Plenarprotokoll 16/23

Deutscher

Stenografischer Bericht

23. Sitzung

Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 14: Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1776 B a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten (SPD) ...... 1777 B Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 22, 23, 33, 52, Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 1778 A 72, 73, 74, 74 a, 75, 84, 85, 87 c, 91 a, Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 1779 C 91 b, 93, 98, 104 a, 104 b, 105, 107, 109, 125 a, 125 b, 125 c, 143 c) Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (Drucksache 16/813) ...... 1749 A (CDU/CSU) ...... 1781 B b) Erste Beratung des von den Fraktionen der Volker Kröning (SPD) ...... 1782 B CDU/CSU und der SPD eingebrachten Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) ...... 1784 A Entwurfs eines Föderalismusreform- Begleitgesetzes Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 1785 B (Drucksache 16/814) ...... 1749 A Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) ...... 1785 C (CDU/CSU) ...... 1749 D (CDU/CSU) ...... 1786 A (FDP) ...... 1752 D

Krista Sager (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 15: DIE GRÜNEN) ...... 1754 A Erste Beratung des von der Bundesregierung Dr. Peter Struck (SPD) ...... 1756 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (DIE LINKE) ...... 1758 B Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten Renate Künast (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/700) ...... 1787 B DIE GRÜNEN) ...... 1761 B , Bundesministerin BMJ . . . . 1787 C Dr. (CDU/CSU) ...... 1763 D Jörg van Essen (FDP) ...... 1788 B Dr. , Minister (Nordrhein-Westfalen) ...... 1765 C Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 1789 A Fritz Rudolf Körper (SPD) ...... 1766 C Sevim Dagdelen (DIE LINKE) ...... 1790 C Inge Höger-Neuling (DIE LINKE) ...... 1768 C (BÜNDNIS 90/ Dr. (SPD) ...... 1791 A DIE GRÜNEN) ...... 1769 D Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 1771 A Tagesordnungspunkt 16: Dr. (FDP) ...... 1773 A Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Uwe Benneter (SPD) ...... 1774 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Waitz, Dr. Claudia Winterstein, weiteren Ab- Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbrei- geordneten und der Fraktion der FDP einge- tung heranführen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (Drucksache 16/834) ...... 1800 A rung des Grundgesetzes (Staatsziel Kultur) (DIE LINKE) ...... 1800 B (Drucksache 16/387) ...... 1791 D Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 1792 A (CDU/CSU) ...... 1801 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (FDP) ...... (CDU/CSU) ...... 1792 C 1803 A (CDU/CSU) ...... 1793 C Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 1804 B Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 1794 D Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1806 A Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 1795 C Kai Boris Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1796 B Tagesordnungspunkt 18: Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 1797 B Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Hans- Josef Fell, Kai Boris Gehring, weiterer Abge- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- (FDP) ...... 1798 A SES 90/DIE GRÜNEN: Zukunftsfähige (SPD) ...... 1798 C Forschung in Europa stärken (Drucksache 16/710) ...... 1807 A Krista Sager (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 17: DIE GRÜNEN) ...... 1807 A Antrag der Abgeordneten Dr. , Carsten Müller (Braunschweig) Alexander Ulrich, Paul Schäfer (Köln), weite- (CDU/CSU) ...... 1808 A rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Abzug der Atomwaffen aus (FDP) ...... 1810 A Deutschland René Röspel (SPD) ...... 1811 B (Drucksache 16/448) ...... 1799 D Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1812 B in Verbindung mit Dr. (DIE LINKE) ...... 1813 C

Zusatztagesordnungspunkt 10: Nächste Sitzung ...... 1814 D Antrag der Abgeordneten , Jürgen Trittin, (), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Anlage 1 BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Abrüs- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1815 A tung der taktischen Atomwaffen vorantrei- ben – US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig abziehen Anlage 2 (Drucksache 16/819) ...... 1799 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der in Verbindung mit Rückgewinnungshilfe und der Vermögensab- schöpfung bei Straftaten (Tagesordnungs- punkt 15) Zusatztagesordnungspunkt 11: (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, DIE GRÜNEN) ...... 1816 A Winfried Nachtwei, (Köln), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nukle- Anlage 3 aren Dammbruch verhindern – Indien an das Regime zur nuklearen Abrüstung, Amtliche Mitteilungen ...... 1816 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1749

