Sport

wannen der FC Sevilla den Uefa-Cup und der FC Barcelona die Champions League), befiel bei Welt- und Europameisterschaf- ten bislang scheinbar zwangsläufig eine Turnierneurose. Der einzige Titelgewinn, bei der EM 1964, fällt in das Jahr, in dem die Beatles mit „A Hard Day’s Night“ her- auskamen, und meist scheiterte die Mann- schaft kläglich, obwohl sie gespickt war mit großen Namen. Doch die Zeiten sind vorbei, in denen die Selección nichts weiter ist als ein Sam- melbecken zerstrittener Gehaltsmillionä- re. Trainer Luis Aragonés leitete einen Ge- nerationenwechsel ein, dem alte Kämpen wie Verteidiger Míchel Salgado oder Mit- telfeldmann David Albelda Platz machen müssen – und dessen prominentestes Op- fer gerade die Stürmerikone Raúl ist. Das Team wird nun geprägt von tech- nisch versierten und hochveranlagten Kickern wie dem Verteidiger Sergio Ra- mos, 20, dem Mittelfeldspieler Francesc Fábregas, 19, oder dem Angreifer Torres, 22, und die Ergebnisse sind beeindruckend: Seit der neue Coach die Geschäfte führt, hat die Mannschaft von 25 Spielen keines verloren. Die Zäsur im spanischen Nationalteam ähnelt der in der holländischen Auswahl.

NADINE RUPP / WITTERS Dort hat Trainer Marco van Basten, 41, als Nationalspieler García, Villa*: Erstmals einen eigenen Stil gefunden Intriganten verschriene Spieler wie Edgar Davids, Clarence Seedorf oder Patrick Kluivert entsorgt und gleichzeitig die Vor- herrschaft der dominierenden Clubs aus Amsterdam, Rotterdam und Eindhoven Opa Luis und die Frischlinge gebrochen. Bei der WM stellt nun der AZ Alkmaar fünf Nationalspieler. Nach einem Generationswechsel hat Spaniens Wie fatal es ist, wenn ein Coach die Macht alternder Stars und Diven nicht bre- Nationalteam seine Turnierneurose abgelegt. Prominentestes chen kann, zeigt das Beispiel der Franzo- Opfer der Umwälzung ist Stürmerikone Raúl. sen, am Dienstag im WM-Achtelfinale der Gegner Spaniens. Der Weltmeister von 1998 ie Zeremonie dauerte nur unwe- falls noch die favorisierten Argentinier. und Europameister von 2000 scheint auf sentlich länger als ein Vaterunser. Doch der Teamkapitän, der bis zur WM in geradezu klassische Weise auf das Ende DSpaniens Sportminister Jaime Lis- 95 Länderspielen 43 Tore erzielt hatte, fand einer Epoche zuzusteuern – ein Imperium savetzky sprach ein paar salbungsvolle Sät- sich in Deutschland nur noch als Ersatz- gerät ins Schwanken, weil es nicht in der ze, dann heftete er Raúl die goldene Me- spieler wieder. Lage ist, sich von innen heraus zu erneuern. daille für seine Verdienste um den Sport Was Raúl als Majestätsbeleidigung emp- Bei der WM in Deutschland präsentier- ans Nationaltrikot und schüttelte dem Fuß- fand, hat dem spanischen Team einen te sich die Équipe Tricolore bis zum 2:0 ballstar von Real Madrid ergriffen die enormen Schub beschert. Denn seit gegen Togo als notorisch zerstrittener Hand. Trainer Luis Aragonés vor knapp zwei Jah- Haufen, in dem Zinedine Zidane, 34, Lilian Der Geehrte lächelte linkisch, ehe er Thuram, 34, und Claude Makelele, den umstehenden Menschen auf der Trai- Vom Dualismus der Großclubs 33, den Ton angeben – drei Fuß- ningsanlage des spanischen Fußballver- ballhelden einer goldenen Gene- bandes im Madrider Vorort Las Rozas kurz Real Madrid und FC Barcelona ration, die sich von der National- zuwinkte. Schnell war Raúl wieder ver- ist nichts mehr zu spüren. mannschaft bereits verabschiedet schwunden – Orden und Ergebenheits- hatten und deren Glanztaten Ge- adressen entgegenzunehmen gehört zum schichte sind. Alltag für den Mann, der den spanischen ren das Amt übernommen hat, zählen Ver- Vor knapp einem Jahr kehrte das Trio, Fußball der letzten zehn Jahre verkörpert dienste ums Vaterland weniger als das begleitet von einer Medienkampagne, wie kein anderer. Leistungsprinzip – und da muss Raúl trotz zurück, und seither wirkt Trainer Ray- Das war Ende Mai. Drei Wochen später all seiner Meriten einsehen, dass Spanien mond Domenech, 54, der nach der ver- indes ist in Raúls Kosmos einiges aus dem mit Luis García, und patzten EM 2004 ins Amt kam, wie eine Lot geraten. Spaniens Nationalmannschaft derzeit drei bessere Stür- Marionette seiner Altstars. verblüffte in der WM-Vorrunde die Fans mer hat. So entschied sich der Trainer in der mit attraktivem Angriffsfußball wie allen- Die Fußballnation Spanien, die bei den Torwartfrage für den umstrittenen Fabien europäischen Clubwettbewerben fast im- Barthez als Nummer eins, obwohl Kon- * Beim 4:0 gegen die Ukraine am 14. Juni in Leipzig. mer vorne dabei ist (in dieser Saison ge- kurrent Grégory Coupet fünfmal in Serie

