Troisdorfer Jahreshefte Ausgabe Nr. 50 · Jahrgang 2020

Troisdorfer Jahreshefte

Herausgegeben vom

HGT 1986

Heimat- und Geschichtsverein Troisdorf e.V.

Ausgabe 50 · Jahrgang 2020

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 1 Impressum

Herausgeber: Heimat- und Geschichtsverein Troisdorf e.V.

Die Troisdorfer Jahreshefte erscheinen seit 1971 jährlich im Herbst. Seit 2005 werden sie vom Heimat- und Geschichtsverein herausgegeben. Ausgabe Nr. 50 · Jahrgang 2020

© Heimat- und Geschichtsverein Troisdorf e. V. 2020

Sie finden uns im Internet unter geschichtsverein-troisdorf.de

Troisdorfer Jahreshefte Für den Inhalt, die Wahrhaftigkeit der Quellenangaben und das Veröffentlichungsrecht der Abbildungen zeichnen die Autoren der jeweiligen Beiträge verantwortlich. Der Inhalt der abgedruckten Artikel gibt nicht unbedingt die Ansichten und Auffassungen des Heimat- und Geschichtsvereins Troisdorfs bzw. dessen Schriftleitung wieder.

Redaktionsteam: Yvonne Andres-Péruche Claus Chrispeels Werner Dücker Norbert Königshausen Petra Recklies-Dahlmann Beate von Berg Antje Winter

Layout und Satz: Axel Heckner, Troisdorf-Sieglar Druck und Gesamtherstellung: Rautenberg Media KG, Troisdorf

Für die freundliche Unterstützung dankt der Herausgeber folgenden Sponsoren:

2 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Grußworte … Olaf Pohl 4… des Bügermeisters der Stadt Troisdorf 87Ist der „Spicher Zehner“ Geschichte? Klaus-Werner Jablonski … des Vorsitzenden des Rheinischen Vereins Wolfgang Rehmer für Denkmalpflege und Landschaftsschutz 95Leichtathletik in Troisdorf Prof. Dr. Christoph Zöpel vor dem 2. Weltkrieg … von Claus Chrispeels, Rekonstruiert aus alten Zeitungsartikeln Vorstand Heimat- und Geschichtsverein Troisdorf Rolf Möller 1001939 – Ein „Waldstadion“ für Troisdorf Antje Winter 7Anfänge und Entwicklung Dr. Jörg Hemptenmacher der Troisdorfer Jahreshefte – 103Die Industrialisierung Troisdorfs, 50 Jahre Publikationsgeschichte die Eisenbahn und die „Bundesbahnschule Oberlar“ Yvonne Andres-Péruche 18Aus Liebe zum Rheinland Günther Störmer Eine kleine Würdigung für Peter Haas 122Mein Kriegsende zum 80. Geburtstag und die vorletzte Bombe

Jürgen Busch Hansjörg Klein 23Giovanni Vetere wird 80 131Womit spielten wir als Kinder Der ehemalige Bauernjunge und Gastarbeiter während des Zweiten Weltkriegs ist heute international beachteter Künstler und danach? Meine Erinnerungen dazu führen mich Yvonne Andres-Péruche in die Umgebung des ehemaligen Haupt­ 32Beethoven bonnensis verwaltungsgebäudes der Dynamit Nobel AG, Die Jugendjahre Ludwig van Beethovens Troisdorf (DN-HV) in seiner rheinischen Heimat 139Klaus Dettmann Stefanie Lieb und Hartmut Junker Bleiglanz und Zwergenloch 44St. Adelheid in Troisdorf-Müllekoven Bergleute, Mineralien und Überlieferungen zum Bergbau rund um Altenrath Ein typischer Kirchenbau der frühen 1960er Jahre von Gottfried Böhm Dr. Hanns G. Noppeney 146Die Wahner Heide – Mirjam Wingender speziell zu ihrer Schönheit 49Ein Vierteljahrhundert und ihrem Erholungswert Kreativwerkstatt Troisdorf Dr. Dieter Burger Dr. Horst Bursch 56 162Die Wahner Heide, Landschaft Kulturgeschichtliche Anhaltspunkte einzigartiger Standortvielfalt für eine ehemalige Leproserie Erklärungsversuch aus Sicht in Bergheim an der Sieg der physischen Geografie und Geoökologie

Beate von Berg und Roswitha Hammer 75Dr. Petra Recklies-Dahlmann 174Ein ganz normales Leben – Moritz Kellerhoven (1758 – 1830) – Erinnerungen an meine Großmutter Ein Altenrather am bayerischen Königshof Dieter Gattinger und Kurt Wildemann 179100 Jahre Deutsches Rotes Kreuz Trois- Wolfgang Rehmer dorf – 50 Jahre Ortsverein Troisdorf e. V. 89Peter Haas als Leichtathlet Siamo tutti fratelli – Wir sind alle Brüder

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 3 50 Jahre lebendige Stadtgeschichte

Liebe Leserin, lieber Leser, die stattliche Reihe der beliebten Troisdorfer Jahreshefte hat 50. Geburtstag. Sie hat damit eine lange und verlässliche Tradition. Es ist schon herausragend, wenn das Jahresheft, eigentlich ein Jahrbuch, über 50 Jahre lang Bestand und Wirkung hat.

Die Stadt Troisdorf hat die Bände ab I/1971 herausgegeben. Sie sollten kurz nach der kommunalen Neu- ordnung 1969 „ein Band zwischen den Bürgern in den Ortschaften und ihrer neuen Stadt knüpfen“, so hieß es zuversichtlich in Band I/1971. Ab Band XXXV/2005 folgte der Heimat- und Geschichtsverein Troisdorf als ambitionierter Herausgeber.

Kompetenz und Vielseitigkeit: Die Jahreshefte sind im wahrsten Sinne des Wortes viel - seitige Berei- cherungen der Stadtkultur, der kompetent veranschaulichten Stadt- und Regionalgeschichtsforschung, aber auch der Lesefreude in unserer Stadt.

Die 50 Bände hatten jeweils durchschnittlich 120 Seiten, das ergibt 6.000 Seiten und nebeneinander im Bücherregal eine Länge von einem Meter lebendige Stadtgeschichte. Dazu kommen Naturberichte, eine Prise Humor und zahllose Fotos und Zeichnungen. Über 200 Autorinnen und Autoren haben in den 50 Jahren daran mitgewirkt.

Früher gab es sogar einen „Arbeitskreis Troisdorfer Jahreshefte“, der als Redaktion fungierte und im Auftrag der Stadt die Seiten füllte. Ohne ihn wären die ersten hochwertigen Ausgaben nicht möglich gewe- sen. Die „Gründungsväter“, übrigens allesamt Lehrer, waren damals Heinrich Brodeßer, Rudolf Hellmund †, Rolf Müller †, Dr. Willy Neußer †, Dr. Albert Schulte † und Helmut Schulte †. In den 80er Jahren kamen Karlheinz Ossendorf †, Georg Kern † und Peter Tange † hinzu. Die Stadt wird die Verstorbenen in ehrender Erinnerung behalten.

Der Heimat- und Geschichtsverein wurde 1986 gegründet und hat seitdem viel für die Aufarbeitung der Stadtgeschichte geleistet. Seine Vorsitzenden waren Matthias Dederichs † 1986 – 2004, Peter Haas 2004 – 2007, Harald Schliekert 2007 – 2010, Thomas Ley 2010 – 2016, der vorher vier Jahre lang Geschäfts- führer des Vereins war, Rainer Hardtke 2016 – 2017, Hans Luhmer 2017 – 2019 als 1. Stellvertretender Vorsit- zender und Geschäftsführer, schließlich ist es seit 2019 Claus Chrispeels.

Die Stadt wird das Vorhaben weiter finanziell unterstützen. Denn die Jahreshefte sind ein wichtiges Ele- ment der Identifikation der Troisdorfer Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt und ihren 12 Stadtteilen. Sie dienen nach wie vor der Förderung des Geschichtsbewusstseins, der Heimat- und Naturverbundenheit und des Kulturlebens in der größten Stadt des Rhein-Sieg-Kreises.

Ich danke den Mitgliedern des Heimat- und Geschichtsvereins Troisdorf, insbesondere den engagierten Vorstandsmitgliedern, herzlich für ihre Arbeit. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg als bewährter Herausgeber der Bände. Allen Sponsoren danke ich für die großzügige Unterstützung. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich weiterhin viel Vergnügen bei der Lektüre der über unsere Region hinaus geschätzten Troisdorfer Jahreshefte.

Klaus-Werner Jablonski Bürgermeister

4 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Grußwort des Vorsitzenden des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz

Liebe Leserinnen und Leser, fast alles, was heute selbstverständlich ist, wurde in früheren Zeiten hart erarbeitet und errungen, so auch das Miteinander der Städte und Gemeinden im Raum Bonn und im Siegkreis sowie in Nordrhein-Westfalen insgesamt. Im Zuge der kommunalen Neuordnung hatten viele die Sorge, dass ihre traditionelle Zugehörig- keit, ihre Eigenart und ihre örtlichen Bezüge verloren gehen.

Es war daher eine gute Idee, im Jahr 1971 für die – damals – neue Stadt Troisdorf ein Jahresheft ins Leben zu rufen, das „von der Geschichte, der Natur, der Kultur und der Wirtschaft des Raumes zwischen Sülz, Agger, Sieg und Rhein künden“ sollte. Denn wer gemeinsam Zukunft gestalten will, sollte auch die Vergangenheit kennen.

So wurden über die Jahre bis heute eine Vielzahl interessanter Beiträge und Berichte zur Stadt, ihrer Ortsteile, Gebäude und Landschaften und zu ihrer Geschichte sowie persönliche Schilderungen und vieles mehr aus und über Troisdorf veröffentlicht.

Die „Troisdorfer Jahreshefte“ liefern damit auch einen Beitrag zur Geschichte der Rheinlande und des materiellen und immateriellen Kulturerbes.

Im Namen des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz e. V. gratuliere ich allen Beteiligten zur 50. Ausgabe der „Troisdorfer Jahreshefte“ und wünsche der Schriftenreihe weiterhin eine gute Zukunft!

Prof. Dr. Christoph Zöpel Vorsitzender des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 5 Grußwort des Vorsitzenden des Heimat- und Geschichtsvereins Troisdorf, Claus Chrispeels

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

1971 erschien die erste Ausgabe der „Troisdorfer Jahreshefte“, herausgegeben von der Stadt Troisdorf mit dem ausdrücklichen Wunsch von Bürgermeister Josef Ludwig und dem damaligen Stadtdirektor Heinz- Bernward Gerhardus, dass die Schriftenreihe „ein weiteres Band zwischen den Bürgern in den (damals) zehn Ortschaften und ihrer neuen Stadt knüpfen möge!“

In diesem Jahr halten Sie nun die 50. Ausgabe der Troisdorfer Jahreshefte in den Händen, und es ist im wahrsten Sinne ein Jubiläumsheft geworden, nimmt es doch runde Geburtstage von Personen und Einrich- tungen, das Beethoven-Jahr und das Böhm-Jahr sowie das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren auf.

Wie in den vergangenen Jahrzehnten ist es voller Geschichte und Geschichten rund um Troisdorf, die uns mit unserer Stadt und ihrer Landschaft verbinden und von ihren Menschen erzählen. Hierfür danke ich den Autorinnen und Autoren, aber auch der Redaktion und dem Layouter herzlich.

Der Heimat- und Geschichtsverein Troisdorf, der die Herausgabe der Jahreshefte seit 2005 übernommen hat, blickt nicht ohne Stolz und dankbar auf 50 Troisdorfer Jahreshefte zurück, die inzwischen auch ein Markenzeichen für den Verein geworden sind.

Unser besonderer Dank gilt daher den vielen Autorinnen und Autoren, die in den vergangenen Jahr- zehnten jedes Jahr aufs Neue mit großem persönlichen Engagement ihre Beiträge zu den Jahresheften gege- ben haben. Einige von ihnen sind leider schon verstorben, andere aus Altersgründen nicht mehr aktiv, aber in ihren Berichten und Schilderungen bleiben sie lebendig und wir erinnern uns an sie.

Danken möchte ich auch der Stadt Troisdorf und den Sponsoren, ohne die die Veröffentlichung der Jah- reshefte in der vorliegenden Form nicht möglich wäre.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen!

Claus Chrispeels Vorstand Heimat und Geschichtsverein Troisdorf e. V.

6 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Antje Winter Anfänge und Entwicklung der Troisdorfer Jahreshefte – 50 Jahre Publikationsgeschichte

Die Jubiläumsausgabe 2020 sei zum Anlass genommen, einen Rückblick in eigener Sache anzu- stellen. Das vorliegende Troisdorfer Jahresheft ist seit dem Erscheinen des ersten Heftes 1971 die 50. Ausgabe. Die Reihe ist über die Jahre hinweg zu einer beliebten und nachgefragten heimat- kundlichen Publikation mit Wirkung über unsere Region hinaus avanciert.

Dabei besticht die Kontinuität des Erscheinens: Seit dem ersten Heft hat sich die jährliche

Erscheinungsweise nicht verändert. Nur einmal, im Jahr 1976/77, erschien eine Doppelausgabe. Quelle: Stadtarchiv Troisdorf Stadtarchiv Quelle:

Das 1. Heft zeigt als Umschlagbild einen Ausschnitt aus der Wiebeking Karte von 1792 und wurde gedruckt von der Druckerei Langholz, Troisdorf-Oberlar

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 7 Ursprung und Entwicklung meinschaft zu bilden „die in der Lage und gewillt sei, Beiträge für die vom Ausschußvorsitzenden ge- Wie kam es nun zur Herausgabe dieser erfolgrei- nannten Jahreshefte zu erbringen“. Sodann wurden chen Troisdorfer Publikationsreihe? auch einige Personen namentlich benannt, die mit- arbeiten sollten. Die Verwaltung war beauftragt mit Ursächlich war ein Angebot von Rektor Hein- den Herren Kontakt aufzunehmen und Vorschläge rich Brodeßer im Juni 1970 an die Stadt, drei ver- für die Gestaltung und Herausgabe regelmäßig er- schiedene Schriften über Bergheim und Müllekoven scheinender Jahreshefte auszuarbeiten und alsbald zu übernehmen, zu drucken und zu veröffentlichen. dem Ausschuss zur Beratung vorzulegen. Explizit Dieses Ansinnen wurde jedoch im Schulamt ab- einzubeziehen sei der Antrag Arnolds zur Druck- gelehnt, da die Untersuchungen „zunächst für die ausgabe von alten Stichen sowie die früheren An- Allgemeinheit an Wert verlieren, da sie nur auf zwei regungen Brodeßers Bergheim und Müllekoven­ Ortschaften abgestellt sind.“ 1 Ratsmitglied Karl Jo- betreffend.4 sef Arnold aus Bergheim schlug kurze Zeit später die Herausgabe einer Druckausgabe von alten Sti- Nach diesem weitreichenden Sitzungsergebnis chen aus dem Bereich der Stadt Troisdorf vor, die gab es Ende September ein weiteres Schreiben von von Brodeßer ausfindig gemacht worden waren. Das Heinrich Brodeßer und Albert Schulte an Stadtdi- Schreiben Arnolds an den Vorsitzenden des Schul- rektor Gerhardus. Hier entwickelten die potenti- und Kulturausschusses Dr. Nöfer vom 27. August ellen Herausgeber für das in Aussicht genommene zielte darauf ab, die Drucklegung dieser Stiche zu Alt-Troisdorfer Bilderbuch ein Konzept, das Um- erreichen: „Es wäre überdies auch eine Gelegenheit, fang, Format, Kosten, Titel, Erscheinungszeit, Text das – ohnehin nicht allzu umfangreiche – Kultur- und die vorhandenen Bilder, wie Stiche, Zeichnun- erbe zu pflegen und breiteren Bevölkerungskreisen gen sowie Karten aufführte. Jedoch wurde empfoh- zu vergegenwärtigen.“ 2 len, einen „guten Zeichner zu beauftragen, alte Ge- bäude und Gegenstände im Stadtgebiet ansprechend Nach einer Besprechung am 17. September zu konterfeien“. Auf diese Weise „könnten alle zehn zwischen Brodeßer, Stadtdirektor Gerhardus und Stadtteile gebührend berücksichtigt werden“.5 Was Stadtoberamtmann Kern vom Schulamt zwecks letztendlich aus diesem ambitionierten Vorhaben Herausgabe einer Druckausgabe von alten Stichen wurde, konnte im Rahmen der Recherche nicht ge- war man sich einig, zunächst eine Komplettierung klärt werden. der Sammlung anzustreben, da sie überwiegend den Siegmündungsbereich betreffen. Brodeßer sollte sich dafür mit Albert Schulte in Verbindung Ein Arbeitskreis entsteht setzen. Die Angelegenheit stand durch den Antrag Arnolds nun auf der Tagesordnung des zuständigen Am 27. November 1970 fand ein erstes Arbeitstref- Ausschusses. fen statt. Die Niederschrift listet neben Stadtdirektor Gerhardus und Stadtoberamtmann Georg Kern vom Der Schul- und Kulturausschuss beriet am Schulamt die nachstehenden Personen auf. Zu den 18. September 1970 3 über die geplante Druck­ ersten Akteuren zählten: Heinrich Brodeßer, Rudolf ausgabe von alten Stichen durch die Stadt mit dem Hellmund, Wilhelm Neußer, Rolf Müller, Albert Ziel, dass alsbald konkrete Vorschläge mit Angabe Schulte sowie Helmut Schulte. Sie wurden in einen der Kosten unterbreitet werden. In der gleichen Arbeitskreis berufen, der die Herausgabe der Jahres- Sitzung regte Ausschussvorsitzender Dr. Nöfer hefte übernahm.6 Es war wohl kein Zufall, dass diese nun am Beispiel der Stadt Köln an, dass „ähnlich Personen sämtlich aktive und pensionierte Lehrer gehaltene Schriften als Jahreshefte der Stadt Trois- waren. Bei diesem Treffen trug der damalige Stadt­ dorf herausgebracht werden“. Ausschussmitglied direktor Gerhardus vor „ … daß nach dem Willen Gerd Lindner stellt den Antrag, eine Arbeitsge- des Schul- und Kulturausschusses jährlich regel- mäßig erscheinende Beiträge aus der Geschichte der Stadt Troisdorf herausgegeben werden sollten. 1 Stadtarchiv Troisdorf: E 1802 Gedacht sei an geschichtliche Untersuchungen, die 2 Ebenda je nach Themenstellung bis zur Gegenwart führen 3 Siehe auch Sitzungen am 2. Juni und am 12. August 1970 4 E 1802 könnten. Es bleibe zu klären, ob sich jedes Jahresheft 5 Ebenda mit einem Thema befaßt oder ob mehrere Aufsätze 6 E 1725 veröffentlicht werden sollten.“ Als Bezeichnung der

8 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Das Vorwort für das Jahresheft 1971

Quelle: Stadtarchiv Troisdorf (E 1801) Quelle: Stadtarchiv Troisdorf (E 1802)

Presseartikel aus dem Rhein-Sieg-Anzeiger vom 4. November 1971

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 9 Eine Sitzung des Arbeitskreises im privaten Umfeld Quelle: StadtarchivQuelle: Troisdorf Quelle: StadtarchivQuelle: Troisdorf

Die langjährigen Mitglieder des Arbeitskreises Albert Schulte und Heinrich Brodeßer

Besichtigungsfahrt des Arbeitskreises …

Quelle: Stadtarchiv Troisdorf

Quelle: Stadtarchiv Troisdorf

… nach Pulheim-Brauweiler

10 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Quelle:Stadtarchiv Troisdorf 1804)(E

Werbung für das Troisdorfer Jahresheft 1975

Hefte standen in der ersten Sitzung des Arbeitskrei- wie Fahrkosten, Telefon- oder Portogebühren ge- ses die Vorschläge „Der Schirmhof. Beiträge zur Ge- deckt werden. Auch die Mitarbeiterhonorare wur- schichte der Stadt Troisdorf“, „Zwischen Schirmhof, den einheitlich festgelegt.8 Rodderhof und Berger Hof“ sowie „Zwischen Sieg und Heide“ auf der Wunschliste. Zunächst einigte In regelmäßig stattfindenden Treffen des -Ar man sich auf die Titelgebung „Der Schirmhof. Bei- beitskreises berieten die Mitglieder über die jeweili- träge zur Geschichte der Stadt Troisdorf“. In der gen Inhalte, wobei eine stets breit gestreute Themen- zweiten Sitzung im Januar 1971 wurde um die Be- auswahl aus der Geschichte Troisdorfs, seiner Natur, zeichnung der Hefte bereits wieder gerungen, da seiner Kultur und seiner Wirtschaft erfolgen sollte. „Der Schirmhof“ als zu „langatmig“ galt und man Die Jahreshefte sollten „kein spezielles historisches durch den Untertitel „zu sehr eingeschränkt“ wäre.7 Fachblatt sein“,9 aber wissenschaftliche Stichhaltig- Wilhelm Neußer leitete als Vorsitzender seit dieser keit gewahrt bleiben. Das Format war angelehnt an Sitzung die Geschicke des Arbeitskreises. die bekannten Merian-Hefte aus Hamburg. Auch wurde eine variable Seitenzahl von ca. 100 Seiten be- In der Ratssitzung am 2. Februar 1971 beschlos- schlossen. Ob Papier, Bindung, Bebilderung, Schrift, sen die Mitglieder des Rates der Stadt Troisdorf Gestaltung oder Ausschreibungsverfahren – die noch einmal offiziell die Herausgabe von regelmä- Mitglieder entwickelten immer mehr Details für das ßig erscheinenden Jahresheften unter dem Titel erste Heft. Beispielhafte Schriften aus Leverkusen „Troisdorfer Jahreshefte“ und übertrugen die Arbei- oder Monheim wurden einbezogen, auch die Erfah- ten dem „Arbeitskreis zur Herausgabe der Troisdor- rungen von Rolf Müller als Redaktionsleiter aus dem fer Jahreshefte“. Weiterhin waren Tätigkeitsberichte Rhein-Wupper-Kreis spielten eine wesentliche Rolle. des Arbeitskreises in regelmäßigen Abständen im städtischen Schul- und Kulturausschuss zu geben. Auch das zweite Heft wurde zunächst mit einem Hier wurde auch über die jährlich vorgesehenen Auflagenziel von 2.000 Exemplaren ausgeschrieben Beiträge entschieden, die zuvor im Arbeitskreis erörtert wurden. So wurde beispielsweise auf An- regung des Ausschussvorsitzenden Dr. Nöfer eine 7 E 1802 feste Sitzungspauschale für die Mitarbeiter des Ar- 8 Ebenda beitskreises eingeführt. Damit sollten die Unkosten 9 E 1800

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 11 und der Auftrag im September 1972 erteilt. Laut Ent- einer Veröffentlichung in den Troisdorfer Jahreshef- scheidung im Schul- und Kulturausschuss am 2. No- ten zu gestalten“. Grundsätzlich wurde zwar die In- vember d. J. war eine Erhöhung der Auflage beschlos- itiative begrüßt, von der „Konzeption der Troisdor- sen worden. Aus diesen Gründen wurden für die fer Jahreshefte her dürfte sich jedoch die Aufnahme zweite Ausgabe nochmals 1.000 Hefte nachgedruckt.10 eines Schülerbeitrages als problematisch erweisen.“ Ausschlaggebend hierfür war der Beschluss, allen Ein- Der Arbeitskreis legte sodann fest „sich die Ent- wohnern in Heimen sowie allen sozialschwächeren scheidung für die Aufnahme von Beiträgen in die Einwohnern über 65 Jahren ein Heft zu schenken.11 Troisdorfer Jahreshefte vorzubehalten“.12 Das vierte Heft von 1974 enthielt erstmals einen Beitrag eines ehemaligen Schülers. Volker Allexi schrieb über den Schülerbeiträge für das Troisdorfer Jahresheft? Erzbergbau in Altenrath.13 Auch in der Ausschusssit- zung im Juli 1974 wurde nochmals die Möglichkeit An der fachlichen Nähe zum Schulamt lag es wohl, angesprochen, auch Schülern die Gelegenheit zu bie- dass im Schul-und Kulturausschuss im November ten, Beiträge in den Jahresheften zu veröffentlichen.14 1972 über einen Schülerbeitrag in den Jahresheften diskutiert wurde. Dieser sollte in der Ausgabe 1973 veröffentlicht werden. Leider konnten die Mitglie- Kritische Stimmen der des Arbeitskreises dafür nicht begeistert werden. In der Sitzung des Arbeitskreises am 1. Dezember Nach zwei nüchternen und teils kritischen Presse- 1972 verständigten sich die Mitglieder darauf „einen berichten Ende 1980 versuchte der Arbeitskreis an- möglichen Schülerwettbewerb […] unabhängig von dere Wege zu gehen. Stadtdirektor Gerhardus war „der Auffassung, daß in das neue Heft bzw. in die neuen Hefte mehr als bisher Themen aufgenommen 10 E 1801 werden sollten, die für die breite Bevölkerung inter- 11 E 1725 / 1802 12 E 1800 essant sein könnten.“ Beispielhaft wurden dafür von 13 E 1804 / 1802 ihm Beiträge über Vertriebene und Spätaussiedler 14 E 1802 genannt. Quelle: Stadtarchiv Troisdorf (E 497)

Presseartikel aus dem Kölner Stadt-Anzeiger vom 22./23. November 1980

12 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Finanzierung der Hefte Ein Doppelband zum 25-jährigen Stadtjubiläum 1976/77 Kosteten die ersten Hefte noch 5,00 DM und bei und 25 Jahre Arbeitskreis 1995 Vertrieb über Buchhandel eine weitere Mark weni- ger, stiegen die Preise danach an. Der Verkaufspreis Anfang des Jahres 1976 wurden die Mitglieder des für das vierte Heft von 1974 musste im Schul- und Arbeitskreises mit einem Paukenschlag konfrontiert. Kulturausschuss wegen der erheblichen Kostenstei- Bei Verabschiedung des Haushaltsplanes 1976 war gerung auf 8,00 DM je Exemplar festgesetzt werden der vorgesehene Ansatz für das kommende Heft VI und bei Vertrieb über Buchhandel auf 7,00 DM. Der 1976 von 36.000 DM auf 25.000 DM gekürzt wor- Arbeitskreis war beauftragt, durch „eine weniger den. Auch der Finanztitel wurde geändert in „Lokale aufwendige Ausstattung der Hefte eine Senkung Information“. Stadtdirektor Gerhardus ging davon der Herstellungskosten zu erreichen“.15 Aber schon aus, „daß die Troisdorfer Jahreshefte in vorliegen- Ende der 1970er Jahre zogen die Kosten an und so- der Form nicht mehr aufgelegt werden können“.22 mit auch der Einzelpreis des Heftes. Vor allem die Der Niederschrift der Sitzung ist weiter zu entneh- Autoren- wie auch die Druckkosten, zustande ge- men „ob durch eine vertretbare Änderung des In- kommen war eine wachsende Zahl abgedruckter haltes der Hefte und Senkung der Kosten der Rat der Farbbilder, stiegen von Jahr zu Jahr stetig an. Lagen Stadt von der weiteren Herausgabe der Troisdorfer beispielsweise 1978 die Gesamtkosten für die Heft- Jahreshefte überzeugt werden könne“, sei unklar. In herstellung bei rund 29.000 DM, waren es zwei Jahre inhaltlicher Sicht sollten mehr gegenwartsbezogene später mehr als 39.000 DM. Der anfangs kalkulierte Beiträge Berücksichtigung finden. Die Mitglieder des Preis für das Einzelheft stieg somit von 11,59 DM Arbeitskreises stellten Überlegungen an, wie die Kos- (1978), 14,40 DM (1979) auf 15,71 DM (1980).16 ten gesenkt werden könnten. Gleichzeitig wurden Überlegungen im Kulturausschuss laut, eine Fest- Der Bestand an Troisdorfer Jahresheften wurde schrift zum 25-jährigen Bestehen bzw. Stadtjubiläum im Schul- und Kulturamt stets nachgehalten. Eine von Troisdorf 23 herauszugeben. Diese Schrift sollte Reserve, genannt der „eiserne[n] Bestand“, und die gleichzeitig als Doppelausgabe erscheinen. Der Rat frei verkäuflichen Exemplare wurden beispiels- der Stadt setzte in einer Dringlichkeitsentscheidung weise 1987 für die erschienenen Hefte bis Nr. XVI im Juli 1976 für die Federführung zur Erstellung der aufgelistet.17 Diese Altbestände, durchschnittlich Festschrift die Lokaljournalistin Sylvia Lamsfuß aus waren es etwa 340 Hefte pro Jahrgang, versuchte Siegburg ein. Unter ihr wurde festgelegt, dass die Bei- man neben dem jährlich neuen Heft weiterhin träge nicht zu wissenschaftlich, sondern allgemein feilzubieten. ansprechend gestaltet werden sollten, demnach eher „populär wissenschaftlich“.24 Der Arbeitskreis Trois- Verkauft wurden die Hefte anfangs im Rathaus so- dorfer Jahreshefte machte seine Mitarbeit an der Fest- wie bei mehreren Verkaufsstellen, wie der Buchhand- schrift vom weiteren Fortbestehen der Publikation ab lung Kirschner, Kaufhaus Hertie, Reisebüro Pick, dem Jahr 1978 abhängig. Auf dieses Zugeständnis diversen Schreibwarengeschäften und in der Stadtbü- ließ sich die Stadt ein, zumal auf das Wissen und die cherei Troisdorf.18 Emsige Verkäufer waren ebenso ei- Mitarbeit nicht verzichtet werden konnte. Die Fertig- nige Mitglieder des Arbeitskreises, wie beispielsweise stellung der Festschrift war indes verzögert worden. Heinrich Brodeßer und sämtliche Ortsvorsteher. Das Heft lag statt im September erst im November Abrechnungen und Überweisungen der eingenom- menen Gelder wurden zu Gunsten eines städtischen Kontos vorgenommen. Detaillierte Aufstellungen der 15 E 1804 verkauften Jahreshefte können beispielsweise für die 16 E 497 ersten Jahre nachvollzogen werden.19 17 E 1822 18 E 1804 19 E 1725 Regelmäßig unterstützt wurde die Stadt durch 20 E 1807 Zuschüsse des Landschaftsverbandes Rheinland. 21 E 1725 Von der Ausgabe I 1971 bis X 1980 betrug der Zu- 22 E 1806 20 23 Man „feierte“ die Verleihung der Stadtrechte an die Gemeinde schuss stets zwischen 1000 und 3000 DM. Auch Troisdorf im Jahre 1952. Nach der kommunalen Neuordnung 1969 im Jahr 1985 betrug die Fördersumme nach etwas war diese Feier 1977 aber nicht auf die zusammengelegten Kom- längerer Unterstützungspause wieder 3000 DM, so munen wie Sieglar oder Altenrath anwendbar, sondern nur auf den Troisdorfer Teil. „25 Jahre Stadt Troisdorf“ bezog sich damit nicht eine Mitteilung im Kulturausschuss am 25. Novem- auf die „neue“, seit 1969 bestehende Stadt. ber 1985.21 24 E 1806

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 13 Quelle: StadtarchivQuelle: Troisdorf

Presseartikel vom 22. November 1977 vor. Bei einer Auflage der Festschrift von 4000 Stück fer Kulturszene, das auch durch die stets zupackende ergaben sich schließlich Gesamtkosten für den Dop- Hilfe des Schulamtes der neuen Stadt gefördert pelband VI/VII von über 51.000 DM. wurde! Und das ganz ohne langwierige Vorbereitung in den stets nörgelnden Fraktionen eines Rates.“ 25 Zum Jubiläum „25 Troisdorfer Jahreshefte“ er- schien im Jahresheft 1995 eine launige Betrachtung 25-jährige Zugehörigkeit im Arbeitskreis Trois- von Wilhelm Neußer. Die Zahl 25 bezog sich bei ge- dorfer Jahreshefte konnten schließlich 1995 die Her- nauerer Betrachtung allerdings nicht auf die Anzahl ren Heinrich Brodeßer, Rudolf Hellmund, Wilhelm der Hefte, sondern auf jene der Jahre, da 1976/77 ein Neußer, Albert Schulte, Helmut Schulte und Georg Doppelband erschienen war. Gerd Lindner erinnert Kern26 feiern. sich 1995: „Natürlich, wer hätte damals wissen kön- nen, was aus diesem plötzlichen Beginn dann nach und nach werden würde? Ein gewiß prachtvolles Kind „Nebenschauplätze“ unter den heute zahlreichen Angeboten der Troisdor- Für die Verfasserin war es interessant zu lesen, dass bereits beim ersten Treffen im November 1970 der 25 Neusser, 1995, S. 96 Vorschlag für die Bildung eines Heimatvereins von 26 E 1723 Albert Schulte eingebracht wurde. Dieser Verein

14 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Der Arbeitskreis mit Stadtdirektor Wegener (2. v. rechts) bei der Präsentation des Troisdorfer Jahresheftes 1995 Quelle: StadtarchivQuelle: Troisdorf

sollte dann die Jahreshefte herausgeben, dieses sei, „übergeordnete“ historische Belange. Unter dem TOP so Schulte „allgemein üblich und führe letztlich „Übernahme weiterer Aufgaben durch den Arbeits- dazu, auch noch andere Aufgaben durchzuführen“. kreis“ gipfelte dies Ansinnen am 15. Mai 1975 „über Stadtdirektor Gerhardus entgegnete, dass die „Jah- die Erstellung der Jahreshefte hinaus im historischen reshefte zunächst ausschließlich in der Trägerschaft und aktuell-kulturellen Raum tätig zu werden, damit der Stadt Troisdorf herausgegeben werden sollten. weitere Kreise der Bevölkerung angesprochen und den Die Gründung eines Heimatvereins sollte einer spä- Schulen eine Mitarbeit ermöglicht wird.“ Ziel war die teren Entscheidung vorbehalten bleiben.“ 27 Auch bei Bestandsaufnahme und Kartierung denkmalwürdi- den anschließenden Sitzungen des Arbeitskreises, ger Objekte im Stadtgebiet, um „im Einvernehmen so beispielsweise 1973, wurde die Gründung eines mit der Stadt zu verhindern, daß unwiederbringliche Geschichtsvereins durch Albert Schulte wieder an- Kulturgüter verlorengehen“.33 Buchkäufe und auch die gesprochen, um u. a. auch die Werbung zu inten- (vorbereitende) Beantwortung von Anfragen in den sivieren.28 Bei späteren Treffen des Arbeitskreises 1980er Jahren, vor allem im Zusammenhang mit er- widmeten sich die Mitglieder in der Tat vermehrt schienenen Artikeln, oblag den Mitgliedern des Krei- der Brauchtumspflege oder führten Besichtigungen ses.34 Im September 1982 erklärten sich die Mitglieder und Begehungen durch. So ist beispielsweise der des Arbeitskreises bereit, die Denkmalpflege im Stadt- Niederschrift vom 3. Juni 1971 zu entnehmen, dass gebiet als Arbeitsgemeinschaft zu übernehmen.35 auf der Tagesordnung die „Begehung von Denkmä- lern in der Wahner Heide“ stand. Die Mitglieder des Arbeitskreises gingen zudem verstärkt mit denk- Herausgeberwechsel 2005 malpflegerischen Aspekten um und beschlossen die „recht aufschlussreichen Begehungen wie die heutige Stetig steigende Kosten führten am 13. Februar 2000 in Zukunft fortzusetzen“.29 Auch geplante Termine zu einem Antrag der CDU-Fraktion im Kulturaus- für Grabungen in der Wahner Heide wurden in der schuss. Dieser wurde zwar einige Tage später nach Niederschrift vom 14. April 1972 festgehalten.30 Man Rücksprache mit dem Arbeitskreis zurück gezo- setzte sich für Restaurierungen und den Erhalt kul- gen, die dort angeführten Probleme blieben indes. turhistorisch wertvoller Hinterlassenschaften ein. In Das Protokoll des Arbeitskreises vom 6. April ver- der Arbeitskreissitzung im März 1975 wurde vorge- merkt dazu folgende Strategien mit Zielhorizont schlagen, dass „wenigstens einmal im Jahr eine Stu- dienfahrt zu denkmalwürdigen Objekten angesetzt 27 E 1800 [wird], für die die Stadt ein Fahrzeug zur Verfügung 28 E 1804 31 stellt“. Dieser Vorschlag wurde beim nächsten Tref- 29 E 1800 fen negativ beschieden, da „im Haushaltsplan hier- 30 Ebenda für Mittel nicht zur Verfügung ständen“.32 31 E 1804 32 Ebenda 33 Ebenda Die Mitglieder des Arbeitskreises Troisdorfer 34 Siehe dazu E 1822 Jahreshefte kümmerten sich bald zunehmend um 35 E 1718

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 15 Quelle: Stadtarchiv Troisdorf (E 1822)

Presseartikel aus dem Kölner Stadt-Anzeiger vom 26. Oktober 1985

ab dem Haushalt 2001: Kostenreduzierung durch dass die Mitglieder im Arbeitskreis nur jeweils für Einsparungen wie feste Seitenzahl, Reduzierung die Wahlperiode des Rates berufen wurden.37 Ins- der Farbfotos, maßvolle Werbung. Auch sollte der gesamt rief die Vorgehensweise bei den ursprüng- Arbeitskreis durch weitere Mitglieder erweitert wer- lichen (Gründungs-)Mitgliedern Wilhelm Neußer, den.36 Eine Erhöhung der Anzahl der Mitglieder Heinrich Brodeßer, Helmut Schulte, Georg Kern im Arbeitskreis erfolgte dann formell nach Ratsbe- und Karlheinz Ossendorf Unmut und Verärgerung schluss im Oktober 2002. Es kamen sieben weitere hervor. Trotz Vergrößerung des Arbeitskreises auf zu den etablierten Mitgliedern hinzu. Neu war nun, nun 12 Personen waren beispielsweise die Haus- haltsmittel wie geplant gekürzt worden. Die Ar- beitskreismitglieder konnten sich mit den Neuerun- 36 E 1721 gen nicht anfreunden. Es folgten Kündigungen nach 37 Ebenda 33 Jahren Mitgliedschaft, zunächst von Brodeßer im

16 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Vorstellung des Troisdorfer Jahresheftes 2003 mit Bürgermeister Manfred Uedelhoven (4. v. l.) Quelle: StadtarchivQuelle: Troisdorf

Dezember 2003 und von Kern im Januar 2004. Nach chen Themen und Zugängen zeichnen nach wie vor dem plötzlichen Tod von Helmut Schulte im Feb- die Ausgaben der Hefte aus: Hiervon profitiert auch ruar 2004 fehlte vor allem der kompetente Redak- die vorliegende Jubiläumsausgabe, für die bereits teur, Fotograf und Heimatforscher der Troisdorfer zum Jahresanfang 2020 zahlreiche Artikel von Au- Jahreshefte.38 Das letzte Heft, welches von der Stadt toren bzw. diverse Ankündigungen avisiert wurden. Troisdorf herausgegeben wurde, wurde im Rahmen Schlussendlich konnte wiederum eine ausgewogene einer Pressekonferenz am 24. November 2004 vor- und interesseweckende Auswahl getroffen werden. gestellt. Die Auflage blieb zuletzt bei 1000 Stück und Es bleibt zu hoffen, dass der Reihe Themen und veröf- einem Umfang von 124 Seiten.39 fentlichungswillige Autoren nicht ausgehen mögen.

Eine Änderung hat sich jedoch im Laufe der Derzeitiger Stand und Ausblick Jahrzehnte ergeben. Die Gründungsmitglieder des Arbeitskreises Troisdorfer Jahreshefte schrieben Seit 2005 ist der Heimat- und Geschichtsverein Trois- mehrheitlich die Beiträge, Gastautoren waren in den dorf e. V. Herausgeber der Troisdorfer Jahreshefte. ersten Jahren noch die Ausnahme. Heute überwiegen War der 1986 gegründete Heimatverein auch vor der die „externen“ Autoren, wenngleich diese aber mehr- gesamtverantwortlichen Übernahme der Hefte am heitlich Mitglieder des Heimat- und Geschichtsver- Erscheinen von Artikeln beteiligt, obliegt ihm nun eins Troisdorf e.V. sind. Der „Arbeitskreis“ firmierte im 16. Jahr die Herausgeberschaft. Neben einem fest mit Herausgeberwechsel zum „Redaktionsteam“ um zugesagten Zuschuss der Stadt unterstützen Spon- und leistet nach wie vor insbesondere die vorberei- soren wie zum Beispiel die Stadtwerke oder die VR tenden Arbeiten, damit wiederkehrend im Herbst Bank finanziell die Herausgabe der Jahreshefte. eines Jahres ein facettenreiches Heft mit einer breit- gestreuten Auswahl an historischen und gleichsam Die guten Verkaufszahlen des Heftes 2019 bei aktuellen Artikeln erscheinen kann. z einer regelmäßigen Auflage von 1000 Stück lassen den Heimat- und Geschichtsverein im Hinblick auf die weitere Existenz der Reihe optimistisch voraus- 38 Nachruf im Troisdorfer Jahresheft 2004, S. 115 schauen. Freude an Publikation, an unterschiedli- 39 E 1721

Quellen- und Literaturverzeichnis:

Stadtarchiv Troisdorf: E 497, 1718, 1721, 1723, 1725, 1800, 1801, 1802, 1804, 1806, 1807, 1822 Neußer, Wilhelm 1995: Fünfundzwanzig Troisdorfer Jahreshefte, S. 94 – 111 (Troisdorfer Jahresheft 1995) Neußer, Wilhelm 2004: Zum Gedenken an Helmut Schulte, S. 115 (Troisdorfer Jahresheft 2004)

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 17 Yvonne Andres-Péruche Foto: Privat Aus Liebe zum Rheinland

Eine kleine Würdigung für Peter Haas zum 80. Geburtstag

Wie fange ich an? Diese Frage stellte sich die Schreiberin dieser Zeilen, als ihr die ehrenvolle Aufgabe zuteil wurde, im aktuellen Heft der Troisdorfer Jahreshefte eine Würdigung auf Peter Haas zu schreiben, der im Mai 2020 seinen 80. Geburtstag gefeiert hat. Kaum ein anderer gegenwärtig lebender Bürger von Troisdorf hat sich in so vielen Disziplinen gleichzeitig Rang und Ehren erarbeitet wie er. Man könnte ihn auch „Mister Troisdorf“ nennen. Der Lehrer Peter Haas

abei ist er gar kein echter Troisdorfer. Er wäre Nach dem Abitur folgte das Philologie-Studium Dheute „ne Bönnsche Jung“, also Landsmann der an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Autorin. Als Peter Haas jedoch am 14. Mai 1940 das Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Abschluss Licht der Welt in der Wolfsburg in Schwarzrhein- mit dem Staatsexamen für das Lehramt in den Fä- dorf erblickte, da gehörte dieser Ort noch nicht zu chern Deutsch und Geschichte. Bonn. Ja, nicht mal zu Beuel. Schwarzrheindorf war ein selbstständiges kleines Dorf im Landkreis Bonn. Ein Lehrer war der Welt geboren! Und was für einer! Unterhält man sich mit Peter Haas, spürt Kriegsfolgen sorgten dafür, dass die Familie des man auch heute noch – Jahre nach seiner Pensio­ Metzgermeisters Haas 1951 nach Troisdorf umzog. nierung – die Freude am Erkennen, am Entdecken, Vater Haas hatte eine Metzgerei zum Pachten gefun- am Reflektieren und am Mitteilen. Es ist das tem- den. Und da die Leute auch inmitten von Trümmern peramentvolle, freudige Mitteilen, das didaktisch essen mussten, lief der Laden. geschickte Herauskitzeln von Fähigkeiten und Erkenntnissen, das den begabten Pädagogen so Peter und seine beiden Geschwister wuchsen beliebt bei seinen Schülern machte. Natürlich ge- mitten in Troisdorf auf. Als sich herausschälte, dass hörte zum Schulmann Peter Haas auch der gesel- der Bruder den Metzgerberuf erlernen wollte und lige, schauspielerisch durchaus begabte fröhliche ins Geschäft strebte, schlug Peter die akademische Rheinländer, der auf Klassenfahrten für Stim- Laufbahn ein. Und da Troisdorf zu dieser Zeit noch mung sorgte. Aber Peter Haas ist keine Betriebs- kein eigenes Gymnasium besaß, fuhr der Schüler nudel. Ich könnte ihn mir auch mit Strenge vor- mit der Eisenbahn die paar Stationen bis Oberkassel, stellen. Ich denke, er verlangt etwas. Von sich und um das Ernst-Kalkuhl-Gymnasium zu besuchen. von anderen.

18 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Auch heute noch, im (Un-)Ruhestand, der ihn fand hier der parallele Schulbetrieb einer städti- vor vielen Jahren zum Schriftsteller, Mundart-Autor schen Haupt- und Realschule statt. und Übersetzer aus dem geliebten Französischen machte. Es war ein langjähriger zäher politischer Kampf für eine Gesamtschule für alle Jahrgangsstufen. Zu Er ist durch und durch ein Homme de lettre. Das Beginn des Schuljahres 1988/89 wurden die ersten mag seinen Ursprung schon in der Fächerwahl ha- Schüler aufgenommen. Gründungsdirektor Peter ben: Deutsch und Geschichte! Das sind keine Fächer Haas konnte stolz verkünden, dass er der ersten Ge- für Bilanzen und Zahlenreihen. Das sind schöngeis- samtschule im Rhein-Sieg-Kreis vorstand. tige Fächer. Fächer, die das kulturelle Bewusstsein stärken, es bilden. Zweiundzwanzig Jahre lang war Peter Haas als Stadtverordneter für seine Mitbürger in der Trois- Als der junge Lehrer in Troisdorf anfing, gab es dorf Innenstadt tätig. Neben dem Amt des Orts- noch Volksschulen und Realschulen. 1961 wurde vorstehers profilierte er sich – wie könnte es an- das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymna- ders sein? – als engagierter Kulturpolitiker. Gleich sium am Altenforst gegründet, 1964 das städtische zweimal war er Vorsitzender des Kulturausschusses allgemeinbildende Heinrich-Böll-Gymnasium in (1980 – 1989) und (1992 – 1999). Langjährig stand er Sieglar. Für Peter Haas stand zuerst die Schulform dem Heimat- und Geschichtsverein vor. Realschule im Vordergrund. Nach der Wahrnehmung der Autorin, die in die- Einige Reformen später ging der Ideologie- ser Stadt noch ein Neuling war, brillierte die dama- beladene Kampf um die erste Gesamtschule los. lige städtische Kulturpolitik durch große Kreativität Troisdorf war nach der Gebietsreform (noch eine und Tatkraft. Nie werde ich die gesamtstädtische Reform!) 1969 aus vielen kleineren Ortschaften zu Aktion der Kunst im Öffentlichen Raum zu Be- einer Gesamtstadt zusammen gesetzt worden. Den ginn der 1980er Jahre vergessen. Peter Haas, Jürgen langen Weg des Zusammenwachsens einer so hete- Busch, Rolf Möller, Ingo Ferrari und andere Mit- rogenen Gemeinde mit heute 13 Stadtteilen erlebte streiter hatten zum Bildhauer-Symposion in die In- und begleitete der Lehrer und Kommunalpolitiker dustriestadt eingeladen. Die Künstler kamen, stell- Peter Haas sehr bewußt mit. Als das neue Schulzen- ten ihre Werke aus. Prominent ist der „Dicke Mann“ trum am Bergeracker 1977 – 1979 errichtet wurde, von Karl-Henning Seemann auf dem Fischerplatz! Foto: Privat

Begutachtung des „Dicken Mannes“: Peter Haas, Stadtdirektor a. D. Bernward Gehardus und der Künstler Karl Henning Seemann

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 19 Foto: Privat Foto: Privat

Angeregte Unterhaltung zwischen Dr. Lothar Watrinet, Noch ’n Kunstwerk! Persiflage-Figur auf den Kunstfreund Dr. Rupert Neudeck, Kardinal Etsou, Primas von Kongo und Peter Haas im Troisdorfer Karneval Peter Haas

Prominent aber auch das Werk von Giovanni Kulturausschuss aus. Was nicht heißt, dass er jetzt Vetere, Tor Michael Sönksen, die Stadttore von keine Lust mehr zur Kultur hatte. Weit gefehlt. Viktor Bonato und Joachim Bandau. Maler wie Masud Saddedin, Tor Michael Sönksen, Josef Hawle Noch im Schuldienst der Europaschule auf dem und viele andere Künstler erfreuten und erfreuen Bergeracker kamen schrittweise neue Aufgaben auf uns Bürger bis auf den heutigen Tag. ihn zu. Immer mehr drängte sich das Schreiben nach vorne. Höhepunkt dieser kulturpolitischen Tätigkeit war die Gründung des in Europa einzigartigen Bil- Unvergeßlich war für die Autorin „Sieben Bil- derbuchmuseums in der historischen Burg Wissem. der einer Stadt“ – das Collagetorium aus Troisdorf, Peter Haas war Gründungsmitglied, nachdem der 1992. Eine szenisch-musikalische Stadtgeschichte, Troisdorfer Kaufmann Wilhelm Alsleben der Stadt die ich in der Küz zu sehen bekam. In Zusammenar- 1982 seine umfangreiche Sammlung historischer beit mit der städtischen Musikschule unter Leitung und modernen Bilderbuch-Originalillustrationen von Manfred Hilger und Laiendarstellern diverser geschenkt hatte. Unter der Bedingung, dass die Theatergruppen in der Stadt, kam ein flottes -Mu Sammlung für die Öffentlichkeit geöffnet wurde. sical auf die Bühne, welches die Geschichte dieser Haas und die anderen Kulturfreunde griffen zu. Stadt ins rechte (Rampen-)Licht rückte. Text: Peter Haas, Musik: Markus Grünter. Mit der ehemaligen Museumsleiterin, der Kunst­ historikerin Dr. Maria Linsmann-Dege, die das Haus Der Knaller aber kam 2001: Da fragte der Köl- viele Jahre erfolgreich führte, fanden die Troisdorfer ner Männergesangverein in Gestalt des Lehrerkol- eine potente Mitstreiterin. Ihr gelang es, die nam- legen und späteren Bonner Oberbürgermeisters haftesten Sammlungen für das Haus zu erwerben: Jürgen Nimptsch bei Peter Haas an, ob er für einen Middelhouve, Janosch, natürlich Alsleben, Theodor großen Theatertext zur Verfügung stehen könnte. Brüggemann und vieles mehr. Die berühmte Bühnenspielgemeinschaft des Köl- ner Männergesangvereins, die „Cäcilia Wolken- Heute ist das Troisdorfer Bilderbuchmuseum burg“, wollte das alljährlich neu konzipierte Di- das kulturelle Prunkstück der Stadt. Ein Highlight, vertissementchen auf der Bühne der Kölner Oper das mit vielen Ausstellungen und Aktionen über die herausbringen. Das Problem: Das Libretto von Stadt hinaus strahlt. Generationen von Schulklassen Fritzdieter Gerhards war in Hochdeutsch. Da Pe- werden es den Gründern von damals danken. Und ter Haas schon von Hause aus mit der rheinischen wir, das Publikum. Mundart aufgewachsen war, flossen ihm die rhei- nischen Wöötche und Situationen flott aus der Mit dem Wechsel der Mehrheiten im Rat der Feder. Unter dem Titel „Nie mih Kölsch?“ wurde Stadt Troisdorf 1999 schied Peter Haas aus Rat und das Divertissementchen des Jahres 2001 ein gro-

20 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Privat

Peter Haas greift zum Mobiltelefon: „Et Zauberhandy“

ßer Erfolg. Und wie das mit Erfolgen so ist: Die Zauberflöte entstand das Divertissementchen für Kölner waren so begeistert, dass Haas direkt ein die „Cäcilia Wolkenburg“ auf rheinisch aus Peters Anschluss-Engagement bekam. Frei nach Mozarts Feder: „Et Zauberhandy“.

Viele mundartliche Veröffentlichungen folgten, so das Hörbuch „Chressnaach unger Palme“ oder heitere Geschichten wie „Dr Papp im Boom“, eine Foto: Privat total lustige Heiligabend-Katastrophe, voll aus dem Leben.

Ob Peters eigene Familie dabei Pate gestanden hat? Wer weiß?

Die Liebe zum Rheinland. Das müsste als Über- schrift über dem Leben von Peter Haas stehen. Das betrifft auch viele Veröffentlichungen zur Stadtge - schichte, auch aus dem Französischen übersetzt. L´enigme des bombes en bois – Das Rätsel der Holz- bomben, von Pierre Antoine Courouble. Oder: Die Nachkriegszeit – Die Wahner Heide, eine rheinische Landschaft im Spannungsfeld der Interessen. Man kann seine Texte gar nicht alle hier nennen. Peter Haas hat sich besonders auf dem Feld der Heimat- forschung immer wieder in Aufsätzen (Troisdorfer Jahreshefte; Heimat- und Geschichtsverein) mit Troisdorfs Topographie, Geschichte und Gegenwart beschäftigt. Liebt und schreibt Bücher, redet wie ein Buch: Peter Haas aus Sicht eines chinesischen Karikaturisten Als großer Kommunikator in Sachen Heimat- auf der großen China-Reise 1989 und Naturkunde wirkt Peter Haas seit Jahrzehnten

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 21 Foto: Privat Foto: Privat

Peter Haas 1994 als Kulturbotschafter bei einer Stadterkundung der Kunst Beim Festessen anläßlich der Verleihung im öffentlichen Raum des Bundesverdienstkreuzes am Bande, 1999 für diese Stadt und ihre Bürger, im Ehrenamt. Seine Deutscher Karneval und der Dr. humoris causa der mit Anekdoten gespickten Stadtführungen sind ge- Troisdorfer Altstädter folgten im Laufe der Jahre. nauso legendär wie seine sachkundigen Füh- rungen durch die Wahner Heide. Auf Die Stadt Troisdorf ehrte Peter Haas einer dieser Führungen sah ich zum 2005 für sein ehrenvolles ehrenamt- ersten Mal im Leben den winzigen liches Engagement für die Bürger Sonnentau. Ein Erlebnis! dieser Stadt mit dem Eintrag ins Goldene Buch. All das übergroße Engage- ment in so vielen Lebensbereichen All das hätte er nicht geschafft, führte unausweichlich dazu, dass wäre ihm nicht seine Gattin Eva so ihn irgendeiner zum Kandidaten zur Seite gestanden, wie sie es bis für das Bundesverdienstkreuz vor- heute tut. geschlagen haben muss. 1999 erhielt er Der Rheinlandtaler die Ordensauszeichnung am Bande. Die Die Frage nach der eigenen persön- Ehrungen gingen weiter. Rheinlandtaler, Verdienst- lichen Freizeit habe ich mir dann am Ende unseres orden in Gold vom Regionalverband des Bundes Gesprächs geschenkt. z Foto: Privat Foto: Privat

Kultur- und Naturerkunder in der Wahner Heide. Hier am 1723 Auch im Schachspiel sattelfest: Peter Haas und errichteten Fußfall des Eremiten Arsenius Tripmann der russische Schachgroßmeister Salo Flohr

22 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Jürgen Busch

Giovanni Vetere Foto: Klaus Mischka wird 80

Der ehemalige Bauernjunge und Gastarbeiter ist heute ein international beachteter Künstler

Immer noch trifft man Giovanni Vetere in der Stadt – debattierend mit ehemaligen Kollegen der Dynamit Nobel AG, bei einem Espresso sitzend, im kurzen Smalltalk oder dozierend vor einer fasziniert lau­schenden Gruppe an einer seiner zahlreichen Skulpturen und Bilder, mit denen er dem Troisdorfer Stadtbild seinen unverwechsel­baren Stempel auf­ gedrückt hat. Vetere feiert in diesem Jahr Giovanni Vetere seinen 80. Geburtstag – Anlass für den Heimat- und Geschichtsverein ihm zu gratulieren und für seine Initiativen, Schenkungen und Leihgaben zu danken und ihn im diesjährigen Jahresheft zu würdigen.

eine erste Begegnung mit ihm liegt über 50 hängen einen Liter Öl als Entlohnung erhielten. Ein MJahre zurück und fand zu einem Zeitpunkt geregelter Schulbesuch war unter diesen Lebensbe- statt, als niemand ahnen konnte, welche bedeutende dingungen nicht möglich. Statt der Schulpflicht von künstlerische Karriere seinen künftigen Lebensweg fünf Jahren besuchte Vetere nur drei Jahre die Schule prägen würde. Um diese Entwicklung verstehen zu und das jährlich jeweils nur etwa sechs Monate. Da- können, müssen wir weit zurückblicken. mit hatte er, gemessen an den meisten Gleichaltri- gen, eine gute Bildung für eine Region, in welcher Vetere, der am 3. Dezember 1940 in Strongoli, ei- der Großteil der Bevölkerung Analphabeten waren. nem kleinen Dorf im süditalienischen Kalabrien ge- boren wurde, hatte noch drei Halbgeschwister und Bei aller Armut war das Leben in der Familie elf Geschwister. Von diesen erreichten sieben nicht reich an Zuwendung, Schutz, Zusammenhalt und einmal das Alter von drei Jahren. Anerkennung.

Schon im Alter von fünf Jahren musste Vetere 1957 bricht Vetere aus den geordneten Werte- bei der Landarbeit helfen, morgens um 4 Uhr in der strukturen der archaischen kalabresischen Dorfge- Früh aufstehen, zwei Stunden Fußweg zum Feld, meinschaft aus und geht zunächst nach Turin und zehn Stunden Feldarbeit und dann den Weg zurück später nach Mailand. Schon bald merkt er, dass gehen. Hatte die Familie selbst keine Arbeit, wurden hier für ihn nur Hilfsarbeiten anfallen und die ge- die Kinder als Tagelöhner zum „Barone“ geschickt, wohnten heimatlichen Strukturen keine Bedeutung wo sie für drei Tage Oliven sammeln an den Berg- haben.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 23 Er kehrt nach Kalabrien zurück und soll zum Tochter Carmen Clea geboren. Die Familie erwirbt Militärdienst eingezogen werden. Um sich dem ein eigenes Haus am Talweg, renoviert mit viel Fleiß, Drill des Militärs zu entziehen, verpflichtet er sich Engagement und Improvisationsvermögen. 1961 als Gastarbeiter mit einem Arbeitsvertrag nach Niederdollendorf in Deutschland. Giovanni Vetere, der sich als Kind in die materi- elle Absicherung seiner Familie einbringen musste, Diese Entscheidung bedeutete, dass er bis zum der früh lernte wie wichtig die Zugehörigkeit zu 28. Lebensjahr nicht nach Italien zurückgehen einem familiären System ist, der sich ohne diese durfte, weil sonst die Einberufung zum Militär die Strukturen in der Fremde behaupten musste und in Folge gewesen wäre. ein fremdes Land auswanderte, schafft die Integra- tion in einen neuen Kulturkreis. Er wechselt zu einer Firma an der oberen Sieg und findet dort bald Freunde unter Landsleuten und Mit dem Umzug nach Troisdorf macht Vetere Deutschen. Ein tragischer Autounfall, bei dem ein Erfahrungen, die sich, so betont er noch heute, als Freund getötet und er selbst schwer verletzt, von den prägend für seine persönliche Entwicklung erwei- Ärzten mit über 250 Stichen und zahlreichen Schie- sen sollten. Er lernt in Sieglar eine Gruppe junger nen wieder zusammengeflickt wird, ändert seine Menschen kennen, zu der auch der Autor gehört, Lebenseinstellung. Hier beginnt er zu lesen und die die sich ernsthaft für die Interessen der Gastarbei- deutsche Sprache zu erlernen. Er lernt seine Frau ter interessiert und deren Arbeits- und Lebensbe- Brigitte kennen. dingungen verbessern wollen. In dieser Gruppe wird er als gleichberechtigter Partner akzeptiert 1968 heiraten Giovanni und Brigitte Vetere. Das und seine Ansichten und Meinungen finden Gehör. Paar zieht nach Troisdorf, wo Giovanni eine Stelle Vetere hört nicht lange zu, sondern ist sofort in sei- bei Dynamit Nobel bekommen hat. 1972 wird die nem Thema. Foto: unbekannt Foto:

Giovanni Vetere (mit Baskenmütze) im Haus International als Mitglied der Ausländervertretung diskutierend mit Lands­leuten und Jürgen Busch (Mitte, mit Brille).

24 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Engagiert wie viele ihn als Künstler kennen, trat Zu den etwa 3.000 Menschen, die zu dieser Aus- er als Sprecher für viele, wie es damals hieß, Gast- stellung kamen, gehörten auch Direktoren und arbeiter auf, insbesondere jedoch für seine italieni- leitende Angestellte seines Arbeitgebers Dynamit schen Landsleute. Nobel. Für Giovanni war diese Ausstellung ein Meilenstein: Dank der notwendigen Unterstützung der da- z Sein oberster Chef kauft ein Bild von ihm und maligen Troisdorfer Stadtspitze und der nordrhein- zahlt dafür einen vierstelligen D-Mark-Betrag westfälischen Landesregierung gelang es, die Ge- z Er verkauft alle Arbeiten, die er ausstellt danken in ein Modellprojekt münden zu lassen. Es z Seine Chefs gestatten ihm, fortan im Betrieb in entstand die bundesweit erste kommunale Auslän- den Pausen zu malen und Materialien der Firma dervertretung: das Ausländerparlament. Einer der durfte er ebenfalls verwenden. im Juni 1972 direkt Gewählten war Giovanni Ve- tere. Dieses politische Engagement Giovannis dau- Nach dieser Ausstellung finden sich zunehmend erte bis 1981. Arbeiten von Vetere an verschiedenen Orten in der Stadt. Vetere ist auch heute noch ein sehr politischer Mensch – Er hat zweifelsfrei politische Sympathien, Am Talweg in Oberlar findet sich heute noch am war aber nie parteipolitisch fixiert. ehemaligen Vetereschen Haus eine von Giovanni gestaltete Haustür. Hier hat nicht nur die künstle- Mit der Geburt von Carmen und dem Kauf des rische Entwicklung begonnen, sondern hier war ab eigenen Hauses am Talweg 1974 stockte sein Engage- 1977 auch die Galerie Vetere. ment nicht. Die unermüdliche Seele renovierte, po- litisierte, arbeitete bei Dynamit Nobel und sicherte sich Carmens ersten Farbkasten. Damit zog er sich zurück und experimentierte nächtelang. So entstan- den erste eigene Bilder. In der Folge verschlang er

Künstlerbücher, wechselte auf Acryl und Ölfarben. Foto: Klaus Mischka Er benötigte ständig Geld für neue Farben, für Pin- sel und Equipment. Bilder wurden im Freundeskreis für drei bis fünf Deutsche Mark verkauft, um Geld für neue Farben zu haben.

Im Herbst 1973 stellte er im „Haus Internatio- nal“ in Sieglar aus. Da Leinwand für ihn finanziell unerschwinglich war, experimentierte er auf Pappe, Karton, Holzbrettern, quasi auf allen Materialien, die er finden konnte.

Er war damals der Auffassung, jedes Bild braucht einen Rahmen, also zimmerte er Rahmen, die nur selten passten, sie waren nicht auf Gehrung geschnit- ten und mit dicken Nägeln irgendwie befestigt. Den- noch war diese Ausstellung für den Menschen Gio- vanni ein Erfolg und für den späteren Künstler ein großer Entwicklungsschritt. Balsam für seine Seele war ein Jahr später die gemeinsame Ausstellung mit spanischen Malern, die bereits mit Pablo Picasso ausgestellt hatten. Auf meine Initiative hin kam es 1975 zu einer großen Gemeinschaftsausstellung.

Von Vetere geschaffene Haustür am ehemaligen Wohnhaus im Talweg, 1986

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 25 Im Troisdorfer Stadtpark hinter der Parkstraße tere Plastik vor der Burg Wissem. Die hatte ein reu- hatte Hannes Deutschle, damaliger Grünflächen- iger Dieb wohl zurückgebracht. Sie war zu der Zeit amtsleiter, zwei Pfälzer Sandsteine abgelegt und entstanden, als Giovanni in der Remise sein Bildhau- Giovanni schuf dort 1978 seine ersten Arbeiten im eratelier hatte. Das war ab 1982. Der rote Sandstein Öffentlichen Raum. Heute ist dort nur noch ein Stein aus der Pfalz hingegen blieb verschollen. Giovanni zu sehen, der andere steht wahrscheinlich in einem stellte die zurückgekehrte Arbeit der Stadt als Dau- privaten Garten. Als ich vor einigen Jahren schon erleihgabe zur Verfügung. Sie steht heute zwischen einmal darüber sprach, lag am nächsten Tag eine Ve- Remise und der Brücke über den Burgweiher.

Bildhaueratelier in der Remise von Burg Wissem bis 1989 Foto: Klaus Schmitz Foto: unbekannt Foto:

Gemeinsam mit seinem Bruder Francesco im Freiluftatelier vor der Remise Foto: Klaus Schmitz

Foto: Susan Cimera-Busch Susan Foto: Ausstellungsraum im Obergeschoss der Remise

Arbeit im heutigen Atelier in Eitorf

26 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Große Beachtung findet Vetere auf dem internationalen Kunstmarkt. Er ist u. a. auf Ausstellungen in

Foto: JürgenFoto: Busch New York, Los Angeles und Mailand vertreten. Hier eine Aufnahme von der wohl bedeutendsten Kunst-Messe, der „ART BASEL 82“ in der Schweiz. Foto: Susan Cimera-Busch Susan Foto:

Giovanni Vetere mit Tochter Carmen Clea und Jürgen Busch auf der „ART BASEL“

1982 stellte Giovanni Vetere auf einer der bedeu- Das traf Vetere zutiefst. Als alle Worte nicht wei- tendsten internationalen Kunstausstellungen, der terhalfen, schritt Giovanni zur Tat. ART BASEL in der Schweiz aus. Als Messebesucher wurde ich Zeuge einer einzigartigen Demonstra- Mit wenigen Handgriffen nahm er die große Ar- tion. Vorwegschicken muss ich, dass er zu diesem beit aus dem Rahmen, legte sie auf sein Knie und Zeitpunkt schon länger auf Trolitax Platten malte spannte sie darüber so weit, dass die Enden fast (kupferkaschierte Hartpapierplatten). seine Schenkel berührten. Die Dame sprang ent- setzt zurück, um dann wieder hervorzutreten und Eine Kaufinteressentin hielt sich längere Zeit in, das Bild genauestens zu untersuchen. Wenig später wie sie wohl meinte, sicherer Entfernung zu dem wechselte das Werk den Besitzer. Vetereschen Stand auf. Sie äugte jedoch, stets die Po- sition wechselnd, auf Giovannis Arbeiten. Ihm war Die Demokratisierung und Mitbestimmung im dieses Treiben nicht verborgen geblieben und plötz- Kulturbereich erreichte in der zweiten Hälfte der lich stand er hinter der Dame, verwickelte sie in siebziger Jahre auch Troisdorf. Zu den Aktivisten einen Smalltalk und bewegte sich langsam zu dem die bei keinem Workshop fehlten, sich auf Straßen offensichtlichen Objekt der weiblichen Begierde. und Plätzen der Diskussion mit der Bevölkerung Sie folgte ihm, und es entstand für den Beobachter stellten, Techniken demonstrierten und Steine bild- erkennbar ein intensives Gespräch. Nach einiger hauerisch bearbeiteten, gehörte Giovanni Vetere. Zeit nahm Giovanni das Bild von der Wand, zeigte Während des Kampfes der kulturfördernden und die Arbeit von hinten und die Dame erschrak. Eine schaffenden Vereine für die kulturelle Nutzung der Kupferplatte als Malgrund, so etwas hatte sie noch ehemaligen Werkhallen der Zahnradfabrik Keller nie gesehen. „Das könnte ja auf Dauer nicht halten“, schuf Vetere auf der Poststraße eine große Arbeit, war für mich als Betrachter auch noch in zehn Me- die heute als Dauerleihgabe den Sitzungssaal C im tern Abstand zu vernehmen. Rathaus schmückt. Während eines Workshops auf

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 27 Giovanni Vetere ist kein Künstler für das stille Kämmerlein. Er vermittelt öffentlich Techniken, demonstriert sie und arbeitet auf Straßen und Plätzen.

Die Entstehung des Vogelbrunnens bei einem Workshop in der Hippolytusstraße Foto: Klaus Schmitz Foto: Klaus Schmitz

Bemalung des Bahnhoftunnels, 1987 Foto: JürgenFoto: Busch Foto: Klaus Schmitz

Symposium auf dem Fischerplatz, 1988 Workshop in Troisdorf, 1976 Foto: Wolfgang Maus Wolfgang Foto:

Aktion zu Rettung der „Keller Hallen“, 1982

28 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 dem Fischerplatz entstand aus Ytong ein Vogel- Brunnen, der danach viele Jahre im Innenhof der neuen Vetereschen Galerie im Eckhaus Hippolytus- straße / Poststraße stand. Aus der alten Galerie am Foto: Klaus Schmitz Talweg wurde sein Atelier.

Der damalige Bürgermeister Hans Jaax erwarb 1980 für die Stadt als erste bezahlte Arbeit von Gio- vanni die kleine Bronzeplastik, welche am Anfang der Schlossstraße steht.

Ohne das langjährige Engagement Veteres, Ma- lerei und Bildhauerei in den öffentlichen Raum zu bringen, wären in Troisdorf die großen Aktionen in den achtziger Jahren kaum vorstellbar gewesen. Schon früh berichteten Brigitte und Giovanni u. a. von den Symposien in St. Wendel und aus St. Mar- garethen im österreichischen Burgenland. Nach ei- nem Besuch in St. Margarethen konzipierte ich mit einer Gruppe aus dem Kulturverein TroisdorfsZene ein Konzept, aus dem später zwei Bildhauertref- fen, zwei Fassadenmalertreffen und 1997 das sich am Umweltgedanken orientierende Projekt unter dem Arbeitstitel Stadt-Mensch-Natur-Landschaft entstanden.

Heute sind von den damals geschaffenen Kunst- Erste Bronze im öffentlichen Raum. Sie steht heute noch in werken noch 30 erhalten. Sie prägen das kulturelle der Schloßstraße und wurde 1980 von der Stadt erworben. Foto: Klaus Schmitz

Vetere mit „schwerem Gerät“ im Stein, 1984 auf dem Fischerplatz.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 29 Die bespielbare Lebenssäule schuf Vetere 1988 während des zweiten Symposiums.

Foto: Klaus Schmitz Sie steht heute am Kinder­ garten in Eschmar. Foto: Klaus Schmitz

Die Firma Naturstein Azul stiftete den Block aus weißem Carrara-Marmor, den Vetere 1988 außerhalb des Symposiums unentgeltlich bearbeitete. Zunächst an der Louis-Mannstaedt-Straße aufgestellt, steht die Arbeit heute an der Burg Wissem.

Gesicht der Stadt und geben Troisdorf ein Alleinstel- dern auch ausreichend Fläche für einen Skulpturen- lungsmerkmal, um das viele Kommunen die Stadt park. Alle ins Auge genommenen Objekte wie Haus beneiden. Giovanni Vetere selbst schuf während der Broich und die alte Spicher Poststation scheiterten an beiden Bildhauersymposien zwei große Sandstein- der ablehnenden Haltung der Stadt als Eigentümer. plastiken. Während des Symposiums 1984 entstand Da somit keine geeignete Immobilie in der Stadt zur die Lebenssäule, die auf dem Fischerplatz steht. Ein Verfügung stand, erwarben Veteres die alte Zigarren- weiterer roter Sandstein gleicher Thematik, jedoch fabrik Kayser in Eitorf mit dem angrenzenden Tal. liegend und damit für Kinder leichter zu erklettern, Seit 1989 wohnt Vetere in Eitorf. Er selbst kommen- ist Bestandteil des Eschmarer Kindergartens. tiert es als überzeugter Troisdorfer so: „Von Geburt bin ich Italiener, ich wohne in Eitorf – aber von gan- Während des 1988er Symposiums schenkte die zem Herzen und als Künstler bin ich Troisdorfer.“ Firma Azul Naturstein aus Sieglar der Stadt einen großen weißen Block aus Carrara Marmor. Gio- Professor Dr. Frank Günter Zehnder, jahrzehn- vanni Vetere erklärte sich spontan bereit, ohne jeg- telang im Kölner Wallraf-Richartz-Museum und liche Honorarforderung diesen Stein zu bearbeiten. später Leiter des Rheinischen Landesmuseums in Viele Jahre schmückte er die kleine Freifläche vor Bonn, hat sich intensiv mit dem Werk Giovanni der ehemaligen Betriebskrankenkasse der Firma Veteres auseinandergesetzt. Er sagt: „Giovanni Klöckner Werke an der Louis-Mannstaedt-Straße. Vetere ist eine sehr eigenwillige Künstlerpersön- lichkeit, die sich fernab von geläufigen Künstlerbio- 1988 intensivierte die Familie Vetere die Suche graphien, fernab von gängigen Marktgesetzen und nach einem ausreichend großen und repräsentativen zunächst auch ohne jede professionelle Berührung Gebäude in Troisdorf, das nicht nur über Raum für entwickelte. Deshalb ist er kein Konformist, des- Wohnen, Atelier und Galerie verfügen sollte, son- halb hat er sich eine so individuelle Schöpfungs-

30 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 kraft erhalten, deshalb erregen seine Werke wohl weltweite Aufmerksamkeit. Er hat nicht diesen oder jenen Bildungsgrad, nicht diesen oder jenen Sammlertyp, nicht hier Ästheten, dort ,Seelchen‘ JürgenFoto: Busch vor Augen, will nicht heute Komponist und morgen Seelentröster sein, sucht nicht einmal das Artifizi- elle um der Bildakrobatik wegen und gibt nicht das andere Mal freundlichen Zuspruch wegen den Af- fekten den Vorzug. Er bleibt sich und seinen Schaf- fungsprinzipien bei aller Entwicklung und bei aller seinen Werkverlauf kontinuierlich durchziehender Experimentierlust letztlich doch treu …

Seine inneren Maßstäbe sind für seine Bildideen und seine Formvorstellungen absolut und werden nicht vom Gang der Kunstgeschichte, von Ausstel- lungspolitik oder vom Kunstmarkt zum Wanken gebracht …

Seine Bilder sind von einer großen Sympathie getragen, sie sind ohne Aggression, ohne Schärfe und Sarkasmus. Weder absichtlich oder zufällig verletzend sind sie doch nicht frei von einer tiefen Hintergründigkeit und einer bisweilen leichten po- sitiven Ironie.

