseraktionspläne für die 21 Monate später legt Umweltminister Trittin endlich Flusseinzugsgebiete, damit wir zu abgestimmten Hand- einen Gesetzentwurf vor. Wir mussten lange darauf war- lungen zwischen Ober- und Unterliegern kommen. Es ten, aus meiner Sicht viel zu lange. Während die FDP- kann nicht sein, dass die Ausweitung eines Baugebiets Fraktion bereits vor einem Jahr einen umfassenden An- eine Staustufe flussaufwärts dazu führt, dass der Fluss- trag zum Hochwasserschutz in den Bundestag einge- unterlieger von Hochwasser betroffen ist. Ein Kölner bracht hat, war der Bundesregierung das Thema offenbar Oberbürgermeister hat einmal spöttisch gesagt: Ein Teil nicht mehr wichtig genug. Der Wahlkampf auf gebro- der Fluten, mit denen wir hier kämpfen, ist in Baden- chenen Deichen war schließlich vorbei. Württemberg verantwortet. Zu solchen Folgen, und zwar nicht nur für die Kölner, sondern für alle Unterlieger, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält so- darf es nicht mehr kommen. wohl Licht als auch Schatten. Wesentliche Regelungen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10395

Michael Kauch (A) zum Hochwasserschutz stammen aus den Zeiten der Re- Tagesordnungspunkt verfolgen. Ich begrüße Sie aber (C) gierung aus FDP und CDU/CSU und werden nun weiter jetzt schon sehr herzlich im Namen der Mitglieder des ausgebaut. Es ist vernünftig, bundesweit einheitliche gesamten Hauses. Herzlich willkommen! Grundsätze des Hochwasserschutzes festzuschreiben. (Beifall) Eine Fortentwicklung der bestehenden Regelungen über Überschwemmungsgebiete hat in unserem Antrag aus- Das Wort hat nun der Kollege Gustav Herzog, SPD- drücklich Raum gefunden. Auch die Vorschrift über die Fraktion. Kooperation in den Flussgebietseinheiten enthält einen wichtigen Grundgedanken. Aber das allein darf es nicht Gustav Herzog (SPD): sein. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen die Grundlage für einen abgestimmten Ich will mit einer Vorbemerkung beginnen, die etwas mit europäischen Hochwasserschutz legen. Zeigen Sie den Ursachen des Hochwassers zu tun hat. Als ich vor hier, Herr Minister, endlich mehr Engagement. Die FDP 25 Jahren in meiner Heimatgemeinde Zellertal in die fordert die Bundesregierung auf, internationale Hoch- Kommunalpolitik eingestiegen bin, gab es im Land wasserkonferenzen zu initiieren und in Abstimmung mit Rheinland-Pfalz eine Philosophie – damals gab es eine unseren europäischen Nachbarn durchzuführen. CDU/FDP-Regierung –: Jeder Tropfen Regenwasser in den Kanal und dann in die Vorflut. Es gab einen An- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schluss- und Benutzungszwang. Wir alle haben uns der CDU/CSU) krampfhaft bemüht, das Wasser so schnell wie möglich Dafür bieten sich durch die europäische Wasserrahmen- aus den Bebauungsbereichen abzuleiten. richtlinie vorgezeichnete flussgebietsbezogene Struktu- Heute überprüfen wir in Neubaugebieten die Mög- ren an. Unser Antrag weist den Weg dazu. lichkeit, das Oberflächenwasser auf dem Grundstück Trotz der langen Vorbereitungszeit des Gesetzentwur- versickern zu lassen. Wir schreiben den Menschen vor, fes ist sich die Koalition noch immer nicht einig. Wie Zisternen zur Brauchwassernutzung oder zur Gartenbe- man der Presse entnehmen kann, streiten Sie speziell wässerung zu bauen. Es hat zwar lange gedauert, aber über das von Bundesumweltminister Trittin geplante das Umdenken findet statt. Bei den heutigen Reden der Ackerbauverbot. Das wird zweifelsohne einer der Oppositionspolitiker musste ich jedoch feststellen, dass Knackpunkte der Beratungen werden. Ich bin gespannt, das Umdenken unterschiedlich schnell geht. was die Anhörung am Montag im Ausschuss dazu erge- (Beifall bei der SPD) ben wird. Sollten im Rahmen des Hochwasserschutzes Herr Kauch, ich habe den Eindruck, dass es bei uns (B) Maßnahmen erforderlich sein, die die landwirtschaftli- (D) che Nutzung betreffen, so müssen aus Sicht der FDP die eine Reihe von Gemeinsamkeiten gibt. Landwirte dafür auf jeden Fall eine angemessene Ent- Ich will die Frage, die von fast allen Rednern gestellt schädigung erhalten. wurde, wiederholen: Wie schnell ist alles in Vergessen- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten heit geraten? Eine Äußerung aus dem September 2002, der CDU/CSU) die ich zitieren möchte, empfinde ich als eindrucksvoll: „Das Wasser kam am 12. August und blieb nur einen Ein generelles Ackerbauverbot in Überschwem- Tag. Ein Tag, der zwölf Jahre Aufbauarbeit und 2,8 Mil- mungsgebieten lehnt die FDP ab. Der niedersächsische lionen Euro Investitionen zunichte machte. Noch bevor Umweltminister Sander hat zu Recht angemerkt, dass seine Leute anfingen, den Schlamm wegzuschippen, in- dieses in Überschwemmungsgebieten, in denen ein formierte“ Herr K. die Banken. Es handelt sich um einen Hochwasser einmal im Jahrhundert zu erwarten ist, landwirtschaftlichen Betrieb, einen Obstbaubetrieb, der rechtlich gegen das Übermaßverbot verstoßen würde in Mitleidenschaft gezogen wurde. und auch fachlich zweifelhaft wäre. Haben wir alle die Bilder der zerstörten Häuser, der (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) abgerissenen Brücken und Straßen, der überschwemm- Der vorgelegte Gesetzentwurf bedarf aus Sicht der ten Äcker und der Kühe, die auf den Feldern in Panik im FDP daher noch weiterer Änderungen. Gerne wird sich Kreis gelaufen sind – es bestand kaum Aussicht, sie zu die FDP an den Beratungen konstruktiv beteiligen. retten – schon vergessen? Ist es wirklich so, dass unsere Gesellschaft eher bereit ist, viele Milliarden für die Fol- Vielen Dank. gen solcher Katastrophen auszugeben als weniger Geld (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für die Vorbeugung? der CDU/CSU) Hochwasser hat es schon immer gegeben; aber die Schäden waren früher offenbar geringer. In allen heute Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zu beratenden Anträgen und in der Beschlussempfeh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne lung sind Lösungsansätze enthalten: Festsetzung von haben Mitglieder der Arbeitsgruppe des Deutschen Retentionsräumen, schadensminimierende Landnutzung. Bundestages und der Assemblée nationale zum Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist auch im Deutsch-Französischen Jugendwerk unter Führung Hinblick auf diese Ansätze folgerichtig und sehr konse- des Vizepräsidenten der Assemblée nationale Yves Bur quent. Aber – das ist mehrfach erwähnt worden – auf die Platz genommen. Sie wollen allerdings erst den nächsten Länder kommt sehr viel Arbeit zu. Deswegen wird die 10396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Gustav Herzog (A) SPD-Fraktion den Zielkonflikt in zwei Punkten beson- umzugehen, zum Beispiel durch Deiche. Sie haben ge- (C) ders abwägen. lernt, sich zu wehren, das Wasser zu bändigen und sogar zu nutzen. So wurden schon in der Antike Überschwem- Erstens. Die zwingende, flächendeckende Auswei- mungsgebiete für den Ackerbau genutzt. In Flussebenen sung der Überschwemmungsgebiete nach HQ 100 ist finden wir nach wie vor die wertvollsten Böden; dort mit sehr viel Aufwand verbunden. Somit könnte die Wir- wird seit Jahrhunderten Landwirtschaft betrieben. Was- kung verpuffen. serbau und Landwirtschaft gingen stets Hand in Hand. Zweitens. Wir sind der Auffassung, die Nutzungsbe- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nicht bei den schränkungen, zum Beispiel ein Ackerbauverbot oder Grünen!) ein Grünlandgebot, sollten auf die tatsächlich relevanten Flächen konzentriert werden. In der Anhörung wird sich Aber, meine Damen und Herren, was sind schon fünf- sicherlich ergeben, ob es sich um Erosionsflächen oder tausend Jahre Wasserbaukultur gegen das Wissen unse- Abflussbereiche handelt. res mit allen Wassern gewaschenen Umweltministers? Unstrittig ist, dass die Kontamination von Boden und (Beifall bei der CDU/CSU) Wasser ein riesiges Problem ist, das wir in diesem Zu- Sie, Herr Minister, präsentierten der verdutzten Öffent- sammenhang zu lösen haben. lichkeit eigene, völlig neue Erkenntnisse: Für den Hoch- An der Erforderlichkeit von Hochwasserschutzmaß- wasserschutz müsse ein Ackerbauverbot her, und zwar nahmen besteht kein Zweifel. Noch weniger Zweifel be- bis Ende 2012; über Entschädigungen verlieren Sie kein steht hier im Hause an der Schwierigkeit der Umsetzung. Wort. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, Herr Kollege (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Enteignung!) Petzold, dass die Länder konträre Positionen beziehen. Unter den Vorschlägen des Bundesrates befinden sich Man wolle den Bauern nichts Böses, erklärten Sie bei aber auch zustimmungsfähige, gute Ansätze. Es ist rich- der Vorlage des Gesetzentwurfs, tig, dass das BMU das Land Rheinland-Pfalz hervorhebt (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nichts Gutes!) und lobt. Dort wurde sehr viel und vielfältiges geleistet. Viele wichtige Maßnahmen zum Hochwasserschutz, ins- aber zukünftig habe Grünlandnutzung im Überschwem- besondere am Rhein, stehen kurz vor der Vollendung. mungsgebiet erste Priorität. Sie wollen den Bauern also Deswegen sollten wir die deutlichen Hinweise des Lan- nichts Böses – so, so. Ihr Gesetzentwurf spricht aber eine des Rheinland-Pfalz zu diesem Gesetzentwurf auch sehr andere Sprache: ideologisch, unwissenschaftlich, unhalt- ernst nehmen. bar. (B) Mir ist es wichtig, zu erwähnen, dass der Erforder- Hochwasserschutz muss sein. Darüber sind wir alle (D) lichkeitsgrundsatz, wie er im rheinland-pfälzischen Ge- uns einig. Das wissen wir aber nicht erst seit den verhee- setz steht, sicherlich eine gute Möglichkeit bietet, die renden Flutkatastrophen des Jahres 2002. Herr Kollege Kräfte zu konzentrieren. Ich schlage vor, diese Regelung Herzog, diese hätten – zumindest in diesem Ausmaß – in unser Gesetz zu übernehmen. Das wird sicherlich eine vermieden werden können, wenn die vorhandenen Rege- der wichtigen Fragen bei der Anhörung sein. lungen – wie für die Ausweisung von Bauflächen – be- achtet worden wären. Deshalb hat zum Beispiel der Mit einem Gesetz werden wir kein Hochwasser ver- Deutsche Städte- und Gemeindebund festgestellt, dass es hindern können, aber wir können die Anzahl und das keiner neuen Vorschriften bedarf. Ausmaß der Hochwasser verhindern und den Schaden mindern. Ich glaube, das ist das, was die Menschen von (Gustav Herzog [SPD]: Dann wird auch wei- uns erwarten. terhin nichts gemacht!) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. – Jedenfalls brauchen wir keine Vorschriften, wie sie die Bundesregierung jetzt plant. Denn ein wirksamer Hoch- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wasserschutz wird damit nicht erreicht, aber die Existenz DIE GRÜNEN) unserer landwirtschaftlichen Betriebe wird damit gefähr- det, und dies ohne jede Grundlage. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. Bereits rechtlich ist dieser Entwurf unhaltbar. Das Ur- teil des Bundesrates lautet deswegen: nicht verfassungs- (Beifall bei der CDU/CSU) konform. Das repressive Ackerbauverbot stellt einen verfassungswidrigen Eingriff in das Grundrecht auf Ei- Gitta Connemann (CDU/CSU): gentum dar. Viele Mitglieder der Koalition, auch viele Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Well von Ihnen, die heute anwesend sind, teilen diese An- nich will dieken, mutt wieken. Für die nicht Platt- sicht. deutschkundigen unter Ihnen: Wer nicht deichen will, (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Dürfen es aber muss weichen. Nach dieser Weisheit hat man bei uns im nicht sagen!) Friesischen seit vielen hundert Jahren gelebt. Seit Urzei- ten gibt es Fluten, gibt es Hochwasser. Wasser birgt Ge- Nicht umsonst titelte die „Welt“ am 10. Juni 2004: „Ko- fahren. Im Regelfall wissen die Menschen aber damit alitionskrach um Trittins Gesetz zum Hochwasser- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10397

Gitta Connemann (A) schutz“. Es muss ein kräftiger Krach gewesen sein, denn (Beifall bei der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: (C) diese Vorlage wurde von der Tagesordnung genommen. Zitieren Sie Frau Conrad ruhig öfter!) Leider wurde sie heute vollkommen unverändert wieder draufgesetzt. Dabei hat der Bund nicht einmal die Kom- Wir setzen auf zielorientierte, sinnvolle Maßnahmen petenz für dieses Machwerk, denn beim Hochwasser- in Zusammenarbeit mit den landwirtschaftlichen Betrie- schutz handelt es sich um Gefahrenabwehr. Aber wen in ben; denn wir wissen, dass es einen Natur- und damit dieser Bundesregierung interessiert schon Kompetenz? auch Hochwasserschutz nur mit und nicht gegen die Wer will von Zuständigkeiten sprechen, wenn es um die Landwirtschaft geben kann. Ich hoffe, dass Sie, die Mit- Sache geht? glieder von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dies auch vor der nächsten Lesung erkennen werden. Dieser Ge- Die Frage ist nur: Wessen Sache? Auf jeden Fall nicht setzentwurf mit seinen Einschränkungen für die Land- die Sache des Hochwasserschutzes, denn das geplante wirtschaft ist ein Irrweg. Wenn Sie den Bauern wirklich Ackerbauverbot hat mit Hochwasserschutz nichts zu tun. nichts Böses wollen, dann Mit dieser Meinung stehe ich nicht alleine. Ich zitiere den rheinland-pfälzischen Staatsminister Gernot Mittler: (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Treten Sie zu- rück!) Ich habe noch niemanden getroffen, der erklären kann, wie uns ein Ackerbauverbot ein Mehr an müssen Sie ihn ablehnen. Lassen Sie sich von Ihrem Raum für den Rückhalt von Hochwasser schafft. Bundesminister nicht an die Leine nehmen! Ich auch nicht. Es wird auch niemand erklären können, Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) denn das Ackerbauverbot spricht gegen jede wissen- schaftliche Vernunft. Auf Äckern kann wegen niedrige- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rer Abflusswerte mehr Regen versickern als auf mage- Ich schließe die Aussprache. rem oder extensivem Grün- oder Ödland. Damit drängt sich der Eindruck auf, dass wieder einmal mit pseudo- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf wissenschaftlichen Argumenten den Landwirten ihre den Drucksachen 15/3168 und 15/3214 an die in der Ta- Produktionsgrundlage entzogen werden soll – mit nega- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. tiven Folgen für die Natur. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Tagesordnungspunkt 7 b. Wir kommen zur Be- (D) Betroffen wären mit rund 900 000 Hektar etwa schlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur- 7,5 Prozent des gesamten Ackerlandes in Deutschland; schutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 15/2118. dies käme einer Ertrags- und Vermögensvernichtung von Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- rund 4 Milliarden Euro gleich. Durch freiwillige Agrar- empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen umweltprogramme – gemeinsam mit der Landwirt- der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- schaft – kann für Boden- und Erosionsschutz in Über- sache 15/1319 mit dem Titel „Den Flüssen mehr Raum schwemmungsgebieten mehr getan werden. Aber an die- geben – Ökologische Hochwasservorsorge durch inte- ser Zusammenarbeit ist jedenfalls Ihnen, Herr Minister, griertes Flussgebietsmanagement“. Wer stimmt für diese offensichtlich nicht gelegen. Das sieht übrigens auch der Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Bundesrat so – ich zitiere –: gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Mit der vorgesehenen Regelung wird ohne Not die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Kooperation mit der Landwirtschaft aufgegeben, die aber … unabdingbar ist. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Sie ist überhaupt der CDU/CSU auf Drucksache 15/1561 mit dem Titel nicht gewollt!) „Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnenland“. Wer Selbst Frau Umweltministerin Höhn konstatiert: „Die stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenpro- derzeit angedachte Regelung belastet die Landwirtschaft be! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit über das wasserwirtschaftlich erforderliche Maß.“ Wo den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei die Ministerin Recht hat, hat sie Recht. Gegenstimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Es ließe sich an vielen anderen Beispielen zeigen, Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- dass es bei diesem Gesetzentwurf nicht um den Hoch- ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags wasserschutz geht. Vielmehr sollen hier auf Kosten der der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1334 mit dem deutschen Landwirtschaft Wunschvorstellungen des Na- Titel „Hochwasserschutz – Solidarität erhalten, Eigen- turschutzes umgesetzt werden. Das ist für mich ein wei- verantwortung stärken“. Wer stimmt für diese Beschluss- terer Frontalangriff auf den ländlichen Raum. Ich zitiere empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen – Die Be- hier auch die Mainzer Umweltministerin Margit Conrad: schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Das Ackerbauverbot darf daher – in welcher Form auch Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP und immer – nicht Gesetz werden. Enthaltung von CDU/CSU angenommen. 10398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Ich glaube, wir sind ein tolles Team geworden. Wir sind (C) sehr schnell zu gleichen Analysen und Vorschlägen ge- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, kommen. Wir waren so motiviert bei der Arbeit, dass wir der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE schon auf den nächsten Auftrag der beiden Präsidenten GRÜNEN und der FDP hoffen. Evaluierung des Deutsch-Französischen Ju- Ich möchte an dieser Stelle dem Deutsch-Französi- gendwerkes schen Jugendwerk – die hier anwesenden beiden Gene- – Drucksache 15/3326 – ralsekretäre heiße ich herzlich willkommen – und den langjährigen Mitarbeitern des Deutsch-Französischen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Jugendwerkes danken, von denen ich noch viele aus Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre meiner aktiven Zeit im Deutsch-Französischen Jugend- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. werk persönlich kenne. Ich danke auch den Partnerorga- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- nisationen, Verbänden und Institutionen, die es in den gin Monika Griefahn, SPD-Fraktion. letzten 41 Jahren geschafft haben, 7 Millionen Jugendli- che zu motivieren, die deutsche bzw. französische Spra- Monika Griefahn (SPD): che zu lernen und die jeweils andere Kultur kennen zu lernen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren! Meine sehr verehrten Damen! Letztes Jahr ha- Sich auf andere Kulturen einzulassen, sich mit ande- ben wir in Versailles gemeinsam den 40. Jahrestag des ren Kulturen auseinander zu setzen und vielleicht auch Élysée-Vertrages gefeiert. Ich habe das in vielen Gesprä- die Geduld aufzubringen, sich mit Unterschieden inten- chen hinterher erfahren: Es war für uns alle ein bewe- siv zu beschäftigen und Verständnis dafür zu bekommen, gendes Erlebnis, als wir – deutsche und französische Ab- ist eine Grundlage für das, was wir kurz als Dialog der geordnete – zusammen dort saßen und gemeinsam Kulturen definieren. Das ist meiner Ansicht nach im unseren Chefs Jacques Chirac und Gerhard Schröder zu- Deutsch-Französischen Jugendwerk vorzüglich geleistet hörten. worden. Ich persönlich kann sagen: Ich habe in meinem beruflichen Leben – sei es bei Greenpeace, sei es bei der Parallel dazu haben die beiden Parlamentspräsidenten Arbeit im Auswärtigen Ausschuss – von dieser Erfah- Wolfgang Thierse und Jean-Louis Debré vereinbart, die rung sehr profitiert. Ich denke, das werden auch andere Arbeit zwischen den Parlamenten zu verstärken. Als ers- gemacht haben. ten Auftrag haben sie ganz konkret formuliert, eine deutsch-französische Parlamentarierarbeitsgruppe Der Élysée-Vertrag und das Deutsch-Französische Ju- (B) einzusetzen, die die Arbeit des Deutsch-Französischen gendwerk sind heute eine Erfolgsgeschichte; denn alle (D) Jugendwerks der letzten 40 Jahre analysiert und Vor- Beteiligten haben es geschafft, die Versöhnung zwischen schläge für die zukünftige Arbeit unterbreitet. Deutschland und Frankreich herzustellen. Für viele Ju- gendliche, auch Deutsche und Franzosen, ist es heute Wir diskutieren heute über einen interfraktionellen vollkommen normal, miteinander in Europa zu leben. Antrag, in dem die Schlussfolgerungen dieser Parlamen- Sie erinnern sich nicht mehr an die jahrhundertelangen tarierarbeitsgruppe aufgegriffen werden, die sich seit Kriege, die Deutsche und Franzosen gegeneinander ge- Oktober 2003 in monatlichem Rhythmus getroffen, Ak- führt haben. Franzosen sind für Deutsche keine anderen teure und Verantwortliche des Deutsch-Französischen Europäer als Engländer, Dänen oder Italiener. Aber das Jugendwerks befragt und einen rund 40-seitigen Bericht Wissen über die neuen EU-Staaten und ihre Menschen sowie elf Vorschläge vorgelegt hat. ist bei uns „alten Europäern“ noch nicht so stark ausge- Wir haben eben schon – die Frau Präsidentin hat es prägt. gemacht – den Vizepräsidenten der Nationalversamm- Deshalb haben Deutsche und Franzosen gemeinsam lung Yves Bur, der gleichzeitig der französische Kopf in Europa und der globalisierten Welt heute neue Aufga- der deutsch-französischen Parlamentarierarbeitsgruppe ben. Daraus folgt unsere Forderung nach einem Neuauf- war, sowie unsere französischen Kollegen begrüßt. Wir trag, nach einer Neubegründung des Deutsch-Franzö- freuen uns, dass wir nächste Woche den Bericht, der von sischen Jugendwerkes, das seinen bisherigen Auftrag der Arbeitsgruppe einvernehmlich und über Partei- und erfolgreich erfüllt hat, nämlich Versöhnung und Freund- Ländergrenzen hinweg erstellt wurde, beiden Präsiden- schaft zu schaffen. Es muss aber in einem neuen, kom- ten – also unserem Präsidenten Thierse und Präsident plexeren Umfeld im gesamteuropäischen Kontext und in Debré – in Paris übergeben dürfen. einer globalisierten Welt seine Aufgaben zuspitzen, prä- Ich bedanke mich für die SPD-Fraktion an dieser zisieren und vielleicht in einigen Teilen neu definieren. Stelle bei beiden Präsidenten ganz herzlich für diesen Wir glauben, dass einerseits eine Erweiterung der Auftrag. Ich möchte mich auch bei meinen Kolleginnen Programme mit Drittstaaten gerade in den neuen Bei- und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und der As- trittsländern der EU erfolgen muss, damit wir genau die- semblée nationale für die ungemein angenehme und sen Mangel an Kenntnissen ausgleichen können. Wir konstruktive Zusammenarbeit, die wir im letzten Drei- glauben aber auch, dass anderseits die Kontakte mög- vierteljahr miteinander haben durften, bedanken. Ich lichst nachhaltig sein müssen und sowohl Aspekte des wiederhole: über alle Partei- und Ländergrenzen hinweg. interkulturellen Lernens, des Kennenlernens der Lebens- (Beifall im ganzen Hause) weisen als auch die Motivation, die jeweils andere Spra- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10399

Monika Griefahn (A) che zu lernen, beinhalten sollten. Sprache ist die Grund- Für unseren Arbeitsauftrag gab es gute Gründe: zum (C) lage von Verständigung und Verstehen der anderen einen die einzigartige Entwicklung der deutsch-französi- Kultur. Es reicht eben nicht – das erleben wir heute sehr schen Beziehungen in den letzten 40 Jahren, zu denen oft –, dass Jugendliche aus diversen europäischen Län- das Deutsch-Französische Jugendwerk ganz wesentlich dern, eben auch Franzosen und Deutsche, miteinander und großartig beigetragen hat. Vielleicht ist es aber auch englisch sprechen. Wir stellen immer wieder fest, dass gerade deshalb in der Erfolgsfalle. Die Hauptziele, die die Unkenntnis der Sprache des anderen zu einem Man- dem Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963 gesetzt gel an Verständnis führt, und zwar nicht nur des sprachli- wurden, erscheinen uns heute längst erreicht. Die Jugend chen Verständnisses, sondern auch des gegenseitigen unserer beiden Länder hat sich gegenseitig kennen ge- Verstehens. lernt und entdeckt. Die Versöhnung und Verständigung zwischen unseren Völkern sind durch Jugendaustausch Besonders deutlich ist mir das geworden, als ich eine und vielfältige Begegnungen auf einer breiten gesell- Gruppe eingeladen hatte, die, unterstützt durch die schaftlichen Basis erfolgt. Das mag einer der Gründe Handwerkskammer Lüneburg, in die Partnerregion in sein, warum es Jahr für Jahr in unseren beiden Parlamen- Rodez im Departement Aveyron gereist ist, um dort in ten schwieriger wird, den Haushaltsansatz für das Betrieben – einem Karosseriehersteller, einer Bäckerei Deutsch-Französische Jugendwerk und die paritätische und einem Restaurant – mitzuarbeiten, in der Familie zu Finanzierung durch beide Staaten durchzusetzen und zu leben und das jeweils andere Land kennen zu lernen. rechtfertigen. Diese Jugendlichen haben selbst erlebt, wie wichtig die Sprache als Grundlage gerade für junge Berufstätige ist. Ein anderer Grund ist sicher – wir müssen das ganz Alle kamen zurück und haben mir gesagt: Wir müssen offen ansprechen –, dass der Anteil der Mittel, der für dringend Französisch lernen. die internen Strukturen des Deutsch-Französischen Ju- gendwerks aufgewendet wird, immer größer wird und Dieses wird neben dem interkulturellen Leben ein der Anteil, der für die Projektarbeit mit den Partnerorga- wichtiger Faktor für die immer stärkere Freizügigkeit nisationen zur Verfügung steht, entsprechend kleiner der Arbeitnehmer in Europa sein. Gerade für junge Be- wird. rufstätige ist es wichtig, neben Englisch noch eine zweite Sprache zu lernen. Sprachvermittlung ist daher Die Strukturen des Deutsch-Französischen Jugend- gleichzeitig mit dem interkulturellen Lernen eine große werkes stammen aus dem Jahr 1963. Sie wurden 1973 Zukunftsaufgabe. leicht überarbeitet und bestehen seither unverändert fort. Es ist an der Zeit, dem Deutsch-Französischen Jugend- Wir haben unseren Bericht den beiden Regierungen werk neue Impulse und eine neue Arbeitsgrundlage zu übermittelt. Wir haben mit dem Kuratorium des geben, die den Anforderungen eines erweiterten Europa, (B) (D) Deutsch-Französischen Jugendwerkes über unsere aber auch des Binnenmarktes und der immer stärkeren Schlussfolgerungen diskutiert und wir hoffen auf eine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtung konstruktive Umsetzung der Schlussfolgerungen durch zwischen unseren beiden Ländern gerecht werden. die beiden Regierungen, deren Aufgabe es ist, die Kon- kretisierung und die Neuausrichtung gemeinsam mit den Obwohl die Jugendlichen die enge deutsch-französi- Kuratoriumsmitgliedern vorzunehmen und dem sche Freundschaft heute als selbstverständlich empfin- Deutsch-Französischen Jugendwerk eine positive Zu- den, geht die Kenntnis der Sprache und Kultur des Nach- kunft zu bescheren. Ich glaube daran, dass es auch wei- barn in beiden Ländern zurück. Deswegen müssen alle terhin eine wichtige Aufgabe für das Deutsch-Französi- Programme und Aktivitäten des Deutsch-Französischen sche Jugendwerk gibt. Jugendwerkes vorrangig Sprachvermittlung fördern und zum Spracherwerb und interkulturellen Lernen mo- Vielen Dank. tivieren. (Beifall im ganzen Hause) In der Berufswelt des 21. Jahrhunderts wird Sprach- kompetenz in mindestens zwei Fremdsprachen, also einer Fremdsprache neben dem Englischen, zu einer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schlüsselqualifikation. Natürlich kann das Deutsch- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Französische Jugendwerk nicht die Aufgaben von Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion. Schule und Hochschule übernehmen, aber es muss jun- gen Franzosen Lust auf Deutsch und jungen Deutschen Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Lust auf Französisch machen, und zwar so früh wie möglich. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Ver- Ich will etwas in Klammern anmerken, was mit dem trags kamen die Assemblée nationale und der Deutsche Thema nicht direkt zu tun hat. Vielleicht müssen wir bil- Bundestag im Januar 2003 zu einer beeindruckenden dungspolitisch in dieser Hinsicht viel ambitionierter Begegnung in Versailles zusammen. Im Anschluss an werden. Eigentlich müssen wir doch das Ziel haben, dass diese erste gemeinsame Plenarsitzung beriefen die Präsi- Abiturienten heute mehrere Monate ihrer Schulzeit obli- denten Jean-Louis Debré und Wolfgang Thierse die erste gatorisch in einem europäischen Partnerland verbracht gemeinsame Arbeitsgruppe unserer beiden Parlamente, haben. Dazu muss uns mehr einfallen als der Hinweis die sich seit September letzten Jahres mit der Arbeit des auf die Länderkompetenzen und auf organisatorische Deutsch-Französischen Jugendwerkes beschäftigt hat. und finanzielle Schwierigkeiten. 10400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Dr. Andreas Schockenhoff (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die erste gemeinsame Arbeitsgruppe unserer Parla- (C) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mente ist ein gelungenes Experiment. Wir sollten diese und der FDP) Form der Zusammenarbeit fortsetzen. Darüber, ob diese Zusammenarbeit in einem ständigen Ausschuss erfolgen Nicht nur jungen Akademikern eröffnen Sprachen Le- soll, kann man streiten. Es gibt aber viele Zukunftsfra- benschancen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk gen, auf die wir in Deutschland wie in Frankreich eine muss stärker als bisher mit der Wirtschaft und ihren Ver- Antwort finden müssen. Zudem gibt es viele Fragen von bänden Jugendliche auf handwerkliche und gewerbliche spezifisch deutsch-französischem Interesse, die wir in Berufe in deutsch-französischen Unternehmen vorberei- gemeinsamen Enquete-Kommissionen oder Arbeits- ten. gruppen mit einem befristeten Arbeitsauftrag besprechen Die ökonomische Verflechtung unserer Länder wird könnten. immer enger. Nicht nur große, sondern auch zahlreiche Ein lohnendes Thema ist beispielsweise die deutsch- kleine und mittlere Unternehmen suchen Mitarbeiter, die französische Zusammenarbeit in der Medienpolitik. Wir sich sowohl in der deutschen als auch der französischen haben uns in dieser Woche gefragt, warum das Interesse Unternehmenskultur und Sprache zurechtfinden. Der- an der Europawahl so gering war. Viele haben in diesem zeit können 20 000 offene Stellen und Ausbildungs- Zusammenhang das Fehlen einer europäischen Öffent- plätze nicht besetzt werden, weil es keine Bewerber mit lichkeit festgestellt. Es gibt trotz immer engerer wirt- einer entsprechenden deutsch-französischen Qualifika- schaftlicher und gesellschaftlicher Verflechtungen tion gibt. Deutschlands und Frankreichs noch keine deutsch-fran- Angesichts der derzeitigen Diskussion über die Ver- zösische Öffentlichkeit. Es gibt zwar den Kulturkanal mittlung von Ausbildungsplätzen und Startchancen für Arte; dieser wendet sich aber eher an ein elitäres Publi- junge Berufsanfänger in unseren beiden Ländern, auf die kum. ich an dieser Stelle nicht näher eingehen will, liegt es auf Die Frage, wie wir solche Aspekte – vielleicht auch der Hand, Angebote zu realisieren, die jungen Menschen zwischen unseren Parlamenten – mithilfe der öffentlich- den Berufseinstieg erleichtern. Zu anderen Schwerpunk- rechtlichen Medien verstärkt in der Öffentlichkeit ten einer inhaltlichen Neuausrichtung werden nachher behandeln könnten, wäre ein lohnendes Thema. Wir noch andere Kollegen Stellung nehmen. empfehlen den Präsidien unserer Parlamente, den einge- schlagenen Weg fortzusetzen und weitere Arbeitsgrup- Wir müssen durch eine Neufassung des Abkommens pen ins Leben zu rufen. auch die Struktur des Deutsch-Französischen Jugend- werks verbessern und modernisieren. Das gilt für das Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (B) Verfahren zur Ernennung der Generalsekretäre und Stell- (D) vertreter, für die Zusammensetzung des Kuratoriums (Beifall im ganzen Hause) und insbesondere für das Personalstatut. Der Status einer internationalen Organisation mit einem eigenen Tarif- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: modell und einem eigenen, ziemlich undurchsichtigen Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau, Bünd- arbeitsrechtlichen Instrumentarium wurde seit 1963 nis 90/Die Grünen. nicht mehr angepasst und ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn Mitarbeiter der EADS auf der Basis des jeweili- Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen nationalen Tarif- und Arbeitsrechts von München Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- oder Friedrichshafen nach Toulouse oder Mitarbeiter gen! Mes chers amis! Ich hätte nie erwartet, dass sich die von Sanofi-Aventis von Frankfurt nach Paris und umge- Französischkenntnisse, die ich nach dem Fall der Mauer kehrt wechseln, dann muss das auch für die Mitglieder erworben habe – ich dachte: jetzt, da der ganze Westen des Deutsch-Französischen Jugendwerks zwischen Paris Europas auf mich zukommt, sollte ich vielleicht noch und Berlin möglich sein. eine westeuropäische Fremdsprache lernen –, nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie für mich persönlich lohnen würden, sondern auch im bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Deutschen Bundestag Früchte tragen, von dem ich da- GRÜNEN und der FDP) mals auch nicht wusste, dass ich ihm eines Tages als Mitglied angehören würde. Das heißt, Fremdsprachen zu Wie die Kollegin Griefahn eben ausgeführt hat, haben lernen kann eine große Bereicherung sein. Es geht nicht wir in der Arbeitsgruppe zum Deutsch-Französischen nur darum, sich eine „nützliche“ Sprache auszusuchen, Jugendwerk über die Fraktionsgrenzen hinweg und un- sondern auch darum, etwas auszuwählen, das einem geachtet der unterschiedlichen Arbeitssystematik in un- fremd ist, damit es einen bereichern kann. seren beiden Parlamenten völlig unkompliziert und in der Zielsetzung einig zusammengearbeitet. Wir unter- Wir haben in der Arbeitsgruppe Folgendes gemerkt: breiten unseren Regierungen einstimmig Vorschläge zur Wir sind uns in zivilisatorischer Hinsicht sehr ähnlich; Überarbeitung des Abkommens zum Deutsch-Französi- das ist ganz klar. Man lebt schließlich ziemlich dicht bei- schen Jugendwerk. Dafür möchte ich mich auch bei un- einander auf demselben Kontinent und hat ungefähr das seren französischen Kollegen auf der Besuchertribüne gleiche Entwicklungsniveau. Aber wir sind uns doch ein ganz herzlich bedanken. bisschen fremd. Die Mentalität und die Gewohnheiten sind anders. Auch das Verhältnis zur Hierarchie ist ein (Beifall im ganzen Hause) bisschen unterschiedlich. Am Ende stellt sich aber Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10401

Antje Hermenau (A) heraus: Die Kleinigkeiten, die einen sonst veranlassen, Das Klima in dieser Arbeitsgruppe war außerordent- (C) zu sagen „Na ja, die Deutschen!“ oder „Na ja, die Fran- lich produktiv, weil wir es uns erlaubt haben, sehr offen zosen!“, sind eigentlich ganz unwichtig. und ehrlich mit den Problemen, vor denen wir standen, umzugehen. Ich kann eigentlich nur jedem Kollegen so- Jetzt spricht die Ostdeutsche: Wir haben das Gleiche wohl in der Assemblée nationale als auch im Bundestag in Deutschland durchgemacht. Es gab lange Probleme empfehlen, einmal an einer solchen Arbeitsgruppe teil- mit der Antwort auf die Frage, wie sich Ost- und West- zunehmen; denn es verbessert das eigene Befinden deut- deutsche zusammenfinden sollten, nachdem sie eine lich, wenn man merkt, dass man so produktiv über Weile getrennt gewesen sind. Die Mauer, die wir hatten, Partei-, Länder- und Mentalitätsgrenzen hinweg zusam- war noch viel schlimmer als die sozusagen ganz normale menarbeiten kann. Grenze zwischen Frankreich und Westdeutschland. Wir haben es geschafft, weil wir uns persönlich kennen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, lernt haben und weil wir gemeinsam gearbeitet haben. bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Wir hatten ein gemeinsames Projekt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Genauso, finde ich, hat diese Arbeitsgruppe deutlich Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP- gemacht, dass auch wir, die Franzosen und die Deut- Fraktion. schen, in Europa ein gemeinsames Projekt haben. Wir wollen nämlich zum Beispiel erreichen, dass Arbeitneh- mer aus Deutschland und Frankreich ohne große Pro- Sibylle Laurischk (FDP): bleme in das jeweils andere Land wechseln können, um Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen in gemeinsamen Industriezweigen, die wir gemeinsam und Kollegen! weiterentwickeln wollen und in denen wir zu Global Vertrauen schenken ist ein Zeichen des Mutes, treu Players werden wollen, mühelos Arbeit zu finden. Es sein ein Zeichen von Stärke. geht aber auch eine Nummer kleiner. Man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass deutsche Bauarbeiter eine Weile Dieses Wort von Marie von Ebner-Eschenbach kenn- in Frankreich arbeiten, wo die Baubranche im Moment zeichnet die Aktivitäten des 1963 gegründeten Deutsch- boomt. Das wäre kein Problem, wenn es nicht die Französischen Jugendwerks, das für die Aussöhnung Sprachbarriere oder vielleicht die Scheu vor dem ande- von Frankreich und Deutschland Entscheidendes geleis- ren gäbe. Was mich an dieser Arbeitsgruppe fasziniert tet hat. Vor 40 Jahren ging es tatsächlich um ein Zeichen hat, sind die neuen Möglichkeiten, die wir uns – auch im des Mutes, uns gegenseitig Vertrauen zu schenken. Auch wirtschaftlichen Sinne – eröffnen können. Ich glaube, heute ist es mehr denn je wichtig, den Mut zur konkreten Verwirklichung der europäischen und insbesondere der (B) dass das für junge Menschen hochgradig attraktiv ist. (D) Der Staat muss dafür sorgen, dass entsprechende Mög- deutsch-französischen Freundschaft nach dem Vorbild lichkeiten geschaffen werden. der Gründerväter Europas aufzubringen. Zum Klima in der Arbeitsgruppe selbst: Sie sehen ja, Für die junge Generation ist diese Freundschaft heute dass einige Kollegen zu dieser Debatte gekommen sind, eine selbstverständliche Tatsache geworden. Das Ver- die ein besonderes Interesse an der deutsch-französi- mächtnis von Adenauer und de Gaulle müssen wir wei- schen Freundschaft hegen. Aber viele sind heute auch ter tragen ganz im Sinne jenes französischen Sprichwor- nicht gekommen. Das mag einen guten und profanen tes, das lautet: Grund haben: Unter dem Antrag, den wir jetzt beraten, Tradition heißt nicht, die Asche aufzubewahren, stehen die Namen aller vier Fraktionsvorsitzenden. Das sondern die Flamme am Brennen zu halten. bedeutet, dass es keinen Streit gibt und dass alles gere- gelt ist. Um das, was geregelt ist, muss man sich ja nicht Wie kann die Flamme am Brennen gehalten werden, mehr kümmern. So viel zur deutschen Mentalität. verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn die Nach- wuchsgeneration die jeweilige Sprache des Nachbarlan- Die Arbeitsgruppe hat sehr offen zusammengearbei- des immer seltener spricht? Die Sprache ist aber der tet. Das Ergebnis, das wir vorlegen, ist durchaus streit- Schlüssel zum Verständnis, sie ermöglicht die Entde- bar. Man soll sich nicht täuschen und denken, dass der ckung der anderen Kultur, sie baut Brücken auf. Bericht der Arbeitsgruppe nur deutsch-französisches La- Die deutsch-französische Freundschaft besitzt Mo- rifari oder wohlmeinendes, hochtrabendes Gerede über dellcharakter in der erweiterten Europäischen Union. die deutsch-französische Freundschaft enthält, weil die Das kann man nicht hoch genug schätzen. Andere Län- Namen aller vier Fraktionsvorsitzenden darunter stehen. der in der EU verweisen bei der Verarbeitung ihrer ge- Dieser Bericht mit seinen Empfehlungen, den wir dem meinsamen schwierigen Geschichte immer wieder auf Parlamentspräsidenten übergeben, ist durchaus eine sehr die Versöhnung und Zusammenarbeit unserer beiden kritische Würdigung, die in keiner Weise die bisherige Länder Deutschland und Frankreich. Arbeit des Deutsch-Französischen Jugendwerkes herab- würdigen will – diese wird entsprechend honoriert –, Während einer von unserer Arbeitsgruppe durchge- sondern die darauf aufmerksam macht, dass es Ernst mit führten Anhörung konnten wir erfahren, dass zurzeit Europa wird. Wer es ernst meint, der muss offen und circa 20 000 Arbeitsplätze mit deutsch-französischem ehrlich im Umgang sein, der muss zusammenarbeiten Bezug unbesetzt bleiben. In unserer aktuellen Arbeits- und es sogar schaffen, sich neue Projekte zu suchen. Das platzlage ist diese Zahl unakzeptabel. Warum sind diese haben wir geleistet. 20 000 Arbeitsplätze frei? Die Antwort ist banal: Weil 10402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Sibylle Laurischk (A) die Arbeitgeber keine Bewerber finden, die beide Spra- Mitwirkung in der parlamentarischen Arbeitsgruppe war (C) chen so gut beherrschen, dass sie in einem deutsch-fran- damit vorgezeichnet. zösischen Umfeld arbeiten können. Das ist umso besorg- Es ist klar, dass unser beider Aufgabe schwerpunkt- niserregender, als Frankreich nach wie vor unser erster mäßig der Blick auf die Finanzausstattung und die Mit- Wirtschaftspartner ist. telverwendung war; denn schließlich verfügt das Um diesen Herausforderungen zu entsprechen, brau- Deutsch-Französische Jugendwerk seit über drei Jahr- chen unsere beiden Länder ein reformiertes, auf den zehnten über einen relativ konstanten Haushalt von circa wechselweisen Spracherwerb und gegenseitiges Begeg- 23 Millionen Euro im Jahr, der zu gleichen Teilen aus nen orientiertes Deutsch-Französisches Jugendwerk. beiden Ländern finanziert wird – eine Menge Geld, das Seit 40 Jahren leistet das DFJW – das will ich an dieser die Vielzahl von Jugendbegegnungen und Austauschpro- Stelle in aller Deutlichkeit betonen – eine hervorragende grammen seit 1963 erst ermöglicht hat. Arbeit. Das DFJW ist 40 geworden, aber auch seine Um- Dieser Etat ist jedoch im Laufe der Jahre faktisch ge- gebung hat sich gewandelt. Das Jugendwerk von 1963 entspricht den heutigen schon erwähnten Herausforde- schrumpft, da er nicht an die Kostenentwicklung ange- rungen unserer Zeit nicht mehr. passt wurde, obwohl die Aufgaben des Jugendwerkes beständig wuchsen. Der Haushalt wurde – so will es das Der heute zu verabschiedende interfraktionelle An- Konstrukt des Deutsch-Französischen Jugendwerkes als trag konstituiert einen ersten Schritt in die richtige Rich- internationaler Organisation – ohne parlamentarische tung. Damit ist es jedoch nicht getan. Es müssen weitere Kontrolle durch das Kuratorium beschlossen. Problema- entscheidende Schritte folgen. Dazu gehören insbeson- tisch ist darum, dass dieses Kuratorium aus bestimmten dere ein nachhaltiges Engagement unserer Jugendlichen, Gründen zwei Jahre lang gar nicht tagte. gemeinsame konkrete deutsch-französische Projekte und langfristige Austauschprogramme. Im Laufe der Zeit, so stellten wir Parlamentarier aus Deutschland und Frankreich in unserem Bericht überein- All das, was wir heute im Parlament beschließen, stimmend fest, hat sich im Etat des Deutsch-Französi- muss auf eine tiefer gehende beidseitige Sensibilisierung schen Jugendwerkes ein durchaus unausgewogenes Ver- abzielen. Unser Appell richtet sich an unsere jungen hältnis zwischen den Ausgaben für Personal und Deutschen und Franzosen, die für dieses Unterfangen Verwaltung einerseits und der inhaltlichen Arbeit für die auch Risikobereitschaft zeigen müssen und sich nicht Jugendprojekte andererseits entwickelt. Das – da sind auf den Lorbeeren ihrer Väter ausruhen dürfen. Gleiches wir alle einer Meinung – muss sich ändern. gilt auch für uns Politiker. In dem vorliegenden Bericht, der durchaus ein ehrgei- An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen deut- ziges Reformprojekt skizziert, gibt es elf Kernforde- (B) (D) schen und französischen Kollegen für die freundschaftli- rungen, zu denen wir gemeinsam gekommen sind. All che Zusammenarbeit in dieser ersten interparlamentari- denjenigen, die diesen Bericht lesen, mag jene Passage schen Arbeitsgruppe sehr herzlich bedanken. Es war für auffallen, in der es um die strikte Einhaltung der allge- mich und sicher für uns alle eine ganz besondere euro- meinen Haushaltsgrundsätze und um die wirtschaftliche päische Erfahrung. und sparsame Verwendung öffentlicher Gelder geht. Ich danke Ihnen. „Eine Selbstverständlichkeit“ werden Sie, meine Kol- (Beifall im ganzen Hause) leginnen und Kollegen des Bundestages, wahrscheinlich sagen. Aber leider ist das nicht so, wie die detaillierte Beschäftigung mit Haushalts- und Stellenplänen, mit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Jahresrechnungen und Prüfbemerkungen der letzten Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Hagedorn, Jahre durch uns ergab. Ausschreibungs- und Vergabe- SPD-Fraktion. recht müssen künftig ernst genommen und die Einfüh- rung der Kosten-Leistungs-Rechnung sollte umgesetzt Bettina Hagedorn (SPD): werden. Moderne Steuerungsinstrumente sollen im Fi- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe nanzmanagement helfen, Transparenz herzustellen und Kolleginnen! Als die Präsidien und Parlamente Deutsch- die Ausgaben auf die tatsächlichen Haushaltsansätze zu lands und Frankreichs die Überprüfung der Aufgaben, beschränken. der Arbeitsweise und der Effizienz des Deutsch-Franzö- Entscheidend wird aber sein, dass es durch eine Über- sischen Jugendwerks beschlossen, hatten meine Kolle- arbeitung des deutsch-französischen Abkommens ge- gin Antje Hermenau und ich als zuständige Haushälte- lingt, das internationale Statut des Deutsch-Französi- rinnen trotz schwierigster Haushaltsberatungen unter schen Jugendwerkes durch eine zwischenstaatliche dem Eindruck des 40. Jahrestages der deutsch-französi- Organisationsform abzulösen, und dass das Personalsta- schen Freundschaft gerade die Aufstockung der Mittel tut modernisiert und um die vielen Ausnahmebestim- des Jugendwerkes um 3 Millionen Euro im Haushalt mungen entschlackt wird. 2003 verankert. Vor allem aber ist es unumgänglich, dass ein sehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des kleiner und effektiver Verwaltungsrat mit Beteiligung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Geldgeber, also der Parlamente, die Reform des Dieses Geld wurde mangels der notwendigen Kofinan- Deutsch-Französischen Jugendwerkes künftig eng be- zierung durch Frankreich nie ausgegeben, aber unsere gleitet und insbesondere im Haushaltsrecht Entscheidun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10403

Bettina Hagedorn (A) gen trifft. Die vielen Vertreter von Vereinen, Verbänden nach einem Ereignis, das mir in der nun fast sechsjähri- (C) und Organisationen hingegen sollen im Kuratorium auch gen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag besonders künftig mit ihrem fachlichen Know-how inhaltlich wir- im Gedächtnis geblieben ist, gehen meine Gedanken zu- ken und kreative Ideen zur Umsetzung bringen. rück in den Januar 2003, als wir zusammen mit den Kol- leginnen und Kollegen der Assemblée nationale in Ver- Die organisatorischen und strukturellen Veränderun- sailles tagten. gen im Deutsch-Französischen Jugendwerk sind aber kein Selbstzweck. Ziel ist es, dass ein größerer Teil des Das war nicht nur ein optisch beeindruckendes Ereig- zur Verfügung stehenden Geldes der Arbeit mit den und nis, es war auch eine gute Grundlage und ein guter An- für die jungen Menschen zugute kommt. Dann und nur satz, ein Stück Selbstverständlichkeit in den bilateralen dann – da sind wir einig – befürworten wir in der Zu- Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland kunft eine einvernehmliche Erhöhung des Haushaltsan- und Frankreich, ein Stück Selbstverständlichkeit deut- satzes für das Deutsch-Französische Jugendwerk, damit scher und französischer Außenpolitik wieder ins Be- die Herausforderungen seiner erweiterten Aufgabe in wusstsein sowohl der Kolleginnen und Kollegen der einem zusammenwachsenden Europa bewältigt werden beiden Parlamente als auch der deutschen und französi- können. Eine europäische Identität erreichen wir vor schen Öffentlichkeit zurückzurufen. allem über die gezielte Kooperation der Jugend. Dabei Wir sind uns vermutlich darüber einig, meine Damen gebührt der Stärkung des bürgerschaftlichen, des frie- und Herren, dass nichts so gut ist, als dass es nicht noch denssichernden, des sozialen und ökologischen Engage- verbessert werden könnte. Wenn etwas selbstverständ- ments ein besonderer Stellenwert. lich geworden ist, so schön das auch ist, dann birgt das (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE natürlich die Gefahr, dass etwas zur Routine erstarrt. In- GRÜNEN und der CDU/CSU) sofern war es richtig, dass die Präsidien der beiden Par- lamente die Initiative ergriffen und eine binationale Das Deutsch-Französische Jugendwerk soll die Ju- Arbeitsgruppe eingerichtet haben, die sich mit dem gend Deutschlands, Frankreichs und Europas künftig of- Thema befasst hat: Was ist nach 40 Jahren im Deutsch- fensiv ansprechen. Es reicht nicht, festzustellen, dass die Französischen Jugendwerk möglicherweise zu verbes- Freude am Spracherwerb und das Interesse an der ande- sern? ren Kultur nachlassen. Die Motivation für eine gemein- same europäische Zukunft in kultureller Vielfalt muss Schön ist, festzustellen, dass in den über 40 Jahren geweckt werden. Mit anderen Worten: Dafür muss aktiv des Bestehens dieses Jugendwerks gut 7 Millionen Be- geworben werden. gegnungen zwischen Deutschland und Frankreich er- möglicht worden sind. So hat das Deutsch-Französische (B) Medien und Internet ersetzen keine persönliche Be- Jugendwerk auch einen wesentlichen Beitrag dazu ge- (D) gegnung. Sie können aber Hilfsmittel sein, mit denen leistet, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und man die Jugend vor allem dann erreicht, wenn man sie Frankreich keine akademische Veranstaltung geblieben selbst kreativ machen lässt, anstatt die Gestaltung ver- sind, sondern dass sich tatsächlich Menschen oder Ver- meintlichen Profis teuer zu überlassen. Eine stärkere eine begegnet sind, dass man sich auch auf der ganz nor- echte Beteiligung der Jugend an Projekten für die Ju- malen kommunalen Ebene begegnet und Freundschaft gend, auch das ist eine notwendige Kernforderung unse- pflegt. rer Arbeitsgruppe. Wenn wir einen Blick in die Emnid-Studie von 2002 (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des werfen, die das Deutsch-Französische Jugendwerk selbst BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in Auftrag gegeben hat, dann stellen wir allerdings fest, Ich muss zum Ende kommen. Dem Deutsch-Französi- dass die Neigung, die Sprache des Nachbarstaates zu er- schen Jugendwerk wünsche ich eine gute Zukunft in ei- lernen, eher zurückgegangen ist, und zwar auf beiden nem zusammenwachsenden Europa. Allen, die an dem Seiten, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. spannenden Reformprozess Anteil haben werden, rufe Diejenigen, die von sich sagen, sie hätten ein bewusstes ich den Satz unseres ehemaligen Bundespräsidenten Interesse an der Sprache des Nachbarlandes, machen ge- Gustav Heinemann in Erinnerung: rade noch 25 Prozent derjenigen aus, die befragt worden sind. 16 Prozent – im Zweifelsfall müsste ich mich ehrli- Leben ist Veränderung. Wer sich nicht verändert, cherweise dazu zählen – sagen, dass die Kenntnisse der wird auch verlieren, was er bewahren möchte. Sprache des Nachbarlands nach eigener Einschätzung Vielen Dank. als mittelmäßig zu qualifizieren wären. (Beifall im ganzen Hause) Deswegen ist es folgerichtig, wenn man beim Sprach- erwerb, bei den Sprachkenntnissen ansetzt, weil das letztlich die Basis ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie alle kennen das aus Ihren Wahlkreisen. Wenn Sie Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege sich mit denjenigen unterhalten, die beispielsweise Städ- Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion. tepartnerschaften ins Leben gerufen haben, dann erfah- ren Sie, dass sich trotz der Tatsache, dass man die Spra- Thomas Dörflinger (CDU/CSU): che des anderen auch nach 40 Jahren noch nicht spricht, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und an der besonderen Herzlichkeit der Begegnung nichts Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Suche geändert hat. Wir sind uns aber vermutlich darüber einig, 10404 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Thomas Dörflinger (A) dass es mit Kenntnis der Sprache des Nachbarlandes Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (C) doch etwas einfacher wäre. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Wir können uns beispielsweise dem Ziel zuwenden, Büttner (Schönebeck), Arnold Vaatz, Wolfgang gemeinsame Foren für gesellschaftliches Engagement Bosbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion zu bilden und dort nach Verbesserungsmöglichkeiten zu der CDU/CSU suchen. Wir können etwa der Frage nachgehen – ich wähle ein Beispiel aus unserem Fachressort –, worin die Jährliche Debatte zum Stand der Rehabilitie- Schwierigkeiten beim Europäischen Freiwilligendienst rung und Entschädigung der Opfer der SED- begründet sind, weil das nicht am fehlenden guten Wil- Diktatur len, sondern an den unterschiedlichen Sozialversiche- – Drucksache 15/2818 – rungssystemen scheitert. Man könnte die funktionieren- Überweisungsvorschlag: den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich Rechtsausschuss (f) zur Grundlage nehmen und ausprobieren, ob man im bi- Innenausschuss lateralen Verhältnis mit Frankreich eine Lösung erarbei- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ten kann, die anschließend auch eine tragfähige Basis für Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe die Partnerschaft mit anderen europäischen Staaten bil- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die den kann. Wenn wir so etwas schaffen, haben wir, glaube Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre ich, einen wesentlichen Beitrag geleistet. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die deutsch-französischen Beziehungen sind zu Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Recht immer wieder als modellhaft für den Bau des ge- gin Maria Michalk, CDU/CSU-Fraktion. meinsamen Hauses Europa gewürdigt worden. Sie sind es zweifelsohne auch. Wenn uns in einiger Zeit die ers- (Beifall bei der CDU/CSU) ten Ergebnisse der Neustrukturierung des Deutsch-Fran- zösischen Jugendwerks vorliegen, sollten wir das zum Maria Michalk (CDU/CSU): Anlass nehmen, einen Schritt weiter zu gehen, andere Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Jugendwerke und vergleichbare Einrichtungen nach den- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor selben Grundsätzen zu überprüfen, aber auch einen Ge- 51 Jahren verhängte die sowjetische Militäradministra- danken daran zu verschwenden, ob die Erfahrungen, die tion über 167 Land- und Stadtkreise der DDR den wir in 40 Jahren hier gemacht haben und die gut waren, Ausnahmezustand. In weit über 1 000 Betrieben und Ge- auch Grundlage für ähnliche Einrichtungen beispiels- nossenschaften kam es zum Streik. Über 1 Million Men- weise mit den Staaten Mittel- und Osteuropas sein kön- schen beteiligten sich an diesem Volksaufstand. Sie er- (B) nen. (D) stürmten über 250 öffentliche Gebäude, darunter fünf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des MfS-Kreisdienststellen und zwei SED-Bezirksleitungen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Die Menschen versammelten sich auch vor Gefängnis- FDP) sen, denn sie hatten das Ziel, die politischen Häftlinge zu befreien. Aus zwölf Haftanstalten sind knapp Wir als Deutscher Bundestag geben heute unserer Re- 1 400 Häftlinge befreit worden, von denen allerdings ei- gierung einen Auftrag und das französische Parlament nen Monat später schon wieder 1 200 eingesperrt waren. wird Entsprechendes am 23. Juni in der Assemblée na- Die anderen konnten in den Westen flüchten. tionale tun. Bei aller verständlichen Begeisterung für Deutschland und Frankreich sind unser aller Augen in Die Hauptforderungen im gesamten Land lauteten: diesen Tagen aber vermutlich auf ein anderes europäi- Nieder mit der SED! Freie Wahlen! Freilassung aller sches Land besonders gerichtet, nämlich auf Portugal. politischen Häftlinge! – Vorsichtig wurde auch der Ge- Lassen Sie mich deshalb mit einem Satz schließen, der danke der Wiedervereinigung geäußert. Daneben waren sich insbesondere an unsere französischen Gäste wendet. in allen Orten sozialpolitische Fragestellungen virulent, Mit Blick auf den heutigen Abend rufe ich Ihnen zu: die den Arbeits- und Lebensalltag betrafen. Bonne chance! Allez les Bleus! Die Vorkommnisse nutzte die politische Führung, Herzlichen Dank. um für eine harte Bestrafung der Angeklagten zu plädie- (Beifall im ganzen Hause) ren. Ein Beispiel: Der selbstständige Fotograf Lothar Markwirth wurde von den Staatsorganen zum Haupträ- delsführer bei den Ereignissen in der Dienststelle des Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: MfS in Niesky, einer kleinen Stadt in der Nähe der Ich schließe die Aussprache. deutsch-polnischen Grenze, abgestempelt. Per Gnaden- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der entscheid vom 28. August 1956 wurde seine lebenslange Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Haftstrafe in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. 1964 er- Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/3326 mit folgte seine Entlassung als Letzter von den Verurteilten dem Titel „Evaluierung des Deutsch-Französischen Ju- des 17. Juni 1953. Er saß also elf Jahre in Haft. gendwerkes“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen- Obwohl die Ereignisse um den 17. Juni von der SED- stimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Führung als faschistischer Putschversuch abgetan wur- Stimmen des ganzen Hauses angenommen. den und an den Schulen und in der Öffentlichkeit keine (Beifall im ganzen Hause) ernsthafte Auseinandersetzung erfolgte, lebte dieses Er- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10405

Maria Michalk (A) eignis in den Köpfen vieler Menschen als Zeichen der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Hoffnung weiter. Erst nach dem Untergang des SED-Re- Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim gimes und der Öffnung der Archive wurde das ganze Hacker, SPD-Fraktion. Ausmaß der damaligen Proteste deutlich. Der Gedenktag soll den Mut und den Freiheitswillen der damaligen Hans-Joachim Hacker (SPD): Menschen im Bewusstsein der heutigen Menschen wach Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen halten. Wir als Parlament wollen zugleich immer wieder und Kollegen! Bevor ich auf den Antrag der Unionsfrak- nachfragen, wie wir den Opfern der SED-Diktatur insge- tion eingehe, möchte auch ich gern an das historische samt rechtliche Rehabilitierung und materielle Entschä- Datum 17. Juni 1953 erinnern. Am heutigen Tag jährt digung zukommen lassen können. sich zum 51. Mal der Volksaufstand in der DDR. Am Dass die Aufarbeitung des SED-Unrechts für die 17. Juni 1953 erhoben sich Menschen in der DDR und Menschen selbst noch nicht abgeschlossen ist, sehen wir demonstrierten für Freiheit, Demokratie und die Herstel- an dem ungebrochenen Wunsch, in ihre Akten Einsicht lung der deutschen Einheit. Ausgangspunkt für den zu nehmen. Deshalb ist es wirklich positiv zu bewerten, Volksaufstand – auch das sollte noch einmal in Erinne- dass fraktionsübergreifend die Antragsfrist weiter ver- rung gerufen werden –, der von der Arbeiterschaft der längert wurde. Auch dass die Ausgleichsleistungen im DDR – der im SED-Duktus sozial gesehen führenden Beruflichen Rehabilitierungsgesetz zum 1. Januar dieses Kraft der Gesellschaft – ausging, war die von der SED Jahres erhöht wurden, ist ein richtiges Signal. Aber ma- am 14. Mai 1953 beschlossene Erhöhung der Arbeits- chen wir uns nichts vor: Viele Menschen, die besondere normen. Dieser Kurs wurde zwar korrigiert und durch Schicksale erlittenen haben, leben bescheiden von der einen so genannten neuen Kurs ersetzt; die von der SED Grundsicherung und verstehen die Welt nicht mehr, vorgenommenen Korrekturen an den Beschlüssen konn- wenn sie lesen müssen, dass ihren damaligen Peinigern ten jedoch den Protest nicht aufhalten. monatliche Renten gezahlt werden – ja, gezahlt werden Bereits im Vorfeld des 17. Juni 1953 gab es Demon- müssen –, von denen sie nur träumen können. strationen mit Tausenden Beteiligten. Der Höhepunkt Wir wissen, dass nicht alles erlittene Unrecht unge- war jedoch der Demonstrationszug, der von den Bauar- schehen gemacht werden kann; ein hundertprozentiger beitern der Stalinallee in Ostberlin ausging und von So- Ausgleich ist in diesem Leben wohl nicht möglich. Wir wjetpanzern niedergewalzt wurde. Für die für Freiheit haben aber die Aufgabe, nicht nachzulassen in dem Be- und Demokratie streikenden Bauarbeiter der Stalinal- mühen, den tatsächlichen Ausgleich zu hinterfragen und lee, die Stahlarbeiter von Hennigsdorf und die anderen zu verbessern. Demonstranten verband sich mit ihrer Auflehnung gegen das politische System in der DDR der Ruf nach der (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deutschen Einheit. Dazu gehören ideelle Gesten und materielle Leistungen. Viele haben für ihren mutigen Einsatz für Freiheit und Im ersten Punkt sind wir uns mit der Regierungskoali- Demokratie schwer bezahlen müssen. Sie wurden einge- tion wohl einig, im zweiten bisher leider nicht. Wir müs- sperrt, lange beruflich benachteiligt oder durch den Waf- sen mehr für die Opfer der SED-Diktatur tun. Der heu- feneinsatz getötet. Ihnen allen gilt unser Respekt und un- tige Gedenktag erinnert uns auch an die Verpflichtung, sere Achtung. zur historischen Aufarbeitung beizutragen und die Ver- Der Volksaufstand am 17. Juni in Ostberlin und in vie- antwortung für die Gegenwart zu übernehmen. len anderen Städten der DDR endete tragisch. Dennoch: Ich will es so tun: Freie Wahlen, sagte ich, lautete Das Vermächtnis der mutigen Frauen und Männer ist er- damals eine Forderung. Sie sind seit 14 Jahren im ver- füllt. Die friedliche Revolution 1989 in der DDR und einten Deutschland für alle Menschen erreicht. Bei der die Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober heutigen Bekanntgabe des amtlichen Ergebnisses der 1990 stehen in einem geschichtlichen Kontext mit dem Kommunalwahlen vom letzten Sonntag müssen wir fest- 17. Juni 1953. Für uns alle bleibt es Verpflichtung, die stellen, dass rund die Hälfte der Wahlberechtigten von Ereignisse des 17. Juni im Geschichtsbewusstsein unse- ihrem Wahlrecht aktuell leider keinen Gebrauch ge- res gesamten Volkes lebendig zu halten. Daraus er- macht hat. Das Recht auf freie Wahlen schließt wohl wächst für uns auch die Verantwortung, Freiheit und De- auch das Recht, nicht wählen zu gehen, ein. Aber was ist mokratie zu verteidigen. Diese Lehre aus unserer das für ein Signal? Die Geschichte lehrt uns, solche Si- jüngsten deutschen Geschichte müssen wir an die fol- gnale sehr ernst zu nehmen. Auch das ist ein Vermächt- genden Generationen weitergeben. nis der Frauen und Männer des 17. Juni an uns alle. Gegenüber den Opfern der SED-Diktatur trägt die Po- litik in Deutschland Verantwortung. Dazu gehört, sie, so- Wir bekunden allen Opfern gegenüber unseren ehrli- weit es geht, von den Folgen der politischen Verfolgung chen Respekt und unsere Dankbarkeit für ihren Mut und zu befreien. Der Gesetzgeber hat diese Aufgabe nach der setzen uns unvoreingenommen und unbürokratisch im- Wiedervereinigung angepackt. Bereits die demokratisch mer wieder für eine bessere Entschädigung ein, bis sie gewählte letzte Volkskammer hat sich mit diesem Thema uns wirklich gelungen ist. beschäftigt. Wir haben Rehabilitierungsgesetze verab- Ich danke Ihnen. schiedet, nach denen die strafrechtlichen Unrechtsmaß- nahmen aufgehoben und Verfolgte entschädigt werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) können. Eine Rehabilitierung war und ist ebenso für im 10406 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Hans-Joachim Hacker (A) verwaltungsrechtlichen und beruflichen Bereich erlittene Darüber hinaus haben wir mehrfach Millionenbeträge (C) politische Verfolgung möglich. zur Verfügung gestellt, um dem Schicksal der Betroffe- nen, die über diese Stiftung Leistungen erhalten, gerecht Bis hierhin – ich spreche jetzt insbesondere Sie, zu werden. meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, an – stimmen wir sicherlich überein. Auch das sage ich Auch heute – ich wende mich jetzt ganz direkt an die an dieser Stelle: Hierfür haben wir in den letzten 14 Jah- Betroffenen, an die Opfer der SED-Diktatur und an die ren nach der deutschen Einheit in Bonn und Berlin ge- Verbände, die deren Interessen auch gegenüber der Poli- stritten und hier haben wir uns gemeinsam engagiert. tik wahrnehmen – gilt der Appell der SPD-Bundestags- fraktion an die SED-Opfer, die noch keinen Antrag ge- Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren von der stellt haben: Nehmen Sie Ihr Recht in Anspruch! Wir Union, Sie wissen, dass die unter Ihrer politischen Ver- alle aus dem Deutschen Bundestag wollen, dass Sie zu antwortung gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner Ihrem Recht kommen, dass Sie rehabilitiert werden und FDP vorgelegten Gesetze in diesem Bereich offensicht- dass Sie die gesetzlichen Leistungen erhalten, die der lich Regelungsdefizite hatten. Das ist doch unbestritten. Bundesgesetzgeber festgelegt hat. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Ja, das ist unbestritten!) Wenn dann noch Geld da ist!) Auf die damaligen Änderungsanträge der SPD-Bundes- Ich frage mich, was die Union mit ihrem Antrag ei- tagsfraktion sind Sie nicht eingegangen. Ich sage es hier gentlich beabsichtigt, in dem sie die Bundesregierung einmal auf den Punkt gebracht, Frau Michalk: Es wäre auffordert, jährlich einen Bericht zum Stand der Rehabi- richtig gewesen, wenn die damalige Bundesregierung in litierung und Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur den 90-er-Jahren Berichte über den Stand der Rehabili- vorzulegen. Es ist keine Vermutung, sondern durch Ihr tierung und die Situation der Opfer vorgelegt hätte. Agieren in den letzten Jahren bewiesen, dass Sie be- Es ist ebenso richtig, dass wir im letzten Jahr die An- wusst eine bestimmte Gelegenheit schaffen wollen, um tragsfristen für die drei Rehabilitierungsgesetze noch- immer wieder eine Diskussion über die angeblichen Un- mals – es war nicht das erste Mal – bis zum 31. Dezem- gerechtigkeiten gegenüber den Opfern der SED-Diktatur ber 2007 verlängert haben. Ebenso sind die Beträge zu führen. Wenn es denn solche gegeben hat – ich unter- – dies wurde richtigerweise ausgeführt –, die Antragsbe- streiche, dass es die gegeben hat –, dann haben Sie selbst rechtigte erhalten können, wenn eine berufliche Rehabi- während Ihrer Regierungsverantwortung diese Unge- litierung erfolgt ist, in einem bescheidenen Maße ange- rechtigkeiten geschaffen. Ich habe auf die entsprechen- den Punkte hingewiesen; ich will das an dieser Stelle (B) hoben worden. Richtig ist doch aber auch, dass die (D) meisten betroffenen Menschen zum Glück Anträge ge- nicht wiederholen. stellt haben und der größte Teil der Rehabilitierungsan- Hinter Ihren Überlegungen steht in Wirklichkeit das träge abgearbeitet worden ist. Das war immer der Sinn Ziel, auf dem Rücken der Opfer der SED-Diktatur eine der Gesetzgebung und das Interesse aller Fraktionen im Auseinandersetzung mit der Bundesregierung und mit Deutschen Bundestag. den Koalitionsfraktionen zu führen. Das ist der eigentli- Wir haben heute also den Sachverhalt zu verzeichnen, che Hintergrund Ihres Agierens. dass die meisten Anträge abgearbeitet sind und wir mit dem Zweiten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungs- (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist eine Un- rechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfol- terstellung!) gung in der DDR aus dem Jahre 1999 die offensichtli- Ich sage dazu ganz pointiert: Das ist doppelzüngig, weil chen Defizite Ihrer Gesetzgebung – da schaue ich einmal Sie nach dem eigenen Versagen in der Rehabilitierungs- ganz bewusst in Richtung FDP; die FDP hatte damals ja gesetzgebung jetzt die rot-grüne Bundesregierung und die Verantwortung im Justizministerium – beseitigt ha- die Koalitionsfraktionen gegen die Opfer und ihre Ver- ben. Ich erinnere an die einheitliche Erhöhung der Haft- bände ausspielen wollen. Aber wir waren es – ich wie- entschädigung auf 600 DM, an die Einführung sozialer derhole das –, die Ihre Fehler in der Rehabilitierungsge- Ausgleichsleistungen für nächste Angehörige von Hin- setzgebung bereinigt haben. gerichteten, an der Mauer Umgekommenen oder an den Folgen der politischen Haft Verstorbenen und an die Zum Schluss möchte ich versuchen, einen Konsens zu deutliche Aufstockung der finanziellen Mittel für die finden. Ein positives Signal zu Ihrem Antrag kann es aus Stiftung für ehemalige politische Häftlinge. der heutigen Debatte und den weiteren Erörterungen in den Ausschüssen nur dann geben, wenn die gesamte Ge- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: sellschaft – insbesondere die Verantwortlichen in den Die ihr jetzt abwickeln wollt!) Schulen und anderen Bildungseinrichtungen – die – Herr Büttner, 300 000 DM unter Ihrer Regie stehen Geschichte des Widerstandes gegen die SED-Diktatur 1,5 Millionen DM pro Jahr unter unserer Verantwortung wach hält. Das Schicksal der Opfer darf nicht vergessen gegenüber. werden. Wir müssen aus dieser geschichtlichen Erfah- rung ableiten, dass Freiheit und Demokratie in Deutsch- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE land am besten dadurch verteidigt werden, dass sich GRÜNEN]: Was ist mehr: 300 000 oder möglichst viele Menschen in unserem Gemeinwesen 1,5 Millionen?) engagieren, sich auch an Wahlen beteiligen und gegen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10407