154 der spiegel 26/2006 Sport mit Olympique Lyon französischer Meister Dumpfheitsgrenze bewegt – und die sie geworden ist und viermal in Folge zum manchmal auch überschreitet. Fast schon besten Torwart des Landes gewählt wurde. legendär sind die Sätze, mit denen er vor In Wahrheit hatte Domenech keine ande- einem Länderspiel gegen Belgien im Ok- re Wahl – Barthez gehört seit dem WM- tober 2004 seinen Stürmer José Antonio Sieg 1998 zum einflussreichen Freundes- Reyes vom FC Arsenal anstacheln wollte. kreis Zidanes. „Mach dein Spiel“, fauchte Aragonés, sei- Eifersüchteleien zwischen Spielern der ne Stirn an der von Reyes reibend, „sag beiden Erzrivalen Real Madrid und dem Neger, dass du besser bist als er!“ FC Barcelona prägten jahrzehntelang auch Mit Neger war der französische Welt- das Klima in Spaniens Auswahl. Die Mann- klassemann Thierry Henry gemeint, Reyes’ schaft hatte keine Ausstrahlung, keinen Teamkollege in London. Der Vorfall pro- Charakter, keine Identität. Ihr indifferentes vozierte eine hitzige Rassismusdebatte im Erscheinungsbild spiegelte die Unversöhn- Profifußball, doch Aragonés fühlte sich zu lichkeit der nach Autonomie strebenden Unrecht angeprangert. Sein Sprachver- Regionen und dem zentralistischen Staat ständnis erlaube derartige Bemerkungen, mit seiner alles erdrückenden Kapitale er habe Henry persönlich nicht diffamieren Madrid. „Sie können sich in Spanien nicht wollen. entscheiden, ob sie sich am Stier oder am Auch im westfälischen Kamen wird der- Torero orientieren sollen“, stichelte einst zeit deutlich, wie hart der Mann, der von der argentinische Fußball-Intellektuelle sich auch schon mal keck als „Opa Luis“ Cesár Luis Menotti. spricht, seine jungen Kicker gelegentlich Vom Dualismus der rivalisierenden anpackt. Schon die Auswahl des WM-