In einer Zeit zunehmender Entwurzelung scheint gerade ein solcher Bildbeleg für Liebe, Für- „Die Zehn + Zwei“, ursprünglich für den Mittelpunkt der sorge, Vertrauen, Zuverlässigkeit und Aufeinander- Stadt vorgesehene Arbeit von 1999 wurde 2020 restauriert, angewiesensein – das alles stellen seine Szenen und ergänzt und dank des Heimat- und Geschichtsvereins an Figuren vor – von besonderer Faszination zu sein. neuem Ort neben dem Rathaus errichtet. In einer Zeit der verstörten Sprachlosigkeit, wenn es darauf ankommt sich als Person eindeutig zu beken- nen, scheinen Veteres Bilder vielen hilfreich, weil sie mittelt hatte. Damit Stelen und Mittelpunkt nicht die Dinge bildlich ohne Umschweife beim Namen fernab der Troisdorfer im Industrie-Park dahin- nennen.“ 1 schlummerten, einigte man sich auf den Standort am Kasino. Zu dieser Zeit dachte noch niemand da- Eine seiner letzen Arbeiten in Troisdorf wurde ran, dass der neue Standort einmal für den Bau der in diesem Jahr auf der Wiese neben dem Rathaus an Stadthalle benötigt werden würde. So wurden die der Sieglarer Straße nach aufwendiger Restaurie- „Zehn + Zwei“ auf dem Bauhof eingelagert. Als man rung installiert. Am ursprünglichen Standort, auf sich im vergangenen Jahr auf den neuen Standort an der Wiese neben dem ehemaligen Hüls-Kasino, war der Sieglarer Straße verständigt hatte, bedurfte es die Arbeit 1999 unter dem Titel „Die Zehn“ als Sym- zunächst einmal aufwendiger Restaurierungsarbei- bol für die 10 Stadtteile und den Mittelpunkt der ten und erheblicher finanzieller Mittel. Es ist unbe- Stadt Troisdorf entstanden. Da die Kommunalwahl stritten das Verdienst des Heimat- und Geschichts- im selben Jahr nicht nur eine neue Ratsmehrheit, vereins, der sich hier einmal mehr als großzügiger sondern mit „Troisdorf West“ und „Rotter See“ auch Sponsor betätigt hat. Vielleicht reichen die Mittel ja zwei weitere Stadtteile hervorbrachte, bedurfte es ei- auch noch für eine weitere Ergänzung, denn es wird ner Erweiterung um zwei Ortsteile. Aus den „Zehn“ schon über einen weiteren Ortsteil in Troisdorf dis- wurden die „Zehn + Zwei“. Wie bereits erwähnt, kutiert. z symbolisierte die Arbeit auch den Mittelpunkt der Stadt, den der Geodät Dr. Jens Levenhagen einige hundert Meter entfernt im Industrie-Stadtpark auf 1 Prof. Dr. Frank Günter Zehnder, in Giovanni Vetere, Bilder und dem Gelände der damaligen Firma HT Troplast er- Skulpturen aus 20 Jahren, S. 24/27, Eitorf 1992

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 31 Yvonne Andres-Péruche Beethoven bonnensis

Die Jugendjahre Ludwig van Beethovens in seiner rheinischen Heimat

„Betroffen von Ehrfurcht und Größe staunte ich die Siebenberge an, und es schien mir, als hätte die Natur ihre allmächtige Hand ausgestreckt, um ihre Kräfte zu zeigen, und der von Bingen bis hierher fortlaufenden großen Gebirgskette auf einmal durch noch größere, gehäufte gigantische Gebirge, die sich hier wie gestemmte Wasserfluten aufeinander wälzen, Einhalt zu tun … auf einmal Bonn – ein wahrhaft prächtiger Anblick!“ Foto: Sachsse Foto:

Altes Zollgebäude am Rhein in Bonn. Gemälde von Abraham Storck, 1674. Ernst-Moritz-Arndt-Haus Bonn.

er Reiseschriftsteller Joseph Gregor Lang ist kölnische Residenzstadt Bonn frei. Die Gegend ist Dbeeindruckt, als er gegen Ende der 1780er heute noch lieblich, das Klima mild. Ein Land, wie Jahre mit dem Schiff den Rhein herunterfährt und aus dem Bilderbuch, in dem sich später der dreißig- nach gut 150 Kilometern schroffer Felsen und ho- jährige, in Wien schon arrivierte Komponist Lud- her Weinberge die letzte Rheinschleife passiert: Das wig van Beethoven sogar zur Erholung niederlassen enge Tal öffnet sich und gibt den Blick auf die kur- möchte.

32 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Franz Gerhard Wegeler, Bonner Mediziner und Beethovens Jugendfreund und Biograph. Foto von Heinrich Rose nach einem Gemälde von Johann Samuel Benedictus. Beethoven Ludwig van Beethoven um 1786. Silhouette von Joseph Neesen. Haus Bonn. Beethovenhaus Bonn.

„Du mietest mir irgend in einer schönen Ge- Cäcilia Fischers Erinnerung, von ihrem Bruder gend ein Haus auf dem Lande, und dann will ich Gottfried 1838 aufgeschrieben, verdanken wir die ein halbes Jahr ein Bauer werden“, schreibt er privaten Einblicke in das Leben der Bonner Musi- am 29. Juni 1800 an seinen langjährigen Bonner kerfamilie van Beethoven, die neben dem Versehen Freund, den Arzt Franz Gerhard Wegeler. Da sind des Hof- und Kirchendienstes auch eines tut: Die Bonn und das Rheinland seit acht Jahren bereits Feste feiern, wie sie fallen. Und das auf recht rhei- Erinnerung für Beethoven. Nie mehr wird er seine nische Art. Und rheinisch, das heißt immer: Mit Heimat wiedersehen, aber lebenslang die Bilder Musik und lustigen Sprüchen. Besonders das Fest der Menschen und des Landes im Herzen tragen. der Heiligen Cäcilia, der Patronin der Musik und Und seine Sprache, die rheinischen Laute im Ohr der Namenspatronin unserer Zeitzeugin Cäcilia Fi- behalten. scher, wird alljährlich von der Familie van Beetho- ven festlich begangen. „Der Spagnol“ nennen ihn die Nachbarn im Haus des Bäckermeisters Fischer in der Bonner Einer der Höhepunkte im Leben der Familie des Rheingasse, in dem die Beethovens zur Miete woh- Hoftenoristen Johann van Beethoven ist alljährlich nen. „Spanier“, weil er einen dunklen Teint besitzt. die Namentagsfeier der Mutter. Cäcilia Fischer, acht Überhaupt, seine Statur. Gedrungen, breit in den Jahre älter als der junge Ludwig, erinnert sich lebhaft Schultern, kurzer Hals, dicker Kopf und runde an das häusliche Fest, das unter dem würdigen Por- Nase, so beschreibt ihn Cäcilia Fischer, Tochter des trait des 1773 verstorbenen Großvaters begangen wird: Hausherrn und Spielkameradin der Beethoven- „Am Abend wurde Madame van Beethoven beizeiten Söhne Ludwig, Kaspar und Nikolaus. Sie beobachtet ins Bett geschickt, bis zehn Uhr wurde alles in aller ihn genau, wie folgendes Zitat beweist: „Wie Ludwig Stille vorbereitet. Dann wurde Madame van Beetho- van Beethoven was mehr angewachsen war, war er ven aufgeweckt, sie musste sich anziehen und wurde oft schmutzig, gleichgültig. Ich sagte zu ihm: Wie zu einem schön verzierten Sessel unter einem Balda- siehst du wieder so schmutzig aus, Du sollst Dich chin geführt. Nun fing eine herrliche Musik an, die proper halten. Da sagte er: Was liegt daran? Wenn erschallte in der ganzen Nachbarschaft. Alles, was sich ich mal ein Herr werde, dann wird mir das keiner zum Schlafe eingerichtet hatte, wurde wieder munter mehr ansehen.“ und heiter gemacht. Nach der Musik tischte man auf,

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 33 Foto: Repro

Ludwig van Beethovens Geburtshaus in Bonn, Gartenseite. Ludwig van Beethoven, der Ältere, der Großvater. Historisches Foto: Adolf Plesser Gemälde des Bonner Hofmalers Leopold Radoux. und es wurde gegessen und getrunken. Und wenn nun gefördert wird sie besonders von den beiden letzten die Köpfe was doll wurden und Lust zum Tanzen hat- Herrschern aus dem Hause der bayerischen Wittels- ten, zogen alle die Schuhe aus und tanzten auf Socken, bacher, Joseph Clemens und Clemens August. Als um im Haus nicht so einen Tumult zu machen.“ echte Barockfürsten sehen sie in der Musikentfal- tung einen selbstverständlichen Teil von Repräsen- Beethovens Mutter, von ihren Kindern heiß ge- tation und Pracht. Aber auch aus persönlicher Lieb- liebt, ist auf stille und rechtschaffene Art die gute haberei bemühen sie sich, ihre Hofmusik mit besten Seele des nicht immer unbeschwerten Familienle- Kräften zu besetzen und ihre Leistungen auf einen bens. Sie bietet ihren Söhnen und ihrem Mann Jo- hohen Stand zu bringen. hann Halt und Sicherheit, ist der ruhende Pol. Ma- ria Magdalena van Beethoven, geborene Keverich, Wirkungsstätten der Hofmusik sind die Kir- stammt aus der Koblenzer Ecke. Früh verwitwet, che, die Akademie und das Theater. Im sogenann- heiratet sie 1767 Johann van Beethoven, den lebens- ten Neuen Quartier des Bonner Stadtschlosses über frohen, aber eher labilen Sohn des angesehenen dem Michaelstor, heute Koblenzer Tor, liegt der Bonner Hofkapellmeisters Ludwig van Beethoven Akademiesaal, der abends durch zwölf Kronleuch- d. Ä. Maria Magdalena, ursprünglich wohlhabend, ter erhellt wird und besonders unter dem neuen muss im Laufe ihrer Ehe dem sozialen und finanzi- Kurfürsten Maximilian Friedrich als Konzertsaal ellen Abstieg ihres Mannes zusehen, den schon 1784 Verwendung findet. ein amtlicher Bericht als arm, trunksüchtig und stimmlich ungenügend abqualifiziert. Im März des Jahres 1733 wird Ludwig van Beet- hoven, der Großvater des Meisters, zum „Hofmu- Da ist Ludwig van Beethoven, im Dezember 1770 sicum gnädigst erklärt und aufgenommen, auch in Bonn geboren, vierzehn Jahre alt und schon ein ihm zum jährlichen Gehalt 400 Gulden rheinisch Jahr lang Mitglied der Bonner Hofkapelle als 2. Or- zugelegt.“ Und als beim Regierungswechsel nach ganist und Bratschist. Clemens Augusts Tod im April 1761 eine Kapell- meisterkrise eintritt, ernennt der neue Kurfürst Am Hofe der kölnischen Kurfürsten hat die Mu- Maximilian Friedrich Graf Königsegg-Rothenfels sik seit langem eine Vorzugsstellung. Gepflegt und „auf bitten unseres bassisten Ludwig van Beethoven,

34 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 denselben nunmehro ferner zu unseren Capellmeis- vor allem Komödien. Die Großmannsche Truppe tern mit beibehaltung seiner bassisten stelle und be- hat Lustspiele von Molière, Voltaire, Beaumar- neben seiner vorherigen bestallung.“ chais, Goldoni, Gozzi, Shakespeare und Lessing im Repertoire. Auch unter den musikalischen Stü- Von da an beherrscht Großvater Ludwig van cken nehmen opéra comique und opera buffa den Beethoven bis zu seinem Tod Weihnachten 1773 die Hauptraum ein. Auch hier sind die Bonner up to Hofmusik in Bonn. Es ist eine Position, die man mit date: Zeitgenossen wie Grétry, Salieri und Cimarosa der eines heutigen Generalmusikdirektors verglei- gelten als Renner. chen könnte. Andrea Lucchesi wird sein Nachfolger als Musikchef bis zur Flucht des Bonner Hofes vor Bei der Inthronisierung von Erzherzog Max den Revolutionstruppen 1794. Vorherrschend wer- Franz, Maria Theresias jüngstem Sohn, zum letzten den Werke italienischer Meister aufgeführt. Kölner Kurfürsten im Jahre 1784 erweist sich, dass dieser noch weit mehr der Musik ergeben ist als seine Mit der Verpflichtung der deutschen Theater- Vorgänger. Er behält nicht nur Neefe, ja macht ihn truppe von Friedrich Wilhelm und Karoline Groß- zu seinem eigenen Lehrer in der Harmonie, sondern mann nach Bonn macht sich aber allmählich auch er engagiert mit dem aus Böhmen stammenden Jo- in der Musik der deutsche Einfluss geltend. Als mu- seph Reicha einen tüchtigen Konzertmeister, der die sikalischer Berater Großmanns und Dirigent von Werke Haydns zum Vortrag bringt. Die neue Wiener Opern und Operetten wirkt der Sachse Christian Schule, der Max Franz selbst als Erzherzog in Wien Gottlob Neefe, selbst Komponist von Liedern und gehuldigt hat, wird so auch am Rhein heimisch. Singspielen. Das Bild dieses hochstehenden musikalischen Mi- Was den Spielplan angeht, bevorzugen die Bon- lieus wäre nicht vollständig ohne Berücksichtigung ner des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts der sich immer mehr ausbreitenden Hausmusik. Der Kurfürst selbst betreibt sie mit Angehörigen seines Hofes. Sie erreicht ein hohes Niveau in den Adelshö- fen und Bürgerhäusern, zu denen auch das Haus des Hofrates von Breuning gehört, das Ludwig van Beet- hovens zweites Zuhause in Bonn werden soll.

„Man wird sagen können, dass Bonn in jener Zeit für die Entwicklung eines musikalischen Ta- lents einen besonders günstigen Boden bot. Hier herrschte rheinische Musikalität, hier kannte man die lange Zeit führende italienische Schule ebenso wie die bahnbrechenden deutschen Neuerer aus dem Norden und Süden, von Bach bis zu Mozart.

Von frühen Tagen an hat der junge Ludwig van Beethoven all dies nicht nur passiv aufgenommen, sondern auch künstlerisch zu verarbeiten gesucht. Denn auch das spricht für das Bonner Milieu, dass man hier sehr früh die Genialität des Jüng- lings erkannt und ihm eine große Zukunft voraus- gesagt, zudem auch vieles getan hat, um ihm den Weg dahin zu ebnen.“ Umschreibt Max Braubach das kulturelle Umfeld, indem der junge Beethoven heranwächst.

Zur kurkölnischen Eigenart gehört der internati- onale Charakter. Niederländische, französische und Seit 1775 Wohnhaus der Beethovens in der Rheingasse italienische Kulturelemente vereinigen sich mit den in Bonn. Das Haus gehörte dem Bäckermeister Gottfried deutschen. Vor diesem Hintergrund lebt die Familie Fischer. Anonyme Zeichnung. Stadtarchiv Bonn. van Beethoven. Hier erhält Ludwig die ersten prä-

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 35 Foto: Sachsse Foto:

Das Residenzschloß in Bonn vor dem Schloßbrand von 1777. Mit Blick auf Poppelsdorf. Gemälde von Johann Franz Rousseau, um 1755. Supraporte. Ernst-Moritz-Arndt-Haus Bonn. genden Eindrücke und musikalischen Fertigkeiten.

Er wie auch sein Vater stehen ganz im Zusammen- Foto: frei hang mit dieser musikalischen Bonner Hofkultur.

Das Leben der bürgerlichen Familien ist in die- ser Zeit nicht gerade vom Wohlstand geprägt. Man kommt in der Regel so gerade rum, vorausgesetzt, niemand wird krank. Und dennoch gibt es immer Anlass zu Frohsinn und Geselligkeit. Vater Beetho- ven, der Hoftenorist Johann van Beethoven, schaut gar zu gerne tief ins Glas. Cäcilia Fischer schildert in ihren Erinnerungen die Geselligkeit der Musi- ker nach Dienst und die zarte, ein wenig beschämte Fürsorge der Beethoven-Söhne für ihren Vater: „Am Abend versammelten sich die Musikusse auf der Sto- ckenstraße in Nummer 2 beim Hoflakai Häuser. Der hatte eine Weinschenke, wo sich die Musiker amü- sierten und becherten. – Wenn ihr Papa durch Ge- legenheit in Gesellschaft, was nicht so oft geschah, ein wenig zu viel getrunken hatte, und seine Söhne vernahmen das, so waren sie alle drei gleich besorgt und suchten ihren Papa auf feinste Art, damit es kein Aufsehen gab, im Stillen nach Hause zu begleiten.“

Es ist viel Negatives über Beethovens Vater ge- schrieben worden, besonders, als ihm nach Maria Maximilian Friedrich, Graf von Königsegg-Rothenfels, Magdalenas frühem Tod 1787 das Familienruder Kurfürst von Köln, um 1768. Gemälde von Johann Heinrich vollends aus der Hand gleitet und er unter die Kura- Fischer, Schloss Augustusburg, Brühl.

36 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 tel seines ältesten Sohnes Ludwig gestellt wird. Un- Cäcilia Fischer, unsere unschätzbare Zeitzeugin, bestreitbar ist jedoch, dass Johann van Beethoven, beschreibt einmal die Christmette: „In der Weih- um 1740 in Bonn geboren, ein Künstler ist, der, im nachtszeit, da der Kurfürst in der Hofkapelle um Schatten eines überaus geachteten und erfolgrei- Mitternacht als Erzbischof von 11 bis 12 Uhr das chen Vaters stehend, einen ungleich dornigeren Be- Heilige Messopfer verrichtete, da mussten die Mu- rufsweg gehen muss. Viele Jahre wartet er auf eine siker und Hofsängerinnen auf dem Hofdoxal des bezahlte Stelle an der Hofoper in Bonn. Erst dem Fürsten ihre größte Kraft und Tätigkeit beweisen. sanften Druck des Vaters verdankt es Johann van In der Zeit war es oft sehr kalt, wenn die Feier ge- Beethoven schließlich, dass der Kurfürst auch für endigt hatte. Dann zog Herr Johann van Beethoven ihn die Schatulle öffnet. mit den Seinigen und Freunden, darunter der Hof- bäckermeister Asbach, nach Hause. Da wurden nach Johann liebt seine Familie, er gilt als fröhlich altem Brauch frische Würste gebraten und warmer und gesellig. Als Musiklehrer seines Sohnes ist er Wein und Punsch und Kaffee serviert. Dann wurde jedoch äußerst streng und unnachgiebig. Während gespeist und getrunken und auch noch den folgen- Kaspar später als Geiger auf den Musikerberuf vor- den Tag hindurch gefeiert.“ bereitet wird und Nikolaus, der Jüngste, als Lehrling in der Hofapotheke angemeldet wird, steht schon Von Beethovens Herkunft wissen wir, dass er vä- früh fest, dass Ludwig, das Älteste der Beethoven- terlicherseits flämische Wurzeln hatte, von Mutters kinder, das meiste musikalische Talent geerbt hat. Seite jedoch ein waschechter Rheinländer war. Er Sein erster Lehrer ist der Vater, der den Vierjährigen entstammte einer Musikerfamilie, die in vierter Ge- in die Kunst des Klavierspielens einführt. neration in Bonn beheimatet ist. Kurios ist, dass so- wohl Vater als auch Großvater van Beethoven Sänger „Dies hat einmal unser Oberbürgermeister Win- waren, der junge Ludwig jedoch von Anfang an als deck zu Bonn auch gesehen“, erinnert sich Cäcilia Instrumentalist ausgebildet wird. Eine sehr alltägli- Fischer, – „dass er den Ludwig am Klavier auf einem che, gut bürgerliche Familie also, die van Beethovens, Bänkchen stehend spielen sah, der aber helle Tränen ohne jedes Adelsprädikat. Nobilität erlangt Ludwig vergoß.“ van Beethoven allein auf dem Gebiet des Geistes.

Vater Beethoven ist nicht zimperlich. Zum täg- Fünfzehn ist er, als er das Klavier-Quartett Nr. 3 lichen Unterricht auf dem Klavier kommt sehr bald C-Dur schreibt. Da ist er schon zuweilen so unge- die Geige hinzu, später auch die Bratsche. Der kleine sellig, wie Cäcilia Fischer sich beklagt: „Man konnte Ludwig übt, liebt aber schon früh das freie Phanta- nachher nicht sagen, ob Ludwig van Beethoven viel sieren. Das bringt den Vater in Rage. Er besteht auf auf Kameraden und Gesellschaft hielt, nur gar, wie korrektem Notenspiel. er mal über Musik nachdenken, sich allein mit ihr beschäftigen musste, da nahm er eine ganz andere Ludwig spielte ohne Noten. Zufällig kam sein Haltung an. Er wurde zur Respektsperson. Da wa- Vater herein, sagt: „Was kratzt Du da wieder für ren es ihm die glücklichsten Stunden, wenn die El- dummes Zeug durcheinander? Du weißt, das ich das tern und all die Seinigen außer Haus waren, was aber nicht leiden kann.“ selten geschah. Dann konnte er im Stillen nachden- ken.“ Was ihn aber keineswegs hinderte, verwegene Und auf Ludwigs Frage: Ist denn das nicht Streiche auszuführen. schön? Antwortet Johann van Beethoven: „Mach geschwind Angriff auf die Noten. Wenn Du es mal Cäcilia Fischer: „Wenn Ludwig und Kaspar einen so weit gebracht hast, dann kannst Du und musst tückischen Bubenstreich machen konnten, konnten Du mit dem Kopf noch genug arbeiten. Aber damit sie beide herzlich darüber lachen und der Ludwig gib Dich jetzt nicht ab. Du bist noch nicht dafür da.“ nach seiner Gewohnheit einen krummen Katzenbu- ckel machen. Die Hauswirtin Fischer, meine Mut- Bonn ist Residenz eines geistlichen Fürsten. Und ter, hatte in jener Zeit Hühner. Da beklagte sie sich so steht naturgemäß die Kirchenmusik im Vorder- eines Tages, dass sie die Hühner gut füttere, auch grund. Auch Beethovens Großvater und sein Vater bisher prima Eier gehabt hätte und jetzt, plötzlich, tun als Sänger Dienst in der Hofkirche auf dem Do- nur noch ganz wenige. Alles im Haus musste sich xal, einem höher gelegenen Raum hinter dem Chor auf die Lauer legen. Nichts geschah. Bis auf einmal, in der Schlosskirche, wo die Musik für den Gottes- als sie nichtsahnend über den Hof ging, sah sie, wie dienst gemacht wird. sich Ludwig van Beethoven ins Hühnerhaus einge-

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 37 schlichen hatte. Sie rief: „Ha, Ludwig, was machst Du da?“ Ludwig sagte: „Mein Bruder Kaspar hat mir sein Sacktuch reingeworfen, da wollte ich es wieder herausholen.“ Meine Mutter antwortete: „Ja, ja, da mag es wohl sein, dass ich so wenig Eier bekomme. „Ludwig darauf: „Oh, Frau Fischer. Die Hühner ver- legen oft die Eier, und wenn Sie sie dann wiederfin- den, dann freuen Sie sich umso mehr. Es gibt auch Füchse, die holen die Eier.“ Da antwortete meine Mutter: „Ich glaube, Du bist auch so ein schlauer Fuchs. Was soll aus Dir noch mal werden?!“ „Oh, das weiß der Himmel“, antwortete Ludwig. „Für Sie bin ich bis dato ein Notenfuchs.“ „Ja, und ein Eierfuchs“, rief meine Mutter. Da rannten die beiden Schelmen fort und lachten.“

Das Beste, was Ludwig van Beethoven in Bonn künstlerisch widerfährt, ist die Bekanntschaft mit seinem wichtigsten Lehrer Christian Gottlob Neefe. Als er dem neuen Lehrmeister gegenübertritt, ist er etwa zehn bis elf Jahre alt. Er steht am Ende seiner Schulzeit und hat durch den Vater, die Lehrer van den Eeden und Pfeifer eine musikalische Ausbil- dung genossen, die er aus eigenem Antrieb bei den Stadtorganisten ergänzt. Der innere Drang löst in Christian Gottlob Neefe, der erste und bedeutendste Bon- ihm die ersten Regungen zu kreativer Tätigkeit. ner Lehrer Beethovens im Rahmen seiner professionellen Nachweislich ermuntert Neefe den jungen Ludwig Musikerausbildung. Unsigniertes Gemälde, 18. Jahrhundert. van Beethoven zur Komposition. Spätestens ab 1782 Beethovenhaus Bonn. beginnt er zu komponieren. Zu den schönsten Wer- ken dieser frühen Bonner Zeit gehören die drei Kla- viersonaten, „Kurfürstensonaten“ genannt, aus dem die Orgel. Und wie als Organisten verwendet der Jahre 1783, die drei Quartette für Klavier, Violine, Lehrer den Schüler als Cembalisten, sei es bei den Viola und Violoncello von 1785, das Es-Dur Klavier- Theaterproben zum Rollenstudium, sei es bei der Trio von 1791 und das Rondo Es-Dur für Bläser von Ausführung des Generalbass-Spiels im Orchester. 1792. Populär ist auch heute noch seine „Musik zu Ludwig lernt nord- und süddeutsche Klaviermusik, einem Ritterballett“. große und kleinere Vertreter der Sonate, Phantasie und Variation mit den verschiedensten Grundsät- Der alle Erlebnisse und Eindrücke in sich hin- zen und Richtungen kennen. Eine außergewöhnli- ein verarbeitende junge Beethoven benötigt jedoch che, im damaligen Musikunterricht seltene Erschei- nicht nur einen tüchtigen Vermittler musiktechni- nung ist Johann Sebastian Bachs Werk. Vor Ludwig scher Kenntnisse, sondern einen hilfreichen, gewis- offenbart sich hier eine vor den meisten zeitgenös- senhaften Führer und Mentor, der seine Gedanken- sischen Musikern bereits versunkene Wunderwelt gänge behutsam ordnet. Neefe verlangt von seinem von Präludien und Fugen durch alle Tonarten. Ein Schüler starkes Pflichtbewusstsein und unablässige Lehrer vom Range Neefes sieht mit den praktischen ernste Arbeit. Auch unterwirft er die Arbeit seines und theoretischen Unterrichtsstunden die Aufga- Schülers einer unerbittlichen Kritik. Beethoven ben jedoch nicht erschöpft. Die allgemeine geistige mahnt später in einem Brief an Wegeler zu „mehr Durchbildung eines jungen Künstlers erscheint ihm Vorsicht und Klugheit besonders in Rücksicht der unerlässlich. Produkte jüngerer Autoren“, und fügt hinzu: „man- cher kann dadurch abgeschreckt werden, der es viel- „Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, leicht weiter bringen würde.“ dass er reisen könnte. Er würde gewiss ein zwey- ter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so Neefes Unterricht erstreckt sich auf das Klavier- fortschritte, wie er angefangen“, urteilt Neefe 1783 spiel und im Anschluss hieran sicherlich auch auf in Cramers Magazin über seinen Schüler.

38 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Sachsse Foto:

Das Breuningsche Haus am Münsterplatz (heute: Kaufhof), zweites Zuhause des jugendlichen Ludwig van Beethoven. Aquarell von Frickel. Beethoven Haus Bonn.

Vier Jahre noch soll es dauern, bis für den sieb- Bekanntlich kommt es leider nicht zum regu- zehnjährigen Künstler der Weg bereitet ist nach lären Unterricht bei Mozart, weil der Aufenthalt Wien, der Musikstadt Europas. des Bonners unter einem Unstern steht. Kaum in der Kaiserstadt angelangt, erreicht ihn die Nach- Der Bonner Musikwissenschaftler Ludwig Schie- richt, dass seine Mutter auf den Tod liege. Schon dermair schreibt über die Offenheit des Bonner Ho- nach vierzehn Tagen muss Beethoven an den Rhein fes: „Der Kurfürst und einzelne Hofkreise waren in zurück. ihrer Kunstauffassung mit der Kaiserstadt innerlich verbunden, und auch Neefe stand ihr künstlerisch Der junge Beethoven trifft die Mutter zwar noch nicht fremd gegenüber. Haydns Kunst hatte in Bonn lebend an, aber einige Wochen später stirbt sie an empfängliche Herzen gefunden, der Kurfürst sah in Schwindsucht. Mozart einen großen Meister bereits zu einer Zeit, wo dessen Werke sich noch lange nicht die Welt er- Beethovens Entwicklung in Bonn ist ohne die obert hatten.“ Familie Breuning und den intellektuell regen Freun- deskreis rund um das Wirtshaus der Witwe Koch So wird der Plan ins Auge gefasst, den jungen „Im Zehrgarten“ am Bonner Markt nicht denkbar. Beethoven nach Wien und im Besonderen zu Mo- Denn außer den Bausteinen zum Musikerberuf zart zu schicken. Der Kurfürst genehmigt auf An- werden in diesen ersten beiden Bonner Lebensjahr- trag Neefes den Urlaub. Am Samstag, den 7. April zehnten auch die geistigen und moralischen Anla- 1787, dem Tag vor Ostern, fährt der siebzehnjährige gen ausgebildet und beeinflusst. Ludwig van Beethoven in Wien ein. Wien bietet ge- genüber der kurkölnischen Residenz, besonders, Und wenn wir bereits festgestellt haben, dass die seitdem diese unter dem Habsburger Maximilian kurkölnische Residenzstadt Bonn ein durchaus mo- Franz künstlerisch unter die Wiener Einfluss-Sphäre dernes und sehr reges Musik- und Theaterleben un- gelangt ist, kein völlig neues Bild, aber die Dimensio- terhält, so zeigt sich die Bonner Aristokratie und das nen und Mittel sind doch ganz andere als am Rhein. gebildete Bürgertum durchaus offen für die neuen

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 39 Vorstellungen in Philosophie, Literatur und Politik. In Beethovens Kreis gibt es – schon durch seine Kants Philosophie erregt in Bonn viel Aufsehen. Lehrer Christian Gottlob Neefe und Franz Ries oder den Musikverleger Nikolaus Simrock – starke Be- Die sehr rührige Freimaurerloge, die der junge ziehungen zu den Illuminaten. Von dem Weinhaus Hofrat von Spiegel als Meister vom Stuhl leitet, wird Koch ist mehrfach die Rede. Auch Crevelt, der Le- 1781 durch den Illuminatenorden in ihrer Bedeutung bensgefährte der Wirtin, der Witwe Koch, gehört abgelöst. In diesem Geheimbund sollen sich gleich- wie Neefe, Ries, Waldstein, Malchus, Klemmer und gesinnte Männer aus allen Schichten der Intelligenz viele andere aus dem Freundeskreis Beethovens der gegenseitig anregen und bilden, und mit ihren Ideen neugegründeten „Lese“ an. Sie alle bekennen sich zur die Gesellschaft durchdringen. Beethovens Lehrer Idee der Humanität, der Menschenverbrüderung. Neefe hat die stellvertretende Leitung des Bonner Il- luminatenordens inne. 1785 fliegt der Geheimorden Die Gemeinschaft in Witwe Kochs Weinhaus in Bayern als staatsgefährdend auf; in den anderen „Zehrgarten“ am Bonner Markt ist der Mittelpunkt Provinzen setzt man auf freiwilligen Verzicht. alles geistigen und geselligen Vergnügens in Bonn. Hier verkehren Herren der höheren Gesellschafts- Statt dessen gründen dreizehn Bonner Litera- kreise, Räte, Professoren, aber auch junge Künst- turfreunde zwei Jahre später eine Lesegesellschaft, ler. Der alle anziehende Magnet des Hauses ist die in der die meisten Illuminaten aufgehen. Sie wid- schöne Tochter Barbara, genannt Babette. Als Beet- met sich der Wiederherstellung der Wissenschaften, hovens Jugendfreund Wegeler in späten Jahren Aus- der Ausbreitung der Literatur, der Verfeinerung des kunft gibt über die Lieben des Meisters in Bonner Geschmacks, der Sitten und der Lebensart. Diese Zeiten, da taucht neben den Namen Fräulein Jean- „Lese- und Erholungsgesellschaft“, im Volksmund nette d’Honrath, Fräulein von Westerholt und Ele- „Die Lese“ genannt, existiert heute noch in Bonn onore von Breuning auch der von Babette Koch auf.

Das Bonner Münster im Bauzustand vor 1771. Links die 1812 abgebrochene romanische Martinskapelle. Ganz rechts die 1806 abgebrochene mittelalterliche Gangolphkirche. Lithographie von Aimé Henry um 1850 nach einer alten Handzeichnung vor 1771. Stadtarchiv Bonn.

40 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Der Bonner Markt. Guckkastenbild. Rousseaux pinxit. Nach 1777. Kupferstich von Bartholomäus Frederic Leizel. Stadtarchiv Bonn.

Wegeler: „Beethoven war nie ohne eine Liebe und

Foto: Frei Foto: meistens von ihr im hohen Grade ergriffen.“

Die außergewöhnlich schöne Babette Koch ist je- doch für Beethoven unerreichbar.

Beethoven schreibt später in den ersten Wiener Monaten an Babette Koch, erhält aber nie eine Ant- wort. Babette Koch, die von allen Zeitgenossen ihrer edlen Haltung und Grazie wegen als Dame beschrie- ben wird, wird später die zweite Gräfin Belderbusch.

Babette Koch ist die Freundin von Eleonore von Breuning, genannt Lorchen. Lorchen, die spä- tere Gattin von Beethovens Freund Franz Gerhard Wegeler, zieht den jugendlichen Hoforganisten Beethoven in das gastfreie Haus des kurfürstlichen Hofrates Emanuel von Breuning, der 1777 bei dem verheerenden Bonner Schlossbrand ums Leben Barbara Koch, genannt Babette, spätere Gräfin Belderbusch. kommt. Seine erst siebenundzwanzigjährige Witwe Anonymes Gemälde, Ende 18. Jahrhundert. Das Original- Helene von Breuning zieht sich nach dem Tode des Gemälde hing vor der Vernichtung im Zweiten Weltkrieg auf Gatten nicht in ein Trauerhaus zurück. Sie hat her- Burg Heimerzheim. Beethoven Haus Bonn. anwachsende Kinder und in ihrem Haus am Müns-

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 41 terplatz entfaltet sich Leben, das auf den Ton rhei- Helene von Breuning nimmt Beethoven als nischer Fröhlichkeit gestimmt ist und geistigen und Freund ihrer Kinder mit in die Ferien auf das Gut künstlerischen Interessen dient. des Onkels in Kerpen. Im Breuningschen Haus trifft Beethoven auch den wohl nach Neefe wichtigsten Das Haus der Breunings wird Beethovens zwei- Förderer seiner Jugendjahre: den Grafen Ferdinand tes Zuhause, als er zum Klavierlehrer der Kinder Ernst von Waldstein und Wartenberg zu Dux. Wald- Eleonore und Lorenz berufen wird. Sie sind seine stein, ein künstlerisch hochbegabter junger Mann, Altersgenossen. Im Laufe der Jahre wird daraus selbst Pianist und Komponist, entstammt einem Freundschaft. Beethoven bessert sein schmales Ge- hocharistokratischen Geschlecht, in dem sich das halt bei Hofe durch Unterrichtgeben auf. Blut erster Familien der Monarchie vermischt hat. Als vierter Sohn denkt er an eine Laufbahn im Deut- Bei Breunings herrscht geselliges Leben, hier schen Ritterorden. Da Kurfürst Maximilian Franz verkehren die Bonner Hofkreise ebenso wie das ge- die Großmeisterwürde des Ordens bekleidet, ist es bildete Bürgertum. Man macht viel Hausmusik. In begreiflich, dass er zu diesem in ein nahes Verhältnis diesem frohen Haus ist der heranwachsende Beet- tritt. Seit Ende Januar 1788 ist Waldstein in Bonn. hoven glücklich, kann der Misere im eigenen Vater- haus wenigstens für Stunden entfliehen. Denn man Waldstein wird dafür sorgen, dass Beethoven darf nicht vergessen, dass seit dem Tod der Mutter vom Kurfürsten erneut Urlaub für Wien bekommt, im Jahre 1787 die Last des Wirtschaftens und der diesmal für immer. Er schafft dem Neuankömmling Erziehung der Brüder ganz auf seinen Schultern in der Kaiserstadt die nötigen Verbindungen in die ruht, da der Vater vom Kurfürsten regelrecht ent- Adelshäuser, in denen buchstäblich die Musik spielt. mündigt worden ist. Auch in Bonn fördert Waldstein Beethoven schon als Komponisten; nicht zuletzt das zauberhafte „Rit- „Beethoven wurde bald als Kind des Hauses terballett“, das Waldstein angeblich bei der Auffüh- (Breuning) behandelt; er brachte nicht nur den rung als eigenes Werk ausgegeben haben soll, be- größten Teil des Tages, sondern selbst manche stellt der Graf als Auftragskomposition. Nacht dort zu. Hier fühlte er sich frei, hier bewegte er sich mit Leichtigkeit,“ bemerkt Wegeler in seinen Die Begegnung mit Joseph Haydn am Weih- Erinnerungen. nachtstag 1790 in Bonn mag Beethoven in dem Ge- Foto: Sachsse Foto:

Redoute Godesberg: Theater mit Redoutensaal, Kupferstich von Lorenz Janscha 1792. Privatbesitz und Städtisches Kunst­ museum Bonn.

42 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 fühl bestärken, dass die rheinische Heimat zu eng werden aufgepackt. Darunter das von den Freunden wird. Haydn ist auf der Durchreise nach London, geschenkte Stammbuch. In diesem Stammbuch wohin ihn der aus Bonn stammende Geiger und finden wir die denkwürdigen Abschiedszeilen des Musikagent Johann Peter Salomon eingeladen hat. Grafen Waldstein an Beethoven: Kurfürst Max Franz begrüßt den alten Wiener Be- kannten begeistert am Rhein. „Lieber Beethoven!

Für die Bonner Freunde ist die Zeit nun reif, Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so Beethoven nach Wien zu schicken. Christoph von lange bestrittenen Wünsche. Mozarts Genius trau- Breuning und Graf Waldstein drängen, Kurfürst ert noch und beweinet den Tod seines Zöglings. Bey Maximilian Franz bewilligt 1792 Beethovens erneu- dem unerschöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber ten Urlaub an die Donau. Großzügig wird er ihm bis keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch zum Ende des Kurstaates, 1794, sein Bonner Gehalt einmal mit jemandem vereinigt zu werden. Durch nach Wien überweisen. ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen. 1793 wird Joseph Haydn Beethovens Lehrmeis- ter in Wien. Am 2. oder spätestens am 3. November Bonn, den 29. Oktober 1792 1792 besteigt Ludwig van Beethoven den Postwa- gen, seine Habseligkeiten, Noten- und Skizzenhefte Ihr wahrer Freund Waldstein“ z

Schattenriss von Ferdinand Ernst Joseph Gabriel Graf von Waldstein und Wartenberg. Förderer des jungen Ludwig van Beethoven in Bonn. Der Schattenriss wird Babette Koch zugeordnet. Er befindet sich in Ludwig van Beethovens Stammbuch.

Faksimile der berühmten Abschiedszeilen bei Beethovens Wegzug aus Bonn am 29. Ok­tober 1792 zum Studium bei Joseph Haydn in Wien: „ … Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen.“ Aus: „Die Stammbücher Beethovens und der Babette Koch“, Max Braubach. Neuauflage Beethoven Haus Bonn 1995.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 43 Stefanie Lieb, Hartmut Junker (Fotos)

St. Adelheid in Foto: © Hartmut Junker Troisdorf-Müllekoven

Ein typischer Kirchenbau der frühen 1960er Jahre von Gottfried Böhm

Abb. 1: Troisdorf-Müllekoven, St. Adelheid, Ansicht von Südwesten

44 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: © Hartmut Junker Abb. 2: Ansicht von Westen

ie katholische Filialkirche St. Adelheid in Über dem flachen kubischen Baukörper erhebt DTroisdorf-Müllekoven, die nach dem Ent- sich einmal der integrierte zylindrische Kirchturm im wurf des international berühmten Architekten Süden, sowie im Norden das Prismendach des Chor- Gottfried Böhm (* 1920) von 1962 bis 1964 er- turmes über der halbrunden Chorapsis (Abb. 1). Auch richtet wurde,1 ist ein kubischer Backsteinbau die dreiviertelkreisförmige Taufkapelle an der Süd- mit Flachdach und sich darüber erhebenden drei ostseite ist mit einem verglasten Zylinder und einem Türmen, der in dem damaligen Neubaugebiet von Kegeldach nach außen markiert. An der Westseite Müllekoven freistehend auf einem Eckgrundstück der Kirche sind zwei kleine überdachte Apsiden für seinen Platz fand. Mit ihrem kleinen Vorhof als Beichtnischen im Inneren angebracht (Abb. 2). So hat Paradies auf der Südseite, der von Backsteinmau- Gottfried Böhm bei diesem Sakral­bau die liturgischen ern eingefasst wird und einen Brunnen mit der Orte wie Altar, Taufe, und Beichte am Außenbau klar Patronatsheiligen Adelheid aufweist, lässt sich kenntlich gemacht – ein symbolisches Schema, das die Kirche in den Typus des „sakralen Hofhauses“ er immer wieder bei seinen Kirchen zum Einsatz einordnen. Diesen Typus entwickelte Gottfried brachte, als Vergleich seien hier nur genannt St. Ma- Böhm bereits in den 1950er Jahren für seine Kir- ria Königin in Düsseldorf-Lichtenbroich (1955 – 59),3 chenbauten – teilweise abgeleitet von orientali- die Herz Jesu-Kirche in Bergisch Gladbach-Schildgen scher Architektur wie der Moschee oder Karawan- (1957 – 60) 4 oder St. Josef in Kierspe (1959 – 61).5 serei.2 Das Kirchengebäude ist dabei nach außen durch Wände und Mauern geschlossen und öffnet 1 Vgl. auch Heinrich Brodeßer: Die Filialkirche St. Adelheid zu Mül- sich innerhalb dieser in einen geschützten sakra- lekoven. In: Troisdorfer Jahreshefte XXXIII, 2003, S. 3 – 10 sowie Hartmut Junker, Stefanie Lieb: Die Sakralbauten der Architekten- len Bereich. Gleichzeitig ist der Vorhof oder Vor- familie Böhm. Regensburg 2019, S. 406 – 409. platz (als „Atrium“ oder „Paradies“ bezeichnet) 2 Vgl. Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 279; Manfred Speidel: Gott- der Zwischenraum zwischen profaner Außenwelt fried Böhms Kirchen. Eine typologische Studie. In: Wolfgang Voigt (Hrsg.). Gottfried Böhm. Berlin 2006, S. 81 – 125, hier S. 108 – 113. und dem heiligen Raum der Kirche, in dem man 3 Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 304 – 305. sich „läutern“ und reinigen (Brunnen) kann, bevor 4 Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 280 – 283. man den Gottesdienstraum betritt. 5 Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 294 – 297.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 45 Abb. 3: Inneres von Südosten Foto: © Hartmut Junker

Typisch ist weiterhin die Konzeption des Tauf­ aber auch für die christliche Liebe und das Leiden ortes als eigenständige, zumeist verglaste Kapelle, Christi sowie der Menschheit im Besonderen. Für in deren Mittelpunkt das Taufbecken steht. Reprä- die Taufkapelle in Troisdorf als Ort des Lebens und sentative Beispiele dafür sind St. Joseph in Greven- der Auferstehung wählte Gottfried Böhm die spezi- broich (1957 – 59),6 St. Christophorus in Oldenburg elle Form der Wasserrose. In der Südwand der Kir- (1958 – 61)7 oder St. Gregorius im niederländischen che finden sich über dem Eingang und seitlich vom Brunssum (1961 – 63).8 Bei St. Adelheid in Trois- Turm zwei Rosenfenster mit rot leuchtenden Rosen- dorf-Müllekoven ist die Taufkapelle als zylindri- blüten (Abb. 6). scher Zentralbau in Backstein ausgebildet, in deren Wände große farbige Glasfenster eingelassen sind Im Inneren ist der Gemeinderaum schlicht als (Abb. 5). Die Fenster nach dem Entwurf des Ar- Kasten mit Backsteinwänden und flacher Decke chitekten Gottfried Böhm zeigen weiße und gelbe Seerosen-Motive auf blau-weißem Hintergrund, der das Wasser darstellt. Die Rose ist im Werk 6 Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 284 – 287. Gottfried Böhms ein häufig auftretendes Motiv: Sie 7 Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 289 – 293. steht für die Liebe und Schönheit schlechthin, dann 8 Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 336 – 339. Foto: © Hartmut Junker

Abb. 4: Blick in den Altarraum von Süden

46 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Abb. 5: Blick in die Taufkapelle mit den Seerosen- Fenstern Foto: © Hartmut Junker

ausgeführt, während der Altarraum eine eigene In- stein, in die dann eine Rahmenkonstruktion aus nenarchitektur mit einem zusätzlichen kastenför- weißem Stahlbeton mit Faltwerkgewölbe eingestellt migen Einbau erhalten hat (Abb. 3). Hier sind die ist, der Altarraum ist zusätzlich mit einem weißen Betonwände weiß gefasst und bilden in der Nord- Betonbaldachin überwölbt und durch die verglaste front die halbrunde Apsis aus. Nach oben ist der Chorwand beleuchtet.9 In St. Adelheid in Troisdorf Altarraum zum Dachturm geöffnet, der über seine erfolgt die Betonung des Altarortes durch den Ein- durchfensterte Südseite das Tageslicht einfallen lässt bau der gestelzten halbrunden Chorapsis mit weiß (Abb. 4). Diese Kombination der zweiteiligen In- verputzten Betonwänden, die durch das Oberlicht in nenraumgestaltung mit äußerer Backsteinhülle und der südlichen Front des Chorturmes viel indirektes eingestelltem weißen Betoneinbau wandte Gott- Licht erhält. Die Decke von St. Adelheid ist als weiße fried Böhm häufiger in dieser Zeit an. Zum einen hölzerne Flachdecke ausgebildet, die im Kontrast zu als kontrastreiches Gestaltungsmittel mit den zwei den rötlichen glasierten Terrakottafliesen des Fuß- Materialien roter Backstein und weißer Beton, zum bodens steht. anderen aber auch, um den besonderen Ort der Al- tarstellung als Zentrum der Eucharistiefeier mit ei- Der Altarraum wurde inklusive seiner Aus- ner Farb- und Lichtinszenierung zu betonen. Bei der stattung 1990 vom Kölner Bildhauer Sepp Hürten Kirche St. Gregorius im niederländischen Brunssum (1928 – 2018) neu gestaltet.10 Hürten schuf den beispielsweise besteht die äußere Hülle aus Back- schlichten Blockaltar und das Ambo aus hellem Marmor sowie das Tabernakel aus Trachyt. Der Altar weist ein Rundstabprofil mit Blattranken auf; 9 Junker, Lieb 2019 (wie Anm. 1), S. 336, 339. das vor der Chorwand stehende Tabernakel zeigt 10 Vgl. Brodeßer 2003 (wie Anm. 1), S. 4 – 7. die Form einer stilisierten Getreideähre, die in ihrer

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 47 Abb. 6: Blick auf den Neben­ eingang im Südwesten mit Rosenfenster Foto: © Hartmut Junker

Mitte die Bronzetür des Tabernakelschrankes mit Kirchbau- und Kirchenraum-Verständnis Gott- der Darstellung des Himmlischen Jerusalem und fried Böhms in den frühen 1960er Jahren, bei dem des Lamm Gottes aufnimmt. Das ältere ursprüng- er den Typus des sakralen Hofhauses mit klaren liche Tabernakel fand seinen neuen Platz in der geschlossenen Raumformen, der architektonischen Tauf­kapelle. Das über dem Altar hängende barocke Markierung sakramentaler Orte und der Kombi- Kruzifix von 1596 hat Gottfried Böhm aus der Schweiz nation von Backstein- und Betonflächen perfekt für die Kirche St. Adelheid erwerben können,11 es ausgebildet hatte. Hinzu kommt die vom Archi- wurde von Sepp Hürten im Zuge der Altarraum­ tekten konzeptionierte Lichtinszenierung, die den neugestaltung 1990 neu gefasst und über dem Altar Altarbereich in hellem Weiß erstrahlen lässt und frei schwebend angeordnet.12 Das Taufbecken als die Taufkapelle sowie den Eingangsbereich mithilfe Zentrum der Taufkapelle, das wohl der ursprüng­ der farbigen Rosenfenster in bläuliches bzw. rötli- lichen Ausstattungskonzeption der Kirche zuzurech- ches Licht taucht. Gottfried Böhm, der im Januar nen ist, ist als massives Rundbecken aus Marmor aus- 2020 seinen 100. Geburtstag feiern konnte, hat hier gebildet mit einem floral gestalteten Bronzedeckel, einen modernen Kirchenbau in der funktionalen bekrönt durch eine „Amethystknospe“.13 Die vier- Formensprache der 1960er Jahre geschaffen, der zehn figürlichen Kreuzwegstationen aus Bronze sind bis heute das Mysterium des Sakralen zu vermitteln eine Arbeit des Künstlers Manfred Saul aus Hennef vermag. z und wurden erst wesentlich später an den Seiten­ wänden der Kirche angebracht.

11 Brodeßer 2003 (wie Anm. 1), S. 4. Insgesamt ist die Kirche St. Adelheid in Trois- 12 Brodeßer 2003 (wie Anm. 1), S. 6. dorf-Müllekoven ein bedeutendes Beispiel für das 13 Brodeßer 2003 (wie Anm. 1), S. 6 – 7.

48 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Mirjam Wingender Ein Vierteljahrhundert Kreativwerkstatt Troisdorf

Die KreativWerkstatt ist eine Schule für Kunst und Kreativität und bietet seit 1995 Erwachsenen und Kindern Kurse an, die es jedem Interessierten ermöglichen, einen individuellen Zugang zur künstlerischen Arbeit zu finden.

eben dem umfangreichen Kursprogramm aus Wie alles begann NMalerei, Druck, Kalligrafie, Theater, Kunstge- schichte und plastischem Gestalten organisiert die Gegründet wurde die KreativWerkstatt am 6. März KreativWerkstatt Workshops, Exkursionen und 1995 unter anderem von Tor Michael Sönksen, der Veranstaltungen wie z. B. die Sommerkunstschule bis heute künstlerischer Leiter der KW ist. Die Idee mit Kindern. war, Kunstschaffende und kunstinteressierte Bürger in einem Verein zusammen zu führen. Tor Michael Die Kursleiter sind professionell ausgebildete Sönksen, schon einige Jahre Leiter der Sommer- Künstler und verfügen über eine langjährige Berufs- kunstschule, wurde von Peter Haas, Till Friedrichs praxis. Als erfahrene Dozenten geben sie Anfän- und Jürgen Busch angesprochen, ob er sich neben gern Anleitung, in den kreativen Schaffensprozess der Volkshochschule eine Alternative für Kinder zu finden. Sie begleiten Fortgeschrittene dabei, ihre und Erwachsene vorstellen könne, zeichnen und Wahrnehmungsfähigkeit zu vertiefen, diese in ei- malen zu lernen. nem sachgerechten Umgang mit dem Material um- zusetzen und den persönlichen Gestaltungsprozess Der damalige Leiter des Bürgerhauses, Till zu erkennen. Friedrichs, war von der Idee, einen Kunstverein zu

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 49 Foto: Michael Sönksen Michael Foto: Foto: Mirjam Wingender Foto: Mirjam Wingender

Einzug der KW – wie alles begann Farbe macht gute Laune Kinderkurs Malerei gründen, begeistert. In kürzester Zeit fanden sich und Alternative zum „normalen Kunstunterricht“ etwa 40 Künstler, Galeristen, Politiker und weitere an Schulen anbieten. Selbstverwirklichung, Frei- Interessierte zur ersten Vereinssitzung im Schach- räume für kreative, individuelle Entwicklung und raum des Bürgerhauses zusammen. viel Spaß an der Freude hatte man sich auf die Fahne geschrieben. Rainer Uerdingen, Architekt aus Troisdorf (u. a. plante er den Umbau der Remise Burg Wissem), Ab 1995 gab es erste, teils noch etwas unstruk- wurde erster Vorsitzender. Die Stadt Troisdorf un- turierte Kursangebote in der Findungsphase. terstützte die KreativWerkstatt finanziell und die Nach und nach nahmen einige Kurse Gestalt an. Stadtverwaltung stellte Räume im Neubau der Burg Es gab Zeichen- und Malkurse mit wachsenden zur Verfügung. Teilnehmerzahlen.

Anfangs war die KW ein kunterbunter Haufen Zu den Dozenten der frühen Stunde von politisch alternativ eingestellter Dozenten, die selbst 1995 – 2000 zählten Tor Michael Sönksen, Dorothée aktive Künstler waren. Kunstvermittlung wollte Hahne, Stefan Everling, Masoud Sadedin, Rolf Mal- man auf neuen Wegen versuchen und als Ergänzung lat, Annette Küpper, Jutta Gießen, Milly Wielpütz, Foto: Mirjam Wingender Foto: Mirjam Wingender

Sommerkunstschule – Wandgemälde Die Künstler der Sommerkunstschule vor dem fertigen Wandgemälde

50 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Mirjam Wingender Foto: Mirjam Wingender Foto: Mirjam Wingender

Collagekurse Malereikurs für Jugendliche Linoldruck in der Sommerkunstschule

Stefan Scheurer und andere. Das Kursprogramm gen und unterstützen die Kursteilnehmer mit Rat expandierte nun in viele kreative Richtungen. Ne- und Tat in der eigenen kreativen Entwicklung. ben Zeichnen, Malerei, Druck, Musik, Theater und dem plastischen Gestalten kamen nach und nach Seit 1995 ist die KreativWerkstatt Troisdorf mit Kalligrafie, Töpfern, Kunstgeschichte, Fotografie, ihren zahlreichen Entfaltungsmöglichkeiten ein Collage, Comic- und Mangazeichnen hinzu. nicht mehr weg zu denkender Bestandteil des kultu- rellen Lebens der Stadt. In 25 Jahren seit der Grün- Ab 2000 erweiterten folgende KünstlerInnen dung wurden tausende Menschen in Kursen, Work- den Dozentenstamm: Frank Baquet, Nicola Denu- shops und Ausstellungen kreativ begleitet. ell, Kazem Heydari, Claudia Holzapfel, Jette Jertz, Christoph Liesendahl, Vivian Mittag, Jiri Necas, Der Standort an der Burg Wissem in unmittel- Lisa Rau, Luise Rosen-Lohn, Eva Savvoulidou, barer Nachbarschaft zum Bilderbuchmuseum der Adele Wischner und Mirjam Wingender. Stadt Troisdorf war bewusst gewählt und gab immer wieder gegenseitige Impulse. Lediglich während Sie alle gaben und geben Anfängern und Fortge- der umfangreichen Umbauarbeiten des ehemaligen schrittenen jeglichen Alters konstruktive Anleitun- Verwaltungsgebäudes zur Einrichtung des Muse-

Foto: Mirjam Wingender Die Kinder der Sommerkunstschule bedanken sich herzlich

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 51 Foto: Frank Baquet Foto: Nicola Denuell Nicola Foto: Foto: Claudia Holzapfel Claudia Foto:

Kalligrafiekurs für Erwachsene Rakubrand-Keramik Fotografiekurse ums für Stadt- und Industriegeschichte Troisdorf Die Sommerkunstschule ist mittlerweile zu (MUSIT) erfolgte Mitte 2009 ein Umzug in das Rat- einer stark frequentierten und sehr beliebten Ins- haus. Nach Abschluss der Baumaßnahmen 2012 ist titution geworden, mit jährlich über 120 teil- die Kreativwerkstatt wieder mit zwei Ateliers zen­ nehmenden Kindern und Jugendlichen ist sie tral an der Burg Wissem im MUSIT über dem Stan- schon im Frühjahr jeden Jahres regelmäßig aus- desamt untergebracht. gebucht.

Seit 25 Jahren gab und gibt es zahlreiche Teil- Zahlreiche Aktivitäten nehmerausstellungen der KreativWerkstatt im öffentlichen Raum der Stadt Troisdorf. So wur- Die Aktivitäten der KreativWerkstatt sind bei weitem den und werden unzählige Bilder von zahl- nicht auf die Kunstvermittlung begrenzt. Im Laufe reichen Kursteilnehmern jeglichen Alters bei- der Jahre wurden viele Plakat- und Fahnenaktionen spielsweise im Rathaus, bei den Stadtwerken, „gegen Gewalt“ durchgeführt. Es gab die „Wald­ in der Stadtbibliothek, in der Musikschule, im detektive“, das längste Bilderbuch der Welt, Ferien- Fischereimuseum und in der Asklepios-Klinik programme zu Ostern, im Sommer und im Herbst. St. Augustin gezeigt. Die Werke jugendlicher Foto: Mirjam Wingender Foto: Mirjam Wingender Foto: Mirjam Wingender

Erfahrungsfeld der Sinne

52 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Mirjam Wingender Foto: Claudia Holzapfel Claudia Foto: MirjamFoto: Wingender

Kunstwerk aus Pappmaché Keramik Sommerkunstschule-Theater-Workshop

Kalligrafinnen wanderten sogar in Troisdorfs Ehrenamtliche Vereinsarbeit chinesische Partnerstadt Nantong. Gemeinsam mit Vereinsmitgliedern, Schülern und Dozenten Ohne Engagement, Idealismus und der Hilfe von finden außerdem Museumsbesuche und Führun- vielen fleißigen, ehrenamtlichen Bienchen wäre der gen statt. Erfolg und die Arbeit der aktiven DozentInnen nie- mals denkbar gewesen. Die KreativWerkstatt organisiert zusammen mit der Stadt Troisdorf seit 2002 jährlich am Pressearbeit, Planung, Organisation, Internet- 3. Adventswochenende den besonders schönen pflege, Öffentlichkeitsarbeit, etc. sind nur durch Weihnachtsmarkt in der Remise Burg Wissem beständige ehrenamtliche Arbeit im „Hintergrund“ und im Burghof. ermöglicht worden.

Außerdem gehört auch das Erfahrungsfeld Für die vielen Arbeitsstunden, die in Begeiste- der Sinne rund um den Burgpark seit 2009 mit rung für die Sache geleistet worden sind, den vielen seinen Führungen zu den Projekten der Kreativ- HelferInnen ein großes Dankeschön! z Werkstatt. Foto: Nicola Denuell Nicola Foto: Foto : Nicola Denuell

Verkaufsstand der KreativWerkstatt auf dem Troisdorfer Weihnachtsmarkt an der Burg Wissem

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 53 Die KreativWerkstatt im Echo der Presse

Kölnische Rundschau vom 25. August 2005

Kölner Stadt-Anzeiger vom 4. Oktober 2004

54 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Horst Bursch Kulturgeschichtliche Anhaltspunkte für eine ehemalige Leproserie in Bergheim an der Sieg

„Er viel in ein smaehelichez leit: in ergreif diu miselsuht“ = „Er fiel in ein schmerzhaftes Leiden: ihn ergriff die Lepra“

(Hartmann von Aue, um 1160 bis nach 1210: „Der arme Heinrich“, Verse 116 ff.).

Spannende Tatsachen, aufregende Vermutungen und neue Erkenntnisse

s mag überraschend klingen: Im Troisdorfer Ortsteil EBergheim gab es möglicherweise einmal eine Einrich- tung für an Lepra Erkrankte. In historischen Schriftstücken werden diese Menschen als „Siechen“, „Aussätzige“, „Lep- rosen (Leprösen)“, „gute Leute“ (im Französischen „les bons malades“, „les chers pauvres de Dieu“, „les malades de Dieu“, „les bonnes gens“; in den anderen romanischen Sprachen finden sich analoge Bezeichnungen) und „Melaten / Malaten“ (vgl. französisch „malade“ = krank) bezeichnet. Gelegentlich findet man für einen Leprakranken in alter Zeit auch Namen wie „Maletz / Maletsch“, „Klappermann“ oder „Schellenmann“. Mehrere sich ergänzende und stützende Anhaltspunkte orts- und medizingeschichtlicher, sprachwissenschaftlich-philologischer sowie allgemein kul- turhistorischer Art weisen verhältnismäßig deutlich in die hier angepeilte Richtung, die in der vorliegenden Studie eingeschlagen und minutiös verfolgt werden soll. Denn viele Spuren deuten auf die Existenz eines Bergheimer Sie- chenhauses (auch „Melatenkotten“, „Malatzhaus“, „Leproso- rium / Leproserie“, „Kinderhaus“, „Makelhaus“, „Gutleutehaus“, „Bla(e)tes“, „Lazarus-Haus“ u. ä. genannt) in früheren Jahrhun- derten. Das dem deutschen Wort „Siechenhaus“ ähnelnde nie- derländische Nomen „ziekenhuis“ bedeutet im modernen appel- lativen Wortschatz ganz allgemein ‚Krankenhaus‘, während die

Das „Abgestorbenenkreuz“ aus dem Jahr 1686 in Bergheim. Das christliche Denkmal erinnert wahrscheinlich an Leprakranke,

die in der Nähe einst bestattet wurden. Foto: HB, 2019

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 55 So ähnlich wie das frühere Siechenhaus in Köln-Riehl könnte evtl. auch die Bergheimer Leproserie ausgesehen haben. Die Zeichnung stammt aus dem 17. Jahrhundert. H. Klövekorn, S. 56 Abb. aus G.

Unterkunft für Leprakranke in historischen Schrift- ten. – Der Verfasser dieses Beitrags beschäftigt sich stücken unserer Nachbarsprache beispielsweise als bereits seit geraumer Zeit mit dem Themenbereich „melatschhuis“ dokumentiert ist. Der medizinische „Aussatz / Leproserien im Rheinland“, wobei seine Fachterminus „Lepra“ leitet sich von dem griechi- engere Heimat, das Vorgebirge zwischen Bonn und schen Adjektiv „leprós“ (schuppig, schorfig, mit Brühl, sowie angrenzende Gebiete den diesbezüg- Hautausschlag versehen) ab. lichen geografischen Rahmen bzw. Schwerpunkt bilden.1 Entsprechende Nachforschungen, mitunter Kein historisches Schriftstück nennt sie und auch Zufallsfunde, führen immer wieder zu neuen auf keiner einzigen Karte ist sie verzeichnet. Gab Erkenntnissen, die sich mosaikartig zu einem klar es dennoch einmal eine Leproserie in Bergheim an erkennbaren Gesamtbild fügen. Aus diesem Grund der Sieg? Der Nachweis einer solchen frühen Sozi- bedarf es im Hinblick auf die Existenz des hier aleinrichtung würde mit Blick auf die reichhaltige wahrscheinlich zu machenden „Leprosorium Berg- Geschichte des Dorfes selbst sowie diejenige der heimiensis“ eines an Einzelheiten reich bestückten Stadt Troisdorf und ihres Umlandes eine kleine Sen- Panoramas, innerhalb dessen Grenzen die in dieser sation bedeuten. Ein endgültiger Beweis ist bisher Skizze vorgenommene Verortung hoffentlich einen nicht möglich; gleichwohl kann eine Indizienkette Zuwachs an Plausibilität gewinnt. Eine auf mehrere geschmiedet werden, deren Glieder einer Zerreiß- Länder Europas ausgerichtete geschichtliche Per- probe durchaus einen erheblichen Widerstand leis- spektive ist für das Gesamtverständnis inhaltlich und methodisch unerlässlich.

1 H. Bursch, „Ein Leprafall und seine Folgen. Über einen spätmittel- Hinweise vor Ort und erste Zusammenhänge: alterlichen Investiturstreit in Brenig“, in: Jahrbuch des Rhein-Sieg- Kreises 1988, S. 133 – 136; ders., „Das Siechenhaus bei Rodenkir- Überlegungen zum „Abgestorbenenkreuz“ chen“, in: Rodenkirchen. Kölner Bilderbogen, Nr. 393, Dezember 1991, S. 11 – 13; ders., „Im Reigen der rheinischen Leproserien: Das ehemalige Siechenhaus in der gereonischen Hoheit zu Swist“, in: An mehreren Stellen unserer Darlegungen bedarf Weilerswister Heimatblätter 31, 2004, S. 24 – 30; ders., „Ein Haus für es, wie gesagt, eines weiten kulturgeschichtlichen die Todgeweihten. In der Nähe des Heerweges bei Waldorf stand im Mittelalter eine Unterkunft für Leprakranke“, in: General-Anzeiger Rundumblicks, damit die oben angesprochenen (Bonn), 18. / 19. September 2010, S. 20; ders., „Lepra, Aussätzige Indizien einem Beweis soweit wie möglich angenä- und Siechenhäuser im Vorgebirge (Alfter und Bornheim)“, in: K. hert werden können. In seiner 1896 veröffentlichten Roessler (Hrsg.), Unser Vorgebirge. Lyrische Landschaft zwischen Köln und Bonn (Rhein! Zeitschrift für Worte, Bilder, Klang, Nr. „Geschichte der Pfarreien des Dekanates Siegburg“ 14, 2016), S. 28 – 33. – Zahlreiche Literaturhinweise findet man in listet Christian Hubert Thaddäus Delvos, weiland den hier herangezogenen Untersuchungen von Frohn, Klövekorn, Uhrmacher, Winkle u. v. a. (bibliografische Angaben zu diesen Ver- Pfarrer an St. Georg in Altenrath, acht Bergheimer fassern befinden sich in den nachstehenden Fußnoten ab Nr. 6). Steinkreuze (einschließlich des „Kirchhofkreuzes“)

56 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 auf, die sich durch eine Inschrift auszeichnen. Unter der Nummer 2 zitiert er stark verkürzt den aus meh- reren Teilabschnitten bestehenden Text eines hoch Foto: HB, 2019 aufragenden Gliederkreuzes 2, dem 1985 Heinrich Brodeßer eine detaillierte Beschreibung und Kom- mentierung widmet.3 Erst vor kurzem wurde der mächtige Baum gefällt, der dieses Denkmal christ- licher Volksfrömmigkeit eindrucksvoll hinter- fing. Nun erhebt es sich im Zuge einer veränderten Straßenführung auf einem relativ kleinen Rondell am angestammten Standort, vom Verkehr umflos- sen und in dieser Lage, wo Oberstraße, Eschmarer Straße und Raiffeisenstraße aufeinandertreffen, keineswegs ungefährdet. Ein noch schmächtiges nachgepflanztes Bäumchen betont auf seine Art die Monumentalität des eindrucksvollen ortsgeschicht- lich bedeutsamen Kleinods aus dem Jahr 1686, das im lokalen Volksmund unter einer aufhorchen las- senden merkwürdigen Bezeichnung bekannt ist: „Das Abgestorbenenkreuz steht noch an alter Stelle an der Bahnlinie zwischen Bergheim und Mülleko- ven. Es ist eines der interessantesten Wegekreuze.“ 4 Die auf drei Seiten dieses barocken Hagel(feier)- bzw. Wetter-, Erinnerungs- und Votivkreuzes zu lesenden Inschriften „verraten nichts über die üb- Die einstige Melatenkapelle St. Georg in Gardelegen liche Bezeichnung ‚Abgestorbenenkreuz‘, wie sie (Sachsen-Anhalt). die mündliche Tradition hartnäckig überliefert hat. Bei der Fronleichnamsprozession wurde bis 1964 für ‚die hier ruhenden Verstorbenen‘ gebetet, ohne 2 Chr. H. T. Delvos, Geschichte der Pfarreien des Dekanates Siegburg dass jemand gewusst hätte, wer denn hier begraben (Geschichte der Pfarreien der Erzdiöcese Köln, Bd. 39), Köln 1896, liegt. Nun kam vor einiger Zeit beim Straßenbau ein S. 357. kleines Grabkreuz zutage, das 21 Jahre älter ist als 3 H. Brodeßer, Heimatbuch Rhein-Sieg, Troisdorf 1985, S. 170 f. – Im oberen Teil der von ihm selbst angefertigten Zeichnung des „Ab- das große Wegekreuz. Seine Auffindung lüftet das gestorbenenkreuzes“ (S. 171) sind Ikonografie und Textanordnung Geheimnis: Auf dem Oberteil des leider zerbroche- ungenau, weil u. a. Teile der Inschriften falsch angeordnet sind. – Das Tagesdatum auf dem Grabkreuz von 1665 ist nicht der 1., son- nen Grabmals lesen wir nämlich folgende Inschrift: dern der 2. Februar (in unserem Text stillschweigend verbessert). IHS (Christusmonogramm: „Iesus Hominum Sal- 4 H. Brodeßer, S. 170. Eine auf der linken Seite dieses Kreuzes im vator“ = ‚Jesus, Retter der Menschen‘; Anm. des Ver- unteren Teil eingemeißelte Inschrift nennt den Tag, an dem es die „BERGHEIMER NACHBAREN“ haben aufrichten lassen, näm- fassers) / ANNO 1665 DEN II FEBR / VAR STARB lich „AN DEM TAG ALS / OFEN VON DEN TVRCKEN DVRCH / ANNA / HILGER DAHMENS / HAVSFRAW IN DIE CHRISTEN EROBERT WORDEN“. „Ofen“ ist der alte deut- DER / SCHLLEN (?) / ZV BER / CHEM … Eine sche Name für Buda an der Donau, das seit dem 14. Jahrhundert die Hauptstadt Ungarns war (heute Budapest). 1541 war die Stadt Bergheimer Frau liegt also hier begraben. Mögli- von den Türken in Besitz genommen worden. Bis zu ihrer Rück- cherweise finden sich noch andere Grabkreuze bzw. eroberung durch Karl von Lothringen am 2. September 1686 war die Stadt Sitz eines Paschas. – Die auf dem „Abgestorbenenkreuz“ Gebeine unter dem Abgestorbenenkreuz in der Erde aufgelisteten „Nachbarn“ sind folgende: Wilhelm Boss, Heinrich verborgen. Warum eigentlich wurden hier außer- Beissel, Theis Brodesser, Hilger Curth, Gertrud Bertram, Wilhelm Schmitz und Hermann Schmitz. – Im vorderen unteren Bereich, halb des Friedhofes die Toten in nichtgeweihter Erde des „Stipes“, finden sich weitere Stifternamen: Werner Zerres und bestattet? Es waren vermutlich Pesttote oder Opfer Johann Mundorff „SAMBT DER MVL / LEKOVER GEMEIN / DE“. einer anderen Seuche, die man in aller Eile außer- Das Pfarrdorf Bergheim und das ihm damals kirchlich inkorpo- rierte benachbarte Müllekoven waren also an der Errichtung dieses halb des Ortes zu Grabe trug und denen man ein Kreuzes gleichermaßen beteiligt. Aufgrund seines Standortes kann Grabkreuz widmete. Als diese Kreuzmale 21 Jahre man bezüglich einer der vielfältigen Funktionen dieses Denkmals auch von einem für das Rheinland so typischen Grenzkreuz spre- später weggenommen und durch das große Kreuz chen. Zwei Jahre nach seiner Aufstellung tobten in Bergheim und ersetzt wurden, hat man 300 Jahre lang ihrer im Ge- Mondorf im Rahmen des Pfälzischen Erbfolgekrieges erbitterte 5 Kämpfe. Über die Bergheimer Siegfähre hinweg lag Bonn un- bet gedacht.“ Das von Brodeßer analysierte Grab- ter Beschuss. Bei den gegenseitigen Angriffen erlitt insbesondere kreuzchen von 1665 befindet sich versteckt, aber Mondorf starke Zerstörungen. öffentlich zugänglich, in einer bescheidenen Grün- 5 H. Brodeßer, S. 170f.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 57 anlage unmittelbar neben den Bahngleisen, nur „Abgestorbenenkreuz“ nicht unähnlich – das an ein wenige Meter vom „Abgestorbenenkreuz“ entfernt. 1668 indirekt im Zusammenhang mit einem Aus- Brodeßer hegte seinerzeit bereits die naheliegende sätzigen namens Adrian erwähntes Siechenhaus im Vermutung, dass an der beschriebenen Stelle wohl niederrheinischen Willich erinnert. Das außerhalb „Pesttote oder Opfer einer anderen Seuche“ bestat- des Dorfes, an einer Straße im freien Feld sich un- tet worden sein dürften. Diese „andere Seuche“ ist ter einem Baum, dem „kruu­se Bohm“, erhebende nach Lage der Dinge höchstwahrscheinlich die christliche Denkmal trägt im örtlichen Volksmund Lepra gewesen. So evoziert allein schon der Name bezeichnenderweise den Namen „Siechenkreuz“ 7: „Abgestorbenenkreuz“ unwillkürlich die Vorstel- Eine willkommene Parallele! Auch am Ort eines lung von „abgestorbenen“ Gliedmaßen, die für die früheren Leprosoriums an der historischen „Krö- Leprakranken so charakteristisch sind. Die Lepro- nungs- bzw. Heerstraße“ zwischen Sinzig und Aa- sen wurden sowohl im Leben wie im Tod „ausge- chen erhebt sich in der Nähe von Eckendorf und setzt“, aus der Gemeinschaft der Mitmenschen ver- Fritzdorf ein derartiges Erinnerungszeichen, das stoßen. „Das Dritte Laterankonzil (1179) verordnete den Namen „Schutzengelkreuz“ trägt. in seinem 23. Kanon, dass Aussätzige auf eigenen Friedhöfen beizusetzen waren.“ 6 Ein solcher kleiner Das Grabkreuzchen für die Bergheimerin Anna Gottesacker für die Siechen liegt uns hier offensicht- Dahmen ist zwar im Hinblick auf seine Abmessun- lich vor. Der zugehörige Melatenkotten wird nicht gen arg bescheiden, trägt jedoch erstaunlicherweise weit entfernt gestanden haben. –Aus dem Jahr 1731 eine neunzeilige, sehr sorgfältig eingemeißelte, ge- stammt ein barockes Steinkreuz – dem Bergheimer radezu kalligrafisch kunstvolle und aussagekräftige Inschrift, die sich durch eine doppelte Ortsangabe auszeichnet, eine für die damalige Zeit ungewöhn- liche Tatsache. Eindeutig ist die durch Steinab- 6 S. Winkle, Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf, Zürich 1997, spliss schadhaft gewordene Formulierung „ZV S. 25. 7 Gestiftet wurde dieses Kreuz von dem Notar Johannes Achen und BERCHEM“ (das „V“ steht als damals übliche Gra- seiner Ehefrau Sybilla Borger, und zwar zur Ehre Gottes und der phie für „U“), die gerade noch erkennbar ist, denn Gottesmutter Maria (W. Ploenes, „Das Willicher Siechenkreuz“, in: Die Heimat, Heft 22, 1951, S. 156; M. Uhrmacher, Lepra und Lep- die letzten Buchstaben des Ortsnamens sind stark roserien im rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert = beschädigt. Hervorragend erhalten ist hingegen die Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 8 / Publications du Wortgruppe „IN DER SCHLLEN“. Hinter das letzt- Centre Luxembourgeois de Documentation et d‘Études Médiéva- les = CLUDEM, tome 36, Trier 2011, S. 297). – Es handelt sich um genannte Wort hatte Brodeßer ein eingeklammertes eine von Prof. Dr. Franz Irsigler betreute Dissertation aus dem Jahr Fragezeichen gesetzt (s. o.), denn was mag es bedeu- 2007. – Uhrmacher erwähnt in dieser ansonsten sehr verdienstvol- len Arbeit etliche Leproserien nicht (z. B. Waldorf, Mödrath, Wei- ten? Offenbar fehlt hier ein Buchstabe, naheliegen- lerswist, Brühl-Heide). derweise ein Vokal, den der Steinmetz entweder Foto: HB, 2016

Die einstige Siechenhaus-Kapelle in Malmedy (Belgien) am Zusammenfluss von Warche und Warchenne.