Hans-Joachim Hacker (A) jegliche Erscheinungsformen von Intoleranz und Demo- Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion ein drittes (C) kratiefeindlichkeit zusammenstehen. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vorgelegt, das eine monatliche Rente in Höhe von 500 Euro für die Opfer Vielen Dank. politischer Verfolgung vorsieht. Leider haben sich die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Koalitionsfraktionen nicht zu dieser unbürokratischen DIE GRÜNEN) Hilfe für die Opfer durchringen können. Die FDP lässt sich jedoch nicht entmutigen. Wer Wi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: derstand gegen das SED-Unrechtsregime geleistet und Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDP- für Demokratie und Freiheit erhebliche persönliche und Fraktion. soziale Nachteile in Kauf genommen hat, muss heute in vielen Fällen mit einer spärlichen Mindestrente auskom- men. Das empfinden wir als ungerecht. Klaus Haupt (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der 17. Juni 1953 präsentierte der gesamten Weltöffent- lichkeit die brutale Gewalttätigkeit der zweiten deut- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schen Diktatur. Der 17. Juni ist ein Tag, an dem wir alle Herr Kollege Haupt, gestatten Sie eine Zwischenfrage uns daran erinnern, dass die DDR nicht so war, wie es des Kollegen Hacker? heute in vernebelnder und verklärender Ostalgie in Fern- sehsendungen, in Filmen und auf Veranstaltungen oft Klaus Haupt (FDP): scheint. Ja, bitte. „Zur Zukunft gehört die Erinnerung“ war deshalb Motto eines gestern abgeschlossenen Pilotprojektes in Hans-Joachim Hacker (SPD): meiner Heimatstadt Hoyerswerda, das ich in Zusam- Herr Haupt, mir liegen das Schicksal und die soziale menarbeit mit den Schulen und anderen Verbündeten Situation der Opfer der SED wie Ihnen am Herzen. Ich initiiert hatte. Es ermöglichte gerade jungen Menschen, möchte Sie trotzdem etwas fragen. Es ist bekannt, dass eine Zeit kennen zu lernen, die sie selbst nicht kennen die Opfer der NS-Diktatur nicht schon für die Zeit der gelernt haben. Ein halbes Jahr lang konnten die Schüle- Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern Renten- rinnen und Schüler durch Gespräche mit Zeitzeugen, ei- ansprüche erworben haben, sondern nur dann, wenn sie nen Projekttag im Bautzener Staatssicherheitsgefängnis, in ihrer Gesundheit geschädigt wurden oder einen ganz ein Theaterstück und eine Diskussionsveranstaltung mit konkreten Nachweis führen konnten. Ich möchte wissen: (B) authentische Einblicke in die jüngste Wie können Sie es vertreten, hier für eine Opfergruppe (D) Vergangenheit gewinnen. Gestern fand dieses Projekt eine pauschale Rente zu fordern, während Sie einer an- seinen Abschluss in Gesprächen mit zwölf Opfern der deren Opfergruppe diese nicht zugestehen? DDR-Staatssicherheit. Alle Beteiligten waren sich einig, dass dieses bis jetzt einmalige Modellprojekt in ganz Klaus Haupt (FDP): Deutschland Nachahmung finden sollte. Denn: Die Kollege Hacker, gestatten Sie mir eine erste Bemer- junge Generation ist zwar nicht verantwortlich für die kung. Ich finde alle Versuche, die einen Opfer gegen die Vergangenheit, aber verantwortlich für das, was in der anderen auszuspielen, schäbig. Sie versuchen das in Ih- Zukunft kommt. ren Argumentationen jedoch immer wieder. Aufklären statt verklären ist notwendiger denn je. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute So ist der 17. Juni auch ein Tag, um den Blick nach Kumpf [SPD]: Das ist zynisch!) vorne zu richten. Hierzu gehört es – darauf hat Bundes- präsident Rau zu Recht hingewiesen –, den Opfern des Meine zweite Bemerkung. Unser Antrag sah eine un- SED-Unrechts rechtliche Rehabilitierung und mate- bürokratische Vorgehensweise vor, rielle Entschädigung zukommen zu lassen. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNISS 90/ Das vereinte Deutschland hat sich dieser Aufgabe ge- DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um Bürokratie, stellt, sie aber noch nicht zu Ende geführt. Durch ver- sondern um Gerechtigkeit!) schiedene Gesetze haben wir seit 1992 versucht, den Op- weil dieser Nachweis in der Praxis – das wissen Sie ganz fern des DDR-Unrechtsregimes zu helfen. Doch noch genau – nicht so einfach zu führen und juristisch höchst immer warten Opfer politischer Verfolgung auf eine an- problematisch ist. Deshalb versuchen wir mit unserem gemessene finanzielle Wiedergutmachung für erlittenes Antrag, den direkt Betroffenen – sie sind im Renten- Leid. alter – mit einer unbürokratischen 500-Euro-Entschädi- (Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist es!) gung zu helfen. So einfach ist das. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das beantwor- 28. April 1999 hat sich die Gerechtigkeitslücke zwi- tet meine Frage aber nicht!) schen Verfolgten und Verfolgern weiter vergrößert. – Damit müssen Sie leben, nicht ich. (Beifall des Abg. Hartmut Büttner [Schöne- Die FDP unterstützt daher den vorliegenden Antrag beck] [CDU/CSU]) der Union. Er hält die Erinnerung an den 17. Juni 10408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Klaus Haupt (A) 1953 wach und das Thema der Rehabilitierung und Ent- – Der Einigungsvertrag ist die Grundlage dieser Ge- (C) schädigung der Opfer der SED-Diktatur auf der Tages- richtsurteile ordnung. Wir alle müssen uns dieser Aufgabe jährlich (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: aufs Neue stellen. Das sind wir den Opfern, aber auch Das ist unglaublich!) unserem demokratischen Rechtsstaat schuldig; denn zur Zukunft gehört die Erinnerung. und dafür tragen Sie die Verantwortung. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Was sagt der Koalitionspartner dazu? Sie ent- weihen den 17. Juni!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn Während Ihrer Regierungszeit und danach haben Sie von Bündnis 90/Die Grünen. nichts, nicht einmal das Mögliche für die Opfer getan. Ich will Ihnen sagen, was Rot-Grün getan hat. Wir haben als Erstes die Haftentschädigung, die Sie jahrelang auf Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE unterstem Niveau gehalten haben, verdoppelt. Die ande- GRÜNEN): ren Punkte hat Herr Hacker gut benannt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erin- nere mich noch daran, dass wir am 17. Juni des letzten Wir sollten es einmal auf den Punkt bringen: Sie ma- Jahres anlässlich des 50. Jahrestages hier eine sehr be- chen mit dem Thema den Versuch eines Kulturkamp- wegende Gedenkveranstaltung durchgeführt haben. fes, den Sie aber nicht offen auszutragen wagen, im Ge- Wenn ich mir heute die Reihen und den Rahmen dieser genteil. Lesen Sie doch einmal nach, was Herr Debatte anschaue und die heutige Berichterstattung der Marschewski so offen in den Postillen der Vertriebenen- Medien werte, komme ich zu dem Schluss, dass wir zur verbände sagt. Ihm geht es darum, eine Besserstellung Kenntnis nehmen müssen, dass der 51. Jahrestag des der SED-Opfer gegenüber den Nazi-Opfern durchzuset- 17. Juni 1953 nicht die gleiche Würdigung erfährt und zen. ihm nicht die gleiche Wichtigkeit eingeräumt wird. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Ich bedanke mich deswegen noch einmal ausdrück- Das ist Quatsch! Eine Gleichstellung!) lich bei meinem FDP-Kollegen, weil er hier die vielen Das ist mit Rot-Grün nicht zu machen. kleinen Veranstaltungen, die im Lande stattfinden, ins Gedächtnis gerufen und bekannt gemacht hat. Ich habe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im letzten Jahr in meiner Rede darauf aufmerksam und bei der SPD) (B) (D) gemacht, dass der 17. Juni ein gesamtdeutscher Ich finde es gut, dass Sie sich nicht trauen, hier im Deut- Gedenktag ist. Es ist wichtig, der jüngeren Generation schen Bundestag diesen Kulturkampf offen auszutragen. bewusst zu machen, dass der 17. Juni ein wichtiges Sie wissen, Sie würden ihn gesellschaftlich verlieren. gesamtdeutsches Datum ist, weil mutige Menschen ge- gen Unterdrückung und Diktatur aufgestanden sind. Ich Danke schön. halte den Antrag der Union daher eher für eine Entwür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN digung als für eine Würdigung des 17. Juni. und bei der SPD – Hartmut Büttner [Schöne- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist ungeheu- beck] [CDU/CSU]: Das ist würdelos, was Sie erlich!) gemacht haben!) Diesen Gedenktag in diesem Haus zu einem Berichtstag der Bundesregierung zu degradieren, das halte ich für zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wenig. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Was haben Sie denn gemacht?) Arnold Vaatz (CDU/CSU): Herr Hacker hat sehr gut darauf hingewiesen – ich Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und neige dazu, das etwas zuzuspitzen –, dass hier Gerichts- Herren! Ich betrachte es als unangemessen, auf das Ge- urteile, die natürlich von manchen als Ungerechtigkeit rede der Kollegin Stokar von einem angeblichen Kultur- empfunden werden, weil die Renten der ehemaligen kampf einzugehen. SED-Mitglieder erhöht werden und es den Opfern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schlecht geht, von Ihnen bedauert werden. Dann müssen Sie aber auch sagen, dass man für die Grundlage dieser Denn das wäre in der Tat eine Demütigung der Men- Gerichtsurteile nicht die Gerichte schelten kann; denn schen, die in ihrem Leben viel riskiert und viel verloren die Grundlage haben Sie in Ihrer Verantwortung im Eini- haben und sich heute nicht genügend rehabilitiert sehen. gungsvertrag gelegt. Es ist nicht allein der Eindruck der Kollegin Michalk, (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: nicht allein der Eindruck des Kollegen Haupt und nicht Das war der gesamte Deutsche Bundestag! allein mein Eindruck, dass auf die Frage, ob das Thema Das ist eine Unverschämtheit! SPD genauso der angemessenen Entschädigung und angemessenen wie Union und die FDP!) Würdigung der Opfer des DDR-Regimes zu den Akten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10409

Arnold Vaatz (A) gelegt werden kann oder nicht, eindeutig mit Nein geant- wäre im Jahr 1991 gut gewesen, sei heute aber verspätet, (C) wortet werden muss. dann kann ich Ihnen nur sagen: Der Herr Bundespräsi- dent stellt fest, dass die Frage nicht verspätet ist. Sie ist Ich darf ein Zitat des Herrn Bundespräsidenten hinzu- aktuell. Heute ist es noch nötiger als damals, zu fragen, fügen. Er hat vor einigen Tagen – nicht vor einem Jahr – ob die Maßnahmen, die der Deutsche Bundestag im gesagt: Laufe der Zeit getroffen hat, nun, 15 Jahre nach der Wie- Den Opfern des DDR-Regimes muss materielle und dervereinigung, hinreichend gewesen sind oder nicht. immaterielle Anerkennung zuteil werden. Auch ein Damals trat es offen zutage. Jahr später bleibe ich dabei, dass da manches hinter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem zurückgeblieben ist, was wir uns unter Gerech- tigkeit vorstellen. Frau Stokar von Neuforn, wenn Sie meinen, dass ein Berichtsgegenstand – ein Sachgegenstand oder eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gruppe von Personen – dadurch entwürdigt wird, dass Das ist der Anlass unserer heutigen Debatte. Wir sind im Bundestag über ihn berichtet wird, dann frage ich Sie dem Herrn Bundespräsidenten dafür dankbar, dass er nach Ihrer Auffassung zu diesem Haus. sich überhaupt dazu geäußert hat. Wir hätten es gern ge- sehen, wenn es nicht die einzige vernehmbare Stimme (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE aus dem rot-grünen Lager gewesen wäre, die diese GRÜNEN]: Sie haben das nicht verstanden! Worte sagt und diese Ansicht teilt. Der 17. Juni ist mehr als ein Bericht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der – Niemand bestreitet, dass er mehr ist. Wir erheben kei- FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir ha- nen Absolutheitsanspruch. Das sollten wir uns gegensei- ben gehandelt, Herr Vaatz! – Gegenruf des tig auch nicht unterstellen. Abg. Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/ (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNISS 90/ CSU]: Quatsch!) DIE GRÜNEN]: Dann sollten Sie nicht so ei- Es ist unserem Antrag zu verdanken, dass wir heute, nen Quatsch erzählen!) am 51. Jahrestag des 17. Juni, in diesem Haus über- Der Staat kann nicht in Gestalt seines Bundespräsi- haupt über dieses Thema – über die Gedenkrede des denten Mängel bei den rechtlichen Rehabilitierungen Herrn Bundestagspräsidenten hinaus – politisch debat- feststellen und in Gestalt seines Parlaments die Beseiti- tieren. gung dieser Mängel ablehnen. Das wird von den Betrof- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fenen als Heuchelei empfunden und untergräbt die Iden- (B) tifikation mit unserer Demokratie. (D) Dies allein ist schon eine Aufgabe, die wir als Bundestag haben. Denn wir haben gegenüber der jungen Genera- Lieber Herr Hacker, Sie betonen, wir seien für diese tion die Verpflichtung, das Erinnern an diesen Tag wach Defizite verantwortlich, weil wir es während unserer Re- zu halten und den Menschen zu zeigen, dass ihr Einsatz gierungszeit verbockt hätten. Dazu sage ich Ihnen ers- uns noch heute wichtig ist. Schon allein dafür ist eine tens, dass wir von diesem Pult aus schon mehrfach ein- solche Debatte notwendig, geräumt haben, dass wir keine endgültige Lösung dieser Angelegenheit gefunden haben. Zweitens. Es dürfte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- selbstverständlich sein, dass es der Anspruch einer nach- neten der FDP) folgenden Regierung sein muss, die von der Vorgänger- ganz abgesehen davon, dass wir, wie der Herr Bundes- regierung hinterlassenen ungelösten Fragen zu klären. präsident richtig erkannt hat, auch noch eine ganze (Beifall bei der CDU/CSU) Reihe von Gerechtigkeitsdefiziten zu besprechen ha- ben. Wenn Sie tatsächlich der Meinung sind, dass es eine Fehlleistung unsererseits gewesen sei, dieses Problem Herr Stolpe – lassen wir einmal die Frage beiseite, ob nicht gänzlich zu lösen, dann frage ich Sie, weshalb Sie er heute wirklich der geeignetste Vertreter der Bundesre- es nicht tun. gierung bei der Opferehrung in Berlin-Wedding war; im- merhin hat er den Takt besessen, nicht alle seine Orden (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das haben wir anzulegen, die er im Laufe seines Lebens errungen hat – doch 1999 gemacht!) hat die berechtigte Frage gestellt, wie wir denn in Zu- kunft den 17. Juni in der Erinnerung der deutschen Öf- Jetzt kommen wir zu der Frage, wie Sie es getan ha- fentlichkeit wach halten wollen. Diese Frage haben auch ben. Sehr geehrter Herr Hacker, ich erinnere mich noch wir uns gestellt. Wir finden, wie ehrlich die Würdigung sehr gut an Ihre Ausführungen, in denen Sie darauf hin- der Aufständischen des 17. Juni voriges Jahr wirklich wiesen, dass die Stiftungen dazu ausersehen seien, die gewesen ist, hat etwas mit den Lebensumständen zu tun, entstandenen Härten zu beseitigen. Das war ein Lippen- die unser Staat ihnen heute einräumt. bekenntnis. Kurz darauf hat das Bundesinnenministe- rium bei der Stiftung nämlich eine Deckungslücke von Deshalb fordern wir von der Bundesregierung, jähr- knapp 4 Millionen Euro festgestellt und die Auflösung lich zum 17. Juni einen Bericht zur Aufarbeitung des dieser Stiftung bis zum Jahr 2005 angeregt. Das ist die DDR-Unrechts und zur Lage der Opfer vorzulegen. Realität Ihrer Alternativen. Das sollte man der Öffent- Herr Hacker, wenn Sie sagen, ein solcher Berichtsantrag lichkeit in aller Deutlichkeit sagen. 10410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Arnold Vaatz (A) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Nehmen Sie Rainer Funke (FDP): (C) die Zahlen zur Kenntnis!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist eine Binsenweisheit, dass die Zahl der Telefonüberwa- Das ist aber noch nicht alles. Herr Stolpe hat heute ge- chungen jährlich kontinuierlich steigt. sagt, die Demonstranten des 17. Juni und die Träger der Revolution von 1989 seien eine Einheit gewesen. Ange- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sichts der Tatsache, dass die Mittel der Stiftung zur Auf- GRÜNEN]: Leider!) arbeitung der SED-Diktatur gekürzt werden sollen und – Herr Ströbele, Sie haben Recht. – Schon seit einigen auch die Projekte zum 15. Jahrestag der Revolution von Jahren fragt mein Kollege Jörg van Essen regelmäßig die 1989 infrage stehen, frage ich Sie, ob die Einheit viel- aktuellen Zahlen bei der Bundesregierung nach. Die leicht darin besteht, dass Sie das Gedenken an beide Ergebnisse sind erschreckend: Im Jahre 2001 gab es eine Ereignisse nach Möglichkeit unterbinden wollen, indem Zunahme um 15,4 Prozent, im Jahre 2002 eine weitere Sie die finanziellen Mittel zur Aufrechterhaltung der Zunahme um 7 Prozent. Ich will deutlich machen, dass Erinnerung an diese Ereignisse kürzen. die Telefonüberwachung ein wichtiges Instrument zur (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei effizienten Bekämpfung der Kriminalität ist. Gerade der SPD) bei schweren Verbrechen hat es sich ausgezahlt, dass die staatlichen Strafverfolgungsbehörden die Kommunika- tion Verdächtiger überwachen können. Die Telefonüber- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wachung hat sich insbesondere bei der Bekämpfung der Herr Kollege Vaatz, Ihre Redezeit ist zu Ende. organisierten Kriminalität und der Drogenkriminalität (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Vaatz, man durchaus bewährt, da in diesem Bereich aufgrund seiner kann Sie doch nicht mehr ernst nehmen!) Strukturen auf konventionelle Weise schwer zu ermitteln ist. Arnold Vaatz (CDU/CSU): (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Ganz herzlichen Dank. – Ich kann Sie nur auffordern, Wir haben jedoch sicherzustellen, dass die Anord- die Angelegenheit richtig zu stellen. Nehmen Sie unse- nung der Telefonüberwachungsmaßnahmen rechts- ren Berichtsantrag an und erklären Sie öffentlich, wie staatlich einwandfrei erfolgt. Sie sich Erinnerungskultur und ihre Unterstützung durch die Regierung in der Bundesrepublik Deutschland (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE vorstellen. GRÜNEN]: Das stimmt!) Davon kann wenigstens zurzeit in keiner Weise die Rede (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (D) ruf von der SPD: Unseriös!) sein; auch da müssen Sie, Herr Ströbele, sagen: Das stimmt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ich schließe die Aussprache. Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2818 an die in der Tagesordnung aufge- Seit vielen Jahren fordert daher die Bundestagsfraktion führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- der FDP die Bundesregierung auf, die notwendigen Re- rung beim Rechtsausschuss liegen soll. Sind Sie damit formen bezüglich der Telefonüberwachung vorzuneh- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- men. Auch Herr Bachmaier war immer derselben Mei- sung so beschlossen. nung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: (Hermann Bachmaier [SPD]: Ist es nach wie vor!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Die Bundesregierung hat daraufhin regelmäßig vorge- Abgeordneter und der Fraktion der FDP tragen, dass zunächst die Ergebnisse eines Gutachtens des Max-Planck-Instituts abgewartet werden sollen. Rechtsstaatlichkeit der Telefonüberwachung sichern (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) – Drucksache 15/1583 – – Das stimmt, Herr Ströbele: Dem haben auch wir uns Überweisungsvorschlag: angeschlossen. Rechtsausschuss (f) Innenausschuss (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die NEN]: Richtig!) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Nun liegt das Gutachten seit über einem Jahr vor und FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- auch ein weiteres Gutachten der Universität Bielefeld derspruch. Dann ist das so beschlossen. liegt vor. Doch geschehen ist bis heute nichts. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Rainer Funke, FDP-Fraktion. GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10411

Rainer Funke (A) – Auch das stimmt! Die liberale Rechtsstaatspartei FDP fordert die Bun- (C) desregierung daher auf, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles andere hat gestimmt, aber (Joachim Stünker [SPD]: Das spüren wir täg- das war falsch! – Jerzy Montag [BÜND- lich!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt hört’s auf!) die gesetzlichen Voraussetzungen für Anordnung und Jetzt bin ich natürlich sehr gespannt. Vielleicht sagen ja Dauer der Telefonüberwachung in der Strafprozessord- Sie, Herr Kollege Bachmaier, in Ihrer nachfolgenden nung zu konkretisieren und endlich einen entsprechen- Rede: „Wir werden in den nächsten Wochen einen Ge- den Entwurf vorzulegen. Insoweit ist die Diskussion, die setzentwurf einbringen.“ – Dann würden wir uns freuen. wir heute über unseren Antrag führen, eine – wie ich glaube – nützliche Diskussion, weil sie Sie nicht nur an- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE regen, sondern vielleicht auch dazu treiben wird, endlich GRÜNEN]: Ja, eben!) den geforderten Gesetzentwurf vorzulegen. Dann muss die richterliche Anordnung der Telefon- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE überwachung aber unter Berücksichtigung rechtsstaat- GRÜNEN]: Das stimmt jetzt nicht!) licher Gesichtspunkte erfolgen und es muss eine richter- liche Überprüfung der Anordnung möglich sein. Nach Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dem Gutachten des Max-Planck-Instituts wird ja schlicht (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Petra Pau das Formular genommen und angekreuzt, aber keine [fraktionslos]) vernünftige Begründung für die Anordnung gegeben (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: GRÜNEN]: So ist es!) Danke schön. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Bachmaier. und der Bürger von der Abhörung auch im Nachhinein nicht informiert. Nur bei einem Drittel der Akten gibt es überhaupt Hinweise darauf, dass darüber nachgedacht Hermann Bachmaier (SPD): worden ist, eine Benachrichtigung vorzunehmen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Funke, es freut uns, wenn die FDP ihre zeitweise kräftig All das zeigt, wie wichtig es wäre, hier eine gesetzli- verschütteten rechtstaatlichen Traditionen wiederent- che Grundlage zu schaffen, die Sie, bislang wenigstens, deckt. nicht geschaffen haben, (Rainer Funke [FDP]: Bei mir ist noch nie was (B) (Beifall bei der FDP) verschüttet gewesen! Das wissen Sie ganz ge- (D) nau!) obwohl Sie – wie wir in Hamburg sagen würden – seit Jahren dazu in der Lage gewesen wären. – Herr Funke, ich habe doch nicht von Ihnen gespro- chen. Hören Sie genauer hin! (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt wieder nicht!) Es ist unbestritten, dass wir die strafprozessualen Rahmenbedingungen für die Telefonüberwachung Die Bilanz von Rot-Grün der vergangenen Jahre im grundlegend neu regeln müssen; damit das gleich von Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Bürgerrechte vornherein klar ist. zeigt, dass die Bundesregierung keine großen Hemmun- gen hat, in die Freiheitsrechte der Bürger einzugreifen. (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Das hat sich in vielen Gesetzen gezeigt. Mehrere Untersuchungen – Sie sprachen davon –, vor al- (Joachim Stünker [SPD]: Jetzt reicht es aber, lem des Max-Planck-Instituts für Strafrecht und der Uni- Herr Funke! Also! – Hans-Christian Ströbele versität Bielefeld, belegen, dass die rechtsstaatliche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Kontrolle der Telefonüberwachung dringend verbessert Sie nicht sagen! Ungeheuerlich!) werden muss; das ist unbestritten. Auch das Bundesver- fassungsgericht hat in seinem Urteil zur Wohnraumüber- – Herr Stünker, ich will es Ihnen doch gerade begründen, wachung vom März dieses Jahres, das wir noch abge- deswegen unterbrechen Sie mich doch bitte nicht. Ich wartet haben, nochmals mit aller Klarheit deutlich nenne Ihnen Beispiele: bei der Änderung des G-10-Ge- gemacht, dass dem Schutz der Privatsphäre vor akusti- setzes, beim Terrorismusbekämpfungsgesetz und gerade schen Überwachungsmaßnahmen im Rechtsstaat Bun- in jüngster Zeit bei der Änderung des Telekommunika- desrepublik eine große Bedeutung zukommt. Das sind tionsgesetzes. Herr Stünker, Sie sind bei den Beratungen die Grundlagen. zum großen Teil nicht dabei gewesen, zum Beispiel be- züglich des Telekommunikationsgesetzes. Sie hätten mit Die Untersuchungen haben ergeben, dass vor dem Ihrer Fraktion dieses Telekommunikationsgesetz verhin- Hintergrund einer starken Zunahme der Telefonüberwa- dern können und müssen. chungsmaßnahmen auch immer mehr unbeteiligte Dritte in Mitleidenschaft gezogen werden und dass vor allem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die ermittlungsrichterliche Kontrolle nur äußerst unzu- der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele reichend wahrgenommen werden kann. Die richter- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber lichen Anordnungen ergehen in aller Regel formalis- gewagt!) tisch und sie gehen selten hinreichend auf den Einzelfall 10412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Hermann Bachmaier (A) ein. Die Richter haben auch keine Erfolgskontrolle bzw. (Rainer Funke [FDP]: Ach? Was tun Sie denn (C) Misserfolgskontrolle in dem notwendigen Maße. dagegen?) Der Straftatenkatalog des jetzigen § 100 a StPO ist – Langsam, ich sage es Ihnen doch gleich. – Meine hoch problematisch. Dieser Katalog wurde immer wie- Damen und Herren, die Regierungskoalition wird die be- der punktuell und anlassbezogen ergänzt. Inzwischen ist stehenden und festgestellten Mängel der Telefonüberwa- er in sich nicht mehr stimmig und gewährleistet nicht in chung aufgreifen und abstellen. Das Bundesjustizminis- hinreichendem Maße, dass die Überwachung tatsächlich terium und die Koalitionsfraktionen erarbeiten derzeit nur bei schweren Delikten zum Einsatz kommt. Es be- einen Gesetzentwurf zur Reform der strafprozessualen stehen auch Zweifel daran, dass die Telefonüberwa- Rahmenbedingungen für die Telefonüberwachung. Das chung nur dann angeordnet wird, wenn bestimmte Tatsa- Ziel dieses Entwurfes ist es, die in den Gutachten doku- chen den Verdacht auf eine der genannten Straftaten mentierte mangelnde rechtsstaatliche Kontrolle wieder nahe legen und – das ist das Entscheidende – andere Er- herzustellen. Sie sehen also, sehr geehrte Kolleginnen mittlungsmaßnahmen keinen Erfolg versprechen. Sie ist und Kollegen von der FDP, dass auch die von Ihnen mit also subsidiär einzusetzen. Die Pflicht zur nachträgli- dem heute in erster Lesung zu beratenden Antrag ange- chen Benachrichtigung von Abgehörten wird biswei- sprochenen Probleme bei der ins Auge gefassten Reform len sträflich vernachlässigt. Dies hat vielerlei Gründe, von zentraler Bedeutung sind. die hier noch nicht erörtert werden können, im Gesetzge- bungsverfahren aber erörtert werden müssen. (Rainer Funke [FDP]: Hic Rhodus, hic salta!) All diese rechtsstaatlichen Mängel sind umso bedenk- – Herr Funke, ich bin glaube, dass Schnellschüsse in die- licher, als die Telefonüberwachung in den letzten Jahren sem sensiblen Bereich niemandem dienen. Das Urteil stark zugenommen hat. Herr Funke hat darauf hingewie- des Bundesverfassungsgerichtes ist erst vor wenigen sen. Dies ist sicherlich zum Teil darauf zurückzuführen, Monaten ergangen. Schneller, als wir dies machen, kann dass sich die Zahl der neuen Telefonanschlüsse, insbe- dies niemand verantwortlich tun. sondere im Bereich der Mobiltelefone, in wenigen Jah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren vervielfacht hat. Das Telefon hat bei der Planung und DIE GRÜNEN) Organisation von Straftaten schon immer eine nicht un- erhebliche Rolle gespielt. Die Ermittler meinen nicht zu Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, Kri- Unrecht, dass sich diese Tendenz in den zurückliegenden terien für die Straftaten zu erarbeiten, bei denen im Rah- Jahren eher noch verstärkt hat. In einer wirksamen Tele- men der Ermittlung die Telefonüberwachung möglich fonüberwachung sehen sie deshalb den Schlüssel für sein soll. Eine in sich stimmige generelle Regelung wäre vernünftiger als der bestehende Straftatenkatalog mit (B) eine wirksamere Aufklärung von Straftaten. (D) seinen Unstimmigkeiten. Die festgestellten rechtsstaatlichen Mängel werden der Bedeutung des verfassungsrechtlich geschützten (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Fernmeldegeheimnisses nicht mehr hinreichend ge- GRÜNEN]: Hört! Hört!) recht. Das Abhören von Telefongesprächen ist ein Ich meine auch, dass wir auch dafür Sorge tragen soll- Grundrechtseingriff und deshalb keine Nullachtfünf- ten, dass die richterliche Kontrolle grundsätzlich von zehn-Ermittlungsmaßnahme. Richterinnen und Richtern wahrgenommen wird, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einschlägige Erfahrungen im Umgang mit einem derart DIE GRÜNEN) sensiblen Ermittlungsinstrument haben. Auch müssen die Belange der Zeugnisverweigerungsberechtigten und Telefone dürfen nur bei Delikten von erheblichem Berufsgeheimnisträger berücksichtigt werden und gesi- Gewicht, nur bei konkretisiertem Verdacht und nur dann, chert sein. Mit den konkreten Fragen werden wir uns in wenn andere Ermittlungsmaßnahmen keinen Erfolg ver- Kürze im Rahmen der Beratungen des Regierungsent- sprechen, überwacht werden. In diesen Fällen – dazu be- wurfes beschäftigen. kennen wir uns – brauchen wir allerdings die Telefon- überwachung zur effektiven Strafverfolgung. Ich jedenfalls freue mich, dass wir mit Ihnen, sehr ge- ehrte Damen und Herren von der FDP-Fraktion, bei der (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Also doch!) grundsätzlichen Beurteilung der zu klärenden Fragen ein hohes Maß an Übereinstimmung feststellen können. Ich Wenn diese Voraussetzungen aber nicht vorliegen, dann bin gespannt, ob dies bei der Realisierung unseres Ge- müssen wir uns darauf verlassen können, dass wir am setzgebungsvorhabens im selben Maße gewährleistet ist. Telefon ungestört, unüberwacht und frei miteinander re- Deshalb herzlichen Dank für Ihre Initiative, derer es aber den können. nicht bedurft hätte. Wir haben ohnehin bereits gehandelt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke DIE GRÜNEN) [FDP] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So weit kommt es noch!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn wir als Unbeteiligte dennoch abgehört werden, Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zeitlmann. müssen wir uns darauf verlassen können, dass wir zu- mindest nachträglich darüber benachrichtigt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10413

(A) Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): einer verringerten Kontrolldichte bei der Telefonüberwa- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und chung sprechen. Herren! Wir diskutieren über ein Papier der FDP, das (Rainer Funke [FDP]: Dann lesen Sie mal die mich aufgrund der Überschrift an Kubicki erinnert, was Gutachten!) aber zeitlich nicht hinkommt. – Ich habe die Gutachten schon gelesen, wenn auch viel- (Lachen des Abg. Joachim Stünker [SPD]) leicht nicht mit der Intensität wie Sie. Offensichtlich sucht die FDP neue Felder, um rechts- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE staatliches politisches Handeln einzufordern. GRÜNEN]: Es ist jedenfalls zu viel!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Eines habe ich mir geschworen: nie mehr einen Be- GRÜNEN]: Darüber freuen wir uns!) richt zu fordern. Wir haben uns einmal im Innenaus- Dazu sage ich: Die Problematik ist – das kann man schuss eine Übersicht geben lassen, wie viele Berichte gar nicht bestreiten – aufgrund dieses Gutachtens neu zu pro Jahr das Parlament nur im Bereich der Innenpolitik diskutieren. Es ist eindeutig, dass die Regierung am einfordert. Ich kam zu dem Ergebnis, dass keiner von Zuge ist, und wenn sie, wie die Bundesministerin in ei- uns diese Berichte auch nur im Ansatz gelesen haben nem Interview angedeutet hat, Handlungsbedarf sieht, kann. dann möge sie etwas vorlegen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Ulrich Heinrich [FDP]: Warum unterstellen GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Sie uns dann Profilierungssucht?) – Ich gebe gern zu, Ströbele, dass Sie ein genialer Be- – Ich unterstelle Ihnen nur insoweit Profilierungssucht, richtsleser sind. Alle meine selbstkritischen Äußerungen als ich dem Antrag wenig Bedeutsames entnehmen würde ich nie auf Sie ausdehnen. kann. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian (Lachen des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Entweder Sie sind der Auffassung, dass etwas im Argen liegt. Dann müssen Sie konkrete Vorschläge machen. Ich weiß, dass Sie ein fanatischer Aktenleser sind. Ich Oder Sie sind der Auffassung, dass die Situation nicht so mache aber ein großes Fragezeichen hinter die Frage, ob schlimm ist. Dann braucht man darüber nicht unter einer es sinnvoll ist, so viele Berichte anzufordern. Das gilt Überschrift zu debattieren, die den Eindruck erweckt, als insbesondere im Hinblick auf die von uns immer wieder geforderte Verschlankung des Staates. Es wäre einmal (B) ob die Rechtsstaatlichkeit nicht gesichert sei. (D) interessant, die Bundesregierung zu fragen, wie viel Ich habe nicht das Gefühl, dass das Urteil des Bun- Manpower in der Regierung nur mit der Erstellung von desverfassungsgerichts primär diesen Punkt betrifft. Berichten beschäftigt ist. Ich würde dann aber auch da- Man kann darüber streiten, ob neben dem großen rum bitten, dass wir ehrlich bekennen, wie viele von uns Lauschangriff auch die Telefonüberwachung gemeint ist. diese Berichte gelesen haben. Aber expressis verbis habe zumindest ich dazu im Urteil nichts gefunden. Aber bitte, wenn die Bundesregierung Ein Punkt ist mir allerdings aufgefallen: Das ist die eine andere Meinung hat und hier Handlungsbedarf weitergehende Begründungspflicht. Die FDP fordert, sieht, dann bin ich auf das gespannt, was kommt. dass die Dokumentation der Entscheidungsgründe über die Zulässigkeit der Telefonüberwachung verstärkt wer- Ich meine, dass sich die Telefonüberwachung, die im den muss. Dazu muss ich klar sagen, sie möge doch die Übrigen, wenn ich es richtig gesehen habe, 1968 ins Ge- Länderparlamente bemühen; denn die Dokumentations- setzblatt aufgenommen wurde, durchaus bewährt hat pflicht unterliegt der Rechtsaufsicht der Länder und ist und mit ihr viele Erfolge zu verzeichnen waren. Prakti- durch Bundesgesetz nicht zu ändern. ker halten sie für notwendig. Ich glaube, darüber brau- chen wir nicht zu diskutieren. Sie hat sich eindeutig be- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE währt. GRÜNEN]: Das ist das Problem! Das hat er gar nicht gesagt!) Bei dem Zahlenvergleich aber, Herr Kollege Funke, sollte man sich schon die Mühe machen, einmal gegen- Ich meine auch, dass man zumindest – Herr zurechnen, wie stark der Telefonverkehr angewachsen Bachmaier hat das schon angekündigt – den Straftaten- ist. In dem Gutachten des Max-Planck-Instituts werden katalog des § 100 a StPO daraufhin überprüfen muss, ob die Zweifel weniger an der Zahl der Überwachungen als vielleicht etwas darin fehlt. an Details wie der Dokumentation und der Entschei- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dungsgründe festgemacht. Ich glaube auch nicht, dass GRÜNEN]: Aha! – Jerzy Montag [BÜND- man in Zeiten steigender Kriminalität sagen kann, dass NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt habe ich ge- die Anzahl der Mittel, die die Polizei und die Sicher- hofft, dass Sie sagen, „dass man etwas strei- heitsorgane zur Verfügung haben, automatisch auch stei- chen kann“!) gen muss. Ich schätze, dass sich die Zahl der Telefon- nummern aufgrund der verstärkten Handynutzung allein Die Argumentation, dass es Straftaten gibt, die in der in diesem Lande – ich weiß es nicht – verzehnfacht oder Vergangenheit statistisch kaum einen Anlass für eine Te- verzwanzigfacht hat. So gesehen könnte man eher von lefonüberwachung gaben, überzeugt mich noch nicht. 10414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Wolfgang Zeitlmann (A) Wir haben viele Straftatbestände, die nicht sehr häufig Zustimmung, Herr Funke. Wir glauben vielmehr, dass es (C) vorkommen und trotzdem nicht aus dem Strafgesetzbuch um eine Stärkung der Sicherheitsorgane geht statt um herausgenommen werden. Das Gleiche würde ich für die ihre Schwächung. Telefonüberwachung in Anspruch nehmen. (Rainer Funke [FDP]: Alles andere hätte ich Erklären Sie mir einmal, wieso zum Beispiel Verbre- mir auch nicht vorstellen können!) chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch nicht in dem Katalog Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. enthalten sind. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine berechtigte Frage!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die besonders schweren Fälle des Betrugs, des Compu- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian terbetrugs, des Subventionsbetrugs und des Bankrotts Ströbele. sind ebenfalls nicht enthalten, weiterhin Korruptionsde- likte, Vorteilsannahme, Bestechlichkeit und Vorteilsge- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE währung. Dasselbe gilt für alle Formen des sexuellen GRÜNEN): Missbrauchs von Kindern, für alle Formen des schweren Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Menschenhandels sowie des Umgangs mit kinderporno- gen! Herr Kollege Funke, wir freuen uns natürlich über graphischen Schriften nach § 184 b Abs. 1 Strafgesetz- Ihren Antrag. Wenn wir in der Opposition wären, dann buch. Da gibt es Lücken. hätten wir zumindest, was den ersten Teil des Antrags (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE angeht – die Forderungen im zweiten Teil nehme ich da- GRÜNEN]: Ja!) von aus –, im Deutschen Bundestag möglicherweise ei- nen ähnlichen Antrag eingebracht. Ich diskutiere sofort mit Ihnen darüber, wo man etwas streichen könnte. Aber – darin unterscheiden wir uns von Ihnen – wir stellen die Regierung; wir gehören einer Regierungskoa- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE lition an. Deshalb bringen wir keine Anträge ein, in de- GRÜNEN]: Genau!) nen die Bundesregierung aufgefordert wird, zu handeln, Damit habe ich kein Problem. sondern wir handeln selber. Bei der Benachrichtigungspflicht aber sollte man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Kirche im Dorf lassen. Die Gefahr, dass wir uns um sowie des Abg. Joachim Stünker [SPD] – La- (B) (D) fremde Sachen kümmern, ist doch sehr groß. Im Gutach- chen bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der ten des Max-Planck-Instituts wird aufgeführt, dass in FDP) 15 Prozent der Fälle zu dürftig begründet wird. Ich halte Wir sind schon lange in dem Bereich tätig, um den es diese Zahl vor allem unter Berücksichtigung der richter- hier geht. Insofern habe ich mich über Ihre Rede geär- lichen Unabhängigkeit nicht für ein so gravierendes Pro- gert. Sie haben ausgeführt, dass die Bundesregierung blem, das – dies wurde hier so dargestellt – eine gesetzli- nichts macht. Ich habe mich bei dieser Bemerkung ge- che Änderung erfordert. fragt, ob Ihnen wirklich entgangen ist, wie viele Stunden Ich schlage zusammenfassend vor: Lassen Sie uns des vergangenen Jahres wir nach meiner Erinnerung ge- bitte alles überprüfen, aber lassen Sie uns gerade in einer rade den §100aStPO beraten haben. Denn auch wir Zeit, in der die Kriminalität zunimmt und in der die Ter- haben schon erkannt – übrigens schon, bevor das Gut- rorismusbekämpfung im Vordergrund steht, das Mittel achten des Max-Planck-Instituts vorlag –, dass Defizite der Telefonüberwachung schärfen, statt es zu schwä- vorhanden sind und Handlungsbedarf besteht. Wir haben chen. Ich fürchte, dass in diesem Hause – ich denke da- aber den Standpunkt vertreten, dass wir – wenn schon bei insbesondere an Herrn Ströbele – eher angestrebt ein solches Gutachten in Auftrag gegeben worden ist – wird, das Mittel stumpf zu machen. das Ergebnis abwarten sollten, weil wir damit die nötige Sachkenntnis erlangen, um das Richtige zu tun. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Ungeheuerlich!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das sollten Sie mal öfter tun!) – Ich bin von Ihnen vieles gewöhnt, Herr Ströbele. Meine erste schriftliche Ausarbeitung der Vorschläge Ich glaube, dass wir unsere Mittel zur Bekämpfung der Grünen dazu datiert nicht vom 24. September ver- der Kriminalität eher schärfen müssen, als sie zu schwä- gangenen Jahres wie Ihr Antrag, sondern vom 24. Januar chen. Ich habe die Hoffnung, dass diese Debatte dazu vergangenen Jahres. führt, dass intensiver über die Möglichkeiten nachge- dacht wird, wie wir unserer Polizei im Kampf gegen die (Rainer Funke [FDP]: Was hat das genutzt?) Kriminalität behilflich sein können. Dann wäre sie ein Damals haben wir uns erstmals Gedanken zu dem Erfolg. Thema gemacht, die wir schriftlich festgehalten und zu Das Stumpfmachen unserer Mittel zugunsten eines diskutieren begonnen haben. Aber das Problem ist nicht weiteren Aufweichens und einer weiteren Liberalisie- so leicht zu lösen, Herr Funke. Das ist auch Ihrem An- rung der bestehenden Regelungen findet nicht unsere trag zu entnehmen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10415

Hans-Christian Ströbele (A) Die heutige Diskussion hat gezeigt – insofern bin ich wechseln, die bisher nicht begründet haben? Wie wollen (C) dem Kollegen Zeitlmann sehr dankbar –, dass schon Sie das machen? Wir, der Gesetzgeber, müssen darüber über den ersten Punkt Ihres Forderungskatalogs lange nachdenken, wie wir garantieren können, dass tatsäch- und intensiv diskutiert werden kann. Auf der einen Seite lich das gemacht wird, was gesetzlich festgelegt ist, das hat der Kollege Zeitlmann festgestellt – etwas anderes heißt, wie wir eine richterliche Zuständigkeit schaffen haben wir von ihm auch nicht erwartet –, dass in können, die das garantiert, und welche Konsequenzen es § 100 a StPO eine ganze Reihe von Straftatbeständen möglicherweise haben wird, wenn der Benachrichti- nicht aufgeführt sind. Es gibt Straftatbestände, über die gungs- und der Begründungspflicht nicht nachgekom- man in der Tat reden kann, wie die Aufstachelung zum men wird. Das ist ein ganz schwieriges Kapitel, über das Angriffskrieg und Ähnliches. wir auch lange diskutiert haben. Auf der anderen Seite meinen Sie, Herr Funke, dass Nun komme ich zum letzten Punkt. Sie sagen eben- eine ganze Reihe von Straftatbeständen in § 100 a falls völlig zu Recht – hier stimmen wir überein; ich StPO gestrichen werden kann. Sie sagen aber nicht – das sehe das völlig anders als der Kollege Zeitlmann, weil nehme ich Ihnen ein bisschen übel –, welche Straftatbe- ich diese Berichte auch lese –: Wir wollen mindestens stände Sie im Einzelnen streichen wollen. Machen Sie jedes Jahr einen Bericht der Bundesregierung dazu ha- doch einmal, so wie es Herr Zeitlmann getan hat, den ei- ben. Aber, Herr Kollege Funke – hier hat Herr Zeitlmann nen oder anderen Vorschlag! Sagen Sie doch auch, wel- wieder Recht –, solche Berichte kann die Bundesregie- che Straftatbestände Sie in § 100 a StPO aufnehmen rung nicht von sich aus erstellen. Hier ist sie vielmehr wollen! Denn an diesem Punkt müssen Sie Farbe beken- dringend darauf angewiesen, dass die Bundesländer die nen. Sie können nicht nur Forderungen in die Welt set- entsprechenden Daten liefern; denn die Daten stammen zen, sondern Sie müssen auch angeben, an welcher fast ausschließlich von den Justizverwaltungen der Bun- Stelle die Regelungen ausgeweitet oder eingeschränkt desländer. Die Erstellung des angesprochenen Gutach- werden sollen. tens durch das Max-Planck-Institut hat unter anderem deshalb so lange gedauert, weil die entsprechenden Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten zurückgehalten worden sind. und bei der SPD) Allein über diese Frage kann sehr lange und intensiv dis- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kutiert werden. Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. Nachdem wir gemerkt haben, dass dieses Problem sehr schwer zu lösen ist, haben wir versucht, eine grund- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) sätzliche Regelung zu finden, damit wir nicht alle Jahre (D) wieder von Herrn Zeitlmann oder wem auch immer ge- Frau Präsidentin, mein letzter Satz. – Herr Kollege mahnt werden, einen Straftatbestand mit aufzunehmen, Funke, deshalb hoffe ich auf Unterstützung Ihrer Frak- während von den Grünen oder von wem auch immer ge- tion und insbesondere derjenigen Bundesländer, in de- fordert wird, den einen oder anderen Straftatbestand he- nen die Freien Demokraten mitregieren, im Bundesrat, rauszunehmen. Darüber debattieren wir noch. Aber ich wenn wir jetzt einen Gesetzentwurf auf den Weg brin- glaube, dass wir bereits eine Lösung gefunden haben, gen, in dem wir ganz genau die Berichtspflicht der Jus- über die Sie mit uns sehr bald diskutieren können. tizverwaltungen der Bundesländer, wann sie welche Da- ten zu liefern haben, festlegen. Wenn Sie uns hier Herr Kollege Funke, genauso verhält es sich mit dem unterstützen würden, wäre das ein hervorragender anderen Punkt, den Sie anmahnen. Sie haben völlig Schritt. Dann hätte sich die heutige Debatte gelohnt. Recht: Es geht nicht an, dass Richter – obwohl es im Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setz anders steht – ihre Entscheidungen nicht begründen und bei der SPD – Rainer Funke [FDP]: Da oder dass sie das Ganze mit einem Formelsatz, der zur haben Sie selbstverständlich unsere Unterstüt- Sache selber nichts enthält, abhandeln, der meistens zung!) noch nicht einmal von ihnen, sondern von der Staats- anwaltschaft stammt und den sie einfach nur unterschrei- ben. So geht es nicht weiter. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau. Wir wollen auch – das steht schon heute im Gesetz –, dass die Betroffenen einer Überwachung anschließend Petra Pau (fraktionslos): benachrichtigt werden, damit sie von ihren rechtsstaatli- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen Befugnissen Gebrauch machen können, nachträg- Die Zahl der Telefonüberwachungen hat in den zurück- lich überprüfen zu lassen, ob die Abhörmaßnahme in liegenden Jahren drastisch zugenommen. Binnen fünf Ordnung war oder ob es sich um einen Willkürakt han- Jahren hat sich ihre Zahl verfünffacht, oder anders ge- delte. Aber die Benachrichtigungen sind in einer gro- sagt: Auch unter Rot-Grün wird zunehmend in Bürger- ßen Anzahl von Fällen nicht vorgenommen worden. rechte eingegriffen. Das ist die Bilanz nach fünf Jahren Nach der Bielefelder Untersuchung ist nicht einmal in gemeinsamer Regierung von SPD und Bündnis 90/Die einem Drittel der Fälle eine Benachrichtigung erfolgt. Grünen. Aber, Herr Kollege Funke, Sie sagen nicht, wie Sie hier für Abhilfe sorgen wollen. Wollen Sie alle Richter in der Nun hat die FDP dieses Thema auf die Tagesordnung Bundesrepublik Deutschland oder nur diejenigen aus- gesetzt. Ich finde es wichtig. 10416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Petra Pau (A) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Von Bundesinnenminister Schily erwarte ich übrigens (C) tionslos]) in dieser Frage keine Besserung mehr. Er hat sich mit den unsäglichen Otto-Paketen und manchem, was er Ebenso habe ich für die PDS im Bundestag ausdrücklich jetzt auch noch in das Zuwanderungsgesetz eingebracht das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gewürdigt. hat, endgültig disqualifiziert. Aber vielleicht – das ist zu- Es hat die ausufernde Praxis des großen Lauschangrif- mindest meine Bitte – fühlt sich ja die Bundesjustizmi- fes gerügt. Allerdings vermisse ich bisher entsprechende nisterin angesprochen und nimmt sich dieser Sache end- Konsequenzen bei der Bundesregierung und in den lich an. meisten Bundesländern. Früher war das übrigens ein originäres Thema der Grünen. Heute ist ihr Bürger- Hinzu kommen in der Praxis weitere Unterlassungen. rechtsinstinkt – so meine Beobachtung – aufgebraucht. Wer überwacht wird, hat ein Recht darauf, nachträglich Ich bedauere das ganz ausdrücklich. darüber informiert zu werden. Das ist geregelt, aber auch in dieser Frage wird in der Praxis sträflich gegen Recht (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- und Gesetz verstoßen. Stattdessen wird unentwegt ver- tionslos] – Hans-Christian Ströbele [BÜND- sucht, die ausufernde Überwachungspraxis auch noch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Voll daneben!) rechtlich auszuweiten. Herr Kollege Ströbele, nun zu Ihnen: Das, was Sie Deshalb tut aus meiner Sicht dreierlei Not: Die poli- eben abgeliefert haben, war eine schlichte Luftnummer. zeiliche Praxis muss auf das Recht zurückgeführt wer- Sie sind inzwischen offensichtlich zum bürgerrechtsan- den; das Recht muss sich am Grundgesetz orientieren kündigungspolitischen Sprecher ernannt worden. und die Politik muss die verbrieften Bürgerrechte stär- ken, gerade auch Rot-Grün. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] – Hans-Christian Ströbele [BÜND- Das habe ich zumindest Ihrem Vortrag entnommen und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber sehr all- das gilt besonders, wenn Sie tatsächlich schon im Januar gemein!) vergangenen Jahres angekündigt haben, Konsequenzen zu ziehen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nun wieder zum eigentlichen Gegenstand: Die Tele- Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär fonüberwachung ist aus rechtsstaatlicher Sicht eine Aus- Alfred Hartenbach. nahme, die zwingend begründet werden muss. Die Pra- xis spricht aber eine andere Sprache. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (B) (D) (Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]) desministerin der Justiz: Verehrtes Präsidium! Verehrte Frau Vorsitzende, unter – Zu Ihrem Zuruf, Herr Kollege: Es stimmt, es gibt auch Ihrem Vorsitz rede ich besonders gern. – Meine lieben im Deutschen Bundestag Menschen, die Angehörige der Kolleginnen und Kollegen! Herr Funke, ich bin begeis- PDS sind und die aus der bitteren Geschichte gelernt ha- tert, dass der Geist von Hirsch und Baum wieder in Ihren ben. Daher nehme ich mir das Recht, heute auch Ein- Reihen weilt; nur fürchte ich, dass die Attraktivität der griffe in Bürgerrechte hier zu kritisieren. FDP als Koalitionspartner der CDU damit erheblich ab- nimmt. (Beifall des Rainer Funke [FDP] und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] – Dr. Jürgen (Rainer Funke [FDP]: Das ist einzig unsere Gehb [CDU/CSU]: Das ist schön!) Sorge! – [CDU/CSU]: Jeder hat seine Last zu tragen!) Schon vor Jahresfrist hat der damalige Bundesdaten- schutzbeauftragte moniert, die Telefonüberwachung sei Ich mache mir um Sie Sorgen, weil ich nämlich den von einer Ausnahme zum Standard mutiert. Jüngste Un- Anfang Ihres Antrages ganz gut finde. In Ihrem Antrag tersuchungen – sie wurden hier schon zitiert – belegen, steht: Der Rechtsstaat ist verpflichtet, die Menschen vor dass sie obendrein lax genehmigt oder aber überhaupt Kriminalität, besonders vor schwerer Kriminalität, wirk- nicht mehr begründet wird. Die Polizei hat ein Begehr sam zu schützen. Dabei ist die Telekommunikations- und immer mehr Richter stimmen ganz unbedarft zu. überwachung ein unentbehrliches Instrument. – Das ist Das ist ein Armutszeugnis. Ich denke, wir müssen dafür wohl wahr. Wo wir es nämlich mit kriminellen Vernet- sorgen, dass hier wieder Recht und Gesetz einziehen und zungen zu tun haben, ist die Telekommunikationsüber- im schlimmsten Fall auch die entsprechenden Kennt- wachung ein erfolgreiches – übrigens häufig auch das nisse vermittelt werden. einzige – Mittel, um kriminelle Organisationsstrukturen nachzuweisen und neue Ermittlungsansätze zu finden. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] – Hans-Christian Ströbele [BÜND- Der Rechtsstaat hatte es in den letzten Jahren nicht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie, Frau Kollegin?) nur mit neuen Kriminalitätsformen zu tun, sondern gleichzeitig mit einer rasanten technischen Entwick- – Wenn Herr Ströbele pausenlos „Wie?“ fragt, frage ich lung im Bereich der Telekommunikation. Während der mich ernsthaft, ob Sie, der Sie an der Regierung sind, Gesetzgeber 1968 bei der Einführung des § 100 a StPO vielleicht auch einmal das Handwerkszeug in die Hand im Wesentlichen nur die Überwachung der Festnetzan- nehmen. schlüsse regeln musste, ist mittlerweile die Anzahl von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10417

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Mobiltelefonanschlüssen enorm angestiegen, von 1997 würde die bei einem Kriterienkatalog immer erforderli- (C) bis 2002 von 8 auf 60 Millionen. che Abwägung der Grundrechtsrelevanz von Überwa- chungsmaßnahmen besser Rechnung tragen als ein nach Auf diese neue Situation muss der Rechtsstaat reagie- und nach ausfransender und im Grunde willkürlicher ren. Die Strafverfolgung muss mit den neuen Techniken, Anlasstatenkatalog. Mir greift, verehrter Herr Kollege die natürlich auch von Straftätern genutzt werden, Funke, Ihr Antrag in diesem Punkt zu kurz, weil auch Schritt halten, ohne dass der Staat dabei mit neuen tech- Sie wieder lediglich am Katalog herumdoktern wollen nischen Mitteln die Grundrechte seiner Bürgerinnen und und nicht die Fantasie aufbringen, die nun einmal not- Bürger aushöhlt. Dem Satz, der nicht nur an Stamm- wendig ist, um hier grundsätzlich Neues zu schaffen. tischen zu hören ist, „Wer nichts zu verbergen hat, braucht auch nichts zu fürchten“, und der damit oft ver- Wir wollen auch den Rechtsschutz im Verfahren noch bundenen Vorstellung, Verbrechensbekämpfung habe besser absichern. Wir wissen aus dem Bericht des Vorrang vor Individualschutz, ist entschieden entgegen- Max-Planck-Instituts, dass Richter Maßnahmen oft nur zutreten. formelhaft begründen. Dem Mangel an Transparenz und rechtlichem Gehör wollen wir durch eine qualifizierte Es sind vielfältige neue Anwendungsmöglichkeiten Begründungspflicht begegnen. Die Untersuchung hat zu prüfen, wie zum Beispiel die Standortpeilung von uns auch vor Augen geführt, dass die Benachrichti- entwendeten Mobiltelefonen oder die Erstellung von Be- gungspflicht leider immer noch zu selten richtig wahrge- wegungsbildern durch so genannte stille SMS. Damit nommen wird. Wir können hier nur, wie es im Gesetz sind schwierige rechtliche und rechtspolitische Fragen steht, an die Vertreter der Praxis appellieren und sie er- verbunden. mahnen, diese Aufgabe künftig ernst zu nehmen und den Wir wollen deshalb Regelungen schaffen, die für die Menschen, die abgehört worden sind, mitzuteilen, dass Rechtsanwendung unter besonderer Beachtung des ver- sie abgehört worden sind. Ich kann mir nichts Schlim- fassungsrechtlich geschützten Telekommunikationsge- meres vorstellen, als dass man als Betroffener von dritter heimnisses praktikabel und vor allem für die betroffenen Seite erfährt, dass man abgehört worden ist, und dass Bürger transparent sind. man sich dagegen dann gar nicht wehren kann. (Rainer Funke [FDP]: Das fällt doch nicht Wir haben schon sehr weit gehende Beratungen ge- vom Himmel!) führt. Derzeit überarbeiten wir nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März die Regelungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zur akustischen Wohnraumüberwachung. Das Bundes- Herr Staatssekretär, achten Sie ein bisschen auf die (B) ministerium der Justiz wird hierzu voraussichtlich in Zeit! (D) Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- GRÜNEN]: In Kürze?) desministerin der Justiz: – „In Kürze“ heißt, ich glaube, schon in der übernächs- Ich habe noch ungefähr einen halben Satz zu sagen. ten Woche. Wir werden diese Beratungen zu einem guten Ab- Außerdem steht die Reform der Telekommunikations- schluss bringen. überwachung auf der Agenda. Herr Funke, ich wundere Ich hoffe, ich habe Sie ein bisschen neugierig ge- mich immer wieder über Ihre Sprüche. Einmal sagen macht. Mir standen leider nur fünf Minuten zu, wie Ih- Sie, wir peitschten Gesetze durch. Wenn wir es, wie nen, Herr Funke, obwohl ich inhaltlich mindestens vier- jetzt, sehr sorgfältig beraten, sind wir Ihnen dann wieder mal so viel wie Sie hätte sagen können. Hoffentlich zu langsam. Ich kann Ihnen nur sagen: Der Rechtsstaat kommen wir zu einer guten inhaltlichen Diskussion. Ich ist manchmal eine Schnecke; aber in diesem Fall ist es freue mich, dass Sie wieder mit im Boot sind. gut, dass die rechtsstaatlichen Überprüfungen in der Weise vor sich gehen. Danke schön. Ich möchte Ihnen in der mir noch verbleibenden Zeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einige unserer Überlegungen skizzieren. Die starre und DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ unübersichtliche Auflistung von Anlasstaten, wie sie CSU]: Das sind ja rhetorische Feuerwerke, die bisher im § 100 a StPO steht, gehört auf den Prüfstand. hier abgebrannt werden!) Wir können uns vorstellen, diese Auflistung durch einen Katalog materieller Wertkriterien zu ersetzen. Solche Kriterien könnten zum Beispiel sein: die Schwere der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Straftat und die besondere Erforderlichkeit und Geeig- Ich schließe damit die Aussprache. netheit der Telekommunikationsüberwachung zur Auf- klärung einer Straftat. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1583 an die in der Tagesordnung aufge- Damit könnten wir, erstens, den leidigen Diskussio- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nen über Ausweitung und, was sehr selten ist, Einschrän- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung kung des Straftatenkatalogs entgegentreten. Zweitens so beschlossen. 10418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Der Befragung der Bundesregierung am 24. März (C) entnahm ich Signale des Inhalts, dass für Sie, meine Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Damen und Herren, die Selbstbewirtschaftung von gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Bundesmitteln ein wichtiges Prinzip ist. rung des Deutsche-Welle-Gesetzes (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Jawohl!) – Drucksache 15/3278 – Es ist ein Prinzip, das, wie wir alle wissen, seit 1999 Überweisungsvorschlag: praktiziert wird. Auch ich habe Interesse daran, dass die Ausschuss für Kultur und Medien (f) Deutsche Welle mit den jährlich zur Verfügung gestell- Auswärtiger Ausschuss Haushaltsausschuss ten Bundesmitteln sparsam und effizient umgeht. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der SPD) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Diesem Ziel entspricht es, dass die Mittel weiterhin keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. überjährig und damit über einen längeren Zeitraum be- wirtschaftet werden können. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Staatsministerin Christina Weiss. (Beifall des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD] sowie des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- kanzler: Die Deutsche Welle kann mit diesem innovativen und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und für manche Landesrundfunkanstalt schon geradezu als Herren! Die Debatten der Vergangenheit über die Sinn- modellhaft geltenden Gesetz die nächsten Jahrzehnte das haftigkeit, die Ausrichtung und die Chancen des deut- sein, was wir alle von ihr erwarten, nämlich eine freie schen Auslandssenders sind Geschichte. Über alle Par- Stimme in der freien Welt, eine Stimme, die bestens dazu teigrenzen hinweg sind wir uns längst einig: Wir geeignet ist, den Dialog zwischen den Kulturen und Völ- brauchen die staatsunabhängige, modern und professio- kern nicht nur zu beschreiben, sondern auch praktisch zu nell arbeitende Deutsche Welle, die unser Land im Aus- führen. land als eine europäisch gewachsene Kulturnation In diesem Sinne danke ich Ihnen, meine Damen und ebenso wie als demokratischen Verfassungsstaat präsen- Herren. tiert, und dies in deutscher Sprache, aber auch in den Sprachen der Welt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (D) Die Deutsche Welle ist nicht nur eine Botschafterin FDP) unseres Gemeinwesens; sie ist auch eine Mittlerin zwi- schen den Kulturen. In dieser Rolle wird sie ebenfalls Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: immer wichtiger und wird immer stärker wahrgenom- Das war aber eine vorbildlich kurze Rede der men. Wir erleben immer wieder, dass der deutsche Aus- Staatsministerin. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete landsrundfunk in vielen Krisenregionen der Welt als eine Bernd Neumann. unabhängige, unbestechliche, zuverlässige Informations- quelle anerkannt und als Entwicklungshelfer in Sachen (Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU]) Demokratie verstanden wird. Das gilt vor allem für die Regionen der Welt, die unserer politischen Solidarität Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): besonders bedürfen wie im Augenblick Afghanistan, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vor- Irak oder auch Afrika. lage des Gesetzentwurfs zur Deutschen Welle ist ein Nach der Neufassung des Gesetzes soll die Deutsche längst überfälliger Schritt. Nach zwei misslungenen Re- Welle diesem hohen Anspruch stärker gerecht werden formkonzepten unter den Staatsministern Naumann und können. Die Bundesregierung setzt mit dieser Gesetzes- Nida-Rümelin in der letzten Legislaturperiode nimmt, novelle auf die Organisation der Selbstverpflichtung des wie es scheint, die Neugestaltung des deutschen Aus- Senders und auf den Dialog mit allen, die sich aufgrund landsrundfunks, die bereits in der Koalitionsvereinba- ihres Sachverstandes und ihres Amtes konstruktiv für die rung von Rot-Grün von 1998 versprochen wurde, nach Deutsche Welle einbringen wollen. Das erste und das fünfeinhalb Jahren endlich konkrete Formen an. letzte Wort hinsichtlich des Programms hat jedoch der Insgesamt betrachtet, von einigen Punkten abgesehen, Sender. Die Programmautonomie bleibt unangetastet. ist die Richtung okay. Wir unterstützen besonders, dass der Programmauftrag lediglich in einer Generalklausel 51 Jahre nach ihrer Gründung braucht die Deutsche im Gesetz festgelegt und damit die uneingeschränkte Welle in einer sich wandelnden globalen Welt Verläss- Verantwortung der Deutschen Welle für ihr Programm lichkeit in den politischen und in den finanziellen Rah- gesichert werden soll. Damit wird die gebotene Staats- menbedingungen. Nur so kann sie als moderne Medien- ferne gewährleistet. Das war nicht immer so in den anstalt im Konzert mit anderen in- und ausländischen Überlegungen des Amtes. Sendern bestehen und nur so kann sie die internationalen Kooperationen, zu denen das Gesetz verpflichtet, be- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: gründen und ausbauen. Hanten-Papier!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10419

Bernd Neumann (Bremen) (A) – Herr Kollege Otto, Sie weisen zu Recht auf das so ge- des Haushaltes um 150 Millionen Euro erfolgte. 2005 (C) nannte Hanten-Papier von September 2000 hin. Darin beläuft sich das Budget für die Deutsche Welle auf wurde durch einige Zielsetzungen die gebotene Staats- 270 Millionen Euro. Normalerweise hätten wir ohne Er- ferne massiv verletzt. Gott sei Dank ist das nun nicht höhung, wenn wir nur die Preissteigerung einrechneten, mehr der Fall. Deswegen ist das positiv. heute auf der alten Grundlage von 1998 ein Niveau von 357 Millionen Euro haben müssen. Wenn wir dann über Ich empfinde es ebenfalls als positiv, dass wir es der die Diskussion über die Gebühren der öffentlich-rechtli- Deutschen Welle durch ein so genanntes Selbstevaluie- chen Rundfunkanstalten und darüber nachdenken, was rungs- und Selbstregulierungsverfahren überlassen, die sie alles wollen und wie sie klagen, Programmgrundsätze und Zielsetzungen selbst zu kon- trollieren. Dennoch sind diejenigen wie wir, die das Geld (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Und zur Verfügung stellen, nicht völlig außen vor, weil wir wie viel sie zusätzlich bekommen haben!) als Bundestag wie auch Sie, die Bundesregierung, im muss ich sagen: Diese Kürzung hat die Deutsche Welle Rahmen des Beteiligungsverfahrens die Möglichkeit zur nicht verdient. Umso wichtiger ist es, dass wir mehr Pla- Stellungnahme erhalten. Das ist richtig, denn wir wollen nungssicherheit schaffen. uns über das austauschen, was mit den Haushaltsmitteln in beträchtlicher Höhe gemacht wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich begrüße auch, dass die Bundesregierung dem Ver- Planungssicherheit heißt: finanzielle Sicherheit über langen der Gewerkschaft Verdi, die personelle Mitbe- mehrere Jahre. Eine solche Rundfunkanstalt kann man stimmung bei Programm gestaltenden Mitarbeitern in nicht wie die Verlängerung einer Behörde behandeln. der Deutschen Welle zu erweitern – hier ist das PVG ge- Auch da wäre Planungssicherheit gar nicht schlecht. Be- meint –, nicht nachgekommen ist. Ich halte das deshalb sonders für eine Rundfunkanstalt ist es aber nötig, dass für richtig, weil sich die Mitbestimmungsmodalitäten sie in einem längeren Prozess planen, kalkulieren und der Deutschen Welle bewährt haben; dort, wo man es än- Programm machen kann. Deswegen ist auch in § 4 a dern wollte, gibt es in der Tat keine konkreten Probleme. unter „Aufgabenplanung“ die Zielsetzung aufgenommen Wir haben übrigens bei den Länderanstalten Regelungen worden, dass die Deutsche Welle eine Aufgabenplanung in gleicher Weise, so beim Mitteldeutschen Rundfunk, für einen Zeitraum von vier Jahren vornehmen soll. Wei- beim NDR und beim Rundfunk Berlin-Brandenburg. ter heißt es: Wir haben kürzlich in Bremen, weil sich die Bestimmun- gen des Deutsche-Welle-Gesetzes zur Mitbestimmung Planungsgrundlage sind die finanziellen Rahmen- bewährt haben, diese Mitbestimmungsregelung über- daten der Bundesregierung, soweit die Deutsche Welle betroffen ist. (B) nommen. (D) Dann – Kollege Otto hat in der Fragestunde bereits da- Soweit zu den Dingen, die positiv sind. Ich möchte rauf hingewiesen – heißt es aber konkret dazu in § 4 b, jetzt vier Punkte nennen, bei denen wir Veränderungen „Beteiligungsverfahren“: wollen, was wir demnächst auch in Änderungsanträgen deutlich machen werden. Die Bundesregierung teilt der Deutschen Welle die im laufenden Haushaltsverfahren beschlossenen fi- Der erste Punkt betrifft die Ziele, § 4. Dort geht es da- nanziellen Rahmendaten mit … rum, ob wir – insbesondere die Kollegen aus dem Kul- turausschuss des Deutschen Bundestages – bereit sind, Also sind das Daten nicht für vier Jahre, sondern nur für zum Ausdruck zu bringen, dass die Deutsche Welle ein Jahr. Ein Einwand könnte sein – Sie bringen ihn gar Deutschland auch als europäische Kulturnation darstel- nicht mehr –, das sei nicht so zu verstehen. Dazu sage len soll, so wie das im Referentenentwurf, den Sie vor- ich: Doch, das ist so zu verstehen. Denn in Ihrem Refe- gelegt haben, stand. In dem von der Regierung beschlos- rentenentwurf hatten Sie eine andere Formulierung, die senen Entwurf fehlt dieser Begriff. Darin ist nur davon nämlich Planungssicherheit bedeutet hätte. Dort hieß es: die Rede, dass man Deutschland in seiner ganzen Viel- falt darstellen solle. Nun könnte man sagen, das sei Die Bundesregierung teilt der Deutschen Welle die Wortklauberei. Aber das ist es wohl nicht, denn sonst im laufenden Haushaltsverfahren beschlossene mit- hätten Sie es ja nicht in dieser Form hineingeschrieben. telfristige Finanzplanung mit … Dann wurde behauptet, im Außenministerium habe man Also merke: Entsprechend dem neuen Entwurf werden Bedenken gehabt. Außenminister Fischer war in unse- die Daten nur für ein Jahr mitgeteilt. Richtig wäre es, für rem Ausschuss. Wir haben ihn danach gefragt und er hat vier Jahre finanzielle Planungssicherheit zu schaffen. Es gesagt, damit habe er kein Problem, das sei nicht sein ist enttäuschend, dass Sie dies nicht vorsehen. Punkt. Deshalb werden wir vorschlagen, dass die Deut- sche Welle durchaus Deutschland als europäische Kul- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) turnation zum Ausdruck bringen soll. Dritter Punkt. Zur mittelfristigen Planungssicherheit (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Jawohl!) gehören auch eine flexible Wirtschaftsführung und über- jährige Verfügbarkeit der Mittel. Sie haben angespro- Der zweite Punkt betrifft die Planungssicherheit. In chen, dass Sie das richtig finden, und begrüßen, dass wir dieser Hinsicht gibt es schlimme Erfahrungen. Ich erin- das unterstützen. Sie haben das auch expressis verbis in nere Sie daran, dass in den Jahren von 1998 bis heute den Referentenentwurf hineingeschrieben – was richtig ohne eine Veränderung der Aufgaben eine Reduzierung war. Wie man sieht, hat der Bundesfinanzminister – wer 10420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Bernd Neumann (Bremen) (A) sonst sollte es gewesen sein? – diesen Passus im konkre- hen, das nur noch mit Untertiteln zu machen. Ich sage (C) ten Entwurf wieder gestrichen. Dahinter steht ja etwas. jetzt schon: Das kommt für uns auf keinen Fall infrage. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn wir mit der Ministerin der Auffassung sind, dass das wieder im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Entwurf stehen soll, dann stimmen Sie unserem Antrag neten der FDP – Eckhardt Barthel [Berlin] zu, den wir diesbezüglich einbringen werden. [SPD]: Das sagt der Bundeskanzler auch!) Vierter und letzter Punkt. Die berechtigte Forderung Warum? – Die Einstellung ist gleichzusetzen – so finden der Deutschen Welle, dass ebenso wie bei den Landes- wir – mit einem Abbruch der über viele Jahre aufgebau- rundfunkanstalten die Finanzierungshöhe durch eine un- ten lateinamerikanischen Arbeit der Deutschen Welle. abhängige Kommission ermittelt werden soll, die dann Gerade mit ihrem spanischsprachigen Programm zählt einen Vorschlag macht – es ist am Ende immer das Par- die Deutsche Welle dort zu den deutschen Symbolen und lament, das bewilligt –, ist im Entwurf leider nicht auf- Sympathieträgern. Das Programm wird insbesondere in genommen worden. Damit wird die Chance, die Finan- Lateinamerika besonders stark frequentiert. Das zierung der Deutschen Welle in verfassungskonformer deutschsprachige wie auch das englischsprachige Ange- Weise auszuprägen und so die Grundsätze des Achten bot der Deutschen Welle sind kein Ersatz in Lateiname- Rundfunkurteils des Bundesverfassungsgerichts hin- rika, wo Fremdsprachenkenntnisse selbst in gebildeten sichtlich der politischen Unabhängigkeit und Staatsferne Kreisen häufig nicht dazu ausreichen, ein fremdsprachi- des Senders zu berücksichtigen, versäumt. ges Fernsehprogramm zu verstehen. Die geplante Unter- titelung eines Nachrichtenprogramms ist in Lateiname- Zu diesen vier Punkten werden wir dann im Aus- rika nicht üblich, sodass das nur auf eine sehr geringe schuss Änderungsanträge einbringen. Akzeptanz stößt. Lassen Sie mich zum Abschluss noch kurz zwei Die Bundesregierung stellte in der Antwort auf eine Punkte nennen, die auch mit Geld und mit der Deutschen Kleine Antrage der CDU/CSU zum Beispiel fest, Welle sowieso zu tun haben. Das eine ist der Punkt Deutschland komme auf Rang drei, nach den USA und „German Channel“. Die Anlauffinanzierung läuft im Spanien, im Hinblick auf die wirtschaftliche Bedeutung nächsten Jahr aus und die Abonnentenzahlen kommen als Investor. Wenn die Bundesregierung dann in dieser nicht einmal annähernd in den Bereich, in dem sich das Antwort auf die Kleine Anfrage schreibt, sie würde es Programm selbst tragen würde – wir haben ja be- bedauern, wenn das spanischsprachige Programm einge- schlossen, dass es sich selbst tragen soll. Gefordert stellt würde, und wenn darüber hinaus Ihr Bundeskanz- sind 70 000 Abonnenten, tatsächlich sind es nach drei- ler Gerhard Schröder kürzlich erklärt hat, die Einstellung einhalb Jahren nur 7 700. Ein Teil des Beschlusses von (B) des spanischsprachigen Programms dürfe nicht infrage (D) damals war – das wurde deutlich von allen Fraktionen kommen, dann sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, getragen –, dass es keine weiteren Finanzspritzen für das dass wir der Deutschen Welle signalisieren: Das finden Programm geben wird. wir nicht gut. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie es!) bei Abgeordneten der SPD – Hans-Joachim Außerdem hat die CDU/CSU damals deutlich gemacht, Otto [Frankfurt] [FDP]: Gelegentlich folgen dass das originäre dreisprachige Fernsehprogramm der wir Herrn Schröder!) Deutschen Welle – dreisprachig: Deutsch, Englisch und Verehrte Damen und Herren aus der Koalition, Sie ha- Spanisch – dadurch nicht gefährdet werden darf. ben an meiner grundsätzlichen Einschätzung wie auch (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist an meinen Bemerkungen im Hinblick auf mögliche Ver- es!) änderungen gemerkt, dass es – wenn wir ein Stück auf- einander zugehen – möglich sein müsste, das Deutsche- Wie man jetzt sieht – ich komme in meinem letzten Welle-Gesetz erneut einstimmig zu verabschieden. Ich Punkt darauf –, ist das spanischsprachige Programm ge- finde, das tut einer Rundfunkanstalt, die ja über viele fährdet, weil der Deutschen Welle die Mittel für die ori- Jahre Programm machen muss, gut. Es wäre auch ein ginären Programme, wie es scheint, fehlen. Fazit: Stück Sicherheit, denn man kann – da werden Sie mir Channel D ist eine wirklich gute Idee; nur, solange die Recht geben – nicht in jedem Fall davon ausgehen, dass Deutsche Welle stark unterfinanziert ist und, wie wir die, die besondere Verantwortung tragen, das ewig tun jetzt sehen, die originären Aufgaben nicht erfüllen kann, werden. Aus diesem Grunde wäre es gut, wenn wir der ist es nicht zu verantworten, dem Programm weitere Deutschen Welle mit einem einstimmigen Beschluss Mittel zur Verfügung zu stellen. wiederum Planungssicherheit für die nächsten Jahre ge- ben würden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vielen Dank. Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Vor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wenigen Wochen haben die Direktoren und der Inten- dant auf einer Klausurtagung der Deutschen Welle die Streichung des spanischsprachigen Fernsehpro- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gramms aus Kostengründen beschlossen. Es ist vorgese- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Griefahn. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10421

