Kultur W. E. RABANUS W. Schauspieler Tukur im Münchner „Macbeth“: „Vom Staatstheater die Schnauze gestrichen voll“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Künstler müssen Angst haben“ Der Schauspieler, Musiker und Intendant Ulrich Tukur über arrogante Kritiker, die Verkrustung im deutschen Kulturbetrieb und die Verführungskraft der Tanzmusik

Tukur, 40, leitet seit 1995 gemeinsam mit Tukur: Ich empfinde ihn erreicht, daß auch ge- dem Regisseur Ulrich Waller die Hambur- als wohltuend, nach den standene Schauspieler, ger Kammerspiele. Die legendäre Bühne, Erfahrungen mit dem die an der Film- und an der 1947 Wolfgang Borcherts Stück Wiener oder Fernsehfront kämpfen, „Draußen vor der Tür“ uraufgeführt wur- auf so einem Schlacht- gern zu uns kommen, de, war nach dem Tod ihrer Gründerin Ida schiff wie dem Hambur- etwa Barbara Auer, Uwe Ehre im Februar 1989 von wechselnden In- ger Schauspielhaus. Da- Bohm oder Ulrich Wild- tendanten meist glücklos geführt worden. von hatte ich, offen ge- gruber. Wir zahlen zwar Dem Duo Tukur/Waller gelang es, das Pri- standen, die Schnauze ge- keine Hungerlöhne, unse- vattheater – Subvention durch die Stadt strichen voll. re Abendgagen sind ganz : 1,5 Millionen Mark – wieder auf SPIEGEL: Hat man Sie anständig … Erfolgskurs zu bringen. schlecht behandelt? SPIEGEL: Wie hoch denn? Tukur: Nein. An einem Tukur: … anständig. Aber SPIEGEL: Herr Tukur, Sie spielen in Mün- großen Ensembletheater schon die Proben können chen gerade „Macbeth“, haben eine neue kommt ein Regisseur und wir gar nicht honorie- CD mit Tanzmusik herausgebracht und lei- sagt: Ich mache jetzt die- ren wie woanders sonst ten als Intendant erfolgreich die Hambur- ses Stück – und dann üblich.

ger Kammerspiele. Wird Ihnen das nicht stülpt er den Schauspie- M. WITT SPIEGEL: Im Dezember zuviel? lern sein Konzept über. Theaterleiter Tukur hat der Regie-Berserker Tukur: Nee, ich hoffe, Sie haben nichts da- Waller und ich arbeiten bei Ihnen gegen. Außerdem mache ich den Hambur- anders, wir wollen wieder Theater von un- mit dem neuen Stück von Sarah Kane Pre- ger Job ja nicht allein. ten machen. Zuerst gibt es eine bestimm- miere.Womit haben Sie denn den gelockt? SPIEGEL: Sie haben über zehn Jahre lang an te Konstellation von Schauspielern, die bei Tukur: Er will wohl noch mal zurück zu Staatstheatern gespielt. Wie ist Ihnen der uns spielen wollen, dann ein Stück – und seinen Wurzeln. Er hat schließlich in klei- Wechsel zu einem Privattheater mit 417 dann erst wird der Regisseur gesucht. nen Klitschen angefangen, und ich glaube, Plätzen bekommen? SPIEGEL: Spielen die Kollegen für Sie zum da schließt sich ein Kreis. Er ist wohl auch Freundschaftspreis? ein wenig enttäuscht von den großen Thea- Das Gespräch führten die Redakteure Angela Gatterburg Tukur: Das müssen sie. Inzwischen haben tern und sucht jetzt ein kleines, um sich an und Joachim Kronsbein. wir aber eine Akzeptanz und Bekanntheit den großen ein bißchen zu rächen.