58 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 vergessen oder aus Platzgründen (bewusst) wegge- lassen hatte, da man damals den Sinn des Nomens so oder so ohne weiteres erkannte. Sowohl dieses Gedenkkreuzchen als auch das benachbarte „Abge- storbenenkreuz“ sind hinsichtlich ihrer jeweiligen Texte steinerne Träger von Urkunden.

Nehmen wir einmal an, das in Frage stehende Substantiv hieße in vollständiger Lesart korrekt „Schellen“, dann böte sich folgende Erklärung an: Abb. aus Larousse du 20è siècle, Bd. 4, Paris S. 410 1931, In Bergheim hat es im frühen 17. Jahrhundert eine damals vielleicht schon sehr alte Örtlichkeit gege- ben, die der Bewohnerschaft des Dorfes und den Menschen in der Umgebung unter der Bezeichnung „Schelle(n)“ bekannt war. Zieht man nun durchaus spekulativ den in der Nähe der beiden Kreuze gele- genen Straßennamen „Am Schildchen“ heran, fällt vordergründig eine gewisse Ähnlichkeit der Wörter auf. Die heutige Straßenbezeichnung tradiert einen historischen Flurnamen, der vielleicht eine kleine schildartige Erhöhung bezeichnete, oder mund- artlich einmal „ahm Schellche“ (‚an der kleinen Schelle‘) lautete. Es ist nicht von vornherein ausge- schlossen, dass wir es im vorliegenden Fall mit ei- nem grob verballhornten Toponym zu tun haben, das möglicherweise einmal tatsächlich „am Schell- chen“ hieß. In etymolgisch-wortgeschichtlichen Fragen ist naturgemäß stets eine große Vorsicht ge- boten, wobei Rechthaberei völlig fehl am Platz ist. Aber es darf durchaus einmal spekuliert werden: Vorausgesetzt, dass unser bisheriger Gedanken- gang in sich stimmig ist, liegen uns begrifflich das Wort „Schelle“ und dessen Diminutivum (Verklei- nerung) „Schellchen“ vor. Aber was lässt sich damit anfangen? Auf historischen Abbildungen erkennt Ein Leproser (14. Jahrhundert) mit einer dreiblättrigen man Leprakranke oft mit einer Klapper, einem „Lazarusklapper“. umgehängten Horn („Hornbrüder“), einer kleinen Glocke bzw. einer Schelle.8 Mit diesen einfachen Si- gnalinstrumenten machten sie sich den Gesunden Borchard Roylinchusen belegt, dem der Essener Rat gegenüber akustisch bemerkbar, „vielleicht unter zum Almosensammeln einen Geleitbrief ausstellte. dem Druck der Umgebung, um der Ansteckung Darin wurde auch vermerkt, dass er gesund sei und aus dem Weg zu gehen, vielleicht aber auch, um die ‚myt der lepren nicht bevlecket‘.“ 12 Für eine der frü- Bettelaktion wirksamer zu gestalten.“ 9 Eine beson- heren Kölner Leproserien, nämlich diejenige am dere Aufgabe fiel dem „Schell(en)knecht“ 10 zu: „Der so bezeichneten „Judenbüchel“ (als „Siechenhaus“ Schellenknecht war ein gesunder Mann, der ,teglich 1429 dokumentiert), ist schon im Jahr 1348 die al- bedlen geen solle … und soll auf den predigtstöh- ternative Bezeichnung „Schelmanskotten“ nachzu- len solch ordnung dem ganzen folk verkündiget werden, umb in milde handt der armen mitzuthei- len‘. Alles, was der Schellenknecht (…) gesammelt 8 G. H. Klövekorn, Der Aussatz in Köln, München 1966, S. 17 und hatte, wurde unter den Aussätzigen aufgeteilt, der S. 65. Inhalt der Opferstöcke dagegen der Verwaltung des 9 Ebendort, S. 15f. 10 „Schellknecht“ ist im Rheinland und anderen Gegenden Deutsch- Hauses (d. h. der Leproserie, Anm. des Verf.) über- lands vereinzelt noch als Familienname anzutreffen. 11 geben.“ In dem 1322 erwähnten „Seichenhuise“ 11 G. H. Klövekorn, S. 43. zu Essen ist „am 9. Januar 1465 der Schellenknecht 12 M. Uhrmacher (wie Anm. 7), S. 236.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 59 Das einstige Bonner Leprosorium „auf der Höhe“ mit der alten dem heiligen Lazarus geweihten Kapelle. Ölbild HB 2003, nach einer Lithografie von Christian Hohe 1850um

weisen.13 Während also der „Schell(en)knecht“ nicht der z. B. 1660 mit der Angabe „hinderm Sieghaws“ von der Lepra befallen war und eine dienende Auf- (hinter dem Siechenhaus) genau lokalisiert wird.14 gabe für die Siechen zu erfüllen hatte, wurden die Schellen sind im Zusammenhang mit dem Lepro- männlichen Leprosen mitunter als „Schellmänner“ senwesen vielfach belegt. So war es beispielsweise bezeichnet. Auch der bildhafte Übername „Klap- den „Inklusen“ der Leproserie (Köln-)Merkenich permann“ war dereinst geläufig, weil die an Lepra (unweit Dormagen) gestattet, in der Vogtei Hülch- Erkrankten sich – wie weiter oben dargelegt – mit rath bis zum Kloster Brauweiler „mit einem Korb, einer so genannten „Lazarusklapper“ bemerkbar an dem Schellen hingen, Almosen zu sammeln.“ 15 machen mussten (dazu im Detail weiter unten mehr). Mit Blick auf das erstmals 1340 greifbare In der auf Bliesheim zu gelegenen Feldgemar- frühere Bonner Leprosorium „auf der Höhe“ (an der kung von Lechenich, einem einst kurkölnischen Kölnstraße) nennt Josef Dietz ab 1575 („ahm schäl- Städtchen am Rand der Zülpicher Börde, bestand lenpath“) zahlreiche Belege für den „Schellenpfad“, eine Leproserie, die in den Jahren 1678 bis 1712 un- ter der Bezeichnung „Claven“ dokumentiert ist.16 Dieser hier als stützende Parallele herangezogene Name ist bislang noch nie untersucht worden. Auch 13 G. H. Klövekorn, S. 57. 14 J. Dietz, Die Bonner Flurnamen (Veröffentlichungen des Stadtar- in diesem Fall handelt es sich um die Bezeichnung chivs Bonn, Bd. 11), Bonn 1973, S. 91 f. und S. 95. Erstaunlich ist die eines alten, sehr einfachen Signalinstruments. Mit hohe Anzahl der Belege, die Dietz hier beibringt. Siehe auch ders., Topographie der Stadt Bonn im Mittelalter bis zum Ende der kur- dem von lateinisch „clavis“ (Schlüssel, Riegel) abge- fürstlichen Zeit, 1. Hälfte (Bonner Geschichtsblätter, Bd. 16), Bonn leiteten Nomen „Clave“ ist eine Art Rassel gemeint, 1962, S. 153 (mit kurzen Belegstellen, Quellen- und Literaturanga- welche aus gelenkartigen Hölzchen oder kleinen ben; zum Siechenhaus an der alten Landstraße nach Godesberg: S. 154); ders., Bonner Bilderbogen, Bonn 1971, S. 201 – 205 („Das Metallstangen bestand, die beim Hin- und Her- Siechenhaus auf der Höhe“ und „Vom Leben der Aussätzigen“). schütteln ein schlagend-schepperndes Geräusch er- Zusammenfassend dazu: R. Biniek, „Der Aussatz in Bonn“, in: Die 17 Klapper, Heft 9, 2001, S. 1 – 7. Bonn und Köln sind mit Blick auf ihre zeugten. Das Beispiel des Melatenhauses „Claven“ heutige administrative Größe die beiden rheinischen Städte mit den liefert uns eine überzeugende begriffliche Analo- meisten und insgesamt am besten wissenschaftlich erforschen Lep- roserien. gie zum Bergheimer Leprosorium „Schellen“. Den 15 M. Uhrmacher, S. 267. Standort jener Institution könnte man sich auf dem 16 W. Frohn, Der Aussatz im Rheinland. Sein Vorkommen und seine Hochufer eines alten Siegbettes vorstellen. Dieser Bekämpfung, Jena 1933, S. 45. Geländeabschnitt war in früheren Jahrhunderten 17 Vgl. W. Meyer-Lübke, Romanisches etymologisches Wörterbuch (REW), 5. Aufl. Heidelberg 1972, S. 187, Nr. 1981. Im Orgelbau ja noch vollkommen unbebaut. Etwa im Bereich kennt man die „Klaven“, die dazu dienen, die Windlade dieses Ins- der einstigen Ackerflur bzw. heutigen Straße „Am truments zu öffnen und zu schließen (siehe dazu beispielsweise: E. Seebold, Bearb., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Schildchen“ mochte sich ein bescheidenes Siechen- 23. erweiterte Aufl. Berlin, New York 1999, S. 447, s. v. „Klavier“). haus, eine in der Fachsprache so bezeichnete „Feld-

60 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 leproserie“, erhoben haben. „Abgesehen von verein- Am Ort einer früheren zelten klösterlichen Asylen lebten die Leprosen (…) Leproserie bei Eckendorf ausgestoßen aus der Gemeinschaft in Feldhütten an der historischen vor der Stadt oder vor dem Dorf. Daher hießen sie „Krönungsstraße“ auch ‚Feldsiechen‘.“ 18 erhebt sich als Zeichen der Erinnerung Nach dem bisher Gesagten könnte die für Berg- das so bezeichnete heim im Jahr 1665 inschriftlich auf einem Grab- „Schutzengelkreuz“. kreuz bezeugte Angabe „in Sch(e)llen“ bedeuten, dass sich am Rand des damaligen Dorfkerns vor Jahrhunderten eine Leproserie befand, die den Na- men „Schelle“ oder „in der Schelle(n)“ trug, weil die hier unter erbärmlichen Umständen vegetierenden Siechen außerhalb dieser zweifellos armseligen Behausung ein solches Signalinstrument mit sich führen mussten. Demzufolge wäre Anna, die Ehe- frau von Hilger Dahmen, in jenem Siechenhaus als mit Lepra Infizierte verstorben. Wie mag sich die furchtbare Seuche auf die Ehe ausgewirkt haben? Foto: HB, 2016

Stigmatisiert und zwangsweise weitab von den Häusern, Gehöften und der dem heiligen Lamber- lepraverdächtigen Patienten ist unbekannt. Der tus geweihten Pfarrkirche Bergheims „ausgesetzt“, von Uhrmacher in den Blick genommene Untersu- fristeten die „Aussätzigen“ in einem Siechenkot- chungszeitraum liegt zwischen 1491 und 1664.20 Da ten, quasi in Quarantäne, ihr kümmerliches Dasein für kein einziges Bergheim (zu Dudeldorf bei Bit- und erhielten auch einen vom Dorffriedhof mög- burg; zu Mechernich, Kreis Euskirchen; zu Kreuzau, lichst weit entfernten Begräbnisplatz zugewiesen. Kreis Düren; zu Duisburg), auch nicht für Berkum, Der Name des Bergheimer Leprosoriums „Schelle“ früher Bergheim / Berche(i)m (Gemeinde Wacht- konnte durchaus in „typisch“ rheinischer Art mit berg im Rhein-Sieg-Kreis) und Bergheim an der Erft der Form „Schellchen“ verkleinert, also euphemis- Belege für ein Leprosorium vorliegen, ist die Wahr- tisch verniedlicht werden (vgl. oben zum Straßen- scheinlichkeit, dass es sich hier um Bergheim an der namen „Am Schildchen“), um dem Ort des Grauens Sieg handelt, verhältnismäßig groß. Denn meistens wenigstens sprachlich etwas an Schärfe zu nehmen. wurden Insassen von örtlichen Siechenhäusern Eine solche psychologisierende Deutung entbehrt zum „Examen Leprosorum“ in die Domstadt Köln nicht der Parallelen. So gebrauchte man im rhei- geschickt, wo sie von mehreren Ärzten der damals nischen Kultur- und Sprachraum für das „Hospi- hoch angesehenen medizinischen Fakultät der Uni- tal“ gerne das Diminutivum „Hospitälchen“. Das versität untersucht wurden. Selbst wenn man das frühere, 1454 gestiftete Bonner Jakobus-Hospital Bergheim an der Erft nächst gelegene Melatenhaus wurde beispielsweise so bezeichnet, obgleich es re- in Betracht zieht, so lag dieses doch noch einige Ki- lativ geräumig war.19 Das etymologisch umstrit- lometer entfernt, nämlich im Wald von (Quadrath-) tene Synonym für Gefängnis, „Kittchen“, kann als Ichendorf. Diese von der Abtei Brauweiler zwischen Verkleinerung von „Kitt“ verstanden werden, denn 1176 und 1226 ins Leben gerufene Einrichtung ist die Strafgefangenen sind – bildhaft formuliert – im nach Ausweis aller erreichbaren Dokumente aus- Kittchen wie mit Kitt festgeklebt. Viele Rheinländer schließlich unter der Ortsangabe „Ichendorf“ do- sind vernarrt in solche Verniedlichungen, wenn sie kumentiert.21 Die Reste der Leproserie wurden ein etwa vom „Stüffje“ (Stübchen), „Hüsje“ (Häuschen), Opfer des Braunkohlentagebaus, ein Schicksal, das „Pastüeche“ (liebevoll für „Pastor, Pfarrer“) oder sie mit dem erstmals 1602 bezeugten Melatenhaus von „enem Nönnche“, also einer Nonne sprechen.

Interessanterweise erwähnt Martin Uhrmacher 18 S. Winkle (wie Anm. 6), S. 17; Klövekorn S. 15. sogar eine einzige in Köln medizinisch auf Lepra 19 H. Bursch, W. Bursch, Santiago liegt bei Bonn. Auf den Spuren des hin untersuchte Person aus Bergheim, ohne frei- Apostels Jakobus im Rheinland, Bonn 2001, S. 23 und öfter. 20 M. Uhrmacher, S. 91ff. lich zu präzisieren, welcher rheinische Ort dieses 21 Ebendort, S. 100; F. Kretschmar, Kirchen, Klöster und Kapellen im Namens denn gemeint ist. Auch die Identität des Erftkreis, Köln 1984, S. 162.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 61 früheren Mondorfer Volksschulrektors Hermann Sanke im 17. und 18. Jahrhundert.23 Heinrich Bro- deßer bringt einen Beleg aus dem „Bergheimer Nachbarschaftsbuch“ aus dem Jahr 1577 bei: „Item drei fol. Landts schiessen auff den (sic!) Rosendall ist das ein Mertens Johan, das ander Braun fischer, das dritte gassen Johannis zu Mondorff.“ 24 In der altertümlichen Schreibung „Rosendall“ wird das Vorhandensein des Flurnamens also immerhin

Foto: Leprose-Museum St. Jörgen in Bergen; Repro HB schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ak- tenkundig. In dieser Epoche ergoss sich erneut eine heftige Leprawelle über das Rheinland.

Mit dem Begriff „Rosent(h)al“ im Sinne von Leprosent(h)al ist überaus häufig die Existenz ei- nes Siechenhauses verknüpft, wie noch darzulegen sein wird. – Vorab mit Blick auf die unmittelbar benachbarten Ortschaften Mondorf und Bergheim nur soviel: Heinrich Brodeßer charakterisiert das Rosenthal als „Wasser-Sumpf-Gebiet“ 25, wo sich im Hang der Niederterrasse „an einer Furt oder Brü- Gerhard Henrik Armauer Hansen (1841 bis 1912) entdeckte cke“ einmal ein Bildstock des heiligen Nepomuk 1873 im norwegischen Bergen den Lepra-Bazillus. Die Krank- befand.26 Darauf hatte bereits 1896 der Dekanats- heit heißt seither wissenschaftlich „Morbus Hansen“. historiker Delvos hingewiesen: „An einem Damme oberhalb des Dorfes (Mondorf, Anm. des Verf.), wo in alter Zeit die Sieg ihren Lauf nahm, steht ein Hei- von Niederzier im Bereich des Tagebaus Hambach ligenhäuschen mit der Statue des heil. Johannes von teilen.22 Nepomuk.“ 27 Delvos kannte den Bildstock also noch aus eigener Anschauung. Ein für unsere Sachargumentation nicht uner- hebliches weiteres Indiz, das sich als äußerst trag- fähig erweist, ist das Vorhandensein eines zwischen Aussatz, Melatenhäuser, Rosentäler, Bergheim und Mondorf gelegenen Gemarkungsab- Klappern und Siechennachen schnitts, der die im Hinblick auf eine frühere Lep- roserie geradezu verräterische Bezeichnung „Ro- So wie man dereinst um die Aussätzigen und Sie- senthal“ trägt. Die Mondorfer „Rosenthalstraße“ chenhäuser im wahren Sinne des Wortes aus Furcht führt von der Provinzialstraße abzweigend in Rich- vor Ansteckung und bestimmt bisweilen auch aus tung Bergheim. Von ihr biegt rheinwärts die kleine Ekel einen Bogen schlug, dabei freilich keineswegs Straße „Rosenwinkel“ ab. Belegt ist der ursprüngli- die Lepra als flächendeckende Seuche tabuisierte, che Flurname „(im) Rosenthal“ nach Angaben des ja dieser Krankheit von medizinischer, kirchlicher sowie administrativ-politischer und gesellschaftli- cher Seite eine gezielte nachhaltige und durchweg 22 M. Uhrmacher, S. 271. barmherzige Aufmerksamkeit schenkte, so dürftig 23 H. Sanke, Mondorf im Licht der Geschichte, Mondorf 1977, S. 323 f. sind bisweilen die geschichtlich verwertbaren dies- 24 H. Brodeßer, „Das Bergheimer Nachbarbuch“ in: Troisdorfer Jahreshefte 5, 1975, S. 7 – 36, hier S. 10 („Nachpar brauch und ge- bezüglichen Hinweise. In seiner 2011 veröffentlich- rechtigkeit zu Berchem auff der Siegen“ von 1577 im Depositum ten Trierer Dissertation „Lepra und Leproserien im Nesselrode-Ehreshoven, im früheren Hauptstaatsarchiv Düssel- dorf – jetzt: Landesarchiv NRW –, Nr. 2081; vgl. H. Brodeßer, S. 13, rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert“, Anm. 5). die teilweise sehr lückenhaft ist, weil etliche rheini- 25 H. Brodeßer, Heimatbuch Rhein-Sieg (wie Anm. 3), S. 146; vgl. dort sche Leproserien gar nicht erwähnt werden (etwa auch S. 217. 26 Ebendort, S. 146. die zwei einstigen Melatenkotten von Mödrath bei 27 Ch. H. T. Delvos (wie Anm. 2), S. 372. Kerpen, die auf einer Territorialkarte von 1587 na- 28 U. Schwarz, Köln und sein Umland in alten Karten. Von der Eifel- mentlich eingezeichnet sind 28), äußert sich Martin karte zur Generalstabskarte (1550 – 1897), Köln 2005, S. 46 f. Ger- hard Stempel zeichnete 1587 die hier erwähnte Karte, die M. Uhr- Uhrmacher unumwunden zu „der schlechten Über- macher offensichtlich nicht bekannt war. lieferungslage und der vielfach nur beiläufig in den

62 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Quellen dokumentierten Belege über Leprosenhäu- ser“ 29, eine just für Bergheim an der Sieg geradezu den Nagel auf den Kopf treffende Feststellung. So wird z. B. das frühere Siechenhaus zu Monschau H. Klövekorn, S. 50 in der Eifel nur ein einziges Mal erwähnt, nämlich

1596 / 97 in einer Rentmeisterrechnung, und zwar Abb. aus G. als „Leprosen hauß“.30 Bezeichnend ist in diesem Fall auch wieder das Vorhandensein eines „Rosent- hals“ in der Monschauer Rur-Niederung, in deren Nähe sich die nur einmal dokumentierte Leprose- rie befand. Mehrere Tuchfabriken charakterisierten später die „Rosenthal“ genannte Örtlichkeit.31

Nachstehend soll das Phänomen „Rosent(h)al“ einmal näher beleuchtet werden, damit der sach- liche Zusammenhang mit dem anvisierten Berg- heimer Leprosorium durchsichtig wird. Soweit ich sehe, ist es dem ersten Leiter des Stadtarchivs Bonn (seit 1899 in dieser Funktion wirkend), Professor Dr. Fritz Knickenberg (1863 bis 1932), zu verdanken, die Bonner Flur- bzw. Straßennamen „Rosental“ und „Rosenstraße“ mit einer in der Nähe gelegenen Le- proserie, dem Siechenhaus „Sankt Welrichsklusen“, zu assoziieren, indem er von einer Aphärese, also ei- nem Fortfall der ersten Silbe, ausging und so in ver- blüffend einfacher, aber genialer Weise den sprach- wissenschaftlichen Vorschlag„Leprosen“ > „Rosen“ Darstellung des „Lazarus-Klapp“ aus dem Jahr 1631 zur Diskussion stellte.32 Tatsächlich lag in unmit- von . telbarer Nähe der beiden Bonner Straßen, die heute zum Stadtteil Castell gehören, ein Leprosorium: „Dieses Siechenhaus stand nicht allein und frei, wie seien lediglich Eichstätt, Atzbach, Bad Ems, Mon- sonst meist üblich, sondern es war an das früher schau, Bad Kreuznach, Bochum, Kleve, Unna und dort stehende Augustinerinnen- und spätere Ser- Roisdorf im Vorgebirge36 heraus gegriffen, wo die vitessenkloster zum hl. Balderich angebaut („Bal- derich“ = „Welrich“, Anm. des Verf.). Von diesem

Kloster aus wurden die Insassen des Siechenhauses 29 M. Uhrmacher, S. 100. bedient. Das (benachbarte) Stift (Dietkirchen, Anm. 30 Ebendort, S. 268. des Verf.) bezahlte dafür jährlich eine Rente von 31 A. Mathar, F. Mathar, Die Monschauer Tuchmacher. Eine Wande- sieben Malter Korn. Das Balderichskloster wurde rung durch Monschaus Vergangenheit und Gegenwart, Eupen, 2017, S. 60 und S. 62. Auch lediglich ein einziges Mal belegt (1569) ist die im Truchseßschen Kriege zerstört und damit wohl kleine Leproserie „Sandt Jobs Häusgen“ im zu Würselen zählenden auch das Siechenhaus.“ 33 1968 greift Egon Schmitz- Weidener Quartier (G. Breuer, Würselener Siedlungsnamen. Eine namenkundliche Untersuchung: Schriftenreihe des Heimatvereins Cliever unter Hinweis auf die entsprechenden Dar- Würselen, Bd. 1, Aachen 1987, S. 40). St. Jobs(t) = Jodokus war der legungen von Wilhelm Frohn aus dem Jahr 1933 die Schutzheilige mehrerer Siechenkotten, beispielsweise bei Trier (St. von Fritz Knickenberg etablierte Etymologie wohl- Jost). 32 F. Knickenberg, „Die ältesten Aufnahmen der Stadt Bonn und ihrer wollend auf, ohne deren Urheber zu nennen, und nächsten Umgebung“, in: Bonner Jahrbücher 110, 1903, S. 203 – 213, gibt der zukünftigen Forschung weitere analoge Bei- hier S. 211 f. spiele zu bedenken.34 33 W. Frohn (wie Anm. 16), S. 43. 34 E. Schmitz-Cliever, in: R. Rudolf, W. Schmitt, H. J. Vermeer (Hrsg.), Fachliteratur des Mittelalters (Festschrift für Gerhard Eis), Stuttgart Der Name des auf dem Areal des früheren Bon- 1968, S. 367 f.; siehe auch: I. Jung, Flurnamen an der mittleren Lahn, Gießen 1985, S. 156; H. Dittmaier, Rheinische Flurnamen, Bonn ner Römerlagers gelegenen Rosentals ist ab dem 1963, S. 250, s. v. „Rosengarten“. späten 14. Jahrhundert greifbar: 1393 „Rosendaille“, 35 J. Dietz (wie Anm. 14), S. 89. 1450 „in dem rosendaile“, 1558 „im Rosenthall die 36 H. Bursch, „Lepra, Aussätzige und Siechenhäuser“ (wie Anm. 1), S. 30 f. – Der älteste Beleg für das Roisdorfer „Rosenthal“ in der Längde langs die Rosenthalsgaß“, 1671 „Rosendall“, Form „Roysendail“ stammt aus dem Jahr 1492 (Mitteilungen aus 1745 „Rosendahl“.35 – Aus der Fülle an Parallelen dem Stadtarchiv Köln, Bd. 51, 1936, S. 98).

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 63 dieser toponymischen Belege auf eine dereinst ein- mal an diesen Orten vorhandene Leproserie. So ver-

Foto: HB, 2016 hält es sich wahrscheinlich auch mit dem zwischen Mondorf und Bergheim gelegenen Rosent(h)al. Die mit dem Wortelement „Rosen“ (< Leprosen) gebil- deten Toponyme „Rosenacker“ (etwa in Hasselbach, Thun, Merzenich und Sechtem), „Rosenweiher“ (Sechtem), „Rosenau“ (Passau) und „Rosenmühle“ (Würzburg) ergänzen das Tableau.

Wir haben bereits auf die zwei ehemaligen Sie- chenhäuser bei Kerpen-Mödrath an der Erft hin- gewiesen, von denen das wahrscheinlich nur für männliche Leprosen Bestimmte die spätlateinische Bezeichnung „Falco“ (Falke) trug. Der einzige hier- für existierende Beleg bezieht sich auf einen gewis- sen Petrus Ruteler, „hospes (= Gast) in Falcone in Mutroed“­ , der am 9. Dezember 1508 in Köln un- tersucht wurde und zu seiner Erleichterung für „mundus“ (rein, sauber), d. h. nicht leprös, befunden wurde.39 Man vergleiche bezüglich der Art der For- mulierung „in Falcone in Mutroed“ auch ein hier in Fußnote 73 zitiertes Pendant: „vfm Siechhaus zv Wesselingh“. Beide Zitate passen formal genau zu der Angabe „in der Sch(e)llen zv Berchem“. Im na- hen Dorf Balkhausen hält der Name der dortigen Das Lepra-Museum in Münster-Kinderhaus. „Rosentalstraße“ höchstwahrscheinlich die Erinne- rung an die früher in Mödrath und Umgebung le- benden Aussätzigen wach.40 erstmals 1492 in der morphologischen Form „Roy- sendail“ belegte Flur- bzw. (gegenwärtige) Straßen- Der Name „Falco“ für ein Leprosorium kann bezeichnung „Rosent(h)al“ im Zusammenhang mit einerseits als Euphemismus verstanden werden, einem ehemaligen Leprosorium steht. Als reiner verkörpert doch dieser in zahlreichen Kulturen ver- Ortsname ist „Rosent(h)al“ / „Rosendahl / Rosen­ ehrte Vogel wie der Adler „Himmel, Macht, Königs- daal“ im deutsch- und niederländischsprachigen würde, Adel“ 41, andererseits kann man die sichelför- Raum dutzendfach belegt. Hinzu treten von Fall zu migen scharfen Krallen (vgl. lateinisch „falx / falcis“ Fall Bezeichnungen wie „Rosenhügel“ (z. B. in Wei- = Sichel) dieses in der Beizjagd eingesetzten Greif- lerswist 37, Frechen, Overath, Chur in der Schweiz) vogels negativ im Sinne von „Verletzungen, Wunden sowie „Rosengarten“ (etwa in Linz am Rhein, wo um erzeugend“ deuten. Das lateinische Nomen „Falco“ 1660 von den dortigen Kapuzinermönchen ein Me- und seine deutsche Entsprechung „Falke“ werden latenhaus errichtet worden war 38). Von Verdachts- beide etymologisch an lateinisch „falx / falcis“ an- fällen abgesehen, deutet die überwiegende Anzahl geschlossen.42 Mit Blick auf die häufig arg fleckigen und mit Pusteln übersäte „unreine“ Haut der Lepra- kranken kam einst speziell dem Falken in bildhafter 37 H. Bursch, „Im Reigen der rheinischen Leproserien“ (wie Anm. 1). Weise noch eine weitere, unmittelbar einleuchtende 38 M. Uhrmacher, S. 264. Bedeutung zu, denn vor allem das Brustgefieder al- 39 H. Keussen, „Beiträge zur Geschichte der Kölner Lepra-Untersu- chungen (1. Teil)“, in: Lepra. Bibliotheca universalis 14 (1963), S. ler europäischen Falkenarten (Baum-, Ger-, Turm- 80 – 112 (= Wiederabdruck aus dem Jahr 1914), hier S. 88, Nr. 83. und Wanderfalken) ist auffällig gesprenkelt und 40 Vgl. dazu: H. Höhner „,Unrein!‘ Aussätzige mussten warnend mit kann bestens mit der Haut eines Aussätzigen, wie der Klapper rasseln. Leprosenhäuser in unserer Heimat“, in: Kerpe- ner Heimatblätter 2, 1983, S. 35 – 38. man sie von historischen Bildern her kennt, vergli- 41 J. C. Cooper, Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, Leip- chen werden. Unsere Erklärung mag vordergrün- zig, Wiesbaden 1986, S. 49. dig vielleicht gewagt erscheinen, aber in früheren 42 E. Seebold (Bearb.), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (wie Anm. 17), S. 246 f., s. v. „Falke“. Jahrhunderten besaßen viele Menschen einen ge- 43 S. Winkle, S. 1090, Anm. 103. schärften Sinn für Bildhaftigkeit, Sprachspielereien

64 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 und Symbolik. In diesem Zusammenhang ist noch eine weitere Tiermetapher von Belang, denn in der

Lepra-Medizin allgemein geläufig ist das Bild des Foto: HB, 2016 „Löwengesichts“ (lateinisch „facies leontina“). Ge- meint ist das durch starke Wucherungen, Knoten, Geschwüre und Knollen entstellte Gesicht eines an Lepra erkrankten Menschen, das in dieser Weise wiederum euphemistisch beschrieben wird, hier vergleichend mit dem „stolzen“ und „edlen“ Antlitz des „Königs der Tiere“.

Außerhalb des mittelalterlichen Mauerrings der Hansestadt Hamburg, wo seit jeher eine besonders förderliche Armen- und Krankenfürsorge zu be- obachten ist, lag das im 13. Jahrhundert bezeugte Siechenhaus St. Georg (dieser Heilige ist im Nor- den Deutschlands der am häufigsten nachweisbare Patron einer Leproserie bzw. deren Kapelle; etwa in Gardelegen, Tangermünde, Stettin, Greifswald). Die auf diese Einrichtung für Aussätzige zulaufende „Straße der Spitalen“ nannte man „ursprünglich la- teinisch ‚platea leprosorum‘, woraus der Volksmund ‚Rosenstraße‘ bildete.“ 43 Den hier zusammen ge- stellten Belegen lassen sich mühelos weitere zur Seite stellen.44

Viele der Örtlichkeiten, deren Namen den Be- Die neugotische Lazarus-Kapelle in Bonn „auf der Höhe“ standteil „Rosen“ aufweisen, standen den an Lepra an der Kölnstraße, wo sich einst eine bedeutende Leproserie leidenden Menschen von Rechts wegen zur Verfü- befand. gung, denn hier war es ihnen gestattet, sich einiger- maßen frei zu bewegen, ein Stück Land zu beackern, ein bescheidenes Handwerk zu pflegen, Wasser zu tige Einrichtungen, die von ihrer Bezeichnung her schöpfen oder sich – soweit dies möglich war – et- auf die Leprakranken als „gute Leute“ verweisen. was zu erholen. Gelegentlich wurden an diesen Or- Eine Auswahl entsprechender Beispiele soll dies ten die Leprosen auch bestattet. Es waren zudem nachstehend veranschaulichen: „Kontaktzonen“, innerhalb derer sie sich bettelnd den nicht von der Seuche Befallenen nähern durf- Ernst Christmann verzeichnet allein in der Pfalz ten, natürlich „ausgerüstet“ mit Horn, Klave, Schelle 33 Belege für „Gutleuthaus“.45 Ein architektonisch oder Klapper. Die Verkürzung der hier untersuch- interessantes, stilecht renoviertes „Gutleuthaus“ ten Nomen auf die Bezeichnung einer allgemein als edel empfundenen Blume korrespondiert mit dem sprachlichen „Umgang“ hinsichtlich der Leprakran- 44 Siehe dazu: F. Rütten, A. Steeger, „Über Rosengarten, Rosental, Rosenhof … am Niederrhein“, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 3, ken: Diese wurden mitunter nämlich wertschätzend 1933, S. 130 – 134; A. Bach, Deutsche Namenkunde: Die deutschen als „gute Leute“, „Kinder (Gottes)“ (im Französi- Ortsnamen, Bd. 2, Heidelberg 1954, S. 84 (§ 449); dort weitere Li- schen entsprechend als „bons enfants de Dieu“) und teraturhinweise. – Zum Niederrhein siehe auch: H. Teggers, „Le- prosenwesen am Niederrhein“, in: Geschichtliche Landeskunde. „liebe Kranke“ bezeichnet und lebten in Einrich- Mitteilungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der tungen, deren Namen „Klapper“, „Klave“, „Schelle“, Rheinlande und der Universität Bonn, Nr. 4, 1929, S. 113 – 115. 45 E. Christmann, Die Siedlungsnamen der Pfalz. Teil II: Die Namen „Falke“ usw. im Gegensatz etwa zu „Melatenhaus“, der kleineren Siedlungen (Veröffentlichungen der Pfälzischen Ge- „Leproserie“, „Siechenkotten“ oder „Makelhaus“ sellschaft zur Förderung der Wissenschaften Speyer / Rhein, Bd. 47), (kartografischer Beleg von 1790 für das frühere Le- Speyer 1964, S. 239 – 246 (mit zahlreichen historischen Belegstellen und Quellenangaben); siehe auch: D. Staerk, „Gutleuthäuser und prosorium in der „Seesmaar“ = ‚Siechhausmaar‘, in Kotten im südwestdeutschen Raum. Ein Beitrag zur Erforschung der Nähe des historischen „Heerwegs“, westlich von der städtischen Wohlfahrtspflege in Mittelalter und Frühzeit“, in: W. Besch, F. Irsigler u. a. (Hrsg.), Die Stadt in der europäischen Ge- Waldorf-Üllekoven im Vorgebirge), nichts „Anrü- schichte (Festschrift für Edith Ennen), Bonn 1972, S. 529 – 553; H. chiges“ anhaftete. Häufig dokumentiert sind derar- Dittmaier, Rheinische Flurnamen, S. 96, s. v. „Gutleute“.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 65 häuser für Leprakranke. So verweist in Neuwied- Heddesdorf die um 1650 bezeugte Flur- bzw. We- 47 Foto: HB, 2002 gebezeichnung „gutter laüt Pfadt“ (es handelt sich um eine auf den Rhein zuführende historische Straße) auf das frühere Melatenhaus zum „Guten Mann“, das auf der gegenüber gelegenen Seite des Flusses zwischen Weißenthurm und Urmitz lag. Die im Laufe der Jahrhunderte mehrfach erneuerte, 1389 erstmals erwähnte Nikolaus-Kapelle „zum Gu- ten Mann“ (im Eigentum der Gemeinde Kärlich), erhebt sich neben einem 1162 erwähnten Leproso- rium. Aus dem nahen Dorf Kettig ist für 1399 der Leprakranke Kloffgen bezeugt: „Er erhält sogar ein eigenes ‚Häuschen‘.“ 48 Es wird berichtet, dass im Dreißigjährigen Krieg und „in der Folgezeit die Sie- chenhäuser um die Kapelle stark belegt sind. 1565 und 1566 wird sogar von einer Überbelegung be- richtet. Man hatte viele Siechen vom Siechhaustal bei Koblenz nach dort gebracht. Doch um 1700 wird es ruhiger am Guten Mann. Um 1725 findet sich kein Siecher mehr am Ort.“ 49

Das „Gutleuthaus“, eine frühere Leproserie in Oppenheim Während an der Mosel nur wenige Siechenhäu- am Rhein. ser nachgewiesen sind (etwa in Cochem, Bernkastel: „Heilig-Geist-Spital“ und Trier: 2) bzw. vermutet werden (Güls, Enkirch), gab es in der Rheinschiene genanntes ehemaliges Leprosorium ist heute noch zwischen Mainz und Düsseldorf immerhin 41 bisher in der Mitte der Weinbaugemeinde Oppenheim zu bezeugte Leproserien50, nämlich in Mainz, Wies- bestaunen. In Frankfurt am Main wurde 1283 das baden, Ingelheim, Eltville, Winkel, Bingen, Rüdes- „Hospital der guten Leute“ gegründet.46 Besonders heim, Lorch, Niederheimbach, Rheindiebach, Sankt im Tal des Mittelrheins gab es zahlreiche Siechen- Goar, Boppard, Koblenz / Kapellen-Stolzenfels (1654 „auffm Malatzberge oberhalb Coblenz“ / „Siech- haustal“), Urmitz / Weißenthurm (Kärlich), Ander- 46 S. Winkle, S. 1096, Anm. 106. nach-Namedy, Leutesdorf, Linz, Sinzig-Westum, 47 Eingezeichnet auf einer Karte von A. Meinhardt, in: 962 – 1962. Tausend Jahre Heddesdorf. Vom Werdegang und Schicksal eines Remagen, Unkel, Bad Honnef, Bonn (6, inklusive rheinischen Bauerndorfes, Neuwied 1962, S. 34. Siehe auch: H. Prie- Beuel-Ramersdorf und Bad Godesberg), Uedorf, wer, A. Schmidt, „Lepra am Mittelrhein“, in: Heimatjahrbuch des Landkreises Neuwied, 2008, S. 120 – 126. (Nieder-)Wesseling, Köln (7, einschließlich Deutz, 48 J. Schmitt, Die Kapelle vom ‚Guten Mann‘ am Rhein zwischen Wei- Rodenkirchen und Merkenich), Dormagen, Neuss ßenthurm und Urmitz, Bad Ems 1981, S. 13. und Düsseldorf (3, inklusive Derendorf und Ger- 49 Ebendort; siehe auch S. 17. – Aus dem Jahr 1584 stammt ein Be- leg für das „Gutleuthaus“ in Rodenkirchen: „Zu Rottenkirchen bey resheim). Hinzu kommen in Rheinnähe im heuti- Cöln das Gutterleut Hauß“ / „die armen Siechen oder gute Leut“: W. gen Rhein-Sieg-Kreis noch Waldorf, Roisdorf, evtl. Drösser, Blätter zur Geschichte der Stadt Wesseling, Heft 1, Wesse- Sechtem und (recht gut dokumentiert) Siegburg.51 ling 1999, S. 3. – Zu dem nachfolgend zitierten Beleg aus dem Jahr 1654 („auffm Malatzberge oberhalb Coblenz“) siehe: H. E. Kubach Erweitern wir den Radius, dehnt sich das Netz an u. a. (Bearb.), Die Kunstdenkmäler des Landkreises Koblenz, Düssel- Siechenhäusern noch mehr. So gab es einmal ein dorf 1944, S. 186. Es handelt sich um die Inschrift auf einem nach 1847 gestohlenen Kelch, den eine Sophia Fischerin in Auftrag gege- um 1230 urkundlich belegtes Melatenhaus in Brühl- ben und der früheren Siechenkapelle St. Alexius „auf dem Malatz- Heide (historisch: „Merrig“), in unmittelbarer berg“ geschenkt hatte. Nachbarschaft zum ehemaligen Zisterzienserinnen- 50 Vgl. u. a. die Kartenskizze „Siechenhäuser und Verkehrsstraßen im Rheinland“: W. Frohn (wie Anm. 16), S. 32. – Nach heutigen Er- Kloster Maria in den Benden, in der Nähe der Lu- kenntnissen ist diese 1933 publizierte Karte ergänzungsbedürftig. xemburger Straße (archäologisch: „Agrippastraße“) 51 Zu Siegburg (Leprosenhaus als solches ab 1518 dokumentiert; dor- 52 tige Siechen indessen schon ab 1428 nachweisbar) siehe M. Uhr- von Köln nach Zülpich. Der dortige Straßenname macher, S. 279 (dort mit weiterführenden Literaturhinweisen). Das „Siegesbach“ (= Siechenhausbach) deutet noch ana- Siegburger Melatenhaus stand „vor dem Holztor am Zinkelpütz“. log etwa zum Namen der Roisdorfer „Siegesstraße“ 52 F. Wündisch, Bender Urkundenbuch. Quellen zur Geschichte des Cistercienserinnenklosters St. Maria in den Benden, Brühl 1979, S. 1, (= Siechenhausstraße) auf die frühere Existenz die- Nr. 2. ser Institution. An der geschichtsträchtigen „Krö-

66 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 nungs-“ bzw. „Heerstraße“ zwischen Sinzig und Aa- chen lagen Leproserien in der alten Kaiserstadt, in

Dürwiss, Eschweiler, Düren-Mariaweiler (an einem Foto: HB, 2016 früheren Rur-Übergang) und in Düren selbst, in Ja- kobwüllesheim und Rövenich (etwas abseits dieser Fernverbindung), Rheinbach, Eckendorf und Sin- zig (an der Mündung der Ahr in den Rhein).53 Am Niederrhein gab es zahlreiche weitere Melatenhäu- ser, etwa in Büderich, Wittlaer, Orsoy, Uerdingen, Angermund, Duisburg, Wesel, Xanten, Rees, Em- merich und abseits des Stroms in Kleve, Goch, Mön- chengladbach-Wickrath, Oestrich, Oerath und Un- terwestrich bei Erkelenz, Kempen, Kevelaer, Moers, Waldfeucht, Jülich-Koslar, Wachtendonk, Dülken, Viersen, Dinslaken und Leverkusen-Opladen. Die Vielzahl dieser rheinischen Leproserien bekräftigt unsere Annahme, in Bergheim an der Sieg habe es in früheren Jahrhunderten ebenfalls einmal ein Me- latenhaus gegeben. Dieser Einrichtung könnte – rein geografisch betrachtet – durchaus eine Art Brücken- funktion zwischen Siegburg (dem dort einst existie- renden Siechenhaus „am Zinkelpütz“ vor dem nicht mehr bestehenden Holztor) und Bonn, im damals topografisch noch ganz anders strukturierten Be- reich der unteren Sieg und deren Mündung in den Rhein in Mondorf (= „Mündungs“-Dorf), zugespro- chen werden. Dann könnte der Melatenkotten eine schwerpunktmäßige Versorgungsstation für diesen geografischen Raum gewesen sein, sozusagen „zu- ständig“ für die Ortschaften und Siedlungsplätze der Figur des heiligen Lazarus in einer Bildstocknische an der näheren Umgebung (Mondorf, Rheidt, Müllekoven, Ostwand der Lazarus-Kapelle in Bonn „auf der Höhe“. Unter Eschmar, Meindorf usw.). der polychromen Statue befindet sich der Text eines Bitt­ gebets sowie ein historischer Opferstock für die Leprosen. Die relativ dichte Folge an Melatenhäusern an wichtigen Verkehrswegen, d. h. an Flüssen, Fluss- mündungen und überörtlichen Straßen (Fernhan- Zitats soviel wie: „Du kannst mich mal …!“ Der am delswegen, Heerstraßen, Pilgerrouten), ist leicht er- Ufer vertäute Siechennachen musste erst einmal an- klärbar, denn in deren jeweiligem Verlauf bewegten geschoben werden, damit er ins tiefere Fahrwasser sich viele Menschen, die man anbetteln konnte. Das gleiten konnte. Diese Aufgabe war natürlich höchst Erheischen von Almosen bedeutete nämlich für die unangenehm, weil der Anschieber, der dem Boot Leprosen eine keineswegs gering sprudelnde Ein- „ene Däu“, also einen Schubs zu geben hatte, sich ja nahmequelle. An einigen Flüssen wurden hier und ein Stück weit in die Fluten begeben musste. Der im dort sogar so bezeichnete „Siechennachen“ einge- Nachen sich Befindende drückte wohl mit diesen setzt. Mit diesen flachen Kähnen konnte man sich Worten ursprünglich im Sinne einer Aufforderung den vorbeifahrenden Schiffen nähern und mit einer oder eines Befehls aus, dass sein Kompagnon zwar langen Stange, an deren Ende ein Korb angebracht das Boot anschieben, indessen beileibe nicht mit- war, Gaben einholen. Die rheinische Redensart fahren durfte. Wie nach einem längst geflügelten „enem de Naache däue“, also wörtlich „einem den Nachen anschieben“, könnte in diesem Zusammen- hang ihre Wurzeln haben. Im übertragenen Sinn ist 53 W. Janssen, „Die Aachen-Frankfurter Heerstraße“, in: Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern (hrsg. vom Römisch- mit dieser Ausdrucksweise oft eine Ablehnung, ein Germanischen Zentralmuseum Mainz, Bd. 25), Mainz 1974, S. 178 – Sich-Verwahren gegen ein Ansinnen gemeint: „Du 181. Janssen stellt fest: „Charakteristisch sind (…) die zahlreichen Siechen- und Leprosenhäuser, die an besonders wichtigen Stellen kanns me (ens) de Naache däue“ heißt nämlich im die Straße säumten, z. B. an Kreuzungen und Flussübergängen“ (S. schlimmsten Fall im Sinne des Goetheschen Götz- 180).

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 67 Die große „auf der Höhe“ gelegene Bonner Le- proserie „unterhielt bei Grau-Rheindorf einen Sie-

Foto: HB, 2016 chennachen“, der im 17. Jahrhundert für zwölf und später für vier Reichsthaler verpachtet wurde.54 Sol- che dem Erbetteln von Almosen dienenden flachen Boote sind u. a. auch in Bingen, Koblenz, Wesseling (1650 wird der dortige Nachenmann lateinisch als „Nauclerus“ bezeichnet) und Rodenkirchen be- zeugt. So bestand 1582 das Rodenkirchener Mela- tenhaus aus sechs Pfründnerwohnungen und einem eigenen „Nachenmannhaus“.55 Auch in Bergheim, im Zwickel zwischen Sieg und Rhein, ist das frü- here Vorhandensein eines Siechennachens etwa im Bereich des „Bergheimer Fahrs“ vorstellbar. Denn was im nahen Grau-Rheindorf möglich war, konnte doch auch für das Dorf an der Sieg gelten. Immer- hin war die Sieg bis ins 19. Jahrhundert hinein von der Mündung bis Eitorf schiffbar, und in alter Zeit bestand hier am Fluss sogar eine gut dokumentierte Zollstation. Möglicherweise haben die in der Nähe lebenden Leprosen in irgendeiner Form sogar von dieser Einnahmequelle indirekt profitiert.

Ob und in welcher Weise ein „transfluvialer“ Kontakt zwischen dem Bonner Siechenhaus „auf der Höhe“ und der rechten Rheinseite bestand, wissen wir nicht. Das von Bergheim aus gesehen nächste Melatenhaus Richtung Norden befand sich in (Köln-) Deutz; in südlicher Richtung lag eines in Ramersdorf. Der 1726 belegte Flurname „am Siech- haus“ ist als Reminiszenz an ein solches zu werten. Die Leproserie „gehörte vermutlich der Kommende in Ramersdorf“ 56, die einmal „ein Haus nebst Stal- Farbige Statue des „armen Lazarus“ im Inneren der Bonner lung und Scheune besaß. (…) Es wurde unter dem Lazarus-Kapelle „auf der Höhe“. Lazarus ist der bekannteste Namen ‚Lazarethhaus‘ bekannt.“ 57 Damit kennen Schutzheilige der an Lepra erkrankten Menschen. wir immerhin die vom biblischen Personennamen Lazarus abgeleitete Bezeichnung dieser einstigen Institution, in deren Nähe die Vorübergehenden ein Wort des Terentinius Maurus (3. Jahrhundert) Bü- Scherflein in einen Spendenbehälter zur Unterstüt- cher („libelli“), so haben auch Redensarten durch- zung der Leprakranken werfen konnten. Wiederum aus ihre Schicksale („fata“)! ist es eine ebenfalls 1726 belegte Flurbezeichnung, „am Opferstock“, die genau auf dieses nicht unbe- deutende Detail hinweist.58 Während beispielsweise die bedeutendste rheinische Leproserie, „Melaten“ 54 W. Frohn, S. 40; K. Hoch, Grau-Rheindorf. Heimatbuch eines Bon- ner Vororts, Bonn 1949, S. 175. (heute ein weitläufiger Friedhof) in Köln, die gleich- 55 M. Uhrmacher, Leproserien im Mittelalter und früher Neuzeit (Ge- namige in Aachen sowie diejenige in Bonn „auf der schichtlicher Atlas der Rheinlande, Reihe VII, Beiheft 5), Bonn 2000, S. 7 – 10 und S. 15 – 16, hier S. 15. – Zum 1650 belegten Wes- Höhe“ außerordentlich dicht und umfänglich in der selinger „Nauclerus“ = ‚Nachenmann‘ siehe: J. Dietz, Wesseling. Ein einschlägigen Spezialliteratur dokumentiert sind, Heimatbuch, Bonn 1962, S. 227. liegen – wie hier – im Einzelfall nur ganz spärliche 56 J. Bücher, Flurnamen und Eigentumsverhältnisse im Süden von Beu- el (Studien zur Heimatgeschichte des Stadtbezirks Bonn-Beuel, Heft Hinweise vor, die in wenigen Zeilen zu verarbeiten 19), Bonn 1974, S. 53, Nr. 374. sind. 57 G. H. Chr. Maaßen, Geschichte der Pfarreien des Dekanates Königs- winter (Geschichte der Pfarreien der Erzdiöcese Köln, Bd. 28), Köln 1890, S. 183 (bedauerlicherweise ohne Quellenangabe). Um dieses skizzenhafte Kapitel zu beschlie- 58 J. Bücher (wie Anm. 56), S. 45, Nr. 294. ßen, und damit wir nicht allzu weit von dem in den

68 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Brennpunkt unseres Interesses gerückten Bergheim Typische „Lazarus-Klapper“, abdriften, werfen wir noch einen Blick auf ein be- mit der die Leprakranken reits kurz thematisiertes Signalinstrument, das der sich in der Öffentlichkeit Fachzeitschrift der in Münster-Kinderhaus seit 1984 bemerkbar machen mussten. beheimateten „Gesellschaft für Leprakranke e. V.“ Das Original befindet sich den treffenden Namen gegeben hat: „Die Klapper“. im Museum zu Aschaffenburg. Diese wissenschaftliche Institution betreibt ein Le- pramuseum in dem 1333 erwähnten einstigen „le- prosorium domus dicte tor kinderhus“. Die Lepro- sen wurden mitunter gern als „Kinder“ bezeichnet; daher der Name, der auf einen ganzen Wohnbezirk Münsters in Westfalen ausgedehnt wurde.59 Das Pe- riodikum „Die Klapper“ erscheint einmal jährlich seit 1986.

Neben der Klave, dem Horn und der Schelle, ist die Klapper das häufigste und im Grunde typi- sche Signalinstrument der Aussätzigen. Im Bereich des Kölner Melaten-Friedhofs, an der Ostwand und im Inneren der 1883 bis 1887 nach den Plänen von Heinrich Wiethase (1833 bis 1893) erbauten neugotischen Kapelle der Redemptoristen (Colle- Abb. aus G.H. Klövekorn, S. 65 gium Josephinum) in Bonn „auf der Höhe“ an der Kölnstraße, sowie an anderen Orten findet man Statuen, die „Klappermänner“ mit einer Lazarus- von acht Morgen Land die Rede, „so unterschied- klapper darstellen. In Bonn ist es der aus der Bibel liche Hausleuth von den Leprosen an sich verhan- bekannte Aussätzige, der „arme“ Lazarus, der als delt“. 64 Die bildhafte Bezeichnung „Klappermann“ ältester und vielleicht wichtigster Patron der Sie- ist als Flurname auch in Derichsweiler belegt, und chen (neben St. Georg, St. Jodokus, St. Leonhard, für Bendorf bei Koblenz, Helferskirchen im Wes- St. Alexius, St. Jakobus, St. Martin, St. Maria Mag- dalena, St. Elisabeth von Thüringen, St. Nikolaus, 59 Siehe den inhaltsreichen Faltprospekt des Lepramuseums der Ge- St. Ulrich, St. Katharina von Alexandrien, St. Qui- sellschaft für Leprakranke e. V., Kinderhaus 15 in 48159 Müns- rinus, St. Bartholomäus u. a.). Bonn hat das einzige ter / W. Lazarus-Patrozinium in der gesamten Erzdiözese 60 Nach den Angaben von H. Samson, Die Heiligen als Kirchenpatro- ne und ihre Auswahl für die Erzdiöcese Köln und für die Bistümer Köln; im südlichen Münsterland befindet sich die Münster, Paderborn, Trier, Hildesheim und Osnabrück, Paderborn 1523 geweihte Beckumer Siechenkapelle unter sei- 1892, S. 267. „Die Parabel vom armen Lazarus wurde häufig in den nem Schutz.60 Alte Bildwerke in Kirchen, Klöstern Kapellen der Leprosenhäuser dargestellt. Lazarus, mit Geschwüren bedeckt, liegt vor der Thür des reichen Prassers; Hunde belecken und Museen zeigen Leprosen mit ihrer „Lazarus- seine Geschwüre“ (ebendort). – Die Beckumer Leprosenkapelle klapper“. Der in Düsseldorf geborene und in Paris stand außerdem noch unter dem Schutz von St. Anna, St. Gertrud und St. Quirinus (vgl. M. Uhrmacher, wie Anm. 7), S. 211. Bei Be- gestorbene Schriftsteller Heinrich Heine (1797 bis ckum fließt wie in Brühl-Heide ein „Siechenbach“. Dieser Gewäs- 1856) hat ihr sogar ein kleines literarisches Denk- sername deutet auf die frühere Beckumer Leproserie, die nach M. Uhrmacher „möglicherweise“ bereits vor 1437 vorhanden war (si- mal gesetzt. Zweimal evoziert er nämlich in einer cher bezeugt ist sie 1487). düsteren Vision („in meinen trüben Nachtgesich- 61 H. Heine, „Geständnisse“, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, München ten“) die akustische Vorstellung der „knarrenden 1969, S. 795; vgl. S. Winkle, S. 41. 61 62 Stadtarchiv Bornheim, Sammlung Norbert Zerlett: Bd. 392 (Ue- Töne der Lazarusklapper“. So wie der einstige dorf / Flurnamen), Blatt 45. „Schellenpfad“ an der Bonner Leproserie „auf der 63 R. W. Breuer, Hersel am Rhein, Bd. 1, Bonn-Buschdorf 1996, S. 214. Höhe“ seinem Namen nach auf die dort lebenden Der von Breuer angekündigte Quellenband (Bd. 2), wo ein Nach- weis dieser Angabe erfolgen soll, ist bisher noch nicht erschienen. Kranken, die „Schellenmänner“, verwies (siehe wei- – Die alten Roisdorfer Flurbezeichnungen „Klapperbüsch“, „Klap- ter oben), so gab es in der auf Bornheim zu sich er- pertau“ und „Klappertasche“ (Stadtarchiv Bornheim, Sammlung streckenden Feldgemarkung von Uedorf den 1790 Norbert Zerlett, Nr. 384: Roisdorf, Blatt 88) sprechen für sich. 64 Landesarchiv NRW (vormals Hauptstaatsarchiv Düsseldorf), Kur- und noch 1857 belegten „Klappermannspfad“, der köln, Amt Bonn, Description 1659 / 60; zum Uedorfer Siechenhaus 1892 in „Mittelstraße“ umbenannt wurde.62 Für siehe auch: H. Bursch, Uedorf am Rhein. Eine heimatkundliche Darstellung aus Anlass der 850jährigen Ersterwähnung, Bornheim- 1629 ist mit Blick auf Uedorf der Flurname „uff Uedorf 1993, S. 43 – 45; ders., „Lepra, Aussätzige und Siechenhäuser dem Clappermann“ nachweisbar,63 und 1659 ist im Vorgebirge“ (wie Anm. 1), S. 31.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 69 Nicht zu dieser bedeutungsmäßigen Gruppe zählen nach Adam Wrede die Kölner Straßen- namen „Klappergasse“ (13. Jahrhundert „claper- H. Klövekorn, S. 73 gazze“) und „Im Klapperhof“, die an den in der Domstadt früh belegten Familiennamen „Klapper“

Abb. aus G. anschließen, der „nach 1600 in Köln weiterhin vor- kommt.“ 67 Als museales Ausstellungsobjekt ist eine Siechenklapper im Museum von Aschaffenburg zu sehen.68 Aus dem Jahr 1631 stammt eine Mit- leid erregende Darstellung des „Lazarus-Klapp“ von Rembrandt.69 Wie im Falle der Leprosenschel- len, so ließen sich auch mit Blick auf die entspre- chenden Klappern noch etliche weitere Beispiele anführen.

Die Verbreitung der Lepra und der Siechenhäuser in Europa

Im 19. Jahrhundert gab es in Europa noch verein- zelte vom Aussatz heimgesuchte Landstriche, vor allem in Griechenland sowie im Baltikum, auf Is- Bettelnder Leprose auf der Straße (Ausschnitt aus einem land, in Teilen Skandinaviens, vor allem in der Ge- Ölgemälde aus dem 15. Jahrhundert). gend der südnorwegischen Küstenstadt Bergen, wo es heute ein Lepra-Museum gibt. Hier entdeckte 1873 der norwegische Arzt und Botaniker Ger- terwald sowie Aachen ist jeweils der Name „Klap- hard Henrik Armauer Hansen (1841 bis 1912), der pergasse“ dokumentiert.65 Auf das „Klapperfeld“ in im Lepra-Stift St. Jörgen wirkte, den Erreger dieses Frankfurt am Main wurde im Zusammenhang mit Seuchenbazillus. Deshalb wird die gefährliche In- einer dort dereinst einmal existierenden Leproserie fektionskrankheit in der medizinischen Fachspra- bereits hingewiesen. Im Villewald auf der Hochflä- che auch als „Hansen-Krankheit“ / „Morbus Han- che des Vorgebirges, zwischen Merten und Weilers- sen“ bezeichnet, während der Volksmund neben wist, liegt eine Buschparzelle, die 1718 als „an der dem Wort „Aussatz“ den seit dem 10. Jahrhundert Klapper“ namentlich belegt ist. Franz Levenkaul nachweisbaren Begriff „Miselsucht“ kennt (vgl. den und Hans Meyer, die diesen Namen verzeichnen, Beleg in dem unserer Abhandlung vorangestellten bemerken dazu treffend: „In der Nähe auf Weilers- Zitat aus dem mittelalterlichen Versepos „Der arme wister Gebiet heisst es: am Siechenbrunnen; 1727 Heinrich“ von Hartmann von Aue: „miselsuht“). am Siechenhaus und Seygen-Acker. In diesem Zu- Endgültig besiegt ist sie auch heute noch nicht. Als sammenhang lässt sich hier an ein Haus für anste- Erreger der Lepra gilt ein säurefestes Stäbchen, das ckende Krankheiten denken, dessen Insassen sich biologisch und morphologisch dem Tuberkuloseba- mit einer Klapper bemerkbar machen mussten.“ 66 zillus ähnelt. Das „Mycobacterium Leprae“ befällt die Enden der Nervenstränge und ruft grausige Ver- stümmelungen der Gliedmaßen und Hautflecken hervor. Übertragen wird die Krankheit durch engen 65 H. Dittmaier, Rheinische Flurnamen, S. 144. 66 F. Levenkaul, H. Meyer, Flur- und Straßennamen in Merten, Merten Hautkontakt und Tröpfcheninfektion. Schon in der o. J. (1996?), S. 46, Nr. 255; zum ehemaligen Leprosorium in Wei- Antike bekannt und beispielsweise im Alten und lerswist: H. Bursch, „Im Reigen der rheinischen Leproserien“ (wie Anm. 1). Neuen Testament der Bibel an etlichen Stellen unter- 67 A. Wrede, Neuer Kölnischer Sprachschatz, Bd. 2, 8. Aufl. Köln 1981, schiedlich thematisiert, wird die Krankheit ab dem S. 43, s. v. „Klapperhoff“ und „Klapperjaß“. Mittelalter zu einer neuen, lang anhaltenden Bedro- 68 Aus unterschiedlichen Blickwinkeln abgebildet in den Arbeiten von G. H. Klövekorn (S. 65) und S. Winkle (S. 50). Eine dreiblättrige hung. Manchmal hat ihr die noch schlimmere Pest, Siechenklapper (Nachbildung) im Lepramuseum Münster-Kinder- als „Geißel Gottes“ und „schwarzer Tod“ gefürchtet, haus sowie eine sechsblättrige so genannte „Holz-Rite“ (Waldburg- den Garaus gemacht. Damit wurde – im übertrage- Zeil’sches Gesamtarchiv in Schloss Zeil, Leutkirch) sind abgebildet in der Doktorarbeit von M. Uhrmacher, S. 316. nen Sinn bildhaft formuliert – zu manchen Zeiten 69 Abgebildet in der Studie von G. H. Klövekorn, S. 50. der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. „Recht

70 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 früh wurde in Spanien das erste Leprosorium vom Nationalhelden El Cid (…) begründet. Im Jahr 1226 gab es in der gesamten christlichen Welt ungefähr 19.000 Lepraheime.“ 70 El Cid, eigentlich Rodrigo Ruy Díaz de Vivar, genannt „el Campeador“ = der Abb. aus S. Winkle, S. 18 Kämpfer (1043 bis 1099), der auf seinem Weg in die Verbannung einem Aussätzigen Hilfe gewährte, rief im Jahr 1067 im nordspanischen Palencia die Lep- roserie „San Lázaro“ ins Leben. Noch heute befindet sich dort die Pfarrkirche unter dem seit dem Mittel- alter tradierten Patroziniumstitel. Vom 11. bis zum 15. Jahrhundert gab es in Spanien etwa 200 Melaten- häuser, von denen viele unter dem Schutz des heili- gen Lazarus standen. Dem Namen dieses Heiligen ist auch die Bezeichnung „Lazarett“ zu verdanken, die über das französische „lazaret“ auf das italieni- sche „lazzaretto“ (nach der venezianischen Quaran- täne-Insel „Lazzaretto Vecchio“) zurück geht. In der französischen Sprache wird die Lepra volkstümlich als „mal de Saint-Lazare“ und „mal de Saint-Ladre“ bezeichnet.

Aus dem Orient nach Europa (neu) einge- Ein Leprose mit Signalhorn („Hornbruder“). Der Bild­ schleppt wurde die Lepra in den Kreuzzügen vom ausschnitt stammt aus dem Evangeliar Kaiser Ottos III. 11. bis zum 13. Jahrhundert. Schon vor 1142 wurde vom Ende des 10. Jahrhunderts, das sich in der Bayerischen in Jerusalem ein Leprosenspital errichtet. Um Staats-Bibliothek befindet. 1250 ist für diese Seuche, gegen die damals kein Kraut gewachsen zu sein schien, erstmals die sy- nonyme Bezeichnung „Uzsaz“ (Aussatz) belegt.71 weil immer wieder neue Leprawellen heranbran- Bereits im frühen Mittelalter gab es vereinzelt deten. Nach den Forschungsergebnissen von Leproserien, wie die älteste vorwiegend auf das Wilhelm Frohn gab es – bezogen auf die Zeit um Rheinland bezogene Urkunde aus dem Jahr 634 1225 – allein in Bayern gut 200, in Baden 67 und für die Bischofssitze Maastricht, Metz und Ver- in Sachsen 32 Siechenhäuser. Für das Territorium dun bezeugt.72 Mittel­alterlich belegt sind u. a. die des heutigen Staates Belgien nennt er 46, für die Siechenhäuser in Echternach (922; dort gibt es heute noch eine „Rue des Bons Malades“), Winkel im Rheingau (1109), Köln (Melaten: 1180), Mal- 70 S. Winkle stützt sich mit diesen Angaben u. a. auf den Begründer der Zellularpathologie, Hygieniker und bedeutenden Medizinhis- medy (vor 1188, dem Datum der Konsekrierung toriker Rudolf Virchow (1821 bis 1902): Über Hospitäler und Laza- der Leprosen­kapelle „Sankt Maria Magdalena“), rette, Berlin 1872. Ichendorf (zwischen 1196 und 1226), Brühl am 71 E. Seebold (wie Anm. 42), S. 67, s. v. „Aussatz“. 72 M. Uhrmacher (wie Anm. 7), S. 98. Rand der Ville (vor 1230) Aachen (1230), Stadt 73 Angaben nach W. Frohn, G. H. Klövekorn, M. Uhrmacher u. a.; zu Luxemburg (1238), Stavelot / Stablo (1247), Soest Stablo in der Wallonie (Belgien): P.-A. Courtejoie, Stavelot. Ses cha- (1251), Koblenz („leprosis in Loupach“, in der pelles et ses églises, Stavelot 1995, S. 14; zu Malmedy: J. Stiennon, Étude critique des deux premiers actes relatifs à la léproserie de Mal- Nähe des heutigen Schlosses Stolzenfels: 1267), medy, Bruxelles 1950, S. 449; zu Nieder-Wesseling: W. Drösser (wie Trier-Biewer (1283), Wetzlar (1285), Eltville (vor Anm. 49), S. 20: Die Rede ist hier im Plural von „Siechenhaußer“ und „Siechenhoisteren“ (Belege aus einem 1488 verfassten Weistum 1313), Elvingen / Elvange (Luxemburg, 1317), für Nieder-Wesseling). Das Wesselinger Leprosorium (z. B. 1619 als Dortmund (1319), Essen (1332), Bonn („auf der „ufm Sieggenhause zu Weßling“ erwähnt) lag in Rheinnähe, un- weit des Godorfer Richtplatzes. Belegt sind das „unterste“ und das Höhe“: 1340), Remagen (1347), Düren-Maria- „oberste“ Siechenhaus. Siehe dazu: J. Dietz, Wesseling (wie Anm. weiler (1358), Emmerich (1364), Kirn (1388), Rö- 55), S. 226 – 228. Bei Dietz findet sich auch ein auf den 16. Juli 1596 venich (1479), Weilerswist (1485), zwischen For- datierter Bittbrief, den der Leprose Hilger Vasbender an den Pfand- herrn von Orsbeck geschrieben hatte. In diesem Schreiben nennt nich und Namedy (1486) sowie Nieder-Wesseling sich der Verfasser selbst „armer Lazarus“ und „armer Vnderthe- (1488).73 In den nachfolgenden Jahrhunderten nigster Hilger Vasbender Lazarus vfm Seichhaus zu Wesselingh“ (S.227f.). Die Formulierung „vfm Seichhaus zu Wesselingh“ bietet entstanden im deutschsprachigen Raum nahezu eine Parallele zu der Bergheimer Kreuzinschrift „in der Sch(e)llen flächendeckend Hunderte weitere Melatenhäuser, zv Berchem“.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 71 gearbeitete und mannigfaltige Gesichtspunkte be- rücksichtigende Statuten77 Einblicke in die Lebens- welt der dort untergebrachten Leprosen. Kirchliche und weltliche Aufsichten, klösterlich-monastische Anbindungen, selbstorganisierte (Lazarus-)Bru- derschaften oder Gilden sowie andere, bisweilen

Abb. aus H. Brodeßer, Nr. 309 S. 171, gemischte Organisationsformen sind beobachtbar. Großen Siechenhäusern standen ganz schlichte Feldleproserien mit nur wenigen Insassen gegen- über. Wenn auch zum Teil arg lückenhaft, so eng- maschig war bisweilen das Netz der Unterkünfte für Leprakranke im Verlauf überörtlicher und stark frequentierter Verkehrswege. Verhältnismä- ßig wenige Leproserien gab es im Hunsrück (z. B. in Simmern und Kirn), in der Eifel (etwa zwischen Berg und Nideggen, in Berndorf, Monschau, Mayen und Keldung), im Westerwald (beispielsweise in Das kleine Grabkreuz für die 1665 verstorbene Anna Dahmen Altenkirchen) sowie im Bergischen Land (u. a. in aus Bergheim, kurz nach der Entdeckung. Die Inschrift mit der Burscheid). Angabe „in der Sch(e)llen zu Berchem“ ist sehr gut lesbar. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verebbte in Deutschland und weiten Teilen Europas Schweiz 198, für das Herzogtum Luxemburg 13 nahezu schlagartig aus bis heute nicht restlos ge- und für Frankreich etwa 2.000.74 In Frankreich klärtes Gründen die Lepra, und die letzten damals deuten zahlreiche Ortsnamen noch auf das Vor- noch bestehenden Siechenhäuser wurden ziemlich handensein einer früheren Leproserie hin wie genau ab 1716 bis auf einige Ausnahmen endgültig beispielsweise „La Malad(e)rie“, „La Maladière“, geschlossen bzw. niedergelegt. Zuletzt hatten sich „Levroux“ und „Saint-Lazare“ (letzteres auch ein in manchen dieser Gebäude Wegelagerer und Ver- Stadtviertel von Paris).75 Im Rheinland wurden brecher aller Couleur eingenistet, die in der fach- nach Martin Uhrmacher allein zwischen 1351 wissenschaftlichen Forschung als „Siechenbanden“ und 1550, also in einem Zeitraum von ziemlich bezeichnet werden, denen man den Prozess machte. genau zwei Jahrhunderten, insgesamt 63 Leprose- Teile von Leprosengebäuden haben bis heute rien errichtet.76 Bergheim an der Sieg ist hier mög- die Zeit überdauert, etwa in Chièvres (Belgien), licherweise nachzutragen. Meursault, Varzy (beide in Burgund / Frankreich), Oppenheim, Essen und Rövenich bei Zülpich. Vor Jedes Siechenhaus war in irgendeiner speziellen allem existieren heute noch in Deutschland und Form organisiert. Vielfach erlauben minutiös aus- einigen anderen Ländern Europas etliche Siechen- haus-Kapellen (beispielsweise in Köln auf dem Me- latenfriedhof, in Trier-Biewer, Weißenthurm / Ur-

74 W. Frohn, S. 152 f. – Bekannte Leproserien im heutigen Belgien be- mitz, Essen, Gardelegen, Stendal, Malmedy und fanden sich in Lüttich / Liège („Cornillon“: bezogen auf einen örtli- Stavelot). chen Flurnamen), Chièvres, Mons, Malmedy, Stablo / Stavelot, Na- mur, Tongern, Saint-Antoine, Tongre-Notre-Dame, Terbank, Gent und Brügge. Die im vorliegenden Aufsatz beleuchteten viel- 75 H. Gröhler, Über Ursprung und Bedeutung der französischen Orts- fältigen Fakten, die naturgemäß häufig statistischer namen, 2. Teil (Sammlung romanistischer Elementar- und Hand- bücher, 5. Reihe: Untersuchungen und Texte, 8), Heidelberg 1933, S. Natur sind, mögen in ihrer Gesamtheit dazu bei- 389. Gröhler nennt aus der großen Fülle entsprechender Toponyme tragen, in der zukünftigen Forschung die frühere nur wenige Beispiele, von denen es auch in Belgien einige gibt, z. B. Existenz eines „Leprosorium Bergheimiensis“ weiter „Ladrerie“ und „Malades“ (J. J. Jespers, Dictionnaire des noms de lieux en Wallonie et à Bruxelles, Brüssel 2005, S. 360 und S. 394: zu erhärten und eventuell unumstößlich dingfest dort mit sachbezogener allgemeiner Erklärung unter dem Lemma zu machen. Zu Beginn unserer Ausführungen war „Maladerie“). 76 M. Uhrmacher (wie Anm. 7), S. 100. die Rede von Zufallsfunden. Weitere zufällige oder 77 Für Frankreich liegt eine diesbezüglich hervorragende Studie aus gezielt aufgespürte archäologische Funde sowie ur- der Feder von L. Le Grand vor: Statuts d‘Hôtels-Dieu et de Lépro- kundliche und aktenmäßige Entdeckungen sind mit series. Recueil de textes du XIIè au XIVè siècle (collection de textes pour servir à l‘étude et à l‘enseignement de l‘histoire, tome 32), Pa- Blick auf das für Bergheim anvisierte Melatenhaus ris 1901; für das Rheinland ganz ausführlich: W. Frohn, S. 263 – 295. höchst willkommen!