Großclubs ist nichts mehr zu spüren. Von HANNE / RAUCHENSTEINER Quartiers ist eine Aufforderung zur Arbeit: den 23 Spielern kommen nur noch 4 von Trainer Aragonés, Ersatzspieler Raúl Die Sportschule nördlich von Dortmund, Real Madrid und 3 vom FC Barcelona. Der „Überall Missverständnisse gesucht“ in der sich auch die deutsche Fußball-Na- Rest rekrutiert sich aus den Kadern von tionalmannschaft im Laufe des Turniers Atlético Madrid, dem FC Valencia, dem Dann reichte er das Gesteck verächtlich 1974 aufhielt, ist der Gegenentwurf zu den FC Villarreal, dem FC Getafe und Betis einem Delegierten des spanischen Fußball- Fünf-Sterne-Hotels, die Spaniens Natio- Sevilla. Darüber hinaus profitiert die Se- verbandes weiter: „Nimm das hier weg!“ nalspieler sonst gewohnt sind. lección nun auch vom Tempofußball der Beim Empfangskomitee lächelten sie tapfer Wie ein mürrischer Großgrundbesitzer englischen Premier League – die Stamm- weiter, sie verstanden wohl kein Wort. Weil schreitet Aragonés über den Rasen und kräfte , 24, und Luis García, dennoch ein paar Ohrenzeugen irritiert wa- sieht seinen Spielern beim Kombinieren 28, verdienen ihr Geld beim FC Liverpool, ren vom Ton des Trainers, lieferte Aragonés zu. Der Ball läuft flott, aber ihm scheint Fábregas hat sich beim FC Arsenal durch- eine originelle Begründung nach – er habe nichts zu passen. Aragonés fuchtelt mit gesetzt. den Strauß abgelehnt, weil die Blumen gelb den Armen und brüllt über den Platz, dass Mit der jungen Garde haben die Spa- gewesen seien, und Gelb stehe für Neid, ihm beinahe die Brille von der knolligen nier ihren Auftritten erstmals einen unver- Missgunst und Ehebruch. Nase rutscht. „Schneller muss das gehen, wechselbaren Stil verliehen. Das Mantra Um seine Spieler anzutreiben, verwen- Ramos, ja, hier, Torres bietet sich an, ma- der Mannschaft lautet Ballbesitz, und das det Aragonés mit Vorliebe ebenfalls die chen Sie schon, Mann, ich kann doch nicht Team zelebriert ein Kurzpassspiel, das Umgangssprache, die sich hart an der überall sein mit meinem Hintern!“ nach Möglichkeit immer den direkten Weg Die spanischen Journalisten grinsen. Sie zum gegnerischen Tor sucht. Ein Spekta- stehen am Spielfeldrand und schreiben kel. Wegen der charakteristisch schnellen fleißig mit. Anders als die Argentinier oder Passfolge haben die euphorisierten spani- die Engländer trainiert Aragonés meist vor schen Kommentatoren der Spielweise ei- Publikum, aber nicht immer läuft alles so nen lautmalerisch naheliegenden Namen glatt. verpasst: „tic-tic-tic“. Als der Coach nach dem grandiosen Den Umbruch eingeleitet hat der WM-Auftakt gegen die Ukraine (4:0) bei zweitälteste Trainer bei der WM: Luis einer Übungseinheit mit eindringlichen Aragonés, 67, ein Dickschädel aus Madrid, Gesten auf Raúl einsprach, wandte dieser dessen Autorität und Sachverstand nach sich missmutig ab. Tags darauf waren die 30 Trainerjahren unbestritten ist – dessen Zeitungen in der Heimat voll mit Spekula- ruppige Manieren zuweilen allerdings tionen. War es zum Zerwürfnis mit dem auch für diplomatische Verwicklungen Star gekommen? War Aragonés zu weit sorgen. gegangen? Würde Raúl sich das bieten Aragonés, im Madrider Stadtteil Horta- lassen? leza aufgewachsen, wo derbe Sprüche zum Der Trainer wartete einen weiteren Tag, Grundwortschatz gehören, machte auch dann sah er sich zu einem Statement ge- bei seiner Ankunft in Deutschland gleich zwungen. Einige Medien hätten „Lügen eine schlechte Figur. Als ihm ein Vertreter verbreitet“, sein Verhältnis zu Raúl sei der Empfangsdelegation auf dem Flug- „gut“, er akzeptiere nicht, dass „überall hafen in Dortmund einen Blumenstrauß Missverständnisse gesucht werden“. Auch überreichen wollte, zischte Aragonés: Raúl meldete sich zu Wort. „Luis muss mir „Ausgerechnet mir drücken Sie so ein Ding keine Erklärung abgeben, warum ich nur in die Hand, wo mir doch nicht mal das einer von 23 Spielern im Kader bin.“

Haar einer Gamba in den Arsch passt!“ / MAXPPP / PIXATHLON LEJEUNE OLIVIER Da schien es, als hätte der Superstar ver- Im übertragenen Sinn hieß das: Weg mit Französisches Fußballidol Zidane standen, um was es geht. dem Zeug, ich bin doch keine Schwuchtel! Klassischer Niedergang eines Imperiums Michael Wulzinger

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