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SPIEGEL: Andererseits muß sich „Stammheim“ oder Herbert jedes Theater nach einer Zadek- Wehner in dem TV-Stück von Produktion erst mal vier Wo- Heinrich Breloer. chen lang erholen. SPIEGEL: Haben Sie Kontakt zu Tukur: Da könnten Sie recht ha- jungen Regisseuren? ben. Ein Kollege hat uns gewarnt Tukur: Na ja, man trifft sich, und gesagt: „Der Zadek hat bis trinkt furchtbar viel und lärmt jetzt noch jedes Theater rui- ein bißchen herum. Aber sonst? niert.“ Tatsächlich hatten wir Wir arbeiten an den Hamburger befürchtet, er käme mit einer Kammerspielen mit gestande- riesigen Gagenforderung. Er nen Schauspielern und unter ei- wollte aber nur genau die Sum- nem irren ökonomischen Druck. me, die der bestbezahlte Regis- Sollen wir einen jungen Regis- seur von uns je bekommen hat. seur einladen, der dann inner- Für ihn, glauben Sie mir, ist das halb von zwei Wochen von den ein bescheidenes Honorar. Schauspielern geknackt wird? SPIEGEL: Ihre Karriere hat vor 14 SPIEGEL: Das Publikum kommt Jahren mit Zadek begonnen, wegen der Schauspieler? und er beförderte Sie gleich von Tukur: Ja, die Leute wollen Stars Null in die Bühnen-Bundesliga. sehen, Christian Redl, Domi- Tukur: Ich steckte damals im nique Horwitz oder mich. Das schönen an den Stück „Kunst“ mit uns dreien Städtischen Bühnen und spielte könnten wir immer spielen, mittelprächtige Rollen. Und für auch morgens um vier Uhr. Es

„Ghetto“ suchte Zadek einen PEITSCH P. ist immer ausverkauft. SS-Mann, der Saxophon spielen Zadek-Produktion „Ghetto“*: „Theater hat mit Glück zu tun“ SPIEGEL: Ärgert es Sie, daß Ih- konnte. Ich bin mit wenig Er- re „Kunst“ nicht zum Berliner wartungen in dieses Vorspre- Theatertreffen gebeten wurde? chen reingeschlendert. Zadek Tukur: Ja, weder unsere noch die kam zwei Stunden zu spät, et- Berliner Inszenierung hat man was angetrunken. Er bewarf eingeladen. Ich denke, „Kunst“ eine Schauspielerin mit Zucker- und unser letzter Renner „Af- würfeln und flachste rum. Ich ter-Play“ sind Stücke, die viele saß verschüchtert in der Ecke, Kritiker einfach mißverstehen. bis er mich auf die Bühne bat: Sie können deren unterhaltsa- „Junge, nu mach mal.“ me Qualität nicht einschätzen SPIEGEL: Keine klare Ansage. und sagen dann einfach: Boule- Tukur: Gottlob hatte ich meine vard. Solche Stücke fallen durch Quetschkommode dabei und das Raster. sang ihm einige Lieder vor. So SPIEGEL: Sind Sie nicht einfach was wie „Ach, verzeihn Sie, nur beleidigt? meine Dame, Gottlieb Schulze Tukur: Ach Gott, nicht jeder Vor-