72 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Ausblick: Die Lepra heute in Belgien stammende Damian de Veuster (1840 bis 1889) von Papst Benedikt XVI. zur Ehre der Altäre Die Lepra ist eine auch im Jahr 2020 keineswegs aus- erhoben. Der seit 1860 dem Orden der „Patres vom gestorbene Seuche. Am letzten Sonntag im Januar Heiligsten Herzen“ (SSCC) angehörende de Veuster (in Erinnerung an den Tag der Ermordung des An- ging 1863 als Missionar nach Hawaii und ließ sich führers der indischen Unabhängigkeitsbewegung, zehn Jahre später bei den Aussätzigen auf Molokai Mahatma Gandhi: 2. Okt. 1869 bis 30. Jan. 1948) internieren, denen er seine Liebe und pflegerische wird seit 1954 auf Anregung des Franzosen Raoul Fürsorge schenkte, bis er tragischerweise schließ- Follereau der „Welt-Lepra-Tag“ begangen, „um über lich selbst der Seuche zum Opfer fiel. Sein Leichnam die Krankheit aufzuklären und Spenden zu sam- wurde 1936 in sein Heimatland nach Löwen / Leu- meln. Jedes Jahr erkranken mehrere hunderttau- ven überführt.79 send Menschen neu. Jeder zehnte neue Leprapatient ist ein Kind. Zwei bis vier Millionen Menschen leben Am Marie-Adelaide-Lepra-Zentrum in Karat- mit leprabedingten Behinderungen. Lepra ist heute schi (Pakistan) wirkte ebenfalls äußerst segensreich zwar heilbar, doch werden viele auch ehemalige die Ärztin Ruth Pfau (1929 bis 2017), die während ei- Erkrankte immer noch stigmatisiert und ausgesto- nes Besuchs in Münster-Kinderhaus vor dem dorti- ßen.“ 78 Würzburg ist der Sitz der „Deutschen Lepra- gen Lepra-Museum in symbolträchtiger Weise eine und Tuberkulosehilfe e. V.“, die 1957 als „Deutsches „Lepra-Eiche“ pflanzte. Ruth Pfau lebte seit 1960 in Aussätzigen-Hilfswerk“ von einem Freundeskreis Pakistan, wo damals die Lepra besonders heftig wü- um Hermann Kober gegründet wurde. Besonders tete. Als Ordensfrau der „Gesellschaft der Töchter in Pakistan, Indien, einigen Ländern Afrikas (vor- vom Herzen Mariä“ und Medizinerin leitete sie das nehmlich in Äthiopien) und Lateinamerikas (in ers- von ihr begründete Lepra-Zentrum bis zum Jahr ter Linie in Brasilien) stellt die Seuche weiterhin eine 2013. Für ihre aufopferungsvolle und segensreiche ständige Bedrohung für viele in erbärmlichen Ver- Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Ihr hältnissen lebende Menschen dar. Den Pflegekräf- Ehrentitel lautet „Mutter der Leprakranken“. Die ten und der Ärzteschaft bedeutet sie nach wie vor pakistanische Regierung richtete ihr ein Staatsbe- eine besonders schwere, viel Empathie heischende berufliche Herausforderung. 78 „Info“-Kasten, in: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, Nr. 49 vom 9. Dezember 2016, S. 5. An dieser Stelle sollen in gedrängter Form zwei 79 Sehr lesenswert ist der Artikel von E. Läufer: „Als Priester freiwil- charismatische Persönlichkeiten genannt werden, lig unter Verbannten. Damian de Veuster in der Lepra-Hölle von Molokai“, in: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, Nr. 18 vom die sich mit ganzer Hingabe den Leprakranken wid- 7. Mai 2010, S. 14. Über de Veuster gibt es mittlerweile zahlreiche meten: Am 11. Oktober 2009 wurde der aus Tremelo Veröffentlichungen, darunter etliche in Buchform. Foto: HB, 2001

Die Kapelle der einstigen Leproserie bei Rövenich (Stadt Zülpich) mit der alten Gaststätte „zum Siechhaus“.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 73 gräbnis aus. Ihre letzte Ruhestätte fand Ruth Pfau, „Man möchte wünschen, dass für die große Zahl unter deren Namen in Würzburg seit 1996 eine der Leprosen, die es heute noch in der Welt gibt (…), Stiftung besteht, auf dem christlichen Friedhof von eines Tages der Weg gefunden wird, sie von ihrer Karatschi.80 Krankheit zu befreien.“ 82 Bis dahin scheint es je- doch noch ein langer und beschwerlicher Weg zu Wie sieht es in Europa aus? Das „Sanatorio San sein. Francisco de Borja“ ist die letzte ausschließlich für Leprapatienten zuständige Heilanstalt unseres Im Verlauf und besonders gegen Ende der nach Kontinents. Sie liegt etwas außerhalb der spani- verschiedenen Seiten hin ausgreifenden Abhand- schen Ortschaft Fontilles in der Gegend von Ma- lung haben wir uns von Bergheim an der Sieg ent- rina Alta (Provinz Alicante). Gegründet wurde das fernen müssen, um einen für unsere Argumentation Sanatorium 1909 von dem Arzt Jaime González plausiblen Kontext zu schaffen. Wie anfangs betont, Castellano. Obgleich diese Krankheit weltweit ge- ist ein unumstößlicher Beweis für eine frühere hier sehen signifikant zurück gegangen ist, besteht wei- einmal bestehende Leproserie bisher nicht zu er- terhin latent die Gefahr ihres erneuten (regionalen) bringen; gleichwohl spricht nach dem Gesagten Ausbruchs. – „In den letzten Jahrzehnten hat sich nicht wenig für ihr einstiges Vorhandensein. in der ärztlichen Einstellung gegenüber der Lepra ein Wandel vollzogen, da man durch die Entde- ckung von Medikamenten die rechtzeitig erkannte Anregung Krankheit zum Stillstand bringen und die physi- sche Entstellung sowie die Ansteckung verhindern Vielleicht ist es einmal möglich, in der Nähe des kann.“ 81 Vor über einem halben Jahrhundert, 1966, Bergheimer „Abgestorbenenkreuzes“ von 1686 und hatte der hier mehrfach zitierte Arzt und Medizin- des Grabkreuzchens für Anna Dahmen aus dem historiker Gregor Heinrich Klövekorn formuliert: Jahr 1665 eine Hinweistafel anzubringen, auf der die beiden Denkmäler beschrieben und kommentiert werden, wobei die jeweiligen hochinteressanten In- 80 Siehe etwa S. Ludwig: „Rituale bleiben, Pläne nicht. Ein Tag im Leben der Lepraärztin Ruth Pfau“, in: Kirchenzeitung für das Erz- schriften zu transkribieren wären. Den unter Vorbe- bistum Köln, Nr. 49 vom 9. Dezember 2016, S. 4 – 5. Anlässlich des halten zu formulierenden Hinweis auf ein Siechen- Todes von Ruth Pfau im Jahr 2017 haben vor allem die Printmedien des In- und Auslands ausführlich berichtet. haus, das sich möglicherweise einmal in früheren 81 S. Winkle, S. 45; dazu auch S. 1093, Anm. 137. Jahrhunderten in der Nähe befand, sollte man dabei 82 G. H. Klövekorn, S. 73. nicht unterlassen. z Zeichnung: HB, 2019

Die ehemalige Leproserie von Chièvres (Belgien).

74 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Beate von Berg und Petra Recklies-Dahlmann Moritz Kellerhoven (1758 – 1830) – Ein Altenrather am bayerischen Königshof Quelle: RKD Images, rkd.nl

Selbstbildnis Moritz Kellerhovens, Radierung ca. 1800, 16,2 x 12,7 cm, Staatliche Graphische Sammlungen München.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 75 Biographie mit Fragezeichen Oktober 1757 geboren worden sein. Dies wiederum passt nicht zu den Angaben im Familienbuch Alten- oritz Kellerhoven wurde als Sohn des Wirtes rath, da dort als einer seiner Brüder Johannes Paulus MWilhelm Kellerhoven und seiner Frau Juliane am 19. Mai 1757 getauft worden sein soll. (Er starb Schwamborn in Sand, einer Siedlung bei Altenrath, als Kind bereits am 11. August des gleichen Jahres.) die 1914/15 endgültig der Schießplatzerweiterung ge- Leider konnten, da wegen der Corona-Krise alle Ar- opfert wurde, geboren. Da sein Vater früh verstarb, chive zur Zeit der Texterstellung geschlossen waren, übernahm ein Onkel mütterlicherseits die Vormund- keine eigenen Recherchen durchgeführt werden. So schaft. Er war Geistlicher in Köln und wünschte sich bleibt eine spannende Frage offen, die sich hoffent- für seinen Neffen eine ähnliche Karriere. lich irgendwann befriedigend beantworten lässt.

Soweit die übereinstimmende Überlieferung zur Sicherer sind die biographischen Daten, soweit Herkunft und Jugend Kellerhovens. es Kellerhovens Münchner Zeit angeht: Dort heira- tete Moritz Kellerhoven, inzwischen Hofmaler bei Die Seiten im Kirchenbuch Altenrath zu den Kurfürst Karl Theodor, am 6. April 1788 Maria Lu- Geburten 1758 sind leider nicht mehr vorhanden, cia Bram, Tochter des „kurfürstlichen Controlleurs“ so dass das genaue Geburtsdatum nicht belegt ist. Wilhelm Bram und seiner Frau Willibalda. Allerdings gibt es seinen Sterbeeintrag im Kirchen- buch Unsere Liebe Frau, München: Dort heißt es, Ihr ältester Sohn Joseph Willibald wurde ein dass Moritz Kellerhoven, königlicher Inspektor und gutes Jahr später, am 27. April 1789 in Mannheim Professor am 15. 12. 1830 im Alter von 73 Jahren, geboren. Mannheim und nicht München, weil der zwei Monaten mittags 12 Uhr an Lungenlähmung Kurfürst nach einem Streit mit dem Münchner Rat verstarb. Rechnet man davon zurück, müsste er im seine Residenz kurzfristig an ihren früheren Stand-

Das Bild spiegelt einen kleinen Eindruck der einfachen Ver- hältnisse, aus denen Moritz Kellerhoven stammte. Haus in Sand bei Altenrath, vor 1915. Quelle: StadtarchivQuelle: Troisdorf .

Sterbeeintrag Moritz Kellerhoven im Kirchenbuch der Pfarrei Unsere Liebe Frau, https://data.matricula-online.eu/de

München, 1830. Quelle:

76 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 ort nach Mannheim zurückverlegte, bevor sie nur ein Jahr später wieder nach München umzog. Kel- lerhovens Sohn wuchs in München auf und wurde

Quelle: AKG-ImagesQuelle: Maler und Lithograph.

Neben dem Sohn bekamen Kellerhovens vier Töchter: 1793 wurde Franziska Kellerhoven geboren, die eine Stelle bei Hofe übernahm und Kammerdie- nerin bei Königin Karoline von Bayern (1776 – 1841) war. Maria Eva Lucia kam 1802 zur Welt, Augusta Georgia Ludovica 1803 und Carolina 1806.

Nachdem die Eltern, Lucia am 6. Dezember 1823 im Alter von 57 Jahren und Moritz 1830 verstorben waren, erhielten die drei jüngsten Töchter weiterhin Geld aus der Pension Kellerhovens, da sie noch „un- versorgt“ waren. Das traf besonders auf Augusta zu, die die Zuwendung lebenslänglich erhalten sollte, weil sie selbst erwerbsunfähig war. Weitere Kinder ließen sich nicht nachweisen, möglicherweise gab es aber welche, die das Erwachsenenalter nicht er- reichten. Häufig wird Moritz Kellerhoven ein wei- terer Sohn, Franz Kellerhoven (Köln 1814 – Köln 1872) zugeschrieben. Allerdings kommt dieses Kind Moritz Kellerhoven, Karoline von Bayern, Öl auf Leinwand, in Köln zur Welt. Lucia Kellerhoven wäre zum Zeit- 85 x 65 cm, o. J., Wittelsbacher Ausgleichsfonds München. punkt der Geburt bereits 48 Jahre alt gewesen.

Joseph Willibald Kellerhoven (1789 – 1849)

Er studierte ab 1809 Historienmalerei an der neu gegrün- deten „Königlichen Akademie der Bildenden Künste“ in München, vor allem bei seinem Vater und dem Sohn des Akademiedirektors Robert von Langer. 1814 stellte er im Rahmen der Münchner Kunstausstellung erstmals seine Werke einem größeren Publikum vor, darunter die Ge- mälde „Christus bricht das Brot“ und „Das Schweizer Mädchen“.

Zum 1. Januar 1819 übernahm er die Stelle eines Zeichen- https://matrikel.adbk.de

lehrers am Königlichen Gymnasium in Speyer. Noch vor Quelle: dem Umzug dorthin heiratete Joseph Kellerhoven Frie- Im Matrikelbuch der Akademie der Bildenden Künste derike Feiler, Tochter des preußischen Kriegsrates Fried- München ist Joseph Kellerhoven unter der lfd. Nummer 2 rich Feiler aus Berlin. Beide Söhne des Ehepaares starben als „Eleve“ im Fach „Historienmalerey“ eingetragen. bereits im Kindesalter: Johann Julius mit neun Wochen 1822, Moritz mit sechs Jahren im Jahr 1825. Im gleichen Jahr ging Kellerhoven an die in Speyer neu eröffnete Bau­ heim. Diese Ehe blieb kinderlos. Schon zwei Jahre später gewerbeschule. Zwei Jahre später starb seine Frau mit nur erlitt er einen Schlaganfall und starb nach langem Leiden 29 Jahren. 1839 wechselte Kellerhoven von der Baugewer- am 29. Juni 1849 in Speyer.1 beschule an das neu gegründete katholische Schullehrer­ seminar. 1840 heiratete der Witwer Elisabeth Werner, Tochter des Gutsbesitzers Peter Werner, aus Oberingel- 1 https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Kellerhoven

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 77 Aus der Provinz selte er an die Düsseldorfer Kunstakademie, um in die europäischen Kulturmetropolen unter deren Leiter, Lambert Krahe (1712 – 1790), seinen eigentlichen Wünschen entsprechend Male- Wie von seinem Onkel gewünscht, nahm Moritz rei zu studieren. Krahe, ein aus eher einfachen Ver- Kellerhoven wohl zunächst ein Theologiestudium hältnissen stammender Maler und Kunstsammler, in Köln auf. Nachdem sein Onkel aber 1775 gestor- hatte 1762 eine Zeichenschule gegründet. Wäh- ben war – Moritz war gerade 17 Jahre alt – wech- rend seiner langjährigen Aufenthalte in Italien, die

Eine gute Adresse: Die Kunstakademie Düsseldorf

Die Düsseldorfer Kunstakademie wurde 1773 durch Kurfürst des Wiener Kongresses 1815 kamen die Rheinlande und damit Karl Theodor (1724 – 1799) als Kurfürstlich Pfälzische Akade- auch Düsseldorf an Preußen. Friedrich Wilhelm III. (regierte mie der Maler-, Bildhauer- und Baukunst gegründet. Aufbau- 1797 – 1840) organisierte 1819 die Akademie als „Königlich- arbeit leistete Lambert Krahe (1712 – 1790), auf dessen Zei- Preußische Kunstakademie“ neu und sie zog in das Galeriege- chenschule die Akademie zurückgeht. Sein Nachfolger wurde bäude des ehemaligen Kurfürstlichen Schlosses. Neuer Direk- Johann Peter Langer (1756 – 1824, seit 1808 „von“ Langer). Er tor wurde Peter von Cornelius (1783 – 1867), der allerdings kämpfte zur Zeit der Napoleonischen Kriege, die auch am bereits 1824 nach München wechselte, wo ihm der bayerische Rheinland nicht spurlos vorübergingen, um den Erhalt der Kronprinz Ludwig bessere Bedingungen anbot. Einen Teil sei- Akademie. In seine Zeit fiel auch die Überführung der kur- ner Düsseldorfer Schüler nahm er mit. Nach einer kurzen In- fürstlichen Galerie nach München. Wertvolles Anschauungs- terimsverwaltung wurde 1826 Friedrich Wilhelm von Schadow material ging für die Schüler verloren. Mit den Beschlüssen (1788 – 1862) neuer Direktor der Düsseldorfer Akademie.

Lambert Krahe (1712 – 1790), Nachfolger Krahes wurde seit 1756 Leiter der Gemälde­ Johann Peter Langer (1756 – 1824, galerie in Düsseldorf, erster seit 1808 „von“ Langer). Direktor der Kunstakademie. Als Sohn des Gärtners des Grafen Gemälde Öl auf Leinwand von Hatzfeld auf Schloss Kalkum von Erik Pauelsen, 1781. hatte er bei Krahe studiert und 1778 einen Preis, verbunden mit wikipedia.org wikipedia.org einem Stipendium, gewonnen.

Quelle: Quelle: 1784 wurde er Professor an der Akademie, fünf Jahre später ihr Direktor. Porträt Langers gezeichnet von Marie Ellenrieder.

Friedrich Wilhelm III. Nach kurzer Interimsverwaltung (1770 – 1840) organisierte 1819 übernahm 1826 Friedrich Wilhelm die Akademie als „Königlich- von Schadow (1788 – 1862) Preußische Kunstakademie“ neu, die Führung der Düsseldorfer und sie zog in das Galerie- Akademie. Er setzte sich für eine gebäude des ehemaligen Verbesserung des Kunststudiums Kurfürstlichen Schlosses. und der dazugehörigen prak- wikipedia.org Ihr Direktor wurde Peter wikipedia.org tischen Ausbildung ein. Hoch­

Quelle: von Cornelius (1783 – 1867), Quelle: geachtet feierten die Künstler der bereits 1824 nach München wechselte. sein 25-jähriges Dienstjubiläum mit einem Schadowfest. Fotografie 1850, Repro: Franz Hanfstaengl. Schadowstraße, Schadowplatz, ein Schadowdenkmal und selbst ein Konsumtempel „Schadow Arkaden“ erinnern in Düsseldorf an ihn. Nach Krahe, Langer und Cornelius wurden immerhin Straßen in der Landeshauptstadt benannt. Porträt Schadows von Carl Christian Vogel von Vogelstein, 1821, Staatliche Kunstsammlung Dresden.

78 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 „Raubkunst“: Vom Rhein an die Isar

Die Düsseldorfer Bildergalerie des kurfürstlichen Hauses und später zum Oberaufseher der kurfürstlichen Samm- Pfalz-Neuburg wurde 1805/1806 im Zuge eines Länder- lung aufstieg. tausches, an dem sich auch das Königreich Preußen betei- ligte, von Düsseldorf nach München abtransportiert. Sie 1795 schaffte man die Kunstschätze wegen der anrücken- war damals weltberühmt mit einem Schwerpunkt auf der den französischen Revolutionsarmee nach Mannheim. Nach italienischen, flämischen und niederländischen Malerei der dem Friedensschluss von Lunéville kam die Gemäldegalerie Renaissance und des Barock. Als „kurfürstliche Galerie“ zurück nach Düsseldorf. Schon vor dem Ländertausch von galt zunächst nur das ab 1709 errichtete dreiflügelige Ga- 1805/1806 wies Kurpfalz-Bayern, das durch die Diplomatie leriegebäude auf der Südseite des Düsseldorfer Schlosses Maximilian Josephs zum Königreich Bayern aufstieg, sei- – einer der frühesten selbstständigen Museumsbauten ne Behörden an, die Sammlung der Düsseldorfer Galerie Europas. Die ausgestellte Gemälde­sammlung wurde als nach Schloss Kirchheimbolanden zu bringen. Von dort ge- „deutscher “ bezeichnet. langte sie später nach München. Immer wieder versuchte man erfolglos, die Sammlung zurückzuholen. Aufgrund des Die Wurzeln der Sammlung liegen in der Kurfürstlichen Staatsvertrages zwischen Preußen und Bayern im Jahre Sammlung von Johann Wilhelm („Jan Wellem“) von der 1870 musste Düsseldorf endgültig auf die Rückgabe der Pfalz, der die Kollektion in Düsseldorf erweiterte und ein kurfürstlichen Gemäldesammlung verzichten. Ausstellungsgebäude bauen ließ. Vermutlich überzeugte ihn der niederländische Porträtmaler Jan Frans van Dou- Die in Bayern verbliebene Sammlung bildet heute das Kern- ven davon, der für den Kurfürsten als Kunstagent tätig war stück der Münchner Pinakothek.

durch mehrere Gönner gefördert wurden, lernte Kurfürst Karl Theodor ihn 1756 als Leiter der kur- er bei verschiedenen Künstlern, erwarb großes fürstlichen Gemäldegalerie nach Düsseldorf berief. Renommee und konnte eine Sammlung von rund Ende der 1750er, Anfang der 1760er Jahre schuf er 15.000 Zeichnungen, 22.000 Druckgraphiken und daneben im Mannheimer Schloss das Deckenge- zahlreichen Gemälden zusammentragen, die als mälde im Bibliothekssaal und in Schloss Benrath Grundstock und Anschauungsmaterial der Zei- bei Düsseldorf die Deckengemälde in den Garten- chenschule dienten. Zu seinen Förderern gehörte sälen und im Belvedere. der Kardinal Alessandro Albani (1692 – 1779), der auch den deutschen Archäologen Johann Joachim Nachdem Moritz Kellerhoven den größten Teil Winckelmann (1717 – 1768) unterstützte. Schon in seiner Ausbildung in Düsseldorf absolviert hatte, dieser Zeit suchte Krahe italienische Gemälde für ging er nach Antwerpen, wo er sicherlich die Werke den pfälzischen Hof aus, so dass es nahe lag, dass der großen Meister der niederländischen Kunst wie

Heinrich Friedrich Füger – Der Kunstpapst

Heinrich Friedrich Füger war einer der bekanntesten deutschen Maler des Klassizismus. Der Pfarrersohn begann seine Ausbildung 1764 beim Hofmaler Nicolas Guibal an der Kunstakademie in Ludwigsburg. Ab 1769 setzte er in Leipzig seine Studien bei Johann Wolfgang von Goethes Zeichenlehrer Adam Friedrich Oeser fort. Anschließend ging er nach Italien, bevor er 1774 nach Wien

wikipedia.org umzog. Finanziert durch ein Stipendium verbrachte er mehrere Jahre in Rom. Im Auftrag der kaiserlichen Familie arbeitete er zwischen 1781 und 1783 in der Umgebung von Neapel. 1783 wurde er Vizedirektor an der Wiener Akademie, damals eine der führenden Kunst- akademien Europas. 1795 wurde er deren Direktor. Quelle: Peter Geymayer, Heinrich Friedrich Füger, Lithographie von Vincenz Georg Kininger, nach einem Selbstporträt, ca. 1830, Privatbesitz.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 79 Rembrandt, Rubens, Hals oder van Dyck bewun- Zeit lang wohnte Kellerhoven im Gebäude des derte und eingehend studierte. Vermutlich besuchte „Utzschneider’schen Bräuhauses am Schwabinger­ er von dort aus auch London und Paris – allerdings thore“. Das alte Schwabingertor stand etwas nörd- lassen sich diese Aufenthalte nicht belegen. lich der Feldherrenhalle und wurde 1817 abgerissen. Bei der Suche nach einem neuen Mieter wurde da­ Im Jahre 1779 ging Moritz Kellerhoven nach rauf hingewiesen, dass Kellerhoven „dermalen“ dort Wien, wo er bei Heinrich Friedrich Füger (1751 – gewohnt habe.2 1818) studierte und so zahlreiche Aufträge bekam, dass er 1782 die Gelegenheit, Italien zu besuchen, 1811 erhielt Kellerhoven „ohnentgeltlich“ ein ungenutzt ließ. Grundstück an der Ecke Königsstraße / Flora- straße (heute Briennerstraße / Türkenstraße). Sein Akademiekollege für „Baukunst“, Carl von Fi- Auf nach München scher, legte zwei unterschiedliche Pläne für das ge- wünschte Wohnhaus vor: Der erste sah vor, auch Moritz Kellerhovens Ruf als Porträtmaler bewog das Atelier des Künstlers darin unterzubringen. 1784 den Kurfürsten Karl Theodor, ihn als Hofma- Es sollte im Erdgeschoss liegen und lediglich zwei ler nach München zu berufen. Seine Werke bestan- nach Nordwesten ausgerichtete Fenster haben. den bis zu dieser Zeit, außer einigen Gesellschafts- Verwirklicht wurde 1811/12 der zweite, äußerst stücken in niederländischer Art und historischen übersichtliche, einfach strukturierte Plan. Auch Gemälden, hauptsächlich in Personenbildnissen. die Fassadengestaltung war bewusst einfach gehal- Am Bayerischen Hofe fertigte er vor allem Port- ten. Der Architekt Carl von Fischer selbst bezeich- räts. Seine Werke waren gefragt und er bekam eine nete sein Gebäude als „ziemlich zierliches, doch Menge Aufträge. Er radierte auch kleine Personen- ganz einfaches Wohnhäuschen“. Im ersten Oberge- bildnisse, die von Kupferstichsammlern geschätzt schoss gab es ein Vestibül mit zwei von Pilastern wurden. besetzten Raumvorsprüngen, die diesen Vorraum zum Salon hin ausrichteten. Gleichzeitig wurden Nachdem Kellerhoven 1788 geheiratet hatte, so die Kamine und Zugänge zu den Hinterlader- wuchs die Familie und man benötigte Platz. Eine öfen kaschiert. Zur Straße hin gab es vor dem Salon einen kleinen Balkon. Schon 1844 wurde das Haus abgerissen und das Grundstück mit dem Wittels-

2 Quelle: https://www.digitale-sammlungen.de/index.html?c=samm bacherpalais bebaut. Heute stehen dort Gebäude lung&projekt=1465907527&l=de der Bayern LB. http://mediatum.ub.tum.de/938377 Quelle:

Entwurf von Carl von Fischer für das Wohnhaus Kellerhoven in München, Universitätsbibliothek Technische Universität München.

80 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Akademie der Künste

Die Vorgeschichte der Münchner Akademie der Künste reicht noch vor die 1770 durch Kurfürst Maximilian III. Jo-

seph gegründete „Zeichnungs Schule respective Maler und AKG-ImagesQuelle: Bildhauer Academie“ zurück. 1808 gründete König Maxi- milian I. von Bayern dann die „Königliche Akademie der Bildenden Künste“, und ernannte Johann Peter von Langer zum ersten Direktor. Kellerhoven wurde „erster Professor der Malerei“ und später „Wirklicher Rat“. Neben der Lehre oblag ihm auch die Verwaltungsaufsicht über die Akademie. 1824 folgte Peter von Cornelius auf Langer als Direktor. Beide hatten zunächst die Düsseldorfer Akademie geleitet. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Münchner Aka- demie weltbekannt und hatte einen ausgezeichneten Ruf. Zu ihren Lehrern gehörten u. a. Franz von Defregger, Franz von Stuck, Adolf von Hildebrand und Ludwig Schwanthaler.

Moritz Kellerhoven, Maximilian I. Joseph von Bayern als Kurfürst Max IV. Joseph, Öl auf Leinwand, 87 x 71 cm, um 1800, Museum der Stadt Regensburg.

Akademiegebäude alt und neu

Zunächst brachte man die Akademie im „Wilhelminum“ Universität hier untergebracht. 1944 wurden die Gebäude unter, dem Ende des 16. Jahrhunderts fertiggestellten Kol- bei einem Fliegerangriff zerstört, später wiederaufgebaut legiengebäude des Jesuitengymnasiums. Nach der Aufhe- und auf unterschiedlichste Weise genutzt. bung des Jesuitenordens 1773 wechselten die Nutzer des Gebäudes. Seit 1783 saß die Bayerische Akademie der Wis- 1886 bezog die Akademie den repräsentativen, von Gott- senschaften im Wilhelminum, ab 1807 die Akademie der fried von Neureuther geplanten Neubau in der Akademie- Bildenden Künste mit der Kurfürstlichen Maler-, Bildhau- straße/Leopoldstraße beim Siegestor. Die dreiflügelige An- er- und Zeichenschule. Zwischen 1826 und 1840 wurde die lage erhielt eine Freitreppe mit den Reiterfiguren Castor von Landshut nach München verlegte Ludwig-Maximilians- und Pollux. 1911/12 wurde der von Friedrich von Thiersch stammende Aula-Anbau fertiggestellt. In den 1950er Jah- ren wurden die Kriegszerstörungen beseitigt. 2005 eröff- nete die Akademie einen modernen Erweiterungsbau der Architekten Coop Himmelb(l)au. wikipedia.org Quelle: Statistisches Landesamt Bayern Quelle:

Das „Wilhelminum“ zu Kellerhovens Zeit Sitz der könig- lichen Akademie der Künste, Kupferstich des Jesuiten­ kollegs und der Kirche St. Michael (Wilhelminum) Akademie der Künste, Neubau beim Siegestor. von Michael Wening, Topographia Bavariae, um 1700. Fotografie um 1900, Detroit Photographic Company.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 81 Die Familie konnte bald ihr neues Haus bezie- Drei Monate nach seinem Tod wurde der Be- hen. Bis zu seinem Tod lebte und arbeitete Moritz sitz von Moritz Kellerhoven versteigert. Darunter Kellerhoven in München für die Akademie der bil- Oelgemälde, u. a. die Porträts von Leopoldine von denden Künste. Neben seiner Tätigkeit als Professor Baiern und des Erzherzogs Karl von Österreich, der Malerei übernahm er um 1820 auch die „Rech- Kupferstiche, „gestochene und radirte“ Kupferplat- nungsführung über die laufenden Regierungs- ten, Lithographien und Malerutensilien. Daneben ausgaben“, für die er auf Anfrage separat entlohnt kamen aber auch Kleidung, Wäsche, Mobiliar und wurde. Weitere Details sind auch hier leider nicht andere „nützliche Gegenstände“ zur Versteigerung. überliefert. Augenscheinlich verfügte er über gute Sprachkenntnisse, so dass Königin Karoline von Zahlreiche Nachrufe ehrten das Akademiemit- Bayern ihn beauftragte, die Ankäufe für ihre reich glied: So schrieb das Münchner Tagblatt am 18. 12. ausgestattete Kunstbibliothek zu organisieren. Das 1830: „Gestern nachmittags wurde die sterbliche ermöglichte ihm, hinsichtlich aller neuen „Trends“ Hülle des so verdienstvollen Inspektors und Pro- in der Kunst auf dem Laufenden zu bleiben. fessors der Akademie der bildenden Künste Keller- hofen zur Erde bestattet. Die Zöglinge der Akade- Gesundheitlich ging es ihm Ende der 1820er mie begleiteten den Sarg mit Fackeln, viele Künstler Jahre nicht gut. Mitte 1830 entschied er sich dann und Personen aus allen Ständen wohnten dem Be- doch, offiziell um Urlaub zu bitten, um eine von den gräbnis bei.“ Ärzten dringend angeratene Kur in den Mineralbä- dern von Rosenheim anzutreten. Kellerhoven hoffte, Fast gleich berichtete das Münchner Conversa- dass auf diese Weise seine Gesundheit in vier bis tions-Blatt (Bayer’scher Beobachter) zwei Tage spä- sechs Wochen wiederhergestellt werden könnte, da- ter: „Am 17. nachmittags wurde die sterbliche Hülle mit er seinen Verpflichtungen, die inzwischen von des so verdienstvollen Inspektors und Professors Kollegen wahrgenommen werden sollten, wieder der Akademie der bildenden Künste Kellerhofen nachkommen könnte. Diese Hoffnung sollte sich zur Erde bestattet. Die Zöglinge der Akademie be- nicht erfüllen: Am 15. Dezember 1830 starb Mo- gleiteten den Sarg mit Fackeln, viele Künstler und ritz Kellerhoven, zwei Tage später wurde er auf dem Personen aus allen Ständen wohnten der feierlichen Münchner Alten Südfriedhof, dem ältesten Zent- Beerdigung des 73jährigen Veterans bei.“ ralfriedhof Münchens, beigesetzt. Zwischen 1788 und 1886 war der Südfriedhof die einzige Begräb- Kurz fasst sich dagegen Der Friedens- und Kriegs- nisstätte Münchens, so dass zahlreiche Personen aus Kurier (Nürnberger Friedens- und Kriegskurier) am der Münchner Kultur- und Wirtschaftsgeschichte 21. 12. 1830: „Am 14. Dezember starb in München des 19. Jahrhunderts hier ihre letzte Ruhe fanden. der königl. wirkl. Rath und Professor der Historien- malerei an der königlichen Akademie der bildenden Moritz Kellerhovens Grab befindet sich im Grä- Künste, Herr Moriz Kellerhofen, an Gichtbeschwer- berfeld 25 – Reihe 13 – Platz 31. den im 73ten Jahre.“

Ausführlich wird er im Neuen Nekrolog der Deutschen gewürdigt: „Er war geboren zu Altenrath im Herzogthume Berg, bildete sich in der Malerkunst an der Künstlerakademie zu Düsseldorf, nachdem er die Studien, denen er zu Cöln obgelegen, verlas- Foto: Klaus Dettmann sen hatte. Er begab sich hierauf nach Antwerpen, wo er längere Zeit die dortige Akademie besuchte. Hier bewunderte der kunstliebende Kurfürst Karl Theo- dor seine Gemälde und ernannte ihn zum Hofmaler. Außer einigen Gesellschaftsstücken im niederländi- schen Geschmacke, arbeitete er wenige historische Gemälde, weil er nicht genug Porträts liefern konnte, Grabmal die wegen des treffenden, ihm eigenen Charakters, Kellerhovens der Lieblichkeit und Wahrheit des Colorits und über- auf dem haupt der Kunst allgemein beliebt sind. Die ganze Alten Südfriedhof königl. Baiersche Familie ist von ihm gemalt wor- in München. den; […]. K. radirte auch sehr artig in Kupfer. Unter

82 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 diese Blätter, die er für Versuche ausgab, gehört un- Zuckerschalen, Zuckerkästchen, Kaffeemaschinen, ter andern das Porträt des berühmten Schauspielers Tischleuchten, Huiliers, Brodkörbe, Kaffeetassen Theobald Marchand zu München. Im J. 1808 wurde mit Deckel, Zuckerlöffel, vergoldete Kaffeelöffel, K. als erster Professor an der Akademie der bilden- sehr viele Tischbestecke, Vorleglöffel, Ragoutlöffel, den Künste angestellt. In seiner langen Laufbahn als Hanoleuchter mit Lichtscheeren, eine Waschtisch- Lehrer und Künstler war er in beiden Eigenschaften Einrichtung von Silber etc.“ Mobiliar war ebenfalls ausgezeichnet und eine Zierde der Anstalt, aus wel- ausreichend vorhanden: Spiegel in Goldrahmen, ei- cher viele junge Leute, bereichert durch seine Lehre, nige Oelgemälde, Bilder in Goldrahmen, Stockuh- hervorgingen. Die vorzüglichen Eigenschaften sei- ren, Kommod Chiffonieres, Etagere, Divan, Sessel, nes Geistes und Herzens erwarben ihm die Achtung Nachtkästl, Bettläden, Betten, Matratzen, Kleider und Verehrung seiner Freunde und Schüler, in deren und Waschkästen, Chatouillen, Leuchter und Lam- trauerndem Kreise sein rühmliches Andenken nicht pen, runde und andere Tische, … sehr vieles Porzel- verlöschen wird, und welche in einem zahlreichen lan als Tassen etc. Außerdem sind Wäsche, Küchen- Gefolge ihn zu seiner Ruhestätte begleiteten.“ 3 geräte und „nicht genannte Gegenstände“ aufgeführt.

Unklar ist, ob die Töchter Kellerhovens bis zum Tod des Vaters oder möglicherweise darüber hin- Kellerhovens künstlerisches Schaffen aus in dem eigens erbauten Haus wohnen blieben. Selbst über Moritz Kellerhoven lässt sich das nicht Zu seiner Zeit hatte Moritz Kellerhoven einen gro- mit Sicherheit sagen, da die Versteigerung seiner ßen Namen, heute ist er nur wenigen noch bekannt – Ausstattung nicht in der Adresse seines Hauses statt- ein Schicksal, das er mit einigen seiner Kollegen von fand. Die Töchter lebten, spätestens ab 1844 als das der Akademie der Künste durchaus teilt. Eher als er Gebäude abgerissen wurde, nahe beieinander in der selbst sind noch seine überlebensgroßen Repräsen- Karlstraße. Auskunft darüber, was man als Frau in tationsbilder des Königs Max I. Joseph von Bayern, diesen Kreisen und zu dieser Zeit so besaß, gibt die Anzeige der Versteigerung von Mobiliar u. a. der 3 https://books.google.de/books?id=G9UHAAAAIAAJ&pg=PA854 Kammerzofe Franziska Kellerhoven. Zum Verkauf &dq=Kellerhofen&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwiVxo-em9TpAhVl standen: Silberne „Kaffee-, Rahm- und Theekannen, -yoKHU7zBIAQ6AEIPzAD#v=onepage&q&f=false Quelle: stadtmuseum.bayerische-landesbibliothek-online.deQuelle: stadtmuseum.bayerische-landesbibliothek-online.deQuelle:

Moritz Kellerhoven, Kurfürst Maximilian IV. Joseph, Moritz Kellerhoven, Caroline Friederike Wilhelmine der spätere König Max I. Joseph, Öl auf Leinwand, um 1820. von Bayern, Öl auf Leinwand, um 1820, Porträtsammlung des Münchner Stadtmuseums. Porträtsammlung des Münchner Stadtmuseums.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 83 rtothek.de artothek.de Quelle: Quelle: Repro Blauel Gnamm, a

Moritz Kellerhoven, Max I. Joseph; König von Bayern Moritz Kellerhoven, Erzherzog Karl von Österreich, im Krönungsornat, Öl auf Leinwand, 305 x 205 cm, 1806, Öl auf Leinwand, 218 x 149,5 cm, um 1800, Bayerische Staatsgemäldesammlungen Alte Pinakothek München. Neue Pinakothek München.

das Ganzfigurbildnis des Erzherzogs Karl I. von Ös- terreich oder seine Darstellungen von Ludwig I. ver- traut. Er hat zahlreiche Mitglieder des bayerischen Königshauses ebenso verewigt wie auch den Schwe- Quelle: bpk-BildagenturQuelle: denkönig Gustav Adolph und dessen Frau, Graf Rumford und zahlreiche Mitglieder des höheren Klerus. Aber auch die Liste der von ihm gemalten, gestochenen oder radierten bürgerlichen Persönlich- keiten ist lang und liest sich wie ein Who’s who der damaligen Zeit. So finden sich darunter beispiels- weise der Historiker Lorenz von Westenrieder, der Maler Wilhelm von Kobell, der Opernsänger Anton Raff oder der Schauspieler Theobald Marchand.

Moritz Kellerhoven schuf zu Beginn seiner künst- lerischen Tätigkeit wohl ein paar Genre‐ und Histo- rienbilder, widmete sich bald aber ausschließlich der Bildnismalerei, neben der Freskomalerei die wich-

Moritz Kellerhoven, Gilbert Michl, letzter Abt von Steingaden, Öl auf Leinwand, 136,9 x 102,4 cm, um 1790, Bayerische Staatsgemäldesammlungen Neue Pinakothek München.

84 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 BPK-Bildagentur

Quelle: stadtmuseum.bayerische-landesbibliothek-online.de Quelle:

Moritz Kellerhoven, Sir Benjamin Thompson, Graf Rumford (1753 – 1814), ab 1788 Reorganisator der bayerischen Armee, 1789 begann er mit den Arbeiten zur Anlage des Englischen Gartens in München, Sozialreformer und Erfinder des energiesparenden Rumford-Ofens sowie der in ganz Europa verbreiteten nahrhaften Rumford-Suppe mit Kartoffeln zur Armenspeisung. Öl auf Leinwand, 71,1 x 58,4 cm, 1792, Moritz Kellerhoven, Lorenz Westenrieder, Öl auf Leinwand, National Portrait Gallery, London. 62,8 x 48 cm, 1803, Münchner Stadtmuseum. tigste Gattung in der deutschen Malerei des 18. Jahr- hunderts. Für einen jungen Maler bot sie ein lukratives Betätigungsfeld. Der Stil der Porträts orientierte sich an der in ganz Europa führenden niederländischen Bildnismalerei. Auch Kellerhoven bezog wesentliche bpk-BildagenturQuelle: Anregungen von den großen niederländischen Ma- lern des 17. Jahrhunderts wie Rem­brandt, Rubens, Hals oder van Dyck, aber auch aus der englischen Porträtkunst des 18. Jahrhunderts, z. B. von Gains­ borough oder Reynolds. Ihre Werke hat er nicht nur in Antwerpen, sondern auch in den kurfürstlichen Ge- mäldegalerien studieren können, für die man Werke großer Meister aus ganz Europa zusammentrug.

Seine Repräsentationsbildnisse folgen dem Vor- bild des französischen Hofes, dem Fürstenhöfe in ganz Europa nacheiferten. Für die punkvolle Insze- nierung des Fürsten engagierte man eigens Spezia-

Moritz Kellerhoven, Johann Georg von Dillis, Maler und Kollege Kellerhovens, Öl auf Leinwand, 49,8 x 37,1 cm, um 1793, Bayerische Staatsgemäldesammlungen Neue Pinakothek München.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 85 Quelle: bpk-BildagenturQuelle: bpk-BildagenturQuelle:

Moritz Kellerhoven, Matthias Fontaine (1749 – 1818), Moritz Kellerhoven, Maria Martha Fontaine, geb. Molinari Buchhändler, Verleger und später Bürgermeister (1753 – 1825), Öl auf Leinwand, 23,5 x 28,7 cm, 1795, von Mannheim, Öl auf Leinwand, 23,5 x 27,8 cm, 1798, Reiss-Engelhorn Museum Mannheim. Reiss-Engelhorn Museum Mannheim. listen. Ausgehend von Frankreich wurden bald auch an anderen Königs‐ und Fürstenhöfen eigene Por­ trätmaler beschäftigt. Die brillant gemalten Gewän- der sind äußerst detailgenau. Kellerhoven versteht britishmuseum.org es, die Stofflichkeit des Dargestellten täuschend echt nachzubilden, man meint Seide, Samt und Spitzen gleichsam fühlen zu können. Gleiches gilt für den Schmuck und ähnliche Feinheiten. Hier steht die Quelle: Online collection collection Online Quelle: Präsentation von Macht und Pracht im Vorder- grund, weniger die individuelle Persönlichkeit.

Anders verhält es sich bei den Porträts von Künstlern, Geschäftsleuten, Bekannten oder promi- nenten Zeitgenossen: Hier versteht es Kellerhoven, die Gesichtszüge mit teils kräftigem Farbauftrag und dem Spiel von Licht und Schatten so zu gestal- ten, dass aus dem Bildnis die Persönlichkeit spricht. Jeder einzelne Pinselstrich ist mit großer Kunstfer- tigkeit ausgeführt und formuliert ein individuelles Detail des Antlitzes. Dies erfordert neben einer si- cheren Hand auch eine gute Beobachtungsgabe des Malers.

Die Fähigkeit, mit geschicktem Pinsel oder Sti- chel Wesensmerkmale zu offenbaren, beweist Kel- Moritz Kellerhoven, Sitzender Orientale, Radierung lerhoven auch bei seinen Radierungen. Es handelt nach Rembrandt, 31,8 x 23,4 cm, verlegt in Mannheim, 1795, sich vor allem um kleine Personenbildnisse, die er The Trustees of the British Museum.

86 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 hampel-auctions.com hampel-auctions.com Quelle: Quelle:

Moritz Kellerhoven, Anton Scheichenpflug, Öl auf Leinwand, Moritz Kellerhoven, Viktoria Scheichenpflug, Öl auf Leinwand, 76 x 60 cm, Privatbesitz. 76 x 60 cm, Privatbesitz.

teils nach eigenen Zeichnungen, teils nach anderen Frauenholz in Nürnberg verlegt und erfreuten sich Künstlern ausführte. Die kleinen Blätter wurden bei großer Beliebtheit, boten sie doch die Gelegenheit, Buchhändlern wie Matthias Fontaine und Domi- erbauliche Motive oder die Bildnisse von Prominen- nikus Artaria in Mannheim oder Johann Friedrich ten für den privaten Gebrauch zu erwerben. britishmuseum.org Quelle: lotsearch.deQuelle: Quelle: Online Collection Online Quelle: Quelle: Digitale Sammlungen Universitätsbibliothek Sammlungen Digitale RegensburgQuelle:

Moritz Kellerhoven, Moritz Kellerhoven, Alte Frau Moritz Kellerhoven, Der Kapuziner- Theobald Marchand, Schauspieler mit Rosenkranz am Spinnrocken, mönch Giuseppe da Viterbo, und Intendant, Bildnis bekannt als Radierung, 21,8 x 17,1 cm, um 1795, Radierung nach einem Gemälde von „Mann mit Fellmütze“, Radierung, verlegt bei Artaria in Mannheim, Anton Mengs, 21,7 x 15,2 cm, verlegt bei Artaria in Mannheim, Gallerie Bassenge. 1794, verlegt bei Artaria in Mannheim, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek. The Trustees of the British Museum.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 87 Quelle: Salzburg Museum Salzburg Quelle: Quelle: Digitale Sammlungen Universitätsbibliothek Sammlungen Digitale RegensburgQuelle: Universitätsbibliothek Sammlungen Digitale RegensburgQuelle:

Meno Haas Joseph Anton von Gegenbauer Jakob Lips nach Moritz Kellerhoven, nach Moritz Kellerhoven, nach Moritz Kellerhoven, Laurenz Westenrieder, 1803, Alexander Fürst von Hohenlohe- Kronprinz Ludwig August von Bayern, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek. Schillingsfürst, ohne weitere Angaben, Kupferstich, 1808 – 1816, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek. Salzburg Museum.

Von vielen Gemälden Kellerhovens existieren stellung über sein Leben und Werk vom 31. 5. bis auch Reproduktionen. Die beliebten Blätter waren 31. 10. 2020 im Wahner Heide Portal Burg Wissem bis zur Erfindung der Fotografie das Mittel schlecht- zu sehen. Initiiert wurde das Projekt durch Achim hin zur Verbreitung von Meisterwerken oder auch Tüttenberg und Peter Haas, die uns auf diesen ver- dem Konterfei berühmter Personen. Mitunter sind borgenen Schatz der Troisdorfer Stadtgeschichte Gemälde nur noch durch ihre Reproduktionen aufmerksam machten. Die Ausstellung wurde mit überliefert, die dadurch eine wichtige Rolle für die finanzieller Förderung durch den Heimat- und Ge- Kunstgeschichte spielen. schichtsverein Troisdorf und der Unterstützung durch Klaus Dettmann, Katrin Arndt und Roy In Troisdorf waren die Werke Moritz Keller- Antes realisiert, denen auch an dieser Stelle unser hovens zum ersten Mal im Rahmen einer Aus­ Dank gilt. z

Literaturhinweise

Act der Königlich-Bayerischen Akademie der Bildenden Künste zu Moritz Kellerhoven (im Archiv der Akademie) Adressbücher München (online) digipress. Das Zeitungsportal der Bayerischen Staatsbibliothek Kirchenbücher München (online, matricula) Matrikeleintrag Joseph Kellerhoven (online, Kunstakademie München) Carl von Fischer 1782 – 1820. Ausstellung in der Neuen Pinakothek 1. 12. 1982 – 27. 2. 1983 Von Bekh, Wolfgang Johannes, Die Münchner Maler. Von Jan Pollak bis Franz Marc. Pfaffenhofen 1974 Neue Deutsche Biographie

88 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Wolfgang Rehmer Peter Haas als Leichtathlet

Sucht man in gängigen Nachschlagewerken unter dem Stichwort Peter Haas, so findet man ihn als Stadtverordneten in Troisdorf, als langjährigen Ortsvorsteher, als Schulleiter der Gesamtschule Oberlar, als Mitbegründer des Bilderbuchmuseums, als Vorsitzenden des Heimat- und Geschichtsvereins, als Träger des Bundesverdienstkreuzes. Wer aber weiß schon, dass Peter Haas auch eine sportliche Vergangenheit hat, die ihresgleichen sucht.

enn man einen Blick in die Leichtathletik- praktisch auf zu existieren. Auch der vor dem Krieg WBestenliste des Siegkreises von 1955 wirft, so starke Troisdorfer TV bot keine Leichtathletik findet man den 15-jährigen Peter Haas im Kugelsto- mehr an. Wie sollte es da für Peter weitergehen? Er ßen und Speerwerfen an 2. Stelle in der Siegkreis- war gerade in die B-Jugendklasse aufgerückt und Rangliste der B-Jugend, 3. ist er im Speerwerfen, konnte erstmals an Meisterschaften teilnehmen. Ein 4. im 100-m-Lauf. Alle Leistungen sind aufgestellt Wechsel nach Siegburg kam für ihn nicht in Frage. am 16. 7. 1955 für den TV Mannstaedt. Daran kann sich Peter noch gut erinnern, war doch der Wie es der Zufall wollte, hatte fast gleichzeitig TV Mannstaedt, dem sich Peter Haas nach seinem beim SSV 05 Troisdorf Alwin Herrmann, ein ehe- Umzug von Schwarzrheindorf nach Troisdorf an- maliger Fußballer und Leichtathlet, nach langen geschlossen hatte, der einzige Troisdorfer Verein, in Verhandlungen erreicht, dass bei 05 eine Leicht- dem man Leichtathletik machen konnte. athletik-Abteilung gegründet wurde. Peter und der ebenfalls beim TV Mannstaedt aktive Hans Distel- 1953 und 1954 gehörte der TV Mannstaedt im rath gehörten zu den weiteren Gründungsmitglie- Bereich der 13- und 14-Jährigen zur Kreisspitze. dern. Der 1. Dezember 1955 war das Gründungsda- Aber 1955 hatte der Trainer plötzlich aufgehört, und tum der Leichtathletik-Abteilung, aber Peter musste damals wie auch heute noch hörte der Verein damit gar nicht erst wechseln. Denn aufgrund einer da- mals noch fehlenden Turnhalle für das Wintertrai- ning war er schon Ende 1954 der Fußballabteilung von 05 beigetreten, um sich dort die nötige Kondi- tion für die Leichtathletik zu holen. An der Seite von Wilfried Kohlars und Roland Pflaumer, die spä- ter bei 1860 München bzw. Wormatia Worms eine Profi-Karriere begannen, kam Peter Haas 1956 mit der B-Jugend immerhin ins Endspiel um die Mittel- rhein-Meisterschaft .

Warum Peter zeitlebens besessen war von der Leichtathletik, erklärt er zu Beginn seiner Rede, die er anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Trois- dorfer LG gehalten hat. Ich zitiere: „Als ich sieben Jahre alt war, 1947, fuhren mein Vater und ich mit einem Leiterwagen Müll weg. In Schwarzrheindorf war ein Schuttloch sinnigerweise direkt neben dem Fußballplatz von Preußen Rheindorf. Als wir abge- laden hatten, hatte ich eine spontane Eingebung: Ich forderte meinen Vater auf, mit mir ein Wettrennen Der 13-jährige Peter Haas beim Start zum 75-m-Lauf über die Hälfte des Sportplatzes zu machen. Noch

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 89 Auszug aus der Kreisbestenliste 1956 heute sehe ich vor Augen, wie er mit Riesenschritten Größe auf Schiffe, Flaschen, Blechbüchsen und alles neben mir herlief. Während er einen Schritt machte, andere, was Vater Rhein an uns vorübertrieb. Das musste ich drei bis vier machen. Trotzdem war ich war damals, als es noch keine Kläranlagen gab, nicht zum Schluss vor ihm. Ich triumphierte und hielt wenig. Ein besseres Werfer-Training gibt es nicht.“ mich für den schnellsten Läufer der Welt. Das hat mich nachhaltig fürs Laufen motiviert. Erst später Das waren zwei Ereignisse, die Peter nachhaltig wurde mir klar, dass er mich natürlich hatte gewin- für den Sprint und das Werfen geprägt hatten. Schon nen lassen. beim TV Mannstaedt hatte Peter Haas gezeigt, dass er mit über 45 m ein guter Speerwerfer war. Fast täglich übten wir damals am Rhein Weit- Aber schon 1 Jahr später in Troisdorf verbesserte er wurf. Wir warfen mit Steinen unterschiedlicher sich im 100-m-Lauf von 12,5 sec auf phänomenale

Reihe 1, Dritter von links Peter Haas bei der Siegerehrung der Europameisterschaften der DJK-Vereine

90 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 11,3 sec, nicht irgendwo gelaufen, sondern bei den nur kirchliche DJK-Vereine zugelassen waren. Und Mittelrhein-Meisterschaften in Bonn. Damit lag er sensationell wurden die vier Bonner Jungen mit in der Kreisbestenliste fast 1 sec vor dem Zweiten, Peter Haas als Schlussläufer DJK-Europameister 1 in der Mittelrheinbestenliste lediglich ⁄10 sec hinter vor Irland und Spanien. Was für ein Werdegang, dem Besten auf Platz 2. von einer Ehrung gings zur nächsten. Was aber keiner der Sprinter wusste, der Trainer hatte bei Und das weckte Begehrlichkeiten in den Nach- einem der Läufer ein falsches Geburtsdatum ein- barvereinen. Der damals aufstrebende Bonner getragen. Bei der höchsten Ehrung am Jahresende Verein DJK Eintracht 09 Bonn hatte eine starke wurde dies bekannt, so dass alle Leistungen, bei Jugendstaffel und suchte nach Verstärkungen. Pe- denen dieser Sprinter als Jugendlicher angetreten ters Klassenkamerad Richard Bernotat, später der war, annulliert wurden. beste Diskuswerfer im Kreis, der mit ihm zusam- men das Oberkasseler Kalkuhl-Gymnasium be- Die Ergebnisliste der deutschen Jugendmeister- suchte, stellte die Verbindung nach Bonn her. Und schaften wurde neu geschrieben, Bonn tauchte nicht so blieb es nicht aus, dass Peter nach einem Jahr mehr auf. Was blieb war der Europameistertitel; erneut sein Startrecht wechselte. Im 100-m-Lauf denn dort waren die vier Jungs ja als Männerstaf- verbesserte er sich auf seine auch heute noch be- fel gestartet. Aber die Disqualifikation hatte Spu- stehende Bestzeit von 10,9 sec. Beim damals sehr ren hinterlassen. Das Vertrauen zum Sprinttrainer populären Sportfest des ASV Köln gelang ihm war gestört, so dass Peter sich auf seine alten Stär- über 100 m sogar ein Sieg über den deutschen Ju- ken im Wurfbereich konzentrierte. Am Jahres- gendmeister Hans-Peter Stumpen (Weseler TV). ende war er mit 54,42 m nicht nur bester Jugend- Und mit der 4 x 100-m-Staffel der DJK Eintracht licher im Mittelrhein im Speerwerfen, sondern mit Bonn erlebte Peter sowohl Höhepunkte als auch 44,50 m ebenfalls Bester im Diskuswerfen. Aber Tiefpunkte. Die Staffel eilte 1957 von Sieg zu Sieg, hier kam das nächste Ärgernis für Peter. Das Speer­ startete bei den deutschen Jugendmeisterschaften wurfergebnis war zwar besser als der Bonner Kreis- als Favorit und wurde dieser Rolle auch gerecht, als rekord der Männer, aber der Kreisvorstand erkannte sie als Sieger mit 43,1 sec sogar deutschen Jugend- diese Leistung nicht als Kreisrekord an, weil Peter ja rekord lief. Die Belohnung folgte auf dem Fuße, als noch Jugendlicher war. Vertreter Deutschlands durfte diese Staffel 2 Wo- chen später bei den FISUC-Europameisterschaften Leichtathletisch folgten 2 schwierige Jahre in der der Männer im irischen Dublin starten, bei der Männerklasse, in denen sich Peter nur im Speerwer-

Der 17-jährige Peter Haas beim Speerwurf im Trikot von DJK Eintracht Bonn in Dublin

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 91 fen leicht verbesserte Die Vorbereitung auf das Abi- Training vermittelte ihm ein zusätzlicher Trainings- tur und die fehlende Motivation sorgten dafür, dass tag bei den Gewichthebern aus Sieglar. Günther er Ende 1960 lustlos mit der Leichtathletik aufhörte, Franke, bei Troisdorf 05 als Kugelstoßer tätig, aber für einen gerade 20-Jährigen viel zu früh. Fast zwei von Hause aus Gewichtheber, hatte ihm diese Mög- Jahre verschwand Peter von der leichtathletischen lichkeit beim Kraftsportverein Sieglar eröffnet. Seine Bühne, bis ihn Anfang 1962 wieder der schon er- jetzt viel höheren Kraftwerte ließen ihn innerhalb wähnte Alwin Herrmann ansprach: „Peter, Du musst eines Jahres seine Speerwurfbestleistung um 9 m wieder Leichtathletik machen. Wir könnten Dich in auf 64,11 m hochschrauben. Da Werfer bei genügend unserer DMM-Mannschaft gut gebrauchen.“ Und Kraft gerne mit schwereren Gewichten trainieren, Peter fing wieder an bei der von ihm mitbegründeten warf er ab und zu – heute gar nicht mehr vorstellbar Leichtathletikabteilung von SSV 05 Troisdorf. Viel – mit dem 1,5 kg schweren Aluminiumstab der Stab- ist 1962 von Peter nicht zu lesen, er startete nur bei hochspringer. Wegen der 64 m im Speerwerfen gab den Kreismeisterschaften in Siegburg, gewann dort ihm die Uni Bonn, an der er sein Lehramtsstudium das Speerwerfen mit 53,32 m und wurde 2. im Kugel- für Deutsch und Geschichte aufgenommen hatte, die stoßen mit 12,50 m. Einen Anstoß für intensiveres Möglichkeit, am 21. 7. 1963 bei den deutschen Hoch- schulmeisterschaften in Wetzlar zu starten, natür- lich im Speerwerfen. Den Siegkreisrekord konnte er zwar in Wetzlar nicht bestätigen, immerhin belegte er aber mit 60,08 m den 7. Platz.

Peters Wurfstärken und seine früheren Sprint- qualitäten ließen ihn einen Versuch im Internatio- nalen Fünfkampf starten, der aus den Disziplinen Weitsprung – Speer – 200 m – Diskus – 1.500 m bestand. Der 1. Versuch im Jahr 1963 war noch nicht überzeugend, weil er sich vor allem mit den 1.500 m nicht anfreunden konnte. Aber im Jahr 1964 war er nicht aufzuhalten. Zunächst wurde er in Aachen Mittelrheinmeister im Fünfkampf, ein 2. Ti- tel kam zusammen mit Manfred Zachcial und Karl- Willi Fries in der Mannschaftswertung dazu. Und als vorläufigen Höhepunkt erreichte er am 7. August in Mainz bei den deutschen Hochschul-Meister- schaften die Bronze-Medaille. Dabei glänzte Peter mit 61,60 m im Speerwerfen und blieb nur 3 m hin- ter dem späteren Olympia-Zweiten Hans-Joachim Walde zurück. Auch seine 14,11 m im Kugelstoßen stammen aus dem Jahr 1964. Den Kreisrekord im Speerwerfen steigerte er bei den Vereinsmeister- schaften „Auf der Heide“ im Oktober des gleichen Jahres auf phantastische 67,71 m.

Eine letzte Steigerung auf 68,23 m gelang ihm ein Jahr später bei einem Sportfest des ASV Köln. Und auch im Fünfkampf konnte Peter einen neuen Kreisrekord aufstellen. Seine 3.309 Punkte setz- ten sich zusammen aus 6,37 m, 62,09 m, 23,3 sec, 40,57 m und 4:56,2 min. Die dabei mit Wolfgang Beckmann und Jochen Küchler erzielte Mann- schaftsleistung brachte dem Team einen Spitzen- platz in Deutschland ein, aber leider nicht die nötige Unterstützung und Hochachtung beim Heimatver- ein SSV 05 Troisdorf, für den nur der Fußball förde- Rhein-Sieg-Anzeiger vom 20. 6. 1965 rungswürdig war.

92 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Die deshalb notwendige Abspaltung der Leicht- athleten unter Gründung der Troisdorfer LG Ende 1966 ist bekannt. Und der erste, der die TLG deutschlandweit bekannt machte, war wieder Peter Haas. Bei den deutschen Mehrkampfmeister- schaften im September 1967 in Leverkusen lag er bis zur vorletzten Disziplin des Fünfkampfes auf Platz 2, wurde aber letztendlich aufgrund eines schlechten 1.500 m-Laufes bis auf Platz 7 durch­ gereicht. Aber seine nach neuer Wertung 3.519 Punkte sind auch heute – nach mehr als 50 Jahren – in Troisdorf immer noch Vereinsrekord. Seine einzelnen Leistungen waren 6,22 m – 63,94 m – 23,1 sec – 41,30 m – 4:56,0 min. Und auch die Punkt- zahl der Mannschaft, die mit Küchler und Beck- mann Platz 6 bei diesen deutschen Meisterschaften bedeutete, ist seit 53 Jahren nicht mehr übertroffen worden.

1968 bekam die Troisdorfer LG mit Uli Schme- demann endlich einen Leichtathletik-Trainer, und der war Zehnkämpfer. Alle mussten jetzt Zehn- kampf machen, natürlich auch Peter. Es folgte ein weiterer 6. Platz bei den deutschen Zehnkampf- Peter Haas beim 3. Platz der westdeutschen Meisterschaften Meisterschaften mit der Mannschaft Schmede- 1968 in Siegen mann, Haas und Heelweg. Aber im Zehnkampf

Die Zehnkampf-Mannschaft der TLG mit Uli Schmedemann, Peter Haas und Lothar Heelweg

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 93 war Peter bei weitem nicht so erfolgreich wie im Aggerstadion stellte die LG völlig unerwartet einen Fünfkampf, weil mit dem Hürdenlaufen, dem deutschen Seniorenrekord auf und fuhr als Favorit Hochsprung und dem Stabhochsprung drei Dis- zum Endkampf nach Lage. Drei Disziplinen vor dem ziplinen dazugekommen waren, mit denen sich Ende führte die LG mit 300 Punkten Vorsprung vor Peter nicht anfreunden konnte. So ließ er es von dem USC Mainz, und man jubelte schon wegen des da an etwas lockerer angehen. Zwei Gründe gab zu erwartenden Sieges. Aber Peter Haas, zusammen es dafür: Er hatte gerade sein 2. Staatsexamen be- mit dem Bonner Fred Schladen der älteste in der standen und war jetzt beruflich voll eingespannt. Gruppe, warnte: „Es kann noch viel passieren. Die Und er hatte eine weitere Sportart entdeckt, die letzte Disziplin ist immerhin die Staffel.“ Und fast ihn faszinierte, das Schachspielen. Alleine sieben hätte Peter Recht gehabt; denn Mainz kam bis auf mal wurde er in den 70er-Jahren Vereinsmeis- 50 Punkte heran, aber immerhin nicht vorbei. Und ter. Die Übernahme des Vorsitzes im Troisdorfer so kam Peter Haas 21 Jahre nach dem aberkannten Schachclub nahm so viel Zeit in Anspruch, dass deutschen Meistertitel in der Jugendstaffel doch für leichtathletische Wettkämpfe keine Zeit mehr noch zu einer Goldmedaille, seiner einzigen bei blieb. Heute ist Peter stolz darauf, daß er seit über einer deutschen Meisterschaft. Sein Beitrag waren 20 Jahren Ehrenmitglied des Schachclubs ist. immerhin 59,88 m mit dem Speer, für einen 38-Jäh- rigen nicht schlecht. Aber trotzdem beschäftigte sich Peter weiterhin mit seinem geliebten Speer und warf in den nächs- Zu Ende war seine Karriere damit aber immer ten 10 Jahren auch ohne Training immer noch über noch nicht. Drei weitere Silbermedaillen folgten 50 m. Es kam der Zusammenschluss der Troisdorfer in den nächsten Jahren, immer mit der Senioren- LG mit dem LC Bonn zur LG Jägermeister Bonn / Mannschaft und jedesmal hinter dem USC Mainz, Troisdorf, und damit ergaben sich plötzlich ganz an- der sich die Blöße von 1978 nicht wieder gefallen dere Möglichkeiten. In Bonn und Troisdorf waren lassen wollte. Zum Abschluss möchte ich Peter Haas inzwischen viele Leichtathleten älter als 30 Jahre, selbst noch einmal zu Worte kommen lassen, in- unter ihnen auch Peter Haas. Und für diese Alters- dem ich aus seiner Rede zum 50-jährigen Jubiläum klasse gab es eine deutsche Mannschaftsmeister- der TLG noch einen Satz zitiere: „Von Kindheit an schaft, die seit Jahren vom USC Mainz beherrscht bis heute steht für mich fest: Leichtathletik ist der wurde. In einem Qualifikationsdurchgang 1978 im schönste Sport der Welt.“ z

Deutscher Mannschaftstitel der LG-Senioren

94 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Olaf Pohl Start des „Spicher Zehner“ im Jahr 2008

Olaf Pohl Ist der „Spicher Zehner“ Geschichte?

Der einstmals so beliebte Volkslauf durch den Spicher Wald feierte im Jahr 1993 seine Premiere, 2019 war die 27. Ausgabe die (zumindest vorerst) letzte. Damals, 1993, bestand der Lauftreff des 1. FC Spich bereits zehn Jahre. Anlässlich des Jubiläums wollte man etwas Besonderes machen. Lauftreff-Mitglied Ulli Knab war Ideengeber für einen eigenen Volkslauf. So war der „Spicher Zehner“ geboren und sollte fortan den Troisdorfer Sportkalender über ein Vierteljahrhundert bereichern.

och blenden wir noch einmal zurück: 1983 zu starten. Den harten Kern bildeten Josef Müller, Dtrafen sich 18 Spicher Dauerläuferinnen und Alfred Gregorius und Heiner Küpper. Gelaufen Dauerläufer, die zuvor beim Lauftreff der Trois- wurde gerne im Hirschpark an der Burg Wissem dorfer Leichtathletik Gemeinschaft aktiv gewesen vorbei bis hin zum Leyenweiher. Die Wahner Heide waren, und gründeten ihren eigenen Zirkel, weil war damals noch als militärische Sperrzone tabu, man sich aus der Nachbarschaft kannte und weil es denn dort führten nicht selten die belgischen Streit- einfach bequem war, quasi vor der eigenen Haustür kräfte ihre Übungen durch.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 95 Innerhalb eines Jahrzehnts wuchs die Schar dadurch vielleicht den ein oder anderen Läufer we- die Spicher Lauftreffler auf über 200 Aktive. Mit niger am Start hatte, weil parallel die deutsche Nati- dieser Gruppenstärke fühlte man sich in der onalmannschaft spielte. Lage, einen Volkslauf zu stemmen und wählte von Anfang an den Samstag am letzten Juni-Wochen- Der „Spicher Zehner“ etablierte sich schnell ende. Dabei sollte es bleiben, wenngleich man nicht in der Läuferszene. Die Streckenführung und selten mit Fußball-Großereignissen kollidierte und die familiäre Atmosphäre waren sehr beliebt. Foto: Olaf Pohl

Olympia-Teilnehmerin Susanne Hahn mit der Startnummer 101 lief im Jahr 2014 einen neuen Streckenrekord

Interview

Und morgens dann gemeinsam frühstücken …

Heiner Küpper (81) ist Woran liegt das? Es gibt ja auch Beispiele von Volksläufen in Leiter der Lauftreff-Abtei- der Region, die funktionieren prächtig und haben noch Zu-

Foto: Olaf Pohl lung beim 1. FC Spich. Er wachszahlen. Zum Beispiel der Mondorfer Weihnachtslauf hat den „Spicher Zehner“ oder der Hennefer Europalauf. von Anfang an mit organ- siert. Olaf Pohl sprach mit Die Gründe sind vielfältig. Bei den Hennefern steckt viel Kraft ihm über seine Erinnerun- dahinter, weil die City-Werbegemeinschaft mit eingebunden ist. gen an über ein Viertel- Und die Mondorfer sind zumindest regional am ersten Advents- jahrhundert Volkslauf. sonntag konkurrenzlos. Wir sind uns terminlich mit den Henne- fern manchmal ein wenig in die Quere gekommen, aber das war Herr Küpper, ist das wirk- 2019 nicht der Fall. Es gab auch keine Fußball-WM oder -EM, lich der letzte Spicher die uns Läufer gekostet hätte. Der Organisationsaufwand ist aber Zehner gewesen am 15. beträchtlich, und je weniger Teilnehmer kommen, desto höher ist Heiner Küpper Juni 2019? das Risiko, am Ende auf einem Minus sitzen zu bleiben.

Auch mit etwas Abstand kann ich mir nicht vorstellen, dass die Verspüren Sie nicht ein wenig Trauer und Wehmut, dass Veranstaltung wieder auflebt. nach 27 Jahren Schluss ist mit dieser Tradition?

96 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 In der Spitze begrüßten die Organisatoren über Volksläufen in den letzten zehn Jahren nicht an 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Nah ihnen vorbei. und Fern. Obwohl die Spicher ihrem Konzept treu blieben ­– lediglich der Start- und Zielbereich Während in Troisdorf, Lohmar, Birk oder wurde 2016 vom Wald auf den nahegelegenen Neun­kirchen traditionsreiche Volksläufe völlig Schulhof der Asselbachschule verlegt – ging der von der Bildfläche verschwanden, hielten die Spi- allgemein einsetzende Teilnehmerschwund bei cher noch lange Jahre dagegen. Doch wenn für Foto: Olaf Pohl

2016 wurde erstmals vom Schulhof der Asselbachschule gestartet

Interview

Sicher, aber es war auch anstrengend. Ich bin ja schon über 80 auf 35:00 Minuten verbes- Jahre alt. Die Organisation ging an die Substanz. sert. Es ist natürlich schön,

dass eine Lokalmatadorin Foto: Olaf Pohl Was bleibt Ihnen denn in Erinnerung? diese Bestzeit gelaufen ist.

An erster Stelle die Helferinnen und Helfer, die immer voller Vielen Dank für das Ge- Einsatzbereitschaft waren, egal ob an der Kuchentheke oder als spräch. Streckenposten. Das war beeindruckend. Halt, bitte! Das wäre mir Gab es sportliche Höhepunkte? noch wichtig: Unvergess- lich werden auch die ge- Da sind die Streckenrekorde zu nennen. 2003 lief der Kenianer mütlichen Abende bleiben, Amos Matui nach 31:10 Minuten ins Ziel. Das war beeindruckend. wo wir nach getaner Arbeit Bei den Frauen hat am gleichen Tag seine Landsfrau Carolin Se- das Kölsch leergemacht Susanne Hahn rem in 36:09 Minuten ebenfalls eine neue Bestmarke gesetzt. haben und bis in die Nacht Dieser Streckenrekord wurde dann 2014 von der ehemals in Spich zusammengesessen und erzählt haben. Und morgens gab es wohnhaften Olympiateilnehmerin im Marathon, Susanne Hahn, dann ein gemeinsames Frühstück.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 97 die Organisation des Laufes alleine 70 bis 80 sung an einen externen Dienstleister auch ein ge- Helfer benötigt werden, beim Hauptlauf über wisses Kostenrisiko hinter jeder Veranstaltung zehn Kilometer aber nur 56 Athletinnen und steht. Athleten an den Start gehen – wie 2019 gesche- hen –, dann muss man ernsthaft darüber nach- 2020 wäre der „Spicher Zehner“ wohl dem denken, ob sich der Aufwand noch lohnt. Zumal Corona-Virus zum Opfer gefallen und hätte nicht nicht zuletzt durch die Auslagerung der Zeitmes- stattgefunden. Doch bereits 2019 beschlossen die Foto: Olaf Pohl

2019: Start zum vorerst letzten „Spicher Zehner“

Zur Person Heiner Küpper

Heiner Küpper ist seit 1948 Mitglied beim 1. FC Spich, im Jahre 2020 also mittlerweile 72 Jahre! Seit 1992 hat er das Amt der Lauftreffleiters bekleidet. Seine Genese im 1. FC Spich sucht ihresgleichen. Acht Jahre spielte er in den Nachwuchs­ teams Fußball, bevor er 1957 in die erste Herren-Mannschaft wechselte und dort Stammspieler wurde. Ein Schien- und Wadenbeinbruch beendete 1966 seine Fußballerkarriere. Fortan betätigte er sich gemeinsam mit sei-

Foto: Olaf Pohl nem Schwager Albert Zimmermann als Betreuer und Trainer der E-Jugend, bis er 1974 seine Leidenschaft für den Laufsport entdeckte. Der Teilnahme an zahlreichen Volksläufen folgte die Gründung des Lauftreff Spich gemein- sam mit Josef Müller und Alfred Gregorius. 1991 schied Müller als Lauftreff- leiter aus und Gregorius wurde sein Nachfolger. Im Februar 1992 wurde Küpper einstimmig zum Lauftreffleiter gewählt. Seine erste Amtshandlung bestand in einem Antrag an den 1. FC Spich, den Lauftreff als Abteilung in den Verein zu übernehmen. Dem wurde nur einen Monat später auf der Jah- reshauptversammlung entsprochen. Viele Jahre war er als Kreis-Lauftreff- und Walkingwart aktiv. Auf Verbandsebene engagierte er sich in verschie- denen Arbeitsgruppen. Und im Clubheim des 1. FC Spich sah man ihn zwölf Jahre lang für den Leichtathletik-Verband Nordrhein als Organisator von Betreuer-Lehrgängen. Für seine Verdienste wurde er bereits vielfach mit Medaillen und Ehrennadel dekoriert.

98 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Organisatoren beim Lauftreff des 1. FC Spich, den Volkslauf nicht mehr auszurichten. So recht mag

Foto: Olaf Pohl man noch nicht daran glauben, dass die beliebte Runde durch den Spicher Wald nicht eines Ta- ges doch wiederbelebt wird, auch wenn Lauftreff- Urgestein Heiner Küpper (siehe Kasten „Interview“) sich das nicht vorstellen kann. z

2007 war die Welt noch in Ordnung: Ein dicht gedrängtes Starterfeld beim vom Lauftreff des 1. FC Spich ausgerichteten „Spicher Zehner“

Marlen Günther will es gar nicht glauben: „Das ist wirklich der letzte Spicher Zehner?“ Foto: Olaf Pohl

Der Lauftreff des 1. FC Spich

Am 3. Juni 1983 wurde der Lauftreff Spich aus der Taufe Wunsch, längere Strecken zu laufen, wurde 1987 beim gehoben. Josef Müller fungierte als erster Lauftreff-Leiter, Duisburg-Marathon erstmals Rechnung getragen. Nicht Heiner Küpper war sein Stellvertreter und Alfred Grego- nur in der Region, in ganz Deutschland, sondern sogar in- rius übernahm die Verantwortung für die Finanzen. Weite- ternational war der Lauftreff Spich zukünftig anzutreffen. re 15 Interessenten aus der unmittelbaren Nachbarschaft Neben den Läuferinnen und Läufern war zumeist zahlrei- schlossen sich an. Lauftage waren – und sind es bis heute che Unterstützung am Streckenrand mit dabei, die sich – Montag und Donnerstag, jeweils um 18.30 Uhr. Die Ge- lautstark mit Trommel und Rasseln bemerkbar machte. meinschaft Gleichgesinnter wuchs, recht bald wurden an Fahnenschwenkend war der Anhang meist schon aus der der Sporthochschule in Köln die ersten Laufbetreuer/innen Ferne zu erkennen. 1995 unternahm man sogar eine sie- ausgebildet, später kamen Walking- und Nordic-Walking- bentägige Reise nach Zypern, um am Halbmarathon teil- Betreuer/innen hinzu. zunehmen.

Neben dem breitensportlich orientierten Training Wem die Marathondistanz nicht ausreichte, der konn- waren immer auch die gemeinsamen Erlebnisse ein ganz te sich ab Ende der 1980er Jahre auch auf Ultrastrecken be- wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt der Grup- tätigen. Ob 100 Kilometer in Biel, der Rennsteiglauf oder pe. 1985 wurde die jährliche Trimmeröffnung im Früh- der Swiss-Alpin – der Spicher Lauftreff war mit von der jahr eingeführt, dazu ein Grillfest im Sommer sowie ein Partie. Walken, Wandern oder auch die Teilnahme am Spi- Weihnachtsessen bzw. einen Adventskaffee, bei dem auch cher Rosenmontagszug sind feste Bestanteile im Angebot Familienangehörige gern gesehene Gäste waren. Dem des seit Anbeginn familiär geführten Lauftreffs.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 99 Rolf Möller 1939 – Ein „Waldstadion“ für Troisdorf

Vor einigen Jahren bekam ich von einem mittlerweile verstorbenen Troisdorfer Bürger einige Exemplare der „Troisdorfer Zeitung“ aus den 30er Jahren. Die Zeitung wurde um 1900 gegründet und bis 1989 von der „Druckerei und Presseverlag Möller“ in der Wilhelmstraße herausgegeben.