(A) Monika Griefahn (SPD): Haus immer unstreitig, dass es Neuregelungen geben (C) Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- muss. Es gab und gibt viele Debatten über Sinn und Un- legen! Lieber Bernd Neumann, vor meinen eigentlichen sinn der Welle insgesamt. Ich glaube, wir im Hause sind Ausführungen zum Gesetz möchte ich zweierlei zu den uns einig, dass die Welle notwendig ist. Worüber wir dis- beiden letzten von Ihnen genannten Punkten sagen. Zu- kutieren, ist, wie ihr Programm aussehen soll und wie nächst: Channel D ist schon pleite; wir haben nur noch ihre spezifischen Zielgruppen zu erreichen sind. Diese German TV. Debatten waren notwendig; ohne sie kann die Welle nicht das leisten, was sie leisten soll. Sie hat sich durch (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: die Debatten, die wir in den letzten Jahren gehabt haben, Habe ich doch gemeint!) unabhängig von der Gesetzesnovellierung schon zu Wir sind uns doch einig und haben es besprochen: Wenn einem modernen Sender entwickelt, der in der medialen die Auswertung vorliegt und sich herausstellt, dass das Außenrepräsentanz der Bundesrepublik eine entschei- nicht erfolgreich ist, dann müssen wir genau überlegen, dende und, wie ich denke, zentrale Rolle spielt. was wir machen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand Ich möchte in diesem Zusammenhang aus einer ak- bereit ist, weiter Geld auszugeben, wenn etwas nicht er- tuellen Studie, die von Forsa erstellt worden ist, zitieren. folgreich ist. Aber wir müssen die Auswertung abwar- Hörer und Zuschauer der Deutschen Welle wurden in ten. Wir haben sie uns für das Frühjahr vorgenommen; den USA und in Russland, in zwei für uns sehr wichti- im Herbst wird es die Auswertungspapiere geben, und gen Ländern, befragt. Die Berichterstattung über dann werden wir gemeinsam beschließen. Ich glaube, Deutschland ist in diesen Ländern eher gering. Sie ist in dass es, wenn die Fakten vorliegen, keine so unter- Russland etwas umfangreicher als in den USA, aber in schiedlichen Einstellungen geben wird. beiden Fällen eher undifferenziert. Allerdings ist unter Meine zweite Vorbemerkung betrifft das spanisch- den Nutzern der Deutsche-Welle-Angebote in beiden sprachige Fernsehen. Ich muss mich ein wenig wun- Ländern ein deutlich differenzierteres Bild festzustellen. dern: Viele von uns – auch in der SPD-Fraktion – haben Klischees und Vorurteile über Deutschland sind unter gegen die Einstellung des spanischsprachigen Fernse- den Deutsche-Welle-Nutzern in beiden Ländern weniger hens protestiert. Aber man muss doch auch ganz klar se- vorhanden als bei anderen Befragten. Die Nutzer der hen, dass wir uns immer dafür eingesetzt haben, dass die Welle haben auch ein weniger rückwärtsgewandtes Deutsche Welle ein staatsferner Rundfunk ist. Wenn also Deutschlandbild als andere. Intendanz und Redaktion vor dem Hintergrund des zur An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Deutsche Verfügung stehenden Geldes Welle ihrem Programmauftrag gerecht wird, indem sie (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber erstens Lücken der Berichterstattung in anderen Ländern (B) (D) da hakt es doch!) füllt und zweitens dazu beiträgt, ein mindestens aktuel- les Bild von Deutschland zu vermitteln. Das ist ein wich- beschließen, nicht eine Stunde spanischsprachiges Fern- tiger Punkt, der in dem Programmauftrag neu aufgenom- sehen, sondern – für die Hälfte des Geldes – fünf Stun- men wird. Ich stimme Bernd Neumann zu – ich denke, den Untertitelung zu bringen, dann können wir das gut dass wir dazu einen gemeinsamen Antrag aller Fraktio- finden oder nicht, aber es ist die Entscheidung des Sen- nen hinbekommen können –, dass wir Deutschland als ders selbst. europäische Kulturnation präsentieren sollten. Dieser (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber Punkt kann im Rahmen eines gemeinsam eingebrachten es ist unsere Entscheidung, wie viel Geld die Änderungsantrags berücksichtigt werden. bekommen! Da hakt es!) Die Welle ist nicht mehr nur ein reiner Nachrichten- – Das wird sicherlich immer wieder die Frage sein. Aber sender – eigentlich war sie das nie –, sondern sie trägt es geht um die Staatsferne. dazu bei, im Austausch mit Hörern, Zuschauern und On- linenutzern ein Forum des Dialoges in, über und mit Der Sender bringt neben 22 Stunden englischem und Deutschland zu sein. Ich betone dies besonders, weil die deutschem Programm eine Stunde lang ein spanisches Onlinenutzung immer wichtiger wird. Ich stelle mir ei- Programm, das dann wiederholt wird. Über die Überle- nen modernen Auslandsrundfunk so vor, dass es einen gung des Senders, stattdessen fünf Stunden Untertite- wirklichen Austausch gibt und dass er nicht ein reines lung zu machen, kann man sicherlich diskutieren; man Transportmittel für, wie es in § 4 des alten Deutsche- sollte sie aber respektieren. Ich möchte gar keine ab- Welle-Gesetzes heißt, „deutsche Auffassungen zu wich- schließende Wertung abgeben. Wir werden abwarten, tigen Fragen“ ist. was die Haushaltsdebatten im Herbst bringen werden und wie viel Geld wir gemeinsam für die Deutsche Ein weiterer wichtiger Punkt in dem Gesetzentwurf Welle aufbringen können. ist die Verankerung der Telemedien. Dieser zentrale Punkt wird gerade bei den deutschen Rundfunkanstalten Mit der Vorlage des Gesetzentwurfs ist meiner An- nicht immer angemessen beachtet. Es ist ganz wichtig, sicht nach ein großer Wurf gelungen. Wir haben es mit dass wir diesen Punkt im Deutsche-Welle-Gesetz veran- einer Gesetzesnovelle zu tun, die – Frau Staatsministerin kern konnten. hat das schon gesagt – in den Medien ihresgleichen sucht. Wir haben bereits seit 1998 darüber debattiert, in Für mich ist außerdem wichtig, dass es im Rahmen der welcher Form das Gesetz der Deutschen Welle refor- zukünftigen Arbeit der Welle eine enge Kooperation und miert werden soll oder muss. Dabei war es bei allen im Koordination mit Bundestag, Bundesregierung und 10422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Monika Griefahn (A) Öffentlichkeit geben wird. Das heißt, wir werden einen German TV und das spanischsprachige Programm (C) transparenten Prozess, ein Beteiligungsverfahren, haben, wurden erwähnt. Es ist schon wahr, liebe Frau Griefahn, das es der Welle ermöglicht, in Konsultationen eben mit dass wir uns als Parlament mit Sicherheit nicht in die Bundestag, Bundesregierung und Öffentlichkeit über Frage einmischen, ob die Intendanz und die Gremien der Zielgruppen, Aufgabenplanung, Sendegebiete und Ver- Deutschen Welle das spanischsprachige Programm auf- triebswege selbst zu bestimmen und diese Punkte in ei- geben oder nicht. Aber wenn Sie sagen, es sei sozusagen nem offenen Beratungsprozess zu justieren. Bislang war eine reine Idee des Intendanten der Deutschen Welle ge- der Bundestag nur dann beteiligt, wenn wir uns gemeldet wesen, das spanischsprachige Programm aufzugeben, ist haben. Die Mitarbeit wird durch das Gesetz formalisiert. das nicht korrekt. Er unterliegt Haushaltszwängen und Das ist wichtig und eine prima Sache. Haushaltsnöten. (Beifall bei der SPD) Die Deutsche Welle würde das spanischsprachige Programm sehr gern weiterführen. Herr Kollege Das Parlament bekommt so die Möglichkeit, sich inten- Neumann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das siver als bisher mit der Arbeit der Welle auseinander zu Programm der Deutschen Welle in Lateinamerika eine setzen. Das ist im Sinne des von mir angesprochenen Di- überdurchschnittlich hohe Akzeptanz hat. Wir sollten al- alogprozesses. les daransetzen, dass das spanischsprachige Programm Die Deutsche Welle wird sich darüber hinaus weiter beibehalten wird. Die Sicherung des spanischsprachigen für die Verbreitung von Deutschkursen engagieren, wie Programms kostet nur rund 1 Million Euro pro Jahr, sie das bisher schon in Eigenregie und in Zusammenar- während das verunglückte German TV 5,1 Millionen beit mit dem Goethe-Institut tut. Der Auftrag, die deut- Euro kostet. Da, meine Damen und Herren, liegt der sche Sprache weltweit zu vermitteln, damit nicht Eng- Hund begraben. Wir haben es aufgrund politischer Im- lisch die einzige Sprache im Angebot ist, ist ein ganz plikationen zugelassen, dass German TV zulasten des wichtiger Punkt. Etats der Deutschen Welle aufgenommen wurde, und jetzt müssen wir alles daransetzen, dass die entstandene (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Schieflage beseitigt wird. Kastner) Die Bereitstellung der notwendigen Mittel – wir ha- (Jörg Tauss [SPD]: Sag nichts gegen neue ben schon darüber diskutiert – bringt immer Schwierig- Medien!) keiten mit sich. Die gewachsenen Aufgaben in der Kri- – Wir haben ganz klar gesagt, Herr Tauss: Wir brauchen senprävention, die im Kosovo, in Afghanistan und jetzt die „Brandmauer“, dass das Experiment German TV auch in der arabisch-islamischen Welt erfüllt werden, be- nicht zulasten des Etats der Deutschen Welle geht. Aber (B) deuten neue Aspekte in der auswärtigen Medienarbeit. genau das droht jetzt. (D) Wir haben Schwierigkeiten, eine entsprechende Finan- zierung sicherzustellen. Aber wir werden gemeinsam da- (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Ist doch ran arbeiten, dass die Erfüllung der Aufgaben mit dem extra gewesen!) neuen Gesetz und der Selbstbewirtschaftung möglich ist – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie – die Frau Ministerin hat es schon angesprochen – und können mir eine Frage stellen; aber in der kurzen mir zur dass die Welle den notwendigen Handlungsspielraum Verfügung stehenden Zeit kann ich darauf leider nicht bekommt. Wir werden gemeinsam dafür streiten. eingehen. In diesem Sinne wünsche ich, dass wir nach den Bera- Aus den genannten Gründen legen wir großen Wert tungen im Ausschuss das Deutsche-Welle-Gesetz ge- darauf, dass der Grundsatz der Selbstbewirtschaftung meinsam verabschieden. und der Grundsatz der überjährigen Verfügbarkeit der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Haushaltsmittel in dem im Prinzip guten Entwurf ver- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Joachim ankert werden, damit die freie Stimme für die freie Welt Otto [Frankfurt] [FDP]) trotz der Haushaltszahlen, die wir in den letzten Jahren feststellen mussten, erhalten werden kann. Hand aufs Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herz: Es hat kaum eine andere Institution gegeben, die in den letzten fünf Jahren so starke Kürzungen hat hin- Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto, nehmen müssen wie die Deutsche Welle, weil es einen FDP-Fraktion. ideologischen oder persönlichen Rachefeldzug gab. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): (Jörg Tauss [SPD]: Ah ja!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Lieber Herr Tauss, 325 Millionen Euro waren der Etat Ich will es gleich vorweg sagen: Dieser Gesetzentwurf im Jahre 1994; im Jahr 2004 sind es gerade noch ist sicherlich eine gute Grundlage. Ich werde seitens der 265 Millionen Euro. FDP-Fraktion alles dafür tun, dass eine einstimmige Ver- abschiedung dieses Gesetzes gelingt. (Jörg Tauss [SPD]: Vergleichen Sie einmal in- ternational!) Bevor ich zu Einzelheiten komme, möchte ich in den nur drei Minuten, die ich habe, auf Punkte eingehen, die Während der Haushalt bei ARD und ZDF hochgefahren eben Frau Griefahn und Herr Neumann erwähnt haben, wurde, wurde er bei der Deutschen Welle heruntergefah- weil sie für die konkrete Ausgestaltung wichtig sind. ren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10423

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Deswegen, meine Damen und Herren – das ist mein Wichtig ist die neu eingeführte konkrete Nennung des (C) abschließendes Wort –, ist es wichtig, dass wir uns als Internetauftritts als dritte Säule neben Fernseh- und Freunde der Deutschen Welle, als Freunde des deutschen Radioangeboten. Auslandssenders über die Fraktionsgrenzen hinweg da- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- rauf verständigen, zu einem einstimmigen Beschluss zu SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) kommen. Da erwarte ich, dass von allen Seiten Kompro- misse eingegangen werden, damit wir die Situation des Das ist insofern von besonders großer Bedeutung, weil Senders sowie die Unabhängigkeit und die planerische es die Möglichkeit eines echten Dialogs und die gleich- Sicherheit des Senders stärken. zeitige Verwendung von beliebig vielen Sprachen zu- lässt, was auch angesichts des Problems wichtig ist, das Meine Damen und Herren, wir werden im Ausschuss wir alle angesprochen haben, nämlich des spanischspra- konstruktiv mitarbeiten. An die Fraktionen von SPD und chigen Rundfunk- und Fernsehprogramms. Grünen habe ich die Bitte, ihren Teil dazu beizutragen, Bei der Aufgabenplanung ist ein Prozess eingeführt (Jörg Tauss [SPD]: Sie kennen uns doch!) worden, der das Parlament und die Bundesregierung dass wir den Auslandssender Deutsche Welle mit einem durch einen Rückkopplungsmechanismus einbezieht und einstimmig verabschiedeten Gesetz stärken. den ich außerordentlich wichtig finde. Wenn wir schon die Verantwortung haben und übernehmen, dann möch- Vielen Dank. ten wir auch in diesen Dialog einbezogen sein. Ich bin sehr gespannt, wie dieser Konsultationsprozess, der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gleichzeitig ein Reflexionsprozess über unseren Standort und unsere Art der Kommunikation mit der Welt und ih- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ren Eliten darstellt, ausläuft. Ich finde, das ist eine sehr Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin wichtige Neuerung. Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Deutsche Welle hat in den letzten Jahren – das be- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): streitet niemand – eine enorme Sparleistung vollbringen Frau Präsidentin, vielen Dank für die Sitzungsvertre- müssen. Vielleicht – so hart das auch für sie war – ist sie tung. damit besser für die neue Zeit gerüstet als die öffentlich- rechtlichen Anstalten, Meine Damen und Herren, nicht gerade zum 50., aber doch zum 51. Geburtstag der Deutschen Welle hat die (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aha! Kür- (B) (D) Bundesregierung ein modernes Gesetz für sie vorgelegt. zen wir jetzt bei denen auch ein bisschen?) Modern ist das Gesetz, weil es tatsächlich den neuen bei denen auch ich das eine oder andere an notwendigen Verhältnissen eines deutschen Auslandssenders auch un- Reformen sehe. ter Globalisierungsbedingungen Rechnung trägt. (Beifall des Abg. Manfred Grund (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [CDU/CSU]) und bei der SPD) Ich glaube, die sollten sich einmal sehr genau ansehen, Schon längst ist die Deutsche Welle nicht einfach nur was die Deutsche Welle gemacht hat. noch ein Instrument zur schlichten Information über Land, Leute und Landschaft in Deutschland, sondern sie (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- soll die Bundesrepublik in ihrer kulturellen Vielfalt und furt] [FDP]) nach meiner Vorstellung auch als europäische Kulturna- Was das spanischsprachige Programm betrifft, kann tion präsentieren. Da bin ich ganz mit den Kollegen ein- ich mich nur unserem hoch geschätzten Bundeskanzler verstanden, die das gesagt haben. anschließen. Ich freue mich, dass auch die Opposition (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das tut. Ich sehe hier ein Problem. Dieses Programm und bei der SPD) wird in den Diskussionen eine wichtige Rolle spielen. Man muss wirklich überlegen, ob es tatsächlich so ist, Nicht zuletzt soll sie auch unter Globalisierungsgesichts- dass in diesen Ländern Untertitelungen üblich sind und punkten um das Interesse von Eliten an unserem Land den Seh- und Hörgewohnheiten der Hörer oder der Fern- werben. Sie soll den interkulturellen Dialog fördern und sehzuschauer entsprechen. Das ist ein erster Schritt zum einen Beitrag zur Krisenprävention leisten. All das ist gewünschten Dialog und zur Rückkopplung mit dem wichtig als Standortbestimmung und Festlegung, welche Parlament. Wir werden darüber noch diskutieren, insbe- Aufgaben ein solcher deutscher Auslandssender heutzu- sondere angesichts des leidigen Projektes von German tage hat. Dabei wird ihm deutlich aufgegeben, Zielgrup- TV. pen und Schwerpunktregionen genau und für bestimmte (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Dann Zeiträume festzulegen, was außerordentlich wichtig ist, müssen wir uns aber beeilen mit dem Gesetz- weil man nicht einfach mit der Gießkanne die Welt be- entwurf!) regnen will, sondern weil man sehr zielgenau auf Inte- resse antworten will, das auf uns gerichtet ist, und selber – Hier kann ich darauf hinweisen, dass wir von meiner in bestimmten Krisenregionen wirken will. Fraktion mit die allerersten waren – lange vor Ihnen, 10424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Dr. Antje Vollmer (A) Herr Otto und Herr Neumann –, die gesagt haben: Das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) ist ein sehr problematisches Projekt. Es stammt übrigens Aussprache ein halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- – jedenfalls die Vorplanung dazu –, soweit ich das weiß, nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. aus der Amtszeit des früheren Intendanten, der Ihnen sehr nahe stand. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans Büttner, SPD-Fraktion. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die Bedenken haben wir vor Ihnen geäußert, wenn Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): ich das so sagen darf!) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Dass es statt der erwarteten 100 000 Abonnenten nur Kollegen! Am 12. Januar 1904 begann in der damaligen 7 700 gibt, ist doch ein Anlass, sich sehr ernsthaft zu Kolonie Deutsch-Südwestafrika der Aufstand der Herero überlegen, ob dieses Projekt Zukunft hat. Ehrlich gesagt und Nama gegen das Kolonialregime des deutschen Kai- glaube ich, dass es keine hat. serreichs, in dessen Folge über 100 000 Afrikaner, Män- ner, Frauen und Kinder, getötet und ermordet wurden. (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- furt] [FDP]) Das Vorgehen der kaiserlichen Kolonialtruppen war ebenso wie das anderer Kolonialmächte durch eine, wie Ich sehe hier innerhalb der Kollegen des Hauses mehr Historiker es beschreiben, rassistische Geisteshaltung Einigkeit, als Sie behaupten. Wir werden darüber nach- geprägt, die in Afrikanern minderwertige Menschen sah, denken müssen und in diesem Zusammenhang werden denen jegliche Würde abgesprochen und jegliche wir auch noch einmal über die Frage der spanischspra- menschliche Behandlung aberkannt wurde. Diese Geis- chigen Sendungen diskutieren können. teshaltung wurde in unserem Lande damals lediglich von der Sozialdemokratie, angeführt von ihrem Vorsitzenden Die Deutsche Welle insgesamt musste immer auf klei- August Bebel, bekämpft, was die damals in diesem nerem Fuß leben als ihre mächtigen Kollegen BBC Hause, im Reichstag in Berlin, geführten Debatten bele- World und Voice of America. Aber das ist ihr alles in al- gen. lem ganz gut bekommen. Heute erreicht sie 30 Millionen Hörer und ist damit der drittgrößte Auslandssender. Für (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- sie immer außerordentlich wichtig waren journalisti- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche Freiheit und journalistische Qualität. Dieses Ge- NEN]: Es waren noch ein paar andere, aber setz wird gute Voraussetzungen schaffen, sie weiterhin gut!) zu behalten. (B) Diese Geisteshaltung führte in Deutschland schließlich (D) Ich wünsche unseren Beratungen viel Erfolg und zum terroristischen Naziregime und dem staatlich orga- glaube, dass sich eine Einigkeit abzeichnen wird, die wir nisierten Genozid gegen Juden, Sinti und Roma sowie auch ausdrücken sollten. geistig Behinderte. Von dieser mörderischen Geisteshal- tung wurde Deutschland durch den gemeinsamen Kampf Danke schön. der Alliierten 1945 befreit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die afrikanischen Völker in Südwestafrika mussten und bei der SPD) unter dieser Geisteshaltung bis 1990 leiden; denn sie fei- erte fröhliche Urstände in der Politik der Apartheid des Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: damaligen Südafrikas, das die Verwaltung der Kolonie Ich schließe die Aussprache. nach dem Ersten Weltkrieg vom Völkerbund über ihre damalige Kolonialmacht übertragen bekommen hat und Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- nach seiner Loslösung aus dem Empire bis 1990 wider- wurfs auf Drucksache 15/3278 an die in der Tagesord- rechtlich weiterführte. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Die Bundesrepublik hat ihre Lektion aus diesen dunk- Dann sind die Überweisungen so beschlossen. len Zeiten deutscher Geschichte gelernt. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat- Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans lichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich da- Büttner (Ingolstadt), Detlef Dzembritzki, rum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Men- Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und schenrechten als Grundlage jeder menschlichen der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), in der Welt. Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN So beschreibt es Art. 1 unseres Grundgesetzes, der unab- änderbar, festgemauert unser tägliches Handeln in Ge- Zum Gedenken an die Opfer des Kolonialkrie- sellschaft und Politik bestimmen muss. ges im damaligen Deutsch-Südwestafrika (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Drucksache 15/3329 – DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10425

Hans Büttner (Ingolstadt) (A) Von diesem Geist wurde und wird seither auch die Mit dem vorliegenden Antrag bekräftigt der Deutsche (C) deutsche Außenpolitik gegenüber Afrika weitgehend ge- Bundestag seine Verantwortung aus der Geschichte ge- prägt, gerade seit der Phase der Dekolonialisierung nach genüber dem demokratischen Rechtsstaat Namibia. 1960. Respektierung der Menschenwürde unabhängig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von Hautfarbe und Herkunft heißt aber auch Anerken- DIE GRÜNEN) nung von Selbstbestimmung auf dieser Basis organisier- ter Staaten und Wahrnehmung der besonderen Ver- Die besondere Partnerschaft zu Namibia erfordert antwortung aus der Geschichte durch besondere aber auch eine weitere Intensivierung des politischen Beziehungen zu den Ländern, gegenüber denen Dialogs mit Namibia auf den Spitzenebenen der Politik, Deutschland in der Vergangenheit koloniale Altschulden von Parlament und Regierung. Ich begrüße es deshalb hatte. Das galt zunächst gegenüber Tansania und Kame- außerordentlich, dass nach dem Bundesaußenminister run, seit 1989 ebenso gegenüber dem 1990 unabhängig noch in diesem Sommer auch unsere Ministerin für wirt- gewordenen Namibia, dem ehemaligen Südwestafrika. schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und dem- nächst weitere Minister zu Gesprächen nach Namibia In einer gemeinsamen Entschließung hat dies der reisen werden. Deutsche Bundestag am 16. März 1989 wie folgt festge- schrieben: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- Ich begrüße es auch, dass wir möglichst bald und mög- rung auf, wegen ihrer besonderen Verantwortung lichst frühzeitig mit den aktiven und kommenden Politi- gegenüber Namibia in Absprache mit den wichtigs- kern Namibias durch Gegeneinladungen den Dialog füh- ten politischen Kräften Namibias die Aufnahme ei- ren können, und zwar nicht nur auf der Ebene der ner umfassenden Zusammenarbeit umgehend vor- Regierung, sondern ich möchte uns alle dazu einladen, zubereiten, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass nach Konstituierung einer (Beifall bei Abgeordneten der FDP) frei gewählten Regierung in Namibia die wirt- den Dialog auch auf der Ebene des Parlaments zu inten- schaftliche, entwicklungspolitische und kulturpoli- sivieren und weiterzuführen. tische Zusammenarbeit aufgenommen werden kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Politik auf gleicher Augenhöhe, die Achtung der Würde (B) Namibia des Menschen erfordert auch Respekt vor den handeln- (D) den Personen und darf sich nicht auf materielle Leistun- – so heißt es weiter in dieser Entschließung, die von na- gen beschränken. Dies können wir und sollten wir im hezu allen Parteien getragen wurde – Rahmen unserer Afrikapolitik auch am Beispiel Na- mibias, aber nicht nur dort, wieder stärker beachten. sollte – unter Nutzung bisheriger Erfahrungen – ein besonderer Schwerpunkt deutscher Entwicklungs- Mit dem vorliegenden Antrag bekräftigt der Deutsche zusammenarbeit werden. Bundestag diese Werteorientierung der deutschen Au- ßenpolitik und im Speziellen sein besonderes Verhältnis Namibia ist seither Schwerpunkt deutscher Entwick- zu Namibia. Ich bin sicher, dass er von allen Parteien lungszusammenarbeit. Das selbstbestimmte Namibia ist dieses Hauses mitgetragen werden kann. Ich möchte an dabei ein beispielhafter Partner. Namibia hat eine in Sie alle appellieren, dabei mitzuwirken und mitzuhelfen Afrika beispiellose Pressefreiheit, einen exakten Rechts- und das auch durch einen einstimmigen Beschluss zu un- staat, es hat eine politische Diskussionskultur innerhalb terstreichen. der Parteien. Namibia ist somit ein Stabilitätsfaktor in Ich danke Ihnen und schenke Ihnen drei Minuten Afrika, wie es nicht zuletzt auch die Entscheidungen Redezeit. über den Nachfolgekandidaten innerhalb der Mehrheits- partei SWAPO vor wenigen Wochen gezeigt haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) CDU/CSU und der FDP) Selbstbestimmung und Selbstverantwortung auf rechtsstaatlicher Grundlage heißen aber auch, dass es die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: alleinige Entscheidung der namibischen Bevölkerung Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Eymer. ist, wie sie jetzt mit den Geschehnissen der Vergangen- heit auf ihrem Staatsgebiet umgeht. Die Bundesregie- Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): rung, egal welcher Couleur, war deshalb immer gut bera- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ten, nicht auf Forderungen einzelner Gruppen Damen und Herren! Namibia – das ehemalige Deutsch- einzugehen und sich dadurch instrumentalisieren zu las- Südwestafrika – steht vor großen Herausforderungen. Bei sen, sondern sich darauf zu konzentrieren, der Gesell- der Bewältigung dieser anstehenden Probleme ist die schaft Namibias bei der Lösung dieser Probleme global Hilfe der Völkergemeinschaft unverzichtbar. Wir reden durch besondere Partnerschaft zu helfen. hier auf der Grundlage einer gemeinsamen Entschließung 10426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Anke Eymer (Lübeck) (A) des Deutschen Bundestages von 1989 zur damals bevor- anderes ausweist. Ich weise nur darauf hin, dass hieran (C) stehenden Unabhängigkeit Namibias. Schon zu diesem deutlich wird, wie unbedarft und vielleicht auch unge- Zeitpunkt hat Deutschland die Bereitschaft zu einem be- schickt politische Themen Afrikas zusammengeworfen sonderen Engagement deutlich gemacht; das entsprach und in einem schnellen Aufguss erledigt werden sollen. unserer historischen Verbindung. Diese Bereitschaft muss auch weiterhin gelten und uns als einen verlässli- In den Jahren seit der Unabhängigkeit Namibias im chen Partner in Namibia und Afrika ausweisen. Jahre 1990 ist Deutschland der größte Partner Namibias auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik. Das ist auch (Beifall bei der CDU/CSU) der Tatsache geschuldet, dass es eine 30-jährige kolo- niale Vergangenheit aus der Zeit des deutschen Kaiser- Die Reise des deutschen Bundeskanzlers in diesem reiches gibt, die 1915 ihr Ende fand. Zum 11. August Januar ging zwar nicht nach Namibia, trotzdem ist ein dieses Jahres jährt sich zum 100. Mal die Niederlage der wichtiges Thema – der Aufstand der Herero und seine Volksgruppe der Herero in der Schlacht am Waterberg. Niederschlagung – bei seinem Besuch vor der AU, der Den Opfern unter den verschiedenen Bevölkerungsgrup- Afrikanischen Union, zur Sprache gekommen. In der pen aus der oft blutigen und menschenverachtenden afri- Antwort, die der Präsident der Afrikanischen Union ge- kanischen Kolonialzeit, die die deutsche Geschichte mit geben hat, wurde eine grundsätzliche Überzeugung der zu verantworten hat, gilt unser stilles Gedenken und un- afrikanischen Partner deutlich: Für einen gleichberech- sere Trauer. tigten Dialog und ein erstarkendes afrikanisches Selbst- bewusstsein ist das offene Eingeständnis von Fehlern Dieses bewusste Erinnern an die Geschichte ist aber und grausamen Verbrechen, die in der gemeinsamen Ge- nur dann verantwortet, wenn es sinnvoll in eine Politik schichte auf europäischer Seite begangen wurden, weit von heute einbezogen wird. Das heißt: Erstens. Afrika mehr von Bedeutung als manch eine materielle Überle- muss deutlicher in die europäische Politik eingebunden gung. werden. Zweitens. Das Afrika des 21. Jahrhunderts muss zu einem Produkt der Afrikaner werden. Dies muss ab- Der Blick auf die koloniale Vergangenheit Afrikas seits von unkritischer und ideologisierter Schönfärberei zeigt eine Ausbeutungsgeschichte, an der über Jahrhun- oder politischen Schnellschüssen geschehen. Nur so derte mehr als nur europäische Staaten teilgenommen wird ein kritisch-konstruktiver Dialog mit unseren afri- haben. Wir Deutsche können dieses traurige Datum des kanischen Partnern möglich sein. 11. August 1904 nutzen, um auch in einem zusammen- wachsenden Europa unsere Verantwortung und Trauer Ich hoffe sehr, dass wir den afrikanischen Themen nicht nur zu benennen, sondern sie beispielhaft auch in hier im Deutschen Bundestag in Zukunft mehr Aufmerk- Politik umzusetzen. samkeit widmen und Chancen für eine sinnvolle Zusam- (B) menarbeit finden werden. (D) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Der vorliegende Antrag von SPD und Grünen geht (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. daher grundsätzlich nicht in die falsche Richtung. Ulrich Heinrich [FDP] und des Abg. Hans- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Das ist aber schön! – Zuruf von NEN]) der FDP: Schön gesagt!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Unter dem Titel des „Opfergedenkens“ wird auch auf ein Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Christian aktuelles Thema, die Landreform, eingegangen. Ob Ströbele. diese stillschweigende Verknüpfung hier sinnvoll ist, sei dahingestellt. Sicher hilft es aber nicht, in einem partner- schaftlichen Dialog, den wir mit Namibia pflegen, kon- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE struktive Kritik auszublenden. Diesen Eindruck erwe- GRÜNEN): cken Sie mit dem vorliegenden Antrag aber. Erstens Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! muss klar sein, dass die Reihe der Problemfelder in Na- Frau Kollegin Eymer, Ihren letzten Satz unterstütze ich mibia über dasjenige einer Landreform hinausgeht. voll und ich habe auch geklatscht. Ich darf darauf hin- Zweitens gebietet es die Wichtigkeit dieser Angelegen- weisen, dass die Überschrift des vorliegenden Antrags heit, sie nicht en passant unter einem anderem Thema lautet: „Zum Gedenken an die Opfer des Kolonialkrieges schnell zu verkaufen. im damaligen Deutsch-Südwestafrika“. Es geht also nicht um die generelle Politik gegenüber Namibia. Dazu Themen der Landreform sind wichtig und brisant. gibt es viel und sicher auch Kritisches zu sagen. Hier Wie groß die Gefahren aus fehlschlagenden Reformen aber geht es um das konkrete Gedenken. dieser Art werden können, sehen wir ja in anderen Län- dern des südlichen Afrikas. Es ist bedauerlich, wie un- Ich war im Januar dieses Jahres zum 100. Jahrestag kritisch, ja fast schon beschönigend über den noch nicht des Beginns des Aufstandes der Hereros gegen die deut- erfolgreichen Prozess der Landreform in Ihrem Papier schen Kolonialherren in Namibia. Ich habe ein wunder- gesprochen wird. Ich möchte auf dieses Thema hier schönes Land vorgefunden, das rein äußerlich, wenn nicht weiter eingehen, auch deshalb nicht, weil Ihr An- man durchfährt, sehr stark durch Europa und durch trag seinem Titel entsprechend für diese Debatte etwas Deutschland geprägt erscheint. Das betrifft nicht nur die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10427

Hans-Christian Ströbele (A) Straßen, sondern auch die Häuser und Ortschaften. Das ändert worden. Aber diese Botschaft kommt klar zum (C) freut einen zunächst. Ausdruck. Ich meine, der Deutsche Bundestag sollte sich dazu bereit finden, diese Botschaft geschlossen und ein- Ich habe dann gesehen, dass diese Straßen über Hun- heitlich nach Namibia zum 100. Jahrestag des Geden- derte von Kilometern rechts und links von Zäunen einge- kens an dieses deutsche Tun zu verabschieden. grenzt sind. Hinter diesen Zäunen liegen die großen Far- men. Ich habe mich gefragt: Wo leben hier eigentlich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schwarzen Menschen? Wo sind die Dörfer und die klei- und bei der SPD) nen Städte? Wo sind die Bewohner und deren Siedlun- gen? Ich habe gehört, dass es sie kaum mehr gibt. Die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wenigen Familien leben als Landarbeiter auf den Far- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Heinrich. men. Dieses Bild von Namibia ist ein Ergebnis deutscher Kolonialpolitik. Ulrich Heinrich (FDP): Die deutschen Kolonialherren haben Ende des Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- 19. Jahrhunderts der dortigen Bevölkerung das Land ge- legen! Wir gedenken heute eines traurigen Ereignisses in nommen und an die deutschen Siedler verteilt. Viel Land der deutsch-namibischen Geschichte, nämlich des Auf- ist noch heute in den Händen von Siedlern aus Europa standes der Hereros und Nama gegen die Kolonialmacht bzw. aus Deutschland. Die großen Farmen sind nur zu Deutschland und dessen Niederschlagung vor 100 Jah- einem ganz geringen Anteil in den Händen von Schwar- ren. Besonders schlimm war die billigende Hinnahme, zen. Als sich die Hereros, die dort zu Hause waren und dass ganze Bevölkerungsgruppen vernichtet worden denen das Land genommen wurde, vor 100 Jahren auf- sind. Deshalb dürfen wir die blutige Niederschlagung lehnten, haben die Deutschen gegen dieses Volk und ge- der Aufstände nicht vergessen. gen das Volk der Nama, die sich anschließend erhoben haben, einen Vernichtungskrieg geführt. Wir gedenken heute hier im Bundestag der Opfer un- ter den Hereros und Nama. Als ich bei meiner letzten Ich möchte nur ein Zitat über den Hintergrund und Afrikareise in Ruanda war und in Kigali die Gedenk- den Auftrag der damaligen Kriegsführung verlesen. stätte besucht habe, die zum 10. Jahrestag des Genozids Der damalige oberkommandierende deutsche General- errichtet worden ist, war ich erschüttert, weil ich durch leutnant von Trotha hat am 4. November 1904 dazu er- sehr eindeutige Bilder genau an diese Taten und die da- klärt – ich zitiere –: malige Situation erinnert worden bin. Das hat mich tief beeindruckt. Ich kenne genügend Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der (B) Namibia ist der jüngste Staat Afrikas, gegründet (D) Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terro- 1990. Deutschland spielte damals eine entscheidende rismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war Rolle bei der Unabhängigkeit Namibias, deren Prozess und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständi- fast elf Jahre gedauert hat. Die Resolution 435, die auch schen Stämme mit Strömen von Blut. durch die intensive Unterstützung des damaligen Außen- ministers Hans-Dietrich Genscher zustande kam und Das war der Auftrag, der damals an die deutschen Trup- nach quälenden Verhandlungen von den Vereinten Na- pen ergangen ist. tionen verabschiedet worden ist, hat die Grundlage dafür Die Deutschen haben nicht nur einen Vernichtungs- gelegt. Wir bekräftigen heute die besondere Verantwor- krieg geführt. Sie haben die ersten Konzentrationslager tung für die Geschichte, aber auch die besondere Ver- der deutschen Geschichte – es waren fünf – eingerichtet. pflichtung in der Gegenwart und in der Zukunft. 45 Prozent der Insassen haben die Konzentrationslager Dieses wird durch die enge wirtschaftliche Zusam- nicht überlebt. Von den 80 000 Hereros, die vor Beginn menarbeit und ganz besonders in der Entwicklungs- des Krieges gezählt worden waren, haben circa 15 000 zusammenarbeit deutlich. Um nur eine Zahl zu nennen: den Vernichtungskrieg überlebt. Von den circa In den Jahren seit 1990 ist Hilfe in Höhe von etwa 20 000 Nama waren es circa 9 000. 500 Millionen Euro in dieses Land geflossen. Das ist An diese deutschen Taten erinnern wir uns heute. Wir eine beachtliche Summe und unterstreicht die Richtig- verabschieden heute diesen Antrag. Ich bitte um Ihre Zu- keit unserer damaligen Entscheidung. Wir wollen und stimmung, weil wir unser Gedenken an dieses deutsche müssen in der heutigen Situation die Hilfe fortsetzen. Handeln vor 100 Jahren deutschen Delegationen, die Ich möchte noch kurz – meine Redezeit von drei Mi- zum Jahrestag der Schlacht am Waterberg nach Namibia nuten ist fast beendet – ein kritisches Wort zu dem heuti- fahren, mitgeben wollen. Wir wollen unsere Trauer und gen Staat Namibia sagen. Mich erfüllt die Landreform unser Bedauern gegenüber dem Volk der Hereros und mit Sorge, und wir müssen darüber, wie die Landreform der Nama und den anderen Völkern in Namibia zum durchgesetzt werden soll, kritische Betrachtungen an- Ausdruck bringen, und zwar ohne Wenn und Aber. Un- stellen. Das Prinzip des willigen Käufers und des willi- sere politische und moralische Verantwortung für das, gen Verkäufers auf der Grundlage der Verfassung wird was in deutschem Namen dort geschehen ist, für diesen offensichtlich in einer Art und Weise interpretiert, die Vernichtungskrieg wollen wir übernehmen und durch Fragen aufwirft. den Deutschen Bundestag anerkennen. Um nicht weni- ger und nicht mehr geht es in diesem Antrag. Ich hätte Vor einiger Zeit wurden Farmer aufgefordert, ihre mir den Antrag anders gewünscht. Er ist sehr stark ver- Ländereien dem Staat anzubieten. Wer innerhalb von 10428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Ulrich Heinrich (A) 14 Tagen nicht antwortet, läuft Gefahr, dass nach einer men, unsere engen Beziehungen zu Namibia weiter zu (C) richterlichen Entscheidung sein Land enteignet wird. Er intensivieren und unsere namibischen Freunde und Part- erhält zwar eine Entschädigung, aber in den Farmerfami- ner besonders zu unterstützen. Ich halte dies vor dem lien ist trotzdem eine enorme Unruhe entstanden. Denn Hintergrund der besonderen kulturellen, wirtschaftlichen wie jeder weiß, kommen die Investitionsbereitschaft und und politischen Beziehungen zwischen Namibia und die weitere Planung in den Betrieben zum Erliegen, Deutschland, wie sie unter anderem in der einstimmig wenn ein solcher Akt voraussehbar ist. Es gibt deutliche beschlossenen Bundestagsresolution vom 16. März 1989 Signale vonseiten der Opposition, die diese Politik heftig gemeinsam manifestiert wurden, für richtig und absolut kritisiert. Sie wissen, wie wichtig eine funktionierende notwendig. Landwirtschaft ist. Sie wissen auch, dass sie in Namibia (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- zurzeit noch ein bedeutender Wirtschaftsbereich ist und NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- welche Gefahr besteht, wenn es zu Irritationen und Unsi- ten der SPD) cherheiten kommt. Ich habe in Vorbereitung auf diese Debatte die Rede- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: beiträge der Kollegen Toetemeyer, Hornhues und Frau Herr Kollege! Hamm-Brücher zu der damaligen Debatte nachgelesen, weil ich seinerzeit dem Parlament noch nicht angehört habe. Die Diskussion damals zeigte, für wie zerbrechlich Ulrich Heinrich (FDP): die Situation gehalten wurde. Deshalb möchte ich heute festhalten: Trotz allem sind unsere Gedanken bei den Opfern und trotz allem war Namibias friedlicher Weg in die Unabhängigkeit war und ist es richtig, dass wir ihrer heute gedenken. beispielhaft. Auch das unabhängige Namibia müssen wir auf seinem weiteren Weg in die Zukunft als Freund und Herzlichen Dank. Partner begleiten. Namibia ist und bleibt ein wichtiger (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Partner Deutschlands in Afrika. Umgekehrt ist Deutsch- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- land auch für Namibia ein besonders wichtiger Partner, NISSES 90/DIE GRÜNEN) wie zum Beispiel der namibische Botschafter, Hanno Rumpf, gerade am Nationalfeiertag wieder deutlich be- tont hat. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartwig Fischer. Ich begrüße daher außerordentlich die intensive Koo- peration zwischen Deutschland und Namibia im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Kein anderes Land (B) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): (D) der Welt erhält pro Kopf so viel Unterstützung von deut- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! scher Seite wie Namibia. Weiterhin ist Deutschland der Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir gedenken der Op- größte Einzelgeber von Entwicklungshilfe für das Land. fer der damaligen grauenhaften Taten. Meine Vorredner Dies ist Ausdruck unserer tiefen Verbundenheit und haben den Beginn des Hereroaufstandes gegen die deut- Freundschaft mit der namibischen Bevölkerung. schen Kolonialherren ist Südwestafrika bereits erwähnt. Nachdem im Januar 1904 die ersten Schüsse gefallen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie waren, kam es im August am Waterberg zur Entschei- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- dungsschlacht, die wenige Wochen später mit der Flucht NISSES 90/DIE GRÜNEN) eines großen Teils des Hererovolkes in die damals was- serlose Omahekewüste endete. Hierbei verhungerten Es sei mir jedoch in diesem Zusammenhang erlaubt, oder verdursteten die meisten der Vertriebenen. Es war an das Gespräch der Bundesministerin Wieczorek-Zeul ein furchtbarer Feldzug der kaiserlichen Schutztruppe. mit dem namibischen Präsidenten Sam Nujoma im Juni Auch an der Tatsache einer humanitären Katastrophe 2002 in Berlin zu erinnern. Für den Kooperationssektor kann und darf nicht gezweifelt werden. Neben der hohen „Ländliche Entwicklung“ sowie für die Konzeption ei- Zahl der Opfer war das Grauenhafte die billigende Hin- ner ökologisch und ökonomisch nachhaltigen, verfas- nahme der Vernichtung von Teilen einer ganzen Volks- sungs- und gesetzeskonformen Landreform wurde da- gruppe. mals von der rot-grünen Regierung schnelle und vor allem unbürokratische Hilfe zugesagt. Aus namibischer Selbstverständlich wollen und müssen wir Deutschen Sicht erscheint die Umsetzung jedoch als ausgesprochen uns der kolonialen Vergangenheit mit aller Klarheit und schleppend und bürokratisch. Teilweise wird im Aus- Deutlichkeit stellen. Deshalb halte ich es für richtig, dass bleiben ernsthafter internationaler Hilfe sogar ein Motiv wir der Opfer des Herero- und Namavolkes auch im für die sich radikalisierende Debatte über die Land- Bundestag gedenken. Wir wollen damit dazu beitragen, reform in Namibia gesehen. den Opfern ihre Würde und Ehre wiederzugeben. Das wäre gerade auch aus der Sicht der heute lebenden Nach- Frau Eid, ich möchte daher die Bundesregierung ein- fahren ein besonders wichtiger Akt, um endlich wenigs- dringlich auffordern, die Umsetzung ihrer Zusagen zu tens eine Art von Frieden mit ihnen zu schließen. überprüfen und gegebenenfalls korrigierend und be- schleunigend einzugreifen. Deutschlands Stimme und Die Geschehnisse sind 100 Jahre her und die Schuldi- sein Verhalten haben Gewicht und Einfluss in Namibia. gen sind nicht mehr am Leben. Ich plädiere deshalb da- Unser Kollege Ruck hat am 17. Mai dieses Jahres des- für, dass wir das Gedenken an damals zum Anlass neh- halb einen Brief an Ihre Ministerin gerichtet mit der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10429

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) Bitte, uns zu beantworten, warum dies alles so schlep- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster (C) pend erfolgt. Eine Antwort ist bis heute nicht gegeben der Abgeordnete Thomas Rachel. worden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt brauchen diejenigen Thomas Rachel (CDU/CSU): Kräfte Namibias, die an einer stabilen, friedlichen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nachhaltigen Entwicklung des Landes festhalten, unsere Die Menschen denken nicht gerne über ihre Endlichkeit tatkräftige, energische Unterstützung. Sollte in Namibia nach. Sie denken auch nicht gerne über den Tod und der Eindruck entstehen, dass Deutschland das Interesse über die Fragen nach, die damit verbunden sind. Ob wir an der Zukunft des Landes verliert oder allenfalls büro- nach unserem Tod unsere Organe zur Verfügung stellen kratisch-schwunglos handelt, dann besteht die ernste Ge- sollen, ist eine solche Frage. Ohne Anstoß setzen wir uns fahr, dass politische Hardliner und Befürworter einer damit nicht gerne auseinander. Wenn man Sie fragen konzeptions- und perspektivlosen Enteignungspolitik die würde, ob Sie mit Ihren Angehörigen darüber gespro- Oberhand gewinnen. Namibia muss neben Südafrika ein chen haben oder ob Sie einen Organspendeausweis be- sicherheitspolitischer Stabilitätsanker im südlichen sitzen, würden die wenigsten von Ihnen dies bejahen. Afrika bleiben. 70 Prozent der Deutschen wären zwar grundsätzlich be- reit, ein Organ zu spenden. Aber nur 12 Prozent haben Herr Ströbele, Sie haben eben an uns appelliert, dass einen Organspendeausweis. Dies zeigt die nicht ausrei- es zu einer gemeinsamen Entschließung kommen muss. chende Information und Mobilisierung der Bevölkerung. Die Kollegin Eymer ist auf Einzelheiten Ihres Antrages Das Transplantationsgesetz von 1997 mit der „er- bereits eingegangen. Ich bedauere, dass wir uns heute weiterten Zustimmungslösung“ bezeichnet Organtrans- hier enthalten müssen. Ich will dies aber begründen. Sie plantation als Gemeinschaftsaufgabe. Wir haben alles zu haben Ihren Antrag überfallartig eingebracht. Wir haben tun, um die notwendige Menge an Organen zu erreichen. ihn zuerst in einer anderen Fassung erhalten, nachdem Sieben Jahre nach Verabschiedung des Transplantations- die Gremien des Deutschen Bundestages, deren Zeitab- gesetzes müssen wir feststellen, dass dieses Ziel nicht er- läufe uns allen bekannt sind, getagt hatten. Wir haben reicht worden ist. danach Ihren Antrag in der endgültigen Fassung bekom- men. Obwohl ich persönlich im Gespräch darum gebeten Die heute vorliegende Große Anfrage der CDU/ hatte, war es nicht möglich, heute das erste Mal über Ih- CSU-Bundestagsfraktion bietet eine sehr gute Gelegen- ren Antrag zu debattieren und in 14 Tagen einen inter- heit, die weiterhin bestehenden Probleme im Bereich der fraktionellen Antrag vorzulegen. Ich glaube, dass dies Organtransplantation in den Fokus der Öffentlichkeit zu gerade vor dem Hintergrund des Antrages, auf den man rücken. Obwohl sich binnen 25 Jahren die Zahl der sich 1989 geeinigt hatte, möglich gewesen wäre. Organtransplantationen um den Faktor 100 erhöht hat (B) – 1968 noch 32 Transplantationen, im Jahr 2001 3 863 –, (D) Wir werden uns heute der Stimme enthalten. Ich finde gibt es zu wenig Organe, um allen hilfsbedürftigen Men- es schade, dass es keine andere Möglichkeit gab. schen zu helfen und ihr Leben zu retten. Hätten wir eine Zustimmungsrate von 50 Prozent und eine optimale (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Koordinierung zwischen den Zentren und den Kranken- häusern, könnte die Versorgung gesichert werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Warum also, meine Damen und Herren, stehen über Ich schließe damit die Aussprache. 12 000 Menschen in Deutschland auf einer Warteliste Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag und hoffen auf ein lebensrettendes Organ? Muss es so der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit bleiben, dass ein Drittel dieser Patienten stirbt, weil nicht dem Titel „Zum Gedenken an die Opfer des Kolonial- rechtzeitig ein Organ zur Verfügung steht? Es darf nicht krieges im damaligen Deutsch-Südwestafrika“, Druck- so bleiben, meine Damen und Herren, denn Organspen- sache 15/3329. Wer stimmt für den Antrag? – Wer den betrachten wir Christdemokraten als einen Akt stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit barmherziger Solidarität. den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen so- Auch die Kirchen haben wichtige ethische Beiträge wie der Abgeordneten Pau bei Enthaltung von CDU/ zum Thema Organtransplantation geleistet. Ich erinnere CSU und FDP angenommen. an die Schrift der beiden Kirchen „Gott ist ein Freund des Lebens“ und an die Schrift „Organtransplantation“. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: In der Erklärung von 1989 haben die Kirchen gesagt: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Die Kirchen wollen auch weiterhin die Bereitschaft Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm, zur Organspende wecken und stärken. Die Organ- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der spende kann eine Tat der Nächstenliebe über den CDU/CSU Tod hinaus sein. Förderung der Organspende Die Bundesregierung sieht leider beim Thema Organ- – Drucksache 15/2707 – spende – ich zitiere – „keinen direkten Handlungsbe- darf“. Nein, sie kürzt sogar die Geldmittel für ihre Kam- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die pagne. Im Jahr 2002 stand nur noch die Hälfte der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Geldmittel für die Kampagne zur Organspendebereit- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. schaft zur Verfügung. Da fragt man sich: Wie will diese 10430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Thomas Rachel (A) Bundesregierung eigentlich ihrer Aufgabe nachkommen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) die Organspendebereitschaft zu erhöhen? Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Auch auf weitere drängende Fragen kommen keine Wodarg. Antworten. Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau!) Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- Zum Beispiel stellt sich das Problem, dass sich nur legen! Die CDU/CSU hat eine Große Anfrage an die 40 Prozent aller Krankenhäuser mit Intensivstation an Bundesregierung gerichtet. Die Antworten liegen noch der Organspende beteiligen. Nach dem Transplantations- nicht vor. Die Bundesregierung hat zu dem Thema Or- gesetz besteht aber eine Pflicht, Patienten zu melden, die ganspende natürlich regelmäßig Bericht erstattet; das als Spender infrage kämen. Aber was tut die Regierung, Robert-Koch-Institut schildert die Situation. Ihre Vor- zusammen mit den Bundesländern, dafür, dass die Kran- lage bezieht sich in einigen Punkten darauf. kenhäuser diese Meldepflicht auch erfüllen? Es muss Es ist wichtig, dass das Ganze noch ein wenig an- dringend sichergestellt werden, dass Patienten mit Hirn- schaulicher wird. Pro Tag spenden in Deutschland etwa tod den Transplantationszentren gemeldet werden; an- drei so genannte hirntote Menschen ihre Organe. Nur dernfalls gehen Organe verloren und sterben Patienten. 5 Prozent dieser Menschen teilen über einen Organspen- Auch angesichts der Diskussion um die Ausweitung deausweis mit: Ja, ich will, dass das so geschieht. – Man der Lebendspende bleibt die Bundesregierung weitge- muss also schon mehrere Tage auf einen solchen Fall hend untätig. Die Zahl der Lebendspenden hat zugenom- warten. Bei weiteren 8 Prozent ist es so, dass die Ange- men. Eine enge Begrenzung auf besondere Näheverhält- hörigen sagen: Ja, ich glaube, er hat einmal gesagt, dass nisse wurde durch die Rechtsprechung infrage gestellt. er das wohl will. – Der Wille dieses Hirntoten wird also So soll die Cross-over-Spende nicht mehr schlechthin kolportiert, ohne dass er schriftlich vorliegt. Bei ausgeschlossen sein. 87 Prozent derjenigen, die als hirntote Organspender in- frage kommen und denen Organe entnommen werden, Lebendspenden bergen aber Probleme. Sie betreffen ist es so, dass die Angehörigen praktisch stellvertretend einmal die Freiwilligkeit der Spende; zum anderen gibt entscheiden. Eigentlich wissen sie es nicht genau, aber es für die Spender selber keinen therapeutischen Nutzen. sie vermuten, dass dies sein Wille ist: Es wird wohl so Vielmehr ist die Entnahme eines Organs mit gesundheit- sein; er war ja ein guter Mensch. – Es gibt also Konstel- lichen Risiken und psychischer Belastung verbunden. lationen, die sehr bedrückend sind. Im Hinblick auf den Mangel an postmortalen Spende- Der Druck, der auf Angehörigen, die das entscheiden (B) organen wird zunehmend die Subsidiarität der Lebend- müssen, im Krankenhaus lastet, ist sehr groß. Wir ken- (D) organspende infrage gestellt. Wir fordern, daran festzu- nen Angehörige, die es hinterher bereut haben, Ja gesagt halten, dass eine Lebendspende nur dann zulässig ist, zu haben. Wir kennen auch Angehörige, bei denen es an- wenn kein postmortales Spendeorgan zur Verfügung ders ist. Sie denken: Es ist gut so, dass das Herz jetzt je- steht. mand anders zugute kommt, also in einem anderen Men- (Beifall bei der CDU/CSU) schen weiterschlagen kann. Oder sie denken: Es ist gut, dass jemand nicht mehr zur Dialyse fahren muss, son- Die Ausweitung der Lebendspende darf nicht zur Ver- dern mit einer gespendeten Niere wieder arbeiten nachlässigung der Bemühungen um postmortale Spen- kann. – Die Gefühle sind also sehr gemischt. den führen. Wir wundern uns, dass von den Krankenhäusern so Wir müssen dringend die Forschung im Bereich der wenig Fälle gemeldet werden. Wir müssen zur Kenntnis Transplantationsmedizin, zum Beispiel auf den Gebieten nehmen, dass das Personal, das in den Krankenhäusern der Xenotransplantation und der Entwicklung künstli- arbeitet, auch nicht viel anders fühlt und denkt als die cher Organe, intensivieren. Menschen, die als Spender infrage kommen. Auch beim Meine Damen und Herren, wir sehen im Bereich der Personal ist es so, dass etwa zwei Drittel derjenigen, die Organtransplantation dringenden Handlungsbedarf. Die man fragt, sagen: Ja, ich finde es gut, dass gespendet Bundesregierung tut diesbezüglich leider zu wenig. wird. – Dennoch sind es sehr wenige, die das schriftlich bekunden, zum Beispiel durch einen Organspendeaus- (Beifall bei der CDU/CSU) weis, den man mit sich trägt. Auf jeden Fall wird die Enquete-Kommission „Ethik Im Krankenhaus ist es meines Erachtens so – ich kann und Recht der modernen Medizin“ dieses Parlaments das auch aus eigener Erfahrung sagen, aus Gesprächen – ich freue mich, viele Kollegen hier unter uns zu mit dem Personal in den Krankenhäusern, die ich immer sehen – konkrete Vorschläge für das Parlament erarbei- wieder geführt habe –, dass Ärzte und Pflegepersonal ten. Die Missstände, die wir zurzeit haben, zu ignorieren nicht in den Ruch kommen möchten, dem Patienten im heißt nämlich, die zahlreichen Menschen, die dringend Interesse Dritter gegenüberzutreten. Das heißt, sie haben ein Organ brauchen, das lebensrettend ist, allein zu las- den Angehörigen und den Patienten gegenüber nicht nur sen – mit tödlichen Folgen. Dies wollen wir nicht. das Wohl ihres Patienten, sondern auch das Wohl Dritter, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die auf Organe warten, im Hinterkopf. Das beißt sich. Dort gibt es Konflikte, auch beim Personal. Das muss (Beifall bei der CDU/CSU) man zur Kenntnis nehmen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10431

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Der Deutsche Bundestag hat deshalb 1997 die Melde- laut Oberender und Rudolf bei 50 000 bis 70 000 US- (C) pflicht für die Krankenhäuser gesetzlich verankert. Die Dollar. Krankenhäuser halten sich nicht oder kaum daran. Daher müssen wir uns wirklich fragen, ob man durch eine sol- Vizepräsident Dr. : che Pflicht Vertrauen schafft und ob man durch solche Herr Kollege Wodarg, da Sie offenkundig übersehen Zwangsmaßnahmen das notwendige Bewusstsein schaf- haben, dass Ihre Redezeit längst abgelaufen ist, fen kann. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber bei wei- Zusätzlich zu dieser Debatte wird eine Diskussion tem!) über Organhandel geführt. Mit Organtransplantationen wird sehr viel Geld verdient. Es wird nicht nur die Arbeit darf ich Sie – nehmen Sie es mir nicht übel – daran erin- der Ärzte und des Pflegepersonals bezahlt; das Organ nern. selbst ist zur Ware im weltweiten Handel geworden. Es ist möglich, in andere Länder, nach China, nach Israel, Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): zu fahren und dort Organe zu kaufen. Was das bedeutet, Schade. Ich hätte den Anwesenden gern noch viele in- können wir uns nur schwer vorstellen. Da bedarf es teressante Informationen gegeben. Wir werden von der schon einiger Vorstellungskraft. Wir versuchen in der Staatssekretärin aber noch viele Informationen bekom- Enquete-Kommission, durch Befragungen und durch men. Wir werden das Thema erneut diskutieren, wenn Anhörungen weiterzukommen. die Große Anfrage beantwortet ist. Aber man soll ja die Gelegenheit nutzen. Ingrid Schneider, die für uns eine Stellungnahme ge- schrieben hat, sagt, angesichts der Möglichkeit, jetzt im Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ausland Organe zu kaufen, und zwar als Lebendspende, komme von Familien typischerweise die Frage: Warum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ soll ich jemandem aus meiner Familie oder meinem DIE GRÜNEN) Freundeskreis das Risiko einer Organspende zumuten, wenn ich doch eine Niere kaufen kann? Daran zeigt sich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ein bisschen, was es mit sich bringt, wenn es denn gegen Das Wort hat nun der Kollege Detlef Parr für die Geld Organe gibt. Dann entsteht ein Organtransfer, der FDP-Fraktion. zurzeit natürlich von Süden nach Norden, von Osten nach Westen, von Frauen zu Männern, von Schwarzen Detlef Parr (FDP): zu Weißen, von Armen zu Reichen geht. Genau das kann Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde (B) man beobachten. Genau darüber hat der Europarat erst mir etwas mehr Selbstdisziplin abverlangen. (D) vor kurzem berichtet. Wir haben im Europarat eine Ent- schließung formuliert, in der der zunehmende Organhan- Die Transplantation von Organen in einen anderen del angeprangert wird, in der von den 45 Mitgliedstaaten Menschen bleibt für mich immer noch ein Wunder des des Europarates ganz deutlich gesagt wird, der Verkauf medizinischen Fortschritts. Sie wird seit nunmehr fast von Organen, von Menschenteilen und von ganzen Men- 40 Jahren in Deutschland durchgeführt. Leben wird da- schen – dort wurde auch über Menschenhandel gespro- durch gerettet, Lebensqualität erheblich verbessert. chen – sei gleichermaßen zu verurteilen; da komme man Doch der Fortschritt hat leider seine Grenzen. Die ganz stark in Konflikt mit den Menschenrechten. Zahl der Organspenden konnte mit den medizinischen (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Möglichkeiten und dem gestiegenen Bedarf nicht mehr Schritt halten. Derzeit warten 11 500 Patientinnen und Deswegen lehnen wir auch die Tendenz ab, die wir in Patienten auf ein Spenderorgan. Die durchschnittliche Deutschland beobachten. Die Forderung, die jetzt erho- Wartezeit bis zur Transplantation einer Niere beispiels- ben wird, nämlich dass es einen Markt für Organe weise beträgt etwa fünf Jahre. Das Warten auf ein Herz auch in Deutschland geben soll, dass es Menschen er- oder eine Leber bedeutet meist einen Wettlauf mit der laubt sein soll, ihre Organe zu verkaufen, wie das Zeit, den viele Patienten nicht gewinnen. Oberender und Rudolf aus Bayreuth im Oktober vorigen Jahres veröffentlicht haben, die auch von der Deutschen (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ja! – Horst Stiftung Organtransplantation immer wieder in die Dis- Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!) kussion eingebracht wird und die aus den Fragen der Bezogen auf die Einwohnerzahl werden in Deutsch- CDU/CSU-Fraktion herausklingt – man will hier einen land weit weniger Organe transplantiert als in den meis- Bewusstseinswandel schaffen und die Menschen über fi- ten unserer Nachbarstaaten. Aus gutem Grund fragt die nanzielle Anreize dazu bringen, ihre Organe zu verkau- CDU/CSU bei der Bundesregierung nach; denn die Zah- fen –, lehnen wir ab. Das wollen wir nicht. Das darf in len aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes Deutschland nicht stattfinden. Das wird auch die Bun- sind höchst beunruhigend. desregierung nicht anders sehen. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ja!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 2001 lag der Beteiligungsgrad der Krankenhäuser mit Intensivstationen bei 44 Prozent. Gerade bei den Kran- In Israel wird eine Niere für etwa 100 000 Dollar ver- kenhäusern der Grundversorgung ist die Beteiligung ge- kauft. Der Gewinn aus dem Handel mit einer Niere liegt ring. Nur 5,2 Prozent aller postmortalen Organentnahmen 10432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Detlef Parr (A) erfolgten aufgrund eines Organspendeausweises – mit 47 Fragen. Die CDU/CSU erwartet natürlich – das hoffe (C) der Folge, dass nur bei 54 Prozent der potenziellen Or- ich zumindest –, dass diese Fragen fundiert und umfas- ganspender Organe entnommen werden konnten, da es send beantwortet werden. Anscheinend ist sie jedoch in den anderen Fällen zu einer Ablehnung durch die An- nicht bereit, der Bundesregierung die Zeit zuzugestehen, gehörigen gekommen war. Wenn aber 67 Prozent der die für das Einholen der notwendigen Informationen nun Bevölkerung bei einer Umfrage ihre ausdrückliche Ak- einmal notwendig ist. zeptanz erklärten, als Organspender zur Verfügung zu (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wie kommen stehen, dann kann und muss durch massive Aufklärung Sie denn darauf? Wer hat das gesagt?) der Bevölkerung, durch Thematisierung in der Gesell- schaft die Zahl derer erhöht werden, die ihre Akzeptanz Die Unionsfraktion weiß doch selbst am besten, dass schriftlich oder zumindest mündlich klar äußern. ihre Fragen nicht nur die Bereiche von Bund und Län- dern betreffen, sondern zum Beispiel auch die Trans- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten plantationszentren, die Kostenträger und vor allem die der CDU/CSU) Deutsche Stiftung Organtransplantation als Koordinie- Wichtig ist für die FDP: Die Zustimmungslösung rungsstelle. steht für uns nicht zur Disposition. Jeder Mensch muss Sollte die CDU/CSU jedoch tatsächlich so misstrau- das Recht haben, selbst zu entscheiden. Eine Wider- isch gegenüber der Bundesregierung sein, was die Be- spruchslösung lehnen wir deswegen weiterhin ab. antwortung ihrer Fragen angeht, so frage ich mich, wa- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. rum sie sich nicht auf das ureigene Beratungsorgan des Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]) Bundestages, die Enquete-Kommission, beruft, Ein Thema, das immer stärker in die öffentliche Dis- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kussion rückt, die Lebendspende, wurde auch in der SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anfrage thematisiert. Es ist gut, dass sich die Enquete- Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]) Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medi- hat doch der Bundestag nicht nur in der letzten, sondern zin“ intensiv damit befasst; denn wir werden und müssen auch in dieser Wahlperiode die Enquete-Kommission über die Ausweitung der möglichen Spender für eine Le- „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ einge- bendspende reden. Der Staat sollte meiner Meinung setzt, die sich explizit unter anderem mit der Organ- nach keine Organspenden verhindern, wenn ein einwilli- spende auseinander setzt und von der ich weiß, dass in gungsfähiger und aufgeklärter Bürger ein Organ ohne ihr auch Mitglieder der CDU/CSU vertreten sind. finanzielle Interessen spenden will, um ein Menschenle- ben zu retten. Die Beschränkung auf Empfänger, zu (Zuruf der Abg. Julai Klöckner [CDU/CSU]) (B) (D) denen der Organspender ein Näheverhältnis hat, er- scheint nicht mehr haltbar. Überkreuzspenden und altru- – Schreien Sie doch nicht immer! Hören Sie zu! istische Spenden in einen Organpool sollten ermöglicht (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wer blökt denn werden; auch über die Zulassung einer Organspende für hier?) einen bestimmten Empfänger ohne besonderes Nähever- hältnis sollte nachgedacht werden, vorausgesetzt, eine Die Enquete-Kommission wird voraussichtlich Ende des eingehende ethische Prüfung ergibt, dass es sich nicht Jahres einen Zwischenbericht zum Thema Lebendorgan- um Organhandel handelt. Darin, Herr Kollege Wodarg, spende vorlegen. Deshalb frage ich mich: Sollte nicht sind wir einer Meinung: Organhandel als Geschäft ist in unabhängig von der Beantwortung der Anfrage durch Deutschland nicht zu akzeptieren. die Bundesregierung dieser Bericht abgewartet werden, bevor man beispielsweise über eine Weiterentwicklung Wir sind gespannt, wie die Antworten der Bundesre- des Transplantationsgesetzes in Richtung Lebendorgan- gierung auf die Fragen der Union lauten, und freuen uns spende nachdenkt? Wenn Sie den Prozess bis Ende des auf die Debatte im Parlament, die die Union anstößt. Jahres nicht abwarten können – Sie sitzen in dieser En- Herzlichen Dank. quete-Kommission –, dann tragen Sie dazu bei, dass er beschleunigt wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sehr gut!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Selg, Bünd- Ich möchte nicht weiter über die Intention der CDU/ nis 90/Die Grünen. CSU spekulieren, diese Beratung heute Abend hier ein- zufordern. Dazu ist die Thematik der Organspende und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie ihre gesetzliche Regelung einfach ein zu sensibles Feld. des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Lieber mal zur Sache!) Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Genau deshalb ist als Erstes grundsätzlich festzuhalten, ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der dass das Transplantationsgesetz insgesamt weitgehend CDU/CSU hat vor knapp drei Monaten eine Große An- Rechtssicherheit geschaffen hat. Es ermöglicht eine trag- frage zur Förderung der Organspende an die Bundesre- fähige Regelung für die Praxis der Organtransplantation. gierung gerichtet. Die Anfrage umfasst immerhin Zu diesem Ergebnis ist übrigens auch die Enquete-Kom- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10433

Petra Selg (A) mission in ihrem Abschlussbericht 2000 gekommen; ich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) hoffe, Sie haben ihn gelesen. Ich erteile das Wort der Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion. Thematisierungsbedarf gibt es vor allem aus drei Gründen: Der erste Grund ist die Tatsache, dass die Län- der bei der Umsetzung des Transplantationsgesetzes Julia Klöckner (CDU/CSU): hinterherhinken. So gibt es erst wenige Landesgesetze, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich die sich dieser Zuständigkeit annehmen, und dies, ob- denke, dieses Thema ist nicht dazu geeignet, Applaus zu wohl es nachweislich positive Effekte auf die Zunahme erheischen, dem einen oder anderen eins draufzugeben der Transplantationen postmortal gespendeter Organe oder ihn vorzuführen. Dieses Thema ist eines der weni- gibt. gen Themen hier im Parlament, bei denen es in der Tat um Leben und um Tod geht und bei denen wir zusam- Auch auf Länderebene hat man in der Zwischenzeit menarbeiten müssen. erkannt, dass es hier großen Nachholbedarf gibt. So be- fasst sich die heute und morgen tagende Gesundheitsmi- (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nisterkonferenz mit einem Antrag zur Verbesserung der Dann tun Sie es doch!) Organspendesituation. Hierbei werden wichtige Knack- Ich glaube nicht, dass man über ein Thema, zu dem punkte benannt: die Versorgungsaufträge der Kranken- vor sieben Jahren ein Gesetz verabschiedet worden ist, häuser, die Unterstützung der Deutschen Stiftung Organ- nicht mehr nachdenken muss, nur weil ein Abschlussbe- transplantation als Koordinierungsstelle und die richt einer Enquete-Kommission – das war übrigens Notwendigkeit konkreter Vorgaben für die Zulassung als kein Abschlussbericht; denn sonst stünde dieses Thema Transplantationszentrum. in der Enquete-Kommission nicht mehr auf der Tages- Der zweite Grund steht im Zusammenhang mit der ordnung – bzw. ein Ergebnis vorliegt. europäischen Geweberichtlinie, die Vorgaben für die Ich finde es sehr traurig, dass Sie diesen Zungen- Transplantation von Gewebe und Zellen macht. Hierbei schlag in die Debatte hineingebracht haben; denn es geht gibt es bezüglich der Transplantation von Gewebe Über- hier um eine Große Anfrage. schneidungen mit dem Transplantationsgesetz. Wie sol- len zum Beispiel die Verteilungskriterien für Augen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hornhäute gestaltet werden? Wie ist mit dem Gewebe neten der FDP) nicht transplantabler Organe umzugehen, also etwa mit Ich weiß jetzt nicht, ob Sie mit den parlamentarischen Herzklappen oder Leberzellen? Dies fällt nicht unter das Vorgehensweisen nicht vertraut sind. (B) derzeitige Transplantationsgesetz. Hier geht es bei der (D) Verteilung derzeit nach dem Motto zu: Wer zuerst (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kommt, mahlt zuerst – oder er nimmt sich, was er Natürlich!) braucht. Es gibt eine Große Anfrage – ich weiß nicht, ob diese ei- Der dritte Grund ist die tendenzielle Ausweitung der ner Enquete-Kommission entgegensteht. Lebendorganspende. Hier steht, wie gesagt, ein Bericht der Enquete-Kommission aus, der meiner Meinung nach (Zuruf von der FDP: Nein! Mitnichten!) abzuwarten ist. Noch einmal: Sollte er durch Ihre Mitar- Wenn Sie sich einmal das Programm unserer Enquete- beit schneller kommen, wäre nichts dagegen einzuwen- Kommission, insbesondere der Themengruppe Trans- den. Bei der Debatte um die Lebendorganspenden wird plantationsmedizin, anschauen würden, dann würden Sie dann hoffentlich berücksichtigt werden, dass es zu kei- sehen, dass es durchaus um ganz andere Themen geht als ner Beeinträchtigung der Postmortalspende kommen um das, was Sie uns in die Schuhe zu schieben versucht darf und dass ein Hauptaugenmerk auf den Versiche- haben. Es geht nicht um Profilierung, sondern es geht rungsschutz für Lebendorganspender liegt. wirklich darum: Wie können wir akut und sehr schnell optimieren und Möglichkeiten nutzen, die bisher nicht Zusammenfassend ist festzustellen: Die Große An- genutzt wurden, um dadurch Menschenleben zu retten? frage der CDU/CSU geht an dem eigentlichen Themati- sierungsbedarf vorbei, nämlich der Umsetzung durch (Beifall bei der CDU/CSU) landesrechtliche Regelungen und den Verteilungsregeln für Gewebe. Sie können aber sicher sein, Herr Rachel, Wie Sie wissen, kann man, wenn man eine Große An- dass Sie Ihre Antworten bekommen; denn an Sachthe- frage eingereicht hat, nach drei Wochen oder auch später men ist die Bundesregierung und ist auch die Koalition (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: immer interessiert. Sie können auch sicher sein, dass wir Nach drei Monaten!) das Thema gerne in den Focus der Debatte führen. Nur, für Showeinlagen dieser Art ist das Thema nicht geeig- – nein, Sie sollten sich einmal informieren – beantragen, net. dass man frühestens nach drei Monaten und vor allen Dingen, wenn die Anfrage beantwortet ist, eine Debatte Vielen Dank. dazu führt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer und die der SPD) muss sich jetzt informieren, Sie oder ich?) 10434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Julia Klöckner (A) Ich weiß nicht, warum Sie sagen, wir seien skeptisch; len wir Fragen, die uns bei der Arbeit in der Enquete- (C) das wundert mich schon sehr. Weder Herr Rachel noch Kommission helfen. Deshalb sind wir dankbar, wenn wir Herr Parr haben etwas Entsprechendes gesagt. Wir auf zuverlässige Daten vom Ministerium zurückgreifen möchten dieses Thema auf die Tagesordnung bringen, können. Schließlich geht es um die Xenotransplantation, weil es ein wichtiges Thema ist also um Forschungsentwicklungen in der Zukunft. Es ist doch schön, wenn wir das Ministerium in dieser komple- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr richtig!) xen Frage mitnehmen können. und weil wir auch den Menschen ein Zeichen geben wol- Ausgehend von dieser geschilderten kritischen Ent- len, die auf der Warteliste stehen, für viele ist es nämlich wicklung möchten wir wissen, wie ernst der Bundesre- eine Todesliste. Wenn wir heute Morgen zur Prime Time gierung das Thema ist. Die Gelder für Informationsmit- um 9 Uhr zu einer Regierungserklärung über das Über- tel sind in den vergangenen Jahren halbiert worden. gewicht in Deutschland reden, dann, so finde ich, kann Wenn ich aber kein Informationsmaterial habe, wenn man auch um 19 Uhr über Menschen reden, die auf ein ich mit dem Thema nicht in Berührung komme, dann lebensrettendes Organ warten. mache ich mir auch keine Gedanken darüber. Dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Punkt ist uns wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Nach rund sieben Jahren ist es nämlich an der Zeit, einmal zu schauen, ob das Ziel erreicht worden ist, das Ich glaube, Kollege Wodarg möchte eine Zwischen- mit dem Transplantationsgesetz 1997 beabsichtigt frage stellen. wurde, nämlich die Förderung der Organspende als Ge- meinschaftsaufgabe. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Kollege Rachel und Kollege Parr, aber auch Kollege Genauso ist es. Offenkundig wollen Sie die Zwi- Wodarg haben es erwähnt: Es ist in der Tat erschütternd, schenfrage auch zulassen. Bitte schön, Herr Wodarg. dass rund 14 000 Menschen auf der Warteliste stehen.