ist mein Name, und ich liebe UND SCHEIKOWSKI JAUCH wurf basiert auf gekränktem Sie.“ „Das kannst du ja ganz „Stammheim“-Film mit Tukur (1986): „Charme oder Melancholie“ Narzißmus. Mich ärgern die gut“, sagte Zadek. „Jetzt mal Auswahlkriterien. Die Anzahl was Klassisches.“ Ich spielte ein Couplet Tukur: Ja. Er tat das nicht, um mich fertig- der maßgeblichen Kritiker verringert sich. von Nestroy. „Hm“, sagte der Meister, zumachen. Der fühlte, daß ich Widerstand Es ist ein bißchen wie bei den zehn kleinen „Wiedersehen.“ leistete, und er wußte, daß er mich an die Negerlein. Jetzt sind noch fünf übrig, und SPIEGEL: Offenbar hatten Sie ihn dennoch Wand donnern mußte. Danach hatten wir die bestimmen den Markt, auf dem Inten- beeindruckt. eine wunderbare Zusammenarbeit. Und danten gemacht werden. Tukur: Ja, ich bekam die Rolle. Dann be- „Ghetto“ wurde ja ein Riesenerfolg. Wis- SPIEGEL: Eine Verschwörungstheorie. gann ein furchtbarer Kampf. Zadek dreh- sen Sie, Theater hat so viel mit Glück zu Tukur: Quatsch. Es ärgert mich, daß kein te mich wochenlang durch die Mangel, tun. Sogar meine schwäbische Mutter war Schauspieler, kein Regisseur, kein Inten- egal, was ich machte, er fand alles schreck- stolz auf mich und verzichtete diesmal auf dant in dieser Jury sitzt. Die sicheren Kri- lich. Eines Tages rief er mich auf die Büh- ihren Standardspruch: „Ha, Ulrich, jetzt terien, um nach eingeladen zu wer- ne, 20 oder 30 Leute um mich herum im faß dir doch net andauernd ins G’sicht.“ den, sind: Ist es ein Stück von Elfriede Dunkeln, es wurde furchtbar viel Whisky SPIEGEL: Die Rolle des SS-Mannes Kittel Jelinek? Gehört der Regisseur zur Castorf- getrunken. Ich stand albern herum in mei- war die erste in der Reihe der charismati- Schule? Ich finde, daß das Berliner Publi- ner SS-Uniform, hörte einen Popsong, und schen Bösewichte, die Sie gespielt haben. kum ein Recht darauf hätte, nicht nur die Zadek sagte: „Los. Sing und tanz. Mach Tukur: Ja, denn ich habe damals etwas ge- spannendsten Konzeptionisten vorgestellt schon, wir haben nicht den ganzen Tag lernt: Eine böse Figur braucht eine andere zu bekommen, sondern auch die tollsten Zeit.“ Ich dachte: Entweder ich mache das Persönlichkeitsfacette, man muß ihr ent- Schauspielerleistungen. jetzt, oder ich gehe zurück nach Heidel- weder Charme verleihen oder eine ge- SPIEGEL: Ist das deutsche Regietheater denn berg. Ich tanzte und drückte dabei meine wisse Melancholie, damit sie die richtige wirklich so furchterregend? ganze Wut und meine Enttäuschung aus. Fallhöhe bekommt. Ich habe immer wie- Tukur: Tja. Ich habe mich in den letzten Die anderen amüsierten sich, und plötz- der solche gebrochenen Charaktere ge- Jahren verstärkt auf Film und Fernsehen lich war alles gut. spielt, etwa in dem Film geworfen, aber auch am Theater mit Chri- SPIEGEL: Das hatte Zadek genau kal- stoph Marthaler gearbeitet, aber sonst? Ich kuliert? * Mit Tukur, Esther Ofarim (1984). bin aus einer Produktion ausgestiegen, die