100 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 n einer Ausgabe von 1939 gab es eine umfängliche dem Maifeld vor 700.000 Volksgenossen Mussolini IMitteilung der Gemeindeverwaltung zum Bau und seine faschistische Entourage. eines „Waldstadions“ im Bereich östlich der Burg Wissem. Der Gemeindebaumeister Heise hatte dem Die Vorgeschichte zu der „Sportanlage“ für Gemeinderat eine Entwurfsplanung für eine um- Troisdorf war eine lange. Schon Anfang der 30er fangreiche Sportanlage vorgestellt. Im Archiv der Jahre hatten sich die Vertreter der Troisdorfer Spiel- Stadt lässt sich zu diesem Vorgang leider nichts fin- und Sportgemeinde an die Politik gewandt und ihre den. Auch über die weitere Behandlung des Projek- Wünsche zu einer neuen Sportanlage vorgetragen. tes ist nichts nachweisbar erhalten. Sie argumentierten, die bestehenden Plätze „hät- ten mit der starken Entwicklung des Ortes und des Die gesamte Planung wirkte im Verhältnis zu Sports im Ort nicht Schritt gehalten“. Auf der An- der Einwohnerzahl der Gemeinde von knapp 10.000 lage der „Heide“ boten zwar drei Plätze genügend Köpfen geradezu gigantisch. Das Stadion selbst Raum, doch waren sie wohl in einem recht beschei- sollte bis zu 20.000 Zuschauern Platz bieten. denen Zustand und genügten den Ansprüchen der Zeit und vor allem den leichtathletischen Ansprü- Eine 400-m-Aschenbahn diente den Leichtath- chen in keiner Weise. Kolportiert wurde, dass „aus- leten, parallel dazu verlief ein sogenannter „Um- wärtige Vereine nicht mehr gern hierhin kommen“. marschweg“. Ebenso vorgesehen waren eine 110-m- Strecke für die Hürdenläufer, Sprunganlagen und Im Besonderen die Vertreter der Fußballer fühl- ein Bereich für das Kugelstoßen. Anlagen fürs Dis- ten sich in einer starken Position. Der Spiel- und kuswerfen und den Hochsprung waren ebenfalls im Sportverein Troisdorf 05 war auf dem Weg, eine Programm. Sogar der an Beliebtheit zunehmende deutsche Spitzenmannschaft zu werden. Seit An- Tennissport sollte mit einigen Plätzen gefördert fang des Jahrzehnts spielten sich die Fußballer in werden. Für einen späteren Zeitpunkt war eine Tri- immer höherer Spielklassen, erreichten 1930 die büne mit zahlreichen Sitzplätzen auf der Geraden Sonderklasse, die damals höchste deutsche Spiel- eingeplant. Auch ein Clubhaus sowie umfangreiche klasse. Nach einer Umstrukturierung des Ligensys- Räume für die Belange der Sportler, Wasch- und tems 1935 verpasste der SSV 05 den Einzug in die Brauseräume, Aufenthalts- und Geräteräume er- neu geschaffene Gauliga, die bis weit in den Trierer freuten das Herz der Vereinsvertreter und Sportler. Raum reichte. Dies gelang dann doch noch 1938 und führte sogleich zur Vizemeisterschaft. Auf der Westseite des Stadions wies der Plan eine etwa ein Hektar umfassende Fläche für leichtathleti- Doch die Verantwortlichen in den jungen Jahren sche Übungen aus. Diese sollte, so die Verlautbarung, des Jahrzehnts winkten ab, eine neue Sportanlage gleichfalls als Aufmarschplatz für die „Volksgenos- rückte in weite Ferne. Die weltweite Finanzkrise sen“ dienen. Deren 40.000 waren angedacht. Die wirkte noch nach, es gab keine ausreichenden Mit- Presseerklärung der Gemeinde sieht für den Platz tel. Später verbot sich eine Erweiterung des Platzes auch die Möglichkeit der Nutzung für Versammlun- auf der „Heide“, da die Politik signalisiert hatte, dass gen, Ausstellungen oder Zirkusveranstaltungen. der Raum dort für die Ausweitung der benachbar- ten Industrie gebraucht würde. Die Aufrüstung war Die Grundstruktur dieser Planung erinnert ver- schon voll im Gange. Damit hatte der wohl kriegs- blüffend an die Architektur des „Reichssportfeldes“ wichtige Betrieb „Dynamit“ Vorrang. mit dem Olympiastadion und dem vorgelagerten „Maifeld“ in Berlin. Das dürfte kein Zufall sein. Doch vor allem die Vertreter der Fußballer blieben Der Plan entspricht den „von oben“ formulierten „am Ball“. Nachdem der Staatskommissar von Hirsch- Ansprüchen. feld, der nach dem plötzlichen Tod des erst 1935 ins Amt gekommene NS-Bürgermeisters Helmut Jacobs Das angedachte Troisdorfer Stadion kann man die Geschäfte der Gemeinde übernommen hatte, seine als kleinen Bruder dieser riesigen Olympiaanlage Aufgabe beendete und Ernst Schürmann als Bürger- verstehen, die 1936 nicht nur in Deutschland, son- meister eingeführt wurde, kam Bewegung in die An- dern in der ganzen Welt Aufsehen erzeugte. So sollte gelegenheit. Er hatte ein Ohr für die Wünsche und man dies in Berlin wie auch hier im kleinen Trois- Sorgen der einheimischen Sportfunktionäre, sicher dorf als eine wirkungsmächtige architektonische In- auch verbunden mit der Umsetzung der vom NS-Staat szenierung des nationalsozialistischen Systems ver- vorgegebenen Struktur der Versammlungsorte für die stehen. So begrüßten 1936 Hitler und Goebbels auf verschiedenen Organisationen des Systems.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 101 Quelle: wikimedia.org/wikipedia/commonsQuelle:

Nach einer gemeinsamen Sitzung und Ortsbe- man das Stadion zum einen von der Altenrather sichtigungen einigte man sich auf eine Überplanung Straße sowie auf einer neu zu bauenden Straße von von Teilen des ehemaligen Landschaftsparks östlich der Frankfurter Straße über den Elsenplatz auf ei- der Burg Wissem. Die Burg und ihre Gebäude, so- nem geraden Weg. wie 500.000 qm Wald, Wiese und Ackerland, waren kurz zuvor von der Gemeinde erworben worden In einem nachgereichten Kommentar schreibt und konnten somit in die Planung aufgenommen die Redaktion: „Man kann sich nur wünschen, werden. Für die Entwässerung des umfangreichen dass recht bald begonnen wird. Die Mannschaft Geländes sollte der dort locker mäandrierende von Troisdorf 05 steht vor entscheidenden Spie- Heimbach kanalisiert werden. len. Die Aussicht auf die neue Sportstätte wird den Troisdorfer Mannen ein weiterer Ansporn sein, Die formulierten Ansprüche für das entspre- ihr Letztes herzugeben, um einen Sieg heraus- chende Sportgelände mit einem Stadion für ma- zuholen.“ ximal 20.000 Zuschauer zwangen den Planer zu umfassenden Infrastrukturmaßnahmen. So waren Ob nun die Realisierung dieses Projektes die Parkplätze für „Kraftwagen“ und Busse geplant so- spätere Talfahrt dieses Vereins verhindert hätte? wie zahlreiche Fahrradstellplätze. Erreichen wollte Wer weiß? z

102 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Jörg Hemptenmacher Die Industrialisierung Troisdorfs, die Eisenbahn und die „Bundesbahnschule Oberlar“ Foto: DB AG

Bild 1: „Trainingszentrum & Gästehaus Troisdorf“ der Deutschen Bahn AG, Linden­straße 28, Eingangsbereich von 1997 bis Oktober 2019, ganz rechts der Altbau von 1900 der früheren „Bundesbahnschule Oberlar“, Lindenstraße 26

Troisdorf hat mit seinen inzwischen rund 77.000 Einwohnern eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen. Die Einwohnerzahl steigt auch heute noch immer leicht an. Der Aufstieg zur größten Stadt im Rhein-Sieg-Kreis war für diese am Anfang des 19. Jahrhunderts eher unbedeutende Siedlung durchaus nicht vorgezeichnet. Schließlich liegt das historische Zentrum von Troisdorf, der Bereich um den heutigen Ursulaplatz, eher ungünstig. Es liegt am Übergang der unteren Niederterrasse, einem Überschwemmungsgebiet an Agger und Sieg, zur oberen Niederterrasse, einer unfruchtbaren Binnensanddüne. Straßennamen wie „Am Pfuhl“ oder alte Ortsbe­zeichnungen wie „Auf dem Sand“ und „Bergstraße“ deuten darauf hin. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts stieg die Einwohnerzahl langsam auf über 1.000 an. Um 1890 gab es neben der Burg Wissem 350 Wohnhäuser. Damals lebten hier durchweg kleine Landwirte. Im benachbarten Sieglar hat man viel bessere Böden und die Landwirtschaft hatte es leichter. „Trostlos auf der Heide!“ ließ in seinem Lobgedicht auf Troisdorf der Heimatdichter J. Kötter einen Spötter sagen, doch der hatte Troisdorf ja schlecht gekannt – ob Kötter wohl heute Troisdorf wiedererkennt? / P. Trippen /

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 103 Erste Schritte der Eisenbahn in Troisdorf Köln durch große Interessenkonflikte. Zunächst wehrte sich die Rheinschifffahrt heftig gegen diese Die spezielle Topographie bereitete auch dem Eisen- ernste Konkurrenz. Ganz offensichtlich hatte auch bahnbau in Troisdorf große Probleme. Man musste Siegburg bei der Streckenführung über Troisdorf in den tiefergelegenen Überschwemmungsgebieten und Friedrich-Wilhelms-Hütte das Nachsehen. hohe Bahndämme aufschütten und schließlich die Sogar Köln nahm massiv Einfluss auf die Planung. Agger und die Sieg überbrücken. Die „Köln-Min- Die Stadt hatte 1859 mit Hilfe der beiden zuvor dener Eisenbahngesellschaft“ erhielt 1854 die Kon- genannten privaten Eisenbahngesellschaften eine zession zum Bau einer Eisenbahnstrecke Köln-Gie- „feste“ Brücke über den Rhein gebaut. Also war ßen (mit Weiterführung nach Frankfurt). Schon auch Köln an einer weiteren rechtsrheinischen am 1. 1. 1859 wurde diese sogenannte „Siegstrecke“ Bahnanbindung stark interessiert. Das letzte Wort als Troisdorfs erste Eisenbahnanbindung zwischen hatte aber zu dieser Zeit immer noch die preußi- Deutz und Hennef eröffnet. Die „rechte Rheinstre- sche Regierung, die eine Konzession jahrelang cke“ gewann durch den Deutsch-Französischen verweigerte. Krieg strategische Bedeutung. Der öffentliche Bahnverkehr startete dann schließlich auch hier ab Als Kompromiss erhielt Siegburg eine eigene Mitte 1871, und zwar zunächst von Oberkassel bis Bahnverbindung nach Friedrich-Wilhelms-Hütte Troisdorf. Diese Strecke war so nachgefragt, dass und so den gewünschten direkten Rheinbahn- sie schon 1883 zweigleisig ausgebaut werden musste anschluss. Diese im Bogen geführte Zweigbahn und voraussichtlich ab 2026 dann sogar drei- und wurde 1872 fertig gestellt – der Volksmund nannte viergleisig sein wird. Am 19. 11. 1874 erfolgte die sie „Krummbahn“. Sie fristete aber ein Schatten- feierliche Eröffnung der gesamten Rheinstrecke dasein und blieb zunächst nur bis 1880 in Betrieb. von Troisdorf weiter über Köln-Kalk bis ins Ruhr- Lediglich in Krisenzeiten gewann sie immer wie- gebiet nach Mülheim-Speldorf an der Ruhr. der strategische Bedeu­tung und wurde neu belebt. Während des Ersten Weltkriegs war das der Fall, Pikanterweise hatte man für Troisdorf zunächst mit dessen Ende ihre Nutzung aber auch schon gar keinen Bahnhof vorgesehen mit dem überra- wieder eingestellt wurde. Im Zuge ausbleibender schenden Argument: „Kein Bedarf! Keine attraktive Reparationsleistungen besetzten von 1922 bis 1926 Industrie!“ / E. Land / Aber ausgerechnet ein Indus- die Franzosen auch Troisdorf und führten den Ei- trieller und dazu ein Mendener Bürger, der General­ senbahnbetrieb in Eigenregie durch. Im Norden direktor der „Friedrich-Wilhelms-Hütte“, Emil von Troisdorf begann die Britische Zone. Troisdorf Langen, gab 1861 den entscheidenden Anstoß zum wurde zum Übergangspunkt zwischen der Fran- Bau des ersten Troisdorfer Bahnhofs. Er garantierte zösischen „Regiebahn“ und der Reichsbahn. Mit sogar den zuvor noch in Frage gestellten Bedarf mit der Krummbahn konnte diese Regiebahn umgan- festen Transport-Zusagen. Er beteiligte sich auch gen werden und die Hütte mit den notwendigen noch zu einem Drittel, wie übrigens auch Sieglar, an Rohstoffen über die Siegstrecke versorgt werden. den Baukosten für den Bahnhof. Das Hüttenwerk Mit dem Abzug der Franzosen 1926 endete auch hatte damit aber noch immer keinen direkten Bahn­ wieder der Betrieb der Krummbahn. Die Freude anschluss. Eine werkeigene Pferdeeisenbahn stellte der Troisdorfer über die wieder gewonnene Sou- zunächst die Verbindung bis in die Troisdorfer veränität währte aber nicht lang. Dem nun einset- Kuttgasse her. Diese auch „Hüttenbahn“ genannte zenden großen Aufschwung folgte auch in dessen Schmalspurbahn verkehrte später auch mit kleine- Konsequenz der Zweite Weltkrieg. Ein letzter Wie- ren Dampflokomotiven. deraufbauversuch der Krummbahn geschah unter militärischem Druck mit Kriegsgefangenen und Als die „Rheinische Eisenbahngesellschaft“ Zwangsarbeitern. Auch dieser Versuch scheiterte schließlich die rechtsrheinische Eisen­bahn baute, am Ende des Zweiten Weltkriegs. 1947 wurden fuhr diese ab 1871 nun unmittelbar an der Hütte die Bahnanlagen nun wohl endgültig wieder ab- vorbei und ermöglichte einen direkten Werkan- gebaut. In Troisdorf findet man heute kaum noch schluss. Emil Langen konnte diesen für ihn güns- Spuren dieser denkwürdigen „Krummbahn“ (siehe tigen Streckenverlauf offensichtlich durchsetzen, Anhang: Ehemalige Bahntrasse in Kartenmitte). denn er saß auch im Aufsichtsrat dieser Eisenbahn- Siegburg kann sich heute aber trösten mit einem gesellschaft. Obwohl so vieles für den Bau einer sehr attraktiven ICE-Bahnhof und einer direkten rechtsrheinischen Eisenbahn sprach, verzögerte Schienenverbindung zum Bonner Hauptbahnhof sich ihr Bau speziell zwischen Bonn-Beuel und mit der Straßenbahnlinie 66.

104 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Die Anfänge der Troisdorfer Eisenbahn liegen Das Bahnhofsumfeld, ein Stadtspaziergang also in der Zeit der großen privaten Eisenbahnge- sellschaften. Es war eine Zeit des industriellen Auf- Nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt beginnt bruchs und einer gewissen Goldgräberstimmung heute die Troisdorfer Fußgängerzone mit der Post- mit allen wirtschaftlichen Höhen und Tiefen. Auch straße (vor dem Bahnhof hieß sie zeitweise auch aus strategischen Gründen verfolgte Otto von Bis- Bahnweg). Geht man etwas weiter, steht man nach marck ab 1871 die Entwicklung eines einheitlichen wenigen Schritten auf der Fußgängerbrücke über Staatsbahnsystems, das sich bis heute grundsätzlich die Wilhelmstraße. Hier bekommt man einen guten bewährt hat und auch sinnvoll ist. Nach der Reichs- Eindruck von den großen Höhen­unterschieden in gründung 1871 behielten die einzelnen Bundesstaa- Troisdorf. In Richtung Bahndamm schaut man auf ten zunächst aber noch ihre Hoheitsrechte über die die Eisenbahn­unterführung der Blücherstraße als Eisenbahn. Das war die große Zeit der Länderbah- Fortsetzung der Wilhelmstraße. Durch die Unter­ nen, in der Preußen nach und nach einige große führung Blücherstraße führte seinerzeit der Weg Eisenbahngesellschaften verstaatlichen konnte, un- zum Troisdorfer Bahnhof (Bild 2). ter anderen auch am 1. 1. 1880 die Rheinische und der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft. Erst Das Bahnhofsgebäude stand hier in Insellage 1920 wurde der größte Teil aller Eisenbahnen in zwischen den Gleisen – auf der Nord­seite die Gleise Deutschland der zentralen Verwaltung des Reichs der Siegstrecke, auf der Südseite die der rechten unterstellt. Mit der Gründung der „Deutschen Rheinstrecke. Das Bahnhofsgelände musste auf- Reichsbahn-Gesellschaft“ 1924 wurden die Bahnen wendig angeschüttet werden und bekam zwischen schließlich zu einem einzigen Staatsunternehmen den Gleisen eine eigene Zufahrt (rechts im Bild 2). zusammengefasst. Unter anderem war der Bahnhofsstandort zwi-

Bild 2: Blick um 1900 vom Troisdorfer Bahnhof über die Unterführung der Blücherstraße auf Troisdorf mit der Pfarrkirche St. Hippolytus; rechts die eigene Auffahrt zum Bahnhofsvorplatz (Ansichtspostkarte, gestempelt 1914) Foto: FischerFoto:

Bild 3: Blockstelle Lind, 1950, Blick in Richtung Porz-Wahn, links die Güterzuggleise, rechts die beiden Gleise der Reisebahn; es gilt jeweils Rechtsverkehr

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 105 schen den Gleisen auch dem Konkurrenzdenken Eingangstor zur Stadt ist heute nur noch ein Tor mit der beiden Eisenbahn­gesellschaften geschuldet. Die Treppenabgang geblieben. Auch eine große Bahn- Züge der Köln-Mindener nutzten ausschließlich hofsuhr, früher unverzichtbares Zeichen eines Bahn- den Nordbahnsteig, die der Rheinische Eisenbahn- hofs, gibt es nicht mehr. Der weitere Fußweg durch gesellschaft nur den Südbahnsteig. Eine sinnvolle die gesamte Fußgängerzone bis hin zum Ursulaplatz Gleisverbindung untereinander existierte nicht, ist auch heute noch weit. Man spürt aber, wie Trois- weder im Bahnhofs­bereich, noch im weiteren Stre- dorf im Laufe der Zeit kontinuierlich nach Westen ckenverlauf bis Köln-Kalk. Das führte zu dem Ku- zum Bahnhof hingewachsen ist, so dass – auch dank riosum, dass hier zwei Gesellschaften zwei Bahn- der Eingemeindungen von 1969 – der Bahnhof heute trassen völlig getrennt neben­einander gebaut haben. zentral, nahezu in der Mitte der Stadt liegt. Später mit gestiegenem Verkehrsaufkommen waren beide Anlagen natürlich hochwillkommen (Bild 3). Wendet man sich aus dem Bahnhof kommend Heute liegen hier sogar drei Gleispaare. einmal nach links, so steht man schon nach wenigen Schritten in der früheren Gemeinde Sieglar und ih- Troisdorfs stattlicher Bahnhof wurde im Zweiten rem Ortsteil Oberlar, also noch vor der Eisenbahn- Weltkrieg bis auf das Erdgeschoss weitgehend zer- unterführung der Sieglarer Straße. Die Bahnanla- stört, er wurde aber erst 1969 endgültig aufgegeben gen im Bahnhofsvorfeld erstreckten sich damals wie (Bilder 4 a, b). Ein moderner Bahnhofsneubau war heute über das frühere Sieglarer Gebiet noch weiter zum Stadtzentrum hin an der heutigen Poststraße bis nach Spich. Auf dieser ebenen und damals noch entstanden. Nach 50 Jahren musste auch dieser ei- freien Heidefläche entstand Anfang des 20. Jahrhun- nem Multifunktionsgebäude mit Bahnhofseingang derts ein bedeutender Güterbahnhof mit einem gro- weichen. Von einem stolzen Bahnhofsgebäude als ßen Eisenbahnbetriebswerk. Nach Größe und Lage

Bilder 4 a, b: Empfangsgebäude um 1938 / 40 (Bahnhofsvorplatz) … Skizze: M. Otten aus /E. Land/ Foto: Fischer / Archiv Eisenbahnstiftung Foto: Fischer / Archiv Eisenbahnstiftung

… und Nordbahnsteig 1950 mit angebautem Wartesaal in Erwartung des Zuges nach Siegen; vom einst stolzen Bahnhof Troisdorf blieb nur ein Torso; heute liegen hier die ICE-Gleise

106 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 dieser Bahnanlagen hätte der Troisdorfer Bahnhof tung der Walzwerk Abteilung angetragen wurde. damals durchaus auch den Namen „Sieglar“ verdient. Gemeinsam mit Carl Eugen Langen, Emil Langens jüngerem Bruder, löste er das Walzwerk 1885 aus der Maschinenbau-Anstalt heraus und führte es Die Industrialisierung Troisdorfs als selbständiges Unternehmen unter dem Namen und die Eisenbahn „Façon­eisen-Walzwerk L. Mannstaedt & Cie. AG“ weiter. Schon 1910 produzierten 1.000 Arbeiter in Die zunehmende Bedeutung Troisdorfs ist zweifel- Köln-Kalk über 50.000 Tonnen Eisenteile. Muster- los eng verbunden mit der Industrialisierung, die bücher weisen über 8.000 Spezialprofile aus. Die hier Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Durchbruch Fertigung dieser Spezial-Profileisen und Ziereisen hatte. Der Aufstieg kam zunächst mit der Stahlin- war so erfolgreich, dass sie schon nach wenigen Jah- dustrie, der wiederum untrennbar verbunden ist ren als „Mannstaedteisen“ zu einem festen Begriff mit der Eisenbahn. Am Anfang einer stürmischen wurden. Entwicklung stand das Jahr 1911 und der Name eines orts- und fachkundigen Industriellen: Louis Da in Köln-Kalk keine weiteren Ausdehnungs- Mannstaedt. Er übernahm die durch ein Hoch- möglichkeiten gegeben waren, entschloss sich Louis wasser angeschlagene „Friedrich-Wilhelms-Hütte“. Mannstaedt zu einer Verlagerung des Werks nach Zwischen 1864 und 1866 hatte er bereits „auf der Troisdorf. Hier hatte Louis Mannstaedt ganz offen- Hütte“ gearbeitet und das der Hütte angegliederte sichtlich die besten Voraussetzungen für das Werk Walzwerk sehr erfolgreich ausgebaut. Die Friedrich- gefunden. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen Wilhelms-Hütte befand sich im Besitz der Zucker- gehörte neben dem weiträumigen Werkgelände na- industriellen-Familie Langen aus Köln. 1846 hatte türlich der bis heute bedeutende Gleisanschluß (Bild Eugen Langen die Leitung übernommen und den 5). Die Belegschaft aus Köln-Kalk war zunächst wohl seit 1825 bestehenden Hütten­betrieb neu organisiert weniger erbaut von dem provinz­iellen Troisdorf. und ausgebaut. Emil Langen verließ 1867 Trois- Also wurden für sie noch vor 1914 drei vorbildliche dorf und gründete das Eisenwerk Salzgitter. Louis Wohnsiedlungen gebaut, die „Kolonie Neu-Kalk“, Mannstaedt hatte an verschiedenen Orten weitere später „Rote Kolonie“ genannt, die „Schwarze Ko- Berufserfahrung gesammelt, als ihm in Köln-Kalk lonie“ und schließlich die „Beamten-Kolonie“ (auch in der „Maschinenbau-Anstalt Humboldt“ die Lei- „Kasino-Viertel“ genannt). Foto: 2018, Hemptenmacher

Bild 5: Mannstaedt-Werklokomotive am Stahleingangslager (Knüppelplatz) der Friedrich-Wilhelms-Hütte, heute „Mannstaedt GmbH“

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 107 Die heutigen Mannstaedt-Werke und der Orts- Bankkaufmanns erkannte er schnell die Standort­ teil Friedrich-Wilhelms-Hütte gehören erst seit der vorteile für seine Fabrik am Rande von Troisdorf. kommunalen Neuordnung vor 50 Jahren komplett Neben der guten Verkehrsan­bindung durch die Ei- zu Troisdorf. Das Werk beschäftigte zeitweise über senbahn war der sandige Heideboden für ihn von 4.300 Leute. Neben dem eigentlichen Hüttenwerk größtem Interesse. Land war hier günstig und auch zur Stahlerzeugung wurden die nachgelagerten großflächig zu erwerben. Es lag abseits der Wohnbe- Fertigungsstufen immer weiter ausgebaut: Walz- bauung, es gab im Umkreis viele Arbeitskräfte und werke für Grob- und Fein-Blech, Walzwerke für die allgemein stellte man auch ein gewisses Wohlwollen unterschied­lichsten Stabeisen, dem „Mannstaedt- fest gegenüber der neuen Fabrik trotz ihrer Risiken. eisen“ sowie für Rohre, eine bedeutende Gießerei und eine Maschinenfabrik für Schrauben etc. Diese 1887 begann der Bau einer Munitionsfabrik, große Fertigungstiefe wurde im Laufe der Zeit zu- nachdem schon zuvor die Zündhütchenfabrik ge- nehmend zurückgenommen, und man spezialisierte baut worden war. Alfred Nobel entwickelte die frü- sich auf Stahlprofile, also auf die so erfolgreichen heren Zündhütchen zu den modernen Sprengkap- Zier- und Profileisen, die inzwischen auch inter- seln weiter. Diese ermöglichen bis heute erst einen national als „Mannstaedteisen“ bekannt waren. In sicheren Einsatz von Dynamit. Hauptabnehmer für einem hochmodernen Walzwerk werden heute mit Dynamit und Sprengkapseln in Friedens­zeiten war etwa 750 Mitarbeitern ausschließlich Stahlprofile der Kohlebergbau. Dank der neuen Bahnlinie von produziert – in großer Vielfalt und mit hoher Prä- Troisdorf nach Speldorf bei Mülheim an der Ruhr zision (Bild 6). Die „Mannstaedt GmbH“ zählt auch gab es auch eine direkte Bahnverbindung zu diesem heute zu den größten Arbeitgebern im Rhein-Sieg- wichtigen Absatzmarkt, dem Ruhrgebiet (Bild 7). Kreis und steht auf dem vierten Platz der elf größten Für die Fabrik hatte sich schon bald der Name „Züfa“ Unternehmen / KSta vom 6. 10. 2017 /. eingebürgert, den man auch heute noch kennt. Nach dem Ersten Weltkrieg gesellte sich zu der „Züfa“ ein Weniger mit „Stahl und Eisen“ (Stahlindustrie zweiter Name, und zwar die „Kufa“. Die schon vor und Eisenbahn), als vielmehr mit „Dynamit und dem Krieg begonnene Celluloid Produktion wurde Kunststoff“ wurde aber Troisdorf letztendlich inter- zum Grundstein für eine neue Kunststoff-Fabrika- national bekannt. Ein anderer weitsichtiger Indus­ tion. Der 1910 auf seinen Vater Emil Müller folgende trieller wurde auf Troisdorf aufmerksam und nutzte Sohn Dr. Paul Müller erwies große Weitsicht, als er den günstigen Standort für seine Industrie, der Che- mit der 1919 verbliebenen Restbeleg­schaft von 500 miker Emil Müller. Er hatte sich nach dem Krieg Leuten die Kunststoff-Produktion wieder aufnahm. 1870 / 1871 der Sprengstoffindustrie zugewandt. Auch dazu wurde in Troisdorf sehr viel Pionierar- 1886 gründete er in Köln die „Rheinisch-West- beit geleistet. Paul Müller führte das Werk bis 1945 fälische Sprengstoff-Actien-Gesellschaft“ (RWS). durch viele Höhen und Tiefen und durch zwei Welt- Durch Vermittlung eines gebürtigen Troisdorfer kriege (siehe Nachwort). Mit der Fusion des Ham- Foto: Stadt 2019, Troisdorf Foto: Robin Fell / Archiv Eisenbahnstiftung

Bild 6: Kleine Auswahl aktueller Stahlprofile der Bild 7: Zwischen den Fabrikhallen der Dynamit Nobel AG „Mannstaedt GmbH“, zum Beispiel Vierkant-Hohlprofil für (heute Gerflor, PVC-Bodenbeläge) und der Bundesbahn­ Lkw-Achsen oder Führungsschienen für Flurförderfahrzeuge schule fährt 1961 eine Preußische G 8.1 (55 5414) in Richtung Köln; der Gleisanschluss der DN ist bis heute betriebsbereit, wird aber nur noch selten genutzt

108 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: 2020, Hemptenmacher 2020, Foto:

Bild 8: Rhein-Sieg-Kreis Eisenbahn auf der ehemaligen Kleinbahn Siegburg-Zündorf mit RSVG-Bus vor der Sieglarer Betriebszentrale burger Unternehmens übernahm man 1930 auch großes Interesse stieß. Mit einem Extruder bringt dessen Namen: „Dynamit-Actien-Gesellschaft vor- man thermoplastische Kunststoffe, in der Regel zu- mals Alfred Nobel & Co“. Später wurde letztendlich nächst ein Granulat, in eine brauchbare Form. So daraus die „Dynamit Nobel Aktiengesellschaft“, die entsteht entweder bereits das Endprodukt oder ein auch heute noch kurz als „DN“ bezeichnet wird. Mit Halbzeug, zum Beispiel eine Folie oder ein Vliesstoff bis zu 16.000 Beschäftigten war die DN mit Abstand zur weiteren Verarbeitung. Von einzelnen Spezial- der größte Arbeitgeber am Ort. Vor allem die im werkzeugen bis hin zu kompletten Hochleistungs- Krieg sprunghaft ansteigenden Mitarbeiter­zahlen Fertigungsstraßen erstreckt sich heute das breite konnten aus Troisdorf und seiner Nachbarschaft Firmenangebot. Auch heute verfügt die Firma Rei- nicht mehr gedeckt werden. Arbeitskräfte mussten fenhäuser noch über einen eigenen Gleisanschluss, auch in der weiteren Umgebung oder im Ausland der aber schon lange nicht mehr genutzt wird. rekrutiert werden – in aller Regel reisten sie mit der Eisenbahn an. Schon 1890 / 1891 wurde auch eigens Am Ende der Liste der elf größten Unterneh- für die „Züfa-Fabrikarbeiter“ neben dem Troisdor- men im Rhein-Sieg Kreis steht die „Rhein-Sieg- fer Personenbahnhof eine Wartehalle IV. Klasse für Verkehrsgesellschaft“ (RSVG) / KSta /. Mit 480 Mit- 400 Fahrgäste errichtet. arbeitern zählt die RSVG als kreiseigenes Bus- und Eisenbahnunternehmen aber zu den größten Ver- Auf Platz drei der elf größten Unternehmen im kehrsunternehmen im gesamten Kreis. Neben den Rhein-Sieg Kreis steht die Troisdorfer Firma Rei- zahlreichen Bussen stehen auch zwei Diesellokomo- fenhäuser, die an ihrem Stammsitz in Sieglar 870 tiven (Baujahr 1971, Typ MaK) in der Betriebszen­ Mitarbeiter beschäftigt. Aus einer 1911 in Troisdorf trale in Sieglar. Unter dem traditionsreichen Namen von Anton Reifenhäuser gegründeten Schmiede „Rhein-Sieg-Kreis Eisenbahn“ rangieren sie regel- heraus entwickelte sich ein auch international tä- mäßig Güterwaggons im Troisdorfer Güterbahn- tiges Spezialunternehmen für Kunststoffverarbei- hof und gewährleisten den inzwischen seit über 100 tungsmaschinen. 1948 brachten die beiden Söhne Jahren bewährten Eisenbahnbetrieb auf der über 15 Hans und Fritz den ersten Reifenhäuser Schnecken­ Kilometer langen Strecke zwischen Niederkassel- extruder auf den Markt, der auch bei der DN auf Lülsdorf und Troisdorf-Spich (Bild 8).

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 109 Der Troisdorfer Güterbahnhof wieder. Das Bild 10 zeigt eine typische Szene mit Besandungsanlage und Dampflok aus dem Bahnbe- Mit dem zunehmenden Eisenbahnverkehr entwi- triebswerk. Direkt nebenan in der Lindenstraße lag ckelte sich auch die Bahn schnell zu einem bedeu- die seinerzeit sehr innovative Korbwarenfabrik Carl tenden Arbeitgeber in Troisdorf. Ende des 19. und Hochherz (Bild 9 unten). Sie inserierte 1917 als Fab- Anfang des 20. Jahrhunderts war die große Zeit der rik für „Moderne Korbmöbel – Gartenmöbel, Lie- Dampflokomotiven. Ihr begrenzter Aktionsradius gestühle, Kinderwagen, Kindermöbel“ und verfügte und die aufwendige Wartung erforderten entspre- natürlich auch über einen eigenen Gleisanschluss. chende Einrichtungen, die sogenannten Eisenbahn- betriebswerke. Aber nicht nur die Lokomotiven Unterbrochen durch die Ruhrbesetzung und mussten versorgt werden, auch die einzelnen Wag- die Weltwirtschaftskrise hielt diese günstige Ent- gons mussten je nach Laufweg im Rangierbahnhof wicklung bis gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu kompletten Zugverbänden zusammengestellt an. Danach erlangte der Troisdorfer Güterbahn- werden. Troisdorf war und ist Knoten­punkt an drei hof aber seine große Bedeutung nicht wieder zu- stark frequentierten Eisenbahnlinien in Richtung rück. Zunächst galt es, auch speziell im Troisdorfer Siegen, Wiesbaden und Köln. Die große Bedeutung Bahnhof, die schweren Kriegsschäden zu beseitigen. des Troisdorfer Güterbahnhofs und des Eisenbahn­ Trotz schwierigster Startbedingungen übertraf die betriebswerks lässt ein alter Gleisplan aus den 1920er noch junge Deutsche Bundesbahn aber schon in den Jahren erkennen, auf dem hier vier Drehscheiben 1950er Jahren die großen Transportleistungen der mit bis zu 23 Meter Durchmesser, zwei Ringlok- Reichsbahn aus den 1930er Jahren im Westen. Die schuppen mit 30 Stellplätzen und drei Ablaufberge Bahn war zu einem unverzichtbaren Bestandteil der mit zahlreichen Aufstellgleisen (Gleisharfen) zu Wirtschaftswunderjahre geworden und fuhr mit ih- sehen sind / E. Land /. Der Troisdorfer Güterbahn- rem Güterverkehr auch gute Erträge ein. Aber schon hof entwickelte sich schnell zu einem der größten in den 1950er Jahren geriet die junge Bundesbahn Güterbahnhöfe überhaupt. Dennoch existieren nur unter großen Rationalisierungsdruck, nicht nur we- sehr wenige Bild­dokumente aus dieser Zeit. Bild 9 gen der Altlasten. Der Traktionswechsel, die Elektri- gibt einen Ausschnitt aus dem Gleisplan von 1954 fizierung, die heute überwundene deutsche Teilung Archiv: Strack Klaus

Bild 9: Gleisplan-Ausschnitt des Troisdorfer Bahnbetriebswerks von 1954, in der Mitte unten rechts die Lindenstraße, unten mittig die „Bundesbahnschule Oberlar“ (siehe Pfeil), hier bezeichnet als Übernachtungsgebäude

110 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Bild 10: Bahnbetriebswerk Troisdorf, Schlepptender-Güterzuglokomotive 56 2097 steht in der Besandungsanlage vor der rechten Drehscheibe am Lokschuppen, auch zu sehen auf Bild 9, Mittel links

speziell bei einem der besten

Foto: 1953, Robin Fell / Archiv Eisenbahnstiftung Bahnkunden, der Montanindus- trie. Obwohl Troisdorf unmittel- bar an der „Rheinschiene“ liegt, eine der wichtigsten Eisenbahn- linien Europas, ging seine Be- deutung als Eisenbahnstandort immer weiter zurück. Mit fort- und vor allem die sich schon damals abzeichnende schreitender Bahntechnik verlor Troisdorf auch Konkurrenz auf der Straße, ab 1955 auch in der Luft, seine vielfältigen Eisenbahn-Aufgaben, zuerst im sind bis jetzt aktuell. Bahnbetriebswerk, später auch im Rangierbahnhof. Benachbarte Standorte in Köln übernahmen die Am 11. 10. 1949 wurde im Westen die „Deutsche verbliebenen Aufgaben. Inzwischen waren die war- Bundesbahn“ aus der Taufe gehoben. Sehr schnell tungsintensiven Dampflokomotiven zu einem Aus- wurden einige Geburtsfehler offenkundig. Der Staat laufmodell geworden. Die letzte Dampflokomotive blieb zwar Eigentümer der Bahn, ließ sie aber eigen- wurde noch 1959 in Dienst gestellt, ab 1977 bis 1982 wirtschaftlich arbeiten – ein bis heute nicht gelöster galt aber schon ein generelles Dampflokverbot. Die Widerspruch. Denn die Politik bestimmt nach dem Elektrifizierung der Eisenbahnstrecken schritt zü- Opportunitäts-Prinzip und nicht nach wirtschaft- gig voran, ab 1962 fuhr man auf der rechten Rhein- lichen Gesichtpunkten. Bei der Wiedervereinigung strecke, ab 1980 auch auf der Siegstrecke unter dem von Bundesbahn und Reichsbahn und der „Wieder- elektrischen Fahrdraht (Bilder 11 und 12). Die me- geburt“ als Deutsche Bahn AG am 1. 1. 1994 machte chanischen Signalanlagen wurden zu elektrischen man zum Teil die gleichen Fehler. Lichtsignalen umgebaut, die Hebelstellwerke durch zentrale Drucktasten-Gleisbildstellwerke mit Re- Auch das deutsche Wirtschaftswunder erlebte laistechnik (ab 1960) und später durch die elektroni- schon Ende der 1960er Jahre eine erste Rezession, schen Stellwerke (ab 1986) ersetzt. Wenige Personen Foto: Heinz Müller Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland Abteilung Landesarchiv NRW,

Bild 11: Zwei Eisenbahn-Welten in Troisdorf: Elektrische E41 nach Bild 12: „Die Elektrifizierung der Deutschen Niederlahnstein und preußische Dampflok T 18 (BR 78) aus Au (Sieg); Bundesbahn erreichte im Oktober 1963 der markante Wasserturm stand bis in die 1970er Jahre, ihren 5.000. Kilometer bei Recklinghausen“, am heutigen Bahnhofseingang Entwurf zu einer Gedenktafel, der Pfeil markiert Troisdorf

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 111 Foto: 2020, Hemptenmacher 2020, Foto: Hemptenmacher 2020, Foto:

Bilder 13 a, b: Die Bundesbahnschule Oberlar Lindenstraße 26, das ehemalige Über­nachtungsgebäude von 1900 im Bahnbetriebswerk leisten inzwischen zentral in Sekunden, was früher Übernachtungsgebäude errichtet, das bis 1946 auch zeitaufwendig mit viel Personal entlang der Strecke dem Betriebs­werk als Verwaltungssitz diente. Dieses geleistet werden musste. Der technische Wandel Backsteingebäude hat bis heute alle Zeiten überdau- wurde auch zu einer ernsten Herausforderung für ert und steht für den Beginn der langen Tradition der das Eisenbahnpersonal. Die moderne Technik ver- „Bundesbahn­schule Oberlar“ (Bilder 13 a, b). Viele langte ständig neue, höhere Qualifikationen, deren Generationen von Eisenbahnern wurden hier seit Vermittlung immer die Kernaufgabe der „Bundes- 1946 ausgebildet und konnten so in Troisdorf ihre bahnschule Oberlar“ war. Eisenbahnerkarriere starten. Vom Gründungsjahr 1946 bis Ende 2019, als die Schule nach Köln-Dell- brück verlegt wurde, entwickelte sich hier in Oberlar Die „Bundesbahnschule Oberlar“ ein kompletter Ausbildungs-Campus (Bilder 14 a, b). 1946 zog die Lokomotivführerschule für Dampf­ In der Lindenstraße 26 in Oberlar wurde um 1900 ei- lokomotiven in das Backsteingebäude ein. Gleichzei- gens für das Eisenbahnpersonal ein beeindruckendes tig wurde ein Internat mit 25 Plätzen eingerichtet.

Bilder 14 a, b: Der Ausbildungs- Campus aus der Vogel­ perspektive … Ku.La.Dig.

… und der entsprechende Grundriss der „Bundesbahn- schule“, alle Gebäude lassen sich aktuell noch zuordnen; ganz oben das ehemalige DN- Werkgelände mit Gleisanschluss; zwischen den DB-Gleisen die Tunnelrampe der ICE-Trasse

112 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Der Name „Bundesbahnschule“ ist bis heute für es auf diesem Foto, aber die Glanzzeit der Dampf- viele Troisdorfer ein Begriff, andere werden den lokomotiven ist inzwischen vorbei. Nur noch eine Namen vielleicht gar nicht kennen. Als „Bundes- Dreh­scheibe ist vorhanden, die zweite ist bereits bahnschule Troisdorf, Zentrum für Wagentechnik“ ausgebaut und zugeschüttet. Direkt daneben ist die wurde sie aber für viele Eisenbahner deutschland- Besandungsanlage mit einer Dampflok wiederzu- weit und auch über unsere Landesgrenzen hinaus finden, die auch auf Bild 10 abgebildet ist. Die zu- zu einer geschätzten Ausbildungs­einrichtung. Sie nächst selbstständige Betriebsstelle Troisdorf wurde kamen zum Beispiel aus Hamburg von der S-Bahn 1958 aufgelöst, das große Troisdorfer Betriebswerk oder aus den neuen Bundesländern (Reichsbahn) ganz aufgegeben. Seine damals noch verbliebenen und sogar aus Frankreich (SNCF). Mit dem tech- Aufgaben übernahm das Betriebswerk Gremberg- nischen Wandel änderten sich auch laufend die hoven. Die Bahn war übrigens auch ein guter Kunde Lehrinhalte, und es änderte sich auch der Name. der „Armaturenfabrik Josef Strack“, die auf Bild 15 Die Schule wurde offiziell zum „DB Trainingszen- am unteren Bildrand zu sehen ist. Mit einer Beleg- trum“ und zuletzt „DB Training – Zentrum für schaft von 120 Leuten und eigenen Patenten lieferte Fahrzeugtechnik“, aber sie blieb doch auch immer sie z. B. Ventile und Absperrschieber vor allem an die „Bundesbahnschule Oberlar“. Am 1. Oktober die Bahn, aber auch an die chemische Industrie. 2019 eröffnete schließlich in Köln-Dellbrück das zentrale „DB Trainings- und Ausbildungszentrum“ Schon 1947 beginnt zusätzlich in Oberlar auch und übernahm alle Aufgaben aus Oberlar und aus die Wagenmeisterausbildung, für die 1952 in zwei weiteren Ausbildungs-Einrichtungen der Bahn im parallelen Lehrgängen bereits 50 Ausbildungsplätze Großraum Köln. insgesamt ange­boten wurden. Damit wurde im Bereich der Wagentechnik in Oberlar ein zweiter Schwerpunkt gesetzt, der sich immer weiterentwi- Von der Backsteinschule ckelte und schließlich auch hoch­wertige Reisezug- zum Ausbildungs-Campus wagen und Güterwagen umfasste. Jede technische Neuerung fand man auch auf dem Troisdorfer Lehr- Auf der Luftaufnahme (Bild 15) aus dem Jahr 1957 plan wieder. Ganz oben standen natürlich die Eisen- ist das alte Backsteingebäude der Bundesbahn- bahn spezifischen Themen rund um die Sicherheit. schule unten rechts gut zu erkennen. Noch dampft Neben der Stellwerks- und Signaltechnik waren die Foto: StadtarchivFoto: Troisdorf

Bild 15: Luftaufnahme des Betriebswerks Troisdorf von 1957; die Bundesbahnschule unten rechts; die Lindenstraße überquert die Schienen oben; im Bild ausschließlich Dampfloks, aber die verbliebenen Kriegsschäden und eine ausgebaute Drehscheibe deuten schon auf den Rückbau des Betriebswerks hin.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 113 vielen Zugbeeinflussungs-Systeme sehr anspruchs- sechs neue Lehrräume. Zwei dieser Lehrräume wa- voll. Im Laufe der Zeit wurden unterschiedliche Sys- ren Schulungen am PC und der allgemeinen Com- teme für die Fahrzeuge und im Gleisbett entwickelt, puter-Technik vorbehalten. Auch die Lehrwerkstatt die untereinander aber nicht kompatibel sind – me- mit 120 Ausbildungsplätzen für die Industrieberufe chanisch, magnetisch, induktiv, mit kontinuierli- Maschinenschlosser und Elektriker erfreute sich cher oder punktförmiger Datenübertragung. Ein großer Beliebtheit. völlig neues europäisches Zugbeeinflussungssystem (European Train Control System ETCS) soll aktu- Das alte Küchengebäude von 1920 wurde ell den einheitlichen, grenzüberschreitenden Eisen- schließlich 1997 abgerissen. Dafür bekam die Schule bahnverkehr fördern. hier einen neuen, zeitgemäßen Eingang mit Rezep- tion (Bild 1). Eine neue Küche wurde hier eingerich- Mitte der 1950er Jahre begannen in der Schule tet, sowie das Kasino und weitere Unterrichtsräume die Vorbereitungen für die Umstel­lung von Dampf- und Internatszimmer. Außerdem befand sich hier traktion auf elektrischen Betrieb. Auf einer Gedenk- das legendäre ICE-Bord Bistro. Der Kölner Stadtan- tafel im Bahnhof Recklinghausen war stolz zu lesen zeiger titelte in seinem Beitrag vom 1. 6. 2001 über „Die Elektrifizierung der Deutschen Bundesbahn die Bundes­bahnschule Oberlar: „Büffeln für die erreichte im Oktober 1963 ihren 5.000. Kilometer Bahn können hier bis zu 150 Seminarteilnehmer … bei Recklinghausen.“ Der Verbleib der Bronzetafel in einer angenehmen Atmosphäre (inklusive Kegel- ist unbekannt. Auf der Entwurfsskizze (Bild 12) ist bahn) und mit einem, wegen seiner hervorragenden der Standort Troisdorf zwischen den beiden Rhein- Verpflegung, von allen Seiten sehr gelobten Kasino!“ querungen Köln und Koblenz leicht zu finden. Ab 1958 wurden schon in Oberlar Dampflokführer für Die Seminare dauerten von nur einem einzigen die elektrische Traktion umgeschult. Schließlich Tag bis zu sechs Wochen. Um 1990 unterrichteten wurden ab 1959 alle E-Lokführer nördlich des Mains hier ca. 30 Lehrer und fast ebenso viele gewerblich- zentral in Troisdorf unterrichtet, südlich des Mains technische Ausbilder. Die Lehrwerkstatt konnte pro war München zuständig. Dafür wurden sechs Lehr­ Jahrgang 30 Lehrplätze anbieten. Die abschließende gänge in Oberlar eingerichtet. 1954 stieg die Trois- Facharbeiterprüfung wurde von der zuständigen dorfer Schule sogar zur zentralen Ausbildungsstätte Industrie- und Handelskammer abgenommen und für alle Werkführer (Leiter von Betriebswerken) auf. war somit auch allgemein gültig. Nicht nur Berufs- Außerdem übernahm sie ab 1964 die Wagenmeis- schüler, auch Lehrer wurden hier qualifiziert mit ter-Ausbildung für die gesamte Bundesbahn. jeweils eigenen Lehrplänen. Ihr Fachwissen ver- mittelten sie dann als sogenannte Trainer direkt Inzwischen war das alte Schulgebäude den An- am Einsatzort. Mit der Technik der modernen ICE forderungen nicht mehr gewachsen. Im Anschluss 4 Triebzüge hatte man sich hier bereits vertraut ge- an das benachbarte Küchengebäude, Hausnum- macht, lange bevor der ICE 4 offiziell 2017 auf den mer 28, entstand in den Jahren 1964 bis 1967 ein Schienen unterwegs war. Störfälle konnten z. B. an langgestreckter Neubau mit weiteren Lehrsälen, Original ICE-4 Schaltschränken simuliert werden. Internatsplätzen und Sozialräumen. Rechtwink- lig dazu entstand die große Ellok-Übungshalle mit Original-Lehrstücken. Außerdem wurde 1977 eine Ausbildungslokomotiven Ausbildungshalle für den technischen Wagendienst und besondere Einrichtungen (Wagenmeister) und für die angehenden Elektro- Installateure und Energieanlagenelektroniker ge- Die Schule verfügte über eigene Gleisanlagen, auf baut. Diese sogenannte Wagenhalle entstand direkt denen verschiedene Original­fahrzeuge als Lehr- neben den Gleisen ganz im Westen des Geländes. objekte bereitstanden. Eine bis heute vorhandene Schon 2012 musste sie aber aufgrund von Bauschä- Gleisgrube erlaubte das Studium der Originale auch den aufgegeben werden; zuletzt waren dort ledig- von unten. Zuletzt waren hier zwei D-Zug-Wagen lich Parkplätze (siehe Bilder 14 a, b). Ganz im Osten stationiert, die als „rollende Klassenzimmer“ einge- fand der langgestreckte Campus mit einem großen richtet waren. Für Schulungsfahrten standen nahe Neubau von 1994 seinen Abschluss. Auch dieses Ge- gelegene Strecken zur Verfügung wie zum Beispiel bäude steht auf dem Gelände des ehemaligen Bahn- die Aggertalbahn von Siegburg nach Overath. Der betriebswerks, und zwar auf den alten Fundamen- Abschnitt Lohmar – Overath wurde 1962 stillgelegt ten des Ringlokschuppens und einer Drehscheibe. und abgerissen. Zwischen Siegburg und Lohmar lie- Es bot noch einmal 50 neue Einzelzimmer sowie gen heute nur noch Gleisfragmente, ein durchgän-

114 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Gerhard Moll / Archiv Eisenbahnstiftung

Bild 16: 1961 steht die Preußische S 10 (17 218) als Demonstrationsmodell in der Bundesbahnschule; Baujahr 1915 giger Gleisanschluss führt nur bis zum Siegwerk. schnitten und ein Zylinder ohne Verkleidung (Bild Zum großen Teil wird die alte Trasse heute als Fahr- 16). Sie wurde 1970 verschrottet. Ein weiteres derar- rad- bzw. Wanderweg genutzt. Die Möglichkeiten, tiges Original Schnittmodell einer S 10 hat aber alle am aktiven Betriebsdienst teilzunehmen, wurden in Zeiten in Berlin überdauert (Bild 17): Die 17 008 steht den benach­barten Betriebswerken Gremberghoven, nun seit 1987 im Berliner Deutschen Technik-Mu- Deutzerfeld und Köln-Eifeltor genutzt. seum und ist dort auch „in Betrieb“ zu bewundern.

Besondere Attraktionen waren immer die hier Preußische Güterzuglokomotiven der Gattung stationierten Lokomotiven. Sie zeigten auch den ak- G 8 prägten auch in Troisdorf den Eisenbahnbe- tuellen Stand der Technik. Viele findet man heute trieb der Nachkriegsjahre, Bild 7. Die G 8 ist die am noch auf Postkarten der Bundesbahnschule. An- häufigsten gebaute Länderbahnlokomotive – sie ist fangs standen in Troisdorf noch die Dampflokomo- sogar die meistgebaute zivile Lokomotive Deutsch- tiven aus der Länderbahnzeit im Fokus, und zwar lands überhaupt (hinter der DR-Baureihe 52, die als die legendäre Preußische Schnellzug­lokomotive der Gattung S 10 und später die

Preußische Güterzugloko- Postkarte motive G 8. Die Preußische S 10 mit der Betriebsnum- mer 17 218 (Baujahr: 1915, Hersteller: Vulcan) stand nach ihrer Ausmusterung bis 1966 in Troisdorf. Als echtes Lehrstück war ihr Kessel zum Teil aufge-

Bild 17: Schnellzuglokomotive S 10 (17 008) von 1910 im ehemaligen Hamburger Bahnhof, dem früheren Berliner Verkehrs- und Baumuseum um 1986

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 115 Foto: Bellingrodt / DLA – Archiv Eisenbahnstiftung

Bild 18: Fabrikneue 62 003 (Baujahr 1931), kurz nach der Abnahme 1932 durch die Deutsche Reichsbahn; sie diente 1956 bis1966 der Bundesbahnschule zur Schulung und wurde 1970 verschrottet

„Kriegslokomotive“ ab 1942 in großer Stückzahl zu- (Bild 18). Sie war von 1956 bis 1966 in der Bundes- nächst ausschließlich für den Krieg gebaut wurde). bahnschule stationiert. Aber schon 1957 bekam sie Einsatzgebiet der G 8 war der schwere Güterver- ernste Konkurrenz durch eine erste elektrische Lo- kehr und später auch der schwere Rangierdienst. komotive (Bild 19): Die Schule übernahm die E 71 22 Die Deutsche Bundesbahn bezeichnete die G 8 als zu Demonstrationszwecken. Trotz ihrer archaischen Baureihe 55, ab 1968 als 055. Der Bundesbahnschule Gestalt (Spitzname „Bügeleisen“) gelten die Elloks dienten diese Maschinen der praktischen Dampf- der Baureihe E 71 als Meilenstein im Elektrolokomo- lokführer Ausbildung noch bis in die 1950er Jahre. tivbau. Sie wurden bereits 1920/1922 von der AEG Ende 1972 wurde schließlich auch die letzte Loko- für die elektri­fizierten Güterzugstrecken in Mittel- motive dieser Baureihe von der Bundesbahn aus deutschland gebaut und kam in den 1930er Jahren dem Dienst genommen. nach Baden. Den Zweiten Weltkrieg überdauerten einzelne E 71 im Badischen Bahnhof von Basel, auf Eine modernere Dampflokomotive, eine Ein- Schweizer Boden sicher untergestellt. Auf einem heitsbauart der Deutschen Reichsbahn, (Baujahr Inflationsgutschein der Stadt Bitterfeld vom 1. De- 1928) war die Personenzug-Tenderlokomotive 62 003 zember 1921 ist sie neben einer Dampflok abgebil- det (Bild 19). Im Begleittext wird auf ihre Überlegenheit gegenüber der Dampftrak- tion im Primärenergiever- brauch hingewiesen. Der für den Betrieb einer Ellok viel kleinere Personalbedarf war zu dieser Zeit großer wirt- schaftlicher Not noch nicht das Thema. Die E 71 22 der Bundesbahnschule konnte

Bild 19: Inflations-Gutschein der Stadt Bitterfeld vom 1. 12. 1921 mit der Ellok E 71

116 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Bild 20: Postkarte der Bundesbahnschule mit ihrer Ellok der Baureihe E 71 (oben) und die E 10/E 40 (unten) als funktionstüchtiges Lehr­ modell, aber fest eingebaut in der E-Lok-Übungshalle; ein beliebter Erinnerungsgruß aus der Schule für daheim auch als Postkarten- Motiv bewundert werden (Bild 20).

Die Elektrifizie­ rung ließ – auch kriegsbedingt – noch lange auf sich warten. 1958 begann die praktische Unterweisung der Lok- Baureihe 110 mit der fiktiven Nummer „110 150-0“. führer auf den modernen Elektrolokomotiven der Sogar eine Fahrleitung mit 15 kV Überspannung Baureihe E 40, und zwar zunächst in Köln-Eifeltor erlaubte an einem Übungsgleis in der Halle einen vor planmäßigen Güterzügen. Damit gehörte die E ganz praxisnahen Unterricht. Als Lehrstück war 71 der Bundesbahnschule (Bild 21) nun endgültig die Ellok „110 150-0“ ohne ihre Seitenwände in der zum alten Eisen und wurde 1967 zunächst im Aus- Halle fest eingebaut. Sie stand zwar immer unter ei- besserungswerk Schwerte untergestellt. Mit ihrer nem Fahrdraht, hatte aber keine Fahrgestelle – sehr stolzen Kollegin, der Dampflok S 10, wurde sie dann wohl aber konnten ihre Stromabnehmer wie im Be- drei Jahre später in Mülheim-Speldorf verschrottet. trieb bewegt werden. Sie gilt im Scherz als die älteste Alle Träume, beide als Museumsloko­motiven zu er- „aktive“ Ellok der DB AG, ihre Zukunft ist aber un- halten, erfüllten sich nicht. Die Deutsche Bahn ver- gewiss. Auf den alten Postkarten der Bundesbahn- steht sich mehr als Verkehrsdienstleister und weni- schule ist sie noch in Kobaltblau abgebildet (Bild 20), ger als ein Traditionspflege-Verein. zuletzt aber glänzte sie im orientroten Design der 1980er Jahre (Bild 22). In der 1967 neu erbauten E-Lok-Übungshalle stand nun eine ganz neue Attraktion, eine voll Die ab 1952 gebauten Baureihen E 10 und E 40 funktionstüchtige Einheitselektrolokomotive der werden seit 1968 als Baureihe 110 und 140 geführt, Foto: Volkhard Stern Foto: FischerArchiv / Eisenbahnstiftung

Bild 21: Zu den ersten in Deutschland in Serie hergestellten und Bild 22: Paradestück im Lehrbetrieb, die moderne eingesetzten Elloks zählt die E 71 22, hier als Demonstrations- Universal Elektrolokomotive der Baureihen 110/140; modell 1960 in der Bundesbahnschule, wo sie noch bis 1967 blieb voll funktionstüchtig und bis zuletzt „aktiv“, aber unbeweglich

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 117 sie sind nach dem modernen Baukastenprinzip Der Technische Wagendienst weitgehend bau­gleich. Lokomotiven der Baureihe und Neuausrichtung 110 waren lange Jahre die wichtigsten im bundes­ deutschen Schnellzugverkehr. Nach der Bahnre- Langsam verschoben sich die Lehrinhalte der „Bun- form wurden sie auch zunehmend im Regional- desbahnschule Oberlar“. Sie wurden nun auf den verkehr eingesetzt. Die Baureihe 140 war für den technischen Wagendienst fokussiert, während die mittelschweren Güter- und Reisezugverkehr kons- Lokführeraus­bildung gegen Mitte der 1990er Jahre truiert. Das Konzept der Einheitslokomotiven mit in Troisdorf schließlich ganz auslief. Nun gab es überwiegend gleichen Bauteilen und vergleichba- zwei Schwerpunkte, zum einen den Bereich Be- rer Instandhaltung hat sich bei den Baureihen 110 triebstechnik mit der Fahrzeug­elektronik, Klima- bis 140 ausgezeichnet bewährt. Sie wurden den und Versorgungstechnik, und zum anderen den unterschiedlichen, hohen Leistungsanforderun- Bereich der Zugsicherungssysteme. Oberlar wurde gen ihrer Zeit voll und ganz gerecht. Für die Lo- zentrale Lehrstätte für die induktive Zugbeeinflus- komotiven der Baureihe 110 war im Februar 2014 sung (INDUSI) und später für die punktförmig der letzte Einsatz bei DB Regio; im Oktober 2016 wirkende Variante (PZB 90), einer Mikroprozessor endete nach fast 60 Jahren der planmäßige Einsatz gesteuerten Weiterentwicklung. der Baureihe 140 bei DB Cargo. Zuletzt waren sie im üblichen Verkehrsrot unterwegs, dem aktuellen Neue Computer gestützte Technik hatten zuneh- DB-Farbkonzept von 1997. Private Verkehrsun- mend in fast allen Fahrzeugen der DB AG Einzug ternehmen werden die Lokomotiven noch lange gehalten. Im gehobenen Reisezugverkehr glänzte nutzen. vor allen der ICE 3 mit einer zugelassenen Höchst- geschwindigkeit von 330 km/h, der zwischen 1997 Eine vollständige Auflistung aller Ausbildungs- und 2012 gebaut wurde. Der ICE 3 ist inzwischen auf lokomotiven wäre sicherlich sehr lang. Zwei Diesel- seiner Stammstrecke zwischen Köln und Frankfurt lokomotiven sollen aber noch unbedingt genannt auch ein vertrauter Anblick auf seiner Fahrt durch werden, und zwar die mit einer Funkfernsteuerung Troisdorf. Die aktive Wagenkastensteuerung, auch ausgerüsteten Dieselloks der Baureihe V 60 und V bekannt als Neigezugtechnik, war genauso ein Aus- 90. Sie waren Anfang der 1990er Jahre hier statio- bildungsthema, wie die sehr aufwendige Klimatech- niert, als die Ausbildungsnachfrage zum Betrieb nik. Hinzu kamen Küchen- und Toilettentechnik und zur Instandhaltung von funkferngesteuerten – von der Kaffeemaschine bis zur Vakuum­toilette. Rangierlokomotiven sehr groß war. Ganz neu war dagegen die „Zugtelephonie“ nicht, deren Anfänge bis in die 1920er Jahre zurück rei- Weitere interessante Original-Anlagen für die chen. Ab 1980 baute die Bahn in ihren Intercity-Zü- angehenden Triebfahrzeugführer standen in der so- gen „Öffentliche Münzfern­sprecher in Zügen“ ein, genannten Wagen-Übungshalle bereit. Dort konnte die „Selbstwählfunktion“ machte das Fräulein vom an einem Original Steuerpult eines „Elektrischen Amt ent­behrlich. Die anspruchsvolle Technik stand Triebwagens mit Akkumulatoren“ (ETA) geübt wer- in Troisdorf auf dem Lehrplan. Ein anderes Thema den oder an dem Steuerpult eines Steuerwagens für war die Steuerung der pneumatisch betriebenen den Wendezugbetrieb. Zahlreiche weitere Übungs- Türschließanlagen, deren Funktionsweise auch an stände, auch mit ausgebauten Originalteilen, die im Original-Baugruppen vorgeführt werden konnte. Berieb gar nicht oder nur schwer zugänglich waren, wurden im Unterricht eingesetzt. Viele dieser inte- Schon Anfang der 1980er Jahre hatte es drasti- ressanten Ausbildungsmodelle hatte die hauseigene sche Kürzungen bei der Ausbildung von Triebfahr- Lehrwerkstatt erstellt. Die Funktionsweise einer zeugführern gegeben. Die alten Schulgebäude waren Bremsanlage konnte am Beispiel von Originalbau- in die Jahre gekommen­ und stark renovierungsbe- teilen einer Ellok BR 110 demonstriert werden, die dürftig. Der Ausbildungsbetrieb in Oberlar wurde übersichtlich auf einem ausleuchtbaren Tableau nun ganz offen in Frage gestellt. Dank der tatkräfti- montiert waren. Große Originaltechnik zum An- gen Unterstützung durch die Stadt Troisdorf konnte fassen wurde an einem ausgebauten Laufdrehgestell aber die Schule grundlegend modernisiert und re- eines Reisezugwagens demonstriert, das bequem noviert werden und somit erhalten bleiben. Ab 1987 aufgeständert in der Ellok-Übungshalle stand. Alle stieg der Bahnverkehr und damit auch der Bedarf Hydraulik- und Pneumatik-Leitungen waren ange- an Ausbildungskapazitäten wieder stark an, und schlossenen und erlaubten eine funktionsgemäße die Bundesbahnschule konnte weitere Aufgaben Steuerung wie im Betrieb. übernehmen. Nach der Öffnung der innerdeutschen

118 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: 2020, Hemptenmacher 2020, Foto: Hemptenmacher 2020, Foto:

Bild 23: Außer Betrieb: Bild 24: Viel Betrieb: Güterzug mit Taschenwagen und Mehrsystemlokomotive Das Treppenhaus der „Bundesbahnschule (Siemens Vectron) unterwegs in Richtung Köln vor der Kulisse des leer­ Oberlar“ in der Lindenstraße 26, stehenden Zentralstellwerks und der leerstehenden Bundesbahnschule; nun seit Ende 2019 ohne Schüler das Stellwerk und die Elektrifizierung gingen gemeinsam 1962 in Betrieb.