Ich kann Ihnen sagen, was mich sehr betroffen ge- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): macht hat und warum wir uns in dieser Frage so sehr en- Vielen Dank. – Frau Klöckner, als ich Ihre Fragen ge- gagieren. „Durst ist schlimmer als Heimweh“ hat einmal lesen habe, habe ich mich gewundert, dass Sie zwar sehr eine Dialysepatientin gesagt. Sie darf nur ein Glas Was- intensiv an die Menschen denken, die auf Organe warten ser trinken; sie steht seit Jahren auf der Warteliste und – natürlich ist das ein wichtiger Punkt –, dass Sie aber weiß, dass ihre Chancen, mit einer transplantierten Niere – und das fehlt mir – kein Gespür für die andere Seite (B) zu überleben, umso schlechter sind, je länger sie auf der zeigen. Es ist klar, dass viele von denen, die spenden, (D) Warteliste ist und an der Dialyse hängt. Das lässt einen nichts mehr sagen können. Aber man muss doch einmal nachdenklich werden. Ich denke, das ist Grund genug, die Situation der Angehörigen hinterfragen: Wie geht einmal nachzufragen, ob sich das, was man vor sieben es denen hinterher? Was ist mit denen? Wie haben die Jahren beschlossen hat, bewährt hat. Gegebenenfalls das verarbeitet? Das fehlt mir bei Ihnen völlig. müssen wir uns fragen, was man tun kann, damit das ef- fektiver wird. Was bei Ihnen außerdem fehlt – das ärgert mich sehr, das ärgert mich sogar am allermeisten –, ist, dass Sie in Teilweise gibt es eine grundsätzliche Zustimmung zur keinerlei Weise fragen, was man denn tun kann, damit Organspende, teilweise wollen sich Menschen damit diese Warteliste nicht immer länger wird – außer natür- einfach nicht beschäftigen. Wir haben das Thema auf die lich, dass man versucht, Organe zu beschaffen. Es hat Tagesordnung gesetzt, um diese Problematik wieder in doch Gründe, dass die Nieren versagen. Die Leute haben das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Wenn Sie einen schlecht eingestellten Blutzucker und Bluthoch- Menschen fragen, ob sie ein Organ nehmen würden, druck. dann wird die Antwort regelmäßig sein, dass sie das – zum Beispiel, wenn sie einen Unfall hatten – na- Julia Klöckner (CDU/CSU): türlich machen würden. Wenn man dieselben Menschen dann aber fragt, ob sie auch einen Organspendeausweis Können Sie eine Frage stellen? haben, dann heißt es häufig: Darüber habe ich nicht nachgedacht. Man wird ja auch nicht damit konfron- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): tiert. – An dieser Stelle möchten wir einen Beitrag leis- Die Leute nehmen Schmerzmedikamente ein, für die ten. in der Öffentlichkeit geworben wird. Es ist kein wirkliches Argument, dass doch ein Be- (Zurufe von der CDU/CSU: Frage stellen!) richt der Bundesregierung vorliege. Ein Bericht an sich ist noch kein Qualitätsmerkmal. Wir müssen schauen, All das sind die wichtigsten Gründe für Nierenversa- was die Ergebnisse sind und was wir mit diesen Ergeb- gen. nissen machen. Deshalb haben wir die Große Anfrage gestellt, die in drei Bereiche eingeteilt ist. Zum einen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: geht es um das Thema der postmortalen Spende, dem Herr Kollege, Sie müssten jetzt in der Tat eine Frage sich die Enquete-Kommission erst im nächsten Jahr zu- stellen; denn zu einer Kurzintervention haben Sie das wendet. Zudem geht es um die Lebendspende. Dazu stel- Wort weder erbeten noch erhalten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10435

(A) Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): wie Biologie, Ethik und Religion zu integrieren. Wenn (C) Meine Frage ist, weshalb diese Fragen in der Großen man seine Führerscheinprüfung macht, muss man auch Anfrage nicht auftauchen. über jedes Schild Bescheid wissen. (Beifall bei der CDU/CSU) Julia Klöckner (CDU/CSU): Ich habe eine Gegenfrage, Herr Wodarg: Warum ha- Ganz wichtig ist es, darauf zu achten, dass sich die ben Sie die Große Anfrage nicht gescheit durchgelesen? Kliniken mit dieser Thematik beschäftigen; denn sie Sehr wohl stehen diese Fragen darin. sind die Schnittstelle. Wir müssen hinterfragen, warum es viele kleine Kliniken unterlassen, hier aktiv zu wer- (Detlef Parr [FDP]: Sie müssen stehen bleiben, den. Legen sie dabei drauf, wenn sie eine oder zwei Herr Kollege!) Nächte einen Nierentoten auf der Intensivstation versor- – Stehen bleiben! Ich würde auch bei Ihnen gerne stehen gen müssen? Oder ist das Pflegepersonal nicht genügend bleiben. sensibilisiert, um mit den Angehörigen in angemessener Weise umgehen zu können? Herr Wodarg, wir können gerne nachher diese Fragen durchgehen. Wir haben sehr wohl danach gefragt, was Uns geht es keinesfalls um Populismus. Die DSO, die getan wird, um die Betreuung der Angehörigen zu ver- Sie so gerne zitieren, ist dankbar, dass die Union dieses bessern. Denn in der Tat geht es um die Angehörigen, Thema aufgegriffen hat und Anstöße gibt. Hier geht es die ja zustimmen müssen, die aber eine gewisse Hemm- nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Miteinan- schwelle haben, wenn ein von Ihnen geliebter Mensch der, um denjenigen zu helfen, die sich nicht selbst helfen verstorben ist. Sie werden auch die Fragen finden: Wird können. denn genügend bei der Personalausbildung in den Klini- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ken getan, damit diese besser mit den Betroffenen umge- hen können? Gibt es Organisationen bzw. Initiativen, die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sich nachher mit den Angehörigen treffen? Welche wei- Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die teren Maßnahmen schlägt die Bundesregierung vor, um Parlamentarische Staatssekretärin Caspers-Merk das hier weitergehend tätig werden zu können? Wort. Vielleicht kennen Sie nicht alle Fragen in der Großen Anfrage. Wir können sie gerne durchgehen. Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der (Detlef Parr [FDP]: Und Lesen!) Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (B) – Und lesen. – Ich bin sicher, dass wir die von Ihnen an- erinnere mich noch gut daran, als 1967 die erste Herz- (D) gesprochenen Fragen darin finden werden. transplantation durchgeführt wurde. Sie sorgte interna- tional für großes Aufsehen. Keiner hatte damals ge- Sie haben mir das Stichwort gegeben, um zu einem anderen Aspekt überleiten zu können. Wir wollen mit glaubt, dass das möglich ist und dass Patienten mit einem fremden Herzen überleben können. Heute gehört unseren Fragen herausfinden, wo es Missstände gibt. diese Operation zum Standard in den deutschen Herz- Wir halten dies für sehr wichtig. Aus dem Ministerium bekommt man aber zwischen den Zeilen gesagt, man zentren, wo Tag für Tag Herztransplantationen mit gro- müsse sich erst einmal einen Überblick verschaffen, zur- ßem Erfolg vorgenommen werden. Es ist also richtig, dass wir uns mit der Frage beschäftigen, welche Ergeb- zeit gebe es anderes zu tun und man sei unterbesetzt. Darauf antworte ich: Es wird Zeit, dass Sie sich einmal nisse mit dem Transplantationsgesetz erzielt werden einen Überblick verschaffen. Es ist bei dieser Thematik konnten. fatal, dass Sie keinen haben. Frau Kollegin Klöckner, das Transplantationsgesetz wurde von uns mitgetragen. Sie waren damals an der Re- (Beifall bei der CDU/CSU) gierung; Wir stellen auch konkrete Forderungen. Wir haben (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich war damals Vorstellungen, was man tun könnte, ohne dass das Ge- an der Uni!) setz geändert werden muss. Wir könnten uns zum Bei- spiel vorstellen, dass es einen entsprechenden Vermerk wir waren in der Opposition. Wir haben 1997 dieses Ge- auf der Krankenversichertenkarte gibt. Die Kranken- setz gemeinsam verabschiedet, weil wir wollten, dass kassen wollen alles von ihren Mitgliedern wissen. Daher eine sichere Rechtsgrundlage für die Spende, für die können sie auch abfragen, ob jemand Organspender wer- Entnahme und für die Transplantation von Organen ge- den möchte. Das kann auf einer Versichertenkarte gut schaffen wird. vermerkt werden. Das Gesetz hat sich im Wesentlichen bewährt. Dies Wichtig ist für uns, dass die Aufklärung weiterhin war auch die Einschätzung auf der Gesundheitsminister- forciert wird, dass es entsprechende Materialien gibt und konferenz, von der ich gerade komme. Die Länderminis- dass die Auseinandersetzung über diese Thematik wei- ter stellen fest, dass das Gesetz ein Erfolg ist. Im Jahr tergeführt wird. Wir fordern, dass diese Thematik in die 2003 wurden 11 Prozent mehr Organe als im Jahr 2002 Lehrpläne aufgenommen wird. Obwohl es Ländersache gespendet. Es gibt also eine deutlich positive Tendenz. ist, müssen wir das Thema ansprechen, ob es nicht sinn- Wir haben auch eine Zunahme der Transplantationen voll ist, die Aufklärungsarbeit im Rahmen von Fächern insgesamt. Es geht aufwärts. Das ist die gute Botschaft. 10436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) Aber auch die Kritik ist berechtigt, dass die Wartelis- Die dritte Aufgabe ist es, weiterhin für eine stärkere (C) ten immer noch zu lang sind und dass wir im europäi- gesellschaftliche Akzeptanz zu sorgen. Das können wir schen Vergleich noch keinen Spitzenplatz belegen, son- nicht nur über Broschüren tun, sondern das muss jede dern einen Platz, der uns veranlassen sollte, darüber und jeder in seinem Umfeld machen. Wir müssen die nachzudenken, was wir tun können. vorhandenen Sorgen und Nöte ernst nehmen und die Vorurteile abbauen. Wir müssen dafür sorgen, dass nie- Natürlich kann man die Anzahl der gespendeten Or- mand die ethischen Grundsätze außer Acht lässt und wir gane nicht planen und nicht verordnen. Da ist Überzeu- müssen die ethischen Bedenken der Spender und ihrer gungsarbeit notwendig und die vorhandenen „Stell- Angehörigen ernst nehmen. schrauben“ müssen richtig eingestellt sein. (Detlef Parr [FDP]: Öffentliche Debatte!) In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass die Zahlen, die hier genannt wurden, nicht korrekt Nur so kommen wir weiter. sind. Seit 1997 wurden insgesamt über 7 Millionen Euro Nun komme ich zu der Frage, welche Rolle die in die Aufklärungskampagne „Organspende schenkt Le- Enquete-Kommission in diesem Zusammenhang spielt. ben“ der BZgA gesteckt. Es ist richtig, dass es im letzten Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages Jahr weniger war; dafür ist es in diesem Jahr doppelt so sind Beratungsgremien, die sich der Bundestag selbst viel wie im vergangenen Jahr. Das hat aber auch damit schafft. Eine Enquete-Kommission hat dieses Thema als zu tun, dass man zunächst die Nachfrage nach einer Bro- Schwerpunkt. Sie wird sich auch zu dem ethisch sehr schüre abwartet. strittigen Thema der Lebendspende äußern. Die Bundes- Die Summe, die die BZgA ausgibt, hängt auch mit regierung sollte dem Votum der Enquete-Kommission der Bereitschaft der Länder zusammen, gemeinsame Ak- nicht vorgreifen, weil damit eine Beratung in der En- tionen zu starten. Es macht nämlich keinen Sinn, zum quete-Kommission überflüssig wäre. Die Bundesregie- Beispiel fünf Broschüren an dieselben Gruppen zu ver- rung ist sehr an den Äußerungen der Enquete-Kommis- teilen, wenn man stattdessen durch Gemeinschafts- sion interessiert. Ich will an dieser Stelle betonen: Einen aktionen mit Kooperationspartnern, insbesondere mit Organhandel wird es mit dieser Bundesregierung nicht Krankenhäusern und Ärzten, wesentlich bessere Ergeb- geben; das ist ausdrücklich ausgeschlossen. nisse erzielt. Deswegen ist es, denke ich, richtig, dass es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei der BZgA diesen Schwerpunkt gibt und dass wir im DIE GRÜNEN) Jahre 2004 wieder mehr Geld für Kampagnen, aber auch für Gemeinschaftsaktionen zur Verfügung stellen. Ich Wir werden dafür sorgen, dass nicht Anreize finan- glaube, damit schlägt die Bundesregierung eine richtige zieller Art geschaffen werden. Wir werden auch dafür (B) Maßnahme vor. sorgen, dass die hohen ethischen Standards, die in (D) Deutschland bei der Organspende existieren, beibehalten Was ist die zweite „Stellschraube“? Die zweite „Stell- werden. schraube“ ist die Meldepflicht für die Krankenhäuser, die noch nicht in ausreichendem Maße melden. Das Mein Appell geht an Sie: Helfen Sie dort, wo Sie wurde heute von allen Rednerinnen und Rednern be- Überzeugungsarbeit leisten können, dieses Thema zu klagt. An dieser Stelle ist die Frage berechtigt: Wer ist fördern. Ihre Fragen beantworten wir gern, allerdings denn dafür zuständig? Die Bundesregierung ist es nicht; muss jeder wissen: Die Hauptverantwortung liegt bei sondern hier gibt es eine klare Verantwortung der Län- den Beteiligten und bei den Ländern. Deswegen sind der. Diese Verantwortung der Länder muss eingefordert auch sie mit in die Pflicht zu nehmen. Wir haben dies werden. Es ist nicht in Ordnung, dass immer noch nicht durch eine Abfrage bei den Ländern getan. Wir werden, jedes der 100 Krankenhäuser der Maximalversorgung sowie die Ergebnisse aus den Ländern vorliegen, Ihre meldet, obwohl eine Meldepflicht gesetzlich geregelt ist. Fragen umfassend und kompetent beantworten. Was haben wir als Bund getan? Wir haben unsere Schönen Dank. Hausaufgaben erledigt, liebe Kolleginnen und Kollegen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von der Union. Wir haben seit 1. Januar darauf hinge- DIE GRÜNEN) wirkt, dass zum Beispiel die Vergütung, die für den Auf- wand der Meldung pauschal gewährt wird, erhöht wird. Das ist ein wichtiger Anreiz, damit die Krankenhäuser Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: melden. Ich schließe die Aussprache. Ich sage es aber noch einmal: Es kann nicht sein, dass Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 14: einerseits die Krankenhausplanung Ländersache ist, an- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dererseits aber dann, wenn der Meldepflicht nicht hinrei- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und chend nachgekommen wird, der Bund zuständig sein Wohnungswesen (14. Ausschuss) soll. Da müssen die Länder an ihre Verantwortung erin- nert werden. Ich erwarte, dass sich die Landesministerin- – zu dem Antrag der Abgeordneten Karin nen und Landesminister ihrer politischen Aufgabe stel- Rehbock-Zureich, Sören Bartol, Uwe len und die Krankenhäuser darauf hinweisen, dass es zu Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Frak- ihrem Versorgungsauftrag gehört, bei Organspenden ih- tion der SPD sowie der Abgeordneten Albert rer Meldepflicht nachzukommen. Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10437

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordne- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt kommen (C) ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE wir zu unseren Anträgen!) GRÜNEN Schließlich gehört hierzu auch die Vorbereitung eines Die Bahnreform konsequent weiterführen möglichen Börsengangs der DB AG. Der Börsengang könnte ein Gütesiegel des Kapitalmarkts für eine erfolg- – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und reiche Vollendung der Bahnreform werden. Ich denke, der FDP da sind wir uns im Grundsatz einig. Leitlinien für die Vollendung der Bahnreform (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir sind auf dem Weg dazu!) – Drucksachen 15/2658, 15/2156, 15/3268 – Das war bei der Bahnreform – es gibt hier noch einige, Berichterstattung: die sie damals mit beraten haben – auch so angedacht. Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich Eduard Lintner Der Börsengang würde jedenfalls das Unternehmen in die Lage versetzen, flexibel auf Erfordernisse eines Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch dynamischen Marktes zu reagieren. Der europäische für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Schienen- bzw. Bahnmarkt wird in den nächsten Jahren Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- ein sehr dynamischer Markt sein. Ein dynamischer schlossen. Markt stellt Anforderungen an Unternehmen, die dauer- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst haft konkurrenzfähig sein wollen. Das setzt vor allem die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens. die Fähigkeit voraus, schnell auf Veränderungen reagie- ren zu können.

Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Ein Börsengang setzt die Wirtschaftlichkeit des Un- desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: ternehmens voraus. Um eine Entscheidungsgrundlage zu bekommen, liegen noch einige Arbeiten vor uns. Diese Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- Arbeiten werden sorgfältig durchgeführt. Trotz der be- gen! Zehn Jahre Bahnreform – das war ein Datum, das schriebenen Gemeinsamkeiten wird es – ich glaube, das wir zum Anlass genommen haben, uns in den letzten ist eine Prognose, die man durchaus anstellen kann – Wochen heftig zu streiten. Das zeigt uns vor allen Din- zum Wie und Wann eines Börsengangs mehr als zwei gen: Die Bahnreform ist nicht abgeschlossen, die Bahn- Meinungen geben. Darüber werden wir dann in den Aus- reform geht vielmehr in eine entscheidende Phase. schüssen und im Plenum miteinander diskutieren. (B) (D) Sieht man sich die vorliegenden Anträge etwas ge- Seit Mitte 2003 führt das BMVBW zusammen mit nauer an, dann stellt man fest, dass es mehr Gemein- den beteiligten Ressorts und der DB AG Gespräche und samkeiten gibt, als auf den ersten Blick zu vermuten prüft, welche Voraussetzungen im Unternehmen und bei wäre. den rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingun- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! Es ent- gen geschaffen werden müssen. Diese Gespräche wer- wickelt sich ganz gut!) den wir weiterführen. Wir werden die verkehrs-, finanz- und haushaltspolitischen Chancen und Risiken aller Al- Zum Beispiel die Beibehaltung der Ziele der Bahnre- ternativen und Vorschläge sorgfältig prüfen und uns form, die Beibehaltung der verfassungsrechtlichen Ver- dazu selbstverständlich auch externen Sachverstands antwortung des Bundes für die Schieneninfrastruktur, bedienen. Auf der Grundlage des Gutachtens von die Sicherung des Wettbewerbs auf der Schiene, die Öff- Morgan Stanley werden wir außerdem die weitere nung des europäischen Schienennetzes, die Erhöhung Unternehmensentwicklung genau beobachten. Die nach- der Wirtschaftlichkeit der Bahn und die Transparenz der haltige, konsolidierte wirtschaftliche Situation des Un- Unternehmensbereiche der Bahn und die sorgfältige Prü- ternehmens ist – das weiß jeder – Voraussetzung für ei- fung der Voraussetzungen für einen Börsengang der DB nen erfolgreichen Börsengang. AG sind Grundsätze, die die Bundesregierung nur unter- streichen kann. Ich würde mich freuen, wenn wir im weiteren Verlauf der Beratungen unter Berücksichtigung der verschiede- Und wir handeln auch entsprechend, zum Beispiel mit nen Möglichkeiten über die Chancen und Risiken des dem Entwurf des Dritten Gesetzes zur Änderung eisen- Unternehmens auf dem deutschen, europäischen und bahnrechtlicher Vorschriften, also der Umsetzung des auch auf dem internationalen Markt nüchtern und ohne ersten Eisenbahnpakets und der Empfehlungen der ideologische Scheuklappen diskutieren würden und dar- Taskforce „Zukunft Schiene“. Wir haben maßgeblichen legen würden, wo wir jeweils die Zukunft des Unterneh- Anteil in Europa am zweiten Eisenbahnpaket. Mit der mens sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine grö- Unterstützung des Parlamentes sind weitere Fortschritte ßere grundsätzliche Übereinstimmung gibt, als es bei der Liberalisierung des Schienenverkehrs erreicht vielleicht nach der heutigen halbstündigen Diskussion worden. Regierung und Koalition haben dafür gesorgt, zum Ausdruck kommt. dass im Durchschnitt rund 3,8 Milliarden Euro jährlich Danke. in die Schienenwege investiert wurden. Das haben wir trotz der notwendigen und schmerzhaften Haushaltskon- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ solidierung geschafft. DIE GRÜNEN) 10438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: an. Er wird heute dem Parlament zur Beschlussfassung (C) Nächster Redner ist der Kollege Dirk Fischer, CDU/ empfohlen. CSU-Fraktion. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Guter Aus- (Beifall bei der CDU/CSU) schuss!) Der viel zu eng gefasste Auftrag an Morgan Stanley Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): vom Oktober 2003, nur den Börsengang der DB AG mit Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! integriertem Netz zu begutachten, entspricht nicht den Du kannst nicht anders mit der Bahn fahren, als die Ansprüchen des Parlaments an eine sachgerechte Ent- Schienen gelegt sind; so Wilhelm Voigt, der Hauptmann scheidungsvorbereitung. von Köpenick. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Siegfried Scheffler [SPD]: Danke schön!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz interfraktio- Zur Vollendung der Bahnreform bedarf es aus unserer neller Beschlussempfehlung, die natürlich dem Hause Sicht jetzt der richtigen Weichenstellung. Der ge- bekannt war – die Ausschreibung für ein Monitoringver- wünschte Börsengang der DB AG – dieses Ziel eint uns, fahren auf der Basis dieses unter einseitigen Vorgaben glaube ich, alle – darf nicht unter einen falschen Zeit- entstandenen Morgan-Stanley-Gutachtens ist aus unserer druck gesetzt werden. Sicht in diesem Zusammenhang völlig unverständlich. Die Beratung, die gestern im Ausschuss mit Minister (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stolpe stattgefunden hat, lässt aber hoffen, dass jetzt eine Es muss sehr wohl überlegt werden, unter welchen ergebnisoffene Prüfung und eine zwischen Bundesregie- strukturellen, verkehrspolitischen und ökonomischen rung und Parlament abgestimmte Entscheidung für ein Rahmenbedingungen er erfolgen soll. Wer das anders Privatisierungsgesetz vorbereitet werden. Immerhin: machen will, läuft Gefahr, die Bahnreform gegen die Minister Dr. Stolpe hat uns gestern – dafür sind wir Wand und die DB AG in die Pleite zu fahren. dankbar – den Schulterschluss versprochen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Oder auf (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl, der Zug das Abstellgleis!) ist auf dem richtigen Gleis! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Hoffentlich weiß er das Wir erwarten von der Bundesregierung, dass die Ziele heute noch!) der Bahnreform beibehalten werden, nämlich mehr Sehr bemerkenswert aber und für das Parlament ins- Verkehr auf die Schiene zu bringen und eine geringere gesamt bedenkenswert ist das Gutachterergebnis, dass (B) Belastung des Steuerzahlers und des Haushalts zu errei- (D) sich ein vollständig privatisierter Bahnkonzern nur dann chen. Deswegen ist vor einer Teilprivatisierung der auf dem Kapitalmarkt behaupten könne, wenn die DB AG eine mehrjährige positive Gewinnentwicklung DB AG nach ihrem Börsengang mit Netz über Jahre er- des Gesamtkonzerns, und zwar aus gewöhnlicher hebliche Bundesmittel erhielte. Bundesregierung und Geschäftstätigkeit, erforderlich. Bundestag müssen sich der Tragweite eines solchen Fa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zits des Gutachtens bewusst werden: Die Bahn wäre er- folgsunabhängig subventioniert und gegen Wettbewerb Ein Börsengang gestützt auf Haushaltsfinanzierung, abgeschirmt – das wäre eine Abkehr von den Zielen der Auflösung von Rückstellungen und die Verschiebung Bahnreform. dringend notwendiger Investitionen ist nicht tragfähig. Frau Kollegin Mertens, Sie haben eben von der Siche- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung des Wettbewerbs auf der Schiene gesprochen. Das Das Parlament erwartet die Einbeziehung externen finde ich angesichts des Anteils eines Unternehmens Sachverstands bei der Wahl des Privatisierungsmodells. – der DB AG – am Schienenverkehrsmarkt eine hoch- Der Gutachtenauftrag, der jetzt ausgeschrieben wird, interessante Aussage, denn im Personenfernverkehr hat muss ergebnisoffen sein und alle denkbaren Varianten sie einen Marktanteil von 99,5 Prozent, im Personennah- unter betriebswirtschaftlichen, verkehrspolitischen und verkehr einen Marktanteil von 96 Prozent – ohne Regio- volkswirtschaftlichen Aspekten umfassen. nalisierungsmittel und das Prinzip des Bestellens durch die Länder wären es wahrscheinlich auch 99,5 Prozent – (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!) und im Güterverkehr einen Marktanteil von 95,5 Pro- zent. Die angeblich nahezu 200 oder 250 Bahnen, die Wesentlich ist, inwieweit diese Varianten den Zielen der sich „auf dem Netz tummeln“, wie immer gesagt wird, Bahnreform, aber auch der Infrastrukturverantwor- haben die restlichen Marktanteile; da muss man echt die tung des Bundes, wie sie sich aus Art. 87 e des Grund- Lupe nehmen, um deren Marktanteile noch mit bloßem gesetzes ergibt, gerecht werden. Auge erkennen zu können. Erfreulich ist, dass diese Überzeugung von allen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fraktionen geteilt wird und die Zustimmung zahlreicher Verbände und der Öffentlichkeit genießt. Der im Ver- Nein, es geht darum, Wettbewerb herzustellen, zu er- kehrsausschuss am 5. Mai 2004 gemeinsam verabschie- möglichen, durchzusetzen, damit wir in den Schienen- dete Entschließungsantrag knüpft an den breiten parla- verkehrsmarkt Dynamik bekommen, wie wir sie auch mentarischen Konsens zur Bahnreform des Jahres 1993 auf der Straße haben, wo der LKW-Verkehr der DB AG Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10439

Dirk Fischer (Hamburg) (A) bzw. dem Schienenverkehrssektor unverändert Marktan- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesre- (C) teile abnimmt. Wir brauchen die Freisetzung der Dyna- gierung auf, eine Grundsatzentscheidung über mik privaten Kapitals im Schienenverkehrsmarkt. Das eine mögliche Teilprivatisierung der Deutschen ist unser Wunsch, mit dem wir den Verkehrsträger vo- Bahn AG … erst dann zu treffen, wenn der nach- ranbringen wollen. haltige wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens DB AG, insbesondere eine mehrjährige positive Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) winnentwicklung, feststeht. Der Steuerzahler darf nicht die Gewinne von Aktionären (Beifall des Abg. [CDU/ finanzieren. Das Schienennetz darf nicht zu einem blo- CSU]) ßen Renditeobjekt des Kapitalmarkts verkommen. An- gesichts der grundgesetzlich vorgegebenen Infrastruk- Eine dauerhafte Rentabilität turverantwortung dürfen doch nicht die in England – auch das scheint mir wichtig, noch einmal in Erinne- gemachten Fehler wiederholt werden: Für das Netz darf rung zu rufen – der Shareholder Profit nicht zur Handlungsmaxime des Bahnvorstandes werden. Hier geht es auch um einen der DB AG darf nicht auf Leistungen des Bundes wichtigen Aspekt der Daseinsvorsorge im ganzen Land. – und damit der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für den Ausbau der Schieneninfrastruktur beru- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch hen … zehn Jahre nach Beginn der Bahnreform ist die DB AG weiter im Sanierungsprozess; darüber kann keine Propa- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ganda hinwegtäuschen. Wir haben im Jahre 2003 einen SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ Konzernbilanzverlust von 245 Millionen Euro gehabt. CSU und der FDP) Die Verbindlichkeiten haben sich gegenüber 2002 um Wie sehr wir Recht hatten, dies damals ganz präzise 2,5 Milliarden Euro auf jetzt 27 Milliarden Euro erhöht. aufzuschreiben, hat wenige Wochen später die Veröf- Beim Start der Bahnreform, am 1. Januar 1994, waren es fentlichung der Kurzfassung des Gutachtens von 0 Euro, denn der Bund hat alle Altschulden in seinen Morgan Stanley gezeigt; denn dort wird Punkt für Punkt Haushalt übernommen. Die Eigenkapitalquote ist gegen- aufgelistet und zusammengefasst, welche Wirtschaft- über 2002 um weitere 1,7 Prozent auf nur noch lichkeitsdaten im Einzelnen als Hürden genommen wer- 10,7 Prozent abgesunken. Als es losging, 1994, waren es den müssen, um eine sinnvolle Teilprivatisierung zu er- 29,6 Prozent, also nahezu die 30 Prozent, die wir haben reichen, die die Bezeichnung Börsengang oder wollen. Die Umsätze der Bahn ohne Stinnes stagnieren Kapitalmarktfähigkeit verdient und nicht in Wahrheit ei- (B) (D) bei 15,9 Milliarden Euro. nen Notverkauf bedeutet. Die Bundesregierung wäre gut beraten, im Schulter- Als Voraussetzungen und Bedingungen werden zum schluss mit dem Parlament und dessen Gesetzgebungs- Beispiel genannt: die Klärung des europäischen Verga- befugnis sowie vor dem Hintergrund ihrer Verantwor- berechts – wegen der Nahverkehrsaufträge sieht tung als Alleineigentümer die weiteren Schritte zu Morgan Stanley offenbar Bedarf –, eine zehn Jahre lange unternehmen. Nur so kann am Ende des Prozesses – und nachhaltige Finanzierung des Netzes über die Bestands- damit noch zum richtigen Zeitpunkt – die Bahnreform netzmittel, eine nachhaltige Garantie für die Regionali- erfolgreich vollendet werden. sierungsmittel, ein – dies wird vor allem genannt – Turn- around in den beiden Unternehmensbereichen Fernver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kehr und Fahrweg – beide sind derzeit defizitär –, die Er- reichung einer Dividendenrendite von 4 bis 5 Prozent Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: und einer Kapitalkostenrendite von 8,7 Prozent. All das Das Wort hat nun der Kollege Albert Schmidt, sind Benchmarks, Zielwerte, von deren Erreichung wir Bündnis 90/Die Grünen. im Moment meilenweit entfernt sind. (Beifall des Abg. Georg Brunnhuber [CDU/ Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE CSU]) GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Das muss man ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen. Ich bemerkenswerter und, wie ich finde, beispielloser Ein- glaube, deshalb war unsere Erinnerung an die grundsätz- mütigkeit hat der Verkehrsausschuss des Deutschen liche Bedeutung solcher Voraussetzungen sehr richtig Bundestages am 5. Mai dieses Jahres einen gemeinsa- und zielführend. men Entschließungsantrag beschlossen, der uns heute (Beifall im ganzen Hause) noch einmal zur Abstimmung vorliegt, in dem wir alle gemeinsam die Bedingungen nennen, die wir für die Er- Darüber hinaus haben wir in diesem gemeinsamen reichung der Kapitalmarktfähigkeit des Bundeskon- Antrag, der uns heute noch einmal zur Beratung und Ab- zerns Deutsche Bahn AG bzw. für eine Teilprivatisie- stimmung vorliegt, auch verlangt, dass vor einer Grund- rung desselben für unabdingbar halten. Diese satzentscheidung – das betone ich – über eine mögliche Entschließung verdient es, in den wesentlichen Punkten Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG die ver- noch einmal in Erinnerung gerufen zu werden; denn dort kehrs-, finanz- und haushaltspolitischen Chancen und heißt es: Risiken der infrage kommenden Privatisierungs- 10440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) modelle – zumindest des so genannten Vertrags- und des (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! Sehr (C) Eigentumsmodells – unter Einbeziehung externen Sach- wahr! Vertreter des Volkes!) verstandes umfassend und ergebnisoffen zu prüfen sind. Das heißt, wir wollen eben nicht, dass uns im Parlament Das werden wir nach den Maßgaben unserer Analysen, eine Vorfestlegung auf ein bestimmtes Modell – und sei Bewertungen und gemeinsamen Erkenntnisse tun. es das eines integrierten Börsenganges – nach der (Beifall im ganzen Hause) Methode vorgelegt wird: Vogel friss oder stirb. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich, [FDP]) FDP-Fraktion. Wir wollen, dass hier ganz nüchtern und sachlich analy- siert wird. Es soll insbesondere das Modell ergebnis- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): offen analysiert, geprüft und bewertet werden, das den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Behalt der Infrastruktur, also des Eigentums am Netz in Sehr verehrte Frau Staatssekretärin! Das letzte Wort der öffentlichen Hand, zur Grundlage hat. kann ich aufgreifen, lieber Kollege Schmidt: Wir müssen deutlich machen, dass wir alle, die wir hier sitzen, für die (Beifall des Abg. Georg Brunnhuber [CDU/ Privatisierung und für die Vollendung der von uns ange- CSU]) legten Bahnreform sind. Es wird immer so getan, als ob Warum ist uns das so wichtig? Das hat ja keine ideo- jemand, der die Art und Weise, wie die Bahn an die logischen Gründe und das hat auch nichts damit zu tun, Börse gehen soll, gegen Privatisierung sei. Das ist nicht dass wir ein Generalmisstrauen gegen alles und jedes der Fall. Wogegen wir uns wehren, ist eine Privatisie- hätten oder etwa gegen die Privatisierung per se wären. rung im Schweinsgalopp. Der Hauptgrund ist einfach, dass uns die Sorge eint; (Beifall bei der FDP) denn wenn man die Infrastruktur und das Streckennetz – und sei es nur zu Anteilen – in die Hand eines privaten Sehr verehrte Frau Staatssekretärin, gerade die Bun- Shareholders gibt, dann liegt es in der Logik der Sache, desregierung sollte nach den Erfahrungen mit dem Ver- dass dadurch ein brutaler Renditedruck auf diesen Schie- fahren bei der Maut aufpassen, dass ihr bei diesem sehr nenstrecken lastet, was bei der Straße nicht der Fall ist. viel schwerwiegenderen Privatisierungsvorgang, bei Die Einführung quasi einer neuen Chancenungleichheit dem die Konsequenzen sehr viel teurer werden und in auf dem Verkehrsmarkt würde bedeuten, dass der Druck weiten Bereichen nicht mehr zu reparieren sind, nicht (B) entstehen würde, in der Tendenz zu einem Schrumpf- das Gleiche passiert. Ich habe – zusammen mit der gan- (D) netz zu kommen, nämlich zur Abstoßung und Stillle- zen FDP-Fraktion – Sorge, dass die Fortführung und gung der Teile des Netzes, die nicht rentabel sind. Das ist Verfeinerung des Morgan-Stanley-Gutachtens entgegen genau das, was wir nicht wollen. den Beteuerungen im europäischen Ausschreibungsver- fahren bereits veröffentlicht ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Was bedeutet das? Wenn ein privater Eigentümer ein- CDU/CSU) mal am Schienennetz der Bahn beteiligt ist, kann die Trennung von Netz und Betrieb wahrscheinlich nicht Ich sage das sehr pointiert auch an die Adresse der mehr beschlossen werden. Diese Festlegung gilt es zu Gewerkschaften und ihrer Vertreter im Aufsichtsrat: verhindern. Das müsste für Sie die Richtschnur sein. An- Eine Tendenz zum Schrumpfnetz heißt auch eine Ten- sonsten passiert das, was wir alle nicht wollen: Der Bör- denz zu weniger Arbeitsplätzen. Das muss klar sein. sengang eines integrierten Unternehmens bedeutet eine Darüber hilft auch ein Beschäftigungspakt nicht hinweg; verkleinerte, hoch subventionierte und gegen Wettbe- denn auch der ist irgendwann zu Ende. Das Netz aber werb auf Dauer abgeschirmte Bahn und damit ganz be- würde weiter schrumpfen. wusst – das möchte ich deutlich sagen – den Abschied von den Zielen unserer gemeinsam eingeleiteten Bahnre- Die Botschaft unseres gemeinsamen Beschlusses lau- form. tet nicht, dass wir gegen Privatisierung sind. Wir sind sehr wohl für die Beteiligung privaten Kapitals am (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eduard Schienenmarkt und auch an dem Konzern Deutsche Lintner [CDU/CSU]) Bahn AG. Aber die Privatisierung muss richtig ablaufen. Wir sind von dem Zeitplan, wie er uns jetzt von mancher Darüber hinaus muss man eines feststellen: Sowohl in Seite nahe gebracht wird, ebenso wenig überzeugt wie der Kurz- wie auch in der Langfassung des Gutachtens von dem Modell, das uns jetzt als die allein selig ma- sind die Zahlen, die Morgan Stanley feststellt, eine chende Wahrheit alternativlos dargestellt wird. So funk- schallende Ohrfeige für das Management der Bahn. tioniert es nicht. (Beifall bei der FDP) Der Deutsche Bundestag ist selbstbewusst genug, Die Bahn ist eben in allen Punkten nicht börsenfähig. heute deutlich zu machen: Wir wollen nicht nur mitre- den, sondern wir sind an dieser Stelle die Vertreter des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Eigentümers und wir haben es zu entscheiden. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10441

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Das ist das Gegenteil von dem, was uns Herr Mehdorn sem Netz die dritte Novelle des Allgemeinen Eisen- (C) am laufenden Band vorzugaukeln versucht. Normaler- bahngesetzes auf den Weg bringen und wir sind über- weise müsste ein Gutachter nach dieser Grundlagenerhe- zeugt, dass dies ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung bung seriöserweise sagen: Ein Börsengang ist momentan des Wettbewerbs und zur Eigenständigkeit der Netz AG nicht möglich; macht erst einmal eure Hausaufgaben. – ist. Das steht auch im Gutachten. Warum allerdings ein paar Seiten weiter als Ergebnis festgestellt wird, dass ein Bör- Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir heute dis- sengang möglich sei, auch wenn es ein sportlicher Wett- kutieren, ist die Überlegung zur Teilprivatisierung der bewerb sei – dabei ist das Wort „sportlich“ nicht defi- DB AG. 1993 wurde die Bahnreform mit breiter, partei- niert –, ist fraglich. Wenn jemand, der in seinem Leben übergreifender Mehrheit beschlossen. Wir stehen heute noch nie einen Marathonlauf bestritten hat, übermorgen wieder vor der Situation, dass es ohne das Parlament am Olympia-Marathonlauf teilnimmt und den Sieg da- keine Entscheidung gibt und ein Börsengang bzw. eine vonträgt, dann ist das sportlich. Ich glaube, die Hürden Teilprivatisierung ohne den Bundesrat, das heißt ohne der Deutschen Bahn beim Börsengang sind vergleichbar. die Länder, nicht machbar ist. Nein, es muss in einer seriösen Untersuchung ohne je- Wir, die SPD-Fraktion, legen großen Wert darauf, den Zeitzwang festgelegt werden, welche Alternativen dass die Chancen und die Risiken ergebnisoffen und um- möglich sind und wo die Vor- und Nachteile liegen. Das fassend diskutiert werden. Vor der Entscheidung über kann man eben nicht nur aus der Sicht des Kapitalmark- das Ob und das Wie dieser Teilprivatisierung muss eine tes definieren, sondern das muss auch aus ordnungspoli- Prüfung aller Auswirkungen erfolgen. Für uns gilt: tischer und verkehrspolitischer Sicht festgelegt werden. Sorgfalt vor Eile. Deswegen bin ich dankbar, dass zum einen der Verkehrs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausschuss diese gemeinsame Entschließung verabschie- DIE GRÜNEN) det hat und dass zum anderen heute im Plenum darüber debattiert wird, damit vom ganzen Bundestag aus das Die Auswirkungen müssen sich in der verkehrspoliti- Signal an den Bahntower am Potsdamer Platz ergeht: schen Realität in den nächsten Jahrzehnten bewähren. Gegen uns ist eine Privatisierung im Schweinsgalopp Vor der Entscheidung des Parlaments müssen einige Vo- nicht machbar. raussetzungen erfüllt werden: Hier muss deutlicher, länger und gründlicher disku- Der nachhaltige wirtschaftliche Erfolg der DB AG tiert werden. muss deutlich erkennbar sein. Es darf nicht sein – darauf ist vorhin schon hingewiesen worden –, dass die Leis- (Beifall bei der FDP) tungen des Bundes für die Rendite eine Rolle spielen. (B) (D) Ich danke für die Aufmerksamkeit und freue mich auf Das verkehrspolitische Ziel, mehr Verkehr auf die die weitere gemeinsame Zusammenarbeit in diesem Schiene zu bringen, muss im Vordergrund jeglicher Ent- Punkt. scheidung stehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Unruhe) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE – Ich freue mich, dass sich so viele Kolleginnen und GRÜNEN) Kollegen diese wichtige Debatte anhören. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN) Nun hat das Wort die Kollegin Karin Rehbock- Zureich, SPD-Fraktion. Das heißt für uns, dass das Vertragsmodell und das Ei- gentumsmodell gleichermaßen überprüft werden, damit Karin Rehbock-Zureich (SPD): wir eine Entscheidungsgrundlage haben, um Risiken und Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Chancen abschätzen zu können. Denn in dem Gutachten gen! Wir stehen heute im Bereich der Schienenpolitik von Morgan Stanley erfolgt die Bewertung ausschließ- vor wichtigen Entscheidungen. Es geht erstens um die lich aus der Sicht eines möglichen Investors. Morgan zukünftige Rolle des Verkehrsträgers Schiene im Tran- Stanley lässt viele Fragen offen und stellt kritische Fra- sitland Deutschland und zweitens darum, welche Rolle gen, die zunächst einmal abgearbeitet werden müssen. die Schiene im zukünftigen Europa spielt. Die Fragen sind kein Pappenstiel. Erstens muss die Wir haben in unserem Antrag den Wettbewerb, den dauerhafte Absicherung der Bundesmittel über mindes- Netzzugang und die Chancengleichheit im Schienennetz tens zehn Jahre hinweg gesichert sein. Zweitens muss thematisiert. Wir werden die Ergebnisse der Arbeit der die vollständige Umstellung von Darlehen auf Baukos- Taskforce umsetzen. Die Verkehrspolitik wird auch in tenzuschüsse erfolgen. Des Weiteren – auch das ist für Zukunft die Entwicklung dieses Verkehrssystems be- uns ein Knackpunkt – wird der Regionalverkehr zum stimmen. Verkehrspolitik gibt vor, welche Verkehrsträ- Kernstück einer positiven Bewertung der Teilprivatisie- ger welche Zuwächse erhalten können. Dies gilt auch für rung. Das bedeutet – Morgan Stanley macht dies zur die Schiene. Voraussetzung –, dass die Erhöhung und langfristige Festlegung der Regionalisierungsmittel auf dem gegen- Wir werden im Zusammenhang mit der Diskussion wärtigen Niveau gesichert sein müssen. Dies setzt vo- über die Chancengleichheit und über den Zugang zu die- raus, dass die DB AG einen Marktanteil von 50 Prozent 10442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Karin Rehbock-Zureich (A) gewinnt, um den wirtschaftlichen Erfolg abzusichern. Mit diesem Schritt, der eigentlichen Privatisierung (C) Bei den Ausschreibungen ist das derzeit nicht der Fall. der Bahn, sind noch sehr schwierige rechtliche und Insofern bleiben die Fragezeichen bestehen. fiskalische Probleme verbunden. Deshalb glaube ich nicht wie die meisten im Saal an den von der Bahn vor- Wir meinen, dass zunächst alle Knackpunkte, Kritik- gegebenen und angestrebten Zeitplan bis 2006. punkte und Risiken aufgelistet werden müssen. Uns müssen auch vergleichbare Bewertungen anderer Unter- Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, nehmen vorliegen, damit wir eine Entscheidung treffen dass vom Bundestag beispielsweise erwartet wird, dass können. er sich verpflichtet, der Bahn in den nächsten zehn Jah- ren mindestens 2,5 Milliarden Euro jährlich für den Vielen Dank. Erhalt des Bestandsnetzes zur Verfügung zu stellen, und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass den Ländern die Regionalisierungsmittel in Höhe DIE GRÜNEN) von 10 Milliarden Euro jährlich über das Jahr 2008 hi- naus gewährt werden. Hierbei geht es um Zuschüsse des Bundes in Höhe von immerhin rund 95 Milliarden Euro Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: in den nächsten zehn Jahren. Allein die Dimension Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der dieser Finanzzusagen zeigt doch, dass eine schnelle Kollege Eduard Lintner, CDU/CSU-Fraktion. Lösung, wie sie immer wieder gefordert wird, nicht (Beifall bei der CDU/CSU) möglich sein wird. Sie ist extrem unwahrscheinlich. Im Übrigen muss ich auch darauf hinweisen, dass die Eduard Lintner (CDU/CSU): Bundesregierung den Fortgang der Bahnreform auf an- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- deren Feldern durchaus tatkräftiger hätte unterstützen gen! Heute ist schon mehrfach betont worden, dass sich können, als sie dies getan hat. Ich denke hier beispiels- – obwohl uns die Bahnreform schon seit über zehn Jah- weise an die europäischen Rahmenbedingungen für den ren beschäftigt – nach wie vor alle Seiten des Hauses da- Schienenverkehr. Das Europäische Parlament hat bei- rin einig sind, dass sie zum Erfolg geführt werden muss. spielsweise die Liberalisierung des Netzzugangs für Auch an der damaligen Zielsetzung wird unverändert den Güterverkehr bis 2006 gefordert. festgehalten. (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Bleiben Sie Ich merke das deshalb an, weil wir jetzt kurioserweise ganz sachlich!) den Sachverhalt haben, dass die Einigkeit zwischen den – Lieber Kollege Weis, auch Sie wissen das. – Die Bun- Parlamentariern der Opposition und der Regierungskoa- (B) desregierung hat sich dafür nicht stark gemacht. Jetzt (D) lition größer ist als beispielsweise die Einigkeit mit dem soll die Liberalisierung 2008 kommen. Ob die Franzosen Ministerium oder erst recht mit dem Bahnvorstand. Der bis dahin tatsächlich tätig werden und konkurrierenden gemeinsame Beifall, der in diesem Hause ein seltenes Eisenbahnunternehmen den Zugang zu ihrem Schienen- Erlebnis ist, hat das sozusagen akustisch herausgestellt. netz erlauben werden, steht für mich überhaupt noch (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES nicht fest. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen 90/DIE GRÜNEN) Skepsis angebracht erscheinen. Dabei sind sich die Vertreter aller Fraktionen darin ei- Wir wissen doch, dass eine der zentralen Forderungen nig – das ist in der Ausschussberatung ausdrücklich fest- – Erhöhung des Anteils des Schienengüterverkehrs am gestellt worden –, dass die Bahnreform in erster Linie Gesamtvolumen des Güterverkehrs – nur dann zu ver- Sache der Parlamentarier und weniger der Bundesregie- wirklichen ist, wenn der Eisenbahn lange Transportwege rung ist. zur Verfügung stehen und sie die Strecken schnell, zu- verlässig und pünktlich überbrücken kann. Das ist eine (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- ganz wesentliche Voraussetzung, die bis heute nicht er- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Horst füllt ist, auch weil die Bundesregierung – das muss ich Friedrich [Bayreuth] [FDP]) ihr schon vorhalten – Jahr für Jahr hat verstreichen las- Das hat erhebliche Konsequenzen für das Verfahren, sen, ohne auf europäischer Ebene zum Beispiel die Libe- die zum Teil schon erwähnt worden sind. Eine Konse- ralisierung der Netze von Frankreich oder Spanien zu quenz ist zum Beispiel, dass unserem Begehren gefolgt betreiben. und ein zusätzliches Gutachten eingeholt werden muss, Im Übrigen hätte sich die Bundesregierung an einem das ergebnisoffen von unabhängigen Sachverständigen anderen Sachverhalt in Frankreich – das ist interessant erarbeitet wird und in dem die Frage geklärt werden soll, – ein Vorbild nehmen sollen. Frau Kollegin Rehbock- ob es nicht besser wäre, ohne das Netz nur mit dem Be- Zureich, die französische Regierung hat beispielsweise trieb an die Börse zu gehen. im Jahre 2003 ihrer Bahn allein für neue Strecken (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] 2,2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Im Jahre [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 2004 werden es sogar 2,7 Milliarden Euro sein. Im Ver- gleich dazu wird die Bundesregierung entgegen allen Wir werden sehr darauf achten, dass dieses Gutachten im Beteuerungen, die wir aus der Vergangenheit kennen, Gegensatz zu dem schon vorliegenden Gutachten die künftig die Mittel für Neu- und Ausbau auf etwa von uns gestellten Qualitätsanforderungen erfüllt. 700 Millionen Euro zurückfahren. Das heißt im Klartext, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10443

Eduard Lintner (A) dass der Deutschen Bahn bei ihrem schwierigen Weg in Charta der Regional- oder Minderheitenspra- (C) die Wirtschaftlichkeit nicht geholfen wird. chen Vor diesem Hintergrund bleibt mir nur die Feststel- – Drucksache 15/3200 – lung, dass das, was hier immer wieder hinsichtlich der Überweisungsvorschlag: Priorität des Eisenbahnwesens und des Schienenver- Innenausschuss (f) kehrs versprochen worden ist, mittlerweile leider Maku- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und latur ist. Herr Schmidt – das kann ich Ihnen nicht erspa- Technikfolgenabschätzung ren –, auch die Beteuerungen der Grünen, hier besonders Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union stark und durchsetzungsfähig zu sein, haben sich leider Ausschuss für Kultur und Medien als reine Luftblase erwiesen. Ich hoffe, dass Sie in die- ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD sem Punkt zu alter Effektivität zurückfinden werden. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. Förderung von Regional- und Minderheiten- sprachen in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksache 15/3328 – Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/3268, über die ich gesondert abstimmen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für lasse. Der Ausschuss empfiehlt unter I seiner Beschluss- diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorge- empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen sehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache beschlossen. 15/2658 mit dem Titel „Die Bahnreform konsequent weiterführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Da für diese Debatte keine Simultandolmetscher zur lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Verfügung stehen, bitte ich um besonders konzentrierte Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Aufmerksamkeit. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Unter II seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der nächst dem Kollegen Jochen Welt für die SPD-Fraktion. (B) Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktionen (D) der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/2156 mit dem Titel „Leitlinien für die Vollendung der Bahnre- Jochen Welt, Beauftragter der Bundesregierung für form“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten: lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Moin Moin, Herr Präsident! Dobre dzien, god dag, Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit latscho diwes und guten Tag, meine lieben Kolleginnen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange- und Kollegen! Als Beauftragter der Bundesregierung für nommen. nationale Minderheiten hätte ich heute gerne in den Sprachen der nationalen Minderheiten zu Ihnen gespro- Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verkehr, chen. Um den Stenografischen Dienst nicht an den Rand Bau- und Wohnungswesen unter III seiner Beschluss- der Verzweiflung zu bringen und um nicht eine Minder- empfehlung auf Drucksache 15/3268 die Annahme einer heit zu bevorzugen, halte ich mich an die uns alle verbin- Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- dende Verkehrssprache Hochdeutsch. Zugegeben: Außer lung? – Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand „Recklinghäuser Platt“ beschränken sich meine Kennt- der Stimme? – Dann ist diese Beschlussempfehlung ein- nisse in den Minderheitensprachen auf einige wesentli- stimmig angenommen. che Wörter. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜND- Der uns vorliegende Zweite Bericht der Bundesrepu- NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) blik Deutschland gemäß Art. 15 Abs. 1 der Europäi- schen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen Den Kollegen, die uns jetzt wieder verlassen müssen, zeigt: Wir haben engagierte und kreative Minderheiten- danken wir für die zeitweilige Unterbrechung ihrer an- organisationen; wir leisten eine gute Minderheitenarbeit. derweitigen Aktivitäten und wünschen noch einen ge- Wir haben in Deutschland erhebliche Fortschritte bei der mütlichen weiteren Abend. Förderung unserer Regional- und Minderheitensprachen erzielt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 sowie den Zusatzpunkt 11 auf: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 15 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Was ist Sprache? Sprache ist Verständigungsmittel in Wort und Schrift. Sprache ist Ausdruck von Kultur. Zweiter Bericht der Bundesrepublik Deutsch- Sprache ist Ausdruck der Bedürfnisse, der Hoffnungen land gemäß Art. 15 Abs. 1 der Europäischen und der alltäglichen Arbeit. Sprache ist lautmalerisch, 10444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Beauftragter der Bundesregierung JocheJochenn Welt und nationale Minderheiten: (A) aber letztlich malt jeder seine eigenen Bilder. Hier ein Zum Dritten gibt eine bewahrte und aktiv genutzte (C) paar Beispiele: Bei uns regnet es Bindfäden, bei den Minderheitensprache die Möglichkeit, den engen Kon- Engländern „cats and dogs“; während wir manchmal takt zu Staaten und Volksgruppen zu pflegen, denen man „zwischen allen Stühlen“ sitzen, sitzen die Engländer sich ganz besonders verbunden weiß. Dies gilt nicht nur „auf dem Zaun“. Bei der Übersetzung von Texten stößt für die dänische Minderheit, für die die Literatur und die man naturgemäß an Grenzen. Wegen der Unterschiede Medien Dänemarks zum täglichen Brot gehören, son- im Vokabular und in der Grammatik ist eine Umsetzung dern auch für die Friesen Deutschlands mit ihren Kon- eins zu eins oft nicht möglich. In der Sprache der Inuit takten nach Westfriesland, für die Sinti und Roma – ihre Grönlands etwa gibt es zwölf Wörter für Schnee in sei- Sprache ist mit den Sprachen von Volksgruppen in fast nen verschiedenen Zuständen. Diese Differenzierung ganz Europa verwandt – und schließlich für die Sorben, kennen wir nicht, weil wir sie nicht brauchen. die die sprachliche Nähe zu anderen Völkern slawischer Zunge intensiv nutzen. Die deutsche Gegenwartssprache ist vielfältigen Ein- flüssen der internationalen Kommunikation ausge- Schließlich ist die Kenntnis der Minderheitensprache setzt. Die Globalisierung macht auch vor der Sprache bei den Mitgliedern der Volksgruppe äußerst hilfreich nicht Halt. Wir sind „fashionable“ und „trendy“. Der für den Dialog zwischen den Generationen, insbeson- Engländer von heute ist „zeitgeisty“. Die Engländer dere in den Familien. Wenn die Großeltern die Sprache „wedel“ von den Bergen, die Amerikaner – sie waren noch beherrschen, die Enkel aber nicht mehr, dann geht schon immer ein wenig rasanter – „schuss down the ein wichtiger Teil der Gesprächsfähigkeit in den Fami- hills“, während wir auf Snowboards curven. Es gibt wei- lien verloren. tere international verwandte Germanismen: Gemütlich- keit, Kindergarten, Dirndl, Rucksack, Rollmops, Leit- Deutschland hat im Jahr 1997 die traditionellen Min- motiv, Alzheimer, Realpolitik und Genscherism. derheiten unter den besonderen Schutz des Rahmenüber- Sprache ist also immer im Fluss und entwickelt sich wie einkommens des Europarates zum Schutz nationaler die Technik und die Kultur weiter. „Handy“ ist ein neues Minderheiten gestellt. Damit haben wir nicht nur ihr deutsches Wort für das Telefon, das man in der Hand Recht auf politische Partizipation anerkannt, sondern wir trägt; die Engländer sprechen von „cell phone“, ange- haben ihnen zugleich den Anspruch auf einen eigenen lehnt an die Empfangszonen. kulturellen und damit sprachlichen Bereich zuerkannt. Trotz oder gerade wegen dieser sprachlichen Vermen- Eingedenk der geschilderten Bedeutung der eigenen gungen gilt es, die vorhandene sprachliche und damit Sprache für das Leben der nationalen Minderheiten hat kulturelle Vielfalt zu schützen. Ich denke, das muss un- der Gesetzgeber konsequent gehandelt und nach dem ser gemeinsames politisches Ziel sein. Rahmenübereinkommen auch die Europäische Spra- (B) chencharta ratifiziert. Die Sprachencharta stellt hohe (D) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Anforderungen an Bund, Länder und Gemeinden. Die GRÜNEN und der CDU/CSU) vollständige Erfüllung der übernommenen Verpflichtun- Für die nationalen Minderheiten erfüllt der Gebrauch gen wird auch vom Europarat nicht als ein Vorgang be- ihrer Sprache gleich mehrere Funktionen: Zum einen ist griffen, der mit der Ratifizierung abgeschlossen ist. Es sie das geeigneteste Medium, spezifisch durch die handelt sich vielmehr um einen dynamischen Prozess, in Volksgruppe geprägte Sachverhalte untereinander zu dem der Europarat, die Regierungen des Bundes und der kommunizieren. Zum anderen dient sie als Erkennungs- Länder sowie nicht zuletzt die Organisationen der zeichen innerhalb der Volksgruppe und gegenüber der Sprachgruppen in einem vertrauensvollen Dialog zusam- Mehrheitsbevölkerung. Sie dient gegenüber der Öffent- menwirken. lichkeit als Signal dafür, dass eine Volksgruppe existiert. Die Bundesregierung betrachtet die Möglichkeit zur Dies gilt vor allem hier in Mitteleuropa, wo sich die Nutzung der Regional- oder Minderheitensprachen im Minderheiten nicht durch Religion, Aussehen oder Sied- Umgang mit der Verwaltung und mit den Justizbehörden lungsstrukturen von der Mehrheitsbevölkerung unter- als wichtiges Element zum Erhalt und zur Förderung der scheiden. Gerade die Bedeutung der Sprache als hör- Sprachen. Bund und Länder sind sich weitgehend da- und sichtbarer Hinweis auf die Existenz von Minderhei- rüber einig, dass zur Schaffung eines entsprechenden ten macht verständlich, warum diese auf die Verwen- Bewusstseins bei allen beteiligten Kreisen eine verbes- dung ihrer Sprache im öffentlichen Raum drängen, sei es serte Öffentlichkeitsarbeit der staatlichen Stellen wün- auf Ortstafeln oder auf Autobahnwegweisern. Manche schenswert ist. Gerade im Hinblick auf die Minderhei- mögen bei dieser Angelegenheit schmunzeln. Verwal- tensprachen werden konkrete Maßnahmen vorbereitet. tungsbeamte in den Ministerien stehen bei derartigen Wünschen vielfach die Haare zu Berge. Es geht aber um Mit der Sprachencharta ist auch Niederdeutsch – als mehr als nur um Wörter auf Schildern und auf Tafeln; es einzige Regionalsprache – zum Kreis derjenigen Spra- geht um die vermittelbare und erlebbare Identität einer chen, die über das Rahmenübereinkommen hinaus ge- sprachlichen Minderheit. Ein aktuelles Beispiel ist der schützt werden sollen, hinzugetreten. Für den Schutz des Entwurf eines Friesisch-Gesetzes für das Land Schles- Niederdeutschen gilt eine ganze Reihe der von mir in wig-Holstein, das zweisprachige Behördenbezeichungen Bezug auf die Minderheitensprachen genannten Gründe im nordfriesischen Sprachgebiet vorsieht. in gleicher Weise. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Die nationalen Minderheiten verfügen seit Jahrzehn- CSU]: Dat is woll wohr!) ten über zivilgesellschaftliche Organisationen, durch die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10445

Beauftragter der Bundesregierung JocheJochenn Welt und nationale Minderheiten: (A) ein sehr konstruktiver und hilfreicher Dialog mit den platt snackt. Bummelich 8 Millionen Lüüd vertellen un (C) staatlichen Stellen – auch zum Schutz ihrer Sprachen – verstohn hüüttodaags noch Platt. Dat is een ganze Barg. geführt werden kann. Auch die Sprecher des Niederdeut- In twee Spraken to Huus to sien, dat is gewaltig un dat is schen haben sich vor nicht allzu langer Zeit über die re- anerkennswert. Denn twee sünd mehr as een. gionale Ebene hinaus zu einem Bundesrat zusammenge- schlossen. Sein bisheriges Auftreten verspricht den Un wat lehrt uns dat? De plattdüütsch snaken deit, dat öffentlichen Stellen einen kompetenten, bundesweit han- is noch lang keen Döösbaddel. Man, nich nur de Nedder- delnden Gesprächspartner. Auch der Bundesrat für düütschen könen sik in twee Spraken utdrücken, an de Niederdeutsch muss aus meiner Sicht als gleichberech- Bost kloppen un de Kopp stolt in de Nack nehmen. Nee, tigter Dialogpartner anerkannt werden. in twee Spraken, dat gellt uk för de 50 000 Sorben bi uns in’t Land, för de Dänen, för de Freesen, för de Sinti un (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Roma, de bi uns to Huus sünd. GRÜNEN und der CDU/CSU) Doch dat is noch lang nich allns. Ingelsch un Fran- Daher werde ich mich dafür einsetzen, dass auch für den zöösch snackt de Mehrtall vun düsse Minschen uk noch Bundesrat für Niederdeutsch ein Beratender Ausschuss so as wi natürlich ok hier in’t Parlament. Man de Ünner- beim Bundesministerium des Innern eingesetzt wird. scheed is: De Minschen vun de Minnerheiten könen dree Spraken: een Weltspraak mit dat Ingelsch oder Fran- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zöösch, een Landesspraak mit dat Hochdüütsche un een GRÜNEN und der CDU/CSU) Nohberschaftspraak mit Platt, Dänisch, Sorbisch oder Schutz und Förderung der Minderheiten- und Regio- Romanes. Düt Bispill: Een plus twee, in een groode nalsprachen in Deutschland stellen eine überparteiliche Spraak un twee anner Spraken to Huus to sien, dat schall Aufgabe und Verpflichtung dar. Ich wünsche mir des- Modell in Europa warrn. Dat wülln de klooken Lüüd vun halb heute eine breite Mehrheit für den Antrag „Förde- Brüssel. Uns türkisch, polnisch oder italienisch Lands- rung von Regional- und Minderheitensprachen in lüüd, de bi uns to Huus sünd, för de gellt dat ok. Deutschland“ bzw. eine gute und intensive Beratung im In’t Johr 2000 in Lissabon hett uns Europaobrigkeit zuständigen Ausschuss. dat so in de Kopp kreegen un fastleggt, dat jedeneen in Bund und Länder gestalten in einem dynamischen all de 25 Länner in uns Europa in sien Moderspraak to Prozess die Umsetzung der Sprachencharta. Die Regio- Huus sien schall un in twee anner Spraken „top“ sien nal- und Minderheitensprachen werden auch in Zukunft schall. Dree meent, dat du dien Weltsicht nich alleen ut in Deutschland umfangreich geschützt und gefördert. Sie een Quell schöpfen schasst. Dree meent, dat du Achtung sind und bleiben damit lebendig. – Bei den Sinti und un Respekt lehren deist för anner Spraken, för anner (B) Roma wünscht man sich zum Abschied einen glückli- Kulturen, för Minschen, de anners sünd as du. (D) chen Weg. In diesem Sinne: Latscho drom! (Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE CSU]) GRÜNEN und der CDU/CSU) Dree meent, dat ok de lütten Spraken een Tokunft heb- ben möten. Dree meent, dat Minschen nich utgrenzt Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: warrn. Denn dat Geföhl hebben nu wecken von uns Kol- Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Börnsen, legen hüüt avend, de nich Plattdüütsch verstahn doon, CDU/CSU-Fraktion. dat se butenvör sünd. Aver so geiht uns Noorddüütschen dat ok, wenn wi in dat deepe schööne Bayern, in dat Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): deepe schööne Swaben oder na Sachsen gahn. So, leeve Kollegen, ik will nu bloots so snacken, as (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ mi dat Muul wussen is. DIE GRÜNEN]: Was hast du gesagt?) Verehrte Vörsitter! Leeve Fruunslüüd un Mannslüüd! Bloots, de Ünnerscheed is, dat sünd nur Dialekte. Bi uns Nee, dat Woort Präsident gifft dat nich in uns plattdüüt- is dat een eegne wussen Spraak. sche Spraak. „Vörsitter“, dat lööt sik een döörwussenen Nedderdüütschen noch gefallen; aver dormit is doch to (Beifall im ganzen Hause) Enn mit sien Respekt vör de Obrigkeit. Man, wat man will, is noch lang nich, wat man deit. (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) De lütten Spraken bi uns hebben dat nich licht in uns Re- publik. In’t Fernsehen, in de Kiekkist, sünd se butenvör, Deit mi leed, Kolleg Norbert Lammert! Een akurate in’t Radio sünd se man af un an to hören. In de lütten Plattdüütsche, dat is een Urdemokrat. De Kopp böögen, Printmedien musst se lang sööken. Bi mi to Huus, in nee, dat deit he nich! Wer kennt nich in uns Republik Flensburg, gifft dat noch een Blatt, „Flensborg Avis“, dat dat, wat se an de Westküst, in Schleswig-Holstein, ver- is in twee Spraken to Huus: In Dänisch un Hochdüütsch. tellen doon: Lever dood as Slav! So hebben wi dat. Un Dänisch un Plattdüütsch kannst goot lesen. (Beifall bei der CDU/CSU) In de Hochschoolen sünd de lütten Spraken ganz weg. Een Plattdüütschen kann mehr as Brot eeten. He In de Grund-, Sekundar- un Berufsschoolen, wo man kümmt to sien Weltsicht dör twee Spraken: Hochdüütsch Fremdspraken lehrt, finnst du Regional- oder Minderhei- un Plattdüütsch. In de Hansetied hett ganz Nordeuropa tenspraken ok nich mehr. Dat mutt sik ännern, finnt wi. 10446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) Neben de Welt- un de Landesspraak schull de Heimat-, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) de Nohberschaftsspraak vun de Kinnergoorn bit hen to Herr Kollege, darf der Kollege Carstensen eine Zwi- de Schoolen, wenn de Öllern wülln, een Recht hebben schenfrage stellen? op Tokunft. (Beifall bei der CDU/CSU) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Och, dat harr ik doch geern. Man, wenn dat nich so komen deit, dann geiht dat so sinnig bargdaar mit de lütten Spraken. Dor hölpt ok keen Sprakenpakt vun Lissabon mehr. Dor is ok keen Hölp, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dat de fief Spraken, von de wi snacken doon, een Euro- Das deutet schon auf Absprache hin, was ich nicht pachartatauglichkeit hebben. All dat hölpt nich, wenn ganz so gerne hätte. keen Will is in de Gesellschaft för een nee’e Lebendig- keit för lütte Spraken un för ehr Tokunft to sorgen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Absprache ist auch eine Min- Dat heet anners rüm: Bi de Bildung, in de Medien, derheitensprache!) vör’t Gericht un bi de Behörden mutt dat mehr Kaffüüt geven doon för tweete Spraken. Dat seggt ok dat Minis- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): terkomitee in Straßborg. Dat hett uns Republik besöcht, Nee, kann ik mi gor nich denken. hett uns op de Finger keeken, ob wi dat ok inhoolen doon mit de Sprakencharta. Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): De Sprakenbericht, de hüüt hier diskuteert ward, hett An sik harrn wi dat gor nich nödig, dat wi dat afspre- 500 Sieden. Dat is een gewaltige Dokument. Un de Re- ken dään. Aver, leeve Wolfgang Börnsen, villicht kann ik geerung hett ne Masse Anworten wusst. De Straßborger en Twüschenfraag op Plattdüütsch maken, obwohl dat seggen: Dat süht nich to ring ut in Düütschland mit de mit Freesen to doon hett. Leider bün ik nich in de Laag, lütten Spraaken. Man, de Idee vun de Europacharta is in op Freesch to snacken, obwohl ik ut en Kreis kaam, Herr de Kööp vun de Spezialisten, aver noch lang nich bi de Präsident, wo fief Spraken snackt warrt. Lüüd anlangt. Dor mutt mehr passeeren. 500 Sieden Rechtfertigung, dat is veel Papeer. Dat reckt nich ut. Dor höört Klümp bi de Supp! Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Meine Güte! (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Sehr richtig!) (B) Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): (D) De Bundesregeern – dat hett Kolleg Jochen Welt ja Ja. Disse Spraken sünd: Hoochdüütsch, Plattdüütsch, seggt – will mehr doon för de Plattdüütschen. Aber ein Freesch, Dänisch un Sonnerjysk – Sonnerjysk, dat is poor Moneten, Jochen Welt, gehörn ok dorto. Plattdänisch, wenn man so will. Un, leeve Wolfgang (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Börnsen, ik much geern weten vun di: Kannst du villicht wie bei Abgeordneten der FDP) ok en beten wat noch över de Situation vun de freesche Spraak snacken? Un kannst du uns villicht seggen, ob De europäische Sprakencharta – wenn man so will: de dat nich notwendig is, nich bloots de Beförderung vun Magna Charta för Tweetspraken – will düsse Trend noch de Minnerheiten över de Spraken en Förderung to geben, een anner Dreih geven. Se will, dat de 70 lütten Spraken sondern ok de gesamte Kultur vun de Lüüd mit in de in Europa Bestand behoolen. Jede sövte Minsch in Förderung rintosetten, dormit wi uns nich op een Deel Europa is in een Tweetspraak to Huus. bloots konzentrieren, sondern weten, dat jüst bi de Free- sen ja en beten mehr is as bloots de freesische Spraak, de (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ se tosamenhöllt, sondern de gesamte Kultur, de ja över DIE GRÜNEN]: Bayerisch und Deutsch!) mehrere Johrhunnerte wussen is. Dat is sotoseggen sien Heimat, de Sinnstiftung för sien Leven. Nimmst du düsse Minschen ehr Heimatspraak, Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): verleeren se de Boden ünner de Fööt. Nee, dat dörf nich Dat is en ganz swore Fraag, leeve Peter Harry. Nee, ween! aver hett ja nich Unrecht. De (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Spraak is nich allns: 'n Stück vun Kultur is 'n Stück ok neten der FDP) vun de Inhoolt vun de Lüüd, de dat leven doon. Un wenn man dat will, wenn man seggen will: „De Lüüd hebben Dor sünd wi uns hier in’t Parlament ok eenig ween. een Recht, in se ehrs Minnerheitenspraak to Huus to Vör söss Johr hebben wi all tosamen seggt: Die Euro- sien“, denn höört nich nur de Sprakenförderung dorto, pacharta, dat is richtig. Dor mööt wi all ünnerschrieven. denn mütt ok de gesamte Kultur fördert warrn. Dat heet: Dat mookt wi mit. Düt Dokument is een Rode List för In de Kinnergoorn, in de Scholen un wo dat machbar is, Spraken, de op de Kipp stahn doon. Griepen wi de nich mütt dat 'n Förderung geven. Denn dat hebben wi doch ünner de Arms, gahn se doot! Jede Wuch starven twee överall sehn: Wenn man dat nich doon deit, denn verle- bet dree Spraken in uns Welt, hunnert över’t Johr un du- ren de Lüüd de Boden ünner de Fööt un dat könen wi send in teinn Johr. nich wüllen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10447

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) Un dor is ok noch 'n tweete Saak – un insofern hett Bi uns in Düütschland sünd wi teemlich wiethen ka- (C) Peter Harry Carstensen Recht –: Dor entwickelt sik en men. Wi hebben een Modell schafft vör allen Dingen in grote Ehrenamtlichkeit bi Lüüd, de mit Spraken to doon Noorddüütschland, dat man Respekt un Anerkennung hebben. De trecken sik ganz gewaltig tosamen, um ok hett för de annern. Dat is ok wichtig dorför, dat man mi- för se ehrs Rechte, för se ehrs Ideen un för se ehrs Spra- tenanner torecht kamen deit. ken wat to doon. Un grade bi de Freesen, ob Nordfreesen oder bi de Saterfreesen, hest du dat ja: dat wirkliche Per- Un wi hebben ok een Tweetes schafft: uns Sprakenal- sönlichkeiten dor achter stahn, weil se seggen: Dat is ok lianz, de wi gründet hebben mit 44 Kollegen, mit Rode 'n Bekenntnis för se ehrs Heimat, in de se to Huus sünd. un Swatte un Geele. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit im ganzen Hause) DIE GRÜNEN]: Un Gröne!) – Ja, de Gröne nich to vergeten. – Dorbi is dorbi. Wi Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hebben seggt: De Minnerheiten möten ok in de nee’e Also, Herr Kollege Börnsen, da die Frage so schwie- Vorfatung vun Europa Platz finden. Dat heet: Ok een Ar- rig war, ist sie erstaunlich präzise beantwortet worden. tikel mutt sien in de nee’e Verfatung vun Europa, dat Deswegen bin ich dankbar, dass sich der Kollege man Respekt un Anerkennung för de Förderung von Carstensen freiwillig wieder hingesetzt hat. Minnerheiten gifft. (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Nu hett uns Staatsminister Bury dat graad jüst to düsse Tied mitdeelt. Dat gifft in Tokunft in uns nee’e Verfatung vun Europa in Art. I, dat ok de Minnerheiten Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): een Platz un een Recht hebben op Tokunft. Dat is een Ach, der Kolleg Carstensen deit een Masse för de groote Erfolg un Anerkennung för all, de mitholpen heb- Freesen; so is dat ja nich. ben. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall im ganzen Hause) DIE GRÜNEN]: Auf Bayerisch wäre die Ant- Wi sünd froh, dat jetzt, nachdem de Europacharta een wort kürzer gewesen! Sie hätte geheißen: Nur Stück worn is in uns Republik, de Entwicklung in de die Sprache zu fördern ist a weng z’weng!) Kinnergoorn un in de Schoolen langsam dorthin geiht, – Goot. Aver dat köönt wi ok mitnehmen. sik mit een tweete Spraak utenanner to setten. Wi seggen hartliche Dank för all, de mitholpen hebben dorbi un de (B) Ik will noch op twee Saken opmerksam maken, wat an de Schruuv dreiht hebben. (D) wichtig is un wat mit Spraken to doon hett. Eenmal, dat Aver de Freesen, Sinti, Roma, Sorben un de Platt- dat wirklich een Sprakendood gifft in de Welt, dat dat so düütschen in uns Republik bruuk nich nur schöne Wöör veel Spraken nich mehr geben deit. Un dat is för de hüüt un sunst noch mal un Sünndagsreden. Wi möten se Buntheit un för de Lebendigkeit vun de Welt trurig, ünner de Arms griepen, wenn man immer mehr Spraken verleren deit. Wi heb- ben nur noch 7 000. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: So ist das!) Wat ok wichtig ist: In uns Europaraat, as dat anfüng mit de Sprakencharta, hebben 17 Länner seggt: Wi mo- damit se bald ok alleen loopen könen. Dat wüllen wi all ken mit. Aver 20 Länder hebben seggt: Wi moken nich tosamen. mit. Wi sünd noch nich so wiet. Dor will ik mit Jochen Man een weet nich, dat wi alleen in Amerika noch Welt een Opfödderung maken: Wi möten noch mehr drü- 50 000 Minschen hebben, die plattdüütsch snacken doot. cken. Ok de annern, wo Minnerheiten to Huus sünd, mö- Un nich nur dor, ok in annern Länner gifft dat noch veel, ten sik dorto bekennen, dat Spraak ok een Stück vun de de hier immer leevt hebben, oder se ehr Familien, de Kultur is un to de Minschen dorto gehören deit. uttrocken sünd un woanners düsse Kultur fastholen Aver ik will noch wat Tweetes seggen: Dat gifft veel doon. Is doch schöön, wenn de Minschen in de bunte Haun un Elend in de Welt, veel Mord un Doodslag. Welt to Huus sünd, wo dat veele Spraken geven deit, wo Wenn du mal kieken deist, wo dat na de Tweete Welt- man ok Toleranz lehrt un wo man ok een Stück to Huus krieg överall Konflikte, Kriege geben het, dann is dat is. immer dor wesen, wo Minnerheiten, ok Spraakminner- Hartliche Dank. heiten, nich to se ehrs Recht kamen sünd. Kiek di de Ko- sovo an; kiek di de Schann in de Sudan an. Dat sünd im- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie mer de Lütten, wo de Groten op prügeln doon, un de bei Abgeordneten der SPD) Lütten kamen nich to Woort. Dat bringt Konflikte; dat bringt Arger un dat bringt Mord un Doodslag. Also, wer Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sik för lütte Spraken un ok för Rechte von den Minschen Nun hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/ insetten deit, de sorgt ok dorför, dat dat een Stück Freden Die Grünen, das Wort. geven deit. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: (Beifall im ganzen Hause) „S-teenblock“ hat er extra gesagt!) 10448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kann nicht nur aus moralischem Beistand und Sonntags- (C) NEN): reden bestehen, sondern muss sich auch darin ausdrü- „S-teenblock“, ja. – Herr Präsident! Liebe Kollegin- cken, dass wir materielle Ressourcen dieser Gesellschaft nen und Kollegen! Mein Name legt in der Tat eine nord- für diese Arbeit zur Verfügung stellen. Das ist wichtig; deutsche Affinität nahe. Ich will meine ostfriesische Ver- daran sollten wir arbeiten. gangenheit gar nicht leugnen. Ich habe mir schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gedacht, dass ich hier nach dem Kollegen Börnsen dran sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ bin. Aber ich sage ganz offen: Die Relikte meiner ost- CSU und der FDP) friesischen Sprachkenntnisse sind so gering, dass ich lie- ber hochdeutsch spreche, obwohl ich eine große Verbun- Lieber Kollege Carstensen, wir brauchen das ehren- denheit zu meiner Heimat habe. Ich glaube, dass Sprache amtliche Engagement. Ohne das ehrenamtliche En- als Heimat ganz wichtig ist. gagement können wir in diesem ganzen kulturellen Be- reich überhaupt nichts erreichen. Wir sollten uns bei den Aber jeder muss bei seinen Fähigkeiten bleiben, lie- vielen Leuten bedanken, die sehr viel Lebenszeit in diese ber Kollege Wolfgang Börnsen. Darum habe ich mich Arbeit stecken. entschieden, am 5. September am 1. Minderheiten-Ma- rathon in Flensburg teilzunehmen und dort für die Min- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, derheiten mitzulaufen. bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- geordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) Ohne diese engagierten Bürgerinnen und Bürger wären Auch das ist eine Form von kultureller Arbeit – im sport- diese Sprachen in einer ganz schlimmen, zum Teil hoff- lichen Bereich –, die ganz wichtig ist, um die Verbindun- nungslosen Situation. gen zwischen den einzelnen Gruppen in diesem Bereich aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Wir als Gesellschaft müssen unsere Verantwortung gegenüber diesen Menschen nicht nur durch verbale, Sprache ist Heimat. Sie verbindet. Sie schafft Identi- sondern auch durch finanzielle Anerkennung ausdrü- tät. Aber wir müssen auch sagen: Sprache trennt. Wir cken. sollten dieses Problem nicht unter den Tisch kehren. Grenzen, Unverständnis und Konflikte durch verschie- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ dene Sprachen in der Gesellschaft sind nicht zu vernach- CSU]: Nicht nur als Folklore sehen!) lässigen. Deshalb ist es ein zentrales Ziel von Politik, da- Daran müssen wir alle zusammen arbeiten. Wir haben für zu sorgen, dass Sprache keine Barrieren mehr verabredet, in der Ausschussberatung gerade diese Frage schafft, dass Sprache nicht ausgrenzt. (B) neu zu thematisieren und zu versuchen, Lösungen zu (D) Wir haben es in Deutschland – insbesondere in konkretisieren. Schleswig-Holstein, dem Bundesland, in dem ich jetzt Unsere Verantwortung gilt auch für den europäi- wohne – geschafft, dass unterschiedliche Sprachen zu ei- schen Integrationsprozess. Bei der Integration von Ru- nem verbindenden Element zwischen Minderheiten wer- mänien und Bulgarien in die Europäische Union werden den. Minderheiten reden miteinander über ihre Pro- Kultur und Sprache der Sinti und Roma eine ganz beson- bleme. Minderheiten werden von der Mehrheit bei der dere Rolle spielen. Wir alle sind gefordert, unser Scherf- Wahrnehmung ihrer berechtigten Interessen unterstützt. lein dazu beizutragen, die Integration von Sprache und Es ist ein ganz sensibler Bereich und typisch für eine Kultur der Sinti und Roma zu unterstützen. Gesellschaft, wie sie mit Sprache umgeht. Es ist ein Aus- Es geht auch darum, unsere Erfahrungen mit der Inte- druck dessen, wie sie Konflikte löst. Das ist uns viel- gration von autochthonen Minderheiten auf die Sprach- leicht schon etwas fremd geworden. Ich habe in der letz- minderheiten zu übertragen, die sich durch Migration er- ten Woche in Lettland und in Estland gesehen, zu geben. welchen politischen Problemen Sprachprobleme führen. Wer die Sprachprobleme der russischen Minderheiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die sich daraus ergebenden politischen Machtfragen sowie des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] in diesen Gesellschaften studiert hat, weiß, welche Pro- [CDU/CSU]) zesse im Umgang mit Minderheiten wir erfolgreich be- wältigt haben. Wir haben dieses Integrationsproblem im Zusammen- hang mit dem Zuwanderungsgesetz sehr intensiv disku- Allerdings müssen wir gerade bei der Sprachgruppe tiert. Ich glaube, dass die Erfahrungen, die wir – zum der Sinti und Roma noch viel Arbeit investieren, um die Beispiel in Schleswig-Holstein mit dem Minderheiten- gesellschaftliche Akzeptanz für ihre Sprache und ihre zentrum – machen, uns gute Hinweise darauf geben, wie Kultur zu erhöhen. Das gilt besonders vor dem Hinter- wir Minderheiten integrieren und ihre Kulturen akzeptie- grund unserer Erfahrung und der besonderen Verantwor- ren können. Das ist ein ganz wichtiger Bereich. tung, die wir beim Umgang mit der Europäischen Spra- chencharta haben. Sprachminderheiten sind auf Zugang zu den Medien unserer Gesellschaft angewiesen, damit kulturelle Aus- Wir haben es geschafft, unsere Minderheiten – auch einandersetzung und Sprachförderung stattfinden kön- sprachlich – zu integrieren und zu unterstützen. Aber ich nen. Das zweite wichtige Element neben der Unterstüt- gebe Wolfgang Börnsen völlig Recht: Unterstützung zung von kulturellen Vereinigungen muss daher sein, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10449