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Johann Kresnik gemacht hat über den Sauerbruch-Revue vor. Sauerbruch, allein großen Schauspieler und Intendanten der Name ist schon so schön. Und dieser Gustaf Gründgens. Mir liegt die Figur sehr große Arzt, der im Alter nicht aufhören am Herzen, und ich finde es falsch, sie so konnte zu operieren, hat Operationen vor- eindimensional abzuballern. Mit einem so genommen, ohne Betäubung, und rannte krypto-antifaschistischen Ansatz daran zu mit dem Skalpell seinen Assistenzärzten gehen fand ich inadäquat. Und ich bin kein hinterher. Da ist doch ein Tanz der Konzeptionssklave. Streptokokken fällig, es soll schließlich ein SPIEGEL: Sie leben lieber Ihre Lust am Va- Musical werden. rieté aus, an musikalischen Revuen? SPIEGEL: Eine Romanze in Mull? Tukur: Ja. Oft wird mir mein Hang zur Tukur: Schöner Titel. Aber gedulden Sie leichten Muse auch vorgeworfen. Theater sich noch ein wenig. Jetzt schreibe ich mit ist für mich wie ein Haus mit vielen Zim- Ulrich Waller erst mal ein Stück über Fred mern. Leichtigkeit ist das Schönste, was Corega und die Tabs. Wir erzählen die ab- man überhaupt erreichen kann. Aber in surde Geschichte einer italienischen Fami- Deutschland heißt es nur: „Warum müssen lie. Darin kommt sogar ein venezianisches Sie denn jetzt auch noch singen?“ Gondelballett vor. SPIEGEL: Wenn man Schauspieler ist und SPIEGEL: Danach wird Ihnen garantiert nie- auch noch Klavier spielen kann, hat man mand ein Staatstheater anvertrauen. doch sicher viel Glück bei den Frauen. Tukur: Wahrscheinlich nicht, aber wenn ei- Tukur: Schon, aber wegen der Mädels habe ner käme und die Bedingungen stimmten, ich es nicht gelernt. Ich mußte. Meine Kla- würde ich vermutlich nicht nein sagen. vierlehrerin, Fräulein Werner aus Groß- SPIEGEL: Reizt es Sie, den Theaterbetrieb krotzenburg, ohrfeigte mich, wenn ich neu zu organisieren? nicht geübt hatte. Tukur: Die Vertragsstrukturen sind nicht SPIEGEL: Ihre neue CD heißt: „Meine Sehn- mehr sinnvoll. Bei einem Ensembletheater sucht ist die Strandbar“. Wäre ein beken- alten Stils hängt die Hälfte der Truppe in nender Nostalgiker wie Sie der Kantine rum und ist sauer, nicht besser in den zwanziger daß sie nicht spielen darf. Oder Jahren aufgehoben? „Wenn man sie will zum Film. Oder sie über- Tukur: Ich glaube, daß diese einen Film legt sich aus Frust, wie sie den Zeit, die auf den Untergang der über die Deut- Regisseur abschießt. Ich wage Monarchie folgte, in den Men- schen dreht, zu prognostizieren, daß ein schen ein Lebensgefühl heraus- muß man diese Großteil der Theater bald leer gebildet hat, das reicher war als stehen wird wie alte Dinosau- das heutige. Die Leute waren Menschen rierbauten. Auch wegen der ab- ärmer und standen immer mit lieben“ surden Tarifverträge. einem Bein am Abgrund, ent- SPIEGEL: Sie setzen auf Risiko. wickelten viel Phantasie und haben ver- Tukur: Genau. Risiko ist wichtig für einen rückter reagiert. Heute starren alle auf das Schauspieler. Man wächst zu schnell in die- ausgehende Jahrtausend, wir vernetzen se verfettenden Betriebe hinein. Ich spiele uns und sind im digitalen Zeitalter, aber bei uns vier Wochen wie andere Schau- keiner bewegt sich. Die Ängste sind riesig spieler auch, und nur dafür werde ich be- – und die Lähmung ist es auch. zahlt. Aber danach ist wieder alles offen. SPIEGEL: Nur in Deutschland? Klar, das ist hart, aber auch aufregend. Ich Tukur: Hier ist es besonders ausgeprägt. kann mir heute nicht mehr vorstellen, qua- Wir machen es uns so schwer wie möglich si verbeamtet in einem riesigen Betrieb und glänzen nicht gerade durch Flexibi- herumzudümpeln. Nehmen Sie das Burg- lität.Wenn ich die Film-Komödien aus Eng- theater: Als ich da spielte, standen drei In- land und Deutschland miteinander ver- spizienten am Pult, einer hat gearbeitet, gleiche, frage ich mich oft: Warum können und zwei haben Faxen gemacht – eine gi- wir das nicht? Ich weiß nicht, warum es in gantische ABM-Maßnahme. diesem Land nicht gelingt, einen Film über SPIEGEL: Ihre Forderungen machen Sie bei die Menschen zu machen, über ihre Äng- vielen Kollegen nicht gerade populär. ste, ihre Sehnsüchte, einen Film, der Tukur: Ich weiß, aber ich bleibe dabei: stimmt. Ist das Land so langweilig? Viel- Künstler sind keine Beamten, sie müssen leicht hängt es damit zusammen, daß man, manchmal auch Angst haben. Ich hab’ auch wenn man einen Film über Deutschland Angst, oft sogar. Es gibt keine Sicherheiten. und seine Menschen dreht, dieses Land Das ganze Land ist bequem, kann sich das und diese Menschen lieben muß. aber eigentlich gar nicht mehr leisten. SPIEGEL: Warum drehen Sie denn nicht ei- SPIEGEL: Macht sich der Schauspieler Tukur nen solchen Film? keine Sorgen um die Rente? Tukur: Wollen wir ja, wir planen einen Tukur: Ach, die erleben wir sowieso nicht. Stummfilm mit absurden Kriminalfällen, Mein Rat: Legen Sie sich eine private ka- nachtschwarze Episoden, vielleicht unter- pitalbildende Altersversorgung zu. Die an- legt mit Musik von Tom Waits. dere Möglichkeit: Sie trinken so massiv, SPIEGEL: Und Sie sind wieder der Böse? daß das ganze Spiel schon vorher aufhört. Tukur: Klar, und ich schreibe mit am Dreh- SPIEGEL: Herr Tukur, wir danken Ihnen für buch. Und dann schwebt uns noch eine dieses Gespräch.

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