Grenze 1989/90 und dem sprunghaften Anstieg des und Trainingszentrum eröffnet, in dem sowohl innerdeutschen, damals noch grenzüberschreiten- Triebfahrzeugführer als auch Fahrzeugservice- den Verkehrs, bestand nun auch großer Bedarf an techniker ausgebildet werden. Eine gewerblich- der Weiterbildung von Reichsbahnern. Viele der technische Ausbildungswerkstatt steht für mehr Kollegen machten sich hier in Troisdorf mit der als 100 Auszubildende zur Verfügung, die Elekt- Wagentechnik und den Vorschriften der Deutschen roniker, Industriemechaniker oder Mechatroniker Bundesbahn vertraut. werden wollen. Der neue Standort bietet auch wie- der technische Modell-Anlagen aus allen Bereichen Im Rahmen der Überführung der beiden Staats- der Fahrzeugtechnik, unterstützt von modernen bahnen in die gemeinsame DB AG kam es Anfang elektronischen Lehrmitteln. Das Lernen mit einem 1990 erneut zu einem starken Personalabbau. Mit Lehrer, das sogenannte „Präsenzlernen“, verschiebt mehr Marktorientierung und dem hartnäckig ver- sich immer mehr zu einem selbständigen Lernen folgten Kurs, die Bahn an die Börse zu bringen, am Bildschirm, auch „E-Learning“ genannt. Nach wurde die Bahn auch einem technischen Schrump- Jahrzehnten des Schrumpfens wird bei der Deut- fungsprozess unterworfen. „Klein aber fein!“ war schen Bahn nun wieder kräftig investiert, und zwar die Devise – tatsächlich aber fuhr die Bahn mehr in Schieneninfrastruktur, neue Fahrzeuge und vor und mehr auf Verschleiß und am flächendeckenden allem in die Ausbildung. Die „Bundesbahnschule Bedarf vorbei. Erst mit der Bankenkrise 2008/2009 Oberlar“ ist aber inzwischen Vergangenheit, sie ist setzte ein Sinneswandel ein. Die Neuverteilung und ein abgeschlossenes Kapitel spannender Troisdorfer Aufstockung der Regionali­sierungsmittel zwischen Industriegeschichte. 2000 und 2013 ließen in dieser Zeit die Verkehrsleis- tung allein im Schienenpersonennahverkehr um 32 Die DB AG trennte sich mit dem Umzug nach Prozent steigen. Auch durch den Klimawandel und Köln unverzüglich von dem gesamten Troisdorfer ein verändertes Verständnis von Mobilität erlebte Ausbildungs-Campus. Das schöne alte Treppenhaus die Bahn in Deutschland eine wahre Renaissance. der Lindenstraße 26 sieht nun keine Schüler mehr - In keinem anderen Beruf in Deutschland lagen 2019 es steht auch nicht unter Denkmalschutz, sein Ende Nachfrage und Angebot so weit auseinander wie ist offen (Bild 23). Auch in ferner Zukunft werden beim Lokführerberuf. aber Eisenbahnzüge in großer Zahl an dem alten Standort der „Bundesbahnschule Oberlar“ vorbei Am neuen Standort in Köln-Dellbrück hat die durch die Troisdorfer Heide fahren (Bild 24). Es DB AG am 1. Oktober 2019 ihr neues Ausbildungs- gilt nach wie vor die alte Devise der DB AG, „Mehr

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 119 Verwendete und weiterführende Literatur

Trippen, Peter Paul: Troisdorf – Heimatgeschichte, Kölner Verlagsanstalt (1940) Hundhausen, Emil: Mit dem „Dampfroß“ von Köln nach Foto: Hemptenmacher 2019, Siegen, in Begleitung alter Ansichtspostkarten, Druckerei Fritz Franz, Windek-Stromberg (1981) DB – Zentrale Ausbildungsstätte Bundesbahnschule Trois- dorf, Stadtarchiv Troisdorf, Autor und Datum werden nicht genannt (um 1982) Land, Erich; Schulte, Helmut: 125 Jahre Bahnhof Troisdorf, Bild 25: Flügelrad als Fassadenschmuck in der Kronprinzen- 1861 – 1986, Troisdorfer Monographien 1, Herausgeber: straße, nicht weit vom Troisdorfer Bahnhof entfernt Stadt Troisdorf (1986) Ossendorf, Karlheinz: Von der Sprengkapsel zum mo- dernen Sprengzünder, 100 Jahre Troisdorfer Zünder 1886 – 1986, Dynamit Nobel AG, Troisdorf, Köllen Verkehr auf die Schiene!“ Die Bahn beflügelte die Druck + Verlag GmbH Bonn (1986) Menschen immer wieder, heute wie auch damals, als Deutsche Biographie: Mannstaedt, Ludwig Emil (Louis), man in Troisdorf stolz die Hausfassade mit einem Industrieller, * 17. 7. 1839 Bielefeld, † 5. 12. 1913 Trois- Flügelrad schmückte (Bild 25). dorf bei Bonn, (evangelisch) URL: https://www.deutsche- biographie.de/sfz57845.html (1990) Strack, Klaus: Das Betriebswerk Troisdorf, in: Siegstrecke Danksagung unter Dampf, Eisenbahn im Siegtal, Eisenbahnclub Rhein- Sieg e.V. Siegburg, S. 42 (1995) Aktuelles und historisches Grundwissen sowie Schmitz, Klaus (†): Service will gelernt sein – erhellende Einsichten vermittelte mir Peter Haas 150 Spezialisten büffeln für die Bahn, im Rhein-Sieg- (Troisdorf); wichtige Hinweise auf die Literatur, Anzeiger (1. 6. 2001) auch eigene Dokumente überließ mir Volkhard Ossendorf, Karlheinz: Züfa verliert ihren Namen, in: Stern (Bonn) – ich danke ihnen vielmals für ihre Troisdorfer Jahreshefte, Jahr­gang 38, Herausgeber: unermüdliche Hilfe – sie war Voraussetzung für Heimat- und Geschichtsverein Troisdorf, S. 32 ff. (2008) diesen Aufsatz. Mein großer Dank gilt ebenso allen, DB AG, Nachhaltigkeitsbericht 2012, S. 119 ff. URL: https:// die mir so freundlich geholfen haben mit Informati- www.deutschebahn.com/nachhaltigkeitsbericht_2012- onen und Bildern: Hanns G. Noppeney (Troisdorf), data.pdf (2012) Josef Schnabel (Niederkassel), Klaus Sieben (Stiel- Helfer, Andreas: Instandhaltung der Züge: Das Trainings- dorf), Klaus Strack (Siegburg) und Antje Winter zentrum der Deutschen Bahn in Troisdorf, im Kölner (Troisdorf). Stadtanzeiger (15. 1. 2016) Freitag, Peter und Hinnemann, Katja: Dies sind die elf größten Unternehmen im Rhein-Sieg-Kreis 2017, Nachwort im Kölner Stadtanzeiger (6. 10. 2017) Stern, Volkhard: Die Bundesbahn-Schule Troisdorf, im Kein menschliches Schicksal aus jenen Tagen dun- Köln-Bonner Verkehrs­magazin 3/2019, rheinline-Verlag, kelster Geschichte Deutschlands, als Paul Müller Bonn, Heft 56, S. 72 ff, Bonn (2019) 1945 durch Freitod starb, ist vergleichbar. Zu je- Georg, Bruno und Krause, Lothar: Chronik der Bundes- ner Zeit galt ein Menschenleben nicht viel. Rück- bahn-Schule Troisdorf, von Bruno Georg 2007 und blickend weiß man, dass der frühe Tod führender ergänzt von Lothar Krause 2018, in: Stern, Volkhard: Die Bundesbahn-Schule Troisdorf, siehe oben: Heft 56, Wirtschaftsleute in Deutschland, die die National- S. 76 bis 79, (2019) sozialisten auch zu sogenannten Wehrwirtschafts- Weber, Claus: Bundesbahn-Schule Troisdorf, in: KuLaDig, führern ernannt hatten, anderen geholfen hat, wenn Kultur-Landschaft-Digital, LVR, URL: https://www.kula- diese nach 1945 sich für ihr Tun zu verantworten dig.de/Objektansicht/KLD-299112 (2019) hatten. In letzter Konsequenz trugen einfach immer https://www.deutschebahn.com/resource/image/Tagungs- die anderen die Verantwortung. Die Aufarbeitung zentren_Troisdorf.jpg (aufgerufen am 28. März 2020) aller schwerwiegenden Umstände hat längst begon- URL: http://susudata.de/messtisch/openstreetmap.html: nen. Sie bleibt auch weiterhin eine große Aufgabe OpenStreetMap und Historische Messtischblätter für uns, worauf an dieser Stelle nur hingewiesen (TK25) werden kann. z

120 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Richtung Siegwerk

Gießen ; Ergänzungen: Hemptenmacher Ergänzungen: ; / susudata.de Richtung OverathRichtung Richtung Frankfurt bzw. Siegenbzw. Quelle: Agger Sieg Bahntrasse in Betrieb in Bahntrasse Bahntrasse ehemalige 1 Kilometer1 Richtung Bonn-BeuelRichtung Richtung Wahnheide Richtung Richtung Köln Richtung Richtung Zündorf

Anhang: Kartenausschnitt von Troisdorf aus historischen Messtischblättern der Zeit 1936 bis 1940; die Eisenbahntrassen sind extra markiert

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 121 Günther Störmer Mein Kriegsende und die vorletzte Bombe

Wenn ich auch vom Bombenangriff auf Troisdorf vom 29. Dezember 1944 berichte, so fast nebenbei. In der Hauptsache geht es aber um die vorletzte Bombe, die in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1945 auf Troisdorf fiel und auf schreckliche Weise das Ende des Krieges einleitete. Hierbei sind es aber auch die vor dieser Nacht liegenden Wochen, über die ich jetzt berichten will, denn damals gingen mir erst die Augen auf, und ich erkannte, in welch schreckliche Zeit ich hinein geboren worden war. Es soll der Versuch sein, zu berichten, wie ich diese Zeit erlebte. Seit diesen Wochen sind sieben Jahrzehnte vergangen und meine Erinnerungen daran lassen mich heute mit Schrecken an die damalige Zeit zurückdenken.

olgendes muss ich noch zum Verständnis der wurden gezwungen, den Evakuierungsmaßnah- FEinstellung anmerken, die ich als Hitlerjunge men der Parteileitung zu folgen. Sie hatten nur lange Zeit hatte, ehe ich „sehend“ wurde: Mein das Nötigste mitnehmen dürfen: wir profitierten Vater war tödlich verunglückt, als ich 12 Jahre alt davon und konnten seit langer Zeit wieder einmal war. Meine Mutter war zwar nicht unpolitisch: Sie in einem Bett schlafen. Bis dahin hatten wir eini- weinte, als der Krieg begann und erkannte wohl ges von Westdeutschland kennen gelernt, hatten in das Teuflische der Machthaber. Aber mir fehlte der Horbach bei Kerkrade an der holländischen Grenze Vater, der mir vielleicht hätte sagen können, was Panzergräben ausgehoben, bei Jülich, Düren und Freiheit ist. In der Schule herrschte auch ein unse- Kirchherten Schützengräben und MG-Stellungen liger Geist, und die Lehrer, die uns hätten aufklä- angelegt und waren immer wieder, meist nach halb- ren müssen, schwiegen, wohl aus Angst, vielleicht fertiger Arbeit vor den vorrückenden Amerikanern aber auch, weil sie zumindest Mitläufer waren. „zurückgenommen“ worden. Das Geschwätz von So war es dann die Brutalität des Krieges, die mir „Frontbegradigungen“ bezeichneten wir mittler- schmerzhaft die Augen öffnete. Ich weiß nicht, weile als „Vormarsch auf italienisch“. ob ich dies mit meinen Worten schaffe, aber es ist einen Versuch wert. Mag sein, dass meine Enkel Die Mitteilung über diesen Urlaub erhielten wir später einmal in meinen Sachen stöbern. Mag sein, einen Tag vorher an der Schanzstelle. Sie lag bei sie sehen, was ihr Großvater erlebte, und wie er die Horrem auf einem Bahndamm, wo wir versuchten, Unmenschlichkeit erkannte, deren der Mensch fä- im kiesigen Untergrund MG-Stellungen und Schüt- hig sein kann. zengräben nach den Angaben eines Feldwebels der Wehrmacht auszuheben. Die Nachricht vom bevor- So beginne ich mit dem 18. Dezember 1944. stehenden „Urlaub“ kam überraschend, löste lauten Das war der Tag, an dem für mich und die meis- Jubel aus, und wir stellten sofort unsere mühselige ten gleichaltrigen Jungen der Troisdorfer HJ (Hit- Schanzarbeiten mit verständnisvoller Genehmi- ler Jugend), aber auch die Mädchen des Troisdorfer gung unseres „Chefs“ ein, hatten wir doch die Grä- BDM (Bund deutscher Mädchen) die Weihnachts- ben bereits tief genug und mit viel Mühe anlegen zeit 1944 begann. An diesem Tag hatte man uns, können, um bei Tieffliegerangriffen Deckung zu die wir zum Schanzdienst am „Westwall“ befohlen finden. waren, in den sogenannten Weihnachts-Urlaub ge- schickt. Wir waren in Kerpen teilweise im Adolf- Für unsere Heimfahrt hatte man es fertigge- Kolping-Saal, teilweise, wie mein Freund und ich bracht, einen kleinen Sonderzug zusammen zu in Privat-Häusern untergebracht. Deren Bewohner stellen. Am Bahnhof in Horrem versammelte sich

122 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 eine großen Menge von Hitlerjungen und BDM- zen Schaftstiefel, wie es glänzender nicht ging, und Mädchen, die, wie wir schnell erkannten, alle aus an seiner gelben Uniformjacke prangte lediglich das dem Siegkreis (HJ-Bann 240) stammten und die Kriegsverdienst-Kreuz und nicht eine militärische nicht schnell genug in die Wagen klettern konnten, Auszeichnung. als der Zug ganz früh am Morgen im Bahnhof ein- lief. Wie anders verlief Monate vorher die Fahrt, Die Rede des Kreisleiters war uns peinlich, be- als wir im September, voller Abenteuerlust gen grüßte er uns doch als die Sieger über die plutokra- Westen fuhren. Vollkommen illusionslos, schmut- tischen Heerscharen, deren weiteres Vordringen zig und langhaarig hingen wir auf den Bänken wir durch unsere unvergesslichen Leistungen ver- der Abteile, und als jemand ein Marschlied an- hindert hätten. Wir wussten es besser. Dann sprach stimmen wollte, riefen wir nur noch „Schnauze, er begeistert von der großen Offensive „unseres“ Schnauze“. Führers im Westen, in den Ardennen, wo unsere Soldaten dabei seien, die Alliierten in die Nord- Als wir in Siegburg ankamen und uns vor dem see zu treiben. Wir sahen uns gegenseitig fragend Bahnhof aufstellten, waren wir mittlerweile recht an; einige grinsten. Irgendwo hörte ich das Wort unlustig und fühlten uns in unseren schmutzigen „Quatschkopp“. Wegen fehlender, sicher erwarteter Klamotten unwohl. Die BDM-Mädchen, die sich in Begeisterungsstürme fuhr er fort, wohl in der Hoff- der ganzen jetzt hinter uns liegenden Zeit um un- nung, uns damit ein Weihnachtsgeschenk machen sere Verpflegung gekümmert hatten, sahen einiger- zu können: „Der Gauleiter hat mich beauftragt, maßen proper aus. Sie hatten, wie das bei Mädchen euch allen den Westwallorden in Anerkennung eu- – das wussten wir Jungen – so üblich war, doch auf rer großartigen Leistung, zu verleihen“. Auch dieser ihr Äußeres geachtet und durften deshalb an der Versuch, uns Heilrufe zu entlocken, schlug fehl und Spitze der von uns Jungen gebildeten Kolonne, vom er verschwand mit einem dreifachen, aber lahmen Bahnhof aus zum Marktplatz marschieren. Ob sie „Dem Führer ein dreifaches Sieg Heil“ vom Podest sich wohl dabei fühlten, glaubten wir nicht, denn und ward, was wenigstens mich betraf, nicht mehr auch ihnen hatte man alle Illusionen geraubt. Auf gesehen. Jetzt tauchten Paare von uniformierten dem Weg zum Markt waren schon einige Sieg- „politischen Leitern“ in ihren kackgelben Unifor- burger verschwunden. Die begleitenden unifor- men auf, bewaffnet mit kleinen Kartons bzw. Pa- mierten SA-Männer, die die Partei zur Abholung pierbögen aus imitiertem Pergament, übergaben an den Bahnhof beordert hatte, waren uns nicht jedem eine „Verleihungsurkunde“ und eine runde gewachsen. Sie versuchten vergeblich, uns mittels Medaille an gelbem, außen weiß gestreiftem Bande. harscher Kommandos zum Gleichschritt zu veran- Nach einem Händedruck und „stählernem“ Blick lassen. Wir stolperten weiter, sprachen laut mitei- in die Augen, wie sie das wohl in der Wochenschau nander und kümmerten uns nicht um sie. Als wir dem Führer abgeschaut hatten, waren wir nun Trä- am Marktplatz ankamen, verkrümelten sie sich ger des „Westwallordens“, was immer das bedeutete. und tauchten in dem Pulk von uniformierten Par- Wir scharrten mittlerweile wie unruhige Pferde mit teigrößen unter, die zu unserem Empfang plötzlich unseren Füßen, hatten Hunger und wollten endlich auf einer wohl eiligst aufgestellten Rednertribüne nach Hause, wobei das für manche, die Sieg auf- auftauchten. wärts oder Richtung Much wohnten, zum Problem werden würde. Es hieß, das sei der Kreisleiter, und wir erinner- ten uns dann auch an ihn, als er uns im September Der „Verein“ löste sich also schnell und formlos an den Westwall entließ. Sowohl er als auch sein auf und wir ließen etliche sprachlose Partei-Heinis Anhang traten in geschniegelten Uniformen auf ob unseres „defätistischen“ Verhaltens, auf dem und bildeten so zu dem Haufen verdreckter, ver- Siegburger Markt zurück. Wir Troisdorfer sowie wahrloster Jungen einen Gegensatz, wie er größer Mädchen und Jungen vom „Balkan“ warteten auf nicht hätte sein können und die bestehende Hierar- die nächste „Kleinbahn Siegburg-Zündorf“, die chie deutlich machte. Wut kam aber bei uns auf, als es immer noch gab, und mit ihr verließen wir die wir auch noch den Gebietsführer der Hitlerjugend Ruhmes­stätte des Einsatzes der Siegkreis-Hitler­ erkannten, der sich ebenfalls bei den Parteigrößen jugend und des Siegkreis-Bundes der Mädchen und aufhielt. Es war ja an sich, auch wenn er erwachsen konnten endlich nach Hause. war, eigentlich einer von uns und er hätte, genau so dreckig wie wir, an der Spitze unserer Kolonne mar- Es war anders als sonst, wenn ich beispielsweise schieren müssen. Stattdessen glänzten seine schwar- aus der Schule kam: An der Wilhelmstraße stieg

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 123 ich aus, vorbei an der evangelischen Kirche in die Nach dem Angriff liefen meine Mutter und ich Viktoria-Straße, dann in die Paul-Müller-Straße. vorbei an zerstörten Häusern, durch die Straßen von Alles war unverändert und wie immer, aber als ich Troisdorf, vorbei am „Deutschen Haus“ Ecke Wil- mich dem Hause mit der Nummer 7 näherte, stie- helmstraße-Adolf-Hitler-Straße (heute Poststraße), gen mir die Tränen in die Augen, und als meine wo Bomben den Saal zerstört hatten, in dem auslän- überraschte Mutter mir die Tür öffnete, begann ich dische Zwangs-Arbeiter untergebracht waren. Bren- haltlos zu weinen. Auch sie weinte, und als sie mich nende Häuser warfen Röte gegen die Wolken und in die Arme nahm, dachte ich: „Jetzt ist alles gut“. wir erreichten schreckerfüllt die Wohnung der jün- Aus dem vermeintlich strammen Hitlerjungen, der geren Schwester meiner Mutter, die in der Hofgar- seine Mutter im September voller Stolz verließ, weil tenstraße im Obergeschoss der Wirtschaft Seibert, er seinem Vaterland dienen durfte, war fast wieder Gasthaus „Zum Treppchen“ lag. Die Wohnung und ein Kind geworden. Aber nur fast. In ihm hatte sich das ganze Ortsviertel waren fast unversehrt, und so die Welt geändert, die vorher, so schien es, wohl- liefen wir weiter, verstärkt durch die jüngste Schwes- geordnet war, und die sich ihm als so grausam zu ter meiner Mutter, in Richtung „Rote Kolonie“. Hier erkennen gegeben hatte. Die nächsten Tage machte schien alles unversehrt zu sein, bis wir in der dama- meine Mutter wieder einen sauberen, gepflegt aus- ligen Sieglarer Straße vor dem Haus meines Groß- sehenden 15-Jährigen aus mir. Ich ging dann noch vaters (Haus Nr. 100) standen. An Stelle des vorher in Zivil zum Friseur, und es machte mir Freude, so stattlichen Meisterhauses lag jetzt ein Berg von auf die Frage „HJ-Schnitt?“ „Nein!“ sagen zu kön- Steinen, aus denen hier und da Stofffetzen vom Vor- nen und „Facon-Schnitt“ zu fordern. Es tat gut, hängen und Bettwäsche lugten und bezeugten, dass etwas tun zu können, was nicht befohlen war. Die hier Menschen gewohnt hatten. Es war das einzige zunächst im Radio durchgegebenen Sondermel- zerstörte Haus ringsum. Meinen Opa, Heinrich Pax, dungen über deutsche Siege an der Ardennenfront hatte man noch lebend, aber schwer verletzt bergen ließen nach und verstummten bald. Lediglich die können und ins Siegburger Krankenhaus gebracht. Meldungen über stattgefundene Terrorangriffe der Er war dort, noch in der Nacht, seinen Verletzungen Alliierten auf deutsche Städte änderten sich nicht. erlegen, so erfuhren wir am anderen Tag. Schwei- Selbst der Weihnachtsbaum, den ich noch aufge- gend gingen wir zurück zur Hofgarten-Straße. Wir trieben und geschmückt hatte, ließ keine Stimmung alle weinten. Unterwegs erfuhren wir noch, dass das aufkommen und meine Mutter bedrängte mich Haus, in dem eine Schwester meines Vaters mit ihrer auch nicht mit Fragen, wenn ich still und nachdenk- Familie wohnte, Totalschaden erlitten hätte. Unsere lich irgendwo saß. Erst am heiligen Abend musste Nachforschungen am nächsten Tage ließen unsere alles, was in mir war, heraus und ich erzählte ihr Angst zur Wahrheit werden: Die ganze Familie, von den Schreien der verwundeten Soldaten, die in Tante Maria Müller, Onkel Hans Müller, Tochter Sankas an uns vorbei in Lazarette verfrachtet wur- Margret und Sohn Gerd war tot. Meine Großeltern den, von den Bergen toter Fremdarbeiter aus dem Jakob und Maria Störmer mit Tochter Elisabeth Reichsbahn-Ausbesserungswerk bei Düren, von der wohnten in der Adolf-Hitler-Straße (heute Post- Kammer mit toten Soldaten in der Zitadelle von Jü- straße) zwischen Post und Rathaus. Sie mussten Ihre lich, aber auch von meiner Gewissheit, dass wir den Wohnung verlassen: eine Bombe hatte sich einen Krieg verloren hatten und dass ich hoffen würde, Weg bis in den Luftschutzraum des Hauses gebahnt dass die Amerikaner vor den Russen in Berlin seien. und war dort als Blindgänger liegen geblieben. Alle Sie hörte mir zu, dabei hielt sie meine Hand, und Bewohner blieben am Körper unverletzt. Der Schre- als ich wieder weinte, strich sie mir mit der Hand cken jedoch musste ungeheuerlich gewesen sein. durch das Haar und war ganz einfach meine Mutter und für mich da. Das also war die Familien-Bilanz des Bomben- angriffs auf Troisdorf vom 29. Dezember 1944, über Weihnachten ging vorüber mit Bomben auf den ich ja hier nicht berichten will, weil es viele an- der Kölner Straße, zertrümmerten Fenstern an der dere vor mir getan haben. Rückfront unserer Wohnung und einem umge- stürzten Weihnachtsbaum. Es folgten aufregende Nun will ich berichten von der vorletzten Bombe, Tage mit Reparaturarbeiten an unseren Fenstern. Es die auf Troisdorf fiel, weil sie beinahe mein Leben folgte der Angriff auf Troisdorf, der unsere vorher- und das meiner Mutter beendet hätte. gehende Arbeit zunichte und durch einen Bomben- einschlag auf der Straße vor unserem Haus unsere Wir fanden also nach dem großen Angriff auf Wohnung unbewohnbar machte. Troisdorf in der Wohnung Hofgartenstraße, im

124 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Gasthaus „Zum Treppchen“, der Wohnung meiner Im Gasthaus Seibert war es voller geworden. Ne- Tante Unterschlupf. Wir, meine Mutter und ich, ben der Wirtin Frau Seibert mit ihren beiden Töch- meine Tante mit Sohn und die jüngsten Schwester ter Gerti, die 15 Jahre alt war, und der zehnjährigen meiner Mutter, hatten uns zunächst bis nach Gre- Tochter Marlene hatten sich als Flüchtlinge aus Trier venbrück durchgeschlagen, und zwar auf recht eine weitere Familie Seibert eingefunden. Sie war abenteuerliche Weise. In Grevenbrück hatte besagte sechsköpfig mit Frau Seibert, der Schwägerin und Tante mit ihrem Sohn, geboren im Dezember 1940, ihren 5 Kindern, Leonore, genannt Lore 17 Jahre, eine Familie gefunden, bei der sie wohnen konnten Hans 16 Jahre, Paul 15 Jahre, Willi 13 Jahre und Ilse und wo sie vor Fliegerangriffen geschützt waren. 10 Jahre alt. Sie mussten den Evakuierungsbefehlen Dort konnte jedoch nur sie mit Kind bleiben, und in Trier Folge leisten, weil die Alliierten kurz vor wir machten uns am nächsten Tag auf ebenso aben- dieser Stadt standen, konnten dies jedoch auf eigene teuerliche Weise wieder auf den Weg nach Trois- Faust unternehmen, nachdem der Ehemann Sei- dorf. Unsere neue Wohnung in der Hofgartenstraße bert, der als Schulleiter im Volkssturm eine gewisse im Gasthaus „Zum Treppchen“ war zwar kleiner als Rolle spielte, bei dem Unternehmen helfen konnte. die verlassene in der Paul-Müller-Straße, aber wir Es waren also nunmehr 12 Personen, die unter ei- fanden uns zurecht; wir, das waren meine Mutter, nem Dach wohnten, die sich schnell anfreundeten ihre jüngste Schwester Resi und ich. und gemeinsam versuchten, das Schwierige der Zeit zu meistern. Dies gelang auch. Was mich betraf, wa- Zunächst jedoch brachten wir die alte Wohnung ren es lediglich zwei Ereignisse, die mich vorüber- leidlich in Ordnung, trugen einen Teil der Möbel gehend von dieser Gemeinschaft trennten. Ich will soweit wie möglich in den Luftschutzkeller oder kurz berichten, wie es dazu kam, weil es erkennen in die Wohnungsdiele, packten die Kleidung, die lässt, wie es zu Beginn des letzten Kriegsjahres und wir brauchten, in Koffer, verschlossen den Keller, kurz vor dem Kriegsende zugehen konnte. verbarrikadierten die Fensteröffnungen so gut wie wir konnten und brachten dann alles in einem bei Und das war so: Wieder einmal suchte „Groß- Nachbar Flerus geliehenen Leiterwagen zur neuen deutschland“ Helfer zur Reichsverteidigung und Wohnung. Den leeren Wagen brachte ich zurück. befahl die Hitlerjugend zum Schanzdienst. Ich ge- hörte mit zu diesen Helfern, und wenn man nicht in Wir erfuhren nun immer öfter, wer im Bekann- die Fänge der Gestapo geraten wollte, musste man tenkreis bei dem Angriff umgekommen und was al- mitmachen. So meldete ich mich, als man uns durch les zerstört worden war. Wir waren alle entsetzt, und Melder (jüngere, beflissene Hitlerjungen) aufrief, wenn man sich auf der Straße traf hörte man wieder mit einigen gleichaltrigen HJ-Jungen aus Troisdorf Neues und immer wurde Schreckliches berichtet. in der „Tonhalle“ in Godesberg – unwillig zwar – bei Quelle: Troisdorf im Spegel der Zeit, 1952,Seite 144

Gasthof „Zum Treppchen“, Inh. Familie Seibert, Hofgartenstraße 1, rechts der Weingartenweg mit Fußgängerin, weiter rechts davon die Giebelwand der Bäckerei Müller, Kirchstraße 1

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 125 Gaststätte „Im Treppchen“ heute Foto: Werner Dücker Werner Foto:

einem SA-Mann mit braun glänzenden Schaftstie- der braunen Pistolentasche und warf sie in weitem feln zum Dienst. Wir wurden sofort angeschnauzt, Bogen in einen Strohhaufen. Uns war nun klar, dass wieso wir erst jetzt kämen und wo unsere Einberu- wir ein „todeswürdiges Verbrechen“ begangen hat- fungsbefehle seien. Der Mann gefiel uns überhaupt ten, als wir ein Parteiorgan verprügelten und dass nicht, ihm blieb vor lauter Wut die Spucke in seinem wir sofort verschwinden mussten. Wir schnappten Schnäuzer hängen, den er, wie so viele SA-Leute, in unsere Rucksäcke, die wir noch gar nicht ausge- Nachahmung des Hitler-Schnäuzers trug. Wir sag- packt hatten und verschwanden im menschenlee- ten, wir hätten keine Papiere, kämen freiwillig und ren Bad Godesberg. Wir erreichten nach einem Eil- wir wären vom Bann 240. Dass wir seinem Wutaus- marsch die Bonner Rheinbrücke und wurden dort bruch äußerst gelassen und schweigend begegneten, von zwei sogenannten Kettenhunden, Angehörigen da wir ja an den Umgang mit vorgesetzten Personen der gefürchteten Feldgendarmerie, angehalten. Wir gewohnt waren, und nicht einmal versuchten, eine trugen HJ-Uniform und gaben an, wir müssten uns Ausrede zu erfinden, brachte ihn noch mehr in Wut in Siegburg beim HJ-Bann melden. Wir durften und wir ahnten, in ihm einen „guten Freund“ gefun- passieren und als wir auf der anderen Rheinseite den zu haben. Der Kampf wurde den ganzen Nach- waren, fühlten wir uns erleichtert; wir rechneten mittag fortgesetzt; immer wieder scheuchte er uns uns aus, dass die Gefahr, erwischt zu werden, bei mit unsinnigen Befehlen durch die Gegend, bis er, den gestörten Telefonverbindungen gering sei, und als Fliegeralarm kam, wie Allen befohlen, im Bun- marschierten entlang der Eisenbahn nach Troisdorf, ker unter der Godesburg verschwand. Dort muss er wo wir uns gegenseitiges Schweigen schworen und uns gesucht haben, um uns weiter schikanieren zu jeder nach Hause ging. Meiner Mutter erklärte ich, können, aber wir waren in der „Tonhalle“ geblieben. man hätte uns nicht brauchen können, was bei ihr Mit dem Instinkt des Jägers fand er uns auch dort ungläubiges Staunen und anschließend glückliches und jetzt versuchte er, mit uns nach allen Regeln Schweigen hervorrief. der SA Schlitten zu fahren. Er befahl, wir sollten im Bunker verschwinden. Wir lehnten ab. Er lief rot vor Meine zweite Trennung war die Folge einer Ein- Wut an, schrie immer lauter und lauter und als er zur berufung in ein sogenanntes „Wehrertüchtigungs- Pistolentasche griff, um seinen Befehlen Nachdruck lager“ in Rheidt (Siegkreis). Den Befehl erhielt ich, zu verleihen, sprang ihn einer von uns von hinten als ich im HJ-Heim in der Herbert-Norkus-Straße, an und riss ihn zum strohbedeckten Boden. Jetzt heute wieder Römerstraße, Neues erfahren wollte. blieb uns anderen nichts anderes übrig, als mit zu Der damalige oberste HJ-Führer von Troisdorf, der machen, und wir verprügelten ihn nach Strich und Stammführer, war ein Bekannter aus der „Roten Faden. Wir waren wie außer uns und erst als er wie Kolonie“. Er drückte mir, als ich schilderte, was wir ein Hund winselte, nahm ihm einer die Pistole aus angestellt hatten, den Befehl in die Hand mit den

126 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Worten „Wenn Du willst“. Ich wollte, denn einge- weile von der Deutschen Wehrmacht requiriert wor- denk unseres Godesberger Abenteuers, war ich in den; in ihm hatte sich die sogenannte Auffangstelle einem solchen Lager gut aufgehoben. Ich meldete der „Windhund-Divsion“ niedergelassen. Sie diente mich also dort, traf als Leiter unseren Feldwebel dazu, alle Soldaten, die Troisdorf passierten, in die vom Westwall an und machte mich mit ihm und Division einzugliedern und auf irgendwo liegende den wenigen, die sich dort gemeldet hatten, wegen Regimenter oder Bataillone zu verteilen. Diese Ak- Nichterreichens der Sollstärke am anderen Morgen tivitäten schienen uns untrügliche Zeichen von Auf- mit geschulterten Panzerfäusten auf den Weg nach lösung zu sein. Der Divisionsname schien, so ulkten Siegburg zur HJ-Verwaltung und von dort, wie be- wir, wohl ein Synonym für die Schnelligkeit zu sein, fohlen, dann weiter nach Oberpleis. Kurz hinter mit der sie sich vom Feind lösen konnte. Auch ver- Siegburg beobachteten wir einen Bombenangriff auf glichen wir den Namen mit der Forderung Hitlers, Siegburg und ich bat um Urlaub, um helfen zu kön- dass der deutsche Junge „zäh wie Leder, hart wie nen. Der wurde gewährt, und am späten Nachmit- Kruppstahl und flink wie ein Windhund“ zu sein tag war ich wieder zu Hause, nachdem ich vorher bei hätte. Wir machten gegenüber den Gefreiten, Ober- meinem Marsch durch Siegburg weitere Zerstörun- gefreiten und Unteroffizieren, die in der Auffang- gen in der Kreisstadt hatte ansehen müssen. Meine stelle Dienst taten, entsprechende Bemerkungen, Mutter, der ich am Tage vorher versichert hatte, den die meist durch stummes Grinsen bestätigt wurden. Betrieb zu kennen und der ich versprochen hatte, Auch die Tatsache, dass wir nicht mehr vom „Füh- schnell wieder zu Hause zu sein, war glücklich, mich rer“ sondern von „Hitler“sprachen, gehörte zu den wieder in die Arme nehmen zu können. Die Tage Zeichen der Auflösung. vergingen und wir sprachen immer öfter von der Zeit „danach“, wobei unsere gemeinsame Hoffnung, Mittlerweile stand auf dem Kalender März, ich es mögen die Amerikaner und nicht die Russen sein, war mal wieder unterwegs mit Flerus’ Leiterwa- die unsere Land besetzen würden, an der Spitze lag. gen, den ich zurückbringen wollte. In der Höhe der Dass der Krieg verloren war, stand für uns alle fest. Bäckerei Schild traf ich meinen Schulfreund Karl- Es gab auch keinen unter uns, den das mit Traurig- Heinz Becker. Wir unterhielten uns, wobei auch er keit erfüllt hätte. Die beiden Trierer, Hans und Paul, der Hoffnung Ausdruck gab, dass die Scheiße bald waren in meinen Augen gewiefte Großstädter, von zu Ende sein möge. Da hörten wir die Geräusche denen ich noch viel lernen könnte. Vor allem Hans anfliegender Flugzeuge und zwar schwerer Bomber, schien mir mit allen Wassern gewaschen zu sein. und dann krachten auch schon die Bomben ganz in Er war es auch, der ein kleines Detektor-Radio be- der Nähe. Wir hatten platt auf der Straße liegend saß, mit dem wir mit etwas Geduld bereits den AFN Deckung genommen, den Kopf unter die Arme ge- (American Forces Network) hören konnten. Hier- steckt, wie man es uns beigebracht hatte, und war- bei lernte ich bereits Swing-Music kennen, „played teten angstvoll auf die nächsten Einschläge. Aber by Tommy Dallymore and his Orchester.“ Es war schnell schien es vorbei zu sein. Als wir hörten, phantastisch. dass die Maschinengeräusche leiser wurden, stan- den wir auf, und mit „Tschüss“ machte jeder, dass Ab und zu hörten wir, wenn große Verbände er weiter kam. Ich zog mit dem Leiterwagen zur von amerikanischen Bombern über uns hinweg Wilhelmstraße, dann zur Viktoriastraße, wo am zogen. Es dauerte manchmal 5 bis 10 Minuten, Ende das vorletzte Haus auf der linken Straßenseite bis das Dröhnen der letzten Maschinen verklun- in Trümmern lag. Als ich gestern mit vollem Wa- gen war. Bei klarem Wetter waren die Bomber- gen zur Hofgartenstraße fuhr, war das Haus noch verbände gut zu erkennen; die Flugzeuge flogen unbeschädigt. Ich war froh, den Leiterwagen wie- in großer Höhe und glitzerten im Sonnenschein. der seinem Besitzer, Herrn Flerus, zurückgeben zu Manches Mal zogen sie weiße Kondensstreifen können, und unterhielt mich noch mit ihm, aber hinter sich her und erschreckten durch ihre starre er drängte mich, zurück zu gehen und war offen- Ordnung, da die Verbände wie zu einer Parade sichtlich froh, im Haus verschwinden zu können. aufgereiht erscheinen, und uns immer wieder vor Ich eilte auch, so schnell ich konnte, nach Hause, Augen führten, dass sie keine Gegenwehr durch ahnte ich doch, dass meine Mutter sich Sorgen deutsche Jagdflugzeuge mehr fürchteten; es gab sie machen würde, denn sie hatte sicher die Bomben- auch nicht mehr. explosionen gehört, und wusste auch, dass ich in dieser Richtung unterwegs war. Als ich zurückkam, Das eingeschossige Sälchen, das sich zum Garten meinte sie, ich dürfe nicht mehr weggehen. Wir hin an das Gasthaus Seibert anschloss, war mittler- hörten übrigens am Tag darauf, dass die Hauptver-

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 127 waltung der DAG-Werke getroffen und total zer- ter Marlene. Dicht daneben hatten wir zwei weitere stört wurde. Luftschutzbetten aufgebaut, in denen Willi und Ilse Seibert schliefen. Das war der Keller unter der Gast- Einige Tage später, es muss wohl der 9. März ge- wirtschaft, in dem noch leere Bierfässer, Bierkästen wesen sein – ich war trotz Einspruchs meiner Mutter und sonstiges Inventar für die Gaststätte lag. im Dorf unterwegs – traf ich am Kino „Schauburg“ Herrn Hinterkausen, den Vater meines Jugend- Die übrigen, also noch weitere sieben Personen, freundes Roland; er kannte meine Familie, erkun- hatten im Keller unter der Küche Platz gefunden. Es digte sich nach allem, und plötzlich gab es ganz hatte sich noch mein Onkel, der Mann der jüngs- in der Nähe eine heftige Explosion. Das war keine ten Schwester meiner Mutter, eingefunden. Er war Bombe, auch kein Blindgänger. Herr Hinterkausen Soldat und sollte eine Gruppe ehemaliger französi- meinte, es sei der Einschlag eines Artilleriegeschos- scher Kriegsgefangener in ein Lager bei Engelskir- ses und gab mir den Rat, schnell zu verschwinden. chen bringen und zwar zu Fuß. Er war klatschnass Auch er machte sich auf den Weg, und weitere Ein- durch den Regen in die Hofgartenstraße gekommen schläge am gleichen Tag bewiesen das. Unglaublich: und wollte sich erst am folgenden Tag wieder bei sei- Troisdorf wurde von Artillerie, die wohl auf der an- ner Einheit melden. Wir hatten lachen müssen, als deren Rheinseite stand, beschossen. er grinsend erzählte, er sei so lange marschiert, bis alle Kriegsgefangenen verschwunden waren. Seine Die ganze Hausgemeinschaft half mit, als wir nasse Uniform, seinen Karabiner sowie alle Papiere uns im Keller einrichteten, hoffend, dort Sicher- hängte er zum Trocknen auf den Speicher. heit vor den Kanonen zu finden. Am nächsten Tag wurde in Seiberts Küche ein Eintopfgericht gekocht, Einschlafen konnte ich noch nicht. Die abendli- wir aßen im Keller, die Kinder spielten auch dort. Es che Unterhaltung drehte sich noch in meinem Kopf gab ab und zu und mal näher, mal weiter entfernt, herum. So viel Neues hatte sich ergeben und die vor Einschläge zu vernehmen, aber wir Größeren mach- uns liegende Unsicherheit, die Fragen, die noch Nie- ten uns schließlich mal wieder größer als wir waren mand beantworten konnten, ließen an Einschlafen und verließen gegen den Widerstand der Mütter den nicht denken. Es war ruhig, und nur im Nachbar- Keller. Wir wollten wohl unsere Tapferkeit unter Be- keller wurde noch geredet und manchmal auch ge- weis stellen. Von der Windhund-Division sahen und lacht. In die Stille unseres Raumes, die vier Kinder hörten wir nichts mehr. Sie waren mit Beginn des schliefen und man hörte ihr tiefes Atmen, vernahm Beschusses mit all ihrem Krempel verschwunden. ich, wie Frau Seibert sagte: „Do kütt dat Biess ald widder“ und tatsächlich hörte ich den „eisernen Der Tag ging vorüber. Es muss der 11. März ge- Gustav“ über uns kreisen. Es war ein einzelnes Flug- wesen sein. Wir saßen am Abend noch lange in Sei- zeug, das bereits seit einigen Nächten über Trois- berts Küche zusammen und träumten von der Zu- dorf kreiste. Weil es so beharrlich war, hatten wir kunft. Jeder hatte seine Vorstellungen, die natürlich ihm den Spitznamen eines berühmten Kutschers durch den Krieg und seinen Verlauf andere waren aus der Kaiserzeit gegeben. Er kam, flog wieder fort, als noch vor einem Jahr. Ich hatte damals davon kam wieder und machte uns alle immer nervös, geträumt, Flugzeug-Ingenieur zu werden, wusste obwohl uns nicht bekannt war, dass er Bomben ab- jetzt aber, dass dieser Wunsch Utopie war, denn ich warf. Auch diesmal hörte ich ihn, wie er zuerst leise konnte mir vorstellen, dass sich alles ändern würde. und dann immer lauter zu hören war. Nach dem Aber alle, die wir da saßen und miteinander rede- Motoren­geräusch schien es sich um eine einmoto- ten, sehnten eine Zeit ohne Bomben und ohne Gra- rige Maschine zu handeln. Sie kreiste offensichtlich naten, aber auch ohne Ortsgruppenleiter herbei. in nicht allzu großer Höhe und sehr nahe. Plötzlich gab es einen entsetzlichen Schlag, der Boden wa- Schließlich riefen unsere Mütter, wir gingen in ckelte und ich merkte, wie Steine polterten. Dann den Keller und jeder suchte seinen vorher festge- trat unheimlich Ruhe ein; ich hörte nichts mehr und legten Schlafplatz auf. Ich schlief in einem doppel- war wohl kurzzeitig weggetreten. Erst durch die ver- stöckigen Luftschutzbett, meine Mutter unten, ich zweifelten Rufe meiner Mutter, die laut meinen Na- oben. Das Bett stand dicht an der Trennwand zum men rief, kam ich wieder zu mir. Zunächst spuckte Kellerflur hin. Dann gab es einen schmalen Gang ich Schutt und Steine aus, dann antwortete ich mei- zwischen Bett und einem Sofa, das mit der Rückseite ner Mutter und tastete meine Stirn ab, spürte über uns zugewandt war und auf dem Frau Seibert lag, dem rechten Auge einen Schmerz und eine klebrige und ein weiteres Sofa zu ihren Füßen für Ihre Toch- Flüssigkeit, mein Blut. Alles andere schien an mir

128 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Münster

Gütersloh Bocholt

Ahlen

Wesel Hamm Lippstadt Marl Rheinquerung Lünen 01.04.1945 24.03.1945 Herten H.Gr.B Herne Dortmund Essen Duisburg Menden 12.04.1945 Mülheim Witten 15.04.1945 Arnsberg Iserlohn Krefeld 21.04.1945 Velbert 12.03.1945 Ratingen Viersen Düsseldorf Lüdenscheid 01.03.1945 17.04.1945 Solingen Mönchengladbach Neuss 01.03.1945 Leverkusen

Rurquerung 06.03.1945 Bergisch Gladbach 23.02.1945 Siegen

Düren Troisdorf Aachen St. Augustin

21.10.1944 Hürtgen Remagen 07.03.1945

noch in Ordnung zu sein und meine Mutter rief dort war Holz und lauter Schutt. So versuchte ich angstvoll: „Was ist los?“ „Ich weiß es nicht!“ antwor- es am Fußende, zwängte mich mit den Füßen zu- tete ich und versuchte, im Dunkeln um mich herum erst durch das offene Dreieck und rutschte dann auf etwas erkennen zu können, aber ich war wie blind. den Kellerboden, der von Schutt und Trümmern Nun tastete ich meine direkte Umgebung ab und bedeckt war. Nun konnte ich meine Mutter an den stieß auf Steine, die meine ganzen Körper bedeck- Füßen zu mir hin ziehen und dann stand sie zitternd ten. Weiter tastete ich alles über mir und um mich vor mir. Sie versicherte mir, sie sei unversehrt. Ich herum ab und traf auf Holzbretter. Jetzt erkannte packte noch ihre Kleidung, die sie am Fußende ihres ich, dass die auf mir liegenden Steine das ehema- Bettes deponiert hatte, auch die meine, die schutt­ lige Kellergewölbe waren. Mittlerweile waren auch bedeckt oben lagen, dann fasste ich meine Mutter angstvolle Rufe nach Mutter und Ilse zu vernehmen. an der Hand und wir stolperten über Haustrümmer, Steine und Holzstücke in Richtung Kellertreppe. Langsam begriff ich: es war etwas Entsetzliches Wir fanden sie auch, wenn es auch keine Treppe geschehen. Das Motorgeräusch des Flugzeuges fiel mehr gab; der Schutt türmte sich zu einem wirren mir ein, und dann wusste ich, dass uns eine Bombe Haufen, und wir sahen direkt den Nachthimmel getroffen hatte. Jetzt erkannte ich auch die Bedeu- über uns. Es war kein Haus mehr da. Vorsichtig tung der Holzbretter über meinem Kopf; es waren kletterten wir mit nackten Füßen über den Schutt- die Fußbodenbretter der Gaststube, die sich schräg berg nach oben; Schmerzen verspürten wir vor lau- über meinem Schlafplatz nach unten gesenkt hat- ter Aufregung keine. Das Herz schlug uns bis zum ten. Ein Teil des Gebäudes war über diese Bretter Halse. Endlich standen wir auf der Straße Wein- wie über eine Rampe nach unten gerutscht und gartenweg und wurden von Bewohnern des Hauses hatte alle übrigen Menschen in unserem Keller ver- Bäckerei Müller in Empfang genommen und in den schüttet. Ich hörte kein Lebenszeichen von ihnen; Keller geführt. Man kümmerte sich liebevoll um sie mussten wohl alle tot sein. Meiner Mutter rief uns, reichte uns Decken, in die wir uns zitternd ein- ich zu, ruhig liegen zu bleiben und sich nicht zu be- hüllten, und reichte uns heiße Milch. Sogar Schuhe wegen. Zur Seite konnte ich nicht aus meinem Bett; für meine Mutter und mich gab es, und wir zogen

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 129 in einer Ecke die mitgenommene Kleidung an. Mitt- die doch Mutter und Schwester verloren hatte. Sie lerweile standen auch alle aus dem Nachbarkeller schlug vor, in das Haus ihrer Großmutter Seibert zu vor uns, aber es fehlten die Wirtin Frau Seibert und gehen, das in der Schloss-Straße in Nähe des Kran- ihr Töchterchen Marlene sowie die beiden Kinder kenhauses stand. Die Oma, das wusste sie, war in Willi und Ilse der Trierer Seiberts. Deren Mutter den Westerwald geflüchtet. Das fand bei allen Sei- und Gerti Seibert saßen stumm und verzweifelt am berts Zustimmung, und uns, meine Mutter, meine Tisch, und unser Trost, es würden noch alle gerettet, Tante und mich nahm man einfach mit. Wir waren erreichte sie nicht. Ich ahnte, dass die Vier tot seien, froh, die drei großen Seiberts-Kinder fassten ihre und das bestätigte sich am anderen Tag. weinende Mutter in den Arm und wir zogen, eine traurige Gruppe vom Schicksal getroffener Men- Als es begann, hell zu werden, hielt es uns nicht schen los. mehr im Keller und wir drängten nach draußen. Es bot sich uns ein furchtbares Bild der Zerstörung. Es handelte sich wirklich um die vorletzte Das stattliche Haus war ein einziger Schuttberg, der Bombe, die Troisdorf und die Bewohner des Gast- bis etwa zur ehemaligen Erdgeschossdecke reichte. hauses „Zum Treppchen“ so schicksalhaft traf. Wir, Die ganzen Nachbarhäuser waren wie mit rotem die wir am Leben blieben, hatten nach dieser Nacht Puder überzogen. in der Schloßstraße Unterschlupf gefunden. Des- halb ist meine Erinnerung an die darauffolgenden Die Ziegelsteine des zerstörten Hauses müssen Tage lückenhaft. Ich bin mir aber sicher, dass am regelrecht pulverisiert worden sein. Balken und un- Tage danach die letzte Bombe auf Troisdorf fiel, kenntliche Möbelteile türmten sich zu einem wirren und zwar auf ähnliche Weise, nämlich abgeworfen Haufen auf. Es gab noch Feuerwehrleute und Solda- durch ein einzeln fliegendes Flugzeug. Und das war ten, die die Straße freigeräumt hatten und nun die eigenartig und unerklärbar. Sie traf etwa fünfhun- Trümmer durchsuchten; man hatte die Leichen der dert Meter vom Unglückshaus (Seibert) entfernt, ein Toten bereits in den Trümmern gefunden und weg- Grundstück, ebenfalls am Weingartenweg an der gebracht. Als wir bestätigen konnten, das niemand Ecke zum jetzigen Theodor-Heuß-Ring gelegen, der mehr vermisst wurde, zogen die Helfer ab. Meine dort parallel zur Siegtalstrecke der Deutschen Bun- Schuhe und die meiner Mutter hatte man gefunden; desbahn verläuft. Ob diese letzte Bombe Schaden sie lagen mit anderen unversehrten Kleidungsstü- und welchen verursachte und ob dabei Menschen cken, säuberlich sortiert, vor der Eingangstür des umgekommen sind, weiß ich nicht mit Sicherheit zu Sälchens, das teilweise unversehrt war. sagen, wie ich auch nicht weiß, ob meine Annahme stimmt, dass in diesem Haus eine Familie Pelzer ge- Auf einmal standen meine Mutter und ihre wohnt hat. Sollte noch jemand in Troisdorf leben, Schwester vor mir und sagten ganz leise, dass Onkel der meine Fragen beantworten kann, würde ich für Willi verschwunden sei. Er hatte nicht gesagt, wo- seine Mitteilung sehr dankbar sein. hin er sei, aber er musste sich unsichtbar machen, denn sowohl Uniform als auch Karabiner, Soldbuch Mit diesen Worten soll mein Bericht zu Ende und Marschpapiere existierten nicht mehr; sie wa- sein. Ich kann nur noch kurz schildern, dass meine ren auf dem Dachboden zerstört worden. Damit Mutter und ihre Schwester noch Asyl in Greven- hatte er sich unerlaubt von der Truppe entfernt, brück fanden, wo meine Tante Resi im April 1945 und er wäre, hätte man ihn erwischt, günstigsten- einen Sohn zur Welt brachte, dass ich zurück nach falls vor ein Kriegsgericht, wahrscheinlich aber Troisdorf ging und zusammen mit meinem Onkel vor ein Standgericht gestellt und unter Umständen in Spich die Besetzung durch die Amerikaner er- erschossen worden. Alle hatten zugesagt, nichts lebte, und dass die Trierer Familie Seibert im späten zu verraten. Ich habe ihn zwei Wochen später wie- Frühjahr nach Kriegsende wieder zurück nach Trier dergetroffen und bin ihm in sein Versteck in einem ziehen konnte. leerstehenden Haus in Spich gefolgt, denn auch hin- ter mir war der Volkssturm her. Aber das ist eine Das Erlebte hat sich unlöschbar in mein Ge- andere Geschichte. dächtnis eingegraben. Noch heute erlebe ich immer wieder diese Nacht und wieder erlebe ich dann die Jetzt standen wir zitternd in der Kälte da, schau- unheimliche Stille nach der Explosion und höre die ten auf den Trümmerhaufen, der mal ein Haus Stimme meiner Mutter. Und dann hoffe ich, dass war und worin wir Schutz gefunden hatten. Zu- meinem Sohn und seiner Familie ein solches Erle- erst fasste sich erstaunlicherweise Gerti Seibert, ben erspart werde. z

130 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Hansjörg Klein Womit spielten wir als Kinder während des Zweiten Weltkriegs und danach?

Meine Erinnerungen dazu führen mich in die Umgebung des ehemaligen Hauptverwaltungsgebäudes der Dynamit Nobel AG, Troisdorf (DN-HV) Foto: Sammlung Hansjörg Klein Hansjörg Sammlung Foto:

Hauptverwaltung DN vor … Foto: Sammlung Hansjörg Klein Hansjörg Sammlung Foto:

… und nach der Zerstörung

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 131 Modell und Foto: Hansjörg Klein

Wohnung Klein von 1933 – 1945 und Zimmeraufteilung

Standortbestimmung: nutzt wurden. Zum Teil waren außen vor den Kellerfenstern begehbare Lichtschächte angelegt begannen in Troisdorf die Aus- worden. An die Schächte knüpfe ich auch noch fol- 2012 schachtungsarbeiten zur Errichtung gende Erinnerung. Während des Krieges kletterte einer großen Stadthalle, ehemals Standort der vor- ich gerne an den Eisengittern hinunter in die Gänge genannten und im Krieg zerstörten DN-HV. Neu- mit dem Ziel, Bomben- und Granatsplitter aufzu- gierig beobachtete ich in Abständen den Verlauf sammeln. Damit fand im Freundeskreis ein span- und brachte auch meine Kamera mit. nender Tauschhandel statt. Diese Schächte habe ich in dem von mir später gebastelten Modell durch Es entwickelten sich mehrere Gespräche mit eine doppelte Bodenplatte sichtbar machen können. dem Bauleiter. Gerne ließ er sich von mir als Zeit- Dach, Fenster und Türen sind zeichnerisch darge- zeuge berichten, wie die Kellerräume damals ge- stellt worden.

132 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 HV-DN Standortbestimmung Foto: Hansjörg Klein

Gewaltige Fundamente der alten HV werden sichtbar

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 133 Foto: Hansjörg Klein Modell und Foto: Hansjörg Klein

Begehbare Schächte und doppelte Bodenplatte

Als sehr schwierig gestaltete sich für mich der Anlässlich eines zufälligen Treffs mit dem dama- Aufbau des halbrunden Eingangs und Treppenhau- ligen Ortsvorsteher Gerhard Schlich kam auch mein ses. Aus lauter Verzweiflung landeten mehrere Ver- gebasteltes Objekt zur Sprache. Er war begeistert suche im Papierkorb. und gab den Anstoß für die spätere Ausstellung im Rathaus. Herr Schlich kannte nämlich das ehema- lige DN-Gebäude sehr gut aus seiner eigenen Kind- heit. Zurzeit befindet sich das Modell im Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Troisdorf (HGT).

Doch nun zurück in die 40er Jahre. Gerne erin- nere ich mich an folgendes. Foto: Sammlung Hansjörg Klein Hansjörg Sammlung Foto:

Ständiges Betteln wurde belohnt

Neben dem Verwaltungsgebäude stand die soge- nannte Vorstandsgarage. Darin untergebracht wa- ren mehrere Autos, u. a. nacheinander auch zwei hochwertige Limousinen der Marken Horch und Maybach für den Generaldirektor des Unterneh- mens, Dr. Paul Müller.

Für die Pflege und Wartung war eigens eine Person abgestellt. Wenn dieser „Wagenmeister“ gut gelaunt war, durfte ich kleiner Knirps schon mal in die Autos hineinklettern. Meine Beine waren jedoch zu kurz, um das Gaspedal oder die Kupplung zu treffen. Aber allein das Lenkrad zu berühren oder den Geruch der Lederausstattung wahrzunehmen Vor dem Treppenhaus machte mich zum König.

134 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Modell und Foto: Hansjörg Klein

Vorstandsgarage und Maybach Abbildung: Abbildung:

Vom König zum Sünder

Klein Hansjörg Sammlung An dieser Garage befanden sich außen mehrere Feuermelder. Hinter einer kleinen Glasscheibe gab es einen Knopf, der durch Druck die Werkfeuer- Backofen mit nach Hause. Oh Schreck! Am nächs- wehr alarmierte. Eines Tages habe ich in Unwissen- ten Tag überbrachte er mir ein Lavastück. In mir heit über die weiteren Folgen in meinem kindlichen fiel eine Welt zusammen, unsere Freundschaft war Handeln die Scheibe eingeschlagen und den Knopf zunächst beendet. Verglichen mit den Freizeitan- betätigt. Zu meinem Schrecken stand innerhalb geboten heutiger Jugendlicher (PC-Spiele, Handys einiger Minuten der Werkfeuerwehrwagen mit ei- usw.) hatten wir nach Kriegsende kaum Auswahl- nem Löschtrupp vor mir. Da kein Feuer entstanden möglichkeiten. Wir spielten Tischtennis bei Freund war, hatte der Brandmeister sofort erkannt, dass ich Gerhard Friederich, der eine Turnierplatte besaß, der Übeltäter war. Er drohte mir mit den Worten: „Wenn das noch einmal passiert, sperre ich dich in den großen Werkzeugkasten des Löschwagens ein.“ Ich war kuriert und sie fuhren schmunzelnd davon. Ein paar hinter die Löffel von meinen Eltern stan- den mir noch bevor. Foto: Sammlung Hansjörg Klein Hansjörg Sammlung Foto: Der verbrannte Fußball

Weihnachten 1947 fiel die Bescherung äußerst dürf- tig aus. Jedoch lag unter dem Baum zu meiner großen Freude ein Lederball – eine Sensation. Bereits am 1. Feiertag wollte ich zusammen mit meinem Freund Heinz Görtz und anderen trotz Eis und Schnee den Ball testen. Nach kurzer Zeit war dieser durch die Feuchtigkeit vollgesogen und schwer bespielbar. Einer meiner Freunde nahm ihn zum Trocknen im Tischtennis bei Gerhard

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 135 Fußball in Ermangelung eines Platzes nur auf Bür- gen die Friedensstraße, u. a. auch gegen Teams aus gersteigen und Straßen, die sich zum „Schlauchen“ Spich, allerdings jetzt mit besseren Bällen. nur begrenzt eigneten. Ich trug Kunststoff-Sanda- len, andere auch zu große Straßenschuhe ihrer Vä- ter, vorne mit Zeitungen ausgestopft. Leerer Tank

Eines Tages wurde Freund Gerhard stolzer Besitzer Kinder bauen sich ein eigenes Fußballstadion eines besonderen Fahrrads. Das Rad war mit einem benzinbetriebenen, kleinen Hilfsmotor ausgestattet. Neben dem zerstörten Gebäudeflügel befand sich Wir Freunde durften es abwechselnd benutzen und ein ehemaliger Parkplatz, der durch Trümmer voll- bretterten damit ohne Ende die Kaiserstraße rauf kommen zugeschüttet war. Wir hatten die Idee, und runter. Sich erstmalig ohne eigene Muskelkraft den Schutt an die Ränder zu räumen. Die Torpfos- fortzubewegen war für uns Kinder ein tolles Erleb- ten gruben wir in Löcher und beschwerten sie mit nis. Bald war der Tank leer und wir mussten wieder Steinen. So entstand ein kleiner Sportplatz, und der kräftig in die Pedale treten. ursprüngliche Splittbelag wurde wieder sichtbar. Daher waren Arm- und Knieabschürfungen die Regel. Der Urtraum vieler Menschen

Anfangs fehlte es jedoch an geeigneten Bällen. Einmal überraschte Gerhard uns mit seiner Idee Einer brachte mal einen gebrauchten Tennisball vom vogelgleichen Fliegen. Er bastelte an einem mit oder wir kickten mit selbst gefertigten Stoffbäl- Leichtmetallrahmen, den er später mit einem Segel- len. Dazu wickelten wir Stoffstreifen so zusammen, tuch bespannen wollte; fest entschlossen, damit von dass ein ballähnliches Gebilde entstand. Haltbarkeit der Trümmerspitze des teilzerstörten DN-Gebäudes gleich Null. Auf dem Plätzchen fanden nun Spiele hinunterzusegeln. Wir Freunde konnten ihm dieses gegen andere Straßenmannschaften statt, z. B. ge- halsbrecherische Vorhaben Gott sei Dank ausreden.

Fußballstadion

136 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Sammlung Hansjörg Klein Hansjörg Sammlung Foto:

Vaters Opel 1,2 l und Schreiben DN

Einmal und nie wieder

Gegen Kriegsende beschlagnahmte das Militär den Privat­wagen meines Vaters. Meine Mutter erhielt 1945 die Nachricht, dass das Auto in einer Scheune in Eitorf zur Abholung be- reitstehe. Da sich mein Vater noch in russischer Gefangenschaft befand, vermietete sie den leicht beschädig- ten Wagen zunächst an Heinrich Lore, Geschäftsleitung der DN-AG, für seine täglichen Fahrten zwi- schen Köln und Troisdorf.

Während wir Kinder auf der Kaiserstraße spielten, wurde ich traurig, zu sehen, dass Fremde „unseren“ Wagen benutzten. Ich bat Herrn Kruhl, den Chauffeur, mich wenigstens mal für eine kurze Strecke mitzunehmen. In Spich wurde mir aber die Fahrt zu lang und ich wollte aussteigen. Er fuhr aber grinsend immer weiter. Erst kurz vor Wahn hielt er an. Wütend und ohne mich zu be- danken rannte ich im Dauerlauf zurück und habe ihn nie wieder gebeten, mich mitzunehmen. Abbildung: Sammlung Hansjörg Klein

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 137 Foto: Hansjörg Klein

Gebäude bis Kaiserstraße Gebäude wieder aufgebaut

Im Laufe der Nachkriegszeit begann der Teil­ Bi) eingezogen. Anzumerken ist, dass Frau Lengler- aufbau des durch eine Luftmine und Spreng­bomben Wittfoht, Leiterin der Wi-Bi, in den 50er Jahren fast ganz zerstörten Gebäudeteils. Ursprünglich bereits ein Kunststoff-Taschenbuch verfasste – unter grenzte das Haus bis an die Kaiserstraße. Ingenieuren und Studenten ein begehrtes Nach- schlagewerk. Im April 2014 ist der übrig gebliebene Der Neuaufbau wurde nicht wieder so groß er- Teil des ursprünglichen HV-Gebäudes abgerissen richtet (siehe Zeichnung mit vorher 24 Fenstern der worden. 1. Etage, sondern kleiner mit 15 Fenstern). Damit verschwand für mich die letzte sichtbare In die neu geschaffenen Räume sind das Zentral- Erinnerung. Nach Einebnung der Fläche entstand labor I und die Wissenschaftliche Bibliothek (Wi- an dieser Stelle ein großes Parkhaus. z Foto: Hansjörg Klein Foto: Hansjörg Klein

Abbruch beginnt Foto: Hansjörg Klein

Fünf Kellerfenster mit gewaltigen Stahlbetonmauern Fundamente der alten HV beseitigt nochmals zu erkennen

138 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Klaus Dettmann Bleiglanz und Zwergenloch

Bergleute, Mineralien und Überlieferungen zum Bergbau rund um Altenrath

Die Wahner Heide ist eine Kultur- und Naturlandschaft mit vielfältiger Vergangenheit. Von der kurzen Industriegeschichte erzählt uns u. a. der Bergbau. Volker Allexi aus Altenrath beschrieb im Troisdorfer Jahresheft von 1974 als erster speziell den Bergbau im nordöstlichen Teil der Wahner Heide. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem bisher weniger bekannten Teil der Geschichte der Grubenfelder der Gewerkschaft Versöhnung in Altenrath und der Gruben­ felder an der Agger.1

Zu Beginn eine Übersicht über die Bergwerke. 19. Jahrhundert sind zwei Abbauperioden bekannt: 1853 bis 1858 und 1867 bis 1869. Die Erzgrube Versöhnung liegt auf der Krämers- heide von Altenrath südwestlich der Kirche St. Ge- 1 Volker Allexi, Erzlagerstätten und Bergbau im Raum Altenrath, in: org an der Alten Kölner Straße. Das Grubenfeld Ver- Troisdorfer Jahreshefte 4, 1974, S. 11 – 20. Matthias Dederichs, Bergbau in der Wahner Heide, in: Claudia söhnung bestand aus den Gängen Schiller / Schiller Arndt und Bernd Habel (Hrsg.), Von Grubenfeld und Berghoheit: I, Piret und Versöhnung und reichte bis in vermut- Erzbergbau im Rhein-Sieg-Kreis und seiner Umgebung Teil 2, Sieg- burg 2011, S. 95 – 113. lich 56 Meter Tiefe. Es wurden überwiegend Blei-, Albert Seemann, Metallerz-Bergbau im unteren Aggertal, Lohmar Zink-, Kupfer- und Nickelerze gefördert. Aus dem 1990, S. 73 – 81.

Die Grube Versöhnung in Altenrath im „Plan des Fuss-Artillerie-Schiessplatzes bei Wahn 1898“.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 139 Die wichtigsten Übertageanlagen waren: Versteigerung der Grube Versöhnung aus dem Jahr z Ein Förderschacht mit Dampfmaschine. 1871 erfahren wir folgendes: 2 z Ein Maschinenschacht, um das eindringende Grubenwasser (Kluft- und Grundwasser) erst Die Lagerstätte, auf welcher die Grube Versöh- mit einem Pferdeglöpel und dann mit einer nung baut, ist schon in früheren Zeiten betrieben, Dampfmaschine abpumpen zu können. indem man bei der Wiederaufnahme des Gruben- z Ein Wetterschacht zur Belüftung des Bergwerkes. betriebes im Jahre 1853 einen alten Stollen sowie z Fundschacht „Schiller I“. einen Schacht und mehrere Strecken vorfand. Nä- z Erz- und Abraumhalden. here Nachrichten darüber fehlen jedoch. Als man in gedachtem Jahr zur Aufwältigung der alten Pingen Zur Erzaufbereitung wurden im Jahr 1855 folgende schritt und sich dabei herausstellte, dass die alten be- Anlagen genutzt: reits bis zu zehn Lachtersohle niedergegangen waren, z Eine Handsetzwäsche bestehend aus sechs Setz- teufte man einen neuen Schacht, vier Lachter von bütten mit Setzsieben, einen Spülkasten, einen dem bereits vorhandenen entfernt, bis zur zehnten Schlämmgraben und einen Klärteich. Lachtersohle ab und entdeckte im Verlaufe der wei- teren Ausrichtungsarbeiten auf Versöhnung auch Im Jahr 1857 erfuhr die Erzaufbereitung eine Erwei- den sogenannten Piret- und Schillergang, welche La- terung durch: gerstätten unter den Namen Piret, Schiller und Schil- z Eine Dampfmaschine. ler I, wie schon vorhin angedeutet verliehen worden z Einen Spülgraben. sind. z Eine Mehltrommel. z Ein Walzquetschwerk und ein Pochwerk. Die Bergleute fanden im Jahr 1853 mehrere über- und unterirdische Überreste eines schon Das Wasser für die Erzaufbereitung stammte aus früher betriebenen Bergwerkes. Oberirdisch wa- der Grube Versöhnung und wurde nach der Nut- ren Pingen zu erkennen gewesen. Das sind schlüs- zung in 16 aus Holz gezimmerten Klärsümpfen und sel- oder trichterförmige Vertiefungen, die durch zwei Klärteichen gereinigt und über den Witzen- Einstürze von Stollen oder Schächten entstanden bachsiefen in die Agger geleitet. sind. Diese Pingen gingen auf einen Stollen und einen Schacht zurück. Dieser Schacht führte auf Der Bergbau auf der rechten Aggerseite reichte die zehnte Lachtersohle, umgerechnet in 21 Me- von der Mündung der Sülz bis zu Straßenbrücke ter Tiefe (1 Lachter = 2,0924 m). Von hier zweig- von Lohmar nach Altenrath. Es waren die sechs ten dann mehrere Strecken, horizontale Gruben- Grubenfelder Kant (Kupfer und Eisen), Nord- baue, ab. Diese Hinterlassenschaften lassen auf berg (Kupfer), Gottfried (Kupfer), Basel (Kupfer eine ältere, umfangreichere Bergwerkstätigkeit und Blei), Sophie (Kupfer) und Zufall (Kup- schließen. fer). Von ihnen liegen Nachrichten aus der Zeit von 1850 bis 1868 vor. Die Schürfe und kleineren Über den alten Bergbau im Kupfererzbergwerk Stollen dienten der Erkundung der Erzlagerstät- Nordberg findet sich in der Verleihungsurkunde ten. Eine Erzförderung wie auf der Grube Versöh- vom 29. Mai 1856 ein Besichtigungsprotokoll vom nung hat bei diesen Grubenfeldern nicht statt- 16. Juli 1850.3 gefunden. Man ist mit dem so genannten Querschlag auf al- Die Anfänge des Bergbaus liegen im dunklen. ten Mann gestoßen, so dass hier früher schon Berg- Es gibt für die Grube Versöhnung und die Grube bau getrieben sein muss, wie auch verschiedene Spu- Nordberg Hinweise, dass schon vor der Mitte des ren derselben vorhanden sind. 19. Jahrhunderts hier Bergbau betrieben worden ist. Aus einer Bekanntmachung zur gerichtlichen Als „alter Mann“ wird ein verlassener oder ein- gestürzter Grubenbau bezeichnet. Der Fundstollen der Grube Nordberg war ca. 42 Meter lang. Carl Ra- 2 Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Köln 1871. Oeffentlicher Anzeiger, St. 49 vom 6. Dezember 1871, S. 332 – 333 (lfd. Nr. 1236). demacher (1859 bis 1935), der in Altenrath geborene 3 Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Köln 1868. Oeffentlicher Lehrer und Gründer des Museums für Vor- und Anzeiger, St. 37 vom 16. September 1868, S. 321 – 323 (lfd. Nr. 1118) Frühgeschichte im Kölner Bayenturm, überliefert 4 Carl Rademacher, Die vorgeschichtliche Besiedelung der Heideter- rasse zwischen Rheinebene, Acher und Sülz. Mannus Bibliothek 20. eine kleine Sage, die sich möglicherweise die Grube Leipzig 1920, S. 9 – 10 mit Anm. 1. Nordberg bezieht: 4

140 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Die Randgebirge von der Acher [Agger] zur Hei- zum Erliegen. Die ersten Nachrichten von erneuten deterrasse sind durchweg steil, nicht so sehr die Sülz. Aktivitäten stammen aus den Jahren 1738 und 1740.6 Eine lang gestreckte, waldige Bergwand erstreckt sich Ob Simon Kolbe in einer Grube am Lüderich oder von Lohmar bis zum Zusammenfluss von Sülz und doch in Altenrath tätig war? Wir wissen es nicht. Acher, die Alfenhardt. … Die Sage berichtet von Zwer- gen, die hier einst hausten. Ein Loch heißt „Zwergen- Bei den Eintragungen der weiteren Bergleute loch“; das deutet auf alten Bergbau hin. Spuren ural- fällt auf, dass sie doch überwiegend in Altenrath ten Kupferbaues sind in dem Gelände gefunden. Die wohnhaft waren. vorhandenen Stollen sind neuere Versuche. z Engelbert Dahm Bergmann in Altenrath Auf der Suche nach den Bergleuten wird man * 15. 3. 1835 in Oberkassel, † 14. 3. 1885 in in den Kirchenbüchern der Altenrather Pfarrei St. Altenrath Georg fündig.5 Zwei Dinge sind dabei zu beachten. z Johannes Peter Heß Das damalige Kirchenspiel Altenrath umfasste 22 Bergmann in Altenrath verschiedene Ortschaften und Gehöfte. Neben -Al * 23. 6. 1828 in Altenrath tenrath selber waren es die kleinen Siedlungen im z Johann Höck Sülztal und weite Teile der jetzigen Pfarreien Rös- Gruben-Waschmeister, wohnhaft in Hasbach rath und Scheiderhöhe. Da auch z. B. in Hasbach * 17. 11. 1836 in Hasbach und am Lüderich Bergbau betrieben worden ist, z Johann Peter Hörholz sind nicht zwangsläufig alle Bergleute auf der Grube Bergmann in Hasbach Versöhnung oder in den Aggergruben tätig gewe- * 23. 7. 1865 in Hasbach, verstorben in Bensberg sen. Weiterhin finden sich in den Eintragungen der z Jacob Kastenholz Kirchenbücher aus früheren Jahrhunderten selten Bergmann in Altenrath, verheiratet mit Anna Berufsbezeichnungen, so dass nicht alle als Berg- Catharina Fabritius leute erkennbar sind. Geburt ihrer drei Kinder 1849 – 1857 in Hasbach bzw. Altenrath Der früheste und vielleicht spannendste Eintrag z Joseph Kellershohn bezieht sich auf eine Taufe. Simon Kolbe stammte Bergmann, wohnhaft in Brand aus Böhmen und war mit Anna Catharina aus En- * 21. 10. 1857 in Brand kenbach verheiratet. Sie ließen am 26. November z Gottfried Klein 1719 in Altenrath ihren Sohn Johannes Fridericus Bergmann, wohnhaft in Hasbach taufen. Das Taufbuch nennt Simon Kolbe einen „Mi- * 6. 11. 1842 in Hasbach neralgräber (Fossores mineralium) vulgo Bergknap“. z Karl Friedrich August Körner Bergmann, wohnhaft in Hasbach um 1865 Weiterhin werden vier Taufpaten genannt: * ca. 1838 in Adlersruh, Bez. Liegnitz, Johannes Fridericus Hettling aus Böhmen nicht katholisch Johannes Henricus Reik aus Sachsen z Johannes Kurtenbach Anna Christina Brungstättlers von Frankenphol Bergmann, wohnhaft in Hasbach Anna Magdalena außm Voiberg * 4. 9. 1827 in Hasbach z Johannes Michels Mit dem Eintrag als Mineralgräber und Berg- Bergmann in Altenrath knappe steht außer Frage, dass Simon Kolbe seinen * 4. 1. 1815 Stupheide, † 26. 2. 1888 Lebensunterhalt im Bergbau bestritt. Er und die bei- z Johannes Christian Roth den männlichen Taufpaten stammen ohne nähere Grubensteiger Ortsangaben aus Böhmen und Sachsen. Das Erzge- birge gehört zu beiden Regionen. Hier wurde schon Er war mit Henriette Mailahn verheiratet. Sie seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Bergbau betrie- wohnten in einem Ziegelsteinhaus auf der Krämers- ben. Kolbe, Hettling und Reik sind entweder auf der Suche nach Arbeit in das Kirchspiel Altenrath 5 Familienbuch des alten Kirchspiels Altenrath 1653 – 1899, bear- gekommen, oder man hat sie gezielt angeworben. beitet von Heribert Müller und Peter Höngesberg, Schriftenreihe Wo aber war Simon Kolbe Mineralgräber und Berg- des Archivs der Stadt Troisdorf Nr. 20, Januar 2006, Band I Seiten knappe? Der älteste Bergbau in der Region fand am 1 – 500, Band II Seiten 501 – 982. 6 Herbert Stahl, Zur Geschichte des Bergbaus auf dem Lüderich, in: Lüderich statt. Dort kam der Bergbau mit dem Aus- Das Erbe des Erzes, Band 4, Der Lüderich, Bergisch Gladbach 2008, bruch des Dreißigjährigen Krieges für längere Zeit S. 20 – 21.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 141 heide westlich der Grube Versöhnung. Aus der Zeit hann Baptist Strunk. Er fiel von der Fahrt (Leiter zwischen 1857 und 1864 sind Einträge von Geburt, aus Holz oder Metall im Grubenbetrieb) in den Taufe und Todesfall ihrer Kinder in Altenrath be- Sumpf auf der Schachtsohle und ertrank. Am kannt. Weitere Hinweise auf den Grubensteiger 9. Oktober 1856 wurde der Hauer Hubert Thü- Roth finden sich in der Zeitung „Der Berggeist“ von tenberg von niederstürzendem Gestein tödlich 1858 und 1861. Als nach der ersten Betriebsperiode verletzt.9 1858 Teile der Gerätschaften wie Pumpenröhren, Pumpengestänge oder eine Handquetschmaschine Neben der Bezeichnung „Bergmann“ finden sich zum Verkauf angeboten wurden, wird als Ansprech- weitere vier Berufsbezeichnungen.10 partner vor Ort der Steiger Roth genannt.7 z Der Steiger war eine Aufsichtsperson für das Bergwerk und das dazugehörige Personal. Der z Peter Schorn Grubensteiger weist auf eine Spezialisierung Bergmann in Altenrath hin. * 20. 3. 1824 in Altenrath, † 23. 5. 1859 z Der Grubenwaschmeister hatte die Aufsicht z Johannes Heinrich Struck über die Erzwäsche bei der Aufbereitung. Bergmann, wohnhaft in Altenrath z Ein Hauer war ein Bergmann mit vollem Lohn, * 18. 7. 1833 Haus Sülz der die Stollen und Strecken vorantrieb und das z Joseph Strunck Erz abbaute. Bergmann / Lumpensammler in Altenrath z Der Anschläger ist der Bergmann, der für den * 8. 12. 1829 Aulgasse / Siegburg Transport und das Be- und Entladen der Förder- z Henricus Tüttenberg körbe verantwortlich ist und die dafür notwen- Bergmann / Leinenweber in Altenrath digen Signale laut an den Fördermaschinisten * 21. 2. 1808, † 4. 11. 1883 weitergibt.

Bei der Nennung von Hasbach sollte man an die Es ist davon auszugehen, dass auch Bergleute aus Grube „James Watt“ denken. Sie lag bei der früheren den umliegenden Gemeinden im Altenrather Berg- Ortschaft Hülsen in der Nähe von Altenrath und bau tätig waren. war zwischen 1854 und 1866 in Betrieb.8 Was förderten nun die Bergleute auf der Grube Während des Grubenbetriebes auf der Grube Versöhnung im Zeitraum 1853 bis 1869? Es waren Versöhnung kam es zu zwei Todesfällen. Am 272,1 Tonnen Bleierz, 116 Tonnen Nickelerz, 16,8 10. August 1855 verunglückte der Anschläger Jo- Tonnen Kupfererz und 10,25 Tonnen Zinkblende.11 Die Erze kommen in devonischem Sandstein zu- sammen mit Quarz vor. Aus der Beschreibung des 7 Albert Seemann, Metallerz-Bergbau im unteren Aggertal, Lohmar Bergreviers Deutz aus dem Jahr 1882 wissen wir, 1990, S. 73 – 81, Abb. 29, 30. dass nicht jeder der Gänge des Grubenfeldes Ver- 8 Matthias Dederichs, Bergbau in der Wahner Heide, in: Claudia 12 Arndt und Bernd Habel (Hrsg.), Von Grubenfeld und Berghoheit: söhnung die gleichen Erze aufweist. Auch weitere Erzbergbau im Rhein-Sieg-Kreis und seiner Umgebung Teil 2, Sieg- Abhandlungen beschäftigten sich mit den verschie- burg 2011, S. 95 – 113. denen Erzen.13 9 Albert Seemann, Metallerz-Bergbau im unteren Aggertal, Lohmar 1990, S. 106. 10 https://www.mineralienatlas.de/lexikon/index.php/Kapitel/Berg- bau, Zugriff: 14. 1. 2020. Versöhnung 11 Albert Seemann, Metallerz-Bergbau im unteren Aggertal, Lohmar 1990, S. 79. 12 Emil Buff, Beschreibung des Bergreviers Deutz, Bonn 1882, Nach- Bleiglanz, Schwefelkies, Zinkblende, Kupferkies, Ef- druck Bergisch Gladbach 1982, S. 65 – 66, 94. florescenzen (Ausblühungen) von Nickel als Nickel- 13 Reinhardt Baade, Über ein Vorkommen von Gersdorffit auf der Halde der Grube Versöhnung bei Altenrath im Bergischen Land, blüte und Nickelvitriol. in: Emser Hefte Nr. 4, 1985, S. 4 – 5. W. Bornhardt, Über die Gangverhältnisse des Siegerlandes und sei- ner Umgebung. Teil II. Arch. Lagerstättenforschung 8, Berlin 1912, S. 240 – 244. Schiller / Schiller I Hugo Laspeyres, Das Vorkommen und die Verbreitung des Nickels im Rheinischen Schiefergebirge, in: Verhandlungen des naturhis- torischen Vereins der preußischen Rheinlande, Westfalens und des Kupfererze, Kupfernickel, Weissnickelkies, Efflores- Reg.-Bezirks Osnabrück, Bonn 1893, S. 142 – 270, 375 – 518. cenzen (Ausblühungen) von Kobalt 14 % und Nickel V. Zeleny, Das Unterdevon im Bensberger Erzdistrikt und seine Be- ziehungen zu den Blei-Zinkerzgängen, Teil II. Arch. Lagerstätten- 18 % in Form von Kobaltblüte, Kobaltvitriol, Nickel- forschung 7, Berlin 1912, S. 83. blüte und Nickelvitriol.