Rainder Steenblock (A) dass wir diesen Gruppen einen Zugang zu den modernen Bi disse Gelegenheit mutt ik ok noch wat los warn: (C) Medien ermöglichen, also zum Fernsehen und – nicht De hütige Debatt in uns Parlament is keen Utspraak över ganz so modern, aber auch wichtig – zum Hörfunk. „Mundartsprachen“, wie uns Öllersrat meent, Staatliche Einrichtungen sollten die Präsenz von Min- derheitensprachen im Internet fördern. Kommunen, Lan- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: So ist desregierungen und Bundesregierung sollten auf sie hin- das!) weisen und entsprechende Links setzen. Die sonnern hier geiht dat um de Pleeg un Förderung von Minderheiten müssen Gelegenheit haben, sich in unse- Minnerheitenspraken. Dat is en gewaltigen Unnerschied, ren Medien darzustellen. Das ist eine zentrale Vorausset- ob dat „Mundartsprachen“ oder Minnerheitenspraken zung dafür, dass ihre Kulturen lebendig bleiben und sich sind. immer wieder erneuern können. Dafür sollen wir alle zu- sammen kämpfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ik will hüüt bi disse Utspraak nich kriteseren, sonnern ik denk, wi schullen hier ok mal laben: to’n Bispeel al de (Beifall bei allen Fraktionen) Vereene, wo bi uns im Norden noch platt snackt ward, wo de Vörstand platt snackt un wo manch Versammlung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: op Platt afholen ward. Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Koppelin, FDP- Ik will ok mal doran erinnern, dat ik so manch Ge- Fraktion. meendeversammlung kenn, wo ok platt snackt ward. Den groten Bebuungsplan kannst du beter begriepen, Jürgen Koppelin (FDP): wenn du dat op Platt besnacken deist. Mi wär’s bloot Leeve Herr Vörsitter! Leeve Fruunslüüd! Leeve leev, wenn ok de Architekt von de Bebuungsplan platt Mannslüüd! Dat kümmt nich oft vör, dat en wie ik von snaken kun. Denn künnt man ok beter begriepen, watt he de Opposition wat von de Regierung laben deit, egentlich will. Also, wenn du bi uns in de Dörp en Ge- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das schäft moken wüllst, denn bist du goot beroten, wenn du sollten Sie öfter tun! Das muss mal gesagt platt snacken deist. Wer da uut Süüddüütschland to uns werden!) kommen deit, de soll vörher mal en beten Platt lernen. Ik glööv, denn kann he ok beter Geschäfte moken. aver de Unnerichtung von de Regierung över de Minner- heitenspraken is en gode Bericht, wat dor op en Dutt (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der sammelt worrn is. Dat mutt man respektieren; dor mutt CDU/CSU) (B) man seggen, dat is eenwandfrie. Ik will bi disse Gelegenheit noch wat anners seggen, (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wat ik utsproken goot find: Dat is, dat manchen Paster bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- wedder anfangt, sien Goddesdeenst op Platt aftohollen. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Wat besonners goot is, dat wi ok mol erfohrn doot, CSU]: Dat hett Luther schon seggt!) wat dat so all an Aktivitäten in de Länders un in Organi- Lüüd, jüm glöövt gor nich, wenn jüm dat ni sülben sationen geven deit, un ok doröver wat erfohren doot, wo miterleevt hebbt. Denn is de Kark mal wedder richtig uns nedderdüütsche Sprok noch snackt ward. Dat is vull. Un ik find ok goot, dat wi nu ok in de meisten Kar- goot, dat wi den Bericht kriegt hebben. Denn wie hett ken plattdüütsche Gesangböker hebbt un de Wachholtz- Klaus Groth al schreben: „Min Modersprok, wie klingst Verlag ut Niemünster in Dezember von dat letzte Johr ok Du schöön, wi bis Du mi vertrut.“ Un dat dat wedder dat „Ne’e Testament“ in Plattdüütsch rutbrocht hett. Dat ward, dat uns plattdüütsche Modersprok nich nur von is ok wat, wo ik glööv, dat wi dat mal laben schüllt. Oma un Opa snackt ward, sönnern ok uns jung Lüüd wedder vertrut ward, dor mööt wi uns drum kümmern. Ik glööv, tosamen köönt wi noch bannig veel för uns plattdüütsche Sprok moken. Rainder Steenblock hett ok (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wat dorvon ansproken. So wünsch ik mi mehr Platt- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- düütsch in uns Klönkassen un in Televischen, denn de NISSES 90/DIE GRÜNEN) Öffentlich-Rechtlichen hebbt mit dat Betohlen von de Wi beklogt in disse Tied oft de aggressive Spraak von Gebühren ok en Kulturopdrag. uns junge Lüüd. Wenn de all platt snacken wörn, denn glööv ik, denn geev dat keen Aggressivität mehr oder Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: veel weniger bi de jungen Lüüd. Herr Kollege Koppelin, lassen Sie eine Zwischen- De meisten, de platt snacken doon, kennt dat ja: Dor frage des Kollegen Börnsen zu? kümmt mol en Striet un de een seggt to’n annern: Mensch, klei mi an Mors! Denn seggt de anner: Du mi Jürgen Koppelin (FDP): ok! Aver dorför gifft dat kein an’t Muul. Dor verträgt de Mit groten Vergnögen. sik ganz schnell wedder. In acht Bunnesländer köönt Minschen Platt snacken. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Wenn dat so is, denn is dat goot un mutt pleegt warn. Afsnackt is dat nich. 10450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) Leeve Jörn, du hest grode seggt, dat dat heel wichtig Ik will aver klor un dütlich seggen: Mit Geld oder mit (C) is, dat man sik mehr um de plattdüütsche Spraak küm- Anwiesungen vun de Regierung is dat nich doon. Wi mern deit. Weer dat nich en wirklich goote Idee, dat uns mööt dorför sorgen, dat ok in’t Öllernhuus wedder platt- Landesparlamente, ob in Hamborg oder Mecklenborg düütsch oder friesisch oder dänisch – oder wat jümmers oder Bremen oder ok in Sleswig-Holsteen, sik maal dor is – snackt ward. Wi, de wi disse Spraken snacken mehr in de Landesspraak utenannersetten doon un nich köönt, hebbt de Opgaav, disse wunnerbaren Spraken an alleen nur in Hochdüütsch. Denn in de Länner ward ja uns Kinner wiedertogeven. platt snackt. Is dat nich ok wichtig, dat se ok begriepen, wi kriegt jedes Johr 170 ne’e Böker op Platt, wi hebbt Un deshalb segg ik to’n Schluss von mien Bidrag en över 6 000 Theatergruppen, un dat se mal en Geföhl dor- Utspruch – dat is hier noch nich snackt worrn –: „En Lun för kriegen, dat Platt mehr is as Folklore? sönner Spreek es en Lun sönner Seel.“ Dat is Helgolän- der Friesisch. Wer dat nich verstoon hett, den will ik dat gern översetten: En Land ohne Spraak is en Land ohne Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Seel. Nu hebbt dat wohl all verstoon. Das kann man ja noch schön in die Föderalismuskom- Weest all bedankt för disse Debatt un för jüm Op- mission einführen. merksamkeit, dat Sie mi tohöört hebbt. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Beifall bei allen Fraktionen) Bitte schön, Herr Kollege. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Jürgen Koppelin (FDP): Ich stelle mit besonderem Respekt fest, dass das Ein- Ik mark al, uns Vörsitter, de kann dat doch allens ver- halten der Redezeit in Platt offenkundig leichter gelingt stohn. als in Hochdeutsch. (Heiterkeit) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Man goot so!) Nun erteile ich der Kollegin Gesine Lötzsch das Wort. Ik bin di sehr dankbar dorför, dat du de Froog stellt hest: zum een, weil ik als Liberaler bloot veereenhalf Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Minuten to snacken hebb. So kunn ik noch en beten län- Vielen Dank, Herr Präsiden! Meine Damen und Her- ger snacken. ren! Es herrscht hier eine sehr angenehme Atmosphäre, aber trotzdem erlaube ich mir die Bemerkung, dass auch (B) (Heiterkeit bei der FDP – Wolfgang Börnsen die Minderheitenpolitik dieser Bundesregierung allerlei (D) [Bönstrup] [CDU/CSU]: Hebb ik gor nich Widersprüche beinhaltet. dran dacht!) Als nationale Minderheiten werden in Deutschland Aver ik will dat gern beantworten: De Landdag vun Sles- bekanntlich vier Ethnien anerkannt: die dänische Min- wig-Holsteen mokt dat ja ab un to. Ik will ok mal den derheit, die Friesen, die deutschen Sinti und Roma sowie Präsidenten vun de Landdag, ok wenn he vun de Sozial- das sorbische Volk. Bemerkenswert und richtig finde ich demokraten is, en beten laben. He sorgt ok mit dorför, die Hervorhebung des besonderen Status der Sorben. dat wi disse plattdüütschen Debatten in’n Landtag Das Bewusstsein, eben keine Deutschen zu sein, ist seit mookt. Dat köönt wi noch mehr moken. Ik köönt mi vör- über 1000 Jahren wichtige Komponente sorbischer Iden- stellen, Peter Harry, dat man in’t nächste Johr, so af tität. Erinnert sei daran, was 1937 den Nazis als Vorwand März, ok in’t Landeskabinett noch en beten platt sna- für die Einleitung massiver Repressalien gegen die sor- cken kann. bische Bevölkerung einschließlich Sprachverbot und Verhaftungen diente. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – [SPD]: Kein Beifall von der (Widerspruch bei der SPD und der CDU/ SPD! Das haben wir verstanden!) CSU – Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Was sagen Sie denn dazu, Frau Michalk? – Ik will noch en Punkt ansnacken, de mi wichtig is, Maria Michalk [CDU/CSU], zu Dr. Cornelie hier to vertellen: Ik glööv, bevör dat nu bi ARD und ZDF Sonntag-Wolgast [SPD] gewandt: Zur PDS Gebührenerhöhung gifft – wat di ja gern wöllt –, mööt sage ich gar nichts!) wi uns mit de ok mal unnerhollen, wat se egentlich mit uns Minnerheitensproken mookt. Dat hool ik för drin- Es war die einhellige Weigerung des Vorstandes der Do- gend nootwennig, denn de hebbt en Kulturopdrag und mowina, des Dachverbandes sorbischer Vereine, sich mööt sik dorüm kümmern. eine Satzung aufzwingen zu lassen, in der die Sorben zu „Wendisch sprechenden Deutschen“ deklariert werden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sollten. Dringend kümmern mööt wi uns um dat Friesisch; dat Nicht anders dürfte es um die Identität der Dänen in is ja andüüdt worrn. Dor mööt wi noch veel mehr mo- Südschleswig bestellt sein. Meine Damen und Herren, ken, ok wenn to’n Bispeel de Friesenrat seker veel Sie erinnern sich vielleicht: Es ist noch gar nicht so mookt. Ik will bi disse Gelegenheit bi den Friesenrat lange her, dass sie nicht bereit waren, sich an Veranstal- Dank seggen för sien Aktivitäten. tungen zu beteiligen, auf denen die Flagge Schleswig- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10451

Dr. Gesine Lötzsch (A) Holsteins gezeigt wurde. Ihre Fahne ist und bleibt der schaft empfinden. Auf die Zwischenrufe eingehend, (C) Danebrog. merke ich an: Augenscheinlich fällt Ihnen das schwer, meine Damen und Herren. Auch die ihre Muttersprache noch beherrschenden Friesen lassen sich bei weitem nicht alle durch das Vielen Dank. Deutschtum vereinnahmen. Das Grundgesetz jedoch de- klariert alle Inhaber deutscher Pässe zu Deutschen. Zu- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) gespitzt gesagt: Danach ist die Anerkennung nationaler Minderheiten in Deutschland eigentlich verfassungswid- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: rig. Nun hat die Kollegin Karin Evers-Meyer, SPD-Frak- tion, das Wort. (Rudolf Bindig [SPD]: Was ist denn das für ein wirres Zeug? – Dr. Cornelie Sonntag- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Börnsen Wolgast [SPD]: Absolut neben der Sache! – [Bönstrup] [CDU/CSU]: Karin, nu seeg mal Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ wat Fröhliches!) CSU]: Da sind die Minderheiten viel, viel wei- ter!) Karin Evers-Meyer (SPD): – Hören Sie doch erst einmal zu! Verehrter Herr Vörsitter! Leeve Fruunslüüd un Mannslüüd! Fief Johr is dat her, dor is de Europäische Ich meine, es ist höchste Zeit, den antiquierten Charta för Regional- un Minderheitenspraken Gesetz Art. 116 des Grundgesetzes endlich ersatzlos zu strei- worrn. Von dorum snackt oder praat wi över den tweeten chen. Staatenbericht von de Spraken-Charta. Mit de Ünner- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) schrift ünner de Charta gifft dat ok för de plattdüütsche Spraak – för de snack ik vandagen oder vanavend so’n Der Hauptwiderspruch bundesdeutscher Minderhei- beten – en Regelwark, wor nipp un nau binnen steiht: tenpolitik ist jedoch die unterschiedliche Behandlung der Plattdüütsch is en Stück Kultur un dit Stück Kultur is vier autochthonen Minderheiten einerseits und der nach wichtig för de Minschen in’n Noorden vun Düütschland; dem Zweiten Weltkrieg eingewanderten Minderheiten un us Bundesregerung un de Bundeslänner staht dor dan- andererseits; Herr Kollege Steenblock ist bereits darauf kenswerterwies för in. eingegangen. Die autochthonen Minderheiten sind aner- kannt und haben zu Recht Anspruch auf Förderung ihrer (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Sprache und Kultur. Von den allochthonen, also den spä- CSU]: Du snackst ’n schöönes Platt!) (B) ter eingewanderten Minderheiten – einer Bevölkerung Man so’n lüttjes beten hett dor för de Plattdüütschen een (D) von mehreren Millionen – verlangt zum Beispiel der Uul seten. Bundesinnenminister explizit die Germanisierung. De Minschen hebbt wiss und wohrhaftig dacht, wenn (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ dat Gesetz eerst dor is un wenn dat ok noch vun Europa CSU]: Frechheit!) kümmt, denn müss dat doch egentlich bannig vörangahn. O-Ton Schily: Denn warrt wat doon för us Spraak. Denn maakt wi Pro- jekte mit Plattdüütsch in’n Kinnergoorn, in de School Ich will nicht, dass sich eine homogene Minderheit – ganz wichtig –, an’n Arbeitsplatz. Un beter warrt dat entwickelt, deren erste Sprache Türkisch ist … Die ok in de Kultur: bi de plattdüütschen Böker, bi de Musik- Muttersprache muss Deutsch sein oder werden. gruppen, bi de Theaters. Wo bleibt da die Toleranz des vom Bundeskanzler Man wenn wi nipp un nau henkiekt, denn warrt wi höchstpersönlich gewürdigten Toleranzpreisträgers wies: so richtig röögt hett sik för de Plattdüütschen noch Schily? gor nix. Snacken is een Ding; Doon is ’n anner. (Rudolf Bindig [SPD]: Das deutsche Volk (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der setzt sich aus mehreren Sprachgruppen zusam- FDP) men! – Weitere Zurufe von der SPD und der CDU/CSU) Wo liggt dat nu an? De wichtigste Punkt is woll düsse: In de Spraken-Charta steiht Platt blangen de Minderhei- Könnte es sein, dass der neuerdings in den Medien wie- tenspraken. De Minderheiten- oder Autochtonenspra- der beklagte Rückgang der Einbürgerungsanträge auch ken höört ethnische Gruppen to. Se hebbt to’n Bispill ge- damit zusammenhängt? meensame Traditionen, ehre Trachten un so wieder. De (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Pfui!) Plattdüütschen sünd avers blots över ehre Spraak ver- bunnen. – Was heißt hier „Pfui!“? Was ist das für ein Zwischen- ruf? – Wie soll da die Integration der ausländischen Mit- In de Charta gellt för Freesch, Sorbisch, Däänsch un bürger, wie sie meist genannt werden, gelingen? de Spraken vun de Sinti un Roma un ok för Platt desülvi- gen Regeln. Un ik meen, wenn dat een Gesetz geven Wir werden in Deutschland nur gut und friedlich zu- deit, denn schullen ja woll ok desülvigen Regeln gellen sammenleben können, wenn wir Unterschiede nicht als för all de Sprakengruppen, üm de dat hier geiht. Se hört Hindernis, sondern als Bereicherung für unsere Gesell- doch all de Regional- oder Minderheitenspraken to. 10452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Karin Evers-Meyer (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der pen, dat düt Stück Spraakkultur nich egaalweg lütter un (C) CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] minner warrt. [CDU/CSU]: Das ist ein Wort!) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Man dat is ok bloots wedder de halve Wohrheit. Denn Solms) dat gifft opstunns nich een politisch Gremium, wo de Plattdüütschen gliekberechtigt mit de Minderheiten in Wenn wi aver vun de plattdüütsche Kultur snackt, een Boot sitt. De Charta will egentlich wat doon för de denn meent wi ’n beten mehr as snacken. Denn meent wi ganze Grupp vun de lütten Spraken. Un dorüm geiht ok en Stück Geschichte vun us Land. Un wi meent Le- mien Appell eerstmaal villicht ok an de Minderheiten, der, Gedichten, Romane, Theater: dat se de Plattdüütschen nich länger minnachtig ankie- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: ken un utgrenzen doot. Sehr richtig! Genau das ist der Punkt!) Wi mööt uns fragen, wat us Bundesregierung noch ok dat Plattdüütsche in’t Radio, in’t Fernsehn oder in de doon kann, dat wi vun düssen Missstand wegkaamt. De Zeitung. Dat allens tohoop gifft de Minschen dat, wat lüttjen Kulturen in uns Land sünd eenfach to wichtig, as man hüüt Levensqualität nöömt. Wi all weet, dat düsse dat dat dor ok noch en Ünnscheed opböört warrt twü- Deel vun de Kultur in de Hand vun de Länder liggt. Un schen de lüttjen Kulturen: de ut de eerste Klass un de ut in’n Staatenbericht hebbt se dat allens opschreven. Man de tweete Klass. ok hier wedder mütt ik faststellen, de Würklichkeit süht (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: ’n beten anners ut: In Neddersassen hett de Landesrege- Da hast du Recht!) rung jüst de institutionelle Förderung för den Nedder- düütschen Bühnenbund üm rund een Veertel tosamen- Ok de Bund will hier nu sien Part övernehmen. De Platt- streken. düütschen hebbt nu twors en Bundesraat, mit Lüüd, de wählt sünd sogar. Man recht wat rieten köönt de nich. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist Düt Gremium warrt nich anerkannt un he hett reinweg aber gar nicht schön!) nix in de Melk to krömen. Dorum is dat ganz wichtig, dat de Bundesregerung den Bundesraat für Nedder- Desülvige Landesregerung seggt „Ja“ dorto, dat an de düütsch bi allens, wat an is – „was anliegt“ seggt wi in Göttinger Universität de eenzige Lehrstuhl „Nedder- hoochdüütsch –, estemeert. Un dat jüst so, as dat bi de düütsche Philologie“ ganz streken warrt – un dat, wo Maten vun de autochtonen Minnerheiten begäng is. Dor- düsse Punkt extra in de Charta opföhrt is un dat Land dor mit he dat kann, bruukt de Bundesraat för Nedder- ok sien Krüüz maakt hett. düütsch en institutionelle oder offitschelle Form. (B) Klor, de Länner mööt sporen. Wenn bi de Kultur (D) (Beifall bei allen Fraktionen) spoort warrt, denn is dat Plattdüütsche jümmers mit dorbi in de eerste Reeg. Dor gifft dat keen extra Schutz. In de nu vörliggenden tweeten Staatenbericht to de Man wi schüllt ok bedenken: De plattdüütsche Kultur Spraken-Charta, de nu op’n Disch liggt, geiht dat dorüm, hett al jümmers veel weniger Geld kregen as de Kultur woans dat denn ümsett warrt, wat in de Charta allens vun de anner Minderheiten – un as dat Hoochdüütsche al binnen steiht. Meist 500 Sieden un en Drüttel dorvun lang. Un wenn vun düt lütt Beten nu ok noch wat weg- geiht över Platt. Faktisch steiht Plattdüütsch hier blangen streken warrt, denn deit dat hier besunners weh. Dat gellt de annern lüttjen Spraken in Düütschland. Un vun’n übrigens nich bloots för Neddersassen, nee, in Schles- Grundsatz her – hebbt wi faststellt – is dat genau richtig wig-Holsteen is dat jüst so, nich ganz so schlimm, aver so. Goot is, dat de Länder överhaupt Bericht geven mööt dor hebbt wi ok ’n paar Dinge to beklogen. över ehr Doon. Man so wunnerbor, as dat hier op’t Pa- pier to lesen is, so wunnerbor steiht dat för dat Plattdüüt- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ sche – bit op een poor Utnahmen in Oostfreesland – CSU]: Na, na! Guck Dir das mal an mit den denn doch nich. In Oostfreesland kann man jeden Dag Friesen!) op de Straat Platt hören: an’n Arbeitsplatz, in’n Kinner- gaarn. Un dor maakt se ok ’n Barg för de Regional- Wi weet all, dat de Bundesregerung un de Länner spraak. Man, wo süht dat in de annern Regionen vun nich in Geld swemmen doot. Dorüm mutt de Bundesre- Neddersassen ut? In de Lünborger Heid oder in’t Ossen- gerung – se will dat ja ok – dorför sorgen, dat bi de EU brügger Land? de Geller, de in’n Huusholt för de Regional- un Minner- heitenspraken vörsehn sünd, utbetahlt warrt. Un wenn se Wenn för uns Plattdüütsch en Stück vun de noord- dat dennoch schafft, to verklaarn, dat dat Johr 2008 to’n düütsche Kultur is, denn langt dat nich, wenn bloots dor Sprakenjohr warrt in Düütschland, wat makt warrt, wo dat noch mehr oder weniger goot le- ven deit. Wenn wi nämlich noch teihn Johr mehr töövt, (Beifall bei der SPD) denn bruukt wi villicht gor nix mehr to maken. Nee, denn hett de Bundesregerung veel für uns nedderdüüt- Sprakenschutz heet ja doch, dat de Spraak dor to ehr sche Spraak doon. Un dorför segg ik in Naam von all de Recht kümmt, wo se to Huus is. Un dat is se nu maal in Nedderdüütschen Dank. ganz Noorddüütschland: in nich weniger as acht Bundes- länner bit hin to Nordrhein-Westfalen. Wo man hört, (Beifall bei allen Fraktionen – Wolfgang 8 Millionen Minschen snackt noch Platt. Man dat warrt Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Hast Du fein Johr för Johr bedrohlich weniger. De Charta will nu hel- mokt!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10453

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Tute naličenja móža so dale wjesć. Sym chcyła na to (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von skedźbnić, zo dyrbja w konsekwency globalizacije w der CDU/CSU-Fraktion. našim swěće mjeńšiny wulki asimilaciski ćišć wudźerźeć. Naša wosobinska wola za přetraće serbstwa a dosahaca statna podpěra słušatej tež hromadźe. Maria Michalk (CDU/CSU): Tohodla witam jara druhu rozprawu zwjazkoweho Česćeny knjez prezident! Česćeni knježa, wažene knježerstwa k Europskej charće regionalnych a damy, waženi hosćo! mjeńšinowych rěčow. Mam z tym jako zapósłanča prěni Für die Gäste sage ich, dass ich diese Rede in meiner króć móžnosć, moje wuwjedźenja w mojej maćeršćinje sorbischen Muttersprache spreche. podać. To je za mnje historiski podawk. Mjez łužiskimi horami a Błótowskej krajinu, na Ja sonju w maćeršćinje a so tež w maćeršćinje modlu. brjóhach Sprjewje tu su Serbja zhromadnje z němskej Wot naroda sem sym dwurěčnje wotrostła. Tutu ludnosću žiwi. To je naša domizna. Serbja nimaja bohatosć přeju wšitkim dźěćom. Wjacerěčnosć je kluč swójski maćerny kraj. Najebać wšitkich historiskich do přichoda. W tutym duktusu trjebamy runoprawnosć napřećiwkow su sej Serbja dlěje hac 1 500 lět swoju regionalnych a mjeńšinowych rěčow a tohodla wosebite wosebitosć zdźerželi a wuwili, wosebje serbsku rěč. spěchowanje. Wokoło Chośebuza gronimy dolnoserbski a wokoło Budyšina hornjoserbsce. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Michalk, erlauben Sie eine Delnjoserbšćina je bóle přichilena pólšćinje a Zwischenfrage? hornjoserbšćina bóle k čěskej rěči. Tutón fakt a zhromadne historiske korjenje wolóža mjezsobne (Heiterkeit) dorozumjenje z našimi susodami. Naše stare serbske přisłowo praji: „Ze serbskej hubu přindźeš přez Pólsku a Henry Nitzsche (CDU/CSU): Čěsku do Ruskej“. W rozšěrjenej Europje hladamy hišće Knjez prezident, knjeni Michałkowa, kak Wy to dokładnišo na to, zo so europska mysl šěroko přesadźi. widźiće, trjebamy wosebity mjeńšinowy artikel w (Beifall bei allen Fraktionen) Europskich wustawkach? (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: To budźe so nam ćim lěpje zešlachćić, hdyž twarimy Wir haben Sprachentalente bei uns!) emocionalne, kulturelne, sociopolitiske, hospodarske a wosebje rěčne mosty. Maćerna rěč a identita słušatej (B) hromadźe. Bjez němsko-serbskeje dwurěčnosće by naša Maria Michalk (CDU/CSU): (D) Lužica była kaž „hłowa bjez wobliča“. Tohodla je nam Ja so dźakuju za tute prašenje. – Ich antworte erst auf zdźerženje serbskeje rěče tak wažne. sorbisch und übersetze Ihnen das anschließend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Frage gar nicht ver- Nawuknje so serbšćina w staršiskim domje, je to standen! – Heiterkeit) najlěpje a tež najtuńšo. A to je tež najrjeńšo, dokelž so tak nan a mać a dźěćo najsylnišo we wobłuku němskeho We wobłuku diskusije Zakładneho zakonja smy na to wobswěta jako zhromadnosć skruća. Dźěći němskich skedźbnili, zo trjebamy mjeńšinowy artikl. Tam je so staršich maja wězo tež móžnosć, serbšćinu na přikład we nam prajiło, zo bychmy dyrbjeli tuton problem rjadować WITAJ-skupinach nawuknyć. Tutón projekt so přeco w Europskej wustawje. Ja trochu wobžaruju, zo so to lěpje přesadźi. Za to trjebamy pak tež w přichodźe statnu njeńdźe w tutym wokomiku slachćić. Runje dźensa so w podpěru. Brüsselu wo tym jedna. Dźakuju. Serbske šule maja, kaž wšitke druhe šule, z demo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie grafiskim wuwićom ćeže a dyrbja z konsekwencami bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- wobchadžeć. Tež my mamy bohužel přemało dorosta. Za NISSES 90/DIE GRÜNEN) dalše wobstaće serbskeho šulstwa dyrbja za nas Für die Kollegen werde ich das fairerweise wuwzaćne rjadowanja płaćić, štož je zdobom z přidatnej übersetzen, sofern das nicht auf meine Redezeit financnej podpěru zwjazane. Wo to wojujemy kóžde angerechnet wird. lěto. (Beifall bei allen Fraktionen) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Übersetzen Sie bitte! Serbske šule trjebaja wězo tež serbske wučbnicy a wuwučowanski material. Maria Michalk (CDU/CSU): Angažowani sobudźěłaćerjo Rěčneho centruma Der Kollege Nitzsche hat mich gefragt, ob ich es für WITAJ a tež čestnohamtscy so wo to staraja. Wučbnicy notwendig erachte, dass in der Europäischen Verfassung pak so jenož w snadnych ličbach ćišća, jenož tak wjele ein eigenständiger Minderheitenartikel aufgenommen kaž trjebamy. Zo by płaćizna wučbnicow za staršich wird. Ich habe ihm geantwortet, dass wir bei der naposledk móžna była, je tež tu dalša přiražka trěbna. Diskussion über die Änderung des Grundgesetzes im 10454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Maria Michalk (A) Zuge der deutschen Einheit sehr für einen Ja so jara wjeselu na dalše zhromadne dźěło na dobro (C) Minderheitenschutzartikel gekämpft haben. Seinerzeit wšěch w tutym kraju. Ja so jara wutrobnje dźakuju. wurden wir immer wieder auf die Chance der Europäischen Verfassung hingewiesen. Da, wie Sie (Beifall bei allen Fraktionen) wissen, gerade heute in den entsprechenden Gremien darüber beraten wird, bin ich etwas traurig, dass eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: solche Formulierung wohl nicht expressis verbis Da ich Frau Kollegin Michalk nicht auf sorbisch auf aufgenommen werden wird. die Überschreitung ihrer Redezeit hinweisen konnte, konnte sie in aller Ruhe zu Ende reden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Heiterkeit) CSU]: Du hast das eben auf sorbisch ein biss- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird chen anders gesagt! – Heiterkeit) Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/3200 – Das steht ja dann im Protokoll. Eigens dafür wurde und 15/3328 an die in der Tagesordnung aufgeführten eine sorbische Protokollantin eingeflogen. Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Předpołožena rozprawa dopokaza, zo su w němskej beschlossen. republice zasadne wěcy na polu mjeńšinoweho prawa rjadowane. Porućenje ministerskeho komiteja pokaza Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: pak tež, w kotrych jednotliwych dypkach je dalše a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- jednanje trěbne. Wón je němskemu knježerstwu gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur doporučił, serbšćinu, wosebje tež delnjoserbšćinu, Änderung des Zivildienstgesetzes und anderer skrućić, dokelž hrozy strach, zo so pominje. Vorschriften (Zweites Zivildienstgesetzände- rungsgesetz – 2. ZDGÄndG) Serbske šulstwo ma so stabilizować. To njeje jenož nadawk krajow, tež zwjazk ma so na přiměrjene wašnje – Drucksache 15/3279 – wobdźělić, tež na dalekubłanjach wučerjow. Serbska rěč Überweisungsvorschlag: ma so šěršo w zjawnym žiwjenju jewić a tež w medijach. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Tež naše serbske institucije su trěbne za serbsku rěč, Verteidigungsausschuss kaž Rěčny centrum WITAJ, Serbski institut, Ludowe Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung nakładnistwo Domowina, Němsko-Serbske ludowe b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ina (B) dźiwadło a Serbski ludowy ansambl, a tež projektne Lenke, Klaus Haupt, Daniel Bahr (Münster), (D) dźěło mam za wažne. Wšitko to přewodźa Domowina weiteren Abgeordneten und der Fraktion der jako rěčnica Serbow z jeje towarstwami. Wo financny FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge- zakład stara so Załožba za serbski lud. Mamy potajkim setzes zur Änderung des Zivildienstgesetzes přeco lěpje fungowace struktury. Bjez financnych (Zweites Zivildienstgesetzänderungsgesetz – přiražkow zwjazka, Swobodneho kraja Sakskeje a 2. ZDGÄndG) Braniborskeje njeby to wšitko móžno było. Za to sym jara dźakowna. – Drucksache 15/2482 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei allen Fraktionen) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Verteidigungsausschuss Ale přez zwjazk připowědźene skrótšenje srědkow Załožby za serbski lud na žadyn pad w duktusu tuteje Aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung ist für rozprawy njesteji. Hišće 15. měrca 2002 je zwjazk die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Da aber pisomnje připowědźił, zo wostanje srjedźodobnje die meisten Reden zu Protokoll genommen werden sol- přiražka zwjazka w dotalnej wysokosći. Na to smy so len, werden wir diese Zeit gar nicht benötigen. spušćili. Ale hižo lětsa je skrótšenje fakt a za klětu Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der připowědźene. Z toho wuchadźaca njewěstosć nas Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion. aktualnje jara zaběra a pohibuje. Kaž zwjazk němsku rěč z prawom we wukraju spěchuje, tak ma wón winowatosć, za dosahowace spěchowanje regionalnych Ina Lenke (FDP): a mjeńšinowych rěčow w tukraju. Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die FDP-Fraktion hat sich im Deutschen Bundestag wieder- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ holt vehement und mit Nachdruck für die Aussetzung CSU]: Hört! Hört!) der Wehrpflicht und damit auch für ein Ende des Zivil- Naše štyri mjeńšinowe rěče a regionalna rěč dienstes eingesetzt. Nižozemskeje wupjelnja sobu tutón „pisany kwěćel“ (Beifall bei der FDP) europskich rěčow. Prócujemy so wo to, zo to tak wostanje. Za to ma zwjazk wosebitu zamołwitosć. Wir wissen, dass wir auch in der SPD Unterstützer ha- ben. Wie ich sehe, hat auch die Staatssekretärin der SPD (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist ja jetzt ganz ihren Redebeitrag zu diesem Thema zu Protokoll gege- neu! – Heiterkeit) ben. Das zeigt mir, dass dieses Thema heute Abend Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10455

Ina Lenke (A) möglichst ohne Aufsehen im Parlament abgehandelt Ich komme zum Schluss. Der Verkürzung der Zivil- (C) werden soll. dienstzeit, so wie sie die FDP in ihrem Gesetzentwurf vorschlägt, kann auch ohne Anhörung zugestimmt wer- Meine Damen und Herren von den Grünen, zu Nicht- den. regierungszeiten hatten die Grünen ein größeres Inte- resse an der Aussetzung der Wehrpflicht, als dies heute (Beifall bei der FDP) Abend der Fall ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Die übrigen Reden sollen zu Protokoll genommen GRÜNEN]: Das ist ein Schmarren! Das wis- werden. Es handelt sich um die Reden der Parlamentari- sen Sie genau!) schen Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel sowie der Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, Bündnis 90/ Ich habe den Eindruck, dass für die Grünen die Wehr- Die Grünen, und der Kollegen Willi Zylajew, CDU/ pflicht nur noch ein Randthema ist. CSU, Andreas Weigel, SPD und Andreas Scheuer, CDU/ Liebe Kollegen, die FDP hat Anfang dieses Jahres, im CSU-Fraktion.1) Februar 2004, die Initiative ergriffen und einen eigenen Ich schließe die Aussprache. Gesetzentwurf zur Verkürzung der Zivildienstzeit auf neun Monate in den Bundestag eingebracht. Ich will für Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetz- die FDP – auch am späten Abend – ganz deutlich unter- entwürfe auf den Drucksachen 15/3279 und 15/2482 an streichen, dass dies für uns nur eine Übergangslösung die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie ist. Denn unser eigentliches Ziel ist die Aussetzung der zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss zu überwei- Wehrpflicht. Die Arbeit der Zivildienstleistenden und sen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der die Arbeit der Wehrpflichtigen sind gleichwertig und Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. deshalb sollen beide Gruppen nur neun Monate dienen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Ich hoffe, dass sich die SPD-Familienministerin Schmidt im Kabinett weiterhin für das Aussetzen der Wehrpflicht Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter engagiert. Nooke, Bernd Neumann (Bremen), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wir alle und ganz besonders die Grünen sollten den der CDU/CSU Vorstellungen des Innenministers Schily und den Vor- stellungen der Justizministerin Zypries eine klare Ab- Förderung von Gedenkstätten zur Diktatur- sage erteilen. Denn Zypries und Schily wollen einen geschichte in Deutschland – Gesamtkonzept (B) Zwangsdienst von zwölf Monaten in der Bundes- für ein würdiges Gedenken aller Opfer der (D) republik Deutschland einführen. Allein die Diskussion beiden deutschen Diktaturen hierüber ist für jeden Demokraten eine Zumutung. Welt- – Drucksache 15/3048 – weit existiert nämlich dieser Zwangsdienst, den Schily Überweisungsvorschlag: und Zypries wollen, nur noch in der Militärdiktatur der Ausschuss für Kultur und Medien (f) Union Myanmar, die besser unter dem Namen Birma be- Innenausschuss kannt ist. Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Nun zum Regierungsentwurf. Ich halte ihn für nicht Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ausgereift. Einig sind wir uns darin, was die Kürzung des Zivildienstes anbelangt. Aber was die Änderungen be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die züglich des Wehrdienstes betrifft, hat meine Fraktion Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre noch Beratungsbedarf. Dazu brauchen wir eine Anhö- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. rung. Wie Sie alle wissen, existieren mehrere Gerichts- Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile urteile, die die Praxis der Einberufung zum Wehr- ich das Wort dem Kollegen Günter Nooke. und Zivildienst für mit der Verfassung nicht vereinbar erklären. Ich denke an das Urteil von Köln. Die FDP hält es nämlich für eine Willkür, dass der Gesetzgeber Grup- Günter Nooke (CDU/CSU): pen von Wehrpflichtigen aus der Wehrpflicht entlässt, Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Es die nach den Kriterien der Landesverteidigung eigentlich ist kein Zufall, dass wir heute, am 17. Juni, einen Antrag tauglich wären. – mit einem zugegebenermaßen etwas sperrigen Titel – einbringen. Besonders vor dem Hintergrund der ergangenen Ge- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE richtsurteile halten wir dieses Vorgehen der Bundes- GRÜNEN]: Wenn er nur sperrig wäre!) regierung für politisch-verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Es kann doch nicht angehen, dass die Wehr- Unser Antragstext beginnt mit der Feststellung: pflicht zunehmend verfassungswidrig organisiert wird. Ich schlage Ihnen vor, den Gesetzentwurf der FDP zügig Zu den konstitutiven Elementen des wiederverein- ten Deutschlands gehört das Gedenken an die Opfer zu verabschieden und den weiter gehenden Änderungs- bedarf, der in dem Regierungsentwurf beschrieben ist, sachgerecht zu beraten. 1) Anlage 3 10456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Günter Nooke (A) der beiden totalitären Diktaturen des 20. Jahr- In diesem Zusammenhang hat die rot-grüne Bundes- (C) hunderts: Nationalsozialismus und Kommunismus. regierung in einer Unterrichtung in der vergangenen Le- Beide sind Bestandteile der deutschen Geschichte. gislaturperiode betont, dass die Gedenkstätten an den authentischen Orten zur Erinnerung an beide Diktaturen Wir haben bewusst das Wort „Diktaturgeschichte“ im und zum Gedenken an die Opfer Stützpunkte von zentra- Titel unseres Antrags gewählt, um deutlich zu machen, ler Bedeutung sind. Die Erinnerungskultur müsse als ge- dass die deutsche Geschichte im vergangenen Jahrhun- samtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe an- dert von zwei Diktaturen geprägt war. gesehen werden. Ich möchte gleich zu Beginn unmissverständlich fest- Das alles sollte zwischen uns unstrittig sein. Umso stellen: Dabei geht es in keiner Weise darum, das Terror- system des Nationalsozialismus mit der SED-Diktatur bedauerlicher ist es, dass von der Regierung auch bezo- gleichzusetzen oder gar die Singularität des Holocaust gen auf den letzten Teil nur Lippenbekenntnisse zu hö- anzuzweifeln. ren sind, während in der Sache wenig geschehen ist. Zu- mindest erwarte ich, dass Sie uns nicht vorwerfen, wir (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE würden diesen Konsens verlassen, weil Sie sich nicht GRÜNEN]: Genau das passiert aber!) mehr daran erinnern lassen wollen. In unserem Antrag werden auch keine Opfergruppen (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- vermischt. Das sind unhaltbare Unterstellungen, die NIS 90/DIE GRÜNEN) durch keine einzige Textstelle in unserem Antrag belegt werden. Es wäre vielmehr zu wünschen, wir könnten auch in die- ser Debatte und in den Beratungen unseres Antrags an (Beifall bei der CDU/CSU) den Konsens, den ich eben dargestellt habe, anknüpfen. Vielmehr beginnt gleich der zweite Absatz unseres (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ Antrags mit einem für mich selbstverständlichen Satz, DIE GRÜNEN]: Sie heben doch den Konsens den ich allen jüdischen Opferorganisationen, aber auch auf!) allen anderen Organisationen gegenüber als tiefe persön- liche Überzeugung und dauerhaftes Handlungsprinzip Die nationale Bedeutung der NS-Gedenkstätten für der CDU/CSU-Fraktion zitieren möchte: die Erinnerungskultur ist unstrittig. Wenn es um die an- gemessene und langfristig abgesicherte Finanzierung Das Nationalsozialistische Regime hat mit dem geht, ist die aktuelle Lage auch für diese Gedenkstätten millionenfachen Mord an den europäischen Juden schon nicht mehr ganz so klar. Die Arbeit dieser Einrich- ein singuläres Verbrechen begangen, das immer ein tungen ist nicht nur über Projektförderungen zu unter- (B) spezielles Gedenken erfordern wird. stützen, sondern sie sollte über eine institutionelle För- (D) (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das haben derung langfristig abgesichert werden. Sie schön nachgeschoben!) Das im Bericht der Enquete-Kommission ebenfalls – Ich kann noch viele selbstverständliche Aussagen hin- angesprochene Gedenken an die SED-Diktatur ist dage- zufügen. Jeden, der versucht, sich vorzustellen, wie der gen im öffentlichen Bewusstsein ungenügend verankert im Naziregime organisierte industrielle Massenmord an und in den Gedenkstätten unzureichend umgesetzt. Das den Juden abgelaufen ist, überkommt ein Schaudern, ist der Grund für unseren Antrag. Scham und das sichere Gefühl, dass wir uns niemals der Verantwortung entziehen dürfen, daran zu erinnern, was Wir verabschieden uns nicht vom Konsens aller Par- Deutsche den europäischen Juden angetan haben. teien mit Ausnahme der PDS in den Enquete-Kommis- sionen der 12. und 13. Legislaturperiode. Wir wollen Es besteht kein Zweifel: Bautzen ist nicht Auschwitz. vielmehr, dass er auch in den SBZ- und DDR-Gedenk- Trotzdem muss auch Bautzen als Synonym für die Ver- stätten umgesetzt wird. brechen der SED-Herrschaft Teil unseres nationalen Be- wusstseins sein. (Beifall bei der CDU/CSU) (Maria Michalk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Ein weiteres Beispiel für die ungenügende Bewusst- seinslage zeigt auch die Debatte über die SED-Opfer- Dabei berufen wir uns ausdrücklich auf die Ergebnisse renten am heutigen Nachmittag. der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu den Folgen der SED-Diktatur. Im Schlussbericht wird Der wesentliche Grund, warum wir diesen Antrag für festgestellt – ich zitiere –: notwendig erachten und weswegen wir die öffentliche Diskussion ausdrücklich begrüßen, lässt sich in einem Die Erinnerung an die beiden Diktaturen, die die Satz zusammenfassen: Feindschaft gegen Demokratie und Rechtsstaat ver- bunden hat, schärft das Bewusstsein für den Wert Hierzulande wird die stalinistische Vergangenheit von Freiheit, Recht und Demokratie. Dies, wie die der DDR … meist als Regionalgeschichte abgetan, notwendige Aufklärung über die Geschichte der statt als gesamtdeutsches Erbe angenommen zu beiden Diktaturen, ist der Kern des antitotalitären werden. Konsenses und der demokratischen Erinnerungs- kultur der Deutschen. Das ist ein Zitat aus einer Berliner Tageszeitung, dem „Tagesspiegel“ vom 6. Juni dieses Jahres, der sich nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mit unserem Antrag, sondern mit der Flick-Collection, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10457

Günter Nooke (A) der Topographie des Terrors und der Gedenkkultur in vorgibt, dann frage ich Sie allerdings, wo das in unserem (C) Deutschland ganz allgemein befasste. Mit dem Zusam- Antrag geschieht. Oder meinen Sie mit Neutralität, dass menbruch der DDR „wuchs der deutschen Erinnerungs- der Bund nur für NS-Geschichte zuständig ist, das an- kultur die Beschäftigung mit dem Stalinismus zu“, heißt dere aber Sache der neuen Bundesländer sei? Dann träfe es in dem zuvor erwähnten Artikel von Bernhard Schulz. ja unser Antrag ins Schwarze. Wir jedenfalls halten diese Auch die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass die- inhaltliche Debatte für notwendig und interessant. Neh- ser Aufgabe bislang nur unzureichend nachgekommen men Sie vielleicht doch einmal die Unterlagen der En- wird. Die SED-Diktatur kann nicht als Angelegenheit quete-Kommissionen mit in den Urlaub! der neuen Bundesländer, als regionales Ereignis abgetan werden. Die DDR war Teil Deutschlands. Die Debatte, (Beifall bei der CDU/CSU) die wir heute nur spät am Abend und kurz führen kön- Wir stellen mit unserem Antrag aber nicht nur Forde- nen, wird offensichtlich nicht nur von meiner Fraktion rungen an andere. Wir selbst legen vielmehr Ziele und für dringend notwendig erachtet. Kriterien vor, nach denen Gedenkstätten von nationaler In unserem Antrag fordern wir ein Gesamtkonzept und exemplarischer Bedeutung ausgewählt werden für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deut- könnten. Natürlich wissen wir, dass eine solche Liste schen Diktaturen. Die damit verbundenen inhaltlichen, streitig bleibt. Eine solche Liste zu erweitern ist aber administrativen und finanziellen Fragen sind zwischen sehr viel einfacher, als sich für eine stärkere, dauerhafte Bund und Ländern zu klären. Dass hier Handlungsbedarf Bundesfinanzierung wenigstens einiger weniger Ge- besteht, weiß jeder, der die Szene etwas kennt. Es kann denkstätten von besonderer Bedeutung zu entscheiden. nicht sein, dass die zuständige Staatsministerin, Frau Was können wir in der Erinnerungs- und Gedenkkul- Weiss, einfach verkündet, sie wolle die Topographie des tur in Deutschland, in der Aufgabenverteilung zwischen Terrors in Bundeskompetenz übernehmen. Nicht im Ge- Bund und Ländern, bei der Mitwirkung von Wissen- ringsten wird bedacht, dass es nicht Aufgabe des Bundes schaft und Universitäten sowie bei der Einbeziehung von sein kann, nur in Berlin und nur Einrichtungen, die sich Opfergruppen und auch bei der finanziellen Verantwor- auf die NS-Zeit beziehen, zu 100 Prozent zu fördern. tung des Staates besser machen? Diese inhaltliche Dis- Was Rot-Grün und insbesondere die Staatsministerin kussion ist doch überfällig, Frau Staatsministerin; denn machen, ist aus meiner Sicht konzeptlos. Es wirkt wie es ist durchaus sinnvoll, 15 Jahre nach der friedlichen Geschichtspolitik im Zugriffsverfahren nach Gutsher- Revolution eine Zwischenbilanz zu ziehen und nach renart, den unterschiedlichen Erfahrungen bei der Umsetzung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Ergebnisse der Enquete-Kommissionen zur SED- Diktatur zu fragen. Es ist dabei unvermeidbar, über (B) mehr oder weniger gesteuert durch ideologische Vorbe- beide, die NS- und die SED-Diktatur im vergangenen (D) halte bzw. Vorlieben, als Unterstützung eines Berliner Jahrhundert, zu sprechen, und zwar nicht nur wegen Ih- Senats, der völlig unfähig ist, auch nur einen einzigen rer eigenen Konzeption, die es schon gibt und an die Sie Bau allein und zu den vorgesehenen Kosten fertig zu sich nicht halten, sondern auch wegen der gegenseitigen stellen. Bezüge und deshalb, weil es Orte gibt, die an Gewaltver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) brechen der beiden Diktaturen erinnern. Noch einmal: Wer von beiden deutschen Diktaturen spricht, der meint Hinzu kam der fehlende Mut aller Beteiligten, über damit nicht, dass sie gleichgesetzt werden. Die Unter- die Frage nach der bautechnischen Realisierbarkeit des schiede herauszuarbeiten und zu begründen ist Teil des Zumthor-Entwurfs acht Jahre früher zu diskutieren; Konzeptes. Das ist die inhaltliche Debatte, die Sie viel- denn das hätte politisch nicht korrekt erscheinen können. leicht verdrängen wollen. Aber das spricht für sich und Das hat uns hier in Berlin schon fast 15 Millionen Euro gegen Sie. gekostet. Davon hätten zehn SBZ-/DDR-Gedenkstätten zehn Jahre lang besser finanziert werden können, als sie Nun ist allerdings die Debatte, die wir hier führen, es heute sind. nicht ganz so unaufgeregt, wie ich das bisher vorgetra- gen habe. Deshalb will ich in der verbleibenden Zeit we- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nigstens auf einige Missverständnisse und Vorwürfe Ich finde, niemand kann uns verbieten, hier darüber zu noch kurz eingehen. streiten. In einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaften Frau Staatsministerin, an dieser Stelle eine Frage zu der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutsch- Ihrer heutigen Presseeinlassung, wir strebten mit unse- land wird der Antrag als ein „erinnerungspolitischer Pa- rem Antrag eine „radikale Abkehr“ vom bisherigen radigmenwechsel“ kritisiert. „Prinzip der inhaltlichen Neutralität des Bundes“ an. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Was meinen Sie damit vor allem angesichts der inhaltli- GRÜNEN]: Genau richtig!) chen Debatten, die Sie selbst aus dem Kuratorium des Denkmals für die ermordeten Juden Europas kennen, in Wer den vorliegenden Antrag liest und meine Ausfüh- dem wir ja beide Mitglieder sind? Geschieht die Über- rungen nicht bewusst missverstehen will, weiß, dass da- nahme der Topographie des Terrors ohne inhaltlichen von keine Rede sein kann. Vielmehr müssen sich Sinn und Verstand? Wenn Sie damit meinen sollten, dass diejenigen, die solche Vorwürfe erheben, fragen lassen, die Bundesregierung keine Inhalte von Gedenkkultur ob sie nicht von der unvollständigen Umsetzung der 10458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Günter Nooke (A) Beschlüsse profitieren und deshalb gar kein Interesse am Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) alten gemeinsamen Paradigma haben. Herr Kollege, bitte. Die Leiter der KZ-Gedenkstätten haben nicht nur ihre durch eine pauschale Unterstellung gekennzeichnete Günter Nooke (CDU/CSU): Pressemeldung vom Januar wiederholt. Ihre erweiterte Ein letzter Satz: Es wäre nur gut, man würde sich Kritik wird zwar dadurch besser, dass sie differenzierter dazu dann auch bekennen. Ich bedauere es, wenn die vorgetragen wird, aber sie bleibt auch differenziert Professoren sich zu schade sind, hier als Lobbyisten auf- falsch. zutreten. Aber ich wünschte mir, sie würden dann we- nigstens dem Ersteren – ihrer Aufgabe als Professoren – (Beifall bei der CDU/CSU) gerecht. Die Herren Historiker können für ihre Behauptungen Wir sollten die Debatte sachlich führen und uns Mühe keinen einzigen Textbeleg aus dem Antrag anführen, ob- geben, diesen Tag würdevoll zu begehen, und uns hier wohl doch Quellenstudium und Quellenkritik ihre ei- vielleicht auch an das erinnern, was wir heute früh auf gentliche Profession wäre. Sie bekommen deshalb zu dem Weddinger Friedhof getan haben. Recht heute in der „FAZ“ unwissenschaftlichen und po- lemischen Stil attestiert. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Kollege Nooke, bitte. Sie strapazieren meine Geduld etwas. Sie stellen Behauptungen auf, die niemand, weder im Antrag noch anderswo, erhoben hat. Wer als Historiker Günter Nooke (CDU/CSU): seine Reputation so aufs Spiel setzt, provoziert vielmehr Als Letztes wünsche ich mir, dass wir auch diese De- Fragen, die ganz anders lauten: Geht es den Herren und batte jenseits aller Polemisierung und Polarisierung füh- Damen überhaupt um eine sachliche Debatte ren können. Ich habe mich über viele Stellungnahmen (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Auweia!) aus Ihren Reihen geärgert. Ich habe sie nicht zitiert. Es wäre gut, Sie würden sie nicht wiederholen. oder besteht ihr Interesse nicht vielmehr darin, eine öf- Danke. fentliche Debatte zu verhindern? Und was wäre dafür besser geeignet als die Unterstellung, hier würden NS- (Beifall bei der CDU/CSU) Verbrechen verharmlost oder der Holocaust relativiert? Das muss ich mit Abscheu zurückweisen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Sie müssen Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung die Staats- sich aber sehr getroffen fühlen!) ministerin Christina Weiss.

In der Begründung des Antrages wird auch auf zurzeit Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- laufende Debatten zur Erinnerungskultur verwiesen. kanzler: Wir wollen uns nicht dem Vorwurf aussetzen, wir täten Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- so, als wüssten wir nichts davon. Das kann man im An- ren! Herr Nooke, wenn man Ihnen zuhört, gewinnt man trag nachlesen. Es handelt sich dabei um die Opfer von den Eindruck, dass der Antrag vielleicht gar nicht so not- Krieg und Vertreibung, um zivile Opfer der alliierten wendig ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Lassen Sie Luftangriffe und um die Diskussion um ein Freiheits- mich zuerst ein Missverständnis aufklären oder es zu- und Einheitsdenkmal auf der Berliner Schlossfreiheit. mindest nicht so im Raum stehen. (Beifall der Abg. [CDU/CSU]) Die Topographie des Terrors ist eine Einrichtung des Daraus abzuleiten, wir würden Opfergruppen unzulässig Landes Berlin und der Bund beteiligt sich gemäß dem vermischen, weil wir in der Begründung erwähnen, dass Gedenkstättenkonzept mit 50 Prozent an der Finanzie- es sich bei diesen Themen nicht um Opfer der beiden rung. Nach Einsicht in das Scheitern des Berliner Bau- Diktaturen handelt, ist absurd. vorhabens haben wir die Bauherrenschaft verändert, um einen Neubeginn zu ermöglichen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckhardt Barthel [Berlin] Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege. [SPD]: Und das war sehr gut so!)

Günter Nooke (CDU/CSU): Ich glaube, es ist Konsens in diesem Hause – davon gehe ich aus und dabei bleibe ich auch nach Ihrer Rede, Einen Augenblick noch. – Machen wir uns nichts vor. Herr Nooke –, dass die Gedenkstättenförderung eine Wir befinden uns mitten in einer geschichtspolitischen Kernaufgabe der Kulturpolitik ist. Die Konzeption der Debatte. Ich finde das gut und wir sollten diese Debatte Gedenkstättenförderung ist aber zugleich auch eine sehr führen. Es ist noch vieles anzumerken, zum Beispiel erfolgreiche Arbeit. auch, ob es nicht doch um die Frage der Finanzierung geht. Wenn Gedenkstättenleiter für ihre Einrichtung Auch wenn Sie in Ihrem Antrag davon nichts wissen kämpfen, habe ich als Politiker volles Verständnis dafür. wollen, legt diese Konzeption der Bundesregierung die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10459

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Rahmenbedingungen sehr präzise fest. Jährlich errei- Lesen Sie es genau! Was die Politik als historisch richtig (C) chen die zuständigen Stellen in den Bundesländern Hin- und wichtig einstuft, darf von der Wissenschaft bestä- weise, in welcher Zeitspanne welche Förderanträge vor- tigt werden. gelegt werden sollten und welchen formalen und welchen inhaltlichen Kriterien sie genügen müssen. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Was haben Sie Wirklich niemand kann unbekümmert behaupten, er denn bei der Aufzählung der Gedenkstätten wisse nicht, welche Fördermöglichkeiten bestünden. Ge- gemacht?) nauso wenig sollte unterstellt werden, der Bund vergebe Wenn dann im weiteren Text großzügig die „Pluralität seine Mittel auch noch nach Gutdünken. der Konzeptionen“ sowie „dezentrale Lern- und Zu- Die Geschichte des vorliegenden Antrags verrät gangsmöglichkeiten“ und „die Zusammenarbeit der Ge- schon sein Ziel. Wir alle wissen, dass dieser Antrag nicht denkstätten mit Schulen und anderen Trägern politischer neu ist. Wir alle wissen, dass es eine Fassung gab, die Bildungsarbeit“ zugestanden wird, so wird diese Garan- zurückgezogen wurde. Der zweifelhafte Text war in den tie, wie es dort heißt, „trotz der zentralen finanziellen Sog der heftigen Debatte um die gesetzliche Grundlage Verantwortung“ gewährt. „Zentrale finanzielle Verant- der Stiftung Sächsische Gedenkstätten geraten und hatte wortung“ heißt nicht mehr, dass man miteinander klare einen Streit darüber entfacht, wie mit dem Gedenken an Absprachen trifft. „Zentrale finanzielle Verantwortung“ die beiden deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert zu heißt: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Das darf nicht verfahren sei. sein; auf diesem Niveau können wir nicht arbeiten. Die Gedenkstättenarbeit in Deutschland ist internatio- Während man in Sachsen noch über die Konsequen- nal geachtet und sie ist hervorragend beleumundet. Ich zen aus dieser Diskussion nachsinnt, glauben die Verfas- will die drei Grundlagen in Erinnerung bringen, die ser des erneut vorgelegten Antrags, durch die Streichung diese stabile Erinnerungskultur ermöglicht haben: der inkriminierten Bezüge auf die Stiftung Sächsische Gedenkstätten die alten Vorwürfe restlos tilgen zu kön- Erstens. Gedenkstättenarbeit ist eine gesamtgesell- nen. Nach wie vor aber sind diese Hinweise von nicht zu schaftliche Aufgabe. verdrängender Deutlichkeit: Die Verfasser wollen einen Paradigmenwechsel in der Geschichtsbetrachtung und Zweitens. Die heute bestehenden Einrichtungen sind konsequenterweise auch in der Geschichtspolitik. aus bürgerschaftlichem Engagement entstanden. Die ge- samtgesellschaftliche Einbindung der Gedenkstätten- (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Das müssten Sie arbeit muss auch in Zukunft gewährleistet bleiben. aber beweisen, wenn Sie es behaupten!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Zum einen bedeutet dies eine – sei es auch nur eine zu DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: (D) beargwöhnende – Gleichsetzung der Opfer des National- Steht in unserem Antrag!) sozialismus, der Opfer des SED-Regimes und der deut- schen Zivilopfer, die Bombenkrieg und Vertreibung zu Drittens. Gemäß der Kompetenzverteilung des erleiden hatten. Grundgesetzes liegt die Zuständigkeit für den Erhalt und die Pflege der Gedenkstätten zunächst bei den Ländern. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das Gegenteil steht im Antrag! Können Sie nicht mehr le- In Fällen herausragender nationaler und internationa- sen?) ler Bedeutung kann der Bund dennoch fördernd tätig werden. Dies setzt wissenschaftlich fundierte Anträge – Ich beantworte Ihre zweite Frage nachher noch sehr voraus, die von den jeweiligen Sitzländern der Einrich- präzise. – Zum anderen soll die Bundesregierung be- tungen mit der Zusage der hälftigen Finanzierung an den stimmen, was gefördert wird. Bund weitergeleitet werden. Bei der Vergabe seiner Mit- tel wird der Bund – das ist ganz wichtig – von einem un- Ende der 80er-Jahre entspann sich der Historikerstreit abhängigen Expertengremium beraten. Auf diesem Fun- über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Ver- dament basiert die Gedenkstättenförderung seit 1999. brechen. Gleichzeitig sah sich unser Land mit einer hef- tigen Auseinandersetzung um die Gründungen des Hau- (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das war ses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und aber nicht bekannt!) des Deutschen Historischen Museums konfrontiert. Vor Sie widmet sich den Gedenkstätten zur Erinnerung an diesem Hintergrund kamen wir damals parteiübergrei- die Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes fend zu dem sehr sinnvollen Schluss: Es darf und es wird ebenso wie den Orten, an denen der Opfer der SED-Dik- kein regierungsamtliches Geschichtsbild geben. tatur gedacht wird. Ich bedauere es, dass die Gedenkstät- Wenn ich diesen Antrag genau lese, dann reibe ich ten zur Erinnerung an das SED-Unrecht relativ wenige mir die Augen etwas verwundert. Da steht: Anträge einreichen. Bei der inhaltlichen Arbeit wirken Bund und das je- Ich will noch einmal sagen: Auch die zu beargwöh- weilige Land gleichberechtigt zusammen, nende Gleichsetzung verschiedener Opfergruppen ist eine Relativierung – aber – (Günter Nooke [CDU/CSU]: Textbeleg! Frau die Wissenschaft wird dabei angemessen beteiligt. Ministerin, den Textbeleg bitte!) 10460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) und alles, was nach Relativierung aussieht, nach Relati- Ich bin dezidiert der Meinung, dass es auch noch an- (C) vierung der nationalsozialistischen Verbrechen an den dere Gedenkstätten zur SED-Vergangenheit gibt, für die europäischen Juden, kann dem Ansehen Deutschlands wir etwas tun müssen, für die wir mehr tun müssen als im Ausland nur schaden. bisher. Deswegen ist mein Vorschlag: Lassen Sie uns – aber bitte im Konsens – das Gedenkstättenkonzept aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Jahr 1999 weiterentwickeln! DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP], der Abg. Dr. Gesine (Günter Nooke [CDU/CSU]: So ist es!) Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Es ist ein Problem, dass in den neuen Bundesländern und auch im Land Berlin die Mittel für die Kofinanzierung Man kann über alle Veränderungen reden. Man kann nicht vorhanden sind. Das bewirkt im Ergebnis, dass ei- über die Aufnahme neuer Anträge reden. Man kann über nige der Gedenkstätten zur SED-Vergangenheit nicht mehr Finanzierung reden. Aber bevor man verändert, ausreichend gefördert werden können. muss man sich der Folgen der Veränderung bewusst sein. Für die Gedenkstättenförderung des Bundes, für Wir Liberalen sind bereit, Frau Staatsministerin, mit unser Konzept, vermag ich im Augenblick keinen Verän- Ihnen – Sie haben die Überlegung auch schon angespro- derungsbedarf zu erkennen. chen – das Gedenkstättenkonzept für diese Fälle zu mo- difizieren. Aber das erfordert es nicht, lieber Herr Kol- Ich danke Ihnen. lege Nooke, innerhalb des Gedenkstättenkonzepts eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spezifische Regelung für die Gedenkstätten zu den bei- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine den Diktaturen vorzusehen, und deswegen würde ich Sie Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau bitten, Ihren Antrag zurückzuziehen. [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das kann ja wohl nicht wahr sein!) Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto von der FDP-Fraktion. Da werden Dinge zusammengebracht, die nicht zusam- mengehören. Ich will, dass sämtliche Gedenkstätten, seien es solche zu einer Diktatur oder auch zu anderen Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Anlässen, integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist sind. eine Debatte, die mich mit Betroffenheit erfüllt. Ich be- (B) fürchte, dass die gesamte Auseinandersetzung über die- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das steht da!) (D) sen Antrag die Gefahr birgt, Schaden für dieses Haus Ihr Antrag, so wie Sie ihn formuliert haben – Sie ha- und sogar für unser Land nach sich zu ziehen. ben es heute auch noch einmal betont –, führt zu dem (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Richtig! Verdacht der Relativierung und zu Missverständnissen. Das ist wahr!) Ich will Ihnen da keine Absicht unterstellen, aber Sie würden diesem Haus und, so glaube ich, auch der CDU/ Ich unterstelle Ihnen, Herr Kollege Nooke, ganz be- CSU-Fraktion wirklich einen großen Gefallen tun, wenn stimmt nicht, dass Sie hier in irgendeiner Weise NS- und Sie diesen Antrag nicht weiterverfolgen, sondern sich SED-Diktatur gleichstellen wollen. Dafür steht auch Ihre auf den Weg begeben, den ich Ihnen eben vorgeschlagen Vergangenheit. Sie sind in diesem Punkt, wie ich finde, habe. Lassen Sie uns gemeinsam mehr für die Gedenk- absolut integer. Aber die Tatsache, dass Sie in Ihrem An- stätten zur SED-Vergangenheit tun, lassen Sie uns das trag ein integrales Konzept – wörtlich: integrales Kon- Gedenkstättenkonzept des Bundes weiterentwickeln und zept – für diese beiden Sachverhalte fordern, die doch – das ist meine herzliche Bitte an Sie – lassen Sie uns historisch und auch in ihren Auswirkungen so unter- von dieser schwierigen Diskussion, die inzwischen die schiedlich sind, provoziert leider Missverständnisse. Die Grenzen dieses Landes überschritten hat, Abstand neh- Tatsache, dass wir eine internationale Debatte zu diesem men! Antrag haben und auch in Deutschland eine sehr unappe- titliche, sehr schwer wiegende Debatte haben, sollte uns (Beifall bei der FDP und der SPD sowie der zu äußerster Sensibilität veranlassen. Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Ich habe großes Verständnis, Herr Kollege Nooke, Abg. Petra Pau [fraktionslos]) wenn Sie sagen – ich unterstütze es sogar –: Wir müssen für die Erhaltung von Gedenkstätten zur SED-Vergan- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: genheit mehr tun, gezielter etwas tun. Frau Staatsminis- Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth vom Bünd- terin Weiss, Sie haben gesagt, dass Ihnen dazu relativ nis 90/Die Grünen. wenig Anträge vorliegen. Ich kann Sie nur auf Folgen- des hinweisen: Eines der wichtigsten Objekte, bei denen Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir dringend etwas tun müssen, ist das Untersuchungs- NEN): gefängnis in Hohenschönhausen. Da müssen wir wirk- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu lich etwas tun. allererst, Herr Nooke: Sie haben den späten Zeitpunkt, (Beifall bei der FDP) zu dem diese Debatte geführt wird, bedauert. Es war Ihre Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10461

Claudia Roth (Augsburg) (A) Fraktion, die dafür eingetreten ist, dass diese Debatte um schuldig an der Relativierung des Nationalsozialismus (C) diese Uhrzeit stattfindet; und somit schuldig an der Bagatellisierung des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte. Wer nicht mehr (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE differenziert, der ignoriert auch unsere historische Ver- GRÜNEN]: Hört! Hört!) antwortung. Herr Nooke, wenn so viele, wenn praktisch fragen Sie sich also bitte einmal selber, warum Ihre alle Opferorganisationen Ihren Antrag genau so interpre- Fraktion nicht dafür gesorgt hat, dass wir heute Morgen tieren, dann kann an Ihrem Antrag nicht nur etwas falsch um 11 Uhr über dieses Thema debattiert haben. Wir hät- zu interpretieren sein, sondern dann geht es auch um ten das sehr gerne getan. eine Zielrichtung, die an den alten Historikerstreit an- knüpft. Darauf will ich gleich eingehen. (Beifall des Abg. Rainder Steenblock [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie haben Dikta- Vielleicht haben Ihre Fraktion oder Ihre Fraktions- tur nicht erlebt, Frau Roth! Wenn sich alle spitze auch ein Stück weit eine breitere öffentliche einig sind, bedeutet das noch nicht, dass alle Wahrnehmung dieser Auseinandersetzung gescheut; Recht haben!) denn – darauf bestehe ich, Herr Nooke – der vorliegende Sie, Herr Nooke, oder Teile der Union behaupten, die Antrag kündigt natürlich den Konsens der Enquete- Erinnerung an das DDR-Unrecht werde vernachläs- Kommission zur Überwindung der Folgen der SED-Dik- sigt, weil das Gedenken an die Opfer des Nationalsozia- tatur im Prozess der deutschen Einheit und das Gedenk- lismus überproportional gefördert werde. stättenkonzept der Bundesregierung von 1999 auf. (Günter Nooke [CDU/CSU]: So steht es nicht (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wo denn? Bele- im Antrag! Sie sind nicht in der Lage, einen gen Sie doch einmal einen Satz von Ihren Un- einzigen Teil des Antrags korrekt zu zitieren!) terstellungen!) Dem ist massiv zu widersprechen. Mit der Birthler-Be- In Ihrem Antrag, Herr Nooke, setzen Sie in der Tat auf hörde, mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikta- eine pauschalierende Gleichsetzung von DDR-Unrecht tur und mit über 350 Erinnerungsorten wird engagiert und Nationalsozialismus. Der Antrag spricht von dop- auf die Aufarbeitung der Folgen der SED-Diktatur ge- pelter Vergangenheit. setzt und wird auch das notwendige Erinnern an ihre Op- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das hat die En- fer geleistet. Wenn mehr getan werden kann, Herr Otto, quete-Kommission auch! Sie zitieren die En- dann sollte selbstverständlich mehr getan werden. quete-Kommission!) Unter dem Oberbegriff des Opfergedenkens, Herr (B) (D) Wer von doppelter Vergangenheit redet, der setzt damit Nooke, üben Sie den Schulterschluss mit dem Ewigges- die Identität von scheinbar Gleichem voraus, Herr trigen. Nooke. Durch Unterlassen, durch Pauschalieren und durch Vereinfachen (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Es ist ungeheu- erlich!) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie kennen nichts von den Beratungen der Enquete-Kom- Ich bin mir ziemlich sicher, dass dahinter auch eine Art mission! Setzen Sie sich lieber hin!) von Geschichtsrevisionismus steht, der von der übergro- ßen Mehrheit der Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerin- signalisiert die Union eine Gleichrangigkeit zweier Sys- nen abgelehnt wird. Tun Sie doch nicht so, als hätten wir teme, wo keine Gleichrangigkeit ist und wo sie auch diese Auseinandersetzung nicht, als hätten wir den His- nicht herbeigeredet werden darf. torikerstreit nicht, (Günter Nooke [CDU/CSU]: Den haben wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schon vor 15 Jahren entschieden!) Frau Kollegin Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach? als hätten wir nicht die Auseinandersetzungen über Äußerungen von Nolte, die durchaus als Geschichtsrevi- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sionismus zu bezeichnen sind. Das war ein leicht durch- NEN): schaubarer Versuch der Umwertung und eines schlei- Nein. – Diese Gleichsetzung ist angesichts der Ein- chenden Paradigmenwechsels. Davon dürfen wir uns zigartigkeit des Holocaust inakzeptabel. Wenn Sie nicht nicht täuschen lassen. wollen, dass man Ihren Antrag so interpretiert, dann zie- (Beifall des Abg. Rainder Steenblock [BÜND- hen Sie diesen Antrag bitte zurück; denn genau so ist er NIS 90/DIE GRÜNEN]) zu interpretieren. Ich glaube, dass es ziemlich klar ist, wohin diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ideologische Reise gehen soll. Das zeigt auch der Be- und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Gesine gründungsteil Ihres Antrags. In Ihrem Antrag werden Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau unterschiedslos die Opfer von Krieg und Vertreibung [fraktionslos]) und die Opfer in der Zivilbevölkerung mit eingereiht und Wer nicht unterscheidet, wer nicht differenziert, wer dann mündet der Antrag in die Forderung nach einem Geschichte als Gleichmacherei betreibt, der macht sich Mahnmal für die Bombenopfer des alliierten Luftkriegs 10462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Claudia Roth (Augsburg) (A) und in die Forderung nach einem Zentrum gegen Vertrei- grenzt. Erinnerung muss wurzeln in einer korrekten (C) bungen. Beschreibung der Vergangenheit. Frau Staatsministerin Weiss hat schon die Geschichte Damit habe ich den Direktor von Yad Vashem zitiert. dieses Antrags dargestellt. Sie hat davon berichtet, wie Dem ist, Herr Nooke, nichts hinzuzufügen. sich die gesamten Repräsentanten der NS-Opfer aus dem Stiftungsrat der Sächsischen Gedenkstätten zurückgezo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen haben, Herr Nooke. Was haben Sie jetzt getan? Sie und bei der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: haben kosmetisch verändert, indem Sie den Verweis auf Bleibt trotzdem falsch, was dort unterstellt Sachsen wegretuschiert haben; aber an der Stoßrichtung wird! Es ist nur peinlich, wie Sie hier spre- Ihres Antrags hat sich nichts geändert. chen!) Ich finde, das ist sehr durchschaubar. Sie müssen sich doch fragen, warum aus der ganzen Welt Briefe ankom- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men. Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Wolfgang Bosbach das Wort. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen in meiner Rede ein Angebot gemacht!) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Aus der ganzen Welt, Herr Nooke, zum Beispiel aus Yad Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Vashem, aus Theresienstadt, von Opfergruppen aus Nor- legen! In der mir vorliegenden Fassung des Antrages des wegen, aus Paris, aus New York. In all diesen Briefen Kollegen Nooke und anderer vom 4. Mai 2004 heißt es kommt die tiefe und, wie ich finde, berechtigte Sorge unter anderem wörtlich: zum Ausdruck, Das Nationalsozialistische Regime hat mit dem (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wo ist das denn millionenfachen Mord an den europäischen Juden belegt?) ein singuläres Verbrechen begangen, das immer ein dass es um die Neubewertung der deutschen Geschichte spezielles Gedenken erfordern wird. und damit auch um ein Stück Entsorgung der deutschen Vorgeworfen wird dem Kollegen Nooke und allen ande- Geschichte gehen soll. ren Antragstellerinnen und Antragstellern unter anderem (Günter Nooke [CDU/CSU]: Legen Sie einen die pauschalierte Gleichsetzung. Das, was in dem Antrag Beweis vor für das, was Sie da unterstellen!) steht, ist exakt das Gegenteil von dem, was den Antrag- stellern vorgeworfen wird. (B) Damit zerschlagen Sie national und international Porzel- (D) lan. Sie zerstören Vertrauen, das über sehr lange Zeit ge- (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Das nehmen die wachsen ist. Sie reißen Wunden bei Überlebenden des einfach nicht zur Kenntnis!) Holocaust auf. Dem müssen wir uns entgegenstellen. Deswegen: Ziehen Sie diesen Antrag zurück, Herr Kein einziger der Vorwürfe, die von den letzten Rednern Nooke! erhoben worden sind, ist auch nur mit einer Silbe des Antrages begründet worden. Die Kritiker haben keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einzige Textstelle erwähnt, um damit ihre Vorwürfe zu begründen. Es handelt sich nur um Behauptungen. Eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fundierte Begründung war in der Kritik nicht enthalten. Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall bei der CDU/CSU – Günter Nooke [CDU/CSU]: Die kennen ja den Antrag nicht! Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- So ist das, wenn man sich Reden schreiben NEN): lässt!) Ich möchte mit einem Zitat des Direktors von Yad Vashem enden. Avner Shalev hat am 14. Juni geschrie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ben: Ich erteile jetzt der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Das vorgelegte Gesetz ist ein Affront gegen die his- Wort. torische Wahrheit. (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Jetzt kommt die (Günter Nooke [CDU/CSU]: Da sie von Ge- Spezialistin!) setz spricht, hat sie den Antrag nie gelesen!) An die Verbrechen des totalitären kommunistischen Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Regimes muss erinnert werden. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Abgeschrieben ren! Die „Berliner Zeitung“ schrieb am 2. Juni – ich zi- bei Herrn Knigge!) tiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: „CDU will DDR und NS-Zeit gleichsetzen.“ Diese Überschrift trifft den Diese Erinnerung darf jedoch nicht zu einer Verein- Kern Ihres Antrages, meine Damen und Herren, und er fachung und einer falschen Darstellung der Vergan- ruft deshalb zu Recht national und international Empö- genheit führen, die an Geschichtsrevisionismus rung hervor. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10463

Dr. Gesine Lötzsch (A) (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Mensch, setzen dafür aber sieben Mal Hitlers Marinerichter Filbinger, (C) Sie sich lieber einmal mit Ihrer eigenen Ge- der auch noch Ehrenvorsitzender der CDU in Baden- schichte auseinander!) Württemberg ist. Frau Roth hat eben schon Briefe zitiert. Ich möchte ein (Widerspruch von der CDU/CSU) weiteres Zitat hinzufügen. Dr. Jan Munk, Direktor der Ich frage Frau Merkel – sie ist leider nicht anwesend, Gedenkstätten Theresienstadt und Vorsitzender der Fö- aber sie trägt die Verantwortung – : Was will die CDU deration der Jüdischen Gemeinde in der Tschechischen jungen Menschen – ich will es wiederholen; es scheint Republik, schrieb mir, dass die Umsetzung dieses Antra- Sie aufzuregen – mit der siebenfachen Nominierung von ges „auch in den Nachbarländern und anderswo in der Herrn Filbinger eigentlich sagen? Wollen Sie damit sa- Welt … Besorgnis hervorrufen könnte.“ gen – Zitat Filbinger – : „Was früher Recht war, kann (Maria Michalk [CDU/CSU]: Dass Sie sich heute nicht Unrecht sein“? Wollen Sie damit sagen, dass nicht schämen – am 17. Juni!) Nibelungentreue zu einem verbrecherischen System be- lohnt werden muss? Ähnliche Briefe bekamen wir alle aus den USA, Öster- (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das sind ganz reich und Norwegen. Ich finde es schon unverfroren, alte Kamellen!) meine Damen und Herren von der CDU, dass Sie hier ei- nen Antrag auf die Tagesordnung setzen, der schon ein- Der Antrag der CDU/CSU ist an Boshaftigkeit und mal aufgrund von massiven Protesten zurückgezogen Tücke nicht zu überbieten. werden musste. Nun wird er von Ihnen wieder fast un- verändert in den Bundestag eingebracht. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das muss ge- rade die PDS sagen!) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Weil schon da- Er schadet dem Ansehen der Bundesrepublik Deutsch- mals die Kritik nicht substanziell war!) land. Ich fordere Sie auf – damit schließe ich mich mei- Das zeigt, wie Sie von der CDU mit öffentlicher Kritik nen Vorrednern außer denen der CDU/CSU an – , diesen umgehen: Sie wird einfach ignoriert. Antrag zurückzuziehen. Vielen Dank. Herr Nooke und Kollegen, um es ganz deutlich zu sa- gen: Es geht Ihnen nicht um die Opfer in der DDR, son- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – dern es geht darum, mit der DDR-Geschichte die NS- Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen den An- Geschichte reinzuwaschen. Es geht um selbsternannte trag mal lesen! – Maria Michalk [CDU/CSU]: (B) Opfer wie Hitlers Marinerichter Filbinger, den Sie als Diesmal haben Sie vergessen, zu sagen, dass (D) CDU für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert hat- Sie von der PDS sind!) ten. (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Das ist wirklich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: unsäglich! Das müssen wir uns von Ihnen Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Krüger- nicht anhören!) Leißner von der SPD-Fraktion.

Filbinger, der im Dienste eines verbrecherischen Sys- Angelika Krüger-Leißner (SPD): tems noch kurz vor Kriegsende Todesurteile unter- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und schrieb und an Exekutionen beteiligt war, wurde von der Kollegen! Nachdem die CDU/CSU ihren sehr umstritte- CDU als würdig empfunden, zum siebenten Mal einen nen Gedenkstättenantrag zurückgezogen hatte Bundespräsidenten zu wählen. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir haben den Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der CDU/ Antrag nicht zurückgezogen!) CSU, ist unglaubwürdig und reiner Ablasshandel. Sie sind bereit, Gedenkstätten zu bauen. Doch Sie sind nicht – ich meine den Antrag vom November – , habe ich wirklich bereit, Ihr Denken zu ändern. Es ist doch hoch- ernsthaft gehofft, dass wir uns mit diesem Papier nicht gradig unglaubwürdig, wenn Sie einerseits ein Gedenk- mehr auseinander setzen müssen. Aber es kam anders. stättenkonzept von der Bundesregierung fordern – Frau Gerade in der heutigen Debatte ist mir bewusst gewor- Staatsministerin hat entsprechend darauf reagiert – und den, dass das, was die Arbeitsgemeinschaft der KZ-Ge- andererseits Hitlers Marinerichter Filbinger ehren, in- denkstätten festgestellt hat, sehr wohl begründet ist, dem Sie ihn für die Bundesversammlung nominieren. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wie kommt es, Ich habe mich in Baden-Württemberg erkundigt. Es dass die Zeitungen und seriösen Kommentato- wurde bisher noch kein Widerstandskämpfer gegen den ren das ganz anders sehen?) Faschismus durch die dortige CDU für die Wahl eines nämlich dass Sie ohne Grund den in einem langen Dis- Bundespräsidenten nominiert, kussionsprozess gefundenen Konsens einseitig aufkün- digen. (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Dafür nominiert die PDS Stasispitzel für die Bundesversamm- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lung, Frau Lötzsch!) DIE GRÜNEN) 10464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Angelika Krüger-Leißner (A) Es ist mir absolut rätselhaft, was Sie getrieben hat, an (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (C) diesem Entwurf weiterhin festzuhalten. Offenbar geht es GRÜNEN]: Ja, genau!) einigen Ihrer Fraktionskollegen, die ihre Unterstützung zurückgezogen haben, nicht anders. Diesen Punkt sollte Hinzu kommt die Tatsache, dass die deutsche Leiderfah- man beachten. rung im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg bei der CDU derart prominent in Denkmale gefasst werden Dass wir in Bezug auf die Gedenkstätten noch einiges soll, dass eine Verwischung der Verantwortung sowie zu tun haben, ist offensichtlich. Das leugne ich auch gar eine falsche Darstellung von Ursache und Wirkung nicht. Aber wir können dies weiterhin sehr gut tun auf wahrscheinlich sind. der Grundlage des Gedenkstättenkonzepts der Bundesre- gierung, das die Ergebnisse der Enquete-Kommission Ich glaube, dass Sie einer gefährlichen Tendenz im widerspiegelt. aktuellen Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aufgesessen sind, einer Tendenz, die ver- Wir wollen – es ist mir wichtig, dies zu erwähnen – , meintliche Zusammenhänge zwischen Verbrechen des dass die historische Forschung und der geschichtswis- NS-Regimes und dem Unrecht der DDR herstellt und senschaftliche Diskurs die Grundlage für die Entwick- eine Gleichsetzung beider Systeme und ihrer Opfer in- lung der demokratischen Erinnerungskultur sind und tendiert. Das ist – lassen Sie sich das sagen! – historisch bleiben, und nicht die Politik. Denn das hatten wir schon falsch. in der DDR. An diesem Tag sollte man sich daran erin- nern, Herr Nooke. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Sagen Sie mir die Sätze, die falsch sind! Das ist doch totaler Ich frage mich also: Was verfolgen Sie mit diesem Unfug, was Sie hier machen! Lesen Sie Ihre Antrag? Bei meinen Überlegungen muss ich zunächst eigene Dokumentation! Lesen Sie die En- feststellen, dass Sie sich trotz einiger Ausbesserungen quete-Kommission! Dann sagen Sie mir, was weiterhin an dem sächsischen Konzept orientieren. Das im Antrag falsch ist!) ist unübersehbar. Ich frage daher: Warum sollten wir uns auf Bundesebene ausgerechnet an dem Land orientieren, Ich empfehle Ihnen deshalb ganz dringend: Nehmen Sie das das schwammigste und problematischste Gesetz in die breite Kritik an und ziehen Sie das von Ihnen vorge- der Gedenkstättenfrage zu bieten hat? legte Konzept zurück! Das wäre anständig. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die ausdrückliche Unterscheidung zwischen NS-Ter- rorregime und SED-Diktatur, wie sie die Enquete- Wenn Sie nicht ein so dickes Fell hätten, hätten Sie ei- (B) Kommission des Bundestages gefordert hat, wird dort gentlich schon längst gemerkt, dass Sie sich mit Ihrem (D) nicht mehr vorgenommen. Zusammenhänge zwischen rückwärts gewandten Antrag in einer Sackgasse befin- den beiden Diktaturen werden nicht da hergestellt, wo den. Sie nehmen wichtige Verbände der Opfer, aber auch sie historisch richtig sind, sondern nur da, wo sie für ein die Gedenkstätten nicht mit. bestimmtes Geschichtsbild opportun erscheinen. Das Ri- (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Die Histori- siko, Opferverbände dabei zu düpieren, nehmen Sie sehr ker und die Wissenschaft!) wohl in Kauf. Das aber können und wollen wir uns nicht leisten. Wir Die Reaktionen im In- und Ausland sind verheerend. wollen das national nicht, und wir wollen es internatio- Von allen Seiten wird der mit Ihrem Antrag verbundene nal nicht. erinnerungspolitische Paradigmenwechsel abgelehnt. Im Verhältnis zu Israel ist die Wirkung besonders fatal. Der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Leiter der Diaspora-Abteilung des israelischen Außen- DIE GRÜNEN) ministeriums, Nimrod Barkan, hat bereits deutlich ge- Lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Vielleicht macht, dass „eine Verabschiedung dieses Gesetzes einer hören Sie mir auch einmal zu. radikalen Veränderung der Beziehungen gleichkommen“ würde, „die sich bis heute zwischen dem jüdischen Volk (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wenn Sie etwas und Deutschland entwickelt haben“. Ähnlich heftige sagen, was den Text betrifft, tue ich es so- Botschaften erreichen uns von den Vereinigten Staaten. fort! – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: So- Nahezu alle Gedenkstätten haben sich dazu geäußert. bald Sie zum Antrag reden, hören wir zu!) Avner Shalev von Yad Vashem bezeichnet den Antrag in einem Brief an Frau Merkel als „Affront gegen die histo- Ich möchte gern den Vorschlag von Herrn Otto aufgrei- rische Wahrheit“. Für mich ist unbegreiflich, dass Sie fen. Denn es ist ganz offensichtlich, dass es, besonders das nicht zum Nachdenken zwingt. was die Gedenkstätten zur Erinnerung an die SED-Dik- tatur betrifft, noch offene Fragen gibt. Wir sollten den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stand der Gedenkstättenarbeit jetzt – wir haben das DIE GRÜNEN) Konzept vor genau fünf Jahren verabschiedet – einmal überprüfen. Ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Union, eigentlich auch nur im Ansatz klar, wie viel gewachsene (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr Glaubwürdigkeit in die demokratische Erinnerungskul- vernünftig! – Günter Nooke [CDU/CSU]: Das tur in unserem Land Sie damit kaputtmachen? habe ich übrigens genannt!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10465

Angelika Krüger-Leißner (A) Es gibt Punkte, an denen es hakt; wir kennen sie alle. schuss, den Finanzausschuss, den Haushaltsausschuss, (C) Hier müssen wir zu Lösungen kommen. Daran ist mir den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und sehr gelegen. Landwirtschaft, an den Ausschuss für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist doch ein die Angelegenheiten der Europäischen Union zu über- Angebot! Das steht noch gar nicht drin!) weisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht Deshalb brauchen wir aber kein neues Konzept. Ich ap- der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. pelliere also an Sie, an alle, die den Antrag unterschrie- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: ben haben: Kommen Sie zu dem Konsens im Umgang mit der deutschen Vergangenheit zurück! Wir haben mit a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dem Gedenkstättenkonzept dafür eine wirklich gute richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Grundlage. Wohnungswesen (14. Ausschuss) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der DIE GRÜNEN) CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wirtschaftliche und organisatorische Struktu- Ich schließe die Aussprache. ren der Deutschen Flugsicherung dauerhaft Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf verbessern Drucksache 15/3048 an die in der Tagesordnung aufge- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Hamburg), Eduard Oswald, Norbert verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Königshofen, weiterer Abgeordneter und der so beschlossen. Fraktion der CDU/CSU Die Reden zu den weiteren Tagesordnungspunkten Wirtschaftliche und organisatorische Struktu- sollen zu Protokoll genommen werden. Ich bitte Sie aber ren der Deutschen Flugsicherung dauerhaft noch kurz um Geduld, damit wir alles für das Protokoll verbessern ordentlich abwickeln. – Drucksachen 15/2393, 15/1322, 15/2634 – Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Berichterstattung: Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Abgeordnete Hans-Günter Bruckmann Faße, Gerold Reichenbach, Gerd Andres, weite- Albert Schmidt (Ingolstadt) (B) (D) rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie Norbert Königshofen der Abgeordneten Rainder Steenblock, Franziska Horst Friedrich (Bayreuth) Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ SES 90/DIE GRÜNEN CSU und der FDP Sicherheit vor der deutschen Küste verbessern Erträge der Deutschen Flugsicherung (DFS) – Küstenwache optimieren durch das QTE-Lease (US-Cross Border Lea- sing Transaction) vollständig bei der DFS als – Drucksache 15/3322 – Eigenkapital belassen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) – Drucksache 15/2827 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Haushaltsausschuss Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Haushaltsausschuss Hans-Günter Bruckmann und der Parlamentarischen Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es Staatssekretärin Iris Gleicke, SPD, Norbert Königshofen handelt sich um die Reden der Kolleginnen Annette und Eduard Oswald, CDU/CSU, Albert Schmidt, Bünd- Faße und Angelika Mertens, SPD, sowie der Kollegen nis 90/Die Grünen, und Horst Friedrich, FDP.2) Dr. Ole Schröder, Wolfgang Börnsen, CDU/CSU, Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, und Hans- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Michael Goldmann, FDP.1) Drucksache 15/2634. Der Ausschuss empfiehlt unter Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- Drucksache 15/3322 zur federführenden Beratung an trages der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsaus- Drucksache 15/2393 mit dem Titel „Wirtschaftliche und

1) Anlage 4 2) Anlage 5 10466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

Angelika Krüger-Leißner (A) organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsiche- Klimke und Ernst Hinsken, CDU/CSU, Undine Kurth, (C) rung dauerhaft verbessern“. Wer stimmt für diese Be- Bündnis 90/Die Grünen, Ernst Burgbacher, FDP.1) schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- angenommen. schusses für Tourismus auf Drucksache 15/3347. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der fehlung die Annahme des Antrages der Fraktionen der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1322 mit SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf dem Titel „Wirtschaftliche und organisatorische Struktu- Drucksache 15/2980 mit dem Titel „Chancen und Poten- ren der Deutschen Flugsicherung dauerhaft verbessern“ ziale des Deutschlandtourismus in der erweiterten Euro- für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- päischen Union konsequent nutzen“. Wer stimmt für empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig ange- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen. Drucksache 15/2827 an die in der Tagesordnung aufge- Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Drucksache 15/3192 mit dem Titel „Den Tourismus so beschlossen. stärken – Chancen der EU-Erweiterung nutzen“. Wer Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt auf: dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. richts des Ausschusses für Tourismus (19. Aus- schuss) Tagesordnungspunkt 20 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 15/3259 zu – zu dem Antrag der Abgeordneten Brunhilde dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer „Unterstützung grenzübergreifender kommunaler Zusam- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie menarbeit im Rahmen der EU-Osterweiterung“. Der Aus- der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1327 ab- Rainder Steenblock, Volker Beck (Köln), weite- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- (B) NISSES 90/DIE GRÜNEN schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen (D) Chancen und Potenziale des Deutschlandtou- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- rismus in der erweiterten Europäischen Union tionsfraktionen. konsequent nutzen Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b – zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, auf: Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abge- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU gierung Den Tourismus stärken – Chancen der EU- Bericht der Bundesregierung über die Ergeb- Erweiterung nutzen nisse ihrer Bemühungen um die Weiterent- – Drucksachen 15/2980, 15/3192, 15/3347 – wicklung der politischen und ökonomischen Gesamtstrategie für die Balkanstaaten und Berichterstattung: ganz Südosteuropa für das Jahr 2003 Abgeordnete Jürgen Klimke Brunhilde Irber – Drucksache 15/2464 – b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag: richts des Ausschusses für Tourismus (19. Aus- Auswärtiger Ausschuss (f) schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Unterstützung grenzübergreifender kommu- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und naler Zusammenarbeit im Rahmen der EU- Entwicklung Osterweiterung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksachen 15/1327, 15/3259 – b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Berichterstattung: schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Abgeordneter Ernst Burgbacher Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr (Münster), Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden, nämlich die von Brunhilde Irber, SPD, Jürgen 1) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10467

Angelika Krüger-Leißner (A) Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Überweisungsvorschlag: (C) Fraktion der FDP Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfs- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit maßnahmen für Südosteuropa Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – Drucksachen 15/2424, 15/3333 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Berichterstattung: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Abgeordnete Weiß (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und Marianne Tritz der Fraktion der CDU/CSU Dr. Rainer Stinner Menschen mit Behinderung in Entwicklungs- Die Reden der Kollegen Detlef Dzembritzki, SPD- zusammenarbeit einbeziehen Fraktion, Michael Stübgen und Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion, der Staats- – Drucksache 15/2968 – ministerin Kerstin Müller und Dr. Rainer Stinner von der Überweisungsvorschlag: FDP-Fraktion werden zu Protokoll genommen.1) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Tagesordnungspunkt 12 a: Interfraktionell wird Über- Auswärtiger Ausschuss weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2464 an die in Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Dann ist das so beschlossen. Die Reden der Kollegen Dagmar Schmidt (Me- Tagesordnungspunkt 12 b: Beschlussempfehlung des schede), SPD-Fraktion, Peter Weiß (Emmendingen), Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/3333 zu CDU/CSU-Fraktion, Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grü- dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Grund- nen, und Markus Löning, FDP-Fraktion, werden zu Pro- sätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfsmaßnahmen für tokoll genommen.2) Südosteuropa“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf auf Drucksache 15/2424 abzulehnen. Wer stimmt für Drucksache 15/3327 zur federführenden Beratung an diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Ausschuss Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU (B) für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Verbrau- (D) bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und an den Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 21 a und b auf: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Die Drucksache auf a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Vorlage 15/2968 soll an die in der Tagesordnung aufge- Schmidt (Meschede), Karin Kortmann, Lothar führten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es ander- Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten die Überweisungen so beschlossen. Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), Katrin Göring- Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Juni 2004, Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt- 9 Uhr, ein. schaft weiterentwickeln – gemeinsam Armut bekämpfen Die Sitzung ist geschlossen. – Drucksache 15/3327 – (Schluss: 22.12 Uhr)

1) Anlage 7 2) Anlage 8

Berichtigung 113. Sitzung, Seite 10304 (B), das endgültige Ergeb- nis ist wie folgt zu lesen: Abgegebene Stimmen: 585; da- von: ja: 302; nein: 283.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10469

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten nanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Ren- tenversicherung

entschuldigt bis (113. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkt 22) Abgeordnete(r) einschließlich In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt. Grotthaus, Wolfgang SPD 17.06.2004 Mein Votum lautet „Ja“.

Hagemann, Klaus SPD 17.06.2004 Anlage 3 Hintze, Peter CDU/CSU 17.06.2004 Zu Protokoll gegebene Reden Kopp, Gudrun FDP 17.06.2004 zur Beratung: Dr. Küster, Uwe SPD 17.06.2004 – Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Zivilgesetzes in anderen Vorschrif- Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 17.06.2004* ten Karl A. – Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände- Leutheusser- FDP 17.06.2004 rung des Zivilgesetzes Schnarrenberger, (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Sabine Andreas Weigel (SPD): Im Grundgesetz heißt es: Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 17.06.2004 Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Lips, Patricia CDU/CSU 17.06.2004 Wehrdienstes nicht übersteigen. Matschie, Christoph SPD 17.06.2004 Über die Auslegung dieses Grundsatzes ist viel gestritten worden. Lange Zeit ging es aber nicht einmal darum, ob der Zivildienst länger dauern sollte; da war sich die (B) Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 17.06.2004 (D) DIE GRÜNEN Mehrheit einig. Es ging nur darum, wie viele Monate der Zivildienst länger dauern sollte. Schließlich galt es in Raidel, Hans CDU/CSU 17.06.2004* den Augen vieler, eine scheinbare Mehrbelastung des Wehrdienstes auszugleichen. Das hatte damals auch et- Dr. Rexrodt, Günter FDP 17.06.2004 was mit mangelnder Anerkennung des Zivildienstes zu tun. Immer klang hier und da mit, Zivis machten es sich Schröder, Gerhard SPD 17.06.2004 einfacher, sie mogelten sich am Wehrdienst vorbei. Die Zivildienstleistenden mussten sich ihre Anerkennung Seiffert, Heinz CDU/CSU 17.06.2004 hart erkämpfen oder besser gesagt: hart erarbeiten und das haben sie geschafft. Strothmann, Lena CDU/CSU 17.06.2004 Zivildienstleistende stehen heute mitten in unserer Dr. Struck, Peter SPD 17.06.2004 Gesellschaft. Seit Einführung des Ersatzdienstes haben rund 2,5 Millionen Kriegsdienstverweigerer gezeigt, Dr. Thomae, Dieter FDP 17.06.2004 dass sie sehr wohl bereit sind, sich für unsere Gesell- schaft einzusetzen. Die Leistung der Zivis wird heute zu Wistuba, Engelbert SPD 17.06.2004 Recht von allen Seiten anerkannt. Sie haben durch ihr Engagement ganze Überzeugungsarbeit geleistet. Dafür verdienen die Zivildienstleistenden unseren Respekt. * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Als im Jahre 1995 im Deutschen Bundestag über ei- nen Gesetzesentwurf zur Änderung wehrrechtlicher Vor- schriften gestritten wurde, vorgelegt von der damals schwarz-gelben Bundesregierung, forderte die SPD- Anlage 2 Fraktion eine Angleichung der Dauer des Zivildienstes an den Grundwehrdienst, und das nicht zum ersten Mal. Erklärung Die Argumentation des entsprechenden Antrages war des Abgeordneten Reinhard Schultz (Everswin- damals schon schlüssig und ist es heute umso mehr. Ich zitiere: kel) (SPD) zur Abstimmung über die Zurück- weisung des Einspruchs des Bundesrates gegen Die Gründe, die für eine unterschiedliche Dauer das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Fi- von Wehrdienst und Zivildienst maßgebend waren, 10470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) sind entfallen. Die Tatsache, dass der Ersatzdienst die Träger des Freiwilligen Sozialen Jahres einhergeht. (C) von den Ersatzdienstleistenden großen Einsatz er- Das ist in der Tat bedauerlich, aber in dieser direkten fordert, beweist zur Genüge die Ernsthaftigkeit der Konsequenz eben nicht zu vermeiden. – Ich spreche hier Gewissenentscheidung. Der Gesetzgeber kann da- natürlich nur von solchen Fällen, in denen nach § 14 c her zu einer gleichen zeitlichen Dauer von Grund- des Zivildienstgesetzes ein Freiwilliges Soziales Jahr als wehrdienst und Ersatzdienst zurückkehren, wie sie Ersatz für einen Zivildienst abgeleistet wird. – Deshalb mit dem Wortlaut von Art. 12 a des Grundgesetzes kann man nicht das ganze Gesetz verwerfen. Ganz im zu vereinbaren ist. Gegenteil: Es gilt hier anzuknüpfen und weiter zu den- ken; denn es ist durchaus denkbar, diese Einbußen durch Schon damals hat sich die SPD-Fraktion auf die Vor- eine Stärkung von Freiwilligendiensten an anderer Stelle gabe des Grundgesetzes berufen und sie tut es heute ge- mehr als wettzumachen. nauso, mit dem schönen Unterschied, dass heute eine Mehrheit in diesem Hause unseren Standpunkt vertritt. Wie der Bundesrat möchte auch ich anregen, frei wer- Zudem liefert auch ein Vergleich der Belastungssituation dende Finanzmittel aus dem Zivildienst für die Förde- von Wehr- und Zivildienstleistenden so gut wie keine rung und den Ausbau von Freiwilligendiensten zur Ver- Argumente mehr für eine längere Zivildienstdauer. fügung zu stellen. Wir müssen die Zukunftsfähigkeit des Über die Jahre hat sogar die FDP die Seiten gewech- sozialen Sektors gewährleisten. In der Tat gilt es diesbe- selt, wie sie das immer mal wieder gerne zu tun pflegt, züglich, die Empfehlungen der Kommission „Impulse und fordert heute in einem, wie sie es nennen, Gesetzes- für die Zivilgesellschaft“ zu berücksichtigen. Wir brau- entwurf die Angleichung der Dienstdauer von Wehr- und chen eine breitere gesellschaftliche Anerkennung von Zivildienst. Herzlich willkommen, werte Kollegen! Ihr Freiwilligendiensten. Dazu bedarf es nicht zuletzt auch Gesetzentwurf, den wir hier mit beraten, verzichtet aller- einer großzügigeren finanziellen Förderung. dings auf die Regelungen, die eine Reihe weiterer Vor- Wir wissen aber auch, dass Zivildienst und Freiwilli- teile für die Zivildienstleistenden bringen; Frau Parla- gendienste kein Ersatz für neu entstehende Arbeitsplätze mentarische Staatssekretärin Riemann-Hanewinkel hat im sozialen Bereich sein können. Die Herausforderun- diese Neuerungen gerade vorgestellt. Ich finde es bedau- gen des demographischen Wandels sind auch den Trä- erlich, dass Sie diese Bestimmungen nicht im Zivil- gern der sozialen Dienste bewusst. Hier sucht man nach dienstgesetz haben wollen. Sie sind nicht nur vorteilhaft anderen, nach neuen Lösungen, wie etwa im Bereich der für die jungen Leute, sondern sie schaffen auch Klarheit Minijobs. Die Verkürzung des Zivildienstes jedenfalls über eine Reihe von Regelungen, die bisher nur adminis- trifft die freien Träger nicht unvorbereitet. trativ umgesetzt worden sind. Man sollte den Gesetzent- wurf auch in dieser Hinsicht nicht unterschätzen. (B) Der vorliegendes Gesetzentwurf ist vernünftig. Der (D) Ich möchte noch einen Aspekt erwähnen, der zu Un- Zivieldienst wird dem Wehrdienst angemessen ange- recht von mancher Seite kritisiert wurde: die Integration passt. Grundlegende oder ernsthafte Einwände gegen der bisherigen Bildungsseminare in die Einführungslehr- dieses Gesetz gibt es nicht. Bringen wir es schnell auf gänge. Damit bekommen wir es endlich hin, dass alle Zi- den Weg! Die Zivildienstleistenden haben einen An- vildienstleistenden auch wirklich an einem Lehrgang spruch darauf. teilnehmen können, dass ihre Arbeit pädagogisch-theo- retisch begleitet wird, dass Möglichkeiten der Reflexion Andreas Scheuer (CDU/CSU): 1998 konnte man geschaffen werden. Wer dann sagt, mit dem Wegfall der beim Regierungsantritt von Rot-Grün erahnen, dass die Bildungsseminare geschehe genau das Gegenteil, dem Wehrpflicht unter dieser Regierung wohl keine gute Zu- sage ich: Erstens haben diese Seminare nur 5 Prozent der kunft hat. Anlass zur Hoffnung bestand 2003, als die Zivildienstleistenden in Anspruch genommen und zwei- Bundesregierung offiziell verlautbaren ließ: Derzeit sind tens besteht weiterhin die Möglichkeit, an Begleitsemi- weder Dienstzeitverkürzungen noch Änderungen der naren teilzunehmen, und zwar bei anderen Trägern. Viel- Tauglichkeitskriterien geplant. Doch auch diesmal heißt leicht wird das Angebot dadurch sogar attraktiver und es: Zu früh gefreut! Wieder versucht Rot-Grün mit der mehr Zivildienstleistende entscheiden sich für die Teil- altbekannten Salamitaktik, den Zivildienst bis zur Un- nahme an Begleitseminaren. Ohnehin wird über eine Er- kenntlichkeit auszuhöhlen. Die Verkürzung um einen weiterung des Bildungsangebotes nachgedacht. Der An- weiteren Monat und die Herabsetzung der Altersober- satz heißt: Sozialer Dienst/Dienst an der Gesellschaft als grenze für die Einberufung um ganze zwei Jahre bedeu- Lerndienst. tet nichts anderes als die scheibchenweise Demontage Es darf nicht nur eine schöne Behauptung sein, dass einer tragenden Säule des Sozialstaats. Mein Kollege der Erwerb sozialer Kompetenzen, dass freiwilliges En- Willi Zylajew ist darauf schon sehr genau eingegangen. gagement in sozialen Diensten, ein sinnvoller Baustein Nach der eher ergebnisoffenen Diskussion zur Dienst- für ein späteres Berufsleben sein kann. Die theoretisch pflicht vor einigen Wochen hat sich an der Grundkon- pädagogische Einrahmung dieser Dienste ist dafür stellation nichts Wesentliches geändert. Wir haben zwei grundlegend. Minister, die, wie wir es bei Rot-Grün ja in anderen Fra- Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme den Ent- gen gewohnt sind, widersprüchlich vorgehen: eine Fami- wurf des 2. Zivildienständerungsgesetzes abgelehnt, und lienministerin, die ganz aktiv die Abschaffung der Wehr- zwar, weil mit der Verkürzung des Zivildienstes zu- pflicht betreibt und durch ihren Bereich Zivildienst nächst zwangsläufig eine Kürzung des Zuschusses für – gleichsam über die Hintertür – versucht, den Verteidi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10471

(A) gungsminister vom Kurs des Beibehalts der Wehrpflicht schuss pro Zivildienstleistenden von 70 auf 50 Prozent (C) abzubringen. zusammengestrichen. Dies hat den zivilen Ersatzdienst – eine tragende Säule unserer sozialen Dienste – erheb- Die Lage ist aber wesentlich angespannter, als die lich geschwächt. Unter dem Druck der Wohlfahrtsver- Freude von Rot-Grün am Im-Kreis-Diskutieren vermu- bände haben Sie diese Kürzung auf ein Jahr begrenzt. ten lässt: Schon 2003 stellte die Regierung fest, dass die Zahl der Zivildienstleistenden bereits jetzt nicht aus- Damals habe ich mich gefragt, was Rot-Grün wohl reicht, um die notwendigen Leistungen im Sozial- und noch einfallen wird, um den Zivildienst weiter auszu- Pflegebereich zu erbringen. Eine Vielzahl von Stellen höhlen und ihn langsam aber sicher abzuschaffen. Nun bleibt schon bei der derzeitigen Gesetzeslage unbesetzt. weiß ich es. Diesmal geht es nicht ans Geld, sondern an Wie soll das erst aussehen, wenn sich noch weniger die Dauer des zivilen Ersatzdienstes und an die Befrei- junge Männer und dazu noch kürzer hier engagieren? ungstatbestände. Das höhlt den Zivildienst mindestens Zudem rekrutieren die Träger und Wohlfahrtsverbände ebenso nachhaltig aus wie die Kürzung des Bundeszu- in hoher Zahl aus dem Zivildienst heraus die später schusses. wichtigen ehrenamtlich Tätigen. Angesichts dieser Funktion des Zivildienstes kann man also nicht nur ein- Mit dem vorliegenden Gesetz soll die Dauer des Zi- fach innerhalb der neun oder zehn relevanten Monate vildienstes von zehn auf neun Monate verkürzt werden. denken; es geht auch um den Fortbestand des Engage- Dies macht eine sinnvolle Gestaltung des Zivildienstes ments der Bürger im Ehrenamt. nahezu unmöglich. Vor allem ältere Menschen oder Schwerstbehinderte, die individuell betreut werden müs- Ich möchte hier zu bedenken geben: Bei all den Dis- sen, werden darunter zu leiden haben. kussionen müssen wir uns schon im Klaren sein, dass Der Zeitraum, in dem ein Zivildienstleistender wirk- gerade die jungen Menschen zur Mitverantwortung in lich seinen Dienst an der Gesellschaft leistet, wird im- unserer Gesellschaft animiert werden sollen. Das muss mer kürzer. De facto bliebe bei einem 9-monatigen Zi- der kleinste gemeinsame Nenner sein. Ein Engagement vildienst nur noch ein gutes halbes Jahr für die für Staat und Gesellschaft ist der zentrale Punkt, um tatsächliche Arbeit in den Einrichtungen. Eine Woche Strukturen in unserem Land zu erhalten und zu fördern. nimmt der staatspolitische Einführungslehrgang in An- Das heißt aber auch, dass der Zivildienst eine starke und spruch, zwei Wochen sind für die fachlichen Einfüh- leistungsfähige Alternative bleiben muss, damit die jun- rungslehrgänge anzusetzen. Hinzu kommt eine mindes- gen Menschen in unserem Land etwas Positives für ihre tens zweiwöchige, bei Pflege- und Betreuungsdiensten Lebensgestaltung mitnehmen. vierwöchige Einweisung in der Einrichtung hinzu. Na- Die schönen Sonntagsreden zum Ehrenamt nutzen da türlich muss auch noch der rund dreiwöchige Urlaub ab- (B) wenig, meine Damen und Herren von Rot-Grün. Sie gezogen werden. Von Krankheitstagen und vorzeitiger (D) müssen sich mit den Verbänden unterhalten, dann erfah- Beendigung des Zivildienstes will ich gar nicht erst spre- ren Sie auch mal etwas von der Praxis. Da gibt es blanke chen. Angst um die Strukturen vor Ort. Uns von der Union ist Dieser kurze Zeitraum schadet allen Beteiligten: den klar, dass die Bundesregierung Strukturen in unserem zu Betreuenden, die sich in immer kürzeren Abständen Land zerstören will, die sich bewährt haben. Eines näm- auf neue Menschen einstellen müssen, den Zivildienst- lich sollten wir auf lange Sicht nicht aus den Augen ver- leistenden, die immer weniger anspruchsvolle und ver- lieren, wenn wir über diesen Gesetzesentwurf abstim- antwortungsvolle Tätigkeiten ausüben können. Damit, men: Wird der Zivildienst weiter gekürzt, eingeschränkt, meine Damen und Herren von Rot-Grün, widersprechen in kleinen Schritten geschwächt, dann sind wir bald bei sie sich selber. Angesichts dieser Kürzung kann man von der zentralen Frage angelangt, nämlich bei der Abschaf- einem „sozialen Lerndienst“, den sie immer wieder for- fung der Wehrpflicht. Und das will Rot-Grün. dern, gar nicht mehr sprechen. Schließlich wird der fi- Meine Damen und Herren von Rot-Grün, wenn wir nanzielle und organisatorische Aufwand für die Zivil- dann in der Bredouille sind, für unser Sozialsystem ei- dienststräger immer größer. nen Ersatz des Zivildienstes zu finden und diesen zu fi- Ich glaube, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die nanzieren, bin ich auf Ihre Vorschläge und Konzepte Spitzen der Wohlfahrtsverbände angesichts dieser erneu- sehr gespannt. Legen Sie also die Karten auf den Tisch ten Kürzung, die bestimmt nicht die letzte ist, ihren Aus- und führen Sie keine Schattendebatten, die in der Konse- stieg aus dem Zivildienst verkünden. Aber vielleicht quenz nur auf das eine hinauslaufen: die Abschaffung hofft die Bundesregierung ja gerade darauf. Vielleicht ist der Wehrpflicht! es die Taktik von Rot-Grün, den Zivildienst solange aus- zuhöhlen, bis die Zivildienstträger abspringen und die Willi Zylajew (CDU/CSU): Der uns zur Beratung Bundesregierung bei dieser sozialen Demontage ihre vorliegende Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände- Hände in Unschuld waschen kann. Danach werden sie rung des Zivildienstgesetzes müsste eigentlich einen an- dann vermutlich auch noch behaupten, sie hätten den Zi- deren Namen tragen. Es müsste „Gesetz zur Aushöhlung vildienst ja erhalten wollen, nur die bösen Verbände des Zivildienstes“ heißen. Denn um nichts anderes geht eben nicht. es in diesem Gesetzentwurf. Vielleicht geht es der Bundesregierung aber auch nur Im Januar 2003 haben Sie von Rot-Grün mit dem Ers- darum, die nicht vorhandene Wehrgerechtigkeit „schön- ten Zivildienstgesetzänderungsgesetz den Bundeszu- zurechnen“. Die Wehrungerechtigkeit wird aber keinen 10472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Deut besser, wenn die Heranziehungsgrenze vom 25. auf der kann ebenfalls vom Zivildienst zurückgestellt wer- (C) das 23. Lebensjahr herabgesetzt wird und zum Beispiel den. verheiratete Wehrpflichtige befreit werden oder Wehr- pflichtige zurückgestellt werden, die im Beamtenver- Im vorliegenden Gesetz sind weitere Tatbestände zur hältnis ausgebildet werden. Ganz im Gegenteil! Befreiung vom Zivildienst erheblich ausgeweitet wor- den: Befreit werden können Verheiratete oder eingetra- Selten bedacht wird vor allem die Signalwirkung die- gene Lebenspartner. Befreit werden kann auch, wer al- ser Politik auf junge Menschen. Angesichts der Willkür, lein erziehend oder gemeinsam für ein Kind als mit der im Zivildienst herumgefuhrwerkt wird, ist es Sorgeberechtigter verantwortlich ist. Ein Zurückstel- doch kein Wunder, dass junge Menschen immer weniger lungsgrund ist jetzt auch die Anerkennung zum Erhalt einen Sinn im Zivildienst sehen und ihren Dienst ohne und zur Fortführung eines eigenen oder elterlichen Be- Freude ableisten! triebes. Bisher war das nur auf den Bereich von land- wirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieben be- Das Aushöhlen der Wehrpflicht und des zivilen Er- schränkt. satzdienstes durch die Bundesregierung muss ein Ende haben. Legen Sie endlich ein mittel- und langfristig trag- Auch die so genannte „Dritte-Söhne-Regelung“ ist er- fähiges Konzept für den Zivildienst vor! weitert worden. Sie gilt demnächst auch für Wehrpflich- tige, deren zwei ältere Brüder Dienst im Zivil- oder Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Katastrophenschutz, im Entwicklungsdienst, einem „an- NEN): Mit dem Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Än- deren Dienst im Ausland“ nach § 14 b oder einen Frei- derung des Zivildienstgesetzes machen wir endlich willigendienst nach § 14 c geleistet haben. Bisher galt Schluss mit einer großen Ungleichbehandlung. Denn das nur für den Bereich des Wehr- und Zivildienstes. Po- wichtigster Bestandteil dieses Gesetzes ist, dass der Zi- sitiv ist auch die Neuregelung für das freiwillige Jahr vildienst auf neun Monate verkürzt und damit dem nach § 14 c, die Urlaubsregelung anzupassen und statt Wehrdienst angeglichen wird. Grüne haben lange dafür 24 Tage 26 Tage im Jahr Urlaub zu gewähren. gestritten, dass diejenigen, die ihren Dienst aus Gewis- Insgesamt bleibt festzustellen, dass der Gesetzentwurf sensgründen nicht mit Waffen leisten, nicht schlechter ein guter Schritt in die richtige Richtung ist. gestellt sein dürfen als diejenigen, die das tun. Deshalb sage ich: Der Tag der Einbringung dieses Gesetzes ist ein guter Tag für Rot-Grün. Und es ist auch ein guter Tag Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre- für alle Zivildienstleistenden. tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Die Kommission „Impulse für die Mit diesem wichtigen Schritt in die richtige Richtung (B) Zivilgesellschaft – Perspektiven für Freiwilligendienste (D) wird übrigens auch ein Vorschlag der Kommission „Im- und Zivildienste in Deutschland“ wurde im Mai vergan- pulse für die Zivilgesellschaft“ umgesetzt – im Konsens genen Jahres von Frau Bundesministerin Renate und sehr zeitnah. Das erscheint mir besonders wichtig, Schmidt eingesetzt und hat am 15. Januar 2004 Empfeh- weil wir in der Debatte um die Zukunft von Wehr- und lungen vorgelegt. Diese Empfehlungen wurden unter Zivildienst natürlich ganz viele Menschen „mitnehmen“ Beteiligung der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz, der müssen, auch solche, die sich heute immer noch nicht kommunalen Spitzenverbände und der Wohlfahrtsver- vorstellen können, dass beides Auslaufmodelle sind. bände im Konsens getroffen. Eine der Empfehlungen Eines sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Es wird war, die Dauer des Zivildienstes an die des Grundwehr- keinen Sinn machen, die Dauer von Wehr- und Zivil- dienstes anzupassen. Dies wurde auch von der parlamen- dienst noch weiter abzusenken. Wir sind an dem Punkt tarischen Begleitgruppe der Impulse-Kommission mehr- angekommen, uns mit der Abschaffung aller Zwangs- heitlich gefordert. Es entspricht ebenso einer Forderung dienste auseinander setzen zu müssen. Die Zukunft ge- des Bundesrates, „dass die Dauer des Zivildienstes die hört den Freiwilligendiensten! Dauer des Grundwehrdienstes nicht überschreiten darf.“ Mit dem Zivildienständerungsgesetz wird die Lebens- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verkürzen wir planung für junge Männer wesentlich vereinfacht. Sie den Zivildienst von zehn auf neun Monate. Die Bundes- müssen nicht mehr bis zum 25. Lebensjahr damit rech- regierung folgt mit dem Entwurf für ein Zweites Zivil- nen, eingezogen zu werden. Denn künftig gilt: Zivil- dienständerungsgesetz den Vorschlägen vieler gesell- dienstpflichtige werden nur noch bis zur Vollendung schaftlicher Gruppen. Der Gesetzentwurf weist eine des 23. Lebensjahres einberufen. Ich halte das für einen Reihe weiterer Veränderungen und Verbesserungen für ganz wichtigen Aspekt. Denn in einer Zeit, in der von die betroffenen jungen Grundwehrdienstpflichtigen und jungen Menschen verlangt wird, flexibel zu sein und ihre Zivildienstpflichtigen auf: Schul-, Bildungs- und Ausbildungszeiten immer zügiger zu durchlaufen, kann über ihren Köpfen nicht länger als Wir senken die Regelaltersgrenze für die Einberufung unbedingt nötig das Damoklesschwert „Zwangsdienst“ zur Bundeswehr und die Heranziehung zum Zivildienst schweben. In Zeiten, wo jeder junge Mensch froh ist, um zwei Jahre auf 23 Jahre; Wehrdienstpflichtige und einen Job bekommen zu haben, ist es außerdem überaus Zivildienstpflichtige werden in Zukunft in der Regel nur positiv, dass ein weiterer Rückstellungsgrund geschaffen noch bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres einberu- wurde: Wer die allgemeine Hochschul- oder Fachhoch- fen. Das bedeutet: Sicherheit für die persönliche Lebens- schulreife in der Tasche hat, als Kriegsdienstverweigerer und Berufsplanung der jungen Leute. Von vielen Arbeit- anerkannt wird und eine betriebliche Ausbildung macht, geberinnen und Arbeitgebern wird bei der Einstellung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10473

(A) die Ableistung des Wehrdienstes oder des Zivildienstes williges Jahr statt des Zivildienstes ableistet. Über (C) vorausgesetzt. Dem tragen wir Rechnung. Die Wehr- 3 000 Freiwillige leisten allein in diesem Jahr ihren pflichtigen werden also in Zukunft ab dem 23. Lebens- Dienst in den anerkannten Einrichtungen. Das macht das jahr ihre Ausbildung ohne Ungewissheiten über den He- Interesse der jungen Menschen und damit den Bedarf an ranziehungszeitpunkt planen können bzw. sie stehen ab weiteren Plätzen in FSJ und FÖJ deutlich. Wir werden dem 23. Lebensjahr dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt daher die freiwilligen Jahre weiterhin sehr stark fördern. zur Verfügung. Das Zweite Zivildienständerungsgesetz enthält dazu wichtige Bausteine. Ich bitte Sie daher um Ihre Unter- Nach § 11 Abs. 4 Nr. 3 wird nach geltendem Recht stützung in der parlamentarischen Beratung. auf Antrag zurückgestellt, wer einen Ausbildungsab- schnitt „bereits weitgehend“ absolviert hat. In Recht- sprechung und Praxis steht seit langem fest, dass dies nach einem Drittel der Ausbildung der Fall ist. Dies soll Anlage 4 jetzt der Klarheit halber ins Gesetz hineingeschrieben werden. Zu Protokoll gegebene Reden Die Dritte-Söhne-Regelung wird ergänzt. Bisher war zur Beratung des Antrags: Sicherheit vor der es Aufgabe dieser Regelung zu verhindern, dass eine Fa- deutschen Küste verbessern – Küstenwache op- milie durch die Wehrpflicht im besonderen Maße belas- timieren (Tagesordnungspunkt 18) tet wurde. Deshalb sollten dritte Brüder, deren zwei Ge- schwister Wehrdienst oder Zivildienst geleistet hatten, Annette Faße (SPD): Ein Öltanker wird von Terro- nicht mehr herangezogen werden. In Zukunft gilt dies risten mit Sprengstoff beladen und treibt auf Wilhelms- auch für ältere Brüder, die Dienst im Zivilschutz oder haven oder eine andere deutsche Hafenstadt zu – so oder Katastrophenschutz, einen anderen Dienst im Ausland so ähnlich könnte man sich einen Terroranschlag zu See oder ein freiwilliges Jahr nach § 14 c des Zivildienstge- vorstellen. Wir lernen heutzutage den Terrorismus als setzes absolviert haben. eine neue Form der Gefahr kennen. Neue Erkenntnisse und neue Lösungen sind dringend notwendig, um dieser Wer verheiratet ist, eine eingetragene Lebenspartner- Gefahr zu begegnen. Hierin sind wir uns sicher alle ei- schaft eingegangen ist oder die elterliche Sorge gemein- nig. sam oder als Alleinerziehende ausübt, wird in Zukunft ebenfalls auf Antrag befreit. Denn wer vor Vollendung Seit dem 1. Januar 2003 haben wir in Cuxhaven das des 23. Lebensjahres – also bis zum Erreichen der Havariekommando aufgebaut. Ein wichtiger und richti- Regelaltersgrenze – eine solch weit reichende persönli- ger Schritt zur Abwehr einer großen Schadenslage. In (B) che Bindung eingeht, soll nicht durch Wehrdienst oder beispielhafter Kooperation zwischen dem Bund und al- (D) Zivildienst zusätzlichen Belastungen ausgesetzt werden len fünf Küstenländern haben wir in anderthalb Jahren und Gefahr laufen, dass er an diesen Aufgaben scheitert. eine Einrichtung geschaffen, die ein einheitliches und damit effektives Unfallmanagement bei schweren Hava- In Zukunft werden die bisherigen Seminare nach rien gewährleistet und beispielhaft in Europa ist, und § 36 a Zivildienstgesetz in die Lehrgänge nach § 25 a Zi- zwar unter Ausschöpfung des rechtlichen Spielraumes, vildienstgesetz integriert. Diese Lehrgänge werden so ohne Änderung der grundgesetzlich garantierten Aufga- strukturiert, dass sie die Einführung aller Zivildienstleis- benverteilung zwischen Bund und Küstenländern. Jeder tenden ermöglichen. Das hat zur Folge, dass sämtliche kann sich vor Ort über die geleistete Arbeit informieren; Zivildienstleistende eine Woche in politischer Bildung optimieren wird man sie weiterhin, zum Beispiel nach unterwiesen werden. Trotzdem müssen Zivildienstleis- kleinen und großen Übungen. tende nicht auf den Besuch von Seminaren verzichten, die den Anforderungen nach § 36 a ZDG entsprechen. Es besteht keine Notwendigkeit, das Grundgesetz zu Von Verbänden angebotene Seminare können weiterhin ändern: weder für das Havariekommando noch für die besucht werden. Küstenwache, für Havarien weder noch für denkbare ter- roristische Angriffe auf oder von See. Eine Rechtsper- Im Bereich des § 14 c des Zivildienstgesetzes wird sönlichkeit ist nicht notwendig. der Urlaubsanspruch von 24 Tagen auf 26 Tage herauf- gesetzt. Dies entspricht dem Urlaubsanspruch der Teil- Teilweise müssen sehr unterschiedliche Aufgaben mit nehmerinnen und Teilnehmer am FSJ/FÖJ bzw. der hoch spezialisierten Schiffen und Personal erledigt wer- Wehrdienst- oder Zivildienstpflichtigen. Da sich die den. Denken Sie dabei nur an die Wartung der See- Kosten für eine Zivildienstleistung aufgrund der einmo- zeichen – eine Routineaufgabe der Wasser- und natigen Zivildienstverkürzung verringern, wird der der- Schifffahrtsverwaltung. Oder an die grenzpolizeiliche zeitige Zuschuss vom Bund an die Träger von FSJ/FÖJ Sicherung – eine originäre Aufgabe des Bundesgrenz- von höchstens 421,50 Euro je Monat auf 363,80 Euro schutzes. Oder an die Kontrollen zur Einhaltung der Be- pro Monat abgesenkt. Hier gibt es Übergangsregelun- fischungsraten – eine der Hauptaufgaben der Fischerei- gen. schutzboote. Der vorliegende Gesetzentwurf gestaltet den gesell- Eine neue nationale Behörde – wie von Ihnen gefor- schaftlichen Wandel mit. Wir schreiben die Entschei- dert – würde hier mehr neue Probleme schaffen, als be- dung fort, dass den Trägern ein Zuschuss gewährt wird, stehende Probleme lösen: Die Einrichtung einer Bundes- wenn ein anerkannter Kriegsdienstverweigerer ein frei- küstenwache nach Ihren Vorstellungen würde bewährte 10474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Strukturen und Ressorts aufbrechen – und das nur, damit Frage ist auch, dass das Havariekommando eine wich- (C) neue Strukturen und Ressorts mit denselben Aufgaben tige Teilfunktionalität der Maritimen Notfallvorsorge und denselben Zuständigkeiten wieder aufgebaut wer- darstellt. den. Der heutige Koordinierungsverbund Küstenwache, Ob das allerdings ausreicht, um im Ernstfall wirklich auf den Sie, meine Damen und Herren der Opposition, umfassend zu reagieren, scheint die Regierungskoalition zu Ihrer Regierungszeit sehr stolz waren, hat sich im in ihrem Antrag selbst anzuzweifeln. Nur so ist die For- Kern bewährt. Die Zusammenarbeit zwischen dem Ko- derung nach einer schnelleren, effektiveren und kosten- ordinierungsverbund Küstenwache und dem Havarie- günstigeren Zusammenarbeit in dem vorliegenden An- kommando funktioniert. trag zu erklären. Dennoch gilt es, neuen Anforderungen gerecht zu Ihre Zweifel sind berechtigt. Durch die derzeitige werden. Wir wollen eine Küstenwache. Wir wollen Struktur der maritimen Überwachungs- und Vollzugs- Havariekommando, Küstenwache und Point of Contact aufgaben ist auch das Havariekommando nur bedingt unter einem Dach. Die Minister haben sich für den einsatzfähig. Deutlich wurde dies im Dezember letzten Standort Cuxhaven entschieden, was ich persönlich na- Jahres, als der Frachter „Andinet“ drei Container und türlich sehr begrüße. Es gilt, bestehende Strukturen zu 63 Fässer mit hochgiftigem Holzschutzmittel vor der überprüfen und Synergieeffekte zu nutzen: Wasser- niederländischen Küste verlor. Als die Fässer an den ost- schutzpolizeien und andere Landesbehörden werden friesischen Inseln zu stranden drohten, fühlte sich das weiterhin in einem neuen Küstenwachezentrum betei- Havariekommando – so der damaligen Berichterstattung ligten. Wir werden behördenübergreifende Organisa- zu entnehmen – zunächst nicht zuständig. Eine katastro- tions- und Weisungsstrukturen, insbesondere für den phale Informationspolitik hat die Bevölkerung vor Ort Ernstfall, schaffen. Die Zusammenarbeit der verschiede- zusätzlich beunruhigt. Die notwendige Zusammenarbeit nen Bundes- und Landesbehörden muss einheitlich koor- zwischen den regionaler Behörden und dem Havarie- diniert werden. Es wird ein rasch einsatzfähiges Lage- kommando hat es anscheinend nicht gegeben. Die Fässer und Einsatzzentrum für Nord- und Ostsee unter einem treiben noch immer im Meer; die Suche wurde abgebro- Dach geschaffen. chen. Damit ist die erste Bewährungsprobe für das Ha- Dabei ist eins klar: Den von der CDU/CSU heraufbe- variekommando beinahe selbst zur Havarie geworden. schworenen Kompetenzwirrwarr im Falle einer terroris- Die anhaltende Abwehrhaltung gegenüber einer ein- tischen Bedrohung wird es in der Realität nicht geben. heitlichen Küstenwache ist für uns nicht nachvollzieh- Ein solcher Ernstfall, von dem wir natürlich hoffen, dass bar. Denn im Ziel sind wir uns einig: Wir brauchen einen er niemals eintreten wird, löst eine polizeiliche Sonder- umfassenden Seesicherheits-, nicht nur einen Küsten- (B) lage mit entsprechend klaren Strukturen und Zuständig- schutz, professionell und kostengünstig. Dafür müssen (D) keiten aus. Jedes zuständige Ressort erhält umfassende die rechtlichen Voraussetzungen jetzt geschaffen wer- Kompetenzen und Weisungsbefugnisse. Auf dem Land den. Alle im Koalitionsantrag aufgeführten – richtigen – sprechen Sie auch nicht von Kompetenzwirrwarr. – Hier Forderungen lassen sich durch die Schaffung einer natio- gibt es ebenfalls je nach Gefahrenlage und Situation un- nalen Küstenwache auf Anhieb verwirklichen. Doch ist terschiedliche Zuständigkeiten. Der Bundesgrenzschutz der Antrag lediglich ein weiterer Schritt zur „Koordinie- kooperiert mit der Polizei der verschiedenen Bundeslän- rung der Koordination“, anstatt endlich einem ganzheit- der und dem Zoll – und keiner würde ernsthaft behaup- lichen Lösungsansatz zu folgen und die Kräfte in einer ten, dass es dort Unklarheiten über die Aufgabenvertei- Hand, mit einheitlicher nationalen Küstenwache nach lung gibt. dem möglichen Beispiel der US Coast Guard, zu bün- Der Föderalismus, meine Damen und Herren, hat sich deln. Durch den Antrag wird das Hauptproblem, nämlich im Bereich der Gefahrenabwehr bewährt. Er ist fester das Nebeneinander von vier verschiedenen Bundesres- Bestandteil unseres Grundgesetzes und unserer Gesell- sorts und 16 Dienststellen auf dem Wasser, nicht beho- schaft. Er verhindert durch die örtliche Verteilung und ben. Es wird lediglich Flickschusterei betrieben. die Verschränkung von Kompetenzen auf verschiedene Auch nach einer Optimierung der bestehenden Struk- Institutionen und Personen, dass sich zu viel Macht in ei- turen des Koordinierungsverbundes Küstenwache bleibt ner Hand zusammenfindet. Aus diesem Grund ist unser immer noch erheblicher Abstimmungsbedarf. Der von Ziel: die optimale Koordinierung der vorhandenen uns geforderte Einsatz der Bundesmarine gegen terroris- Strukturen in Abstimmung mit den Bundesländern, im tische Angriffe wird immer wieder mit dem Verweis auf Alltagsbetrieb und im Ernstfall – und nicht die Zentrali- die Amtshilfe bzw. das Seerechtsübereinkommen abge- sierung von Kompetenzbereichen. wiesen. Der Abstimmungsbedarf im Notfall nimmt da- Meine verehrten Damen und Herren, nun gilt es, die durch allerdings nicht ab, sondern zu. vorhandenen Kräfte zu bündeln. Lassen Sie uns Bewähr- Der Einsatz der Bundesmarine muss auf eine eindeu- tes optimieren, damit die neue Küstenwache, eine tige und gesicherte Rechtsgrundlage gestellt werden, schlagkräftige Antwort auf mögliche neue Gefahren denn im Ernstfall können BGS und Bundesmarine nicht wird. direkt angefordert werden. Die Ankündigung von Bun- desverkehrsminister Peter Struck in den „Lübecker Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Grund- Nachrichten“, der offensichtlich unseren Antrag sorgfäl- sätzlich begrüßen wir Ihr Bemühen um mehr Sicherheit tig gelesen und verstanden hat, die Bundeswehr jetzt vor der deutschen Küste; das ist keine Frage. Keine auch zur Bekämpfung von Terrorgefahren auf See ein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10475

(A) setzen zu wollen, begrüßen wir; denn damit erfüllt die und Ausbildung gemeinsam bereitgestellt und durch Sy- (C) Bundesregierung ein seit langem gefordertes Anliegen nergieeffekte Kosten eingespart werden können, weil der Unionsparteien. Um diese Entscheidung auf eine ge- nur so hohe einheitliche Standards in der Qualität der sicherte Rechtsgrundlage zu stellen, muss die Bundesre- Vollzugskräfte gewährleistet werden können, weil nur gierung jetzt wie bei der Luftsicherheit für eine Ände- dann Doppelarbeit sowohl im Vollzug als auch im admi- rung des Grundgesetzes sorgen. Ein Staatsvertrag ist nur nistrativen Bereich vermieden werden kann und weil nur die zweitbeste Lösung. Er ermöglicht einen Interpreta- eine bundesweite Finanzierung eine gerechte Lastenver- tionsspielraum und damit neue Irritationen. Das in der teilung gewährleistet. Vereinbarung fehlende Durchgriffsrecht ist ein Beispiel dafür. Ein zweiter Schritt – nach der Schaffung eines Küs- tenwachenzentrums – ist, das Nebeneinander von vier Schon jetzt sind die zahlreichen Verträge und Verein- verschiedenen Bundesressorts endlich zu beenden. Alle barungen zwischen dem Koordinierungsverbund Küs- Bundesvollzugsaufgaben auf See müssen in einem eige- tenwache und dem Havariekommando selbst für Fach- nen Amt oder dem kompetentesten Ministerium zusam- leute kaum durchschaubar. Dies führt zwangsläufig zu mengefasst werden. Ein letzter Schritt ist die Übertra- erheblichen Koordinierungs- und Effizienzverlusten, ab- gung aller Landeskompetenzen auf See auf den Bund bei gesehen davon, dass in der Sicherheitspraxis alle alten Berücksichtigung der gewachsenen Länderstrukturen. Mängel bleiben. Die kompetenten Kräfte vor Ort benöti- Dafür ist eine Änderung des Grundgesetzes notwendig. gen eine einheitliche Grundlage für das gefahrvolle Han- deln. Auch auf europäischer Ebene wird das Thema einer europäischen Küstenwache weiter auf der Tagesordnung Der Antrag der Regierungsfraktionen wird hier leider stehen. Deutschland muss sich jetzt zügig darauf vorbe- keine wesentliche Abhilfe schaffen. Fakt ist: Es besteht reiten. Brüssel muss wissen, ob und wann es mit einem ein Behördendurcheinander und das wird auch durch einheitlichen Konzept der deutschen Seite rechnen kann. weitere Optimierungsversuche nicht wesentlich besser. Die EU erwartet einen Ansprechpartner. Unsere Forderung lautet deshalb nach wie vor: Wir Die ständigen Optimierungsversuche sind langfristig brauchen eine nationale Küstenwache mit monokrati- keine Lösung. Um eine nationale deutsche Küstenwache scher Führungsstruktur, in der alle schwimmenden Ein- werden wir langfristig nicht herumkommen. Für die Si- heiten von Bund und Ländern straff zusammengefasst cherheit der Menschen auf See und an der Küste und sind. Wir sind uns in dieser Frage nicht nur mit der zum Schutz der einzigartigen Ökosysteme in Nord- und CDU-Landtagsfraktion in Kiel einig, sondern mit allen Ostsee benötigen wir jetzt eine nationale Küstenwache. Fraktionen des Landtages Schleswig-Holstein und (D) (B) Mecklenburg-Vorpommern. Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Sechs Monate nach Für eine deutsche Küstenwache zu sein ist kein tages- dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Schaffung einer politischer Populismus, sondern eine Forderung, die wir nationalen Küstenwache debattieren wir heute über den seit fünf Jahren erheben und die sich auch aus Erfahrun- Antrag von SPD und Grünen zur Optimierung der Küs- gen der Havarien der „Pallas“ und einiger Beinahe-Ha- tenwache – sechs Monate wertvolle Zeit, die wir im varien der Vergangenheit ergibt, eine Forderung, wie sie Sinne des gemeinsamen Wunsches nach mehr Sicherheit sehr sachkundig und verdienstvoll auch von Hans von auf deutschen Meeren besser hätten nutzen können, Wecheln von der Schutzgemeinschaft Deutsche Nord- sechs Monate, in denen wir den Antrag der CDU/CSU seeküste vertreten wird. beraten und umsetzen hätten können. Wir begrüßen die Schaffung eines Küstenwach- Doch besser spät als nie – aus diesem Grund begrüße zentrums für Nord- und Ostsee. Das ist die Grundlage ich den Antrag von der SPD und von den Grünen aus- für eine deutsche Küstenwache. Allerdings bedauern wir drücklich. Er zeigt, dass sich inzwischen auch bei Ihnen die einseitige und unabgestimmte Vorankündigung des zumindest ein Problembewusstsein entwickelt hat. Bundesinnenministers und des Bundesverkehrsminis- Wo liegen die Gemeinsamkeiten des vorliegenden ters, Cuxhaven zum Standort des neuen Zentrums zu be- Antrages mit dem der CDU/CSU? Zu begrüßen ist, dass nennen. Die voreilige Festlegung nimmt keine Rücksicht wir uns darüber einig sind, dass für eine größtmögliche auf die vorherrschende gute Infrastruktur am Standort Sicherheit auf Nord- und Ostsee ein schnelles einsatzfä- Neustadt. Hier darf das letzte Wort noch nicht gespro- higes Management für alle Gefahrenlagen erforderlich chen sein. ist, dass die aktuellen Strukturen aus Effizienzgesichts- Was bei dem bisherigen Konzept auch fehlt, ist eine punkten nicht optimal sind, und dass es daher einer Zuordnung der Seesicherheitskräfte der Küstenländer. neuen, effektiven Küstenwache mit einem zentralen Ein- Sie haben bisher einen verantwortungsbewussten Dienst satzzentrum bedarf. erwiesen und dürfen jetzt nicht in die Ecke gestellt wer- Ich halte fest: Wir wünschen uns alle mehr Sicherheit den. Das gilt auch für den BGS. auf See und erkennen, dass die gegebenen Strukturen Nach wie vor sind wir von der CDU/CSU-Bundes- nicht optimal sind. Wo liegen die Defizite der bisherigen tagsfraktion der Auffassung, dass wir eine nationale Strukturen? Wir kennen alle die absurde Anzahl beteilig- Küstenwache brauchen, weil nur dann im Notfall Ver- ter Bundes- und Landesministerien und Behörden bei der antwortung und Führung in einer Hand liegen und ein Gewährleistung der Sicherheit auf See. Seit den 50er- Einsatz reibungslos erfolgen kann, weil nur so Material Jahren wird nunmehr versucht, diese unterschiedlichen 10476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Kompetenzen durch immer weitere Kooperationsverein- Sie von den Grünen und der SPD planen nach dem (C) barungen zu koordinieren. Mittlerweile gibt es 25 Ver- Motto „Wir stecken alle Verantwortungsträger in einen träge! Das Ergebnis ist ein Nebeneinander von Einheiten großen Raum und hoffen auf gute Zusammenarbeit“! und Zuständigkeiten, das mittlerweile selbst von Exper- Dieses Vorgehen – ohne gleichzeitig klare Organisa- ten kaum noch überblickt werden kann. tionsstrukturen zu schaffen – kann klappen, wenn sich alle Beteiligten gut verstehen und gut zusammen arbei- Genau diese ineffizienten Strukturen planen die Kol- ten; es muss jedoch nicht klappen. legen von der SPD und den Grünen jetzt fortzuschrei- ben. Ihr Antrag sieht keinerlei wesentliche strukturellen Lassen Sie uns bei der Sicherheit auf deutschen Mee- Änderungen vor. Im Gegenteil, sie planen ein weiteres ren kein unnötiges Risiko eingehen! Beenden wir ge- Kapitel der unendlichen Koordinierungsgeschichte, sie meinsam die gescheiterten Koordinationsversuche! Or- planen die Fortsetzung des institutionellen Chaos. ganisieren wir die Strukturen zur Gefahrenabwehr auf In welchen Bereichen leidet die Sicherheit auf unse- See nicht weiter entsprechend Ministerien und föderalen ren Meeren unter der fehlerhaften Organisationsstruk- Strukturen, sondern nach der Aufgabe, der Gefahrenab- tur? Betrachten wir zunächst die Abwehr von Gefahren wehr! Wir benötigen eine einheitliche nationale Küsten- durch Terror und organisierte Kriminalität. Hier ist oft- wache, die alle bestehenden Aufgaben, auch präventive, mals Zeit ein besonders kritischer Faktor; es zählen mit- wahrnimmt. Nur so kann das notwendige Zusammen- unter Stunden oder sogar Minuten. Für diese Aufgabe spiel aller Einsatzkräfte perfekt funktionieren, werden verfügen BGS und die WSP über bestens ausgebildetes klare Weisungsstränge für alle zur Selbstverständlichkeit Personal. Dazu existieren gut ausgestattete Boote. Auch und wird ein höchstmögliches Maß an Professionalität auf die Marine können wir im Bereich der Terrorismus- und Schlagkraft sichergestellt. abwehr nicht verzichten. Doch für einen effizienten und An die Kollegen, speziell der SPD-Fraktion, die Bitte: schnellen Einsatz von Mann und Material benötigen wir Wagen wir gemeinsam einen wirklichen Schritt nach klare Befehlsstrukturen mit eindeutigen Handlungsbe- vorn! Legen Sie Ihren Antrag zu den Akten und stimmen fugnissen. Genau diese sind jedoch nicht vorhanden. Sie unserem Antrag zu! Zeit raubende Koordinierung unterschiedlicher Behör- den kann hier über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wie ist es um die Abwehr von Gefahren durch Hava- NEN): Letzten Montag haben meine Kollegin Silke rien bestellt? Hier sind wir besser aufgestellt. 2003 ist Stokar und ich ein Fachgespräch zu Küstenschutz und mit dem Havariekommando eine Organisationsstruktur Küstenwache veranstaltet. Die an diesem Fachgespräch bei komplexen Schadenslagen geschaffen worden, die Beteiligten wie zum Beispiel das Bundesinnenministe- (B) gegenüber der vorherigen Situation eine eindeutige Ver- rium, die Innenministerien Schleswig-Holsteins und (D) besserung darstellt. Es muss jedoch auch klar gesagt Niedersachsens und die Schutzgemeinschaft Deutsche werden: Die gute Arbeit verdanken wir dem motivierten Nordseeküste waren einer Meinung: Wir brauchen eine und engagierten Leiter des Havariekommandos sowie effektivere und effizientere Aufgabenerledigung beim dem gesamten Personal. Die gute Arbeit wird hier nicht Küstenschutz! Einig waren wir uns auch darin, dass das aufgrund, sondern trotz der bestehenden Organisations- zum 1. Januar 2003 eingerichtete gemeinsame Havarie- struktur erbracht: Klare Befehlsstrukturen existieren kommando als zentrale Führungseinheit bei komplexen auch hier nicht; auch im so genannten komplexen Scha- Schadenslagen einen wichtigen Schritt zur Bewältigung densfall fehlen dem Leiter des Havariekommandos die von Havarien darstellt. Aber dieser Schritt reicht nicht notwendigen Kompetenzen. aus. Denn nach wie vor besteht – auf der Ebene der fünf So sehen keine Strukturen aus, die innerhalb der Eu- Küstenländer sowie auf der Ebene des Bundes – ein Ne- ropäischen Union vorbildlich sein sollen. Sie halten ei- beneinander von vielfältigen Kompetenzen bei der See- nem Vergleich mit den Küstenwachen Englands, Schwe- sicherheit, der Überwachung, dem Zoll, dem BGS, der dens oder der Niederlande nicht stand. Vielmehr wird Fischereiaufsicht sowie dem Seenot- und Rettungs- am Beispiel des deutschen Havariekommandos deutlich, dienst. Wir haben also auch weiterhin eine Behörden- wie aufgrund der föderalen Aufgabenerfüllung notwen- vielfalt bei weitgehend deckungsgleicher Aufgabenstel- dige Reformen nicht am Erforderlichen, sondern am ak- lung. Diese Behörden müssen im Alltagsbetrieb und tuell Möglichen ausgerichtet werden. besonders in einer Sonderlage schneller, effektiver und kostengünstiger zusammenarbeiten. Hierzu braucht das Wie sieht es neben den geschilderten Extremsituatio- Havariekommando zunächst einen Unterbau, um im All- nen mit dem Alltagsbetrieb aus? Schon aus Kostenge- tagsgeschäft die Überwachung auf See organisieren zu sichtspunkten ist es erforderlich, alle Patrouillefahrten können. aufeinander abzustimmen, nicht nur zwischen den Boo- ten, die für den Bund unterwegs sind, sondern auch zwi- Zudem müssen wir alle Kräfte dauerhaft in einer ein- schen den Booten des Bundes und denen der Wasser- heitlichen Struktur bündeln. Eine räumliche Zusammen- schutzpolizeien der Länder. Hierauf hat bereits der legung des Havariekommandos und des Küstenwach- Rechnungshofbericht hingewiesen. Es muss möglich zentrums oder eine Leitstelle der Wasserschutzpolizei sein, dass unterschiedliche Experten auf einem Schiff mit Einbindung der „Vollzugsbehörden des Bundes“ fahren. Wenn ein Schiff auf hoher See kontrolliert wird, reichten nicht aus. Deswegen fordern wir mit unserem können sowohl Grenzdelikte als auch Zolldelikte oder Antrag die Bundesregierung dazu auf, den 1994 einge- Umweltdelikte auftreten. richteten Koordinierungsverbund Deutsche Küstenwa- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10477