142 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Übersicht über die Erze und Mineralien der Grube Versöhnung

Bergbaubegriff Mineral Chemische Formel

Bleiglanz Galenit Pb S

Zinkblende Sphalerit ZnS

Kupferkies Chalkopyrit CuFeS2

Schwefelkies Pyrit Fe S2

Kupfernickelkies oder Rotnickelkies Nickelin Ni As

Arsennickelglanz oder Weissnickelkies Gersdorffit NiAsS

Nickelblüte Annabergit Ni3(AsO4)2 H2O

Nickelvitriol Morenosit NiSO4 7H2O

Kobaltblüte Erythrin Co3[AsO4]2·8H2O

Kobaltvitriol Biberit CoSO4 7H2O Fotos: Klaus Dettmann

Nickelblüte – Annabergit (grün) mit Kupferkies (gelb) und Quarz (weiß), Grube Versöhnung Altenrath. Sammlung Bergisches Museum für Bergbau, Handwerk und Gewerbe, Bergisch Gladbach-Bensberg.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 143 Piret mit dem aufgeschütteten erzhaltigen Gestein sein Spiel treibt. Bleiglanz, Zinkblende, Kupfererze, nickelhaltige Mineralien, Efflorescenzen (Ausblühungen) von Eine weitere Überlieferung zum Bergbau findet Kobaltblüte, Kobaltvitriol, Nickelblüte und Nickel- sich im Flurnamenbuch von Dr. Willy Neußer. Zum vitriol. Flurnamen „Am Bergwerk“ vermerkt er folgendes: 18

Wegen Fehlens von Betriebsgeldern wurde die An dieser Stelle, südlich der Schule beim Röb- Förderung Ende 1869 eingestellt. Danach wech- kamp, soll nach Mineralien gegraben worden sein. selten die Besitzer der Grube Versöhnung, ohne Man habe dort einen senkrechten Schacht begonnen, dass wieder Bergbau betrieben worden ist. Um das während vom Scharrenberg ein Stollen waagerecht Jahr 1900 hatten auf dem Grubengelände noch vorangetrieben worden sei. Dort war ein Stück Höhle ein Schornstein, eine Dampfmaschine und eine noch lange zu sehen, wie ältere Bewohner sich erin- Schreinerwerkstatt gestanden.14 Im Jahr 1914 fielen nern. Die Arbeiten sind aber nicht lange fortgeführt die westlichen Ortschaften von Altenrath der Er- worden, weil es sich nicht lohnte. weiterung des Schießplatzes Wahn zum Opfer, da- runter auch die Krämersheide.15 Der oben genannte Scharrenberg wird auf den heutigen Karten Scharfeberg genannt und liegt zwi- Der in Altenrath geborene Lehrer Carl Radema- schen der Mündung der Sülz in die Agger und dem cher erinnert sich an das Bergwerk: 16 Lüttelsiefen. Über das Bergwerk berichtet Albert Seemann: 19 Die schlechten Wege sowie die weite Entfernung von der Bahn ließen in den 70er Jahren die Grube Am Scharfeberg, ca. 50 Meter unterhalb der Sülz- eingehen. Lange bestanden die ausgedehnten Bau- mündung, liegt am Abhang (etwa zehn Meter über lichkeiten, und die beiden Kamine waren zu einem der Talsohle) ein Stollen, in dem ein Brauneisenstein Wahrzeichen des Dorfes und der Heide geworden, führender, stellenweise 0,6 Meter mächtiger Gang bis der letzte 1916, beim Ankauf des ganzen Gelän- aufgeschlossen ist; als Gangart treten Quarz und des durch den Militärfiskus, abgebrochen werden Nebengesteinsbruchstücke auf. Der Gang streicht musste. von Ost nach West und fällt südlich ein. Tonschiefer und Grauwackesandstein bilden das Nebengestein. Der Siegburger Lehrer Johann Schmitz schreibt Der Stollen schließt den Erzgang auf einer Länge im Jahr 1928 über das Gebiet: 17 von rund elf Metern in westlicher Richtung auf (of- fensichtlich ein Untersuchungsstollen zur Erkundung Trostlose Leere gähnt entgegen, wo auf der Krä- der Lagerstätte). Zum Lösen des Gesteins wurde be- mersheide und in der Schevelsmark einst die Betriebe reits Bohr- und Sprengarbeit benutzt, da an den Stö- der Grube Versöhnung und der Ton- und Steinfabrik ßen heute noch deutlich Überreste von Bohrlöchern standen, die vielen Dörflern lohnendes Verdienst bo- zu erkennen sind. ten. Auch hier nur Geröll und Schutt. Am „Bergwerk“ sieht man noch die alte Halde, in der es manchmal Im Zweiten Weltkrieg diente der alte Bergwerks- aufblitzt wie von Diamanten, wenn ein Sonnenstrahl stollen als Schutz vor nächtlichen Bombenangriffen. Zwei Familien aus Pützrath verbrachten vom Früh- jahr bis Herbst 1944 die Nächte im Stollen. Es gab 14 Volker Allexi, Erzlagerstätten und Bergbau im Raum Altenrath, in: hier Sitz- und Schlafgelegenheiten, Tisch und Feu- Troisdorfer Jahreshefte 4, 1974, S. 12. 15 Matthias Dederichs, Altenrath: Wichtiges – Neues – Berühmtes, in: erstelle. In den 1960er Jahren wurde der Eingang Troisdorfer Jahreshefte XXXVII, 2007, S. 44 – 55. des Stollens zugeschüttet. Heute ist noch eine kleine 16 Carl Rademacher, Altenrath und die Heideterrasse, in: Carl Ra- Öffnung zu erkennen.20 demacher (Hrsg.), Die Heideterrasse zwischen Rheinebene, Acher und Sülz (Wahner Heide). Leipzig 1927, S. V – VII. 17 Johann Schmitz, Aus einem Heidedorf, in: Heimatblätter des Sieg- Neben dem Erzbergbau rund um Altenrath wur- kreises, 1928, Heft 4, S. 73 – 77. den in der Wahner Heide auch weitere Bodenschätze 18 Dr. Wilhelm Neußer, Die Flurnamen von Troisdorf, Altenrath und Spich, Troisdorf 1955, Nr. 437 Am Bergwerk, S. 111, Nr. 428 (Unten) gewonnen wie Braunkohlen und Quarzit. Ein Relikt am Scharrenberg, S. 109. des ehemaligen Bergbaus ist auf den ersten Blick 19 Albert Seemann, Metallerz-Bergbau im unteren Aggertal, Lohmar ungewöhnlich. Am Fliegenberg findet sich auf ak- 1990, S. 79 – 80. 20 Manfred Krummenast, Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, tuellen Kartenwerken und im Bericht zur Altberg- in: Lohmarer Heimatblätter, Heft 24, November 2010, S. 39 – 41. bauliche Situation in Troisdorf aus dem Jahr 2012 21

144 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Klaus Dettmann

Sprengstoffbunker, ehemalige Quarzitgrube „Decke Steen“ der Eintrag eines „Stollenmundlochs“ bzw. der Hin- dem Jahr 1880 Quarzit abgebaut.22 Es gibt Akten, weis auf einen „Stollen auf der Wahner Heide“. Aber die die Verwendung von Sprengstoff belegen. Dies, die Art des Bauwerks und die Lage sprechen gegen die Ausführung und die Lage des Bauwerkes lassen ein Stollenmundloch. Das Bauwerk liegt zwischen den Schluss zu, dass es sich um einen alten Spreng- dem Quarzitsteinsee und dem Siegburger Weg im stoffbunker handelt. Bereich der Abraumhalden der ehemaligen Quar- zitgrube „Decke Steen“. Es befindet sich fast auf dem Nach dem Ende der Bergbautätigkeit hat sich die höchsten Punkt im Gelände und ist nur wenige Me- Natur die Gruben und Halden zurückerobert. Heute ter von einer Geländekante entfernt. Es führt in kei- werden in der Wahner Heide keine Bodenschätze nen Berghang. mehr gefördert. Es stehen die Schätze der Natur im Mittelpunkt. z Das rechteckige Bauwerk besteht aus Beton und ist 1,70 Meter breit und ca. 2,40 Meter tief. Die Wände sind 0,25 Meter und die Decke 0,20 Meter 21 TABERG Ingenieure GmbH, Zechenstr. 2, 44536 Lünen Altbergbauliche Situation in Troisdorf: Darstellung, Abgrenzung dick. Auf der Decke verläuft eine Reihe aus sechs und Gefährdungsbeurteilung, Bericht vom 1. 12. 2011 (Fassung Ziegelsteinen, die 0,10 Meter hoch sind. Darüber vom 7. 2. 2012). befindet sich eine Lage aus Sand und Humus. Wie Kapitel 4.6.1 Tagesöffnungen des Bergbaus, Seite 24 – 26, Tabelle 3 und 4. Anlagen 1.1, 1.4, 2.4, 4.2. tief das Bauwerk in die Erde reicht ist unbekannt. 22 Klaus Dettmann, Quarzit. Ein besonderes Troisdorfer Gestein, in: In der Grube „Decke Steen“ wurde mindestens seit Troisdorfer Jahreshefte XLV, 2015, S. 53 – 62.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 145 Dr. Hanns G. Noppeney Die Wahner Heide – speziell zu ihrer Schönheit und zu ihrem Erholungswert Foto: Hanns G. Noppeney

146 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Mit dem Gebiet wenige Kilometer rechts manorum liber“ (Germania) ausgeht. Gleich- 1. des Rheins, das im Norden an Köln und im wohl dürfte für meine späteren Ausführungen Süden an Troisdorf grenzt, verbinden viele den des Nachdenkens wert sein, dass er zum rechts- Flughafen Köln / Bonn „Konrad Adenauer“. Zu rheinischen Großraum festhält: „Das Land … „normalen Zeiten“ sind es Tausende, deren Fern- ist doch im Allgemeinen entweder durch Wäl- reisen hier – fast inmitten der Wahner Heide der schauerlich oder durch Sümpfe wüst, mehr (nachfolgend: WH) – beginnen bzw. enden. feucht.“ Er berichtet auch, dass man „reich an – Wenigen dürfte bekannt sein, dass in dieser Herdenthieren“ gewesen sei, das Vieh „unan- Region bereits 300.000 bis 130.000 v. Chr. Men- sehnlich“ ausgesehen habe; selbst den Rindern schen gelebt haben. Einer ihrer zentralen Auf- habe es an der gewöhnlichen „Stattlichkeit“ ge- enthaltsorte bildete der Ravensberg – eine der fehlt. Tacitus’ Aussagen beruhen also nicht auf südlich gelegenen Anhöhen in der WH (123 m). dessen eigenen Feststellungen: Es ist davon aus- Hauptanziehungspunkt dürfte das hier lagernde zugehen, dass er sich die zitierten Informationen Quarzit gewesen sein, das ihnen der Herstellung anderswo beschafft und denn auch für belastbar von Steinwerkzeugen diente. Auch die als Jäger gehalten hat. und Sammler bekannten Neanderthaler (80.000 bis 40.000 v. Chr.) hat es bei ihren saisonalen Im 19./20. Jahrhundert macht Dr. Carl Ra- Trecks hierhin gezogen. Jüngere Forschungsaus- demacher mit etlichen Entdeckungen auf die grabungen haben Reste von Steinbearbeitungs- Wahner Heide aufmerksam. Er ist in Troisdorf- werkstätten bestätigt. Altenrath geboren (1859) und verstarb am 29. Ja- nuar 1935 in Köln. Zunächst wirkte er als Lehrer, Arrondierend sei auch festgehalten, dass die später ist er als Wissenschaftler hervorgetreten. Materialfunde weitere menschliche Aufenthalte Seine berufliche Krönung verbindet sich mit sei- bis zur Römerzeit belegen. ner Ernennung zum Ersten Direktor des Städ- tischen Museums für Vor- und Frühgeschichte Dem römischen Historiker Tacitus, der zwi- in Köln. Zu seinen „Bestsellern“ zählt die 1927 schen 58 und 120 n. Chr. gelebt haben soll, ist erschienene und auch heute immer mal wieder erwähnter Ravensberg nicht aufgrund persön- zitierte Publikation: Die Heideterrasse zwischen lichen Augenscheins bekannt gewesen, wenn Rheinebene, Acher und Sülz (Wahner Heide). man von seinem Opus „De origine et situ Ger- – In ihrem Schlusskapitel verzichtet er auf die für ihn typische nüchterne Sprache und lässt stattdessen emotional anklingen (vgl. S. 127): „ … ob die rote Heide leuchtet – ob in stiller, wei- ßer Schneefläche weithin der Blick schweift zu den graugrünen Fuhren – stets bleibt die Heide schön und liebenswert …“ Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto: Seit dieser Liebeserklärung sind fast 100 Jahre vergangen: Das heutige Bild der WH ist das Ergebnis tiefgreifender Veränderungen. Die letzte fällt in das Jahr 2004: Als militärisches Übungsgelände hatte sie (weitgehend) ausge- dient und wurde den Menschen als Erholungs- gebiet (weitgehend) frei gegeben. – Auch die gro- ßen Kasernenanlagen wurden aufgegeben: Auf dem Gelände in unmittelbarer Nähe des bereits erwähnten Flughafens entstand ein großzügi- ges Gewerbegebiet; das in der Nähe Altenraths wurde wieder an die von spezifischer Fauna und Flora geprägte WH angebunden. Man konnte erleben, wie Heidetypisches auch hier in kurzer Zeit landschaftsprägend wirkte.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 147 Ähnliche Entwicklungen hatte es zuvor schon weil entweder ein landendes Flugzeug die Erde zum 2. an anderen Stellen der WH gegeben und es Beben brachte, eine Wildschweinrotte zu Besuch kam entstand die Idee, zur Eröffnung des Troisdorfer oder ein Rehbock einen anbellte. Heideportals mittels einer Befragungsaktion zu Erfindung einer neuen Sportart, des „Extrem- eruieren, was Menschen mit der WH verbinden. Birkings“ im Winter 1994 im Geisterbusch: Man säge – Aus dem Kreis der Antwortgeber habe ich drei eine relativ junge Birke an, klettere darauf und lasse (mit Auszügen ihrer Antworten) ausgewählt, deren sich mit ihr ins Heidekraut fallen. WH-Engagement ich seit Jahren begleite und die ich ein wenig in der Nachfolge Carl Rademachers Peter Haas lernte ich vor etwa 40 Jahren als Vor- sehe. sitzenden des Kulturausschusses der Stadt Troisdorf kennen; zeitweilig war er so etwas wie „mein Vorge- Vor mehr als 25 Jahren wurde ich auf Holger Ma- setzter“. Zwei Eigenschaften sind mir immer wieder ria Sticht als kenntnisreichen Autor eines zwischen- an ihm aufgefallen: Seine humanistische Bildung zeitlich in mehreren Auflagen erschienenen WH- und seine Kenntnisse über Troisdorfs Geschichte. Wanderführers aufmerksam. Große Beachtung Mit einer Vielzahl von Publikationen – die meisten erfährt zudem, dass er sich seit Jahren für den Erhalt davon in einem der nun vorliegenden 50 Troisdor- des im Heidedorf Altenrath befindlichen Informati- fer Jahreshefte – hat er seine zahlreichen Fans be- onszentrums einsetzt, das sowohl Erwachsenen als schenkt. Herausgehoben sei einer seiner früheren auch Jugendlichen fundierte Einblicke in die Entste- Aufsätze „Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis hungsgeschichte der WH und ihre Eigenart gewährt heute“ in dem bislang wegen seiner fundierten Bei- – stets mit zentrierendem Blick auf die dort typische träge noch nicht erreichten „Gelben Buch“ (= „Die Fauna und Flora. Stichts „missionarischer Einsatz Wahner Heide – Eine rheinische Landschaft im um Wohl und Wehe der WH“ drückt sich insbeson- Spannungsfeld der Interessen“, Köln 1989). Schließ- dere darin aus, dass er Jahr für Jahr hunderte Men- lich dürfte sein unermüdliches Eintreten für den schen bei Wanderungen mit lokalspezifischem Wis- „Troisdorfer Heimat- und Geschichtsverein“ dazu sen aus verschiedenen Fachgebieten bekannt macht. beigetragen haben, dass er vor wenigen Jahren mit Was also verbindet den „WH-Protektor Sticht“ mit dem begehrten „Rheinlandtaler“ ausgezeichnet dem in Rede stehenden Stückchen Erde? wurde. Ein Mann mit diesem Background muss auch hier zu Wort kommen, insbesondere wenn Erste Nacht unter freiem Heide-Himmel im Geis- man erfahren möchte, was bereits Schüler in frühe- terbusch 1989, bei der an Schlaf nicht zu denken war, ren Zeiten in die WH zog.

Tongrubenweiher – nahe Altenrath – im Winter Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

148 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Zum Glück gab es noch keine Ganztagsschule, so logischer Einfärbung“ be- dass wir schon gegen 2 Uhr in die „Heed“, de „Bösch“, vorzugte er Distanz. Was ihn unseren Waldzielen konnten … Mit unseren Aktivitä- hierzu bewegt haben könnte, ten richteten wir uns nach den Jahreszeiten: erschließt sich ein wenig aus

Im Frühling bauten wir uns Lager mitten im einem Statement, das er an- G. Noppeney Hanns Foto: mannshohen Farn, … lässlich seiner Pensionierung Im Sommer zogen wir bis auf den Scheuerteich … im Jahre 2008 gegeben hat am Teich wurden wir entschädigt mit einem makel- (vgl. Internet-Stichwort „Pape losen Sandstrand und von der Sonne gewärmtem Jörg“): „Für Ökoromantik Wasser. wird nach Überführen der Im Herbst schnitten wir Stöcke, mit denen wir WH in die Deutsche Bundes- uns wie Robin und der Mönch von abgelegten Baum- stiftung Umwelt (DBU) über- stämmen schubsten. haupt kein Platz bleiben … Die Im Winter fuhren wir auf dem Leyenweiher Schlitt- Ziele sind über rechtskräftige schuh oder rodelten am Waldfriedhof die Heerstraße Landschaftspläne definiert.“ hinunter. Wenige Male gab es Regen und Schnee, der anschließend gefror; dann hatten wir am Stand Elf Ob solche „Basta-Kul- eine Schlittenbahn, die weit hinab in die Heide führte. tur“ wechselseitige Achtung Forstdirektor fördert, die für ein harmo- Jörg Pape † Der Dritte im Bunde ist für mich eine „Autorität nisches Miteinander unver- sui generis“ – Forstdirektor Jörg Pape, vormaliger Lei- zichtbar ist, sei ein wenig angezweifelt. Festzuhalten ter des Bundesforstamtes WH. Vor wenigen Monaten verdient gleichwohl, dass Pape aus einem großen ist er verstorben. Seine Wegbegleiter werden sich noch forstwissenschaftlichen Fundus schöpfte, womit lange an ihn erinnern, insbesondere wenn sie sich denn auch das gegenwärtige Erscheinungsbild der wandernd durch die WH bewegen. Dort hat „Förster WH – teilweise – erklärbar ist. Wie er sich zu der Pape“ – wie er landauf, landab genannt wurde – et- Frage seiner Bindung an die WH einlässt, macht liche landschaftsprägende Denkmäler hinterlassen. neugierig: Fragen nach seinen insoweit angestellten planeri- schen Überlegungen beantwortete er „wortkarg“, Naturschonende Naherholung unter Berücksich- insbesondere wenn man nicht von seiner fachlichen tigung von Kernzonen für Refugialräume für störan- Couleur war. Ebenso gegenüber „Ökologen mit ideo- fällige Arten wurde in Landschaftsplänen festgelegt, Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 149 Gebiete mit ungestörter natürlicher Entwicklung prä- deutlich, dass Sticht mit seinen Erinnerungen an gen die Eigenart und Vielfalt neben der über Bewei- die von ihm kreierte „Sportart Extrem-Birkings“ ein dung mit Schafen, Rindern und Ziegen gesicherten emotionalisierendes Bild ausmalen möchte. Ebenso Kulturlandschaft. verbinden sich mit den Erinnerungen Haas’ an den „Scheuerteich und dem dort befindlichen Sand- Die Schönheit und Einzigartigkeit dieses Ge- strand“ Erlebnisse emotionaler Art, wie sie insbe- bietes mit seiner beeindruckenden Vielfalt von Le- sondere in Kindheits- oder Jugendzeiten erfahrbar bensräumen und Landschaftselementen Besuchern sind. Bei den Beiden wird kein normal denkender zu erklären und sie zu naturschonendem Umgang Mensch in Abrede stellen, dass sie eine schöne Ju- mit diesem Kleinod anzuleiten, ist mir … eine gend verbracht haben. Dabei mag denn auch ein Herzensangelegenheit. wenig mitklingen, dass sie damals noch nicht ver- ängstigt haben dürfte, mit ihrem Tun einem dienst- Die Begriffe „schön“ bzw. „Schönheit“ sind eifrigen Förster oder gar einer Polizeistreife in die 3. in Rademachers und auch in Papes Statement Hände zu fallen. eingeflossen, was erstaunen könnte. Vielleicht er- klärt sich dies daraus, dass der Begriff „Schönheit“ Zugegeben: Diese Reflexionen sind nicht frei – mit einigen weiteren – in § 1 Abs. 1 Ziffer 3 des 4. von subjektiver Einfärbung. Sie sind sogar so Bundesnaturschutzgesetzes aufgenommen wurde. bewegend, dass auch ich mich nach meiner WH- In dieser Vorschrift ist expressis verbis festgehalten, Bindung befragt habe. Es sei vorausgeschickt, dass dass „Natur und Landschaft … nach Maßgabe der ich mich seit vielen Jahren in der WH „per Pho- nachfolgenden Absätze so zu schützen (sind), dass topirsch umsehe“. Mich interessiert dabei primär die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Er- Neues, tunlichst Spektakuläres. Was mich dabei holungswert von Natur und Landschaft auf Dauer zu einem Freund der WH geprägt hat, möchte ich gesichert sind …“ mit dem Dreiklang überschreiben: Flächen, Farben, Formen. Die simpelste Kommentierung könnte etwa lau- ten, dass Pape „seine Bindung an die WH“ gesetzes- Um den Lesern dieses Beitrags einen Teil meiner nah ausrichten wollte; er wollte sich emotionslos, visuellen Wahrnehmungen quasi weiterzureichen, im Zweifel sachlich-fachlich äußern. Damit unter- möchte ich ein paar Beispiele herausgreifen. Be- schied er sich denn auch von den beiden weiteren ginnen möchte ich mit „Auen“, also den Distrikten, Antwortgebern. Mit Blick auf diese wird nämlich die man unter der Bezeichnung „flussnahe Über- Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

150 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Einäugige Odin aus der nordischen Mythologie Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto: G. Noppeney Hanns Foto:

flutungsgebiete“ kennt. Über die zumeist saisonale Sommer ideale Lebensräume; bei winterlicher Kälte Wasserzufuhr zentrieren sich hier besonders viele laden die länglichen als Rutschbahn ein. Nährstoffe, die wiederum eine üppige Artenvielfalt hervorbringen – bspw. in Weichholzauen dürften Bei meinen Pirschgängen stieß ich irgendwann dies vorrangig Weiden und Erlen sein, in Harthol- auch auf Moore. Vor ca. hundert Jahren nutzte man zauen hingegen Eichen und Ulmen. Oftmals ent- etliche zur Torfgewinnung. Diese Ausbeutung er- stehen da wie dort Baumarrangements, die wegen folgte leider unter Vernachlässigung der Folgen – ihrer einzigartigen Formen eine Attraktion bilden. Speziell bei Hochwasser könnte man glauben, sich in einem Skulpturenpark zu befinden. Etliche der fast schon am Boden liegenden Bäume scheinen in Agonie gefallen zu sein, manche sind tatsächlich schon tot. In den frühen Morgenstunden bedarf es

nur geringen Lichts, um diese Gebilde beängstigend G. Noppeney Hanns Foto: auf sich gerichtet zu spüren.

Wasser präsentiert die WH auch in unzähligen Pfützen – fast auf allen Wegen. Mal sind sie läng- lich, manchmal reihen sie sich lustig aneinander. Sie sind oftmals das Ergebnis vormaligen Rackerns ton- nenschwerer Panzer, speziell ihrer malenden Fähig- keit, wenn sie sich drehen und das Erdreich so auf- wühlen, dass hieraus am Ende Mulden entstehen. Einstmals glaubte man, mit diesen Ungeheuern den Weltfrieden gewährleisten zu können. Heute nutzt man sie u. a. zum Erhalt der Offenlandschaften in der WH und der hier befindlichen einzigartigen Sanddünen. Überließe man diese Naturwunder sich selbst, würden Büsche sie in Kürze überwuchern. – Übrigens mit den Pfützen schafft man Fröschen im

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 151 nämlich, dass sich Wasser ansammelte, das oftmals irgendwann die Aufmerksamkeit der Holzindustrie die Ausmaße eines Weihers annahm. Nun sind zu finden. sie es, die gesteigerte Aufmerksamkeit finden. Mir scheinen sie am schönsten, wenn blauer Himmel Zu den signifikantesten WH-Landschaftsge- sich in ihnen wiederspiegelt. Bei hellem Licht re- staltern zählen der blühende Ginster im Mai und flektieren sie dies so, als ob man von der Existenz das violett strahlende Heidekraut im August. Beide eines „blauen Sees“ auszugehen habe. – Und auch produzieren Jahr für Jahr farbintensive Teppiche – dies sei verraten: Bei gleichzeitig dahinziehenden etliche größer als ein Sportplatz. Es ist dann eine Nebelschwaden entsteht zuweilen eine geheimnis- Freude zu sehen, wie Menschen deren Reviere um- umwobene Atmosphäre. Es werden Erinnerungen wandern. Nicht wenige bannen diese Blütenpracht an Annette von Droste-Hülshoff wach: Sollten wo- mit ihren Handys; alle Welt soll wohl so an diesem möglich auch in diesen Gebilden Geheimnisse ar- Naturspektakulum partizipieren. – Zum Abend chiviert sein?! Zu den Uferzonen dieser „Weiher“ sei hin nimmt der Besucherandrang ab – bis auf einige anklagend festgehalten: Der hier noch vor wenigen wenige, die auch noch den Sonnenuntergang mit Jahren befindliche „Sonnentau“ scheint verschwun- einzigartigem floristischem Vordergrund bannen den. Haben posaunende Entdeckerberichte – oft- möchten. Sollten diese gar zu denen zählen, die auch mals mit genauer Standortangabe dieser Pflänzchen mit ihren Herzen zu photographieren vermögen?! – hierzu beigetragen?! Trittpfade lassen Schlimmes vermuten. Es gibt Tage, an denen es Hunderte, zuweilen 5. Tausende in die WH zieht. Zumeist sind es sol- Beim Aufzählen „meiner WH-Schönheiten“ che Zeiten, an denen die Sonne das Sagen hat. Eine verdienen auch die Areale herausgestellt zu wer- solche Situation gab es an mehreren Wochenenden den, auf denen sich Birken ohne Zahl versammelt in den Monaten März, April und Mai 2020. Den haben. Mit ihren silbrigen Rinden scheinen einige Menschen war „verordnet“ worden, sich wegen der den Anspruch erheben zu wollen, die Schönsten un- Corona-Pandemie möglichst im häuslichen Bereich ter allen heidetypischen Baumarten zu sein. Diese aufzuhalten. Als sich aber nach einer Reihe von Ausweisung wäre aber ein wenig voreilig, denn in Quarantäne-Tagen frühlinghaftes, sommerliches ihrer Nachbarschaft wachsen oftmals mächtige Kie- Wetter verbreitete, hielt es nur noch wenige in ihren fern und protzen geradezu mit dem Volumen ihrer vier Wänden. Kind und Kegel strömten hinaus. So Stämme. Während Birken primär wegen ihrer Heiz- waren schon zur Mittagszeit die Parkplätze am Flie- kraft geschätzt werden, können Kiefern sicher sein, genberg, aber auch alle weiteren in der näheren Um- Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto: Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

152 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

Resonanz auf Einladung zum Sonntagsspaziergang gebung, mit Pkw belegt. Hunderte ihrer Eigner wa- möchten. Dieses gesundheitsförderliche Verlangen ren mangels Parkplatz irgendwann der Versuchung dürfte denn auch der tiefere Grund dafür sein, dass erlegen, ihre Gefährte auf verbotenen Flächen abzu- der Gesetzgeber in § 1 des Bundesnaturschutzgeset- stellen. Nur wenige schreckte es, hierfür mit einem zes für jedermann bestimmt hat, als vorrangiges Ziel „dicken Knöllchen“ belegt werden zu können. Im der Landschaftspflege „die Sicherung von Schönheit Stillen könnten einige sogar gegengerechnet haben, und Erholungswert auf Dauer“ zu fordern. dafür aber auch in den Genuss von Licht, Luft und Sonne zu kommen – im schönsten Erholungsgebiet Um dieser Vorgabe vollinhaltlich zu genügen, zwischen Köln und Troisdorf. wäre es von Vorteil gewesen, wenn auch die zu- grunde zu legenden Kriterien festgelegt worden Nach oben bereits erwähnten WH-Protektoren wären. Da man jedoch eine solche Hilfe wohl nicht sehnt man sich also weiterhin nach Begegnungen bei allen Fallgestaltungen als förderlich angesehen mit der Natur – ein Phänomen, das insbesondere hat, entschied man sich, konkretisierende Vorstel- dann das Verhalten der Menschen bestimmt, wenn lungen zu den Begriffen „schön“ bzw. „Schönheit“ sie sich nach Phasen der Entbehrungen erholen an tendenziell vergleichbaren Denkkategorien Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 153 ausrichten zu lassen, also auch an solchen in der Dieser Kasus hat über Deutschlands Grenzen Kunst. Dieser Ansicht wird man umso mehr sein hinaus große Aufmerksamkeit gefunden. Mit ihm dürfen, weil Naturschutzgebiete mit exorbitant wurde nämlich (u. a.) in Erinnerung gerufen, dass bedeutsamer Fauna und Flora zu sehen sind, was das Zusammenleben der Menschen – speziell in sie – in toto betrachtet – in die Nähe zu kulturell baulicher Hinsicht – nach vorgegebenen Ordnungs- relevanten Bauwerken rückt. Im Kontext hierzu sei kriterien zu erfolgen hat. Indirekt verdeutlicht die- denn auch daran erinnert, dass die Wahner Heide ser Sachverhalt aber auch, dass sich die Unterhal- sich bspw. auf ihren jüngeren Informationstafeln tung kulturell herausragender Objekte mit hohen als eine „charakteristische Natur- und Kulturland- Ansprüchen verbindet. Eindeutig sind spezifisches schaft“ vorgestellt hat, die als wertvoller Bestand- Wissen und Können gefordert. teil Deutschlands für künftige Generationen be- wahrt werden soll. So überrascht denn auch nicht, So präjudiziert die Entscheidung zum Kölner dass sie sich zudem als „Natürliches Naturerbe“ Dom auch Fragen nach angemessenem Umgang ausweist. mit herausragenden Kultur- oder Naturerben. Da- her muss denn auch vorliegend die Frage erlaubt Um auf dem Hintergrund dieses Selbstpor- sein, ob es dem Naturschutzgebiet WH zuträglich 6. träts nun auch die Frage des angemessenen ist, dass sich die hier zuständigen Gremien in gro- Umganges mit ihr in etwa beantworten zu können, ßer Zahl aus Vertretern der öffentlichen Verwaltung bietet sich bspw. an, den Kölner Dom mit seinem he- zusammensetzen, also aus dem Sektor, der in fach- rausragenden kunsthistorischem Werten in die wei- licher Hinsicht auf Betätigungsfelder der Adminis- teren Überlegungen einzubeziehen: Dieses Bauwerk tration zugeschnitten ist – allenfalls peripher auf war im Juli 2004 in die Liste eingetragen worden, die solche, bei denen Bau- bzw. Landschaftsästhetik im mit der Neuaufnahme in das UNESCO-Kultur- und Vordergrund stehen. -Naturerbe 1978 eröffnet worden war. Seine Heraus- hebung wurde jedoch später – letztlich wegen bau- Auf dem skizzierten Hintergrund werden lichen Eigensinns der Stadt Köln – widerrufen. Als 7. nachfolgend jüngere bauliche Veränderungs- „Weltkulturerbe“ wurde es erst wieder anerkannt, prozesse in der WH näher beleuchtet werden. Mit als die Stadt Köln sich mit einer mehrere hundert Blick auf den dort zu sichernden Erholungswert soll Meter weitreichenden Freizone rund um den Dom insbesondere ihre Relevanz für Fortbestand und verbunden mit einer maximalen Bauhöhe von 60 m Ausbau eines harmonischen Nebeneinanders von einverstanden erklärte. Mensch und Natur hinterfragt werden.

Neue Koppel mit metallischen Toren Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

154 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Würde man diesen Themenkomplex Bürgern, sich also nicht um eine Quantité négligeable. Mit die per Zufallsprinzip ausgewählt wären, zur Dis- Blick hierauf drängen sich Fragen nach Fortbestand kussion stellen, wäre vermutlich schon bald mit dem bzw. Minderung des Erholungswertes der WH auf. Hinweis zu rechnen, dass das derzeitige Besucher- aufkommen (wegen Einzelheiten vgl. oben) augen- Konkret rücken in den engeren Focus fällig Zufriedenheit mit dem Erscheinungsbild der z das Herausschneiden großer Teilstücke aus dem WH indiziere; hieraus ließe sich auch ableiten, dass WH-Gebiet zum Zwecke der Errichtung von dementsprechend ihr Erholungswert hoch anzuset- „Gehegen“ zen sei. – Allerdings: Dieser Betrachtungsweise ist z das Errichten km-langer Elektrozäune nur bedingte Beweiskraft zu attestieren, denn es ist z das Erstellen auffälliger Solaranlagen ausgeblendet, dass Menschen die WH in aller Regel z der Einbau von monströsen Eisentoren und unregelmäßig aufsuchen und demzufolge Verän- z die nach Regenphasen nicht mehr mögliche Be- derungsprozesse nur partiell mitbekommen. – Des nutzung von Teilen der angrenzenden Wan­der- Weiteren wäre entgegenzuhalten, dass es nur wenige wege. sein dürften, die die WH von Nord bis Süd durch- wandern. – Fazit: Besucher der WH verfügen zu den Zunächst gebietet die Formulierung „Gehege“ dortigen Geschehnissen in aller Regel nur über Teil- 8. den Versuch einer Klärung: In der 17. Auflage wissen. Um zu einem zutreffenden Bild zu kommen, des Troisdorfer Stadtplanes (Stand 12/2019) sind in würde es sich also empfehlen, möglichst viele Mei- dem hier in Rede stehenden Distrikt irgendwelche nungen einzuholen. Gehege nicht eingetragen. Es gibt jedoch weiteres Kartenmaterial, in dem auf die Existenz von „Wild- Welche konkreten Veränderungen auf dem gehegen“ hingewiesen wird (vgl. Internet, Stichwort Gebiet der WH sollen nachfolgend näher betrach- „Wahner Heide Wildgehege“). Im Rahmen dieses tet werden? – Es geht „zunächst“ um mehrere um- Beitrags kann dahingestellt bleiben, welche der bei- zäunte Flächen. Auf sie stößt man, wenn man – von den Quellen mit höherem Aussagewert zu sehen ist, Altenrath kommend – die Alte Kölner Straße über- denn angesichts der bereits skizzierten Fakten ist da- quert, die dort befindliche Schranke in Richtung von auszugehen, dass schon seit geraumer Zeit Über- Westen passiert, um dann nach ca. 250 m die An- legungen angestellt wurden, WH-Flächen per Elekt- höhe zu erreichen, von der man halbrechts auf den rozäune zu separieren, um so Tiere in größerer Zahl Tongrubenteich schaut. Es geht jeweils um Flächen zusammenhalten zu können. Dabei vermag ich mir in der Größe mehrerer Fußballfelder. Es handelt allerdings nicht vorzustellen, dass man an „Wild“ im Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 155 klassischen Sinne gedacht hat, also Damwild, Rot- Bei diesen Bedingungen wird es erfahrungs- wild, Rehe oder gar Sauen. Es dürften 2.000 Tiere an- gemäß zwischen den aufgezählten Tierarten zu derer Art sein – in der Mehrzahl vermutlich: Schafe, Konkurrenz- / Existenzdruck kommen. Dieser Ziegen, Rinder, Wasserbüffel und auch Esel (nachfol- dürfte noch dadurch verstärkt werden, dass sich gend als „Ziviltiere“ bezeichnet, so auch Pape). die Bewegungsräume der Erholung suchenden Menschen mit denen der frei lebenden Tiere teil- Mit Blick auf die gesamte Wahner Heide ist die- weise überschneiden. – Bezogen auf das Rotwild ser Gruppe eine stattliche Zahl an frei lebenden Tie- hat dies bereits dazu geführt, dass es seinen Ak- ren hinzuzudenken, das sog. Wild. Zusammen mit tivitätsrhythmus geändert hat: Es verharrt län- den Ziviltieren dürften es zeitweilig an die „3.000 ger in seinen deckungsreichen Waldeinständen, Huftiere“ sein, für die ausreichende Lebensbedin- wo es mittels Verbiss nun auch vermehrt auf die gungen auf der WH zu gewährleisten sind, also an Entwicklung nachwachsender Bäume Einfluss 365 Tagen im Jahr, wobei während der Hälfte der nimmt. Ein weiteres Phänomen ist, dass sich Teile Zeit (November – April) die „Äsung“ hin und wie- des Rotwildes in die Nähe der A3 abgesetzt haben der problematisch werden könnte. – zumeist in die Nähe landwirtschaftlich genutz- ter Flächen. Begegnungen mit WH-Wanderer sind Die 5.000 ha große WH teilt sich herkömmlich hier zwar eher unwahrscheinlich, allerdings sind auf in a) Flughafenbereich, b) militärisch genutztes Konflikte mit den dortigen Grundstückseignern Gebiet und c) in den Teil, der auch der Bevölkerung vorprogrammiert. als Erholungsgebiet offensteht. Letztgenannter ist nun um die eingezäunten Flächen reduziert, die also Mit der Entscheidung „Pro Zivil-Tierhaltung“ zur Unterbringung erwähnter „Zivil-Tiere“ geschaf- dürfte sich die Erwartung verbinden, dass diese die fen wurden und daher getrennt unter Ziffer d) fest- unumgänglichen landschaftspflegerische Aufgaben gehalten werden sollten. – Da den frei lebenden Tie- auf großen Teilen der WH wahrnehmen und damit ren (Wild) der Flughafenbereich nicht zugänglich die Gefahr der Verbuschung der Offenlandschaften und ihr Aus- und Einwechseln im Übrigen auf zwei bannen. In den Nachkriegsjahren hatten Panzer Örtlichkeiten beschränkt ist, nämlich die Grünbrü- diese Aufgabe übernommen – beiläufig im Rahmen cke A3 sowie ein kleiner Abschnitt am Flusslauf der von militärischen Übungen. Später hoffte man, dass Agger, reduziert sich ihr Lebensraum mit hinlängli- u. a. das Rotwild mit seinem täglichen Futterbedarf chem Äsungsangebot beträchtlich – er dürfte bei ca. von 12 – 15 kg pro Stk. diese Aufgabe übernähme. 3.000+ ha liegen. Selbst heute, wo man von einem Bestand von ca. 230 Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

Landschaftsgestalter in der Wahner Heide

156 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Exemplaren wird ausgehen dürfen, denen noch ca. Im Kontext hierzu drängt sich geradezu dieser 100 Kälber p. a. (ab Mai) hinzuzudenken sind sowie Exkurs auf: In wohl allen Kommunen ist es heute ein paar duzend Hirsche zur Zeit der Brunft (Sep- selbstverständlich, dass Bürger sich bei planerischen tember / Oktober), haben sich die avisierten Erwar- Überlegungen zur Gestaltung öffentlicher Räume tungen nicht eingestellt. (Vor ca. 150 Jahren, also zu bzw. ihres Lebensumfeldes einbringen können. Es Preußens Zeiten, zählte man übrigens nur 16 Stk. vollzieht sich also nichts „hinter verschlossenen Rotwild!). So laufen derzeit die Überlegungen da- Türen“. Das Mitwirken der Bürger wird vielmehr rauf hinaus, primär den Ziviltieren die „Rolle von als Chance gesehen, suboptimale Lösungen zu ver- Landschaftspflegern“ zukommen zu lassen – mit der meiden bzw. optimale gemeinsam zu erarbeiten. Wo zwingenden Folge, nun auch ihnen artgerechte Le- diese Bürgerintegration nicht oder nur widerwillig bensbedingungen schaffen zu müssen. geschieht, werden nicht selten „Spannungen“ pro- duziert; es vermag sich sogar „erlahmende Gleich- Bei den insoweit geforderten Regelung tun sich gültigkeit“ zu verbreiten. – Vermag es dann noch zu jedoch neue und daher bislang auch unbekannte überraschen, dass jede der beiden Reaktionen den Probleme auf, deren Lösung u. a. darin bestehen soll, Humusboden für fehlende Identifikation bildet bis dass man die herkömmlichen Bewegungsräume der hin zu tiefgründender Ablehnung all dessen, was Menschen reduziert – dies wiederum mit der Folge mit dem Geruch obrigkeitlichen Denkens und Han- evtl. tiefgreifender Auswirkungen auf ihre Erho- delns behaftet ist?! lungsräume bzw. auf den sich hiermit verbindenden Erholungswert. Bei der Auswahl der in Rede stehenden Tore, 9. durch die künftig Schafe, Ziegen usw. ihre Wirft man einen Blick in die Geschichte der Rastplätze erreichen bzw. verlassen sollen, hat es WH, so wird man zu konstatieren haben, dass die- – wie gewohnt – keine Bürgerbefragung gegeben. ses Gebiet zahlenmäßig zu keiner Zeit einen solchen Man stößt auf sie gleich nach Erreichen der An- Zuspruch bei den Menschen gefunden hat wie ge- höhe in Nähe des Tongrubenteichs; es handelt sich genwärtig. Derzeit drängt sich die Frage auf, wie um zwei Exemplare aus Metallrohren – jedes ca. 6 ihre gestiegene Präsenz in Einklang zu bringen ist m breit und ca. 1,20 m hoch. Man kennt diese Un- mit den Lebensbedingungen der dortigen Tiere, getüme von bestehenden Umzäunungen im Geis- genauer ausnahmslos aller dort befindlichen Tier- terbusch. Schon an diese hat man sich nicht zu arten, von denen etliche zudem auf der Roten Liste gewöhnen vermocht. Beim Anblick der zuletzt er- erfasst sind. richteten könnten sich deshalb Gedanken wie diese aufdrängen: Es werden nach meiner Überzeugung nicht sol- z Hatte jemand beim Besuch des Elefantengeheges che Lösung allseitige Zustimmung finden, deren im Kölner Zoo an diesen monströsen Konstruk- Zustandekommen irgendwie auf „Zirkeltreffen“ tionen Gefallen gefunden?! zurückgeht, „auf vertrauliche Gespräche“, letztlich z Will man den „Brutalismus“ wiederbeleben, auf „Agreements unter Ausschluss der Öffentlich- einen Baustil, dem etliche Gebäude der Nach- keit“, bei denen auch noch Prinzipien des „Do-ut- kriegszeit wegen ihres kolossalen Aussehens zu- des“ eingeflossen sind. Auf Dauer werden sich nur geordnet wurden?! intelligente, bürgernahe und somit auch generell überzeugende Lösungen halten, in denen sich also Um Akzeptanz für das neuerliche Gehege-Kon- das gesamte Meinungsspektrum unserer Gesell- zept mit seiner weithin sichtbaren Solaranlage zu er- schaft wiederspiegelt. So berührt denn auch ein we- zielen, hätte sich vielleicht angeboten, in deren Nähe nig unangenehm, wenn erleichtert, vielleicht sogar eine Informationstafel aufzustellen. Mit dem Ziel ei- erfreut darüber berichtet wird, die WH-Besucher ner besucherfreundlichen Gestaltung hätte sich in- en passent – wieder ein wenig – verdrängt zu haben soweit tatsächlich ein Besuch des Kölner Zoos emp- (vgl. Internet, Stichwort „Neue Koppeln im Bereich fohlen. Denn in dieser Anlage wird in vorbildlicher Hühnerbruch – Tongrube bei Altenrath“: „ … Was Weise erklärt, weshalb man etwas geändert hat; es bedeutet das jetzt für Spaziergänger? Offiziell … Inof- wird zudem „verraten“, was man aus welchen Grün- fiziell: kann man die eingekoppelten Flächen, und die den und mit welcher Absicht in Zukunft anders zu dort verlaufenden althergebrachten, aber inzwischen gestalten denkt. nicht mehr genehmigten Wege nicht mehr betreten. Was natürlich auch einer der Hauptbeweggründe für Richtig! In der WH kennt man auch Informa- dieses Koppel-Konzept war …“). tionsmaterial – bspw. für einen geplanten „Sonn-

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 157 tagsspaziergang“. Allerdings: Ob man hiermit Aus- nicht mehr erreichen können. Dass man sie wo- kunftbegehrenden wirklich eine Hilfe bietet, sei möglich in gewisse Notlage bringt, scheint nicht zu dem Urteil des Lesers nachfolgenden Textes über- interessieren. lassen, vgl. S. 3: Zu den weiteren nicht unbedingt menschfreund- „ … Die Wegenamen befinden sich auf Holzschil- lichen Beispielen in der WH wird man zu zählen dern, die an Bäumen befestigt sind. Teilweise sind haben, dass etliche Teile des Wanderwegenetzes diese nicht auf den ersten Blick erkennbar, da sie sich geprägt sind von schwer zu überwindenden Pfüt- bestens ins Gesamtbild einfügen …“ (Etliche Schilder zen sowie tiefen LKW-Spuren. Etliche Ausformun- sind überhaupt nicht auffindbar, weil Baumäste und gen erinnern an Schützengräben; sie existieren Laub sie verdecken). bereits seit Jahren und erregen deshalb allmählich den Verdacht, dass man sich schon für ihren dau- Auch eine weitere Empfehlung im „Sonntags- erhaften Erhalt einsetzt. Sportlich trainierte Men- spaziergang“, vgl. S. 6, ist mehr ein Dokument flo- schen mögen in ihnen eine Gelegenheit erkennen, ckiger Ausdrucksweise: um „wem auch immer“ ihr akrobatisches Können vorzuführen. Älteren jedoch sollte vor solchen Ex- „ … Dieser Weg ist nicht wirklich für den Kin- erzitien empfohlen werden, bei nicht eintrainierten derwagen geeignet; aber mit Kind auf dem Arm und Sprüngen das Handy griffbereit zu halten, um im Wagen hinter sich hergezogen, ist er machbar, und es Bedarfsfalle schnell medizinische Hilfe anfordern lohnt sich! Es erwartet Sie eine wundervolle Aussicht zu können. über die Wahner Heide …“ Vorbildlich waren vor wenigen Jahren die wet- Arrondierend zu den hier nur angedeuteten terfesten Informationstafeln, mit denen sowohl Informationsdefiziten ist auch ärgerlich, dass die sprachlich gefällig als auch fachlich fundiert erklärt (regelmäßigen) WH-Besucher nicht über Wan- wurde, wie WH-Besucher sich „Eigenartiges in der derwege-Änderungen informiert werden. Quasi WH“ erschließen können – zumeist direkt von ih- per „Nacht- und Nebelaktionen“ werden bspw. mit rem Standort aus. Viele dieser Tafeln sind seit Jahren quergelegten Baumstämmen Fakten geschaffen – beschädigt oder gar zerstört. Auch hier fragt man und damit hat es sich. Man zeigt keine Sensibilität sich, ob man Menschen nicht mehr zu Freunden der dafür, dass nun behinderte Menschen oder Eltern Natur machen, sie stattdessen mit anhaltender Un- mit Kindern „ihre bevorzugten Erholungsgebiete“ bedarftheit herumlaufen lassen möchte. Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

158 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 2 Millionen Menschen aus dem Umfeld schnell erreichbar ist und unter diesen kaum einer sein dürfte, der sich in ihr nicht ergehen oder erholen möchte. Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto: Auch dürfte sich in dieser Akzeptanz wieder- spiegeln, dass bei zunehmend vielen Menschen die Bereitschaft wächst, immer mal wieder etwas für den Erhalt ihrer Gesundheit zu tun. Hierzu zählt in erster Linie „Bewegung“, für die sich die WH geradezu optimal anbietet. – Im Kontext hierzu sei erwähnt, dass das Bedürfnis nach (Gesundheit dienlicher) Erholung nun auch zu den weltweit an- erkannten Grundbedürfnissen zählt – mit der Kon- sequenz, dass diese Entwicklung in Artikel 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einge- flossen ist. Danach ist das „Recht auf Erholung … ein elementares Menschenrecht“.

Zur Realisierung dieses Rechts bedarf es logi- scherweise Erholungsräume in zumutbarer Nähe. Dabei mag es – wie auch in der WH – zeitweilig zu Spannungen zwischen Naturschutz und mensch- lichem Erholungsbedarf kommen. Bei der Suche nach einem Ausgleich dieser scheinbar gegenläufi- gen Interessen ist aber erfreulicherweise von einer günstigen Ausgangsposition auszugehen: 1. Bei den involvierten Interessenkreisen besteht glei- chermaßen der Wunsch nach art- und strukturrei- cher Landschaft; 2. ökonomische Aspekte werden übereinstimmend als weit nachrangig eingestuft.

Auch aus dem Fehlen von Sitzmöglichkeiten könnte sprechen, dass man WH-Besucher, insbe- sondere Ältere oder Mütter mit Kindern, nicht un- bedingt willkommen heißt. Dass man allerdings auf

Sitzbedürfnisse der – hoffentlich zahlenden – Jagd- G. Noppeney Hanns Foto: gäste entgegenkommend zu reagieren weiß, lässt sich an einer Reihe jüngst errichteter Hochsitze ab- leiten, die sogar teilweise überdacht sind. (Aus der Sicht langjähriger Steuerzahler und Mitfinanzie- rer dieser jagdlichen Einrichtungen sei nur dieser Kurzkommentar gestattet: „Wie ungerecht!!!“).

Dass die WH zumeist an Wochenenden 10. von tausenden Menschen aufgesucht wird, lässt den wohl unwiderlegbaren Schluss zu, dass sich mit ihr ein großes Angebot an Faszinierendem verbindet. Nach dem 2. Weltkrieg diente sie vor- übergehend als militärisches Übungsgelände. Ab 2004 ist sie wieder für jedermann offen; der „Run zu ihr“ scheint derzeit nicht mehr abreißen zu wol- len. Verlockend ist bei alledem, dass sie für nahezu

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 159 Auf der Seite der Erholungssuchenden dürfte allerdings nachteilig sein, dass diese nicht orga- nisiert sind. Bei ihnen muss es daher die Kraft der Argumente bringen, dass man ihren Belangen auf-

geschlossen begegnet. Neben dem Hinweis auf zu- G. Noppeney Hanns Foto: nehmenden Erholungsbedarf – insbesondere bei berufstätigen Menschen – wäre es vorteilhaft, wenn sie dezidiert dartun könnten, was sie konkret in die WH zieht bzw. an sie bindet.

Den folgenden Antwortbeispielen sei vorausge- schickt, dass Menschen heute weitaus mehr Freizeit in Naherholungsgebieten verbringen als bspw. in Parks oder städtischen Anlagen. – Des Weiteren ist belegt, dass 70 % der Erholungsuchenden bei ihren Aktivitäten immer dieselben Wege wählen, 20 % sind auch für bislang unbekannte Wege offen. Nur 10 % sind es, die gelegentlich auch mal „auf verbote- nen Wegen wandeln“. (Die Zahl derjenigen, die sich zuweilen erdreisten, in die Ruhezonen für Tiere ein- Daneben dürften es auch spezifische Aspekte zudringen, dürfte unter 3 % liegen). sein, die zu WH-Besuchen motivieren: z Abwechslungsreiche Vegetation Was ist es nun, das Menschen in die WH zieht? z Ginster-Blüte z Tanken von Licht, Luft und Sonne z Colluna-Blüte-Zeit z Wiedererlangen der inneren Ruhe z Wasserläufe z Flucht vor Problemen z Auen z Abschalten von Verpflichtungen z Teiche / Moore z Entdecken von Interessantem z Tiere z Alleinsein (Rotwild, Rehe, Frösche, Schwarzkehlchen, Esel) z Steigern körperlicher Leistungen z Elsässischer Flammkuchen mit Wein z Weitsicht von Aussichtspunkten in Gottes freier Natur. Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

160 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Foto: Hanns G. Noppeney Hanns Foto:

Leider ist nicht ausgeschlossen, dass Suchen nach dem streitlos Schönen in der WH 11. auch in Zukunft versucht werden wird, abhalten. die Prioritäten bei den „Naturschätzen in der WH“ absolut zugunsten von Fauna und Flora Menschen, die Troisdorf, Siegburg, Lohmar zu setzen. Es könnte sogar das Fernziel sein, die oder Köln als ihren Wohnsitz gewählt haben, wa- Menschen als deren größte Bedrohung noch ren bei ihren Überlegungen die in ihrer Nähe intensiver zu charakterisieren und sie deshalb befindlichen Erholungsräume oftmals mitentschei- nur noch in den Randbereichen der WH zu to- dend. Würde man ihnen nun die Zugänge hierzu lerieren, also dort, wo oftmals der Lärm der na- verengen oder sogar „verunmöglichen“, könnte heliegenden und verkehrsreichen Straßen den der Gedanke einer Teilenteignung aufkommen. Punkt der Unerträglichkeit erreicht. Es ist da- Die Anregung simplifizierender Zeitgenossen, sich her kaum zu erwarten, dass es so zu einer „um- einer solchen Entwicklung durch Wegzug irgend- fassenden und reibungslosen Co-Existenz von wohin zu entziehen, stellt sich „nett formuliert“ als Mensch und Natur“ kommen wird. Ganz im Ge- Offenbarung fehlenden Sozialverhaltens, tendenzi- genteil: Die Fortsetzung kontroversen Denkens ell vielleicht auch schon als „asozial“ dar. und Handelns könnte noch nachdrücklicher als bisher dazu führen, dass weiterhin (im Zweifel Will man wirklich friedliches Zusammen- mit steigender Tendenz) Pkw allerorten, hun- leben bzw. lebendigen Gemeinschaftsgeist begrün- derte von Radfahrspuren und unzählbare Schuh- den und extensiv gestalten, dann erfordert dies abdrücke die normative Kraft des Faktischen zur allerorten und von jedermann Bereitschaft und Wirkung brächten. Es würde sich erneut als rich- Fähigkeit zum Erarbeiten nachhaltig intelligenter tig erweisen, dass kein Staat und erst recht keine Lösungsmodelle und zudem Überzeugungsarbeit seiner Behörden auf Dauer gegen den Willen der und Überzeugungskraft. (zu ihm gehörenden) Menschen regieren bzw. ad- ministrieren kann. Die Stadt Troisdorf kehrt seit Jahren heraus, mit ihrer Wirtschaftsdynamik und den vor­handenen Speziell die emotionale Begeisterung, die die Entwicklungspotentialen zu den perspektivisch gut WH als Kompositum aus Himmel, Wasser, Bäu- aufgestellten Kommunen im Raume Köln-Bonn zu men, Sträuchern bis hin zu Tieren seit Jahrzehnten gehören. Wenn sie mit dieser Selbsteinschätzung zu entfachen vermag, wird auch künftig niemand nun auch als erfolgreich in die Geschichtsbücher ein- „weg-ministrieren“ können. Eher könnten es Ver- gehen möchte, ist ihr zu empfehlen, dass sie – bei He- wandte des Borkenkäfers, Klimaveränderung, rauskehren des Faktors „Mensch“ – sich bei den Zu- Dürre, Waldbrände, Überschwemmungen, ja auch kunft weisenden Überlegungen zur Wahner Heide Wölfe sein, die gewachsene WH-Fans vom befrei- nicht als (duldsamer) Amboss erweist, sondern als enden Erwandern oder Durchschreiten, also vom (nachhaltig gestaltender) Hammer einbringt. z

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 161 Dieter Burger Die Wahner Heide, Landschaft einzigartiger Standortvielfalt.

Erklärungsversuch aus Sicht der physischen Geografie und Geoökologie

1. Einleitung und den sich dort anschließenden Auen, bietet dem Besucher noch das typische Landschaftsbild 1.1. Wodurch die Wahner Heide Besucher anlockt. von Mitteleuropa. Ganz im Gegensatz dazu wech- selt die Kuppenlandschaft mit sanftem Übergang Hanns Noppeney stellt in seinem Beitrag an ande- in den zentraleren Teil nach Westen und Norden rer Stelle in dieser Ausgabe besonders die „Schön- in eine weite Flachlandschaft, die von muldenför- heit und den Erholungswert der Wahner Heide“ (im mig, flach eingesenkten Bachläufen leicht model- Folgenden mit WH abgekürzt) heraus. Als Gründe, liert wird. Als weiteres belebendes Landschafts- weshalb es Besucher in die WH zieht, führt er un- element sind im Süden Dünen für jedermann gut ter anderem eine abwechslungsreiche Vegetation, erkennbar. Diese Flachlandschaft stellt sich als Wasserläufe, Moore und Teiche an. Die Bilder in eine Landschaft dar, die teils offen, waldfrei, teils seinem Artikel veranschaulichen dies eindrucks- von Wäldern mit lückigem Baumbestand bedeckt voll. Diese Meinung teilen uneingeschränkt zahl- ist. Dieser Eindruck der Offenheit ist menschge- reiche Besucher, sichtbar an überquellenden Park- macht aber nur noch ein schwacher Nachglanz plätzen rund um die Heide nicht nur an sonnigen der Weite, die die WH einmal hatte. Zunächst war Sommerwochenenden. es die landwirtschaftliche Nutzung, die die offene Heide entstehen ließ. Dann war es vor allem das Mit der gleichen Zielrichtung beschreibt und Militär, das ab 1817 ein Interesse an der Offen- wirbt das Bündnis Heideterrassen im Internet haltung hatte und die Landwirtschaft durch den für die WH „ … das sind blühende Heiden neben Ausbau zum Truppenübungs- und Schießplatzes Sümpfen, Heidemooren und Bruchwäldern, offene weitgehend aus der Heide verdrängte (Dederichs, Dünenlandschaften in Nachbarschaft zu Tümpeln, M., 1996, 4). Gerade dieser Nutzungswandel von Teichen und naturnahen Bächen“ aber auch „ … der Landwirtschaft zur militärischen Nutzung rund 700 gefährdete Tier- und Pflanzenarten fin- zeichnet die WH gegenüber allen anderen Heide­ den (sich) in dem zweitgrößten und artenreichsten terrassen entlang des Rheins aus (Gorissen, I., Naturschutzgebiet Nordrhein-Westfalens.“ (Bünd- freundliche Mitteilung). Beide Nutzungen, ganz nis Heideterrassen, 2020). Der zentrale Teil der besonders die militärische, akzentuieren die na- Wahner Heide liegt im Focus des Interesses mit dem turgegebenen standörtlichen Unterschiede. Wäh- Blick auf Fauna und Flora, der zur Ausweisung als rend aber beide Nutzungen in der WH mittler- Naturschutzgebiet und seitens der EU zur Aner- weile eingestellt oder für den Naturschutz durch kennung als FFH Gebiet (nach Fauna Flora Habitat bescheidene Ersatzmaßnahmen ersetzt wurden, Richtlinien) geführt hat. Es stellt sich die Frage, wie ist mit dem Flughafen längst ein neuer Interessent erklärt man als Naturwissenschaftler, als physischer an offener Landschaft eingezogen. Er garantiert Geograph und Geoökologe*, diese einzigartige zwar die Offenheit von Teilen der Landschaft und Standortvielfalt? bietet auch Refugien für manche gefährdete Art der alten Kulturlandschaft, aber er verursachte in 1.2. Naturräumlicher Überblick der Vergangenheit, zusammen mit Aufforstungen, Entwässerungen und Verkippungen in anderen Unbestritten ist die WH in der Waldlandschaft Teilen des Gebietes, große und oft unersetzliche Mitteleuropas etwas Besonderes und gänzlich Verluste an wertvollen Lebensräumen. Die für die Anderes. Die von Wäldern eingenommene Kup- Besucher zugänglichen Teile der WH liegen au- penlandschaft im Osten bis Süden mit stärker ein- ßerhalb des Flughafens, dort prägt nun ein klein- getieften, zu Sülz und Agger verlaufenden Tälern räumiger Wechsel von offenen Heideflächen, weit-

162 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Frage, wie es zu einem solch abwechslungsreichen Nebeneinander unterschiedlicher Landschaftsele- mente kommen konnte?

1.3. Erste Hinweise für den „nüchternen“ Naturwissenschaftler

Zur Beantwortung dieser Frage bieten sich dem aufmerksamen Besucher erste Hinweise an einigen Stellen, die einen Blick unter die Oberfläche erlau- ben, etwa im Bereich Hühnerbruch bis Tongrube (siehe Karte im Anhang). Dort fallen dem Besucher in den verfallenen Gruben sicher die mehrere Meter mächtigen („dicken“) Quarzkieslagen in den Kup- pen auf. Diese findet man, dort abgebaut, als Befesti- gung auf den Wegen wieder, vermischt mit dunklen, schwarzen Schuttstücken, dem dort ebenfalls abge- bauten Eisenerz. Vorsicht, die Wege wurden aber auch mit Fremdmaterial, größeren Fremdschottern und Bauschutt, befestigt, die keinen Informations- wert zum Aufbau des Untergrundes und zur Entste- hung der Heide liefern.

Als weiteres Beispiel sei im Süden, nordwestlich ständigen Waldstücken, Teichen und versteckten vom Telegraphenberg, der Dünenstreifen erwähnt. Mooren das für den Besucher typische Bild und In den Fahrspuren und den darin eingetieften macht sicher wesentlich die Schönheit und den Dellen, früher von Panzern, heute von Lkw vege- Erholungswert der WH aus. Dabei stellt sich die tationsfrei gehalten, wird das oft kleinräumige Ne- Foto: Dieter Burger Dieter Foto:

Quarzkiese in einer Kuppe zwischen „Hühnerbruch“ und „Tongrube“. Am Stammansatz und den sichtbaren Wurzeln wird deutlich, dass der Abbau der Kiese vor noch nicht allzu langer Zeit erfolgte. Mittlerweile ist er aber eingestellt, sichtbar an der aufkommenden Vegetation auf den Böschungen.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 163 Vegetationsfreie Fahrspuren im Dünenfeld nördlich Telegraphenberg. Foto: Dieter Burger Dieter Foto:

beneinander von Dünensanden und Tonen in was- von* und sind vor etwa 400 Mio. Jahren als lockere sergefüllten Mulden sichtbar. Sedimente im damaligen Ozean abgelagert worden. Im Zuge der Entstehung des Rheinischen Schiefer- An beiden Beispielen wird deutlich, dass auch gebirges sind sie zu Tonschiefern und Grauwacken ein Blick in den näheren und tieferen Untergrund verfestigt und gefaltet worden, sie prägen heute den notwendig ist, um die reizvolle, abwechslungsreiche östlichen und südöstlichen Rand der WH zur Sülz Landschaft in ihrer Entstehung zu erklären. Freilich und Agger hin. ist es nicht der Untergrund allein, der zu dem jet- zigen Erscheinungsbild führte, sondern, wie schon Erst nach einem großen Zeitsprung in das Alt- einleitend erwähnt, eine über Jahrtausende wäh- tertiär*, bis vor 36 Mio. Jahre, finden wir im Raum rende Kulturlandschaftsgeschichte im Wechselspiel der WH die nächsten, den Raum prägenden Ge- mit Vorgängen in der Vegetation. Ob und dass aus steine. In der Zwischenzeit, vor allem von der diesen ersten Hinweisen zusammen mit Literatur- Kreide* bis ins Alttertiär, etwa 145 bis 36 Mio. studien aus der Sicht der physischen Geografie und Jahren vor heute, sind für die WH ganz entschei- der Geoökologie* (mit * sind Begriffe markiert, die dende Prozesse, wenn auch nicht unmittelbar auf im Anhang näher erklärt werden) eine schlüssige das Gebiet der heutigen WH begrenzt, abgelaufen. Antwort zur Erklärung dieses abwechslungsreichen Das Rheinische Schiefergebirge wurde tektonisch Nebeneinanders unterschiedlicher Landschaftsele- gehoben und entstand als Landmasse. Dies geschah mente gegeben werden kann, soll im Folgenden er- durch die tektonische Aufwölbung eines Hotspot*. läutert werden. Mit der Heraushebung der Landmasse unterlag diese der vom Klima gesteuerten Verwitterung. Bei durchschnittlichen Monatsmitteltemperaturen von 2. Geologisch, morphologischer Überblick bis zu 30 °C und ganzjährig feuchten Bedingungen mit Jahresniederschlägen über 3.000 mm, vergleich- 2.1. Zur Geologie*, bar heutigen tropischen Bedingungen, dominierte wie der Untergrund entstand? in diesem ganzjährig heißen, feuchten Klima eine intensive chemische Verwitterung. Von ihr wurden Um die ältesten Gesteine, die heute in der WH an- über einen langen Zeitraum alle Gesteine unter- stehen, in ihrer Entstehung zu erklären, müssen schiedlicher Widerständigkeit aufgelöst. Als Kon- Geologen auf eine unvorstellbar lange Zeitspanne sequenz wurde die Landschaft eingeebnet, es ent- zurückblicken. Sie stammen aus dem älteren De- standen in Höhe des jeweiligen Meeresspiegels weite

164 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Flächen. Zeugen dieser intensiven Verwitterung Gegensatz zu den Tagebauen entstanden also keine sind bis zu 90 m mächtige Bodenprofile mit locke- mehrere 10er Meter mächtige, weit ausgedehnten ren Verwitterungsprodukten, vom Bodenkundler Quarzkies- und Tonschichten oder Braunkohlen- als Latosol bezeichnet, deren Reste noch heute im flöze*. Das Wechselspiel dieser unterschiedlichen Rheinischen Schiefergebirge vorhanden sind (Bur- Prozesse schuf im Raum der WH eher eine klein ger, D., 1982, 17ff). In diesen Profilen wurden oben gekammerte, räumlich stark wechselnde Ablage- Eisenoxide (mineralogisch Hämatit) und Alumi- rungsfolge, heute mit eine der Ursache für die mosa- niumoxide (mineralogisch Gibbsit; als Erz Bauxit ikartige, kleinräumige Verbreitung unterschiedlicher genannt) angereichert. Darunter schließt sich bis Standorte. Vorkommen und Abbau hat Matthias De- etwa 10 Meter ein grauer Kaolinton an. Es folgt bis derichs als Erwerbsmöglichkeit für die Gemeinde 90 Meter Tiefe eine Zersatzzone, in der noch verwit- Spich im 19. Jhd. beschrieben. In seinem Artikel wird terungsresistente Gesteine, vor allem Quarze, des eine Veröffentlichung von C.Heusler von 1897 zi- ehemaligen Ausgangsgesteins zu finden sind, bevor tiert, in der dieser Vorkommen von „schwarzblauem es erst dann zum unverwitterten Gestein über geht. Thon, Braunkohle und Brauneisenstein in einer Ver- breitung von Spich über Wahn bis in den Königsforst Diese lockeren Verwitterungsprodukte boten im bei Bensberg“ beschreibt (Dederichs, 2020, 84). Die Jungtertiär, unter etwas kühlerem und trockenerem Alaungewinnung aus der Braunkohle in der Fabrik Klima, den dann entstehenden Flüssen (Urrhein- in Spich blühte mehrere Jahrzehnte. Die Abbau- und system*) nur geringen Widerstand. Bei andauernder Produktionszahlen belegen die reichhaltigen, damals Hebung wurden diese leicht abgetragen und in die abbauwürdigen Vorkommen. Auch in seinem Artikel gleichzeitig entstandenen tieferen Randbereiche oder über Altenrath beschreibt er den „Ton und Erzabbau Becken des Rheinischen Schiefergebirges transpor- durch den Bergbaubetrieb „Grube Versöhnung“ von tiert. Die WH lag und liegt noch heute am Übergang 1854 bis 1872“ (Dederichs, 1993, 4). Das Ausmaß vom sich hebenden Gebirge zur sich absenkenden des Abbaus in der „Tongrube“, nach Kriegsende so- Niederrheinischen Bucht und ist folglich Ablage- gar industriell betrieben, ist heute noch an dem darin rungsraum dieser Flussablagerungen gewesen. So fin- entstandenen See in der Landschaft deutlich sichtbar. den wir als Gesteine aus der Zeit des Tertiärs, genauer des jüngeren Tertiärs (Oligozän bis Pliozän*, 36 bis 2.2. Zur Geomorphologie*, 2,4 Mio. Jahre), Eisenerze, Kaolintone und reichlich die Landschaft wird modelliert. Quarzkiese in der WH. Dabei wurden die Quarz- kiese nur bei höherer Fließgeschwindigkeit transpor- Mit dem Quartär, vor 2,4 Mio. Jahren, und dem tiert und schon vor Einmündung in den Ozean abge- diesen Zeitraum prägenden Wechsel von Kalt- und lagert, in der WH, wenn die Küstenlinie außerhalb, Warmzeiten setzte eine neue Morphodynamik* im Norden lag. Die Tone und das Eisen in gelöster in Mitteleuropa ein. Vor allem in den Kaltzeiten Form wurden dagegen bis ins Meer transportiert und herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt mit kamen erst dort, bei fast gegen null gehender Fließ- häufigen Frostwechseln, so dass der physikalische geschwindigkeit, zur Ablagerung. Ihr heutiges Vor- Verwitterungsprozess der Frostsprengung vorherr- kommen in der WH zeigt also, dass dann die Küsten- schend war. Dadurch wurde den Flüssen grobes linie weiter südlich im Gebiet der WH verlief. Somit Material über die Hänge zugeführt, mit denen sie zeigen die verschiedenen Korngrößen* der tertiären intensiv den Untergrund bearbeiten konnten. Tä- Sedimente in der Heide, eine häufig wechselnde Küs- ler entstanden und tieften sich ein, unser heutiges tenlage im Bezug zur heutigen WH an. In diesem Flussnetz bildete sich heraus (Rheinsystem). Da ab küstennahen Überflutungsraum entstanden in den etwa eine Mio. Jahre vor heute, die Zeit in der am Küstensümpfen ausgedehnte subtropische Wälder, Rhein die sogenannte Hauptterrasse entstand, die aus denen, nach Überdeckung mit Sedimenten, die tektonische Bruchscholle* der Ville mit herausge- Braunkohle entstand. Gut einsehbare Beispiele für hoben wurde, konzentrierte sich der Abfluss des diese wechselnden Prozesse im ausklingenden Ter- Rheins in der dadurch abgetrennten Köln-Bonner tiär sind auch die Braunkohlentagebaue. Von den Bucht und schwenkte nicht mehr weit nach Westen Besucherplattformen hat man eine gute Sicht auf die aus. Der Rhein und seine untergeordneten Neben- Abgrabungswänden mit den Abfolgen von Kiesen, flüsse, Sülz und Agger, sorgten für eine konzent- Tonen und Braunkohle. Da die tektonischen Bruch- riertere fluviale* Abtragung in und um die WH. schollen der WH gebirgsnahe, am Rande der ausge- Die weit ausgedehnte Mittelterrasse und die Nie- dehnten niederrheinischen Bucht lagen, wechselten derterrasse, vorgelagert im Westen, entstanden. Die die Prozesse häufiger als im Zentrum der Bucht. Im Mittelterrasse des Rheins erstreckt sich in der WH

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 165 Tabelle 1: Geologisch, morphologischer Überblick

Zeit mio a Periode Epoche Dynamik Gesteine 0,01 Holozän Bodenbildung Quartär 2,4 Pleistozän intensive Talbildung Dünensande

36 Jung-Tertiär beginnende Talbildung Tertiär Quarzkiese 65 Alt-Tertiär Kaolinton tropisch intensive Kreide chemische Verwitterung Braunkohle 145 Kreide Flächenbildung Eisenerz

360 Gebirgsbildung Grauwacken Devon 410 älteste Gesteine Tonsteine

vom Süden, wo sie nur randlich im Westen ausge- Warmzeit, ab 1.100 Jahre vor heute, die heutigen Bö- bildet ist, bis in den Norden, wo sie sich weit nach den gebildet wurden. Osten ausdehnt. Auf der WH selbst tieften sich die Bäche zur Niederterrassenzeit nur gering ein und modellierten im Zentrum und im Westen ein leicht 3. Bodenkundlicher Überblick, muldenförmiges, im östlichen und südlichen Rand- das heutige Klima kommt ins Spiel bereich gegen Sülz und Agger dagegen ein hügeliges Relief mit V-förmigen Kerbtäler heraus. 3.1. Exkurs zur Bodengenese und Bodentypen

Da während der Kaltzeiten die Bedingungen für Neben dem Ausgangsgestein ist das Klima eine der die Vegetation extrem ungünstig waren, herrschte Haupteinflussgrößen bei der Bodenentwicklung. eine vegetationsfreie Frostschuttzone* vor. Aus In unserem noch maritim geprägten, ganzjährig den offenen Schotterfluren der Niederterrassen im feuchten, gemäßigten Klima überwiegt die chemi- Westen konnte der Wind Feinsand und die noch fei- sche Verwitterung. Die Physikalische Verwitterung, nere Korngröße Schluff aus wehen. Vorherrschende bei uns durch Frostsprengung, war dagegen unbe- westliche bis nordwestliche Winde transportierten deutend, heute bleiben, durch den Klimawandel be- den gröberen Feinsand lediglich bis in die nahe dingt, Frostschäden fast ganz aus. Die in unserem Heide, den feineren, durch den Wind eher schwe- Klima wirkende chemische Verwitterung löst in- bend transportierten Schluff bis in die Bergischen stabile eisenhaltigen Minerale, Beispiele sind Augit Randhöhen. In der Heide entstanden die Binnen- und Hornblende, das Eisen wird in der Bodenlö- dünen, im Bergischen flächendeckend das schluffige sung frei gesetzt. Zur Lösung von stabilen Minera- Sediment Löß*. In den Kaltzeiten war durch tiefgrei- len, vor allem von Quarzen, kommt es in unserem fende negative Temperaturen der Untergrund gefro- Klima nicht (Burger, D., 1987, 15ff). Durch die ren, es herrschte Dauerfrostboden. Im Boden war, chemische Verwitterung werden die Minerale nicht an Eiskeilen* nachweislich, bis 10 Meter Tiefe das direkt komplett aufgelöst, dies geschieht in kleinen Bodenwasser ganzjährig gefroren. Nur im Sommer Schritten, es bleiben also noch lange Mineralreste taute der obere Abschnitt bis maximal ein Meter erhalten. Neben der Lösung und Freisetzung von Ei- auf und bildete mit reichlich getautem Bodenwasser sen findet also eine Verkleinerung der Mineralkör- eine leicht verlagerbare Masse. Schon bei geringer ner statt. Demnach erfolgt eine Verschiebung der Hangneigung kam dieser „wasserübersättigte Brei“ Krongrößenverteilung hin zu kleineren. In der Bo- in Bewegung und floss hangabwärts (Soli­fluktion*). denkunde nennt man diesen Prozess Verlehmung. Dadurch wurden in der Heide die vom Wind abgela- Kommt das Eisen in der Bodenlösung in Kontakt gerten Feinsande weitflächig verlagert und bildeten mit dem Sauerstoff der Bodenluft bilden sich neue an der Oberfläche weit verbreitet sandige Fließerden Minerale, Eisenoxide oder -hydroxide entstehen. In über dem geologisch Anstehenden*. Diese Fließer- unseren Breiten entsteht hauptsächlich das Mineral den und weniger der geologische Untergrund sind Goethit, welches für die braune Farbe in den Böden das Ausgangsmaterial, aus dem in der holozänen* verantwortlich ist. Bildlich gesprochen könnte man