(A) che zu einer neuen, effektiven Küstenwache auszubauen. Bereits zum Jahreswechsel 1992/93 gab es eine inter- (C) Wir wollen eine klare Führungs- und Leitungsstruktur fraktionelle Initiative im Deutschen Bundestag mit dem herstellen. Alle maritimen Vollzugsaufgaben müssen in Ziel, eine nationale Küstenwache zu schaffen. FDP und einer ganzheitlich zuständigen und eigenverantwortli- CDU/CSU haben bereits entsprechende Anträge einge- chen Behörde gebündelt werden. Auch die Wasser- bracht, Rot-Grün hat leider nicht entsprechend nachge- schutzpolizeien der Länder müssen darin einbezogen zogen. Die FDP ist für gründliche Reformschritte und werden. wir fordern Rot-Grün auf, Schritt zu halten. Die Vorteile dieser nationalen Küstenwache liegen Zur Verbesserung der jetzigen Situation sind Ihre For- auf der Hand: eine zentrale nationale und internationale derungen durchaus geeignet, aber Ihrem Antrag fehlt Ansprech- und Meldestelle für die Schifffahrt und die jede Vision und Perspektive für die Zukunft. Es ist an Behörden, eine effiziente und schlanke Verwaltung, Ein- der Zeit, die notwendigen Schritte zu mehr maritimer Si- sparmöglichkeiten bei Technik und Logistik, einfache cherheit zu gehen. Die Einrichtung des Haveriekomman- und klare Führungsstrukturen und damit Handlungsfä- dos war richtig und wichtig und inzwischen sind auch higkeit, bessere Bewältigung maritimer Schadenslagen. weitere Verbesserungen bei der maritimen Sicherheit er- reicht worden, aber das bisher Erreichte reicht eben noch Die Bündelung der maritimen Vollzugszuständigkei- nicht. Auch die Bemühungen, über einen Koordinie- ten ist zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Schritt, rungsverbund die Einsätze der auf See zuständigen Ab- um Nord- und Ostsee besser vor Umweltkatastrophen zu teilungen der unterschiedlichen Bundesministerien und schützen. Denn nicht nur die großen Schiffsunglücke der der Wasserschutzpolizeien besser zu verknüpfen, sind letzten Jahre waren der Grund für massive Verschmut- bislang nicht überzeugend. zungen der See. Auch die alltägliche Schadstoffbelas- tung, beispielsweise durch illegale Schiffstankreinigun- Wir brauchen einen ganzheitlichen Lösungsansatz für gen, muss verringert werden. Dies beweisen die immer die Safety- und Security-Probleme der Schifffahrt. Dabei wieder im Wattenmeer zu findenden verölten Vögel. muss auch die Leichtigkeit des Schiffsverkehrs gewähr- Auch hier müssen dauerhafte Strukturen geschaffen wer- leistet sein. den, um diese Belastungen deutlich zu verringern. Eine nationale Küstenwache bietet die Chance eines Die derzeitigen Verhandlungen in der Föderalismus- effizienteren Küstenschutzes, bei dem es im Fall von kommission bieten vermutlich auf Jahre hinaus die letzte Unfällen nicht erst lange Koordinierungsschwierigkeiten Chance, um zu einer echten Küstenwache auch unter gibt und ein Kompetenzwirrwarr entstehen kann. Eine Einbeziehung der Wasserschutzpolizeien der Länder zu effiziente Personalverwaltung kann auf diesem Weg (B) kommen. Auch aus finanziellen Gründen wäre es ebenso erreicht werden wie ein effizientes Beschaf- (D) schade, wenn ein solcher Durchbruch jetzt nicht gelänge, fungswesen; Doppelarbeit wird vermieden. da ja aus der Grobecker-Kommission bekannt ist, dass Unter Einbeziehung bisheriger Aufgaben der Länder mit deutlich weniger Personal- und Schiffseinsatz mehr sichert eine Küstenwache einheitliche Standards für die Effektivität für die Schiffssicherheit vor unseren Küsten Schifffahrt und eine faire Lastenteilung, denn von siche- zu erreichen ist. Das sollte zumindest die Finanzpolitiker ren Zufahrtswegen zu See profitieren nicht nur die Küs- zum Nachdenken veranlassen. tenländer, sondern alle Länder der Bundesrepublik. Wir alle sollten den Mut haben, jetzt durchgreifende Doch eine Küstenwache ist leichter gefordert als um- Veränderungen durchzuführen, um nicht durch eine er- gesetzt. Es ist bedauerlich, dass der Antrag der Koali- neute Katastrophe dazu gezwungen zu werden. tionsfraktionen zum Beispiel keine Aussage darüber trifft, inwieweit es sinnvoll wäre, zumindest in einem ersten Hans-Michael Goldmann (FDP): Es ist erfreulich, Schritt die Bundeskompetenzen zu bündeln. dass jetzt auch die Regierungskoalition einen Antrag in Wenn Rot-Grün Zweifel an der Effizienz einer natio- das Verfahren eingebracht hat. Jetzt steht einer gemein- nalen Küstenwache hat, sollten wir gutachterlich unter- samen Beratung aller drei Anträge in den Ausschüssen ja suchen lassen, mit welchen Schritten wir zu gutem und nichts mehr im Wege. effizientem Küstenschutz und zu sicherem Schiffsver- In den letzten elf Jahren gab es nicht nur das Pallas- kehr kommen. Vielleicht können wir uns im Rahmen der Unglück mit den daraus resultierenden 24 Empfehlun- weiteren Beratung einig werden, eine solche Studie in gen der Grobecker-Kommission, die unter anderem die Auftrag zu geben. Einrichtung einer nationalen Seewache forderte, sondern auch die Landtage von Schleswig-Holstein und Meck- Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- lenburg-Vorpommern haben sich für die Einrichtung desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: einer solchen Küstenwache ausgesprochen und ihre Heute vor genau 60 Jahren ist Island zur unabhängigen Bereitschaft signalisiert, Länderkompetenzen für eine Republik geworden. Isländer verstehen viel von der See- solche Küstenwache an den Bund abzugeben. fahrt und sie verstehen viel von Philosophie. Halldor Laxness zum Beispiel hat einmal gesagt: Der heute vorliegende Antrag bleibt leider weit hinter der einstimmig im schleswig-holsteinischen Landtag „Was die Menschen trennt, ist gering, gemessen an verabschiedeten Entschließung zurück. dem, was sie einen könnte.“ 10478 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Das zeigen die Anträge, die heute eingebracht werden folgen mit ihren Wasserschutzpolizeien die gleiche Ziel- (C) wieder einmal sehr deutlich. Fangen wir mal mit dem richtung. Gemeinsamen an; das ist atmosphärisch einfach ange- nehmer. Ich will das noch einmal ausdrücklich betonen: Die Behörden der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, des Die deutschen Küstengewässer sind sicher. Das soll Bundesgrenzschutzes, des Zolls und des Fischereischut- auch so bleiben. Mit dem 11. September 2001 ergab sich zes arbeiten bereits heute mit großer Kompetenz. Die die Notwendigkeit, auch den Seeverkehr dem gestiege- Qualität dieser Arbeit wird auch von der Schifffahrt voll nen Sicherheitsbedürfnis anzupassen. Das setzt noch ef- anerkannt. fektivere Kontrollinstrumente voraus. Der vorliegende Antrag der Koalition weist einen guten Weg: Er bündelt Die Behörden werden unterschiedlichsten Aufgaben im Einsatzfall alle Kräfte des Bundes und der Länder. Er und Anforderungen gerecht. Dafür verdienen sie unseren stellt sie unter eine klare Führung mit kurzen Entschei- Respekt und unsere Anerkennung. Natürlich kann man dungswegen. Das ist der Kern unseres Anliegens. selbst Gutes noch verbessern. Deshalb wird derzeit auch geprüft, ob und wie die gut funktionierende Zusammen- Wir können uns im Einsatzfall keine langen Kom- arbeit zwischen dem Koordinierungsverbund Küstenwa- petenzgerangel und Abstimmungsrunden leisten. che und dem Havariekommando weiter optimiert wer- Genausowenig können wir uns jahrelange Diskussionen den kann. Wir sollten aber darauf achten, dass wir die um eine Verfassungsänderung leisten. Es geht um eine bewährten bestehenden Strukturen nicht zerschlagen, Modernisierung, es geht um eine Optimierung der nur weil unbedingt etwas verändert werden soll. Küstenwache. Aber wir müssen das Rad nicht neu erfin- den. Deswegen ist der Antrag der Koalition doppelt Dazu ist das Thema zu wichtig. Es geht um die Si- wertvoll. Er weist einen Weg, die Küstenwache inner- cherheit der deutschen Küstengewässer. Die müssen wir halb der bestehenden Strukturen zu stärken. „Innerhalb dauerhaft gewährleisten. Lassen Sie uns das machen, in- der bestehenden Strukturen“ bedeutet vor allem, dass dem wir die erforderlichen Einsatzstrukturen für den wir es uns ersparen, vorher langwierige Verfassungsfra- Notfall schaffen, ohne den Alltagsbetrieb auf den Kopf gen zu klären. Ganz einfach deshalb, weil es nicht sein zu stellen. muss. Das sollte eigentlich auch von der Opposition be- grüßt werden. Anlage 5 Allerdings scheiden sich an dieser Frage in der CDU immer noch die Geister: Während die Bundestagsfrak- Zu Protokoll gegebene Reden tion eine Grundgesetzänderung fordert, lehnt die Lan- zur Beratung der Anträge: (B) desregierung in Niedersachsen sie strikt ab. Auf genau (D) solche Diskussionen müssen wir uns nicht einlassen. Wir – Wirtschaftliche und organisatorische Struk- kommen auf der Basis des geltenden Rechts zu ebenso turen der Deutschen Flugsicherung dauer- wirkungsvollen Ergebnissen. Alle notwendigen Maß- haft verbessern nahmen lassen sich im Rahmen der bestehenden Zustän- digkeiten regeln. Mit dem Koordinierungsverbund Küs- – Erträge der Deutschen Flugsicherung (DFS) tenwache und dem Havariekommando haben wir bereits durch das QTE-Lease (US-Cross Border erfolgreiche Einrichtungen, auf denen wir aufbauen kön- Leasing Transaction) vollständig bei der nen. Das wird Ihnen jeder, der sich das in Cuxhaven ein- DFS als Eigenkapital belasten mal angesehen hat, gerne bestätigen. Es ist das erklärte (Tagesordnungspunkt 19a und b) Ziel der Bundesregierung, alle relevanten Einrichtungen unter einem Dach zusammenzubringen und sie in die Hans-Günter Bruckmann (SPD): Der Luftverkehr Lage zu versetzen, im Alltagsbetrieb noch enger zusam- war und ist eine Wachstumsbranche. Aber – und das ha- menzuarbeiten. ben der 11. September 2001 und die Krankheit SARS Jede Sonderlage erfordert eine schlagkräftige Organi- gezeigt – auch in Wachstumsbranchen gibt es nicht nur sation und unmissverständliche Führungs- und Entschei- kontinuierliche Zuwächse, sondern auch starke Schwan- dungsstrukturen. Im Ernstfall muss das jeweils zuständige kungen, auf die die Beteiligten im Bereich der Luftver- Ressort umfassende Kompetenzen und Weisungsbefug- kehrswirtschaft angemessen reagieren können müssen. nisse haben. Bei einer Havarie führt der Leiter des Hava- Die wirtschaftlichen und organisatorischen Strukturen riekommandos, im Falle einer terroristischen Bedrohung der Deutschen Flugsicherung dauerhaft zu verbessern hat die Polizei das Sagen. und sie an die starken Veränderungen im Luftverkehr an- zupassen ist die gemeinsame Zielsetzung des interfrakt- Das Kernstück der gemeinsamen Einrichtung wird ionellen Antrags. das gemeinsame Führungs- und Lagezentrum. Als ein- heitliche Informationsplattform gewährleistet es eine Veränderungen sind für die DFS nichts Neues: Die schnelle und angemessene Einsatzabwicklung. Die De- Geschichte der DFS ist eine Erfolgsstory des dauerhaf- tails werden derzeit von den beteiligten Ressorts erarbei- ten Wandels. Das zeigt die Organisationsprivatisierung tet. Die Bundesregierung ist bereits mit den Ländern im der Bundesanstalt für Flugsicherung zur Deutschen Gespräch, um sie für eine Zusammenarbeit mit der Küs- Flugsicherung GmbH – DFS – zum 1. Januar 1993. Mit tenwache unter einem Dach zu gewinnen. Da können der zivil-militärischen Integration, 1994, der Beteiligung wir ganz optimistisch sein, denn die Küstenländer ver- an europäischen Projekten, ab 1996, dem DFS-Betriebs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10479

(A) stättenkonzept, 1997, dem Beitritt der DFS zur „Single dern außerordentliche Erträge zu erwirtschaften, sehr be- (C) Sky Group“, 2001, der Einführung der prozessorientier- schränkt. ten „DFS-Zielorganisation“, 2001, der Entwicklung ei- Zwar hat der Deutsche Bundestag mit der 11. Novelle nes internationalen FS-Procurementsystems, 2002, und zum Luftverkehrsgesetz der DFS die Möglichkeit einge- der internationalen Auszeichnung „Eagle Award“ der räumt, sich zusätzliche Geschäftsfelder zu erschließen, IATA – um nur einige Beispiele für einen erfolgreichen nach § 65 Bundeshaushaltsordnung dürfen aber Beteili- Wandel zu nennen – zeigt sich die Zukunftsfähigkeit der gungen von mehr als 25 Prozent nur im Einvernehmen DFS. mit dem Bundesministerium der Finanzen eingegangen Diese Strukturanpassungen müssen weitergehen. Dies werden. Hier benötigen wir größere Flexibilität, um wei- betrifft vor allem den Rahmen, in dem die DFS wirt- tere Beteiligungen der DFS in anderen Geschäftsfeldern schaftlich tätig sein kann und darf. Als der Bund 1992 möglich zu machen und zusätzlich die DFS für andere die Deutsche Flugsicherung GmbH gründete, stattete er Gesellschafter zu öffnen. sie mit einem Eigenkapital von 154,3 Millionen Euro Der bestehende Ordnungsrahmen für die DFS muss aus. Damaliges Ziel war es, mittelfristig eine Eigenkapi- daher verfassungskonform weiterentwickelt werden, talquote von 20 Prozent zu erreichen. Wir alle wissen, ohne jemals die Hauptaufgabe der DFS, die Sicherung dass es dabei ein Hindernis gibt: Dieses Hindernis ist das des Luftraums in Deutschland, infrage zu stellen. derzeitige Flugsicherungsgebührensystem, das auf Voll- kostendeckung ohne Gewinnerzielung ausgerichtet ist. Die Öffnung der DFS für andere Gesellschafter bietet In guten Zeiten funktioniert das hervorragend und wenn aber die Chance, sowohl das Eigenkapital der DFS zu alle Prognosen sogar übererfüllt worden sind – und die verstärken als auch zusätzlichen unternehmerischen Kassen geklingelt haben –, war die Lastenverteilung ge- Sachverstand für das Unternehmen zu gewinnen. recht und wurde vom Markt akzeptiert. Aber nicht alle Änderungen, die noch erforderlich In schlechten Zeiten aber – und das haben die Folgen sind, können von der DFS alleine vorgenommen werden. des 11. September 2001 und SARS gezeigt – stößt das Hier ist die Politik gefordert. Wir wollen uns dieser be- bisherige System an seine Grenzen: Die durch den Rück- rechtigten Forderung nicht verweigern und haben – nach gang der Flugbewegungen ausgelöste Unterdeckung zahlreichen und langen Verhandlungen – gemeinsam hätte es eigentlich erforderlich gemacht, diese Unterde- einen Antrag eingebracht, um die nötigen Veränderun- ckung in die Gebühren des Folgejahres einfließen zu las- gen zu ermöglichen, die die DFS zukunftsfähig machen sen. Bei gleichbleibend schlechter Konjunktur, insbe- sollen. sondere in der Luftfahrt, ist es aber schlicht nicht Dieser gemeinsame Antrag aller Fraktionen auf der möglich, diese zwangsläufig höheren Gebühren am (B) Drucksache 15/2393 ist vom Ausschuss für Verkehr, Bau- (D) Markt durchzusetzen. Es bleibt: Ein Defizit in der Kasse und Wohnungswesen in seiner Sitzung vom 11. Februar der DFS. 2004 einstimmig angenommen worden. Der ursprünglich Fakt ist: Nach wirtschaftlich erfolgreichen Jahren war von der CDU/CSU-Fraktion zu diesem Thema einge- das Eigenkapital der DFS bis zum Jahr 2000 zunächst brachte Antrag auf der Drucksache Nr. 15/1322 wurde für auf 210,4 Millionen Euro angewachsen. Durch die kon- erledigt erklärt. So weit, so gut. junkturelle Entwicklung und die Ereignisse des 11. Sep- Im Film lächeln immer alle an dieser Stelle und der tember 2001 aber hat die DFS im Wirtschaftsjahr 2001 Abspann beginnt, außer man gerät in einen französi- erstmalig mit einem handelsrechtlichen Verlust in Höhe schen Film, da beginnt das Drama dann meist erst. Im von 33,4 Millionen Euro abgeschlossen. Diese Entwick- Leben ist das gelegentlich anders, da trübt dann schon lung hat sich im Jahr 2002 fortgesetzt und wäre ebenso mal ein Wermutstropfen die Freude über die erreichten für 2003 zu erwarten gewesen, wenn nicht außerordent- Gemeinsamkeiten. liche Erträge durch das im Antrag angesprochene QTE- Leasing erzielt worden wären. Hier trägt dieser Wermutstropfen die Drucksachen- nummer 15/2828 und ist der Antrag der Opposition, die Insgesamt wäre es also besser gewesen, das Gebüh- Erträge der Deutschen Flugsicherung durch das QTE- rensystem so zu gestalten, dass derartige Schwankungen Leasing vollständig bei der DFS als Eigenkapital zu be- besser verkraftbar sind und das Eigenkapital der DFS ge- lassen. Und da fühle ich mich dann plötzlich in einen stärkt wird, getreu einem anderen, ebenso wahren französischen Film versetzt, zielt doch dieser Antrag Sprichwort: „Spare in der Zeit – dann hast Du in der darauf, den zweiten Spiegelstrich im Forderungsteil des Not“. Das ist zum einen der Grund dafür, warum das bis- gemeinsamen Antrags zu ersetzen. Dort lautet die For- herige Gebührensystem der DFS einer Reform bedarf mulierung: aber gleichzeitig auch Begründung dafür, dass wir das Eigenkapital der DFS dadurch stärken wollen, dass wir … einen durch Abschluss des QTE-Leasingvertra- einen durch Abschluss des QTE-Leasingvertrages erziel- ges erzielten einmaligen und außerordentlichen Er- ten einmaligen und außerordentlichen Ertrag in der DFS trag in der DFS als Eigenkapital zu belassen. als Eigenkapital belassen. Hintergrund dieser Formulierung war und ist die In- Aber nicht nur das Gebührensystem, sondern auch an- tention, den Ertrag aus dem QTE-Leasing zu einem Drit- dere Rahmenbedingungen für die DFS bedürfen einer tel dem allgemeinen Haushalt, zu einem Drittel dem Ver- Weiterentwicklung: Bislang sind auch die Möglichkeiten kehrsetat und zu einem Drittel der DFS zukommen zu der DFS, durch Beteiligungen in anderen Geschäftsfel- lassen. Diese Aufteilung ist jetzt weder neu noch 10480 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) ungewöhnlich und war und ist auch kein Geheimnis. Im Die Entwicklung zeigt, dass das bisherige Flugsiche- (C) Gegenteil: Alle – das wiederhole ich an dieser Stelle – rungsgebührensystem die wirtschaftliche und finanzielle alle, die an der Schaffung des gemeinsamen Antrags be- Basis der DFS nur unzureichend sichert. Es ist ein teiligt waren, wussten, dass genau diese Aufteilung und Schönwettersystem, das der DFS in wirtschaftlich nur diese Aufteilung der notwendige Kompromiss war! schlechten Zeiten zu wenig Handlungsspielraum lässt. Nach dem Luftverkehrsgesetz hat sich die DFS kosten- Wenn man dann aber nach langem Ringen und Ver- deckend über Flugsicherungsgebühren zu finanzieren. handeln – in diesem Fall wurde nun wirklich außerge- Sie werden jährlich für ein Jahr im Voraus festgesetzt. wöhnlich lange verhandelt – zu einem Kompromiss ge- Kommt wegen Planungs- bzw. Prognoseabweichungen kommen ist, dann sollte man auch zu diesem eine Über- oder Unterdeckung zustande, sind diese im Kompromiss stehen. übernächsten Gebührenjahr wieder auszugleichen. Aus diesem Grund kann ich den neuerlichen Zusatz- Wie wir 2002 erfahren mussten, ist eine Anhebung antrag wirklich nicht nachvollziehen: Er stellt einen der der Gebührensätze in wirtschaftlich schlechten Zeiten Eckpfeiler des gemeinsam zwischen allen Beteiligten aber nur bedingt möglich. Auch 2003 wäre ein Verlust ausgehandelten Kompromisses infrage. Das wissen na- zu erwarten gewesen, wenn nicht Erträge durch das US- türlich auch die Antragsteller. Cross Border Leasing erzielt worden wären. Ich rate den lieben Kolleginnen und Kollegen der Op- Daher begrüßt die Union den gemeinsamen Antrag position zur vorsichtigen Annäherung an die Realität aller Fraktionen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und an die Erkenntnis, dass nur der gemeinsame Antrag und organisatorischen Strukturen der Deutschen Flugsi- aller Fraktionen die Unterstützung aller Beteiligten fin- cherung. den konnte und finden kann und dass der neue Zusatzan- trag vor diesem Hintergrund nicht besonders sinnvoll Erstens. So soll ein neues Flugsicherungsgebühren- und schon gar nicht zielführend ist. Er kann daher auch system erarbeitet werden, welches die DFS von externen nur abgelehnt werden! Einflüssen unabhängiger macht. Es soll DFS ermögli- chen, ein angemessenes Eigenkapital zu erreichen. Dennoch möchte ich mich noch einmal bei denjenigen Zweitens. Weiterhin soll der Ordnungsrahmen für die Kolleginnen und Kollegen – aller Fraktionen – bedanken, DFS so weiterentwickelt werden, dass weitere Beteilun- die an der langwierigen Schaffung des gemeinsamen An- gen an anderen Unternehmen möglich werden. Bisher ist trags mitgewirkt haben, zur Weiterentwicklung der DFS die DFS an der European Satellite Services Provider/Eu- und des Luftfahrtstandorts Deutschland. ropean Economic Interest Group, ESSP/EEIG, beteiligt, (B) welche die Möglichkeiten des amerikanischen Satelli- (D) Norbert Königshofen (CDU/CSU): 1992 hat der tensystems GPS in der Zivilluftfahrt nutzen will. Die Bundestag mit der 10. Novelle zum Luftverkehrsgesetz DFS will sich darüber hinaus an der „Flight Calibration die Organisationsprivatisierung der Flugsicherung in Services GmbH“ beteiligen, die Navigationsanlagen Deutschland durchgesetzt. Daraufhin gründete der Bund flugvermisst. An ihr sind bereits die österreichische die DFS Deutsche Flugsicherung GmbH. Wegen ihrer Flugsicherung Austro Control und die schweizerische Kernaufgabe der Luftverkehrskontrolle muss sie sich aus Flugsicherung Skyguide beteiligt. verfassungsrechtlichen Gründen mehrheitlich in Bun- deseigentum befinden. Tatsächlich gehört die DFS bis Ferner strebt die DFS eine echte Beteiligung an der heute noch zu 100 Prozent dem Bund. „Group EAD Europe SL“, GEAD, mit Sitz in Madrid an. Die GEAD wird im Auftrag Eurocontrols im Raum Das Eigenkapital der DFS betrug bei Gründung Frankfurt und in Madrid den Betrieb einer europäischen 154,3 Millionen Euro und sollte durch handelsrechtliche Datenbank zur Bereitstellung von Daten für die Flugvor- Gewinne aufgestockt werden. Im Jahr 2000 war das Ei- bereitung der Luftraumnutzer aufnehmen. Die DFS hat genkapital dann auf 210,4 Millionen Euro angewachsen. dies mitentwickelt und aufgebaut. Ihre Anteile werden Die Entwicklung der DFS war anfangs eine Erfolgsstory. bisher treuhänderisch von anderen Gesellschaftern ge- Im Jahr 2000 wurde ihr vom internationalen Verband der halten. Fluggesellschaften, IATA der „Eagle Award“ als bester Drittens. Die Weiterentwicklung des Ordnungsrah- Flugsicherungsdienstleister der Welt verliehen. Der Ver- mens soll auch eine Kapitalprivatisierung ermöglichen. band würdigte so die Leistungen der DFS bei Sicherheit, Die DFS muss zwar wegen des sonderpolizeilichen Cha- Pünktlichkeit und Kostenbewusstsein. rakters der Flugsicherung mehrheitlich in Bundeseigen- Der terroristische Anschlag auf das World Trade Cen- tum bleiben, eine Minderheitenbeteiligung privater Ge- ter am 11. September 2001 sowie die allgemeine kon- sellschafter ist aber ohne weiteres möglich und aus Sicht junkturelle Entwicklung haben den internationalen Luft- der Union auch sinnvoll. verkehr schwer beeinträchtigt. In der Folge schloss die Viertens. Schließlich soll der durch den Abschluss des DFS das Wirtschaftsjahr 2001 mit einem handelsrechtli- QTE-Leasingvertrages erzielte einmalige außerordentli- chen Verlust in Höhe von 33,4 Millionen Euro ab. Auch che Ertrag in Höhe von rund 78 Millionen Euro der DFS 2002 betrug der Verlust rund 30 Millionen Euro. Die als Eigenkapital belassen werden. Folge war, dass das Eigenkapital auf rund 141 Millionen Euro zurückging. Gleichzeitig wuchs die Verschuldung Es ist in den ersten Gesprächen über den gemeinsa- der DFS bis Ende 2002 auf rund 600 Millionen Euro. men Antrag deutlich geworden, dass die Regierung der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10481

(A) DFS nur einen Teil des Ertrages zugestehen wollte. Al- Die Schwäche des bestehenden Systems hat sich be- (C) lerdings waren wir von der Union der Auffassung, dass reits nach den furchtbaren Ereignissen des 11. Septem- sich dies durch Zeitablauf erledigt hatte. So ist eine erste ber 2001 und den darauf folgenden schweren Jahren für Tranche in Höhe von circa 9,1 Millionen Euro bereits im die Luftfahrt mit Irakkrieg, SARS und der allgemeinen Jahr 2002 in die Bilanz eingestellt worden. Auch die Konjunkturschwäche gezeigt. Die prognostizierten Ver- zweite Tranche in Höhe von circa 68,9 Millionen Euro kehrszahlen für die Jahre 2001 und 2002 lagen dermaßen ist in die Bilanz eingestellt worden, und zwar im Jahr über dem tatsächlichen Aufkommen, dass die festgesetz- 2003. ten Gebühren bei weitem nicht ausreichten, um die Kos- ten zu decken. Die Deutsche Flugsicherung war gezwun- Daher geht es also nur um die Frage, ob der Bund als gen, die Verluste zunächst aus dem Eigenkapital Gesellschafter einen Teil des 2003 erzielten Bilanzge- auszugleichen. Eine Gebührenerhöhung war unaus- winns an sich abführen lassen will. Das gilt auch für die weichlich; sie hat die Fluggesellschaften dann aber folgenden Jahre, allerdings unter der Voraussetzung, dass Gewinne erzielt werden. Die Union ist der Auffas- gerade zu einer Zeit getroffen, in der sie durch eigene sung, dass der Bilanzgewinn von 2003 und eventuell er- massivste Einnahmeausfälle eigentlich zum Kostenspa- zielte zukünftige Bilanzgewinne in voller Höhe im Un- ren gezwungen waren. ternehmen verbleiben sollen. Diese Maßnahmen Wir brauchen daher dringend ein neues Flugsiche- erhöhen die Eigenkapitalquote der DFS. Und nur so rungsgebührensystem, das diese Unwägbarkeiten ab- kann die wirtschaftliche Struktur der DFS stabilisiert fängt. Dabei darf die Eigenkapitalgrundlage nicht weiter werden. Im Übrigen werden die Gewinne durch die ge- dezimiert werden. Im Gegenteil: Die Deutsche Flug- samte Geschäftstätigkeit erwirtschaftet. sicherung muss endlich die Quote von mindestens Die Union stimmt dem gemeinsamen Antrag aller 20 Prozent erreichen. Vergleichbare Unternehmen besit- Fraktionen zu. Gleichzeitig bitten wir die Koalitions- zen eine Eigenkapitalquote zwischen 20 und 40 Prozent. fraktionen nachdrücklich, dem Klarstellungsantrag von Zur Aufstockung ihres Eigenkapitals braucht die Deut- Union und FDP zur Verwendung der QTE-Erlöse zuzu- sche Flugsicherung einen größeren Handlungsspielraum. stimmen. Dies wäre nicht nur im Interesse der Deut- Dies war bei der Organisationsprivatisierung im Jahre schen Flugsicherung. Die gesamte deutsche Luftver- 1993 auch als notwendiges und legitimes Mittel von al- kehrswirtschaft würde davon profitieren. len beteiligten politischen Kräften anerkannt worden. Eine Maßnahme in diesem Sinne ist das Cross-Bor- Eduard Oswald (CDU/CSU): In vielen Fragen der der-Leasing-Geschäft (QTE-Leasing) der Deutschen Verkehrspolitik, die uns im Augenblick bewegen, sind Flugsicherung aus dem Jahre 2002/2003, das über posi- (B) wir mit Rot-Grün durchaus nicht einer Meinung. Umso tive Steuereffekte bei Investoren in den USA unmittel- (D) erfreulicher ist es, dass wir uns in einem sehr wichtigen bare Mittelzuflüsse an das Unternehmen zur Folge hatte. Sektor des Luftverkehrs mit der FDP und der Regie- Umso weniger ist verständlich, warum die rot-grüne rungskoalition auf gemeinsame Ziele verständigt haben. Bundesregierung die Formulierung „einen durch Ab- Es geht um die Flugsicherung! Nach der Organisations- schluss des QTE-Leasingvertrages erzielten einmaligen privatisierung von 1993 wollen wir, dass die Eigenver- und außerordentlichen Ertrag in der Deutschen Flugsi- antwortung der Gesellschaft gestärkt wird. Die Bundes- cherung als Eigenkapital zu belassen“ offenbar aus- regierung muss hierzu die entsprechenden Weichen schließlich in ihrem Sinne interpretiert. Es war niemals stellen. die Rede davon, dass „interne Absprachen“ oder „Res- Wenn wir in unserem gemeinsamen Antrag fordern, sortvereinbarungen“ der betroffenen Ministerien diesen ein neues Flugsicherungsgebührensystem zu erarbeiten, Satz quasi unerkannt limitieren könnten. so geschieht das, weil das bestehende System nicht ge- eignet ist, im europäischen Wettbewerb zu bestehen. Das Wenn sich die Regierungskoalition nun darauf zu- gilt zum einen für die Nutzer von Flugsicherungsdienst- rückzieht, es bestehe eine Vereinbarung, die Erlöse aus leistungen wie die Fluggesellschaften, die mit unflexi- dem QTE nur zu einem Drittel bei der Deutschen Flug- blen Gebührenmodellen konfrontiert werden. Das gilt sicherung zu belassen und ansonsten jeweils zu einem erst recht für unsere Deutsche Flugsicherung, die in ei- Drittel an die Bundesministerien der Finanzen und für nem europäischen Markt, der dank Single European Sky Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auszuschütten, so ist im Entstehen ist, in ihrer Situation nur unzureichend das abenteuerlich. Der Finanzminister will sich offenbar „Preispolitik“ betreiben kann und damit einen Wettbe- eine neue Geldquelle erschließen. Nicht nur der Straßen- werbsnachteil hat und behielte. verkehr soll also dazu herhalten, den maroden Haushalt aufzubessern – Minister Eichel hat nun auch die Flug- Das bestehende Gebührensystem beruht auf einer Be- sicherung entdeckt. rechnung der Kosten der Deutschen Flugsicherung unter Zugrundelegung des zu erwartenden Verkehrsaufkom- Von welchen Zahlen sprechen wir? Die in der Luftver- mens. Die Gebührenhöhe deckt damit im Idealfall sämt- kehrswirtschaft verheerenden Jahre 2001 und 2002 ha- liche Kosten; allein die für ein privatwirtschaftlich orga- ben bei der Deutschen Flugsicherung Verluste in Höhe nisiertes Unternehmen notwendige Eigenkapitalquote von circa 55 Millionen Euro verursacht, die unmittelbar kann damit aber nicht auf ein notwendiges Maß erhöht nur durch die Erlöse aus dem QTE-Geschäft in Höhe von werden – geschweige denn, dass die Bildung von Reser- netto 78 Millionen Euro kompensiert werden konnten. ven für schwerere Zeiten möglich wäre. Ohne den QTE-Erlös verbliebe die Eigenkapitalquote bei 10482 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) geschätzten 11,5 statt bislang noch 18,5 Prozent für das zum Luftverkehrsgesetz auf den Weg gebracht haben. (C) Jahr 2004. Warum, frage ich mich, fällt es den befassten Ministe- rien immer noch so schwer, dem Gesetz Geltung zu Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, sich mit verschaffen? Wozu haben wir es der Deutschen Flugsi- der Industrie an der Initiative „Luftverkehr für Deutsch- cherung durch die 11. Novelle denn ermöglicht, Beteili- land“ zu beteiligen. Gemeinsames Ziel ist eine Kosten- gungen einzugehen, um außerhalb des Gebührenkreis- senkung im Gesamtsystem, die durch Steigerung der laufs Erträge zu erwirtschaften, wenn beantragte Effizienz, Straffung von Prozessen und Beseitigung Genehmigungen für Beteiligungen nicht erteilt werden? bürokratischer Hemmnisse erreicht werden soll. Ein Teil Die Deutsche Flugsicherung ist zum Beispiel mittelbar dieses Gesamtsystems macht dabei auch die Flugsiche- an einer internationalen Gesellschaft beteiligt, die als rung aus, deren Organisations- und Gebührenstruktur da- zentrale Referenzdatenbank Luftfahrtinformationen in bei zukunftsfest gemacht werden soll. Die Bundesregie- Europa über Eurocontrol bereitstellt. Einer von der rung muss sich die Frage gefallen lassen, warum sie die Deutschen Flugsicherung beantragten Umwandlung der Initiative „Luftverkehr für Deutschland“ unterstützt, sich mittelbaren in eine direkte Beteiligung hat das Bundes- aber nicht an die Ziele gebunden fühlt. ministerium der Finanzen bisher nicht entsprochen. Es reicht nicht mehr länger aus, nur ein nationales Schon an dem Unternehmenszweck der in Rede stehen- Süppchen zu kochen, insbesondere dann nicht, wenn es den Beteiligung ist unschwer ablesbar, dass sie unmittel- uns mittelfristig von den internationalen Mitbewerbern bar mit dem Kerngeschäft der Deutschen Flugsicherung versalzen werden könnte. Wenn wir über den Suppentel- verknüpft und daher schon aus diesem Grunde völlig lerrand hinausschauen, können wir etwa in Kanada und unbedenklich ist. Darüber hinaus ist die Deutsche Flug- Neuseeland sehen, wie ehemalige Behörden für Flug- sicherung nur Konsortialpartner in einem Verbund euro- sicherung sicher, effizient, profitabel und auf wirtschaft- päischer Flugsicherungsdienstleister, der bereits eben- lich sicherem Grund hochprofessionell agieren. falls direkte Beteiligungen hält. Unsere Deutsche Flugsicherung ist im Jahre 2001 zur Unabhängig davon muss die Flugsicherung flexibel besten Flugsicherung der Welt gekürt worden. Es wird und handlungsfähig gemacht werden, wenn zukünftig Zeit, dass wir als Parlament die Voraussetzungen schaf- strategische Entscheidungen zum Erwerb von weiteren fen, dass sie es spätestens in den Jahren 2006, 2007, Beteiligungen anstehen. Natürlich darf kein zusätzliches 2008 wieder wird. Alle Beteiligten im Luftverkehr müs- Haushaltsrisiko für den Bund entstehen. Aber befürchtet sen für den internationalen Wettbewerb bestmöglich ge- der Finanzminister denn wirklich, die Fluglotsenorgani- rüstet sein. Es gilt, die Chancen des Luftverkehrsstand- sation wollte Würstchenbuden betreiben oder Kernkraft- ortes Deutschland zu stärken. Wie aber soll das gehen, werke bauen? (B) wenn dringend benötigtes Geld aus dem Wirtschafts- (D) kreislauf der Deutschen Flugsicherung fast vollständig Wir haben erlebt, dass Kapitalprivatisierungen ehe- abgeschöpft werden soll? mals staatlicher Unternehmen positive Effekte haben können. Ich glaube, dass dies auch für den Bereich der Um das zu verhindern, haben wir zusammen mit der Flugsicherung gilt. Das muss bedacht und überlegt ange- FDP-Fraktion einen zusätzlichen Antrag eingebracht. gangen werden nach der Devise: So viel Privatisierung Wir stellen damit klar, dass wir im Gegensatz zur rot- wie nötig bei so viel Sicherheit wie möglich. Davon grünen Regierung keine kurzfristige Interventionspolitik müssen sich die Entscheidungsträger leiten lassen. Ich betreiben, sondern nachhaltige Verkehrspolitik: Der bin der festen Meinung, dass an diesem mittelfristigen QTE-Barwertvorteil ermöglicht es der Deutschen Flug- Ziel kein Weg vorbeiführt, wenn wir eine schlagkräftige, sicherung, erstens schneller die Verluste aus den Vorjah- reaktions- und wettbewerbsfähige Flugsicherung haben ren auszugleichen und zweitens, den darüber hinaus er- wollen. Dies käme auch den Fluggesellschaften zugute, zielten Jahresüberschuss zur Stärkung des Eigenkapitals wenn sie sich entscheiden sollten – etwa als weitere Ge- zu verwenden. Das kommt auch den Fluggesellschaften sellschafter – ein Mitspracherecht bei der Deutschen mittelbar zugute, weil die Deutsche Flugsicherung damit Flugsicherung zu erwerben. eine solidere Finanzstruktur hat, als es ohne QTE-Erlös der Fall gewesen wäre. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Bundesregierung Ihren Verpflichtungen nachkommt und Wir müssen die Initiative ergreifen und der Bundesre- zügig die notwendigen Maßnahmen ergreift, um die gierung klarmachen, dass wir uns die Butter nicht vom Deutsche Flugsicherung weiterhin – auch international – Brot nehmen lassen. Der Wille des Parlaments darf nicht als Vorzeigeunternehmen zu erhalten! nachträglich verfälscht werden, nur weil es offenbar Ab- sprachen in den Regierungsressorts gegeben hat. Wir ha- ben eine ganz klare und übereinstimmende Meinung ver- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE treten: Der durch das QTE-Cross-Border-Leasing- GRÜNEN): Während der landgebundene Verkehr sta- Geschäft erzielte Jahresüberschuss muss in Gänze bei gniert oder rückläufig ist, wie im Falle des motorisierten der Deutschen Flugsicherung verbleiben. Individualverkehrs, nimmt der Luftverkehr deutlich zu. Allein im ersten Quartal 2004 nahm die Zahl der inner- Außerdem haben wir mit dem fraktionsübergreifen- deutschen Flüge um 2,1 Prozent auf 5,3 Millionen Flug- den Antrag die Weiterentwicklung des Ordnungsrah- gäste zu. Im internationalen Flugverkehr schnellten die mens für die Deutsche Flugsicherung gefordert. Es ist Zahlen sogar um 12,3 Prozent auf 11,1 Millionen Passa- bereits fünf Jahre her, dass wir das 11. Änderungsgesetz giere. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10483

(A) Diese Flugbewegungen von und nach Deutschland Deutschen Flugsicherung zu erhalten, zu stärken und auf (C) und über dem deutschen Luftraum sicher abzuwickeln, die Ebene anzuheben, die im Gründungsgesetz vorgese- ist Aufgabe der Deutsche Flugsicherung GmbH. Allein hen war. Es ist ausgesprochen kontraproduktiv, wenn der im Jahr 2003 kontrollierte die DFS rund 2,5 Millionen Bundeskanzler der Lufthansa gegenüber erklärt, nach Flüge im deutschen Luftraum. dem 11. September 2001 könne man nicht die Flugsiche- rungsgebühren erhöhen, ohne umgekehrt in gleicher Bei der Umwandlung der Bundesanstalt für Flugsi- Konsequenz der Deutschen Flugsicherung dann entwe- cherung in die Deutsche Flugsicherung GmbH als bun- der die Vorschrift der kostendeckenden Gebühren zu deseigenes, aber privatrechtlich organisiertes Unterneh- nehmen oder aber zumindest bei der Abführung an den men zum 1. Januar 1993 stand der Gedanke Pate, dass Finanzminister ebenfalls Gutschriften vorzunehmen. die hoheitliche Aufgabe der Flugsicherung zwar eigentü- Ganz besonders dramatisch wird es, wenn die Geschäfts- merisch weiterhin im Besitz des Bundes bleiben soll, führung der Deutschen Flugsicherung in einem Verfah- dass aber gleichzeitig unternehmerisch in einem sich li- ren aufzeigt, dass es möglich ist, selbst zur Eigenkapital- beralisierenden europäischen Luftraum agiert werden basis beizutragen und dieses zusätzliche Kapital dann soll. Diese Liberalisierung ging nicht nur nicht auf Kos- nicht der Flugsicherung verbleibt, sondern ebenfalls ten der Sicherheit, im Gegenteil: Die Zahl der gefährli- beim Finanzminister abzugeben ist. chen Flugzeugannäherungen geht kontinuierlich zurück. Als sich das tragische Unglück des Zusammenstoßes ei- Es kommt darauf an, zunächst die Anregungen der ner russischen Passagiermaschine mit einer Frachtma- 11. Luftfahrtnovelle aus 1998 umzusetzen und der Deut- schine in Überlingen am Bodensee ereignete, war die schen Flugsicherung zu ermöglichen, geschäftsrele- schweizerische Flugsicherung zuständig. vante zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und damit ihre Ertragssituation zu verbessern. Es kommt zweitens Die DFS hat die Chance der privatrechtlichen Organi- darauf an, für eine ausgewogenere Kostenstruktur zu sation ergriffen und genutzt. Das langjährige Know-how sorgen und der Flugsicherung zu ermöglichen, in guten ist mittlerweile in mehreren strategischen Geschäftsbe- Zeiten Rückstellungen zu bilden, damit nicht in schlech- reichen zusammengeführt. Dazu gehören zum Beispiel teren Zeiten für die Luftfahrt sofort Kostenstrukturen Bereiche wie die Flugvermessung oder das Consulting- verändert werden müssen. Und es kommt vor allen Din- Geschäft. Mit diesen und weiteren Dienstleistungen gen drittens darauf an, dass die Verwaltung endlich die kann die DFS am Markt erfolgreich sein, wenn man Vorschriften umsetzt, die der Gesetzgeber erlässt. Das ist – und das ist in diesem Fall der Eigentümer Bund – sie insbesondere deswegen wichtig, weil sich auch in der lässt. Flugsicherung der Wettbewerb verstärkt und wir der Voraussetzung für den weiteren wirtschaftlichen Er- Überzeugung sind, dass die Deutsche Flugsicherung mit den vom Gesetzgeber vorgegebenen Möglichkeiten (B) folg der DFS ist daher zum einen die Bildung einer an- (D) gemessenen Eigenkapitalquote, die unabhängig von ex- durchaus in der Lage ist, im europäischen Wettbewerb ternen Einflüssen ist, sowie zum anderen ein neuer zu bestehen und sich dort entsprechend zu positionieren. Ordnungsrahmen, der der DFS die Beteiligung an ande- Wir werden als Parlament zügig die Umsetzung der ren Gesellschaften erlaubt oder eine Beteiligung anderer gesetzlichen Vorschriften überprüfen und uns nicht Gesellschafter an der DFS. Dies kommt, in dem gemein- scheuen, den Finger erneut in die Wunde zu legen und samen Entschließungantrag aller Fraktionen zum Aus- das Thema öffentlich zu debattieren. druck den unsere Fraktion ausdrücklich unterstützt. Iris Gleicke, Parlamentarische Staatssekretärin beim Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Es ist gute Tradi- Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: tion, dass sich der Deutsche Bundestag, insbesondere der Es ist dieses Haus, dem die DFS Deutsche Flugsiche- Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages, intensiv rung GmbH ihre Existenz zu verdanken hat. Damals, mit dem Wohl und Wehe der Deutschen Flugsicherung Anfang der 90er-Jahre, gab es zwei wesentliche Gründe befasst, denn es ist ein Kind des Bundestages als leuch- für die „Geburt“ der DFS: Die Flugsicherung in tendes Beispiel einer gelungenen Organisationsprivati- Deutschland sollte mit der Organisationsprivatisierung sierung. Leider wird der Vollzug bestimmter Gesetze, so von drei Beschränkungen befreit werden, die die opti- zum Beispiel der Luftfahrtnovelle aus dem Jahr 1998, male Leistungsfähigkeit behinderten: den Beschränkun- nach wie vor vom Finanzministerium nicht in der Weise gen des Beamtenrechts und den Beschränkungen des umgesetzt, wie es der Gesetzgeber vorgesehen hat. Ne- Bundeshaushaltes, um damit das Personal der Aufgaben- ben diesem eigentlichen Ärgernis wurde und wird die Si- stellung entsprechend bezahlen zu können, um das Per- tuation der Deutschen Flugsicherung durch aus Sicht der sonal unabhängig vom Laufbahnsystem des öffentlichen Liberalen falsche Entscheidungen des Finanzministeri- Dienstes einstellen zu können und um erforderliche In- ums, aber auch durch schwerwiegende Aussagen des vestitionen zum Ausbau der Flugsicherungssysteme un- Bundeskanzlers vor dem Hintergrund der Ereignisse des ter wirtschaftlichen Bedingungen tätigen zu können. 11. September 2001 nicht sachgerecht genug weiterge- führt. Die von der Bundesregierung betriebene Organisa- tionsprivatisierung der Flugsicherung entwickelte sich zu Der gemeinsam von allen Fraktionen erarbeitete An- einem vollen Erfolg; die „neue“ Flugsicherung, die DFS, trag mit dem Titel „Wirtschaftliche und organisatorische hielt, was man von ihr erwartet hatte. Als äußerlich am Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft ver- besten sichtbares Zeichen konnten – nicht zuletzt natür- bessern“ versucht nochmals aufzuzeigen, dass es insbe- lich aufgrund günstiger äußerer Bedingungen – die Flug- sondere darauf ankommt, die Eigenkapitalbasis der sicherungsgebühren in den 90er-Jahren mehrfach in der 10484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Folge gesenkt werden. Günstige äußere Bedingungen die Eigenkapitalquote der DFS wieder verbessert werden (C) – dazu gehört eine gesunde Luftverkehrsbranche insge- konnte, auch ohne dass die QTE-Erträge aus dem US- samt, bei der die Kunden der DFS in ausreichendem Cross-Border-Leasing-Geschäft im Unternehmen belas- Umfang ihre Dienste in Anspruch nehmen und für diese sen werden müssen. Dennoch ist die Bundesregierung Dienste bezahlen. – Ressortabsprache von BMVBW und BMF – bereit, ein Drittel der Erträge im Unternehmen zu belassen. Die an- Leider haben uns diese günstigen Bedingungen im deren zwei Drittel sollen dem Verkehrshaushalt bzw. Jahr 2001 vorübergehend verlassen. Die Luftverkehrsbe- dem allgemeinen Haushalt als Einnahmen zufließen. Da- wegungen entwickelten sich entgegen den Prognosen neben erarbeitet die Europäische Kommission derzeit im rückläufig und machten damit eine Schwäche des Ge- Rahmen der Initiative zum Einheitlichen Europäischen bührensystems in der Form, wie es heute international Luftraum einen Verordnungsentwurf mit Grundsätzen festgelegt ist, erstmals ausgerechnet in einer Phase der zur Erhebung von Flugsicherungsgebühren. Die Bundes- Schwäche der Luftfahrtbranche sehr deutlich sichtbar: regierung setzt sich dafür ein, hierbei nach Möglichkei- Rückläufige Verkehrszahlen bedeuteten verminderte ten zu suchen zur Entkopplung von Schwächeperioden Einnahmen der DFS, das heißt Unterdeckung des Bud- in der Luftverkehrsentwicklung von der Gebührenhöhe gets. Um diese Unterdeckung im Rahmen der bestehen- oder zumindest einer weitestmöglichen Abmilderung der den Finanzierungsregeln auszugleichen, mussten die Ge- Effekte. Und sie ist um Spielräume bemüht, über mögli- bühren erhöht werden, mit zusätzlicher Belastung für die che Gewinne die Eigenkapitalquote der DFS erhöhen zu kränkelnde Luftverkehrsbranche. Hier konnte eine Ab- können. milderung dieses Effektes nur durch ausnahmsweise und frühest möglich wieder zu kompensierende Inanspruch- Vor dem dargestellten Hintergrund kann ich es ab- nahme der DFS-Eigenkapitalquote erreicht werden, so- schließend kurz machen. Ich bitte um Zustimmung zur dass die Gebühren nur um einen entsprechend reduzier- Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2634, das ten Anteil erhöht werden mussten. Erfreulich ist, dass heißt Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD, sich die Verluste der DFS auf die Jahre 2001 und 2002 CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP ge- beschränken. mäß Drucksache 15/2393 „Wirtschaftliche und organisa- torische Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauer- Unabhängig von diesen wieder sehr viel positiveren haft verbessern“ und Erledigterklärung des Antrags von Rahmenbedingungen sind wir heute hier im Bundestag Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion gemäß Drucksa- mit der Frage der gesunden Eigenkapitalquote der DFS che 15/1322 mit dem gleichen Titel. Den Antrag der und insgesamt einer dauerhaften Verbesserung der wirt- Fraktionen der CDU/CSU und der FDP gemäß Drucksa- schaftlichen und organisatorischen Bedingungen der che 15/2827 „Erträge der Deutschen Flugsicherung, DFS befasst, um künftig besser gegen Schwächeperio- DFS, durch das QTE-Lease, US-Cross Border Leasing (B) den gewappnet zu sein, aber auch um die DFS fit zu ma- (D) chen für Veränderungen im europäischen Umfeld. Transaction, vollständig bei der DFS als Eigenkapital belassen“ bitte ich abzulehnen, weil das Ziel, die Eigen- Punkt l, europäisches Umfeld und organisatorische kapitalquote der DFS zu verbessern, inzwischen wie Strukturen: Die EG-Verordnungen zur Schaffung eines dargelegt auf andere Weise erreicht wird und die Bun- Einheitlichen Europäischen Luftraumes verlangen künf- desregierung nicht zuletzt mit dem Projekt zur Kapital- tig eine Zertifizierung der Flugsicherungsdienste, die un- privatisierung der DFS intensiv an der Verbesserung der ter anderem eine ausreichende finanzielle Kraft der Un- Rahmenbedingungen für den Luftverkehr in Deutsch- ternehmen voraussetzen. Nach aller Voraussicht wird es land arbeitet. zu Kooperationen und Zusammenschlüssen von europäi- schen Flugsicherungsunternehmen kommen. Es werden sich mittelfristig nur einige wenige behaupten können, Anlage 6 wobei auch strategische Beteiligungen an branchenrele- vanten anderen Unternehmen zur notwendigen starken zu Protokoll gegebene Reden Position beitragen. zur Beratung der Beschlussempfehlungen und Punkt 2, die DFS selbst, unter Verantwortung dieses Berichte: Hauses entstanden, möchte sich zur Erfüllung ihrer Auf- – Chancen und Potenziale des Deutschland- gaben an anderen Unternehmen beteiligen können und tourismus in der erweiterten Europäischen neben ihren Kernaufgaben auch andere Geschäftsfelder Union konsequent nutzen betreiben – Nebengeschäfte –, um eine starke Position in Europa abzusichern. Das BMF fordert mit Verweis auf – Den Tourismus stärken – Chancen der EU- die Privatisierungspolitik der Bundesregierung als Vo- Erweiterung nutzen raussetzung für solche Unternehmensbeteiligungen eine möglichst weit gehende Kapitalprivatisierung der DFS, – Unterstützung grenzübergreifender kom- bevor es solchen Beteiligungen zustimmt. Ein entspre- munaler Zusammenarbeit im Rahmen der chendes ressortübergreifendes Projekt zur Kapitalpriva- EU-Osterweiterung tisierung hat inzwischen seine Arbeit aufgenommen. (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Punkt 3, die Eigenkapitalquote der DFS: Die eben von mir bereits angesprochenen positiven Veränderun- Brunhilde Irber (SPD): Am 1. Mai 2004 sind acht gen in der Luftverkehrsentwicklung und Effizienzsteige- mittel- und osteuropäische Staaten sowie Malta und Zy- rungsmaßnahmen in der DFS haben dazu geführt, dass pern der Europäischen Union beigetreten. Dies war und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10485

(A) wird weiterhin ein historisches Datum für Europa sein. auf: Zur Realisierung bedeutender grenzüberschreiten- (C) Die Beitrittsstaaten und die bisherigen Mitgliedstaaten der Verkehrsprojekte hat der Bund für den Zeitraum von haben mit aller Kraft jahrelang darauf hingearbeitet. Mit 1999 bis 2007 über 4,7 Milliarden Euro an Investitions- der Erweiterung wurde fast 15 Jahre nach dem Ende des mitteln bereitgestellt. In den Jahren 2000 bis 2006 kön- Ost-West-Konfliktes die Spaltung des europäischen nen die Grenzregionen an den Fördermitteln der Struk- Kontinentes überwunden. Die Erweiterung schafft nicht turfonds sowie anderer EU-Förderprogramme in Höhe nur Stabilität für Frieden und Freiheit, sondern auch Si- von insgesamt 16,3 Milliarden Euro partizipieren. Dazu cherheit und Wohlstand für ganz Europa. Hierzu werden kommen Anteile aus der „Gemeinschaftsaktion für nicht nur die neuen wirtschaftlichen Beziehungen beitra- Grenzregionen“, für die zusätzliche Finanzmittel in gen, sondern auch in ganz entscheidender Form der Tou- Höhe von rund 265 Millionen Euro von der EU vorgese- rismus. Neben vielen anderen Maßnahmen trägt das ge- hen sind. genseitige Kennenlernen, mithin der Tourismus, zum Verstehen und Akzeptieren anderer Nationen und Kul- Die Bewältigung des Strukturwandels in den vier turkreise bei und sichert somit eine friedliche und si- Grenzbundesländern wird insbesondere mit der Bund- chere Zukunft in Europa. Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio- nalen Wirtschaftsstruktur“ unterstützt. Hierfür wurden al- In unserem Antrag legen wir die Chancen und Poten- lein im Jahre 2002 rund 1 034 Millionen Euro vom Bund ziale, die sich durch die EU-Erweiterung ergeben, für und von den Ländern bereitgestellt. Darüber hinaus erhal- den Tourismus dar. Bereits im Jahr 2003 verzeichneten ten gewerbliche Unternehmen für Investitionen in den die mittel- und osteuropäischen Staaten ein Gesamtvolu- ostdeutschen Grenzregionen eine erhöhte steuerliche men von 39,7 Millionen Auslandsreisen. Davon entfie- Förderung nach dem Investitionszulagengesetz. len alleine auf Deutschland 6,1 Millionen Reisen. Das bedeutet für den Incomingtourismus in Deutschland ei- Die europäischen Maßnahmen gewährleisten im Zu- nen Gesamtumsatz von 2,7 Milliarden Euro. Die drei für sammenwirken mit den nationalen Fördermöglichkeiten Deutschland wichtigsten osteuropäischen Quellmärkte eine erfolgreiche Flankierung der EU-Erweiterung in unter den Beitrittsstaaten sind heute Polen mit Deutschland und vor allem in den deutschen Grenzregio- 2,8 Millionen, die Tschechische Republik mit nen. Dies bietet hervorragende Ausgangsbedingungen 1,1 Millionen und Ungarn mit etwa 408 000 Reisen. In für grenzübergreifende Tourismuskooperationsprojekte. Polen ist Deutschland mit einem Marktanteil von Um im Wettbewerb der touristischen Regionen zu beste- 35 Prozent Reiseziel Nummer eins. In den anderen hen, müssen die Anbieter ihren Blick auf die eigene Märkten hat Deutschland mit einem Marktanteil von Leistungsfähigkeit richten. Deutsche Destinationen müs- 10 bis 20 Prozent sehr positive Wachstumsprognosen. sen ihr eigenes authentisches Profil stärken, spezielle (B) Bereits für 2005 rechnet die Deutsche Zentrale für Tou- Angebotsvorteile vermarkten und neue Trends zielge- (D) rismus – DZT – mit einem Anstieg der Reisen aus den richtet besetzen. acht osteuropäischen Beitrittsländern um 700 000 auf Mit unserem Antrag unterstützen wir die Tourismus- 5,6 Millionen Reisen. Die finanzielle Ausstattung der wirtschaft in Deutschland. Die Bundesregierung wird DZT durch den Bund – von 1998 bis 2003 Steigerung weiterhin mit geeigneten Maßnahmen die sich bietenden um über 25 Prozent –, ermöglicht es der DZT, diese Chancen durch die EU-Erweiterung für den Tourismus Märkte gut zu erschließen. Die DZT unternimmt derzeit in Deutschland effektiv unterstützen. eine Vielzahl von Aktivitäten, um den Quellmarkt der Beitrittsländer erfolgreich zu bearbeiten. Bereits seit Es wird sichergestellt werden, dass die Deutsche Zen- Mitte der 90er-Jahre ist die DZT mit Vertriebsagenturen trale für Tourismus ihre Arbeit in den ost- und mittel- in Budapest, Prag und Warschau präsent. In den vergan- europäischen Beitrittsländern fortsetzen und intensivie- genen zwei Jahren wurde mit der Marktbearbeitung in ren kann. der Slowakei und in Slowenien begonnen. Das DZT- Den ost- und mitteleuropäischen Staaten wird Hilfe Büro in Kopenhagen ist zudem seit 1999 auch in den und Unterstützung bei der natur- und umweltfreundlichen baltischen Staaten aktiv. Die DZT stärkt mit dieser Ar- Entwicklung des Tourismus gegeben werden. Hierbei beit ganz entscheidend die heimische Tourismuswirt- wird auf unsere Erfahrung mit der Umweltweltdach- schaft. marke „Viabono“ zurückgegriffen werden. Mit finanziel- Mit steigendem Wohlstand in den Beitrittsländern ler Unterstützung des BMU werden bereits in diesem wird sich auch der Urlaubstourismus positiv entwickeln. Herbst Informationsworkshops in Estland, Lettland, Po- Große Chancen ergeben sich insbesondere für die ehe- len, Ungarn und in der Slowakei durchgeführt. maligen Grenzregionen. Diese werden aus der Randlage Gegenüber den Ländern regen wir an, die Unterstüt- herauswachsen und sich zu prosperierenden Knoten- zung grenzübergreifender Tourismusprojekte zu intensi- punkten entwickeln. Die Perspektiven für diese deut- vieren. schen Tourismusgebiete werden sich vor allem dann er- schließen, wenn man auf eine gemeinsame Erschließung Es müssen die medizinischen und technischen Stan- und Vermarktung von grenzüberschreitenden Natur- und dards im Kurwesen auf europäischer Ebene angeglichen Kulturregionen setzt. werden. Da die Opposition sich in den Forderungen Ihrer An- Wir wollen die umweltfreundliche Schienenverbin- träge meist immer nur auf eine Aufstockung der Förder- dungen zu den ost- und mitteleuropäischen Staaten zügig mittel fokusiert, hier nun einige Zahlen, passen Sie gut ausbauen. 10486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Kommen wir nun kurz – denn länger lohnt nicht – zu Forderungskatalog vorgelegt und diese Bundesregierung (C) den Anträgen der CDU/CSU: Diese Anträge sind ein täte gut daran, diesen aufmerksam Zeile für Zeile zu le- Trauerspiel. Neues steht in beiden Anträgen nicht, ob- sen. Denn keinesfalls ist die Unterstützung der Touris- wohl der eine sehr druckfrisch ist. muswirtschaft durch Rot-Grün so umfassend, wie be- hauptet wird. Aber Papier ist ja bekanntlich geduldig. Nehmen wir doch nur Ihren inhaltlich total veralteten Antrag vom November 2003: Man könnte meinen, sie Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Deshalb legen wir haben aus einer 15 Jahre alten Vorlage abgeschrieben. den Finger in die offene Wunde. Wir sagen, dass die Alle dort enthaltenen Gedanken und Forderungen sind deutsche Tourismuswirtschaft im Vergleich zu den Kon- bereits seit Jahren umgesetzt und bewähren sich in der kurrenten aus den Beitrittsländern in zahlreichen Berei- Praxis. Was die Bundesregierung und die Europäische chen ungleich schlechtere Rahmenbedingungen hat, zum Union alles für die kommunale grenzüberschreitende Beispiel im Steuerrecht. Dies lässt sich anhand eines Zusammenarbeit getan haben und wie gut diese Bemü- Vergleichs der Mehrwertsteuersätze der verschiedenen hungen angenommen und umgesetzt wurden und wer- Länder eindrucksvoll verdeutlichen. Im Beherbergungs- den, können Sie meiner Rede, festgehalten im Plenarpro- gewerbe haben sieben von zehn Beitrittsländern niedri- tokoll vom 7. November vergangenen Jahres nachlesen – gere Mehrwertsteuersätze vorzuweisen: Zum Beispiel viel Spaß bei der Lektüre. Nur ein Sache möchte ich erheben Polen 7 und Ungarn 12 Prozent Mehrwertsteuer. gerne wiederholen, sie werden sie ja doch nicht nachle- In vier von zehn Beitrittsländern ist dies bei Restaurants sen: Alleine für das EU-Bildungsprogramm „Leonardo der Fall und in sechs von zehn Beitrittsländern bei Frei- da Vinci“ stehen für 2000 bis 2006 1,15 Milliarden Euro zeitparks. Polen erhebt bei Freizeitparks sogar überhaupt zur Verfügung. Darüber hinaus unterstützt die Bundesre- keine Mehrwertsteuer. Finanzminister Eichel darf die gierung mit zahlreichen Programmen die grenzüber- Augen davor nicht länger verschließen. schreitende Aus- und Weiterbildung. Aber das ist es nicht allein. Deutschland fällt im Steu- Ihr druckfrischer Antrag enthält auch für die bundes- erwettlauf bei den Unternehmensteuern allgemein zu- politische Ebene nichts, was von uns nicht schon bear- rück. Kein Land in Europa besteuert die Gewinne von beitet wird. Ihr neuestes Werk spiegelt das generelle Ver- Kapitalgesellschaften so stark wie Deutschland. halten ihrer Partei wider, und dies ist wie immer sehr Mit der EU-Erweiterung haben die deutschen Unter- bedauerlich: Sie schüren Angst und Verunsicherung! nehmen ein Niedrigsteuergebiet direkt vor der Haustür. Gleich im ersten Absatz ist die Rede von einer „ambiva- Sie haben nun die Möglichkeit, sich direkt hinter der lenten Bewertung der EU-Erweiterung“ und von einer Grenze niederzulassen, um dadurch gleichzeitig von der „nur schwer überschaubaren Gemengelage von Befürch- deutschen Infrastruktur und von beispielsweise niedri- (B) tungen“. Wem Sie damit das Wort reden und sich gleich- gen polnischen Steuersätzen zu profitieren. Die öster- (D) stellen sind die ewig Gestrigen! Wir hingegen betrachten reichische Regierung reagierte bereits und hat für das die EU-Erweiterung als Chance für die heimische Tou- kommende Jahr die Senkung der Körperschaftsteuern rismuswirtschaft. Sie werden sehen, dass die bewegli- von 34 auf 25 Prozent angekündigt. Deutschland täte chen und innovativen Köpfe in der Tourismuswirtschaft, auch gut daran, dies zu tun, da die Differenz zwischen ganz gleich welchen Teil der touristischen Dienstleis- uns und den östlichen Beitrittsländern besonders hoch tungskette sie bearbeiten, einen enormen Wachstums- ausfällt. Während für Unternehmen in Deutschland die schub durch die EU-Erweiterung erhalten werden. nominale Steuerbelastung bei rund 39 Prozent liegt, müssen polnische oder slowakische Unternehmen nur Die EU-Erweiterung bietet die Chance zu einem gro- 19 Prozent, ungarische sogar nur 18 Prozent dem Fiskus ßen Brückenschlag, nicht nur für die Tourismuswirt- abliefern. schaft, sondern zuallererst für die Menschen, die sich in Ost und West fremd geworden sind. Es gibt viel zu ent- Auch das Busgewerbe in den Grenzregionen hat Sor- decken an gemeinsamer europäischer Kultur und Ge- gen. Kein Wort davon im Antrag der Koalition. Der un- schichte. Wir alle werden durch die Vielfalt der europäi- eingeschränkte Zugang von Busunternehmen aus Polen schen Kulturen und Traditionen bereichert. Mit unserem und Tschechien bedeutet, dass unsere vielen, meist fami- Antrag begrüßen wir ausdrücklich die Erweiterung der liengeführten, kleinen und mittleren Busunternehmen ei- Europäischen Union und bekräftigen hiermit nochmals nem scharfen Wettbewerb ausgesetzt sind. Denn die Ver- unsere positive Einstellung hierzu! kehrsunternehmen aus den östlichen Nachbarstaaten tanken weitaus günstiger und können im Vergleich zu Deutschland mit Niedrigstlöhnen kalkulieren. Die durch- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Die Feierlichkeiten schnittlichen Stundenlöhne betragen in Polen 4,50 Euro zum 1. Mai sind verklungen, das Feuerwerk ist schon und in Tschechien gerade mal 3,90 Euro gegenüber lange abgebrannt, aber die wirtschaftlichen, politischen 26,50 Euro hier bei uns. Wenn man sieht, dass die Perso- und sozialen Auswirkungen, die die EU-Erweiterung auf nalkosten in Verkehrsbetrieben zwischen 50 und 60 Pro- Deutschland haben wird, insbesondere auf die Regionen zent der Gesamtkosten ausmachen, dann weiß man, dass entlang der EU-Außengrenze, liegen noch im Nebel. diese Unterschiede kaum durch Fleiß und Innovation Ganz besonders für die Dienstleistungsbranche mit dem oder Flexibilität ausgeglichen werden können. Über Schwerpunkt Tourismus hat die EU-Erweiterung zwei 10 000 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Gesichter: Chancen und Risiken. Zur Minimierung die- ser Risiken muss alles, was möglich ist, getan werden. Damit die osteuropäischen Busse den mittelständi- Hierzu hat die CDU/CSU-Fraktion einen umfassenden schen brandenburgischen und bayerischen Verkehrs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10487

(A) markt nicht im wahrsten Sinne des Wortes „überrollen“, Einrichtungen sowie der bauliche Zustand entsprechen (C) muss eine Änderung des Personenbeförderungsgesetzes zwar nicht dem deutschen Standard, sind aber zufrieden- her, die ausdrücklich festlegt, dass Genehmigungen nach stellend. Das Lohnniveau in der Slowakei liegt bei dem Personenbeförderungsgesetz nur an Unternehmen 3 Euro gegenüber rund 26 Euro in Deutschland. Das mit inländischem Betriebssitz oder einer inländischen heißt, es fällt ein saftiger Gewinn an, der in einigen Jah- Niederlassung erteilt werden dürfen. Einen von Bayern ren in den Bau neuer Kurbetriebe investiert wird. initiierten Gesetzentwurf des Bundesrates werden wir nach Kräften unterstützen. Daher ist es für die Zukunft umso wichtiger, dass die deutschen Kurorte sich auf ihre Stärken konzentrieren. Geflissentlich übersieht die Koalition in ihrem Antrag Sie müssen ihren spezifischen Charakter und ihre At- auch, dass endlich die einheitliche Besteuerung von Bus- traktionen herausstellen, um so an Profil zu gewinnen reisen umgesetzt werden muss, um die Durchführung und Nischen zu besetzen. Dabei dürfen unsere Kurorte grenzüberschreitender Busreisen zu erleichtern. Sie wis- und Heilbäder von der Bundesregierung aber nicht allein sen ja, dass in den meisten EU-Staaten die Mehrwert- gelassen werden. Es reicht nicht, nur auf den Europäi- steuer auf Beförderungsleistungen bei erdgebundenen schen Heilbäderverband zu verweisen. Die linke Seite Reisen unterschiedlich geregelt ist. des Hauses macht es sich mal wieder leicht. Nein, die Bundesregierung ist aufgefordert, ihren Einfluss in Eu- Ich habe gerade vom billigen Sprit gesprochen. Das ropa zu nutzen, um europaweit faire Wettbewerbsbedin- führt zum Problem des Tanktourismus. Grenznahe Tank- gungen für den Kur- und Heilbäderbereich durchzuset- stellen erlitten Umsatzeinbrüche von bis zu 80 Prozent. zen. Über 300 Stationen mussten schließen. Die Ausfälle an Mineralölsteuer liegen bei weit über 1 Milliarde Euro Bei all den hier diskutierten Problemen ist jedoch pro Jahr. Aber statt ein Konzept zur Hilfe vorzulegen, festzustellen, dass der Tourismus immer mit der Begeg- wie die mittelständischen Mineralölverbände, verweist nung von Menschen und der engen Verbindung von wirt- die Bundesregierung nur auf eine Harmonisierung der schaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungen zu tun EU-Steuersätze. Jeder weiß, dass dies in absehbarer Zeit hat. Beim Reisen und bei der Zusammenarbeit mit den nicht zu erwarten ist. Beitrittsstaaten stellt die sprachliche Verständigung kein größeres Problem dar. Deutsch lernen Schüler in Slowe- Auf der anderen Seite kann die Tourismusbranche in nien zu 83 Prozent, in der Slowakei zu 79 Prozent, in Deutschland langfristig voraussichtlich von einer zusätz- Tschechien zu 76 Prozent und in Polen zu 62 Prozent. lichen touristischen Nachfrage profitieren. Die niedrigen Ein verstärkter Jugendaustausch, wie im Antrag gefor- Steuern in den Beitrittsländern werden dort zu Wohl- dert, wird hier auf fruchtbaren Boden fallen. Aber auch stand führen. Bereits heute wird für das Deutschland-In- (B) immerhin 17 Prozent der Erwachsenen in den Beitritts- (D) coming aus ganz Osteuropa ein Gesamtumsatz von staaten beherrschen unsere Sprache so gut, dass sie sich 2,7 Milliarden Euro erzielt Die DZT sagt für den Zeit- ausreichend in Deutsch unterhalten können. Deutsch ist raum 2003 bis 2005 ein Kernpotenzial von rund 5,6 Mil- in den Beitrittsländern nach Englisch und Russisch die lionen Reisen aus den Beitrittsländern voraus. meistgesprochene Sprache. Kein anderer Wirtschafts- Nach einer Expertenbefragung der Fachhochschule zweig weist einen derartigen Querschnittscharakter auf München werden die erwarteten Touristenströme jedoch und ist als Motor für die Integrationsprozesse so gut ge- recht unterschiedlich beurteilt. Die größten Gewinn- eignet. chancen werden für München und Berlin gesehen. Für Ein wichtiger Faktor für das Zusammenwachsen in die Grenzregionen werden sowohl Verluste als auch Ge- Europa ist der Städte- und Jugendaustausch. Mit Frank- winne erwartet. Daher ist es umso wichtiger, dass sich reich gibt es 2 075 Städtepartnerschaften, mit den Bei- die Tourismusverantwortlichen in diesen Regionen et- trittsländern insgesamt nur 1 411. Die Städtepartner- was einfallen lassen, damit die erwarteten EU-Bürger schaften mit osteuropäischen Kommunen sind daher auch in der Grenzregion bleiben und nicht nur durchrei- intensiver als bisher zu fördern. sen. Neue Ideen sind gefragt. Mir gefällt eine solche aus Österreich sehr gut. Bis zum Ende der Hauptreisezeit ge- währen die Österreicher den neuen EU-Bürgern freien Jürgen Klimke (CDU/CSU): Es kann gar nicht ge- Eintritt bei ausgesuchten Sehenswürdigkeiten. nug betont werden: Wir diskutieren heute, am 51. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR gegen die Die Untersuchung der FH München machte auch kommunistische Herrschaft, einen Antrag zur EU-Ost- deutlich, dass viele unserer Kurorte und Heilbäder vor erweiterung. An dem Jahrestag, der an den Protest gegen neue Herausforderungen gestellt werden. Ungarn zum ein System erinnert, das ganz Osteuropa beherrschte, ein Beispiel verfügt über ein sehr ausgiebiges und vielfälti- System, das Europa durch einen Eisernen Vorhang teilte, ges Angebot im Kur- und Heilbäderbereich. 10 Prozent ein System, das jede Opposition brutal erstickte, disku- der ausländischen Touristen kommen nur, um zu kuren. tieren wir, wie wir mit unseren neuen EU-Partnern im Darüber hinaus haben die Ungarn für die Jahre 2003 bis Osten Europas das Zusammenleben organisieren wollen. 2005 ein nationales Programm aufgelegt und investieren Das ist ein bewegender, ein historischer Moment. 510 Millionen Euro in die Sanierung ihrer Kurbäder. Aber zur Sache: Gestern im Ausschuss haben wir eine Ein anderes Beispiel: In der Slowakei kostet ein sehr intensive Debatte zu diesem Thema geführt. Leider durchschnittlicher Kurtag 75 bis 80 Euro, gegenüber hat die Kollegin Irber ihren Argumenten von gestern 100 bis 105 Euro in Deutschland. Die Ausstattung der nichts Neues hinzuzufügen. Sie erklärt, der Antrag der 10488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Union betone nur die negativen Seiten der Erweiterung, Anlässlich der Debatte um unseren Antrag zur Unter- (C) er mache den Menschen Angst. stützung der grenznahen kommunalen Zusammenarbeit im November letzten Jahres hatte ich auf Chancen hin- Wenn sie – und nicht nur ihr Referent – den Antrag gewiesen, die uns Städtepartnerschaften bieten. Und da- richtig gelesen hätte, wäre ihr sicher aufgefallen, dass rauf will ich wieder hinweisen: Die Städtepartnerschaf- wir die Erweiterung positiv darstellen und begrüßen, als ten im westlichen Europa haben Vorbildcharakter für Chance für die deutsche Tourismuswirtschaft begreifen solche im Osten. Die Fakten sprechen doch für sich: und den Jugendaustausch und die Städtepartnerschaften 3 294 Partnerschaften bestehen zu westeuropäischen mit unseren neuen Weggefährten im vereinten Europa Städten. Allein 2075 entfallen auf französische Kommu- forcieren wollen. Erstaunlicherweise war unsere grüne nen. Die Zahl der Partnerschaften zu Städten in den EU- Kollegin Kurth gestern auch der Meinung. Beitrittstaaten dagegen nimmt sich bescheiden aus: Hier Das einzig Negative für Sie ist doch nur die Tatsache, sind es nur 1 411. Da haben wir einen großen Nachhol- dass diese Anstöße von uns, der Opposition, kommen bedarf. und nicht von Ihnen, dass wir Ihnen, nicht nur bei die- Dies darf doch kein strittiger Punkt zwischen uns sem Thema, immer einen Schritt voraus sind. Ihr Antrag sein: Nachdem wir den politischen, also rationalen, Ver- beschreibt zwar die Chancen der EU-Erweiterung für die einigungsprozess vollzogen haben, müssen wir doch al- Tourismuswirtschaft treffend und auch im Forderungs- les tun, damit Europa mit dem Herzen zusammenwächst. teil finden sich unterstützenswerte Punkte wie die Um- Jugendaustausch, Aupairs, gemeinsame Ausbildungs- weltdachmarke Viabono, die fehlende umfassende zentren in den Grenzregionen – das sind doch überwie- Dienstleistungsfreiheit bei Reiseleitern und die anzustre- gend Projekte und Forderungen, die einfach nur einen benden einheitlichen Standards im Heilbäderbereich, politischen Anschub benötigen. Was ist daran negativ? aber die Unterstützung der Tourismuswirtschaft durch Das ist weder Schwarzmalerei noch kostet es zusätzli- die Bundesregierung ist eben nicht so umfassend, wie ches Geld. Sie es darstellen. Viele der wirklichen Probleme der Branche sowohl in Deutschland als auch in den Beitritts- Wenn ich mir hingegen Ihren Antrag durchlese, er- ländern werden im Antrag weder erwähnt noch berück- lebe ich eine einzige Huldigungsadresse an die Bundes- sichtigt. Und das genau ist der Unterschied bei unseren regierung. Aber die löst keine Probleme – weder die be- Anträgen: Sie schreiben sich eine Realität herbei, wäh- stehenden noch die künftigen. rend wir die Realität beschreiben. Auf einige Punkte wie eine einheitliche Besteuerung oder faire Wettbewerbsbe- Wir – die Union als Europapartei – werden diese Ent- dingungen für Kur- und Heilbäder hat Kollege Hinsken wicklung weiter begleiten und Sie an Ihre Nachlässigkeit erinnern, an die verpasste Chance, einen historischen (B) ja schon hingewiesen. Ich will meine Finger in andere (D) Wunden legen. Prozess aktiv mitzugestalten.

Glauben Sie wirklich, die Mittelausstattung der für Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE Auslandswerbung zuständigen Deutschen Zentrale für GRÜNEN): Die EU-Osterweiterung war – das ist unum- Tourismus, DZT, sei ausreichend? Für eine effektive schränkt positiv zu bewerten – allen Fraktionen dieses Marktbearbeitung in den neuen EU-Ländern fehlt ihr Hauses eine intensive Befassung wert. Wir alle wissen, doch das Geld. Und das brauchen Sie nicht im Keller zu dass die EU-Erweiterung in wirtschaftlicher Hinsicht für drucken, sondern finden es im Haushalt – durch Um- alle Bereiche, auch für den Tourismus, wichtige Impulse schichtung. Vorschläge dazu finden Sie ja im Antrag. gibt. Die europäische Erweiterung wird die Beliebtheit Ein anderer Punkt ist der Ausbau des deutschen Rad- Europas als Urlaubsziel weltweit erhöhen und ich bin si- fernwegenetzes in Kooperation mit den europäischen cher, dass alle 25 Mitgliedstaaten davon profitieren wer- Nachbarn. den. Grenzübergreifende Ausbildungsprojekte zwischen Sehr wohl müssen sich die verschiedenen Destinatio- Deutschland und den EU-Beitrittstaaten wie das der Ho- nen und die unterschiedlichen Tourismussegmente da- telfachschule Pirna müssen die Regel werden und dürfen rauf einstellen, dass ab Mai Europa „größer“ und das keine Ausnahme sein. Reisen noch einfacher wird. Die Entscheidung für einen neuen Zielort wird enorm erleichtert. Für uns war es im Und – das ist wirklich ein negativer Aspekt der Er- Hinblick auf den Deutschlandtourismus aber immer weiterung –: Wir müssen den Sextourismus und die Kin- wichtig, nicht bei der Betrachtung möglicher Wettbe- derprostitution im tschechischen Grenzgebiet eindäm- werbsvorteile der neuen EU-Länder zu verweilen. Eine men. solche Haltung führt nicht weiter. Da wir von der Union ja so pragmatisch sind, liefern Bezogen auf den von der Opposition immer wieder be- wir Ihnen für diese Probleme auch gleich die Lösung klagten Wettbewerbsdruck lässt sich feststellen, dass es mit: Wenn es auf den Tourismus bezogene bilaterale Ge- keinen wesentlichen Anpassungsdruck für die deutsche sprächskreise auf Regierungsebene mit den neuen EU- Tourismuswirtschaft geben wird, der sich allein aus der Staaten gäbe, würden wir heute über die Punkte gar nicht Erweiterung der Europäischen Union ergibt. Bestehende debattieren; denn dann hätten wir ein Gremium, um Unterschiede im Besteuerungsniveau bedeuten nicht diese Probleme auf dem kleinen Dienstweg zu bespre- automatisch nennenswerte Wettbewerbsverzerrungen. chen. Wie auch umgekehrt Erfahrungen aus der Anwendung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10489

(A) ermäßigter Mehrwertsteuersätze in der Europäischen der besagt, dass Touristen von etwas angezogen werden, (C) Union auf bestimmte arbeitsintensive Dienstleistungen was verschwindet, wenn sie dort ankommen. Da gerade zeigen, dass diese nicht automatisch den Lehren des die Beitrittsländer noch große Potenziale an unberührter Kathederliberalismus folgen und zur Schaffung neuer und intakter Natur haben, sollten bei gemeinsamen, Arbeitsplätze führen. Berichte der Europäischen Kom- grenzüberschreitenden Tourismusprojekten die Richtli- mission aus dem Jahre 2003 belegen, dass es keine nach- nien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt, weisbare Wirkung der Mehrwertsteuerermäßigung auf CBD, „Biodiversität und Tourismusentwicklung“, in die Beschäftigungsquote gab. diesen Prozessen Anwendung finden. Gerade hinsicht- lich einer natur- und umweltfreundlichen Entwicklung Aus unserer Sicht ist es vielmehr richtig und wichtig, des Tourismus in Osteuropa bietet Deutschland Hilfe zu betonen, dass die deutsche Tourismuswirtschaft ihren und Unterstützung an. Die Umweltdachmarke „Via- Blick auf die eigene Leistungsfähigkeit und einzigartige bono“ könnte mit jeweiligen Modifizierungen Grund- Besonderheiten richten und ihr Profil schärfen muss. lage für die Entwicklung naturverträglicher touristischer Alleinstellungsmerkmale müssen vermarktet und Ver- Angebote sein. besserungen hinsichtlich Service und Barrierefreiheit er- zielt werden. Dann kann der Deutschlandtourismus alle Es freut uns, dass die vom Bundesumweltministerium Herausforderungen meistern. forcierte und finanzierte Einführung der Umweltdach- marke „Viabono“ inzwischen von allen Fraktionen die- Die zunehmende wirtschaftliche Integration zwischen ses Hauses anerkannt und unterstützt wird. Ich bin si- West- und Osteuropa wird zunächst vor allem den Ge- cher, dass es mit dieser breiten Unterstützung eines schäftsreisetourismus beleben. Mit deutlich anwachsen- lobenswerten Ansatzes gelingen wird, Viabono in der Kaufkraft in den neuen EU-Ländern dürfte sich aber Deutschland und in der EU zum Erfolg zu führen. auch der Urlaubstourismus aus diesen Ländern heraus positiv entwickeln. Große Chancen tun sich durch die EU-Osterweite- rung vor allem für die dann ehemaligen Grenzregionen Die osteuropäischen Beitrittsländer sind bereits jetzt auf. Diese können aus der Randlage herauswachsen und mit 2,4 Millionen Deutschlandreisen ein bedeutender sich zu prosperierenden Knotenpunkten in Mitteleuropa Quellmarkt für den Deutschlandtourismus. Die Deutsche entwickeln. Vor allem für die kleinen und mittelständi- Zentrale für Tourismus hat Osteuropa schon frühzeitig in schen Unternehmen der Tourismuswirtschaft wird es da- ihre Marketingaktivitäten eingebunden. Sie rechnet für bei wichtig sein, Kooperationspartner zu finden und 2005 bereits mit 5,6 Millionen Deutschlandreisen. Sie Allianzen zu schmieden. Hier kann zielgerichtete Förde- soll – dafür setzt sich unser Antrag ein – ihre erfolgrei- rung schnell zu positiven Effekten für Wirtschaft und che Arbeit fortsetzen. (B) Arbeitsmarkt führen. Ein sich so entwickelnder Touris- (D) Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie zum transeuro- mus wird zum Motor des Integrationsprozesses werden – päischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystem und dem auch in ideeller Hinsicht. Denn er trägt zur Verständi- Ausbau der Schienenverkehrsinfrastrukturverbindungen gung zwischen den Ländern und Regionen bei. wird sich der Urlaubsreiseverkehr in die EU-Beitrittslän- Unser vorliegender Antrag sichert die notwendigen der, aber auch von dort in andere EU-Länder intensivie- Aktivitäten des Bundes ab. Wenn auch die Länder und ren. Wir sprechen uns dafür aus, dass dieser Ausbau zü- Kommunen jeweils ihren Beitrag leisten – davon gehen gig erfolgt. Die EU-Erweiterung wird eine intensivere wir aus –, kann der Deutschlandtourismus der Zukunft regionale, grenzüberschreitende Zusammenarbeit im zuversichtlich entgegensehen. Tourismus und im Naturschutz ermöglichen, aber auch notwendig machen. Hierauf wendet unser Antrag den Blick. Aber auch der Antrag der CDU/CSU setzt hier Ernst Burgbacher (FDP): Seit eineinhalb Monaten richtige Akzente. besteht die Europäische Union aus 25 Mitgliedstaaten. Zum 1. Mai sind 10 neue Staaten der EU beigetreten, Auf europäischer Ebene sollen die erfolgreichen An- viele davon im Osten Europas. Allerdings ist es keine sätze, nachhaltige Rahmenbedingungen für die Expan- reine EU-Osterweiterung, wie ein Blick auf die Land- sion der Tourismuswirtschaft zu schaffen, fortgeführt karte zeigt. Die Erweiterung der Europäischen Union und weiterentwickelt werden. Der Tourismus ist nun ein- birgt für alle Beteiligten große Chancen in den unter- mal ein Bereich mit zum Teil gravierenden Auswirkun- schiedlichen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen gen auf Umwelt, Natur und Klima. Diese zu minimieren und kulturellen Wirkens und auch des persönlichen Zu- und zu vermeiden muss unser gemeinsames Anliegen sammenlebens. sein – sowohl in Deutschland als auch in der gesamten EU. Europa rückt zusammen und Deutschland rückt durch die Erweiterung stärker in die Mitte Europas. Dass die Europa ist die am meisten besuchte Tourismusregion Erweiterung einen Einfluss auf den Tourismus haben der Welt und hat die größte Tourismusdichte. Für uns wird, ist unzweifelhaft. Der Deutschlandtourismus wird Grüne bleibt es deshalb eine zentrale Herausforderung insbesondere von der unmittelbaren Nähe zu den neuen für alle touristischen Entwicklungen, dass Natur und EU-Mitgliedstaaten Polen und Tschechien profitieren Landschaft, von deren Attraktivität Tourismus wesent- können. Aber auch für den Incomingtourismus der Bei- lich lebt, bewahrt werden. Gerade auch in den osteuropäi- trittsländer wird die Mitgliedschaft in der EU eine große schen Ländern mit ihrem reichhaltigen Naturerbe brau- Chance werden. Es kommt darauf an, dieses vielverspre- chen wir keine Entwicklung mit Enzensberger-Effekt, chende Potenzial zu nutzen. 10490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Der Antrag von SPD und Grünen geht grundsätzlich – Beschlussempfehlung und Bericht: Grund- (C) in die richtige Richtung. Die FDP-Bundestagsfraktion sätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfsmaß- unterstützt auch selbstverständlich die Zielsetzung, nahmen für Südosteuropa günstige Rahmenbedingungen für eine positive Entwick- lung des Tourismus zu schaffen. Allerdings sind damit (Tagesordnungspunkt 12 a und b) im vorliegenden Antrag Forderungen verbunden, die wir für nicht akzeptabel halten. So fordert Rot-Grün – zu Detlef Dzembritzki (SPD): In diesem Jahr jährt sich Recht –, dass die Deutsche Zentrale für Tourismus zum fünften Mal der Beschluss zur Einrichtung des Sta- (DZT) ihre Arbeit in den ost- und mitteleuropäischen bilitätspaktes für Südosteuropa. In dieser Zeit sind große Beitrittsländern intensivieren solle. Gleichzeitig plant Fortschritte bei der Stabilisierung der Region und dem die Bundesregierung jedoch, den Haushaltstitel für die Aufbau von Staatswesen und Zivilgesellschaft in den DZT zu kürzen. Dies passt nicht zusammen. Ländern des Westbalkans erzielt worden. In Punkt 2 ihres Antrages fordern die Koalitionsfrak- Gleichzeitig haben uns die gewalttätigen Ausschrei- tionen die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, tungen im Kosovo vom März dieses Jahres drastisch vor dass die EU mit geeigneten Maßnahmen die Rahmenbe- Augen geführt, wie zerbrechlich die Lage in der Region dingungen für das Wachstum des europäischen Touris- teilweise immer noch ist. Umso wichtiger ist die jährli- mus in Richtung Nachhaltigkeit gestaltet. Hierzu ist aus che Berichterstattung der Bundesregierung über ihre Be- unserer Sicht anzumerken, dass es nicht Aufgabe der EU mühungen zur Weiterentwicklung der politischen und ist, Rahmenbedingungen für den Tourismus zu setzen. ökonomischen Gesamtstrategie für Südosteuropa. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip. Natürlich gehört diese Region zu Europa. Sie ist um- Naturgemäß legt Rot-Grün einen Schwerpunkt auf die geben von Staaten der Europäischen Union. Ihre Stabili- Förderung eines natur- und umweltfreundlichen Touris- sierung ist ein zentrales Erfordernis für unsere eigene Si- mus. Die FDP ist allerdings der Auffassung, dass es al- cherheit und jeder Anstrengung wert. Dieser Prozess lein Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, in welcher setzt ein langanhaltendes Engagement voraus und muss Form sie den Tourismus in ihren Ländern fördern wol- eine klare Zielstellung enthalten. len. Belehrungen seitens der Koalition über Natur- und Umweltschutz im Tourismus sollten daher unterbleiben. Daher ist gerade angesichts der beachtlichen Trans- Aus diesen und anderen Gründen lehnt die FDP-Bundes- formation, die die aktuelle Erweiterung der Europäi- tagsfraktion den Antrag von SPD und Grünen ab. schen Union darstellt, die Versicherung der EU-Beitritts- perspektive für alle Länder der Region von besonderer (B) Den beiden von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegten Bedeutung. Denn diese Perspektive ist zum wichtigsten (D) Anträgen stimmen wir dagegen zu, da wir die Zielrich- Motor für die Reformen in Südosteuropa geworden. tung sowohl von verbesserten grenzübergreifenden Koo- Wenn der aktuelle Bericht der Bundesregierung bei- perationen in Form von Städtepartnerschaften als auch spielsweise feststellt, dass der im März 2003 erfolgte die Stärkung des Tourismus in der erweiterten EU unter- Antrag Kroatiens auf EU-Mitgliedschaft stimulierend stützen. auf die Investoren gewirkt hat, so wirkt diese Tatsache nicht minder stimulierend auf den Reformwillen der Generell gilt – dies richtet sich an die Adresse der Nachbarländer. Bundesregierung –: Die EU-Erweiterung bietet der deut- schen Tourismuswirtschaft eine Reihe von Chancen, die Der Balkangipfel der EU in Thessaloniki am 21. Juni sie ergreifen und nutzen muss. Entscheidend hierfür ist, vergangenen Jahres hat hier einen deutlichen Impuls ge- dass die Politik unsere heimischen Unternehmen in die geben, als einerseits die Beitrittsperspektive bekräftigt Lage versetzt, sich im stärkeren Wettbewerb behaupten und andererseits deutlich gemacht wurde, dass jedes der zu können. Die Bundesregierung bleibt nach wie vor Länder nur an seinen eigenen Leistungen gemessen aufgefordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen würde. Die strikte Konditionalität für den jeweiligen unter marktwirtschaftlichen Aspekten zu verbessern. Ich Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess gibt den Län- nenne die Steuer- und Arbeitsmarktpolitik, Deregulie- dern einen Katalog von Aufgaben an die Hand, die sie in rung und Bürokratieabbau. Die „Chance Europa“ darf Eigenverantwortung erfüllen müssen. Ich begrüße be- nicht verspielt, sie muss ergriffen werden. sonders, dass die Länder durch regionale Kooperationen in den verschiedensten Sektoren eine gemeinsame Stra- tegie für Europa zu entwickeln versuchen, um so als Ge- Anlage 7 samtregion ihre Chancen auf einen Beitritt zu verbes- sern. Zu Protokoll gegebene Reden Die in den vergangen Jahren erbrachten Leistungen zur Beratung: sind bemerkenswert. Die Demokratisierung der Länder ist klar erkennbar. Wiederholt haben demokratische – Bericht der Bundesregierung über die Er- Wahlen stattgefunden, Regierungswechsel haben sich in gebnisse ihrer Bemühungen um die Weiter- gewaltloser und rechtsstaatlicher Weise vollzogen. Be- entwicklung der politischen und ökonomi- sonders die Entwicklung in Kroatien und Mazedonien ist schen Gesamtstrategie für die Balkanstaaten erfreulich. Die regionale Kooperation verbessert sich zu- und ganz Südosteuropa für das Jahr 2003 sehends, nicht zuletzt dank der Initiative des Regionalen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10491

(A) Tisches des Stabilitätspaktes und ihres Sonderkoordina- Es kann auf Dauer nicht sein, dass ein Land mit knapp (C) tors, Herrn Busek. vier Millionen Menschen von über 150 Ministerinnen und Ministern regiert wird. Auch die Menschenrechtslage hat sich in den letzten Jahren in einer Weise verbessert, dass die Menschen- Auch werden wir uns mit den weit reichenden Kom- rechtskommission der Vereinten Nationen 2003 erstmals petenzen des Hohen Repräsentanten auseinander setzen auf eine Resolution zur Menschenrechtslage im ehemali- müssen. Wenn dieser beispielsweise per Dekret die Re- gen Jugoslawien verzichtet hat. Dennoch gibt es noch ei- form der Kommunalverwaltung in Mostar durchsetzen niges zu tun, wobei ich persönlich auch ausdrücklich die musste, so lag das an der kompromisslosen Haltung der Bemühungen unseres ehemaligen Kollegen, Herrn lokalen Akteure. Andererseits können gerade diese es Dr. Schwarz-Schilling, als internationaler Streitschlich- sich leisten, auf Maximalpositionen zu beharren und die ter anerkennen möchte. Verantwortung für notwendige – und in der eigenen Wählerschaft unpopuläre – Entscheidungen auf den Ho- In vielen Punkten herrscht jedoch noch Handlungsbe- hen Repräsentanten und seine „Bonn-Powers“ zu verla- darf. So muss in der gesamten Region mit hoher Priorität gern. Auf Dauer ist dies mit demokratischen Strukturen und über die Landesgrenzen hinweg die Bekämpfung nicht vereinbar und verbaut den Weg für die örtlichen der organisierten Kriminalität und Korruption vorange- Entscheidungsträger, miteinander zu Kompromissen bracht werden. Die Verlässlichkeit und die Transparenz kommen zu müssen. Die Übergabe der vollen Verant- staatlichen Handelns und ein funktionierendes Rechts- wortung ist unser Ziel, sie muss jedoch gut vorbereitet system mit unabhängigen Gerichten müssen in allen sein, um nicht destabilisierend zu wirken. Ländern gewährleistet sein. Hier leisten die Europäische Union und auch die Bundesrepublik Deutschland einen Denn wir können die Region – und damit meine ich wichtigen Beitrag. alle Länder des Stabilitätspaktes – nicht auf Dauer in Wenn nun die öffentliche Aufmerksamkeit sich stär- Abhängigkeit von der internationalen Gemeinschaft las- ker anderen Krisenherden zugewandt hat, so darf das sen. Wenn wir die Länder zu verstärkten eigenen An- auch als Zeichen einer gewissen Normalisierung der Re- strengungen auffordern, muss dies auch mit verstärkter gion verstanden werden. Das darf uns jedoch keinesfalls Eigenverantwortung für ihr Gemeinwesen einhergehen. verleiten, die Risiken und Aufgaben aus den Augen zu Aller Widrigkeiten zum Trotz: die Länder des Stabili- verlieren. tätspaktes für Südosteuropa haben in nur fünf Jahren be- Die Entwicklung, die Serbien zum Beispiel seit der achtliche Fortschritte gemacht. Ermordung von Zoran Djindjic genommen hat, ist wenig Es ist nicht zuletzt das fortgesetzte und entschlossene (B) ermutigend. Das Erstarken der radikalen Kräfte und die Engagement der Bundesregierung und des Deutschen (D) Zerrissenheit der demokratischen Parteien sind Besorg- Bundestages – und das erfreulicherweise oftmals in gro- nis erregend. Ich freue mich, dass bei der Präsident- ßer Geschlossenheit über Parteigrenzen hinweg –, das schaftswahl am vergangenen Sonntag mit Boris Tadic diese Entwicklung ermöglicht hat. ein Vertreter der demokratischen Kräfte ein gutes Ergeb- nis erreicht hat. Für seinen möglichen Erfolg in der be- vorstehenden Stichwahl hoffen wir jedoch auf die sich Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg abzeichnende Unterstützung aller anderen demokrati- (CDU/CSU): Es grenzt an einen Allgemeinplatz, den schen und europaorientierten Parteien Serbiens. Eine Balkan und Südosteuropa in ihrer historischen und aktu- Radikalisierung Serbiens wäre nicht nur für das Land ellen Entwicklung als eine höchst heterogene Region zu selbst verheerend, sondern auch für unsere Stabilisie- bezeichnen. Allerdings ist es bereits deshalb problema- rungsbemühungen im Kosovo. Lassen Sie mich bei die- tisch, pauschal eine „Gesamtstrategie“ für die Region ser Gelegenheit dem designierten neuen Chef der UN- aufzulegen oder zu fordern. MIK, Herrn Jessen-Petersen, eine glückliche Hand bei So sind etwa Kroatien und Slowenien nicht nur kul- seiner schwierigen Mission im Kosovo wünschen. turpolitisch Bestandteile Mitteleuropas und in ihrer de- Als Länderbeauftragter des Bundestages möchte ich mokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung ihren einige Bemerkungen zu Bosnien und Herzegowina ma- östlichen Nachbarn weit voraus. Kroatien hat den für chen. Zweifellos vereinigt dieses Land, das am stärksten eine funktionierende parlamentarische Demokratie not- unter den Gewaltexzessen der 90er-Jahre zu leiden hatte, wendigen Systemwandel weitgehend abgeschlossen, die in exemplarischer Weise sämtliche Probleme der Region wirtschaftliche Entwicklung stabilisiert sich auf insge- und auch die Licht- und Schattenseiten unserer Bemü- samt beachtenswertem Niveau. Wir unterstützen auch hungen. Auch neun Jahre nach dem Ende der Kriegs- daher die Entscheidung der EU, mit Kroatien ab Anfang handlungen sind die individuellen wie die kollektiven 2005 Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Wunden und Traumata noch so frisch, dass man sich auf In Mazedonien und Albanien vermag man trotz aller unserer Seite immer wieder davor hüten sollte, ange- Probleme den Silberstreif eines grundsätzlich positiven sichts mangelnder Fortschritte in manchen Bereichen in Entwicklungspotenzials zu erkennen. Ungeduld zu verfallen. Dennoch müssen wir den Blick nach vorn richten und beispielsweise über die Hemm- Bei anderen lässt sich jedoch ein gewisses Stagnati- nisse diskutieren, die der Entwicklung durch das Ab- onsmoment, ein Verharren in der Entwicklungsperspek- kommen von Dayton auferlegt werden. Zweifellos müs- tive nicht verleugnen. Die politische Lage in Bosnien- sen die zentralstaatlichen Institutionen gestärkt werden. Herzegowina bleibt instabil und die Aufbauleistungen 10492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) hinsichtlich eines sich selbst tragenden Staates unbefrie- der insgesamt 40 Teilnehmerstaaten des Paktes nicht för- (C) digend. Im Kosovo haben wir in jüngster Zeit bitter er- derlich wäre. fahren müssen, wie wenig Fortschritt es im politischen Prozess in den vergangenen fünf Jahren gegeben hat. Wir begrüßen die zunehmend führende Rolle der EU Gerade für diese beiden Fälle ist nach den zugrunde lie- für Sicherheit vor Ort, die sich nicht zuletzt durch das genden politischen Konzepten zu fragen – im weiteren Engagement der EUFOR in Bosnien ab Ende des Jahres Sinne auch, um den deutschen Soldaten vor Ort eine Per- zeigen wird, sollte doch die EU auch sicherheitspolitisch spektive für ihren Einsatz zu geben. Letzteren sei an die- in absehbarer Zeit – unter Rückgriff auf NATO-Fähig- ser Stelle ausdrücklich für ihr Engagement gedankt. keiten – für die Region Zuständigkeiten beanspruchen können. Die Entwicklung in Serbien-Montenegro gestattet we- der in politischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht bis- Bosnien bleibt aber auch Ausdruck potenzieller Span- lang euphorische Reaktionen. Allerdings gibt der Wahl- nungsfelder innerhalb der westlichen Gemeinschaft. Es gang vom vergangenen Wochenende in Serbien – neben sei an dieser Stelle nur an die Notwendigkeit eines dau- weiterhin höchst beunruhigender radikalnationalistischer erhaft komplementären Wechselspiels zwischen NATO Tendenzen – im Hinblick auf das Ergebnis von Tadic und ESVP erinnert. Der gefundene Konsens zur weitge- auch Anlass zu Hoffnung. Es ist Ausdruck eines gele- henden Übernahme der SFOR-Mission durch die EU ist gentlich allzu unsichtbar gehaltenen, aber ermutigenden ein ermutigendes Zeichen. Gleichzeitig erwächst hieraus Potenzials von Menschen, die tatsächlich tief greifende nicht lediglich eine Verpflichtung zur Stärkung etwaiger Reformen wünschen und den nicht nur Sonntagsreden europäischer Pfeiler, sondern zur parallelen Zukunftssi- vorbehaltenen Anschluss an den Westen suchen. Diesen cherung und Stabilisierung der NATO insgesamt. Gerade Prozess müssen wir nach Kräften unterstützen. Hier ist auch im Hinblick auf den kommenden Gipfel in Istan- der Westen, insbesondere auch die Bundesrepublik ge- bul, wo bekanntlich auch über einen möglichen Beitritt fordert, jenen „kairos“, einen der selten gewordenen Bosniens zum NATO-Bündnis Partnership for Peace ent- rechten Augenblicke, zu begreifen, ja ihn zu ergreifen schieden werden soll. und mit Entwicklungsanstößen zu unterfüttern. Stim- Zu Letzterem sollte nicht unerwähnt bleiben, dass mungen, die den Weg nach Europa in sich tragen, sollten Gradmesser für Bosniens NATO-Tauglichkeit unter an- in verantwortliche Stimmen münden, in der Umkehrung derem seine Bereitschaft, insbesondere diejenige beson- aber auch bis dahin angesichts des unsteten Charakters derer Gruppen, zur Vergangenheitsbewältigung ist. Das von Stimmungen die europäische Stimme vernehmen in einem Untersuchungsbericht einer bosnisch-serbi- dürfen. schen Kommission erstmals bestätigte Eingeständnis der Zugegeben: Insgesamt dürfen und sollten wir in der Schuld an dem grauenvollen Massaker von Srebrenica (B) (D) Region nachhaltige Verbesserungen bei der Stabilisie- sollte als ein Schritt in die richtige Richtung gewertet rung, Demokratisierung, wirtschaftlichen Entwicklung werden. Mit dem Bosnien-Sonderbeauftragten Ashdown und regionalen Zusammenarbeit nicht verschweigen. ist allerdings bewusst der Konjunktiv zu wählen, wenn Gleichzeitig sind aber noch entscheidende politische man davon spricht, dass der Bericht und die Äußerungen Statusfragen ungelöst und erhebliche ethnische Konflikt- bosnisch-serbischer Politiker deren Willen zum Aus- potenziale alles andere denn tatsächlich entschärft. druck bringen könnte, Verantwortung gegenüber Srebre- Zudem seien lediglich in Schlagworten erwähnt: unzu- nica wahrzunehmen und den Opfern Gerechtigkeit zuteil reichende Strukturreformen, unterentwickelte marktwirt- werden zu lassen. Ihre Ernsthaftigkeit hat die Führung in schaftliche Institutionen, mangelhafte Rechtssicherheit, Banja Luka nach neun Jahren der beinahe vollständigen organisierte Kriminalität, Menschenhandel und Korrup- Passivität in diesen Belangen erst noch zu beweisen. tion. Zur Bekämpfung dieser Missstände erscheint eine Hierunter ist auch die Verhaftung und Auslieferung ge- Annäherung der Länder des westlichen Balkans an west- suchter Kriegsverbrecher an Den Haag, allen voran von liche und europäische Strukturen weiterhin wünschens- Radovan Karadzic, zu verstehen. wert, kann aber nur unter Beachtung eindeutiger und strikt einzuhaltender Kriterien erfolgen. Insgesamt darf eine „Gesamtstrategie“ – deren Be- grifflichkeit ich für falsch halte – für die Region nicht Dem Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess der verkennen, dass die internationale Gemeinschaft ihre EU kommt eine zentrale Bedeutung für die politische Programme individuell auf konkrete Länder anwenden und wirtschaftliche Entwicklung der vor der EU-Haustür und zuschneiden muss – eingedenk der Tatsache, dass gelegenen Westbalkan-Region zu und hat im Fall Kroa- Fehlentwicklungen und Instabilität eines Landes die ge- tien bereits eindeutige Erfolge gezeitigt. Daneben ist die samte Region erschüttern können, wobei freilich Vernet- komplementäre Rolle des Stabilitätspaktes für Südosteu- zungslinien unterschiedlichster Art nicht außer Acht ge- ropa auch weiterhin für eine hilfreiche und abgestimmte lassen werden dürfen. Sollte etwa Bosnien-Herzegowina Einbindung der USA entscheidend. Darüber hinaus ist den Anschluss an die umliegenden Staaten verpassen dem von Schwarz-Schilling entwickelten Ansatz einer und sich zu einem von Nationalismus und organisierter integrativen Streitbeilegung in Südosteuropa, die auf lo- Kriminalität beherrschten „Schwarzen Loch“ mit ent- kaler Ebene ansetzt, ein beachtenswerter Stellenwert ein- sprechender Sogwirkung auf dem Balkan entwickeln zuräumen. Die Defizite des Stabilitätspaktes müssen und zum Sammelgebiet für islamischen Fundamentalis- zweifellos behoben werden, die Forderung der FDP nach mus in Europa werden, so würde dies Bemühungen um einer Auflösung der drei Arbeitstische geht jedoch zu eine Stärkung der regionalen Zusammenarbeit und die weit, da eine derartige Maßnahme für die Bemühungen Stabilität der gesamten Region generell untergraben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10493

(A) Deutschland kommt in der Region eine besondere che, politische und soziale Entwicklung dieser Länder zu (C) Verantwortung zu. Wir sind für die meisten Balkanstaa- entwickeln, vollständig bewährt. ten das wichtigste bilaterale europäische Partnerland, Bulgarien zum Beispiel hat vorgestern die Beitrittsver- zählen zu den prominentesten Geberländern und fast handlungen zur Europäischen Union erfolgreich abschlie- 3 800 deutsche Soldaten flankieren in Bosnien und im ßen können. Somit ist der Beitrittswunsch Bulgariens für Kosovo die politischen Entwicklungsprozesse. Die Bun- 2007 realistisch. Rumänien ist mit den Verhandlungen desregierung muss sich daher besonders bei der Unter- noch nicht so weit, aber der Entwicklungstrend ist ein- stützung, Weiterführung, Gestaltung und Optimierung deutig. Für Kroatien und Mazedonien ist die EU-Perspek- der politischen Prozesse der internationalen Gemein- tive zumindest greifbar. schaft einbringen. Die Bundesregierung präzisiert bis- lang nicht ihre eigenen konzeptionellen Vorstellungen Zum anderen sind es im Wesentlichen die westlichen für die politischen Entwicklungsprozesse für die Region Balkanländer mit einem enormen Entwicklungsrück- und die einzelnen Länder. Welche Vorstellungen hat die stand. Sie erwirtschaften nach Einschätzung einer Studie Bundesregierung hier in den verschiedenen Gremien der der Stiftung für Wissenschaft und Politik gerade einmal internationalen Gemeinschaft eingebracht, um die politi- 7 Prozent des durchschnittlichen europäischen Bruttoso- schen Prozesse in diesen Ländern dynamischer in eine zialproduktes. Darüber hinaus ist die Staatlichkeit einiger stabilisierende Richtung zu lenken? dieser Länder zumindest fragwürdig. Für diese Länder ist die EU-Mitgliedschaft auf lange Sicht noch nicht mög- An der Bundesregierung ist es auch, sich verstärkt um lich. die Abstimmung bzw. Komplementarität der verschiede- nen Programme der internationalen Gemeinschaft zu Der Gipfel der Staats- und Regierungschefs von Euro- kümmern, die aufgrund der stockenden politischen und päischer Union und den westlichen Balkanländern vor wirtschaftlichen Reformprozesse möglicherweise ver- einem Jahr in Thessaloniki hat aber auch für diese Län- besserungswürdig ist. Parallelstrukturen müssen abge- der außer einer leichten Erhöhung der Stabilitätspaktmit- baut und zwischen den einzelnen Wiederaufbaustruktu- tel ausschließlich die Beitrittsperspektive formuliert. ren deutlich mehr Kohärenz geschaffen werden. Dies ist für diese Länder aber noch keine ausreichende Strategie. Denn mit der Beitrittsperspektive allein kann Die Stabilisierung der Region des Balkans bleibt es- diesen Ländern kein ausreichender Anreiz für eine sta- senzielle europäische Aufgabe und trifft damit unser al- bile Entwicklung geboten werden. Hier muss die Euro- ler Verantwortung. päische Union beginnen umzusteuern. Dafür drei Emp- fehlungen: Michael Stübgen (CDU/CSU): Dass die Situation in (B) Erstens. Der Stabilitätspakt Südosteuropa hat sich ins- (D) Südosteuropa so ist, wie sie sich gegenwärtig darstellt, gesamt als ein sehr erfolgreiches Instrument erwiesen, ist eine Folge der insgesamt erfolgreichen Politik der in- diesen Ländern schnellstmöglich Wiederaufbauhilfe zu ternationalen Gemeinschaft, der Europäischen Union gewähren. Die Tatsache, dass in der mittelfristigen Fi- und auch der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist aber nanzplanung des Bundes die Mittel für den Stabilitäts- auch – und darauf sei an dieser Stelle hingewiesen – der pakt bis 2006 auslaufen, trägt nicht zu einer Investitions- Erfolg von vielen tausend Menschen, die mit hohem En- sicherung bei. Für den Einsatz der finanziellen Mittel gagement, persönlichen Entbehrungen, teilweise auch haben sich aber auch Probleme durch die äußerst kom- unter Einsatz ihres Lebens in diesen Ländern seit vielen plexe Struktur des Stabilitätspaktes ergeben. Wichtig ist Jahren zur Friedenssicherung und für den Wiederaufbau jetzt, dass spätestens für die Finanzperiode ab 2007 die arbeiten. Diesen Menschen möchte ich an dieser Stelle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union und der EU- ausdrücklich Dank sagen. So unbefriedigend die gegen- Mitgliedstaaten – die bisher im Rahmen des Stabilitäts- wärtige Situation auch ist, so hat sich doch die Balkan- paktes erfolgt sind – vollständig in die Struktur der EU strategie der internationalen Gemeinschaft und der Euro- integriert und die Aufgaben einer Agentur übertragen päischen Union bis jetzt insofern bewährt, als es keinen werden. Hierfür muss auch – und zwar für die gesamte Krieg mehr auf dem Balkan gibt und ethnische Ausei- Finanzperiode bis 2013 – eine eindeutige Finanzierungs- nandersetzungen zurückgedrängt werden konnten. sicherheit geschaffen werden. Damit verbunden werden sollten aber auch einheitliche Kriterien für die Vergabe Wenn wir uns allerdings an dieser Stelle über die ak- der Förderung. Ich denke, dass in diesem Zusammen- tuelle Situation in Südosteuropa unterhalten, müssen wir hang eine Initiative der Bundesregierung erforderlich auch die Defizite analysieren und notwendige Verände- wäre. rungen unserer Politik diskutieren. Die Situation der ein- zelnen Länder in Südosteuropa ist extrem differenziert. Zweitens. Der Motor für eine stabile Entwicklung hin Sie teilen sich aber in zwei Entwicklungsstufen: Zum zu Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Entwicklung und einen sind das die Länder mit einem gefestigten Staats- sozialem Wohlstand kann aber nur in diesen Ländern ak- gebiet, mit einer kontinuierlichen Entwicklung, bis hin tiviert werden. Und dies geht – wie es alle mittel- und zu einer sich klar abzeichnenden Beitrittsperspektive zur osteuropäischen Länder gezeigt haben – nur, wenn in der Europäischen Union. Dies sind Bulgarien, Rumänien, politischen Klasse und in der Bevölkerung die Überzeu- Kroatien und auch bedingt Mazedonien. In diesen Län- gung wächst, dass sie am wirtschaftlichen Fortschritt der dern hat sich die Politik der EU, durch die Vermittlung Europäischen Union einschließlich einem entstehenden einer klaren Beitrittsperspektive, verbunden mit der Auf- Wettbewerb um die schnellstmögliche Integration teilha- nahme von Beitrittsverhandlungen, diese wirtschaftli- ben können. Die Europäische Union muss für diese 10494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Länder aber eine klare Zwischenperspektive vor einer wesentlichen Verbesserung der Durchführung der um- (C) vollständigen Mitgliedschaft bieten, die auch für diese fangreichen europäischen Hilfe eingebracht. Grundge- Länder erkennbare Erfolgserlebnisse produziert. Diese danke ist, dass wir ein wesentlich besseres Monitoring, Strategie muss die Europäische Union jetzt definieren. eine wesentlich bessere Koordination brauchen. Es gibt eine Organisation, die in der Region bewiesen hat, dass Drittens. Die künftige Förderung in den südosteuro- sie das sehr gut kann, die EAR in Thessaloniki. päischen Ländern sollte sich stärker an der regionalen Kooperation zwischen diesen kleinen und kleinsten Län- Die Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs- dern orientieren; denn ohne ein Wachsen dieser Koope- koalition lehnen diesen Vorschlag stereotyp ab. Sie wei- ration ist eine langfristige friedliche Entwicklung dieser gern sich, neue Wege zu denken. Das bringt uns aber Region nicht vorstellbar. nicht weiter, das bringt die Menschen auf dem Balkan nicht weiter, das ist auch auf die Dauer unseren Wählern Es liegt in unserem zwingenden Interesse, dass die nicht zu verkaufen. südosteuropäischen Länder möglichst rasch Perspekti- ven für die Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt in Wir haben mit Thessaloniki ein starkes politisches Europa erkennen können. Dazu müssen wir uns darauf Commitment für die Staaten der Region abgegeben; das einstellen, dass wir noch für eine lange Zeit erheblichen ist richtig. Dieses Commitment muss aber mit Leben ge- finanziellen und technischen Aufwand für die wirt- füllt werden. Wir müssen neue Wege gehen, wir müssen schaftlichen Aufbaumaßnahmen betreiben müssen. Dies neu nachdenken. Fangen Sie endlich an, mitzudenken. gilt ebenso für den militärischen und polizeilichen Ein- satz. Korrekturen der jetzigen Strategie, um sie auch Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen langfristig stabil zu gestalten, sind allerdings jetzt not- Amt: Ziel der Südosteuropapolitik der Bundesregierung wendig. ist die langfristige und nachhaltige Stabilisierung der Gesamtregion. Dies setzt ein massives und andauerndes Dr. Rainer Stinner (FDP): Wenn man den Bericht Engagement voraus. Die Bundesregierung setzt dabei der Bundesregierung über die Ergebnisse ihrer Bemü- auf den Prozess der Europäisierung, zu dem es keine Al- hungen liest, könnte man der Meinung sein, die Welt auf ternative gibt. Zur Sicherung der erreichten Fortschritte dem Balkan sei doch in Ordnung, alles sei auf das Beste und Verhinderung neuer Gewaltausbrüche ist vorerst geordnet. auch noch der Einsatz militärischer und polizeilicher Mittel notwendig. Dies haben uns die März-Ereignisse Jeder, der die genauen Verhältnisse kennt, weiß, dass im Kosovo erneut deutlich vor Augen geführt. das nicht der Wahrheit entspricht. Trotz vieler Anstren- gungen, trotz großer Geldleistungen, trotz vieler Pro- Trotz des Rückschlags im Kosovo fällt die Gesamtbi- (B) gramme sind die Dinge auf dem Balkan nicht geordnet, lanz für die Region positiv aus. Demokratische Instituti- (D) gibt es nicht die Fortschritte, die wir alle erwartet haben onen und Verfahren sind inzwischen liberal verankert. und die dringend notwendig sind. Die Sicherheitslage hat sich weiter gebessert, sodass bei- spielsweise die Militärpräsenz in Mazedonien beendet Schon die Überschrift des Berichtes der Bundesregie- werden konnte. Die Besonnenheit, mit der in der Nach- rung ist inkorrekt. Es wird suggeriert, es gäbe eine politi- barschaft des Kosovo auf die März-Unruhen reagiert sche und ökonomische Gesamtstrategie für die Region. wurde, ist ein Zeichen zunehmender regionaler Stabilität. Eine solche Gesamtstrategie gibt es aber nicht. Oder denken wir an Bosnien und Herzegowina: Lord Es gibt einzelne Instrumente, die zumeist gut gemeint Ashdown, der Hohe Repräsentant der internationalen sind, die aber dringend der Überarbeitung bedürfen. Es Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, hat kürzlich gibt aber keine Abstimmung aller Instrumente zur För- anlässlich eines Deutschlandbesuchs darauf hingewie- derung der Region. Es gibt kein Controlling und kein sen, dass auch Bosnien und Herzegowina ein Beispiel Monitoring. Es gibt keine Beurteilung der Effektivität erfolgreicher europäischer Friedens- und Sicherheitspo- und der Effizienz der Instrumente. Das gilt insbesondere litik sind, an der auch Deutschland einen großen Anteil für den so hoch gelobten Stabilitätspakt. Auf meine hat. schriftliche Frage vom November 2003 nach der Höhe der Zahlungen der Geberländer des Stabilitätspaktes ant- Aber der Übergang zu stabilen politischen und wirt- wortete die Bundesregierung wörtlich: „Eine kontinuier- schaftlichen Verhältnissen ist keineswegs überall ge- liche Erhebung der Geberleistungen für Projekte im sichert. Es geht jetzt um die Verstetigung der Reform- Rahmen des Stabilitätspaktes existiert nach Kenntnis der prozesse; es geht darum, Demokratie und Rechtsstaat in Bundesregierung nur im Infrastrukturbereich.“ Deutsch- den Ländern fest zu verankern und funktionsfähige staat- land hat seit 2000 über 1 Milliarde Euro für Projekte liche Strukturen und Institutionen zu schaffen, und es ausgegeben und weiß nicht, ob andere Geber vielleicht geht insbesondere auch darum, auf die wirtschaftlich- die gleichen Projekte finanziert haben. Kein Wunder, sozialen Probleme eine Antwort zu finden und die orga- dass der Fortschritt auf dem Balkan ausbleibt. nisierte Kriminalität entschlossen zu bekämpfen. Heute und morgen findet ein großes Balkan-Forum Der Wunsch, möglichst bald der EU beizutreten, hat unter dem Motto: „Rethinking the Balkans“ statt. Ein sich für südosteuropäische Staaten als der entscheidende solches Rethinking ist dringend geboten. Da darf die Motor für Reformen erwiesen. Das Tempo der Annähe- Bundesregierung auch ruhig mitdenken. Aber da kommt rung an die EU ist unterschiedlich, das Ziel aber unbe- zu wenig. Wir haben einen ganz konkreten Vorschlag zur stritten. Die EU steht zu der Beitrittsperspektive, die sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10495

(A) den Ländern des westlichen Balkans zugesagt hat. Das Dieser Satz stammt nicht etwa aus einer Informati- (C) Tempo der Annäherung an die EU bestimmen diese Län- onsbroschüre des Bundesministeriums für wirtschaftli- der aber selbst. Von ihren Eigenanstrengungen hängt es che Zusammenarbeit und Entwicklung, sondern von ab, wie bald sie der EU beitreten können. Dr. Michael Blank, dem Leiter des Referats Entwick- lungspolitik des Deutschen Industrie- und Handelskam- Das Beispiel Kroatiens zeigt, welche Fortschritte mög- mertages, veröffentlicht in der Zeitschrift „E+Z“ im Juni lich sind, wenn demokratische und marktwirtschaftliche 2003. Reformen konsequent umgesetzt werden. Kroatien macht sich deswegen zu Recht Hoffnungen, auf dem bevorste- Wer hätte eine solche Aussage noch vor einem Jahr- henden ER als Beitrittskandidat anerkannt zu werden. zehnt für möglich gehalten? Entwicklungspolitik und Aber das unterschiedliche Reformtempo führt auch Wirtschaft galten sowohl aufseiten der Unternehmen als zu rasch wachsenden Unterschieden innerhalb der Re- auch bei der Mehrzahl der Aktiven im Bereich der Ent- gion. Um zu vermeiden, dass neue Grenzen auf dem Bal- wicklungszusammenarbeit als unvereinbar. Hier die ver- kan entstehen, muss vor allem die regionale Kooperation meintlich „weichen“ Themen menschliche Entwicklung, intensiviert werden. Sie ist unter dem Dach des Stabili- Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit – dort die raue Welt tätspaktes für Südosteuropa bereits von Jahr zu Jahr des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. Wo sollte da die dichter geworden und zunehmend in die Hände der Län- Schnittmenge gemeinsamer Interessen liegen? der der Region übergegangen. Im fünften Jahr nach der Einführung der PPP-Fazilität Das Wirtschaftswachstum in der Region hat sich seit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen- 2001 zwar verstetigt, in einigen Ländern des westlichen arbeit und Entwicklung stellen wir nicht ohne Stolz fest: Balkans ist es aber bei weitem nicht ausreichend. Zur Es gibt eine Schnittmenge. Sie ist gar nicht so unschein- Finanzierung der erforderlichen Umstrukturierungsmaß- bar und unsere Entwicklungspolitik hat sie aktiviert. nahmen sind internationale Kapitalzuflüsse unverzicht- bar. Hier steht die internationale Gemeinschaft auch Wie konnte dies angesichts der Vorbehalte auf beiden künftig in der Verantwortung. Gleichzeitig müssen aber Seiten gelingen? Die Lösung ist einfach. Die Ängste und die betroffenen Länder auch selbst die hausgemachten Befürchtungen, im globalen Geschehen nicht bestehen Hindernisse erkennen und entschlossen abbauen. Wich- zu können, wenn man die Grundsätze der Armutsbe- tig sind vor allem die Herstellung von Rechtssicherheit kämpfung nicht beachtet, sind bei vielen Beteiligten an- und der Abbau der Korruption sowie die Schaffung eines gesichts der veränderten weltwirtschaftlichen Rahmen- gemeinsamen Marktes. bedingungen gewachsen. Eine militärische oder polizeiliche Präsenz der inter- (B) Um die Herausforderungen der Globalisierung zu (D) nationalen Gemeinschaft ist in einigen Teilen des westli- meistern und ihre Chancen zu nutzen, haben wir mit der chen Balkans bis auf weiteres unverzichtbar. Solange Millenniums-Deklaration, dem Monterrey-Konsensus fragile Verfassungsstrukturen und rechtsstaatliche Defi- zur Entwicklungsfinanzierung und dem Johannesburg- zite das Funktionieren des Staates behindern und ethni- Aktionsplan die Grundlagen für eine globale Partner- sche Kategorien das politische Handeln mitbestimmen, schaft zwischen Nord und Süd zur Bekämpfung der Ar- würden militante Extremisten es leicht haben, das politi- mut geschaffen. sche Vakuum zu nutzen, um ihre Ziele gewaltsam durch- zusetzen. Dies dürfen wir nicht zulassen. Die Verwirklichung dieses ehrgeizigen Programms erfordert von allen Akteuren – staatlichen, aber auch pri- Die Stabilisierung Südosteuropas bleibt politische vaten – erhebliche Anstrengungen. Nach Berechnungen Priorität; wir werden deshalb unser Engagement in Süd- der UN benötigen die Entwicklungsländer bei guter Re- osteuropa mit unverändertem Nachdruck fortsetzen. gierungsführung allein für die Verwirklichung der Mil- lenniums-Entwicklungsziele zusätzliche Mittel im Rah- men der Entwicklungszusammenarbeit in Höhe von Anlage 8 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Zu Protokoll gegebene Reden Die Entwicklungs- und Industrieländer haben sich auf zur Beratung der Anträge: der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Monter- – Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt- rey im März 2002 auf einen gemeinsamen Ansatz zur schaft weiterentwickeln – gemeinsam Armut Mobilisierung von Finanzmitteln für die Entwicklungs- bekämpfen politik geeinigt. – Menschen mit Behinderung in Entwick- Die Entwicklungsländer bekräftigten ihre Eigenver- lungszusammenarbeit einbeziehen antwortung in den Bereichen guter Regierungsführung (Tagesordnungspunkt 21 a und b) und entwicklungsfördernder interner Rahmenbedingun- gen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbe- kämpfung und Beteiligung der Zivilgesellschaft. Im Ge- Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): genzug haben sich die Industrieländer verpflichtet, ihre „Die Bilanz der ersten Jahre der PPP-Fazilität ist ODA-Quote bis zum Jahr 2006 zu erhöhen, was nach (…) durchaus positiv und wird von der großen Berechnungen der OECD zusätzliche Mittelzusagen in Mehrheit der Beteiligten als Erfolg gewertet.“ Höhe von 16 Milliarden US-Dollar zur Folge hat. 10496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Trotz dieser bemerkenswerten Verhandlungserfolge GTZ unter schwierigsten äußeren Bedingungen die Pro- (C) sind die Ziele der Millenniums-Deklaration und des Jo- duktion und Ausgabe preiswerter Aids-Medikamente auf hannesburg-Aktionsplans nicht alleine mit öffentlichen und engagiert sich bei der Versorgung und der Betreuung Mitteln erreichbar. Es gilt, privatwirtschaftliche Res- der Infizierten. Der öffentliche Beitrag zu diesem Pro- sourcen zu mobilisieren und die gesellschaftspolitische jekt beläuft sich auf rund 200 000 Euro aus der PPP-Fa- und soziale Verantwortung der Unternehmen für eine ge- zilität und geschätzte 100 000 Euro für fachliche Bera- rechte Ausgestaltung der Globalisierung einzufordern. tung und Unterstützung durch ein von der GTZ durchgeführtes Aids-Projekt im Zeitraum 2003 bis 2006. Die Global-Compact-lnitiative von UN-Generalsekre- Der Beitrag des Unternehmens beträgt 380 000 Euro für tär Kofi Annan fordert den Privatsektor auf neun zentrale den Aufbau des Produktions- und Diagnosezentrums. Werte in den Bereichen Arbeitsnormen, Menschenrechte und Umwelt zu unterstützen und durchzusetzen. Sowohl Einige Kolleginnen und Kollegen konnten sich auf der Monterrey-Konsensus als auch die Abschlusserklä- einer Ausschussreise im April einen persönlichen Ein- rung von Johannesburg betonen die Notwendigkeit, Ent- druck von dem Projekt machen. Meine Kollegin Brigitte wicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft einzugehen, Wimmer bat gerade gestern in der Sitzung des Aus- um die angestrebten Entwicklungsziele zu erreichen. schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung im Rahmen der aktuellen Unterrichtung So muss die Zusammenarbeit von staatlicher Ent- „Kongo“ um Informationen über den aktuellen Stand des wicklungspolitik und Privatwirtschaft bei solchen Vor- Projektes. Wir alle müssen mit ihr hoffen, dass es fortbe- haben ausgebaut werden, die einen entwicklungspoliti- steht. schen Nutzen erbringen und gleichzeitig im Interesse der beteiligten Unternehmen liegen. Damit wurde ein grund- Denn unternehmerischer Einsatz hält sich in Krisen- sätzlicher Paradigmenwechsel in der Entwicklungszu- regionen in Grenzen. sammenarbeit eingeleitet und ein neues, innovatives Ein weiteres Beispiel bietet ein großes deutsches Feld der Zusammenarbeit eröffnet, dessen Bedeutung in Schuhhaus, das sich im Rahmen eines PPP-Projektes da- den kommenden Jahren noch zunehmen wird. für einsetzt, bei den asiatischen Zulieferbetrieben die Ar- Die Bundesrepublik Deutschland nimmt bei der För- beitsbedingungen durch die Einführung von Sozial- und derung der Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt- Umweltstandards nachhaltig zu verbessern. schaft international eine Spitzenposition ein. Im Rahmen Gerade dieses Beispiel zeigt: Ohne PPP liefe die der so genannten PPP-Fazilität fördern wir seit 1999 Durchsetzung sozialer und ökologischer Mindeststan- Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft. Unter- dards noch langsamer oder gar nicht an. Aber durch die stützt werden Unternehmensprojekte, die zusätzliches Erfahrung von veränderten Arbeitsbedingungen wird ein (B) (D) privates Kapital für die soziale und wirtschaftliche Ent- Dominoeffekt entstehen, der die öffentlichen Mittel zur wicklung der Partnerländer mobilisieren. Durchsetzung bald überflüssig macht. In den ersten drei Jahren standen dafür Mittel des Besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusam- Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenar- menhang, dass rund 70 Prozent der Projekte im Rahmen beit und Entwicklung in Höhe von 56,4 Millionen Euro der PPP-Fazilität von kleinen und mittleren Unterneh- bereit. Für die zweite dreijährige Phase ab 2002 sind men verwirklicht werden. Sie bieten mit kostengünsti- weitere 50 Millionen Euro eingeplant. gen und technologisch angepassten Lösungsansätzen In vier Jahren konnten so im Rahmen der Fazilität besonders günstige Voraussetzungen für eine durchgrei- rund 600 innovative Einzelprojekte und langfristige stra- fende Bekämpfung von Armut in den Partnerländern. tegische Allianzen mit einem Mittelvolumen von mehr Denn gerade die kleinen und mittleren Unternehmen als 200 Millionen Euro schnell und unbürokratisch reali- haben eine wichtige Multiplikatorenfunktion. Sie wer- siert werden. den durch PPP-Projekte für die Probleme der Entwick- Berücksichtigt man die Investitionsförderung von lungszusammenarbeit sensibilisiert und tragen ihre Er- DEG, KfW und InWEnt, so sind in vier Jahren in fahrungen in weite Teile der Wirtschaft hinein. 70 Ländern auf vier Kontinenten mehr als l 000 Öffent- Der Erfolg zeigt sich darin, dass bei den mit der lich-Private-Partnerschaften mit einem Mittelvolumen Durchführung der Entwicklungspartnerschaften betrau- von über 4,7 Milliarden Euro realisiert worden. Mit öf- ten Organisationen inzwischen weit mehr Projektanträge fentlichen Mitteln in Höhe von 1,8 Milliarden Euro gestellt werden, als mit den vorhandenen Mitteln umge- konnten private Investitionen von knapp 3 Milliarden setzt werden können. Euro angestoßen werden. Dennoch: Neue Maßnahmen werden von uns genau Von A wie Aids-Bekämpfung bis Z wie Zertifizierung auf deren Wirkung hin beobachtet, beurteilt und im wei- wurden in unterschiedlichsten Feldern innovative Ein- teren Verfahren optimiert. Deshalb gab es bereits im frü- zelprojekte realisiert. Ohne die Unterstützung des BMZ hen Stadium eine Evaluierung der PPP-Fazilität. Rot- wären sie ausgeblieben oder ohne entwicklungspoliti- Grün hat die Empfehlungen dieser ersten Evaluierung schen Mehrwert realisiert worden. zur Grundlage einer Weiterentwicklung der Partner- schaft mit der Wirtschaft gemacht. So baut ein deutsch-belgisches pharmazeutisches Fa- milienunternehmen in Bukavu in der Demokratischen Erstens. Die innovativen kleinteiligen Projekte der Republik Kongo im Rahmen eines PPP-Projektes der Fazilität werden durch strategische Allianzen ergänzt, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10497

(A) um so die strukturbildenden Effekte der Entwicklungs- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung kom- (C) partnerschaften zu erhöhen. Erste erfolgreiche Beispiele patibel sein. für derartige Allianzen sind die Zusammenarbeit mit Zweitens. Beide Seiten müssen durch den komple- dem Deutschen Kaffee-Verband und der Außenhandels- mentären Einsatz öffentlicher und privater Mittel ihre je- vereinigung des deutschen Einzelhandels zur Erarbei- weiligen Ziele kostengünstiger, wirksamer und schneller tung und Einführung von Umwelt- und Sozialstandards erreichen. für Kaffeefirmen und Zulieferbetriebe in der Beklei- dungsindustrie. Drittens. Es dürfen nur Maßnahmen gefördert wer- den, die ohne öffentlichen Beitrag nicht oder mit gerin- Zweitens. Die Entwicklungspartnerschaften werden gerer entwicklungspolitischer Wirkung von einem Un- in stärkerem Maße in die bilaterale Entwicklungszusam- ternehmen erbracht würden. menarbeit mit den Partnerländern eingebunden. Dadurch ist es möglich, die Signifikanz des Instruments zu erhö- Viertens. PPP-Vorhaben müssen allen Unternehmen hen und die Synergieeffekte zwischen staatlicher Ent- offen stehen. wicklungszusammenarbeit und privatwirtschaftlichem Fünftens. Die Unternehmen müssen einen substan- Engagement im Rahmen von Entwicklungspartnerschaf- ziellen Eigenbeitrag, der in der Regel mindestens ten zu verstärken. Im Jahr 2003 ist erstmals mehr priva- 50 Prozent des Gesamtaufwandes betragen sollte, selbst tes Kapital durch PPP-Projekte im Rahmen der bilatera- finanzieren. len Entwicklungszusammenarbeit eingeworben worden als im Rahmen der Fazilität. Diese Auswahlkriterien sollten nicht als Hindernis verstanden werden, sondern als Beispiele dafür, wie pri- Drittens. Wir werden dafür Sorge tragen, dass in der vatwirtschaftliches Gewinnstreben und eine nachhaltige, Praxis der Entwicklungspartnerschaften ein besonderes soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Einklang ge- Gewicht auf die Förderung von Maßnahmen gelegt wird, bracht werden können. Die Zusammenarbeit zwischen die der strukturellen Armutsminderung, zum Beispiel Wirtschaft und Politik im Rahmen der Entwicklungs- durch Bildungs- und Qualifizierungsprojekte, dienen. partnerschaften hat somit Laborcharakter. Sie öffnet den Blick der Wirtschaft für deren globale Verantwortung in Bei all diesen positiven Entwicklungen möchte ich an der gemeinsamen Bekämpfung der Armut. Sie öffnet dieser Stelle nicht verschweigen, dass es insbesondere den Horizont für eine gerechte Gestaltung der Globali- vonseiten der Nichtregierungsorganisationen, aber auch sierung. vonseiten der Wirtschaft vereinzelt Kritik am Konzept der Entwicklungspartnerschaften gibt. Die Nichtregie- Es ist nicht notwendig, die Kriterien für die Entwick- rungsorganisationen befürchten, die Zusammenarbeit mit lungspartnerschaften aufzuweichen, sondern humani- (B) (D) den Unternehmen werde die Entwicklungspolitik lang- täre, ökologische und soziale Standards nach und nach fristig zu einer neuen Form der Außenwirtschaftsförde- für den ganzen Bereich der Außenwirtschaft unwiderruf- rung degradieren. Die Wirtschaft hingegen ist an einer lich zu selbstverständlichen Grundsätzen zu machen. weiteren Lockerung der Kriterien und einer noch unbüro- Denn wenn wir die Herausforderungen der Zukunft kratischeren Abwicklung der Genehmigungsverfahren meistern wollen, ist es unabdingbar, die gesellschaftspo- für Entwicklungspartnerschaften interessiert. litische und soziale Verantwortung der Unternehmen für eine gerechte Ausgestaltung der Globalisierung einzu- Dieser Kritik möchte ich entgegenhalten: Die Ab- fordern. grenzung zwischen den Entwicklungspartnerschaften und der Außenwirtschaftsförderung ist durch die strikte Die Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft Orientierung an den entwicklungspolitischen Zielvorga- sind hier ein wichtiger Hebel, gerade wenn sie mit der ben der Bundesregierung bisher und in Zukunft gewähr- Global-Compact-Initiative von UN-Generalsekretär leistet. Kofi Annan verknüpft werden. Wenn alle gesellschaftli- chen Kräfte in diesem Sinne sensibilisiert und mobili- Die Grundlage der Entwicklungspartnerschaften ist siert werden, besteht die Aussicht auf eine gerechtere und bleibt die Mobilisierung eines Beitrags zur sozialen Welt. Wirtschaft und Unternehmen müssen ihren Image- und wirtschaftlichen Entwicklung der Partnerländer. Die Gewinn aus entwicklungspartnerschaftlichem Handeln Grundlage ist nicht der Förderbedarf deutscher oder erkennen und ausbauen. europäischer Unternehmen. Für die Zivilgesellschaft gilt: Verbraucherinnen und Wir wollen die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, Verbraucher müssen ihre Macht einsetzen und mehr und aber als Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungs- mehr Transparenz im ökonomischen Geschehen einfor- politiker bestimmen wir die Rahmenbedingungen für die dern. Parlamente überall auf der Welt müssen für die po- Zusammenarbeit und setzen Grenzen. litischen Rahmenbedingungen sorgen. So können wir Fehlentwicklungen frühzeitig verhindern und die Poten- Wir wollen, dass auch in Zukunft Entwicklungspart- ziale der Entwicklungspartnerschaften für die globale nerschaften mit der Wirtschaft fünf Auswahlkriterien er- Bekämpfung der Armut optimal nutzen. füllen: Gerade in diesem Zusammenhang finde ich es sehr Erstens. Sie müssen mit den entwicklungspolitischen bedauerlich, dass die Opposition, die sich doch gerade Zielvorgaben der Bundesregierung sowie den Länder- wegen ihrer besonderen Nähe zur Wirtschaft immer und Sektorenkonzepten des Bundesministeriums für gerne selbst auf die Schulter klopft, auch heute wieder 10498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) zur Frage der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und bringen lassen, ist dieser Gedanke ja auch nur allzu ver- (C) Entwicklungszusammenarbeit nichts Konstruktives bei- lockend. Ich bitte Sie aber, in Erinnerung zu behalten, zusteuern weiß. dass wirtschaftliche Aktivität Entwicklungspolitik nicht ersetzen kann. Unter anderem zielt Entwicklungspolitik Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, nämlich auch auf die Schaffung öffentlicher Güter, etwa ihre Rat- und Tatenlosigkeit bei der Auseinandersetzung demokratische Institutionen, effektive Rechtsordnung, mit innovativen Ansätzen im Bereich der Entwicklungs- die für unternehmerische Betätigung zwar zentrale Vor- zusammenarbeit macht wieder einmal deutlich, dass Sie aussetzung sind, davon aber nicht hergestellt werden die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Sie versuchen können. immer noch, mit den entwicklungspolitischen Konzep- ten von vorgestern die Probleme von übermorgen zu lö- Die Unternehmen, die sich im Rahmen der PPP enga- sen. Dennoch hoffe ich, dass sie sich im Rahmen der gieren, verfolgen das für Unternehmen einzige – und le- Ausschussberatungen zum vorliegenden Antrag einer gitime – Ziel: Sie wollen und müssen Gewinne machen. konstruktiven Zusammenarbeit nicht verschließen wer- Es ist naiv zu glauben, sie auf Dauer auf karitative Zwe- den. cke verpflichten zu können. Deshalb gehört es zu den zwingenden Voraussetzungen einer erfolgreichen PPP, Wir werden auf jeden Fall den erfolgreichen Weg, den dass Unternehmen in den Entwicklungsländern gute und wir bei den Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt- stabile Rahmenbedingungen vorfinden. Hier liegen noch schaft eingeschlagen haben, fortsetzen und gemeinsam viele ungelöste Probleme, die auch weiter mit klassi- mit der Wirtschaft zur weltweiten Bekämpfung der Ar- schem entwicklungspolitischem Instrumentarium bear- mut beitragen. beitet werden müssen. Die großen Mängel, die es in vie- len unserer Partnerländer zum Beispiel bei Steuern, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Wir spre- Rechtssicherheit und Korruptionsproblematik nach wie chen heute über zwei neue Tendenzen in der Entwick- vor gibt, sind mit privatem Kapital nicht zu lösen. lungszusammenarbeit. Beide beruhen auf Erkenntnissen, Wir sollten uns in diesem Zusammenhang auch ein die sich in der deutschen entwicklungspolitischen Dis- paar Gedanken machen, wie wir uns stärker den kleinen kussion erst noch richtig durchsetzen müssen. Im Be- Unternehmen im informellen Sektor zuwenden können. reich der Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt- Hier muss dem Instrument der Mikrofinanzierung we- schaft stehen wir erst am Anfang der Möglichkeiten; sentlich mehr Bedeutung zukommen als bisher. Die Ver- ebenso wie wir erst begonnen haben, die Behindertenar- einten Nationen haben 2005 zum Jahr der Mitfinanzie- beit als Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit zu rung ausgerufen. Das ist ein guter Ansatzpunkt, um auf begreifen. Zur Begründung unseres Antrags komme ich diesem Gebiet Fortschritte zu erzielen, um Hemmnisse (B) (D) später. für Mikrofinanzierungsprogramme abzubauen. Doch zunächst einige Anmerkungen zum Antrag der Entwicklungspartnerschaft heißt, die globalen Ent- Koalitionsfraktionen: Gemeinsam mit der Bundesregie- wicklungsprobleme durch komplementäre Anstrengung rung werben sie aktiv für den Ausbau von Entwicklungs- von Wirtschaft und Politik anzugehen. Deshalb meine partnerschaften mit der Wirtschaft. Die Förderung Mahnung: Es ist der falsche Weg, die Wirtschaft in die von Private Public Partnership sei eine wichtige sektor- Pflicht zu rufen, nur um die Entwicklungspolitik allmäh- übergreifende Schwerpunktaufgabe. Die Bündelung lich aus dem Spiel nehmen zu können. Wenn Sie das be- deutscher Entwicklungszusammenarbeit mit den Ent- herzigen, sind wir gerne zur Zusammenarbeit in diesem wicklungsbeiträgen von international operierenden Un- Bereich bereit. ternehmen sei von großer Bedeutung. Zu dieser Zusammenarbeit lade ich Sie auch ein, Ich darf feststellen, dass wir den verstärkten Einsatz wenn es darum geht, die sozialen und ökonomischen von PPP grundsätzlich begrüßen. PPP ist sicher ein sinn- Teilhabechancen behinderter Menschen in den Entwick- volles Instrument, um Unternehmen als kompetente lungsländern zu fördern. Hier müssen wir umdenken. In Partner zur Lösung komplexer Probleme zu gewinnen. der Ausschusssitzung am 28. Januar haben wir dazu ja Wir stimmen Ihnen in der Auffassung zu, dass es sehr einige Anregungen präsentiert bekommen. Wir müssen viele interessante Ansätze für Entwicklungsallianzen mit erkennen, dass Behinderung in den armen Ländern der der Wirtschaft gibt. Die Spielräume dafür sind längst Erde einerseits eine Erscheinungsform von Armut und noch nicht ausgeschöpft, ja noch nicht einmal vollstän- Unterentwicklung ist, andererseits aber auch selbst zum dig ausgelotet. Armutsrisiko und zum Hemmnis für Entwicklung wer- den kann. Armut kann Ursache und Folge von Behinde- Ein paar kritische Anmerkungen zu diesem Bereich rung sein. Bisher haben wir die Behindertenarbeit in den kann ich Ihnen aber nicht ersparen. Betrachtet man sich Entwicklungsländern hauptsächlich immer nur unter ka- den Entwicklungshaushalt der vergangenen Jahre, lässt ritativen Aspekten oder als Menschenrechtsfrage gese- Ihre Begeisterung für PPP einen schlimmen Verdacht hen. Mit dieser Zugangsweise allein ist dem enormen aufkommen: Es könnte sich der Eindruck aufdrängen, Problem aber nicht beizukommen. dass die Beschwörung der Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft Ausdruck einer Strategie ist, sinkende Ein Blick auf die Statistik spricht eine eindeutige öffentliche Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit Sprache: 80 Prozent der Menschen mit Behinderungen durch privates Kapital ausgleichen zu wollen. Ange- leben in Entwicklungsländern – mit stark steigender sichts der haushälterischen Not, in die Sie sich haben Tendenz. Jede vierte in Armut lebende Familie hat ein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004 10499

(A) Familienmitglied mit einer Behinderung. Die Ursachen lanz im Auge haben, sondern im Sinne einer auch sozia- (C) dieser Behinderungen wären vielfach vermeidbar und len und ökologischen Selbstverantwortung – Corporate entstehen durch Armutsfaktoren. Behinderung führt in Social Responsibility – in anderen Ländern tätig werden. Entwicklungsländern allzu oft nicht nur zu sozialer Aus- Mehr und mehr aufgeklärte Konsumenten und Konsu- grenzung, Diskriminierung und zur materiellen Verelen- mentinnen, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen dung der einzelnen unmittelbar von Behinderung betrof- haben in der Vergangenheit durch ihr Verhalten bzw. fenen Menschen. Tatsächlich ist die Problematik von durch weltweit wirksame Kampagnen bewiesen, dass es solchem Ausmaß, dass die volkswirtschaftlichen Folge- ihnen nicht nur auf die Produkte ankommt, sondern auch kosten von Behinderung eine erhebliche Belastung für auf die Art und Weise ihrer Produktion. die jeweilige nationale Wirtschaft sind. Zwischen Ar- In dem Antrag „Entwicklungspartnerschaften mit der mut, Unterentwicklung und Behinderung besteht ein un- Wirtschaft weiterentwickeln – gemeinsam Armut be- bestreitbarer struktureller Zusammenhang. kämpfen“, den wir heute diskutieren, geht es besonders Mit unserem Antrag fordern wir, die Behindertenar- um ein Programm der Bundesregierung zur Förderung öf- beit als eine Querschnittsaufgabe der Entwicklungszu- fentlich-privater Partnerschaften in der Entwicklungszu- sammenarbeit zu begreifen. Es muss uns bewusst wer- sammenarbeit, Public Private Partnership. Wir diskutie- den, dass wir mit der Berücksichtigung der Belange ren also weniger über die gesamte Breite wirtschaftlicher behinderter Menschen auch an den Kernfragen von Ar- Kooperation mit Entwicklungs- und Schwellenländern, mutsbekämpfung und Entwicklung ansetzen. Ich bitte zum Beispiel durch die KFW oder die Deutsche Investi- Sie dafür um Ihre Mithilfe. Es wäre ein schönes Zeichen, tions- und Entwicklungsgesellschaft, sondern über die wenn Sie sich dazu im Interesse der Sache unserem An- Bedeutung der Entwicklungspartnerschaft mit der Privat- trag anschließen würden. wirtschaft, die im Wesentlichen durch die PPP-Fazilität gefördert wird. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir ha- Um es vorweg zu sagen: Ich halte diese Form der Ko- ben im Bundestag in den entwicklungspolitischen De- operation mit der Wirtschaft für sinnvoll, wenn sie zwei batten in jüngster Zeit über die Bedeutung der Entwick- Dinge erreicht. Es sollte erstens erreicht werden, dass in- lungsziele der Vereinten Nationen – Millennium novative Einzelprojekte gefördert werden können – und Development Goals – debattiert. Dabei ist vielfach un- dies nicht nur in unseren Schwerpunktpartnerländern, terstrichen worden, dass neben einem substanziellen sondern auch in anderen Ländern. Zweitens sollte er- Beitrag der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit, reicht werden, dass in bestimmten Sektoren Partner- einer vorteilhafteren Integration in die Weltwirtschaft schaften, die im Entwicklungsjargon so genannten stra- und der Überwindung von internen Entwicklungshemm- tegischen Allianzen, gebildet werden können. Wir sagen (B) nissen auch die Rolle privater Unternehmen relevant für aber genauso deutlich: Wir müssen bei den Programmen (D) eine nachhaltige Entwicklung in Entwicklungs- und sicherstellen, dass keine „Mitnahmeeffekte“ entstehen, Schwellenländern ist. sie nicht als klassische Außenwirtschaftsforderung zu verstehen sind. Unsere Zielrichtung liegt darin, einen Dabei gerät oft und berechtigt das Verhalten transna- entwicklungspolitischen Mehrwert durch die Mobilisie- tionaler Unternehmen in den Fokus der Debatte. Sie rung von zusätzlichen privaten Mitteln für sinnvolle Pro- können ganz erheblich zur Förderung sozialer und öko- jekte zu erzielen. logischer Standards beitragen. Zu meinem Bedauern existiert bislang noch kein verbindlicher Rahmen bzw. Es liegt ebenso darin, Projekte zu fördern, die ohne keine Konvention zur Durchsetzung sozialer und ökolo- die Zusammenarbeit mit einer staatlichen Durchfüh- gischer Standards. In Abwesenheit verbindlicher Regeln rungsorganisation nicht zustande kämen, Projekte, die unterstützen wir die Förderung freiwilliger Vereinbarun- sinnvoll für die Verbreitung angepasster Technologien gen, Verhaltenskodizes, die OECD-Richtlinien für trans- sind, wie in Nicaragua, wo Solartechnologie, ökologisch nationale Unternehmen. Vor allem unterstützen wir auch orientierter Tourismus und die Ausbildung von Techni- den Global Compact, den der Generalsekretär der Ver- kern in einem Projekt gemeinsam mit der Landkoopera- einten Nationen, Kofi Annan, ins Leben gerufen hat und tive Miraflor und anderen Partnern umgesetzt werden, in bei dem sich Unternehmen zur Einhaltung und Förde- Kenia beim Aufbau einer Biogasanlage oder aber der rung von Menschenrechts-, Umwelt- und Sozialstan- Einführung der Solarenergie auf dem Lande in marokka- dards selbst verpflichten. Die Zahl der Unternehmen, die nischen Dörfern, sinnvoll für die Bekämpfung der Ar- sich dem Global Compact angeschlossen haben, ist stark mut oder die Verbesserung der medizinischen Grundver- gestiegen. Gleichwohl ist die Zahl der deutschen Unter- sorgung. Dies geschieht in verschiedenen afrikanischen nehmen noch relativ klein. Staaten durch den Aufbau von Gesundheitsstationen und eine verbesserte Versorgung mit Medikamenten, durch Wir Grünen würden sehr begrüßen, wenn mehr deut- PPP-Kooperation. sche Unternehmen, die international tätig sind, sich die- ser Initiative anschließen würden. Das beinhaltet auch, Im Einzelfall sind selbst unter schwierigen Bedingun- dass transparent nachvollziehbar wird, wie durch eine gen PPP-Projekte möglich. So wird in der Provinz Bu- vorbildliche Geschäftspolitik ökonomische Interessen kavu in der Demokratischen Republik Kongo mit der mit sozialen und ökologischen Interessen verbunden Firma Pharmakina PPP ein Gesundheitszentrum aufge- werden können. Ich bin im Übrigen davon überzeugt, baut, das antiretrovirale Medikamente für an HIV/Aids dass Unternehmen besonders dann eine langfristige Per- erkrankte Menschen selbst herstellt und vertreibt. Damit spektive haben, wenn sie nicht nur die kurzfristige Bi- werden Arbeitsplätze geschaffen und den Ärmsten in der 10500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004

(A) Demokratischen Republik Kongo lebenden Aidspatien- bale Kaffeewirtschaft haben könnte und seine Anwen- (C) ten eine Medikamententherapie ermöglicht. In diesem dung in Asien, Afrika und Lateinamerika finden soll. Fall wirkt ein solches Projekt auch als stabilisierender Das Interesse anderer Staaten, solch eine neuartige Ko- Faktor in einer Krisenregion. operation zu organisieren, zeigt, dass wir diesen Ansatz weiterverfolgen sollten. Wenn sich dabei zeigt, dass gerade kleine und mittel- ständische Unternehmen auf hohem Niveau – circa Ein weiterer viel versprechender Ansatz ist die im 70 Prozent – von dieser Möglichkeit der Zusammenar- Jahr 2002 initiierte langfristig angelegte strategische Al- beit Gebrauch machen, ist dies ein begrüßenswerter lianz der GTZ mit der Außenhandelsvereinigung des Nebeneffekt. Denn dadurch werden Unternehmen beim deutschen Einzelhandels, AVE. Im Mittelpunkt steht Engagement in Entwicklungsländern unterstützt, die hierbei die Verbesserung der Umwelt- und Sozialstan- vielleicht wirtschaftliches Neuland betreten und auf ei- dards in Zulieferbetrieben der Textilindustrie in Ent- nen erfahrenen Partner wie die GTZ angewiesen sind. wicklungs- und Schwellenländern. Nach den Erfahrungen mit dem noch jungen Pro- gramm scheint sich zu zeigen, dass das Potenzial von Markus Löning (FDP): Es gibt in diesem Antrag et- PPP noch nicht ausgeschöpft ist. So können nicht alle was, was mich massiv stört: Einerseits wird eine Partner- Projekte, die als machbar und sinnvoll erachtet werden, schaft mit der Wirtschaft angestrebt, andererseits werden auch entsprechend gefördert werden. Hier sollte geprüft wieder die alten Klischees und Vorurteile vom Gegensatz werden, ob man gegebenenfalls mehr Ressourcen für zwischen Wirtschaft und Armutsbekämpfung bedient. diese Form der Kooperation einsetzen will, wiewohl mir Wie soll denn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit bewusst ist, dass diese Frage aufgrund der engen Spiel- der Wirtschaft entstehen, wenn die Zusammenarbeit ein- räume im Etat nicht leicht zu beantworten ist. gefordert wird, aber gleichzeitig Misstrauen gesät wird? Lassen Sie mich auf eine Kritik zu sprechen kommen, Was noch viel wichtiger ist: Wann verstehen die Kol- die beispielsweise von Nichtregierungsorganisationen legen von der Koalition endlich, dass es die Wirtschaft erhoben wird. Neben dem erwähnten Mitnahmeeffekt ist, die durch Investitionen Arbeitsplätze schafft, und stellen diese den Ansatz auch infrage, weil mit ihm bes- dass das beste Armutsbekämpfungsprogramm die Schaf- tenfalls „Insellösungen“ erreicht werden können. Das fung von möglichst vielen Arbeitsplätzen ist? kann im Einzelfall ein Problem sein und doch denke ich, dass aus den ersten Erfahrungen heraus gelernt worden Es gibt einen weiteren Punkt, den ich in diesem An- ist, vor allem indem versucht wird, PPP-Projekte stärker trag für falsch halte: die Bezugnahme auf den Global in die allgemeine technische Zusammenarbeit zu inte- Compact. Sie vergessen, den richtigen Kontext herzu- (B) grieren. stellen: Es ist nicht in erster Linie Verantwortung der (D) Unternehmen, für die Einhaltung von Menschenrechts- Trotzdem wird man im Einzelfall in Kauf nehmen standards zu sorgen. Dies ist in erster Linie Aufgabe der müssen, dass es auch Projekte gibt, die über ihren Rah- jeweiligen Staaten. Wir dürfen sie nicht aus ihrer Ver- men hinaus keine große Strahlkraft entwickeln. Aber pflichtung und ihrer Verantwortung gegenüber ihren auch das Gegenteil kann der Fall sein, wenn nämlich aus Bürgern entlassen. Dabei will ich die Initiativen der zeitlich, räumlich und finanziell sehr begrenzten Einzel- Wirtschaft in diesem Bereich keineswegs schmälern. Im projekten neue überregionale strukturverändernde Pro- Gegenteil: Da ist viel erreicht worden. Aber nicht funkti- gramme entwickelt werden. Dies ist zum Beispiel bei onierende Staaten können nicht durch unternehmeri- der HIV-/Aidsbekämpfung in Südafrika der Fall. sches Handeln ersetzt werden. Ich möchte noch einmal auf die strategischen Allian- Zu guter Letzt möchte ich deutlich machen, dass we- zen zu sprechen kommen. Diese sind aus meiner Sicht sentliche Punkte in diesem Antrag fehlen. Nur wenn es ein viel versprechender Ansatz. Beispiel strategische Al- gelingt, funktionierende Marktwirtschaften aufzubauen lianz im Kaffeesektor: Die seit Jahren fallenden Kaffee- – das impliziert immer funktionierende Verwaltung und preise sind für die Erzeuger eine Katastrophe. Wenn wir Gerichtswesen –, wird es gelingen, Armut zu bekämp- nun versuchen, mit den wichtigsten Kaffeeunternehmen, fen. Auch nur dann werden Unternehmen in größerem dem Deutschen Kaffee-Verband, den Produzenten, Be- Umfang investieren und damit Arbeitsplätze schaffen. schäftigten und entwicklungspolitischen Akteuren fai- rere Bedingungen zu vereinbaren – wir sind ein gutes Das halten wir Freien Demokraten nach wie vor für Stück vorangekommen auf diesem Weg –, wäre dies ein den Königsweg bei der Armutsbekämpfung: wenn die wirklich gutes Ergebnis. Ziel ist dabei, einen Verhaltens- Menschen der Dritten Welt die Chance haben, aus eige- kodex zu entwickeln, der Modellcharakter für die glo- ner Kraft ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

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