166 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 sagen: „der Boden rostet“. Dieser Prozess wird Ver- und der Oxidierung in den sandigen Stellen, fleckig braunung genannt. Diese beiden Prozesse dominie- verteilt im Profil statt. Der entsprechende Horizont ren in den Böden* unserer gemäßigten Mittelbrei- ist an einer fleckigen Verteilung von braun und grau ten. Beide sind charakteristisch für den Bodentyp erkennbar (Sw Horizont). Meist nimmt der ton- Braunerde, der deshalb am weitesten verbreitet ist reiche Anteil im Unterboden zu, so dass es durch und als zonaler Bodentyp der gemäßigten Mittel- Staunässe zu intensiverer und länger andauernden breiten eingestuft wird. In den Braunerden sind die Bodenfeuchte kommt. Die Dominanz der grauen Eisenoxide und -hydroxide gleichmäßig verteilt, es Farbe nimmt in diesem Horizont zu (Sd Horizont). entsteht ein einheitlicher mineralischer brauner Bo- Der bodenbildende Prozess und der Bodentyp wird denhorizont (Bv Horizont). Die Braunerde ist auch als Pseudovergleyung bzw. Pseudogley bezeichnet. in der WH der am weitesten verbreitete Bodentyp und tritt im Osten und Süden in den Fließerden An extrem trockenen, sandigen Standorten, wie über devonischem Untergrund, aber auch in Flie- den Dünen, kommt es durch die im ganzen Profil ßerden über tertiären Kiesen auf. vorhandenen Grobporen zu keinem Wasserstau, im Gegenteil, das Bodenwasser kann schnell aus Besondere Bodenwasserverhältnisse können an dem Profil in den sandigen Untergrund versickern. nassen Profilstellen, wie schon erwähnt für die WH Besonders wenn die Standorte von Nadelgehöl- prägend, zu einer verstärkten Lösung des Eisens zen oder in Heidelandschaften von Ericaceen* wie führen. Nach einer Verlagerung in der Bodenlösung der Besenheide besiedelt sind, kommt es zu einem kommt es zu einer Anreicherung an sauerstoffrei- schlechten Abbau der organischen Substanz. Des- chen, trockeneren Partien. Es findet also eine Dif- halb sind Rohhumusauflagen typisch, aus denen ferenzierung in einen eisenärmeren, farblich grauen Huminsäuren* frei gesetzt werden, die die Lösung und einen eisenreicheren, stärker braunen selten bis des Eisens aus den Mineralen verstärken. Aus Eisen ins rötliche übergehenden Horizont statt. Dabei ist und Huminstoffen entstehen miteinander Kom- die Ursache der Verlagerung in der Bodenlösung plexe. In dieser Verbindung werden Huminstoffe auch in der WH sehr unterschiedlich. und Eisen im Profil nach unten verlagert und fallen dort wieder aus. Es bilden sich im tiefen Profilab- Findet die Verlagerung durch einen jahreszeit- schnitt dunkelbraune humus-eisenreiche Bänder, lich schwankenden Grundwasserspiegel statt, so die darunter in braune Eisenbänder übergehen. Der oxidiert das Eisen im oberen Profilabschnitt im bodenbildene Prozess wird als Podsolierung, der trockneren Sommerhalbjahr, weil Bodenluft in die Bodentyp als Podsol bezeichnet. Erkennbar ist der Poren eindringen kann. Folglich wird er kräftig Podsol an einer Rohhumusauflage, besonders aber braun, „er rostet“ (Go Horizont). Der untere, dau- am aschefarbenen, grauen oberen Mineralbodenho- ernd vom Grundwasser eingenommene Bodenab- rizont (Ae Horizont). Darunter entstehen dunkel- schnitt zeigt dagegen eine helle, meist graue Farbe braune und braune Bänder oder Flecken (Bsh oder (Gr Horizont). In ihm bleibt das Eisen in gelöster, Bs Horizont). Im Extremfall kann es sogar zu einer reduzierter Form erhalten. Diese Horizontabfolge Aushärtung der eisenreichen Bänder kommen, die braun, eisenangereichert über einem nassen grauen man dann als Ortstein bezeichnet. Diese wurden reduzierten Horizont, ist das typische Merkmal des in der WH ebenfalls abgebaut. Aus der mächtigen Bodentyps Gley, der Prozess wird als Vergleyung Rohhumusauflage wurden früher die Plaggen* ge- bezeichnet. Dieser Bodentyp ist in der WH zum wonnen, die als Streu im Stall verteilt und später als Beispiel da anzutreffen, wo sich ein Grundwasser- Mist zur Düngung der Felder genutzt wurden. Eine körper über einer Tonlage ausgebildet hat, dessen Bodengrube mit einem Podsol Profil, leider bei der maximale Höhe aber nur vier bis acht Dezimeter eigenen Begehung stark zerfallen angetroffen, mit unter die Bodenoberfläche reicht. Informationstafel ist entlang der Telegraphenberg Tour angelegt (Lage siehe Karte im Anhang). Haben sich Fließerden in der letzten Kaltzeit über Tone und Sande verlagert, ist häufig ein unre- Abweichend von den bisher beschriebenen Bo- gelmäßiges Gemisch von Ton und Sand entstanden. dentypen, in der WH aber auch häufig über Ton- Die Feinporen der tonigen Stellen bleiben länger lagen oder in Mulden vorkommend, sind Nieder- wassergesättigt, während in den Grobporen der moore (hier als Bodentyp gemeint) entwickelt, die sandigeren Partien das Bodenwasser schneller ab- hauptsächlich aus abgestorbenen Pflanzenresten fließt und Bodenluft eindringt. Entsprechend findet bestehen. Da die Grundwasseroberfläche bis an die der Prozess der Eisenlösung, in den tonigen Stellen, Geländeoberfläche reicht, sind diese Profile immer

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 167 wassergesättigt. Es kann also keine Bodenluft ein- der Sande und Übergang zum Löß, siehe Kap. 2.2 dringen und Oxidation statt finden. Der den Boden Geomorphologie). Auf Braunerden stellen sich bei bildende gemischte mineralische und organische nicht zu trockenen und nährstoffarmen Standorten Horizont ist dunkelgrau bis schwarz gefärbt (Hn Rotbuchenwälder als Vegetationstyp ein. Standorte Horizont). Für die Bildung von Hochmooren, die mit Braunerden und Buchenbestand sind der weit weit über die Grundwasseroberfläche hinaus wach- verbreitete „Normalfall“ für unsere gemäßigten sen, reichen die Niederschläge in der WH jedoch Mittelbreiten, zumindest war es bis vor kurzem so. nicht aus. Nach Auskunft von Gorissen, I. (freund- Mit trockener werdenden Sommern hat es die Rot- liche Mitteilung) kommt es aber in Hanglagen der buche allerdings zunehmend schwerer. Die Buchen- WH zu dem seltenen Typus „Zwischenmoor“, in wälder auf Braunerden sind nicht die besonderen denen ähnlich den Hochmooren, das Spagnum Landschaftselemente, die man als „schön = selten“ Torfmoos zur Speicherung des Niederschlagswas- einstufen würde, da sie auch außerhalb der WH weit sers führt, so dass das Wasser trotz Hanglage nicht verbreitet vorkommen. Je feuchter und nährstoffär- ablaufen kann. Am weitesten verbreitet finden sich mer die Standorte in dem östlichen und südlichen Moore in der WH am für Besucher nicht zugängi- Waldgürtel der WH werden, nimmt der Anteil der gen unteren Scheuerbach. Eichen zu, wenn es zu feucht wird tritt zudem die Schwarzerle auf. Aufgeschlossene und beschriebene Bodenprofile mit entsprechenden Informationstafeln findet man Als extremste nicht von Grundwasser beein- entlang des nahegelegenen Bodenlehrpfads Königs- flußte Standorte sind die Sanddünen zu nennen, forst (Geologischer Dienst NRW, 2017) auf denen sich Podsole gebildet haben. Vom Vege- tationstyp nimmt diesen Standort die Sandheide 3.2. Zu Standorteigenschaften der Böden ein, mit den an Trockenheit und Nährstoffarmut und Vegetation angepaßten Arten Sandbirke und Heidekraut (Cal- luna vulgaris). An offenen, gestörten Stellen gibt es 3.2.1. Kennwerte und Bezug zur Vegetation Sandrasen mit Silbergras (Corynephorus canescens). Die Dünenstandorte der Wahner Heide wären Eine detaillierte Betrachtung der Standorteigen- heute unter natürlichen Bedingungen keine offe- schaften der Böden anhand von Kennwerten* nen Landschaftsbestandteile mehr. Zur Entstehung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, des- der Dünen kam es in der letzten Eiszeit (s. o.), eine halb sollen diese eher zusammenfassend und im starke Überprägung nach der durch den Menschen Zusammenhang mit der Vegetation behandelt wer- durchgeführten Entwaldung ist sehr wahrschein- den. Grundsätzlich sind zwei verschiedene Gruppen lich. Nach Nachlassen der landwirtschaftlichen zu unterscheiden, die grundwasserfreien und die und militärischen Nutzung verbuschen die Dünen grundwasserbeeinflußten Böden. zusehens. Besonders in der Nähe von Kieferforsten wandert die Kiefer massiv in den Dünengürtel ein, Die aus Fließerden und Dünensanden entstan- sodass aktive Pflegemaßnahmen zur Offenhaltung denen grundwasserfreien Böden, Braunerden, Po- der Dünenstandorte notwendig sind. dsole und Pseudogleye, besitzen in der WH durch- weg die Bodenart (Korngrößenverteilung) lehmiger Moore und Gley, die 2. Gruppe der Bodenty- Sand. Durch den hohen Sandgehalt sind diese Bö- pen, sind grundwasserbeeinflußt. Sie befinden sich den als trocken einzustufen. Wegen der groben Po- deshalb meist in Mulden mit stauendem Ton im ren besitzen sie einen hohen Anteil an Sickerwasser, Untergrund oder in Nähe der schwach eingetieften der zu einem Auswaschen der Nährstoffe geführt Bäche bei geringer Fließgeschwindigkeit. Wie Go- hat. Dies um so mehr, da kaum Bodenbestandteile rissen (1989, 157) feststellte, sind die Moore nicht vorhanden sind, an denen sich Nährstoffe über län- unmittelbar über stauenden Tonschichten entwi- gere Zeit pflanzenverfügbar anlagern können. Zu- ckelt, sondern ebenfalls über Sanden. Die stauende sammenfassend sind diese Böden als nährstoffarm Tonschicht liegt meist erst unter der Sandlage. Gleye und trocken einzustufen. Die Wertezahlen* der Bo- finden sich randlich angrenzend an die Moore bei denschätzung bewegen sich zwischen 25 bis 40. tieferer Grundwasseroberfläche. Das einschrän- kende Standortmerkmal für die Vegetation ist die Generell sind Braunerden an Standorten an- ökologische Feuchtestufe* und di Nährstoffarmut. zutreffen, die weiter in der Höhe auf den Kuppen Die Bodenwertezahl für beide Bodentypen bewegt und weiter nach Osten liegen (geringerer Anteil sich ebenfalls zwischen 20 bis 40. Vegetationskund-

168 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Tabelle 2: Kennwerte ausgewählter Böden der Wahner Heide

geol. Nährstoff-­ ökologische Bodentyp Bodenart Wertezahl Untergrund gehalt Feuchtestufe nicht Grundwasser beeinflußt

Braunerde Devon / Decksande schwach lehmiger Sand 35 – 50 gering trocken

Braunerde Mittelterrasse schwach lehmiger Sand 20 – 45 gering trocken

Podsol-Braunerde Devon / Decksande schwach lehmiger Sand 25 – 40 sehr gering trocken

Podsol-Braunerde Tertiär / Kies / Sand schwach lehmiger Sand 25 – 40 sehr gering trocken

Braunerde-Podsol Sande schwach lehmiger Sand 25 – 40 sehr gering trocken

Stau- oder Grundwasser beeinflußt

Pseudogley verlehmte Sande stark lehmiger Sand 30 – 40 mittel mäßig feucht

Gley Sand / Mulde Sand 20 – 40 sehr gering feucht

Niedermoor Torf 20 – 30 sehr hoch nass

lich gehen die Standorte von Nieder- und Zwischen- auch das Bündnis Heideterrassen im Internet moorvegetation in den nassesten Bereichen über in angibt (s. o.). Diese Untersuchungen und Nachweise den Typus Bruchwald am Rande. Detaillierte Quer- haben maßgeblich zur Anerkennung als FFH Ge- profile finden sich bei Gorissen (1989, 159 & 163). biet (nach Flora Fauna Habitat Richtlinien) durch die EU beigetragen. Auf diese detaillierten Unter- 3.2.2. Zur Vegetation und Schutzwürdigkeit, suchungen anderer Autoren zu Fauna und Flora der Mensch greift ein möchte ich aus Platzgründen verweisen, besonders auch deshalb, weil ich in dem breiten Fächerkanon Die Standorte der WH sind also für die Vegetation der physischen Geografie und Geoökologie in die- generell ungünstig, was den Spezialisten für tro- ser Fachrichtung keinesfall als Fachmann eingestuft ckene, nährstoffarme Standorte auf der einen Seite werden kann. Als ein Beispiel solcher Untersuchun- und der feuchten, nährstoffarmen Standorte auf der gen zur Vegetation sei deshalb auf den Sammelband: anderen Seite zugute kommt. Das Nebeneinander „Die Wahner Heide. Eine rheinische Landschaft im von speziell angepaßten, seltenen Arten macht da- Spannungsfeld der Interessen“ verwiesen . In diesem her den Reiz oder die „Schönheit“ der zentralen WH Band hat Kollege Schmidtlein die Flora und Ve- aus und ist eine Besonderheit in der sonst in Mit- getation der WH ausführlich behandelt, für dessen teleuropa dominierenden Waldlandschaft . Dass der Rat und Unterstützung ich mich herzlich bedanke Mensch maßgeblich zur „Schönheit“ der WH beige- (Arbeitskreis Wahner Heide, 1989, 123 bis 155). tragen hat, wurde ja schon oben erwähnt. Das Auf- treten so vieler seltener Arten in Flora und Fauna und das mosaikartige Nebeneinander dieser unter- 4. Zusammenfassendes Kausalprofil schiedlichen Arten ist also auch wesenlich der Nut- zung durch den Menschen geschuldet. Kann man Abschließend ist in einem Kausalprofil* entlang ei- deshalb im strengeren Sinne die Wahner Heide noch nes Teilstücks der „Tour Telegraph“ (Sticht, H. M., als Naturlandschaft einstufen oder ist sie weit mehr 2016, 165ff), eine Abfolge typischer Standorte dar- als andere Landschaften eine Kulturlandschaft? gestellt. Aus diesem können noch einmal die in den einzelnen Kapiteln beschriebenen Geofaktoren; Wegen dieser ganz besonderen Sonderstellung geologischer Untergrund – Relief – Boden – Vegeta- liegen über die Vegetation und die Fauna der WH tion; miteinander verknüpft abgelesen werden. Die viele detaillierte Untersuchungen und Veröffentli- dargestellte Abfolge stellt einen charakteristischen chungen vor. Diese Studien haben zahlreiche rote Abschnitt der zentralen Landschaft der WH dar. Liste Arten, also vom Aussterben bedrohte seltene Die Lage des Profils ist in der Karte im Anhang zu Arten in Flora und Fauna nachgewiesen, wie das entnehmen.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 169 Ich hoffe mit meinen Ausführungen „zur Vielfalt Anreize geschaffen und alte wieder aufgefrischt zu der Standorte der Wahner Heide“ Hintergründe für haben, die im Sinne Noppeney’s, die „Menschen der die „Schönheit“ der Wahner Heide geliefert, neue Schönheit wegen in die Wahner Heide ziehen“.

5. Literaturliste

AG Boden (1994): Bodenkundliche Kartieran- Burger, D. (1987): Kalkmulden im Rheinischen leitung, 4. Verbesserte und erweiterte Auflage. Schiefergebirge, Strukturformen aus mikro- Hannover. morphologischer Sicht. In: Z. Geomorph. N.F. Arbeitskreis Wahner Heide (1989): Die Wah- Suppl.-Bd. 66, 15 – 21. Berlin-Stuttgart. ner Heide. Eine rheinische Landschaft im Dederichs, Matthias (1993): Altenrath. In: Spannungsfeld der Interessen. Köln. Troisd. Jh. 1933, 3 – 5. Troisdorf. Bündnis Heideterrassen (2020): Wahner Dederichs, Matthias (1996): Die Geschichte des Heide, https://www.wahnerheide.net/, 23. 6. Lebensraums Wahner Heide Teil I. In: Troisd. 2020. Jh. 11, 4 – 7. Troisdorf. Burger, D. (1982): Reliefgenese und Hangent- Dederichs, Matthias (1996): Die Geschichte des wicklung im Gebiet zwischen Sayn und Wied. Lebensraums Wahner Heide Teil II. In Troisd. Kölner Geogr. Arb. 42. Köln. Jh. 12, 3 – 6. Troisdorf.

170 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Geologischer Dienst NRW (2017): Boden- Noppeney, Hanns. G. (2020): Die Wahner Heide, lehrpfade in NRW, Königsforst. 2. überarbei- speziell zu ihrer Schönheit und dem Erho- tet Auflage. Geldern. Im Netz ladbar unter: lungswert. Troid. Jh. 50, 146 – 161, Troisdorf. https://www.gd.nrw.de/zip/flyer_koenigs- Schmidtlein, Sebastian (1989): Die Flora und forst.pdf, 27. 3. 2020. Vegetation der Wahner Heide. In: Arbeits- Geoportal NRW (2020): GEOviewer: https:// kreis Wahner Heide (1989), 123 – 155. Köln. www.geoportal.nrw/themenkarten, Boden- Sticht, Holger Maria (2016): Wahner Heide, die karte von NRW 1 : 50 000, 27. 3. 2020. 10 Rundwanderwege. Natur und Kulturfüh- Gorissen, Ingmar (1989): Die Moore der Wah- rer. Jünkerath. ner Heide. In: Arbeitskreis Wahner Heide (1989), 156 – 164. Köln.

6. Anhang

6.1. kurze Erklärung von Fachbegriffen(im Text mit * markiert)

Anstehendes R der feste Gesteinuntergrund an Hotspot R aufdringen von Magma aus dem einer Stelle tieferen Erdmantel, nicht an Plattenränder Boden R ist der oberste durch Verwitterung ent- gebunden sandene, belebte Teil der Erdkruste, gegliedert Huminsäuren R durch den Abbau organischer durch Horizonte mit gleichen Merkmalen Substanz entstandene Säure Bruchscholle R beidseitige durch tektonische Kausalprofil R Querprofil durch eine Land- Verwerfungen, also durch Kräfte aus dem Er- schaft, das alle Geofaktoren; geologischer dinneren, entstandene und deshalb geradlinig Untergrund-Boden-Relief-Vegetation zusam- begrenzte Landform menfassend darstellt Devon … R geologische Zeitabschnitte, Reihen- Korngrößen R Durchmesser von Mineral- oder folge und Alter siehe Tabelle 1 Gesteinskörnern, ermittelt durch sieben: Eiskeil R ausschließlich mit Eis gefüllte keilför- Kies-Sand-Schluff-Ton, in abnehmender mige Stelle in einem längjährig gefrorenen Reihenfolge Untergrund (Dauerfrostboden) Löß R ist ein unverfestigtes lockeres Gestein, Ericaceen R aus Sträucher und Halbsträucher in Mitteleuropa in Kaltzeiten durch Auswe- bestehende Pflanzenfamilie; z. B. Heidekraut hung und Transport durch Wind entstanden, Flöz R Kohleschicht, kann sowohl Braun- als Korngröße ist Schluff auch Steinkohle sein Morphodynamik R das Relief bildenden Abtra- fluvial R durch einen Fluß bedingter Prozess gungsprozesse, meist Klimagesteuert Frostschuttzone R polwärtigste Vegetationszone Plaggen R abgestochenes Stück Oberboden aus jenseits geschlosener Wälder Heidelandschaften Geomorphologie R Lehre der Beschreibung und Solifluktion R Transport von im Sommer auf- Entstehung der Oberflächenformen der Erde getautem Verwittertem über den noch ge- unter besonderer Berücksichtigung von Pro- frorenen Untergrund, in Mitteleuropa in zessen aus dem Erdinneren und von außen, Kaltzeiten dem Klima (Verwitterung), in Deutschland Urrheinsystem R älteres Flußssystem von Ur- der Geographie zugeordnet rhein und seiner Nebenflüsse, das dann zum Geologie R Lehre von den Prozesse im Erdinne- heutigen Rheinsystem geführt hat ren, meist dem tieferen Untergrund Wertezahl R Kennzahl zur ackerbaulichen Geoökologie R ist eine Teildisziplin der Geowis- Nutzbarkeit von Böden, dem besten Standort senschaften und der Umweltwissenschaften, – Magdeburger Börde – wurde die Zahl 100 schließt den Einfluss des Menschen mit ein zugeordnet

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 171 6.2. Karten im Anhang

Ausschnitt südöstliche Wahner Heide

172 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 10.000 Stadtplan Troisdorf, OpenStreetMap : Kartengrundlage: TK !

Telegraphenberg-Tour (Sticht, H. M., 2016, 165 ff) 10.000 Stadtplan Troisdorf, OpenStreetMap : Kartengrundlage: TK !

Hühnerbruch-Tour (Sticht, H. M., 2016, 97 ff)

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 173 Roswitha Hammer Ein ganz normales Leben – Erinnerungen an meine Großmutter

Lange vor der Zeit, als der Begriff Burnout als Bezeichnung für einen Zustand der völligen Erschöpfung noch nicht in aller Munde war, gab es bereits Verhältnisse, in denen man diesen Zustand kannte. Vor hundert Jahren war es die häusliche Arbeit, die viele Frauen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachte. Viele Haushalte, besonders auf dem Land, verfügten erst mit Beginn der 1950er Jahre über Strom. Die gesamte Arbeit im Haushalt wurde in Handarbeit geleistet. Für das Vorbereiten und das Kochen der Mahlzeiten brauchte man viele Stunden. Einkochen, Putzen und Flickarbeiten gehörten zu den täglichen Aufgaben. Ein Tag in der Woche war für die Reinigung der Wäsche vorgesehen. Die Bettwäsche wurde in großen, mit Holz befeuerten Bottichen gekocht, danach in einer Zinkwanne ausgespült und mit der Hand ausgewrungen, bevor sie auf der Wäscheleine aufgehängt wurde. Körperlich harte Arbeit, oft 16 Stunden am Tag, ohne freies Wochenende oder Urlaub – das war der ganz normale Alltag meiner Großmutter, die von 1889 – 1964 lebte. Foto aus Familienbesitz

Foto 1: Goldhochzeit (1962)

174 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 ch war neun Jahre alt, als Großmutter starb. Sie bestellt. Man lebte in einer Männergesellschaft, in Iwar die Mutter meiner Mutter und lebte im glei- der Frauen keine Wertschätzung erfuhren. Frauen chen Dorf wie wir. Vielleicht sollte ich besser sagen: verfügten nach allgemeiner Ansicht über eine ge- wir lebten im gleichen Dorf wie sie. Und im Gegen- ringere Intelligenz als Männer. Auch wurde es als satz zu mir lebte sie mehr als siebzig Jahre dort. Bis ihre natürliche Bestimmung angesehen, die Arbeit zu ihrem Todestag am 8. Januar 1964 hatte sie nie in Haus, Hof und Familie zu verrichten. In dieser woanders gewohnt, so wie Generationen vor ihr Zeit waren die Frauen auf dem Land Hausfrauen, auch. Sie starb zwei Monate vor ihrem fünfundsieb- eine Ausbildung hatten die meisten nicht. Warum zigsten Geburtstag. Einige der Verwandten zürnten, auch? Frauen gehörten ins Haus, das war die allge- dass Großmutter sie um die Feier brachte, denn sol- meine Auffassung. Da galt die Investition in eine che Geburtstage zählten zu den hohen Feiertagen. Ausbildung als rausgeworfenes Geld. Außer Kin- Andere waren erleichtert, dass sie tot war, denn zu- derkriegen und Kinder aufziehen blieb ihnen noch letzt war sie für alle eine Last gewesen. eins: dem Manne untertan zu sein, so wie es auch die katholische Kirche verlangte. Großmutter feierte schon lange nichts mehr. Manchmal wurde sie zum Feiern genötigt, weil die Verwandtschaft einen Anlass brauchte, um zu fei- Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter ern. Auf einem Foto, das sie anlässlich ihrer Gold- wie dem Herrn, hochzeit im April 1962 zusammen mit ihrem Mann denn der Mann ist das Haupt der Frau, zeigt (Foto 1), sieht man in ein Gesicht, aus dem alles wie auch Christus das Haupt der Kirche ist, (…) . Leben gewichen ist. Sie achtete nicht mehr auf Ge- Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, burtstage oder Namenstage, nicht auf Hochzeits- sollen sich die Frauen tage und andere Jubiläen, Kindstaufen und was es in allem den Männern unterordnen. sonst noch in gut katholischen Familien zu feiern gab. Großmutter litt an einer Krankheit, die man aus dem Brief des Paulus an die Epheser (5, 22-24) heute als Alzheimer kennt und die zu dieser Zeit weitgehend unbekannt war. Damals hieß es nur, sie sei durcheinander, manche sagten auch, sie sei Zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, im April verrückt. 1912, heiratete sie meinen Großvater, der im glei- chen Dorf aufgewachsen war. Von da an führte sie Sie wurde am 7. März 1889 als viertes von acht den Familiennamen Grommes. Beide Familien Kindern in Müllekoven geboren. Ihr ganzes Leben waren eng mit der Region verbunden. Die Männer verbrachte sie in dem kleinen Ort an der Siegniede- der Familien gehörten der Fischerei-Bruderschaft zu rung, der heute ein Ortsteil der Stadt Troisdorf ist. Bergheim an der Sieg an.1 Ihr Name war Eva. Ein Name, mit dem sie zeitlebens haderte, denn in katholischen Familien galt der Na- Bei der Hochzeit war Großmutter 23 Jahre alt, menstag als der wichtigste Tag im Leben. Evas Na- eine attraktive junge Frau, die gegen den Willen menstag fiel auf den 24. Dezember und trat damit der Eltern einen Mann geheiratet hatte, der zwar weit hinter den hohen Feiertag zurück. Diese Tatsa- katholisch war, dem es aber, wie sich bald zeigte, che hatte sie offensichtlich so sehr beschäftigt, dass nicht allein um die Eroberung der schönen Frau sie ihren Kindern einschärfte, auf keinen Fall einer ging, sondern der es ganz nebenbei auch auf das ihrer Enkelinnen den Namen Eva zu geben. Land abgesehen hatte, das sie mit in die Ehe brachte. Mein Großvater war ein harter Kerl, ein Draufgän- Evas Vater war von Beruf Schuster, die Mutter ger ohne Manieren, den man sich nicht als Schwie- Hausfrau. Der Vater stammte aus Müllekoven, die gersohn wünschte. Vielleicht war es genau das, was Mutter kam aus einem benachbarten Dorf. Auf dem meine Großmutter zu ihm hinzog. Bei der Hochzeit Land kam es in dieser Zeit häufig vor, dass die Part- war sie bereits schwanger. Das erste von neun Kin- ner im unmittelbaren Umfeld gesucht wurden, nicht dern wurde nach sechs Monaten geboren – nach ka- selten kamen sie aus dem gleichen Dorf. Eva trug tholischer Lesart eine Frühgeburt. den Familiennamen Zerres, ein in dieser Region häufig vorkommender Name. 1 Bei der Fischerei-Bruderschaft handelt es sich um eine zunftähnli- che Vereinigung, die seit dem Jahr 987 über die Fischereirechte an Noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein war der Siegmündung sowie im Rhein verfügt. Das Fischereirecht wird es um die Gleichberechtigung der Frauen nicht gut jeweils vom Vater auf die Söhne vererbt.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 175 Großvater war Zimmermann und Bauer. Er be- gelacht. Frauen hatten keine Ahnung von Politik. saß kein Vieh, dafür etwas Land, das er mit Apfel- Das behaupten jedenfalls viele Männer noch heute. und Birnbäumen bepflanzt hatte und bewirtschaf- Gerne an den Stammtischen, wo man dann Zeuge tete. Einmal im Jahr wurde die Ernte eingefahren, ihres eigenen beschränkten Politikverständnisses das Obst nach einheitlichen Größen in Kisten sor- werden kann. tiert und im Nachbardorf Bergheim an eine Genos- senschaft verkauft. Im Laufe der Jahre half die ganze Als Marie Juchacz als erste Frau in der Weima- Familie mit. rer Nationalversammlung am 19. Februar 1919 eine Rede hielt, stellte sie fest: Seit der Jahrhundertwende kämpften Frauen in ganz Europa unter anderem für die Einführung des Frauenwahlrechts. Als am 30. November 1918 in „ (…) , dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht Deutschland das Reichswahlgesetz mit dem Wahl- etwa (…) Dank schuldig sind. Was diese Regierung ge- recht für Frauen in Kraft trat, hatte meine Großmut- tan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den ter bereits fünf Kinder zu versorgen und den Kopf Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorent- voll mit anderen Dingen. Im Übrigen wurde dieser halten worden ist.“ wichtige Schritt zur Gleichberechtigung der Frau auf dem Land weniger gefeiert, als bei den Frauen in den Städten. Die Frauen auf dem Land hatten Zwar traf sie mit dieser Aussage ins Schwarze. andere Probleme, denn dort schien die Welt noch Für viele Frauen, insbesondere auf dem Land, wo in Ordnung zu sein. Dort galt noch, was der Mann die Kirche noch sehr einflussreich war, war die sagte. Die wenigen Frauen, die eine Meinung zu Einführung des Wahlrechts alleine aber nicht aus- politischen Entwicklungen hatten und diese auch reichend, ihnen Auswege aus ihrer elenden Situa- äußerten, wurden beschimpft oder bestenfalls aus- tion aufzuzeigen. Ließ man die Frauen überhaupt Foto aus Familienbesitz

Foto 2: Eva Grommes mit Familie (1928)

176 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 an die Urnen gehen, so war klar, dass ihnen die Großvater nahm sich rücksichtslos das, was ihm Männer zuvor sagten, wo sie ihr Kreuz zu machen in seinen Augen zustand. Großmutter blieb nur hatten. die Wahl, sich in ihr Schicksal zu fügen. Sie nahm es als Gottes Wille hin. Scheidung war keine Alter- native, schon gar nicht, wenn man katholisch war „Wie es in allen Gemeinden der Heiligen üblich ist, und auf dem Land lebte. Niemand wusste, wie viele sollen die Frauen in der Versammlung schweigen; es ist Kinder meine Großmutter gar nicht erst zur Welt ihnen nicht gestattet zu reden. Sie sollen sich unterord- brachte, weil ihr Körper gegen die Last der täglichen nen, wie auch das Gesetz es fordert. Wenn sie etwas Arbeit rebellierte und dafür sorgte, dass manche wissen wollen, dann sollen sie zuhause ihre Männer fra- Schwangerschaft von kurzer Dauer war. Die Kin- gen; (…) . der wurden gottesfürchtig erzogen. Ansonsten trug die Erziehung dazu bei, dass alles beim Alten blieb. aus dem ersten Brief des Paulus Die Söhne wurden zu Männern erzogen, die mit der an die Korinther (14, 34-35) Gewissheit aufwuchsen, gottähnlich zu sein, stolze Kerle, denen die Frauen und die ganze Welt zu Fü- ßen liegen sollte. Den Töchtern wurde ihr zentra- Meine Großmutter lernte früh, was es hieß, als les Lebensziel vermittelt: dem Mann zu dienen. In Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Nach dem einen oder anderen Fall wurde dieses Ziel nicht der Geburt des ersten Kindes ging es Schlag auf erreicht. Aber im Großen und Ganzen machte sich Schlag. Neun Kinder brachte sie zur Welt, manche auch diese Generation auf den scheinbar von Gott davon im Abstand von einem Jahr (Foto 2). Sie ar- vorgegebenen Weg. beitete von früh bis spät, häufig auch nachts, wenn eines der Kinder krank war. Verhütung war von Bis zu ihrer Hochzeit war meine Großmutter Seiten der katholischen Kirche verboten und mein eine lebenslustige junge Frau gewesen. Mit den Jah- Foto aus Familienbesitz

Foto 3: Eva Grommes, vorne rechts, beim Mütterkaffee (ca. 1952)

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 177 ren hatte sie das Lachen verlernt, ihr Leben emp- die Mutter zurückholen, wo auch immer man sie fand sie als große Last. Auf einem Bild, das sie in gefunden hatte. Sie schimpften mit ihr, redeten ihr Gesellschaft anderer Frauen beim Mütterkaffee2 ins Gewissen, dass sie nicht alleine fortgehen dürfe. zeigt (Foto 3), blickt sie zurückhaltend in die Ka- Aber Großmutter lächelte, nickte freundlich und tat mera, während alle anderen lachen. Von Kindern dann das, was sie tun musste: sie lief immer weiter. und Mann gefordert, wurde sie mutlos, irgendwann Großvater steckte den Kopf in den Sand, versuchte funktionierte sie nur noch. Ihr einziger Trost war zu ignorieren, was sich da bei seiner Frau tat. Sie der tägliche Kirchgang. Mit jedem Kind hatte sie an alle waren hilflos bei der Suche nach einer Lösung, Attraktivität verloren. Und Großvater ließ sie das sorgten sich vielmehr, durch das Gerede zum Dorf- spüren, obwohl er doch maßgeblich dafür verant- gespött zu werden. Einen Arzt zu Rate zu ziehen, das wortlich war. Er versuchte auch nicht, seine Bemü- fiel ihnen nicht ein. hungen um andere, oft jüngere Frauen, vor ihr zu verheimlichen. Dabei war es ihm einerlei, ob es sich Und so nahm die Erkrankung meiner Groß- um die Frau seines Sohnes oder die eigene Tochter mutter ihren Lauf, bis zu dem Tag, als man die handelte. einzig mögliche Lösung für ihre unerwünschten Ausflüge glaubte gefunden zu haben: man sperrte Nachdem Großmutter die sechzig überschrit- sie ein. Und dort, in einem kleinen Zimmer ihres ten hatte, das letzte Kind aus dem Haus war und Hauses, verbrachte sie die restlichen Jahre ihres ihr Mann weiterhin von ihr verlangte, bedient zu Lebens. Das Zimmer mit einem Fenster zum Hof werden und ihren ehelichen Pflichten nachzukom- ließ sie immerhin noch ein wenig teilhaben an den men, war ihre ganze Kraft verbraucht. „Hätte ich Dingen, die um sie herum passierten. Sie verließ doch auf meinen Vater gehört“, erinnerte sich ihre das Haus nicht mehr bis zu ihrem Tod. Die letzten älteste Tochter, der sie ihr Leid klagte, da war ihr die Jahre war sie ans Bett gefesselt, versorgt von ihren Ausweglosigkeit ihrer Situation schon erbarmungs- Töchtern und Schwiegertöchtern. Da war sie nicht los deutlich. Sie begann, ziellos durch das Dorf zu mehr in der Lage, die kleinsten Dinge ohne Hilfe laufen, nicht selten am frühen Morgen, wenn es zu bewältigen. noch dunkel war. Manchmal hatte sie auch ein Ziel. Dann führte ihr Weg sie ins Nachbardorf in die Kir- Wenn ich an meine Großmutter denke, habe ich che. Auf diesen Wegen sprach sie stets laut mit sich ein Gesicht vor Augen, aus dem sämtliche Freude selbst. Oft war sie nicht der Witterung entsprechend gewichen ist. Nie werde ich eine Begegnung mit angekleidet, aber das bemerkte sie nicht mehr. Viele ihr vergessen: eine alte Frau im Nachthemd, unge- schüttelten den Kopf über die wirre Alte, von Kin- kämmt und mit verwirrtem Blick aus einem Fenster dern wurde sie nicht selten ausgelacht. Oft wusste ihres Hauses in den Hof schauend, die abgearbeite- sie nicht mehr, wo sie war und wurde von freundli- ten Hände auf der Fensterbank abgelegt. Eine Frau, chen Menschen nach Hause gebracht. Denn mit der die dankbar ein Kind anlächelt, das ihr zugewandt Zeit wussten alle, wer sie war. ist und ihre Hände streichelt.

Ich weiß noch, als sie uns fast täglich besuchte Großmutter bekam fünf Söhne und vier Töch- und nach meinem Vater fragte, den sie ganz beson- ter. Vier Söhne wurden zum Kriegsdienst einge- ders in ihr Herz geschlossen zu haben schien. Sie zogen, sie alle überlebten den Zweiten Weltkrieg. freute sich außerordentlich, wenn sie ihn antraf, Das jüngste Mädchen starb nach einem tragischen ihm dagegen waren die Begegnungen peinlich, weil Unfall im Alter von neunzehn Jahren. Acht Kin- sie ihm fortwährend auf die Schultern klopfte und der heirateten und bekamen ihrerseits Kinder. immer wieder seinen Namen sagte. Die Namen Insgesamt neunzehn Enkelkinder wurden gebo- von meiner Schwester und mir dagegen hatte sie ren, das letzte, ein Mädchen, kam ein Jahr nach vergessen. Evas Tod zur Welt. Es hat seine Großmutter nie kennengelernt. Ihren Kindern, die zu einem großen Teil im gleichen Dorf wohnten, blieben die Veränderun- Was bleibt ist die Erinnerung derjenigen, die sie gen im Verhalten der Mutter nicht verborgen. Oft gekannt haben. Erinnerungen an einen Menschen, genug sprach man sie an, nicht selten mussten sie der immer für andere da war und sich selbst im Laufe der Jahre aus den Augen verloren hatte. Ein hartes Schicksal, das sie mit vielen Frauen ihrer Ge- 2 Bunter Nachmittag der Katholischen Frauenvereinigung. neration geteilt hatte. z

178 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Dieter Gattinger / Kurt Wildemann

Siamo tutti fratelli – Wir sind alle Brüder

100 Jahre Deutsches Rotes Kreuz Troisdorf – 50 Jahre Ortsverein Troisdorf e. V.

Der Ursprung des heutigen DRK Troisdorf geht auf die Gründung zurück, welche im Jahre 1921 von Belegschaftsangehörigen der Firma Klöckner-Mannstaedt (Friedrich-Wilhelms-Hütte) mit der Bezeichnung Freiwillige Sanitätskolonne vom Roten Kreuz Troisdorf vorgenommen wurde.

Am 7. Januar 1921 trafen sich 25 Kameraden im Hotel Kronprinz zur Gründerversammlung: Dr. Hans Forsbach, Dr. Josef Wiersberg sen. (Werkarzt der Klöckner-Mannstaedt), Johann Brück, Franz Frerkes, Kaspar Kirich, Josef Kurtsiefer, Adolf Pütz, Wilhelm Schrage, Johann Staffel, Josef Wiesel, Wilhelm Boche, August Brückmann, Mathias Eimer­macher, Theo Naujoks, Wilhelm Nagel, Rudolf Schwerm, Wilhelm Knüpp, Konrad Krämer, Jakob Reuten, Georg Hopf (Ausbilder), Wilhelm Lechte (Ausbilder), Josef Kraus (Schriftführer) und Heinrich Karabasz (Zugführer).

1922 Aus den Unterlagen geht hervor, dass die Sani- Ab 1923 wurden nach und nach auch in den ver- tätskolonne Troisdorf maßgeblich an der Gründung schiedenen Troisdorfer Ortsteilen Sanitätskolonnen des DRK Kreisverband Siegkreis im Hotel Reichen- gebildet. stein in Siegburg am 3. September 1922 beteiligt war.

Einige Gründer der Sanitäts­kolonne Troisdorf: Georg Hopf, Theo Naujoks, Johann Staffel, Jakob Reuten, Wilhelm Lechte

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 179 7. November 1923 Gründung der Sanitätskolonne Spich mit den Kameraden Dr. Anton Schönen, Josef Lancier, Paul Röhrig, Hubert Bayer, Paul Mäurer, Jean Wester, Wilhelm Busch, Josef Siebertz und Dr. Walter Schöttler sen. (Kolonnenarzt).

3. Februar 1925 Gründung der Sanitätskolonne Sieglar mit den Kameraden Dr. Hans Harzem, Jean Wiedenau, Matthias Hörsch, Gottfried Meis, Wil- helm Frings, Wilhelm Knüpp, August Brückmann, Heinrich Hartmann, Josef Esch, Josef Pilger, Franz DRK-Unterkunft am Jahnplatz von 1952 bis 1997. Vor 1952 Gorny, Johann Schänzler, Adolf Rondorf, Josef Reu- Polizeistation und heute die Musikschule von Troisdorf. ter, Josef Engelskirchen, Peter Ley und Josef Over.

1927 Die Männer der Kolonne wurden in einem von 1935 Gründung der Sanitätskolonne Altenrath mit der Werkleitung der Mannstaedt-Werke zur Verfü- Johann Braun, Wilhelm Euler, Wilhelm Tüttenberg, gung gestellten Raum von Dr. Clemens Adrian und Josef Küpper und Erich Hölzel. Dr. Josef Wiersberg sehr gut ausgebildet. 1937 Bei Dynamit Nobel wurde eine Sanitäts­ 1927 Es wurden in den Orten kolonne gegründet. Kolonnenführer war Josef Troisdorf, Friedrich-Wilhelms- Helm. Hütte, Menden, Meindorf, Al- tenrath, Spich und Sieglar Un- 1939 Gründung der ersten weiblichen Bereitschaft. fallhilfsstellen eingerichtet und Dr. Josef Wiersberg leitete die Ausbildung, Erna angeordnet, dass jeder Kame- Pungs übernahm die Bereitschaftsleitung. rad ein DRK-Schild am Haus anzubringen hat. Die Chronik 1939 Die Kolonnen der DAG und der Mannstaedt- weist nach, dass die Männer Werke schlossen sich zusammen. Die beiden Züge laufend im Einsatz waren. unterstanden dem damals zum Feldführer ernann- ten Dr. Josef Wiersberg. Der oberste Befehlshaber 1928 entstand ein Wohl- der Freiwilligen Sanitätskolonnen im Siegkreis war fahrtshaus mit Liegehalle an Landrat Hans Weisheit. der Friedensstraße 24 / Am Prinzenwäldchen gegenüber 1939 bis 1945 wurden von Dr. Josef Wiersberg und dem Krankenhaus. Die Be- Dr. Hans Forsbach 200 Schwesternhelferinnen aus- treuung der Patienten oblag den Damen des Vater- gebildet, die dann in den Hilfslazaretten in Trois- ländischen Frauenvereins im Roten Kreuz. dorf, auf dem Michaelsberg in Siegburg und an der Front ihren Dienst leisteten. 1931 feierte die Sanitätskolonne Troisdorf mit ei- ner groß angelegten Kreisübung in Spich auf dem Marktplatz ihr zehnjähriges Jubiläum mit allen Ko- lonnen aus dem Siegkreis und dem Bezirk Köln.

1933 Mit der Machtübernahme durch die NSDAP nahm der Aufbau der Sanitätskolonnen einen großen Aufschwung. Das war der wahre Grund, dem Roten Kreuz auf die Beine zu helfen. Dies zeigte sich darin, dass man wohlorganisierte und gut ausgerüstete, durch Dynamit AG (DAG) und Mannstaedt, Sanitäts- einheiten auch für den zivilen Luftschutz benötigte.

1934 Im Rotkreuzhaus der Mannstaedt-Werke wur- den weibliche Personen von Dr. Josef Wiersberg zu Sanitäterinnen ausgebildet. Einsatzbesprechung Sanitätskolonne Troisdorf 1943.

180 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren alle Staffel, Bereitschaftsführer: Ernst Momburg, Be- Kolonnen in das Kriegsgeschehen eingebunden. reitschaftsführerin: Lotte Kiemes, Bereitschafts- Während des Krieges hatten die zu Hause geblie- arzt: Dr. Walter Briesemeister. Von der Stadt benen DRK-Mitglieder reichlich Gelegenheit, von bekam man neue Räumlichkeiten am Jahnplatz zu- ihren Sanitätskenntnissen Gebrauch zu machen. gewiesen. Zur Stadterhebung bekam die DRK Be- reitschaft zehn komplette Uniformen von der Stadt 1943 Die NSDAP verkaufte das Wohlfahrtshaus geschenkt. mit Liegehalle und Wald an die Rüstungsindustrie (DAG). 1952 Jugendrotkreuz Troisdorf. Auf Anregung vom Bereitschaftsführer Ernst Momburg wurde 1945 Nach Kriegsende kam viel Aufbauarbeit auf eine Jugendgruppe gegründet. Man brauchte drin- das DRK zu. Es galt, das verlorengegangene Ma- gend Nachwuchs. Leiter dieser Gruppe war Johann terial und die Ausrüstung wieder zu beschaffen. Staffel. Der größte Teil des Erste Hilfe Materials war ver- schwunden. Ebenfalls mussten die Räumlichkeiten 1956 wurde aus der Jugendgruppe das Jugendrot- abgegeben werden. kreuz (JRK). 40 Jungen und Mädchen gehörten der Im gleichen Jahr bildeten 30 Helferinnen und Gruppe an. 1960 wurde aus dem JRK das Deutsche Helfer eine Sanitätskolonne. Der erste Vorstand der Jugendrotkreuz Rhein-Sieg. Sanitätskolonne setzte sich wie folgt zusammen: 1. Vorsitzender Dr. Kurt Ritter, stellvertretende Vor- 1956 Erste gemeinsame Nachtübung der DRK Be- sitzende Gertrud Lagermann, Schriftführung El- reitschaften Troisdorf und Sieglar unter der Lei- friede Rondorf, Schatzmeister Kurt Hesse sen. und tung von Ernst Momburg und Otto Zimmermann, Bereitschaftsleiterin Sibille Wenzel, Helene van der Sieglar. Hofen, Katharina Boss. Mangels Räumlichkeiten traf man sich bei Dr. Kurt Ritter in Oberlar an der 1958 Einrichtung des Blutspendedienstes unter Sieglarer Straße. Käthe­ Siebertz. Der DRK Kreisverband hatte inzwischen unter Dr. Adolf Krebs seine Tätigkeit wieder aufgenommen. 1964 Wechsel beim DRK Troisdorf. Der bisherige Bereitschaftsführer Ernst Momburg trat zurück. 1948 wurden die Sanitätskolonnen in Deutsches Ihm folgte Kurt Hesse jun., Stellvertreter Dieter Rotes Kreuz umbenannt. Gattinger, Schriftführer Hans Müller, Kassierer Herbert Oettel, Beisitzende Walter Keuth und Man- 1951 feierte man das 30-jährige Bestehen der DRK fred Horst. Bereitschaft Troisdorf. Es wurde ein neuer Vor- stand gewählt. 1. Vorsitzender: Gemeindedirek- 1965 Großübung mit der Freiwilligen Feuerwehr tor Mathias Langen, Stellvertreter: Jean Lohmar, Sieglar und dem DRK auf dem Marktplatz Sieglar Schriftführer: Kurt Hesse sen., Kassierer: Johann anlässlich des 40. Jubiläums der Bereitschaft Sieglar.

Großübung in Sieglar an der Schule. Retten aus dem 1. Stock, wenn das Treppenhaus blockiert ist.

Großübung in Sieglar auf dem Marktplatz. Hier der Transport aus der Gefahrenzone.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 181 1968 Großeinsatz des DRK Troisdorf beim Spiel 1972 Erster Behelfskrankenwagen für das DRK. ohne Grenzen im Ersten Fernsehprogramm (ARD) Übergabe von Bürgermeister Josef Ludwig am 27. auf der Sportanlage „Auf der Heide“. Das DRK hatte August 1972 die Betreuung und den Sanitätsdienst übernommen. Auch gab es einen Führungswechsel in der Be- 1970 Nach der Kommunalen Neuordnung (1969) reitschaft. Dieter Gattinger übernahm das Amt von der Stadt Troisdorf gab es auch Verhandlungen zwi- Kurt Hesse jun. als Bereitschaftsführer. schen den DRK Bereitschaften Troisdorf und Sieglar mit dem Ziel, beide Gruppen zusammen zu führen, 1974 gab es eine große Ehrung: Der stellvertretende ein Jahr später wurde das dann auch vollzogen. Bereitschaftsführer Kurt Hesse jun. wurde für seine Verdienste um das DRK Troisdorf mit dem Ehren- 1971 50 Jahre DRK Troisdorf mit einer Ausstellung kreuz des Deutschen Roten Kreuzes ausgezeichnet. und Information über die Arbeit der DRK Bereit- schaft und des Jugendrotkreuz. Gleichzeitig grün- 1976 Gab es einen Führungswechsel in der männ- dete man den DRK Ortsverein Troisdorf. 1. Vorsit- lichen Bereitschaft. Dieter Gattinger tat zurück und zender wurde Bürgermeister a. D. Wilhelm Stricker, Dieter Wirtz wurde sein Nachfolger. Stellvertreter Josef Lichius aus Sieglar, Geschäfts- DRK Unterkunft in der Römerstraße (heute Mu- führer Gerd Kronenberg, Schatzmeister Helmut sikschule) bis 1996. Weinrauch. Weiter im Vorstand Dieter Gattinger, Fahrzeuge wurden in der Remise der Burg Wis- Matthias Dederichs, Otto Zimmermann, Beisitzer sem untergebracht (heute Café und Restaurant). Dieter und Anneliese Wirtz, Bereitschaftsarzt Dr. Es wurden Fahrzeuge bis 1996 auch zeitweise in Walter Brüggemann. der alten Feuerwache Troisdorf oder bei der Fami-

Aktive Rotkreuzhelfer von Sieglar und Troisdorf, anlässlich der Zusammenführung der beiden Bereitschaften; hier mit Vertretern der Stadt Troisdorf und dem DRK-Kreisverband Rhein-Sieg.

182 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 lie Stein in Sieglar (Teutonenstraße / Frankenstraße) 1978 Großübung der Freiwilligen Feuerwehr Trois- untergebracht. dorf in Zusammenarbeit mit dem DRK Troisdorf bei den Klöckner-Mannstaedt-Werken. Das DRK 1977 Adolf Gehlen aus Sieglar erhielt die goldene stellte den Sanitätszug und kümmerte sich mit dem Verdienstspange für seine 50-jährige Mitgliedschaft. Bereitschaftsarzt Dr. Walter Büggemann um die Be- treuung der Verletzten. 1977 Wilhelm Stricker (Vorsitzender) erhielt das Bundesverdienstkreuz für sein Wirken in und für 1979 Umzug in die oberen Räume der DRK Unter- die Stadt Troisdorf. kunft in der Römerstraße mit einer Festveranstal- tung in den neuen Räumen. Ansprache von Bürger- 1978 Gründung einer Technischen Gruppe im meister Hans Jaax. DRK. Es wurden zwei Notstromerzeuger ange- schafft und genügend Scheinwerfer, um im Ernstfall 1979 Großeinsatz für die Betreuung von 40 vietname- die Einsatzstelle mit Strom zu versorgen. Leiter die- sischen Flüchtlingen. Am 17. September 1979 kamen ser Gruppe wurde Wilfried Florin. die Vietnamesen im Troisdorfer Bürgerhaus an. Das DRK war für die Registrierung und Versorgung der 1978 Erster Krankenwagen, der auch für den örtli- Flüchtlinge zuständig. Maßgeblich an der medizini- chen Krankentransport eingesetzt wurde. schen Betreuung beteiligt war Dr. Paul Schmettkamp.

1980 Der Betreuungsleitzug des Bundeskatastro- phenschutzes wurde in die Bereitschaft Troisdorf integriert. So konnte die Bereitschaft Helfer für den Zivildienst auf zehn Jahre verpflichten.

1980 Die Bereitschaft erhielt einen neuen Mann- schaftstransporter.

1981 Festveranstaltung zum 60. Jubiläum im Bür- gerhaus Troisdorf, die mit einem Konzert des Werk- Chores der Dynamit Nobel AG umrahmt wurde.

1984 Anschaffung eines Gerätewagens für Tech- nik und Sicherheit (GWE, Gerätewagen Elektro). Es wurde ein neuer TOYOTA HIACE 2.4 umgebaut und mit zwei Notstromerzeugern bestückt. So war der technische Dienst mobil und konnte bei zahl- reichen Einsätzen für Strom sorgen. Funkrufname: Rot Kreuz 2-59-1

Die Gruppe Technik und Sicherheit bekam ihren ersten Geräte­ wagen (GW) Notstrom. Ab sofort konnte unter dem Funkruf „Rot Kreuz 2-59-1“ die Einsatz­ stellen bei Nacht aus­ geleuchtet werden

1984 Einsatz beim Hochwasser der Sieg und Bröl in Hennef-Müschmühle. Hier unterstützten wir Bericht über die Anschaffung eines neuen gebrauchten Kranken­ die Kameraden der Feuerwehr beim Sichern des wagens. Der alte Behelfskrankenwagen hatte ausgedient. Hochwasserdeiches.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 183 Helfer beim „Flugtag in Hangelar“ 1984, hier mit Bereit- Fahrzeugaufstellung bei der Großübung in der Eifel. Hier auf schaftsarzt Dr. Walter Brüggemann (rechts). einem Pfadfinder-Parkplatz in der Nähe von Kirchheim.

1984 Einsatz beim Flugtag „75 Jahre Flugplatz 1986 Rita Marqurdsen übernimmt die Leitung der Hangelar“. Blutspende in Troisdorf von Käthe Siebertz.

1984 Großübung der DRK Einheiten aus Troisdorf 1987 Gründung der Krankenhaushilfe: Zum 1. Sep- und Köln sowie Teilen aus dem Rhein-Sieg-Kreis in tember stimmte der Vorstand einstimmig zu, einen der Eifel. Unter Federführung der Troisdorfer übten Besucherdienst im St. Josef Hospital Troisdorf zu die Einheiten die Einrichtung und und den Betrieb installieren. Es wurden Gespräche geführt mit der eines Auffanglagers für betroffene Flüchtlinge. Krankenhausleitung (Karl Geßmann) und dem Vorstand des DRK-Ortsverein Troisdorf Marlis 1985 Einsatz für den Gerätewagen 2.59.1 aus Trois- Nöfer (Vorsitzende), Leiterin der Krankenhaushilfe dorf am 24. Juli 1985 in Rheinbach. wurde Taddea Burkardt und später Inge Laubenber- ger. Über Zeitungsanzeigen wurden Menschen gesucht, die für einige Stunden in der Woche Kranke im Krankenhaus besuchten.

Bericht in der Tagespresse über den ersten größeren Einsatz für den Technischen-Dienst in Rheinbach.

Aufruf in der örtlichen Presse für die Mitarbeit in der Krankenhaus-Hilfe.

184 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 1988 Oktober: Großeinsatz bei einem Hochhaus- Großer Einsatz für das DRK Troisdorf, aber auch brand in der Mendener Straße. Hier versorgte das für den DRK Kreisverband Rhein-Sieg. Das DRK DRK 70 Einsatzkräfte mit Warm- und Kalt-Geträn- Troisdorf war der einzige BtLz (Betreuungsleitzug) ken. Aber auch 17 Personen mussten vorsorglich in NRW, der von der Bezirksregierung angefordert evakuiert werden und kamen in der DRK Unter- wurde, um die ankommenden Übersiedler aus der kunft in der Römerstraße unter. ehemalige DDR in Empfang zu nehmen. Die Auf- gabe lautete, an den Bahnhöfen die Infrastrukturen 1989 Anschaffung des Geschirrmobil – gesponsert für die Betreuungszüge zu schaffen. von der Kreissparkasse Köln.

1989 Eintrag ins Vereinsregister, aus dem Ortsver- ein wurde ein Ortsverein e. V. Der Ortsverein war nun ein eigenständiger Verein und nicht mehr vom DRK Kreisverband abhängig.

1989/1990 Öffnung der Innerdeutschen Grenze – Übersiedler aus der DDR.

Ankunft der ersten Übersiedler aus der damaligen DDR im Bahnhof Ahrweiler.

1989 Gemeinsames Sammeln von Möbeln im Stadt- gebiet. Zusammen mit den Belgischen Streitkräften wurden Möbel für Aussiedler gesammelt.

Helfer in Meckenheim bei der Umverpackung und dem Sortieren der Hilfspakete aus ganz Deutschland

1990 „Ein Herz für Russland“ war ein Aufruf der Medien (ARD und BILD Zeitung) im November 1990. Es kamen aus ganz Deutschland Lebensmit- telpakete zum Zentrallager des DRK nach Mecken- heim. Hier wurden an mehreren Tagen von unseren Helfern aus Troisdorf die Pakete gesichtet, umge- packt und versandfertig in Lkw-Container gepackt. Es wurde danach ein Lkw-Konvoi zusammenge-

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 185 13. 12. 1997 „Wasserschaden Krankenhaus Trois- dorf“. Verpflegungseinsatz für die Einsatzkräfte der Feuerwehr (55). Das DRK war mit sechs Helfern vor Ort und richtete eine Verpflegungsstelle ein.

17. 9. 1997 Rückführung der Fernmeldefahrzeuge der Hilfszugabteilung vom Standort Troisdorf nach Meckenheim (DRK Bundeszentrallager). Es wurden drei Kräder, zwei Bauwagen, ein Leiterwagen und ein MTF (Mannschaftstransportfahrzeug) überführt. Im Gegenzug erhielt der Ortsverein zwei 4-Tra- gen-KTW (Krankentransportfahrzeuge) für seine Arbeit im Sanitätsdienst.

Hilfstransport von Meckenheim nach Russland, mit Helfern Mai 1998 Großer Rot-Kreuz-Tag in der Innenstadt aus Troisdorf 1990. von Troisdorf. Der Ortsverein stellt sich der Bevöl- kerung vor. stellt, um die Spenden nach Russland zu bringen. 13. 8. 1998 Nach dem schweren ICE Unglück in Bei diesem Transport waren auch Helfer vom DRK Eschede war der Blutspendertermin im evangeli- Troisdorf dabei. schen Gemeindehaus sehr gut besucht. Es kamen 320 Spender! Fast dreimal soviel wie an einem nor- 1995 Vorstandsbeschluss am 22. Juni 1995 zum Bau malen Termin (ca. 110). einer neuen Fahrzeughalle in Sieglar. Nachdem die Stadt aber das Gebäude an der Römerstraße (alte September 1998 Das DRK geht online! Erster Inter- DRK Unterkunft) selber nutzen wollte, wurde die netauftritt mit einer eigenen Homepage. Fahrzeughalle direkt um Schulungsräume und eine Hausmeisterwohnung erweitert. 1999 Im Januar Anschaffung eines neuen Kranken- Der Spatenstich zum Neubau der DRK-Unter- wagens (gebraucht), der alte hatte nach gut 20 Jah- kunft in der Teutonenstraße 31 erfolgte am 7. Ok- ren ausgedient. tober 1995. Nach fast einem Jahr Bauzeit wurde, passend Jahreswechsel 1999/2000 Bereitschaftsdienst in zum 75. Jahrestag, das Gebäude mit einer großen fast allen DRK Unterkünften, Feuerwehren oder Feier Ende August 1996 eingeweiht. Der Umzug von auch Polizei und Behörden aus dem gesamten der Römerstraße nach Sieglar in die Teutonenstraße Rhein-Sieg-Kreis. Man hatte Sorge wegen der Jah- 31 erfolgte Anfang September 1996. resumstellung bei den PC- und Rechenzentren der Kommunen. Hier wurden die Silvesterfeiern halt in Bereitschaftsdienste umgestellt.

Vorsitzende im DRK:

1921 Dr. Hans Forsbach 1945 Dr. Kurt Ritter 1948 Gemeindedirektor Matthias Langen Wilhelm Stricker 1971 – 1986 Marlies Nöfer 1986 – 1992 Ivo Hurnik 1992 – 1994 Dieter Wirtz 1994 – 2000 Rudolf Mrosek von 2000 bis heute Schatzmeister und Kassierer

Rohbau der neuen DRK-Unterkunft in Sieglar, Teutonen­ Helmut Weinrauch von 1971 bis heute … straße 31.

186 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 2001 Der Ortsring Sieglar gab einen Karnevalsor- 2001 Letzte gemeinsame Altkleidersammlung mit den aus. Hier war das Rote Kreuz erstmalig mit ei- den Belgischen Streitkräften. nem eigenen Logo, gemeinsam mit den anderen 21 Sieglarer Vereinen, auf diesem Orden verewigt. Der Ortsringorden wird bis heute jedes Jahr neu aufge- legt mit verschiedenen Sieglarer Motiven.

Karnevalsorden des Ortsrings Sieglar 2019. Als Mitglied des Zusammenarbeit mit den Belgischen Streitkräften bei der Ortsring, auch mit dem Logo des DRK. jährlichen Altkleidersammlung vom DRK.

Pressebericht von der letzten Altkleidersammlung mit den Belgischen Soldaten.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 187 13. 5. 2001 Sprengung der Hochhausruine (Kaiser- bau). Großeinsatz auch für das DRK Troisdorf.

Oktober 2001 Die Feierlichkeiten zum 80. Jubiläum des DRK Ortsvereins wurde abgesagt wegen des Terror-Anschlags in New York und Washington DC (USA) am 11. September.

2002 Matthias Dederichs schrieb zum 80. Jubi- läum des DRK Troisdorf, das Buch „80 Jahre und mehr …“

2005 Weltjugendtag mit Papstbesuch (16. bis 21. Sanitätsbetreuung bei den EM und WM „Public-Viewing“ an August) in Köln. Einheiten aus Troisdorf und dem der Burg Wissem. Rhein-Sieg-Kreis betreuten dort, gemeinsam mit dem DRK Köln, die tausenden Besucher an ver- 2006/2008 bis 2018 „Public Viewing“ Troisdorf schiedensten Stellen im Stadtgebiet. Auch bei der feuert an … Zu EM und WM der Fußballnational- Abschlussmesse auf dem Marienfeld zwischen Ker- mannschaft übertrug die Stadt Troisdorf auf Groß- pen und Frechen mit ca. 1,1 Millionen gläubigen Ju- leinwand die wichtigsten Spiele. Angefangen auf gendlichen war das DRK Troisdorf für die Betreu- dem Wilhelm-Hamacher-Platz zur WM 2006 und ung dabei. später im Burghof der Burg Wissem. Zu den Über- tragungen kamen im Schnitt ca. 2.000 Zuschauer. Zur Sicherheit wurde in der Remise der Burg eine UHS (Unfallhilfsstelle) eingerichtet und von DRK- Helfern betrieben. Bei allen Veranstaltungen waren wir mit je ca. zehn Helfern im Einsatz.

2009 Einsturz des historischen Stadtarchivs Köln, am 3. März 2009. Auch hier waren wir mit unserem Technischen Dienst und der Betreuungsgruppe im Einsatz. An mehreren Tagen versorgten wir dort die Einsatzkräfte mit Warmverpflegung. Wir -un terstützten die Rettungshundestaffel bei ihrer Suche nach Überlebenden.

2007 Einmalig in Troisdorf! Der erste „Blutspende- Betreuungsdienst bei dem Papstbesuch, anlässlich des Welt- Marathon“ des Deutschen Roten Kreuzes im Bür- jugendtag in Köln. Hier auf dem Weg zum Marienfeld. gerhaus in Troisdorf. Insgesamt nahmen 662 Spen-

Verpflegungsausgabestelle beim Papstbesuch, anlässlich des Beim Blutspende-Marathon im großen Saal des Bürgerhaus Weltjugendtag in Köln. Hier am Kölner Rheinufer. Troisdorf.

188 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 denwillige an der Aktion teil und stellten ihr Blut wie in Duisburg (Love-Parade) oder Unfällen wie für die gute Sache zur Verfügung, darunter 237 in Lohmar (Busunglück). Nicht nur Beteiligte auch Erstspender. unsere eigenen Helfer brauchen Hilfe wenn es da- rum geht, ungewöhnlicheEreignisse zu verarbeiten. Januar 2010 Großübung der Bundesländer und dem Flughafen Köln / Bonn unter dem Begriff „LÜKEX“ 2015 Großeinsatz für den Betreuungsdienst Trois- (Länderübergreifende Krisenmanagement-Übung / dorf, aber auch des gesamten Rhein-Sieg-Kreises Exercise). Einsatz mit dem Technischen-Dienst und (Kreisverband und Landesverband): Flüchtlinge aus dem Sanitätsdienst. den arabischen Ländern, die in einem Erstaufnah- melager in Sieglar (Berufsschule des Rhein-Sieg- 17. 2. 2010 Verpflegungseinsatz beim Großbrand Kreises) untergebracht wurden. Das bedeutete für der Fa. Schyns in Siegburg. Hier wurden 80 Perso- den Ortsverein, mit den gesamten Helfern Turnhal- nen aus den angrenzenden Mehrfamilienhäusern len herrichten, um die Flüchtlinge unterzubringen. evakuiert und betreut, 200 Einsatzkräfte mit Warm- An mehreren Tagen Aufbau und anschließend auch und Kalt-Getränken versorgt. Es wurde eine Ver- mit wechselnden Helfern das Ganze zu betreuen. pflegungsausgabestelle im Vorraum des Hit-Mark- Später wurde der Betreuungsbetrieb von der Stadt tes eingerichtet und von Troisdorfer DRK-Helfern und dem Kreis übernommen. betrieben. 2015 Erste mobile Küche für Notfälle im Rhein- 12. 6. 2010 Busunglück am Donrather Dreieck. Sieg-Kreis und Troisdorf. DRK-Helfer aus Troisdorf unterstützten die Kolle- gen aus Lohmar bei einem geplanten Sanitätswach- dienst (Kirmes). Sie wurden sofort zu diesem Unfall hinzugerufen und unterstützten dort den Rettungs- dienst. Es gab einen Toten, fünf Schwer- und acht Leichtverletzte. Zu diesem Unfall wurde auch der Betreuungsdienst Troisdorf alarmiert.

24. 7. 2010 Loveparade in Duisburg. Sechs Helfer aus Troisdorf waren, gemeinsam mit weiteren Hel- fern aus dem gesamten Rhein-Sieg-Kreis, in Duis- burg im Einsatz. Sie betrieben eine Unfallhilfsstelle am Eingang des Veranstaltungsgeländes. Der neue Küchenanhänger im Einsatz. Hier bei der Vorstel- 2011 Das Jubiläumsjahr (90 Jahre). Das DRK Trois- lung in Sieglar. dorf feierte das beim Familienfest der Stadt Trois- dorf auf dem Kölner Platz. Hier wurde die Öffent- Nach Spendenaktion wurde der Hänger ange- lichkeit über die Arbeit im Ehrenamt informiert. schafft und von unseren Helfern selber zur mobilen Küche ausgebaut. Bei einem kleinen Empfang für 10. / 11. 9. 2011 „100-jähriges Bestehen der Firma die Sponsoren wurde am 15.02.2015 der Verpfle- Reifenhäuser“; hier stellte man gemeinsam mit je gungshänger eingeweiht. sechs Helfern pro Tag den Sanitätsdienst. Die Ver- anstaltung fand auf dem Reifenhäuser-Betriebsge- lände statt. Dort war ein großes Festzelt aufgebaut. Ärzte im DRK ab 1921: Gemeinsam mit der Freiwilligen Feuerwehr Sieglar sorgte das DRK an den zwei Tagen für die Sicherheit Sanitätsrat Dr. Adrian der Besucher. Dr. Josef Wiersberg Dr. Hans Forsbach 2011 War auch ein Ausbildungsjahr. Zu den allge- Dr. Hans Wilhelm Wiersberg meinen Aus- und Fortbildungen wurden drei Helfer Dr. Kurt Ritter in PSNV (Psychosozialen Notfallversorgung) aus- Dr. Walter Briesemeister gebildet. Diese Ausbildung, man nennt es auch Erste Dr. Walter Brüggemann Hilfe an der Seele, brauchen wir für unsere Dienste Harald Morsbach im Betreuungsbereich, gerade nach so Einsätzen

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 189 Scheckübergabe der VR-Bank und der SMG-Sieglar im DRK-Zentrum Troisdorf. Durch die Spende wurde ein Notstromerzeu- ger für den Küchenanhänger mitfinanziert.

Oktober 2015 Übergabe eines Notstromerzeugers kleine Anhöhen geflüchtet hatten. Die Einsatz- für den Küchenanhänger kräfte wurden mit Kalt- und Warmgetränken vor Ort versorgt. 2. 12. 2015 Hochwasser in der Siegaue. Verpfle- gung der Einsatzkräfte vom DRK Troisdorf, 80 2017 „30 Jahre im Zeichen der Menschlichkeit“ – Einsatzkräfte der Feuerwehr, DLRG, Rotes Kreuz unter diesem Motto feierte die Krankenhaushilfe Wasserwacht und Malteser bergen bei diesem des DRK Troisdorf im Sankt Josef Hospital (SJH) Hochwasser 140 Schafe, die sich zum Teil auf ihren 30. Geburtstag.

Helferinnen und Helfer der Krankenhaus-Hilfe Troisdorf im St. Josef Krankenhaus

190 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 Bereitschaftsführung (w) Bereitschaftsführung (m)

Erna Pungs 1939 bis 1945 Dr. Hans Forsbach/Dr. Josef Wiersberg 1921 Sibille Wenzel 1945 bis 1948 Dr. Hans Wilhelm Wiersberg 1943 Lotta Kiemes (Leiterin der Schwesternhelferinnen) Dr. Kurt Ritter 1945 1949 bis 1955 Ernst Momburg 1948 Lore Schumacher 1960 bis 1968 Kurt Hesse jun. 1964 – 1972 Käthe Siebertz 1968 bis 1980 Dieter Gattinger 1972 – 1976 Angelika Klein, 1980 bis 1989 Dieter Wirtz 1976 – 1986 Manuele Höck. 1989 bis 1997 Udo Schumpe 1986 – 1997 Detlef Perscheid 1997 Frank Malotki 1997 – 1998 (kommissarisch vom KV) Kurt Wildemann 1998 – 2018 2017 Der DRK Kreisverband Rhein-Sieg richtet in Thomas Meierhoff 2018 bis heute den Räumen des DRK-Troisdorf eine Servicestelle- Ehrenamt ein.

2018 Das DRK Haus wird in DRK Zentrum umbe- betreuung oder Fußballspiele auf den zahlreichen nannt. Im DRK Zentrum sind nun der DRK Haus- Plätzen der einzelnen Ortsteile, so werden die DRK- notruf und Teile des Kreisverbands Rhein-Sieg Frauen und -Männer heute für Großschadenslagen untergebracht. In dem Zentrum finden Breiten- ausgebildet. Die Helfer spezialisieren sich auf das ausbildungen statt vom Landesverband sowie vom Führen von Einsatzeinheiten oder erlernen das Ein- Kreisverband. richten von Verpflegungsstellen, Betreuungsstellen sowie Sanitätsstellen. 2020 Die meisten Sanitätsdienste in den 100 Jahren Die größte Herausforderung für 2020 waren die DRK Troisdorf erfolgten bei Saalveranstaltungen Einschränkungen wegen der weltweiten Pandemie (Karneval, Theater, Sport, Ausstellungen, Konzer- des Corona Virus COVID-19. Direkt nach Karne- ten usw.) im gesamten Stadtgebiet. Veranstaltun- val wurden alle öffentlichen Versammlungen ein- gen im Freien, an der Burg Wissem, am Sportplatz geschränkt bis zum Verbot. Unsere Helfer durften „Auf der Heide“ oder in den Stadtteilen. Bei zahlrei- sich genauso wenig treffen wie die meisten Vereine chen Veranstaltungen in der Stadtmitte oder auch in ganz Deutschland. in Sieglar (Ochsenfest). Waren es in den ersten 50 Unsere Dienstabende wurden per Videokonfe- Jahren fast nur kleine Veranstaltungen wie Theater- renz abgehalten.

Ausbildung findet während der Corona-Pandemie nur per Videokonferenz statt.

Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020 191 Zum Gedenken an die Schlacht von Solferino im Jahre 1859, fand am DRK-Zentrum ein kleiner Fackelzug statt, der normalerweise in Solferino stattfinden würde.

Einige Helfer wollten auch in diesem Jahr nach Zurzeit hat das DRK Solferino (Italien) zum Gedenken an die Schlacht Troisdorf einen Vorstand von Solferino, die jedes Jahr mit einem Fackelzug mit neun Mitgliedern; eine zur Gedenkstätte S. Martino stattfindet. Leider fiel Bereitschaft aus 24 Helfern; auch diese Reise aus, und unsere Helfer gedachten ein Blutspendeteam von an diesem Tag mit einem kleinen Fackelzug am 15 Helfern, eine Kranken- DRK-Zentrum an die Schlacht im Jahre 1859. Nach haus-Hilfe von 31 Helfern der Schlacht von Solferino wurde das Rote Kreuz und eine starke Jugend- www.drk-troisdorf.de gegründet. gruppe von 40 Jugendlichen in drei Stufen. 2020 wurde das DRK-Zentrum Troisdorf vom Land NRW und vom Rhein-Sieg-Kreis zur Kritische Infra- struktur erklärt. „Kritische Infrastruktur“ sind Ein- Für die Zukunft 2021 richtungen, Anlagen oder Teile davon, die von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwe- Wir hoffen, dass wir mit unserer Arbeit auch an- sens sind. Durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträch- dere Menschen begeistern können, um Menschen, tigung würden erhebliche Versorgungsengpässe die in Not geraten sind, zu helfen. 100 Jahre gab es oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit in Troisdorf Menschen, die sich um andere geküm- eintreten. Aus diesem Grunde bekam das DRK eine mert haben, wir wünschen uns, dass es auch in Zu- externe Notstromeinspeisung für das DRK-Zent- kunft Menschen gibt, die den Gedanken von Henry rum. Bei großen Schadensereignisse im Kreis wird Dunant weitertragen und im Zeichen des Roten das DRK-Zentrum Troisdorf zum Lagezentrum der Kreuzes Menschen helfen. Hilfsorganisationen im Rhein-Sieg-Kreis. Heute besteht der Ortsverein aus einer Gemein- So, wie es am 28. Juni 1859 die Einwohner der schaft von hochmotivierten, ehrenamtlichen Men- Stadt Castiglione bei der Schlacht von Solferino schen, die bereit sind, für das Gemeinwohl der Bür- gemeinsam mit Henry Dunant taten, mit dem Ruf ger in Troisdorf und darüber hinaus da zu sein. Für „Siamo tutti fratelli“ – „Wir sind alle Brüder“! z Menschen, die in Notlagen oder aus ihrem sozialen Umfeld gerissen sind, da zu sein. Die Helfer opfern ihre Freizeit für das ehrenamtliche Mitwirken in der Gesellschaft. Wenn andere feiern (Karneval, Partys, Alle Fotos in diesem Artikel: Open-Air-Veranstaltungen o. ä.), sind die Helfer Johannes Wiersberg + DRK-Archiv hochmotiviert und bereit zu helfen.

192 Troisdorfer Jahreshefte | Ausgabe 50 | 2020

Ausgabe Nr. 50 · Jahrgang 2020 Autoren und Fotografen

Troisdorfer Jahreshefte Ausgabe Nr. 50 · Jahrgang · 50 2020 Nr. Ausgabe

Yvonne Andres-Péruche Jörg Hemptenmacher Petra Recklies-Dahlmann Troisdorf-Eschmar Troisdorf Swisttal Dieter Burger Hartmut Junker Wolfgang Rehmer Troisdorf Rotter See Troisdorf Niederkassel Horst Bursch Hansjörg Klein Günther Störmer Bornheim Lohmar Rödermark Jürgen Busch Stefanie Lieb Beate von Berg Troisdorf Köln Neunkirchen-Seelscheid Klaus Dettmann Rolf Möller Kurt Wildemann Troisdorf-West Troisdorf-Eschmar Lohmar Jahreshefte Troisdorfer Dieter Gattinger Hanns G. Noppeney Mirjam Wingender Troisdorf Troisdorf Troisdorf Roswitha Hammer Olaf Pohl Antje Winter Dahlem Troisdorf-Oberlar Bad Honnef