(A) (C) Redetext

23. Sitzung

Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident : Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Technikfolgenabschätzung Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes Ausschuss für Tourismus (Art. 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74 a, 75, 84, 85, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 87 c, 91 a, 91 b, 93, 98, 104 a, 104 b, 105, 107, Ausschuss für Kultur und Medien 109, 125 a, 125 b, 125 c, 143 c) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für – Drucksache 16/813 – (B) die Aussprache drei Stunden vorgesehen. – Ich höre kei- (D) Überweisungsvorschlag: nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion. Innenausschuss (Beifall bei der CDU/CSU) Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Volker Kauder (CDU/CSU): Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ausschuss für Arbeit und Soziales Herren! Heute beginnen wir mit der parlamentarischen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beratung des größten deutschen Reformvorhabens in Ausschuss für Gesundheit den letzten Jahren. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Oh, oh!) Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Ich gehe davon aus, dass sich die Grünen noch daran Ausschuss für Kultur und Medien erinnern, dass sie an den Beratungen zu diesem Reform- Haushaltsausschuss werk mit beteiligt waren. b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Föderalismusreform-Begleitgesetzes An den richtigen Stellen!) – Drucksache 16/814 – Wir beginnen mit den Beratungen dieses Reform- Überweisungsvorschlag: werks gleichzeitig in Bundestag und Bundesrat. Denn Rechtsausschuss (f) Bund und Länder haben dieses Reformwerk gemeinsam Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und erarbeitet und auf den Weg gebracht. In der Vergangen- Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss heit gab es viele Anläufe zu dieser notwendigen Reform. Innenausschuss Sie sind bisher alle gescheitert. Sportausschuss Finanzausschuss Heute aber legen wir ein Ergebnis vor, ein Ergebnis, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie das die föderale Ordnung unseres Landes zukunftsfähig 1750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Volker Kauder (A) macht. Unser Land braucht diese Reform. Wir werden Wir als Union haben uns schon immer für das Prinzip (C) den globalen Wettbewerb nicht bestehen, wenn wir uns der Subsidiarität stark gemacht. Das ist keine abstrakte weiterhin langwierige und komplizierte Gesetzgebungs- Theorie, sondern ein Grundsatz, der besagt, dass Ent- verfahren leisten. scheidungen auf der Ebene gefällt werden sollen, auf der die Sachverhalte am besten beurteilt werden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das, was Länder oder Kommunen besser regeln können, neten der SPD) soll auch von den Ländern und Kommunen geregelt wer- Das Hin und Her zwischen Bundestag und Bundesrat hat den. In der Praxis sind wir diesem Grundsatz nicht mehr uns in der Vergangenheit oft genug blockiert. Es hat uns ausreichend gerecht geworden. Mit der Föderalismusre- langsamer und schwerfälliger gemacht. form stärken wir den Gedanken der Subsidiarität. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Entscheidend ist, sich vom rein theoretischen Ansatz zu verabschieden. Mit der Föderalismusreform und der Mit der Föderalismusreform befreien wir uns von die- Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips bringen wir die ser Selbstblockade. Wir gewinnen an gesetzgeberischer Politik wieder näher an die Menschen heran. Entschei- Handlungsfähigkeit; wir gewinnen an Gestaltungskraft. dungen werden zukünftig dort gefällt, wo die Menschen Dies brauchen wir in dieser Zeit. mitreden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Nur mit dieser Reform können wir das Veränderungs- tempo der Globalisierung mitgehen. Nur mit dieser Re- Von der Föderalismusreform, die wir heute einleiten, form werden wir von Getriebenen zu Antreibern. geht eine Botschaft an Europa, an Brüssel aus. Auch dort muss das Prinzip der Subsidiarität wieder stärker beach- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tet werden. In Brüssel soll nur das geregelt werden, was neten der SPD) wir in den Nationalstaaten nicht selber regeln können. Bei vielen Entscheidungen, die zwischen Bundestag (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und Bundesrat mühsam ausgehandelt wurden – ich weiß, Mit der Föderalismusreform fördern wir den Wett- wovon ich rede; denn ich war drei Jahre Mitglied des bewerb zwischen den Ländern und das ist gut so. Nur Vermittlungsausschusses –, war nachher oft nicht mehr für die Zaghaften und Mutlosen ist Wettbewerb etwas klar, wer wofür die Verantwortung trägt. Negatives. Nur diejenigen, die sich nichts zutrauen, ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- suchen, den Wettbewerb zu verhindern. Wir trauen uns (B) neten der SPD) aber etwas zu, liebe Kolleginnen und Kollegen. (D) Wir selbst im Deutschen Bundestag haben uns oft darü- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ber gewundert, wie ein Gesetz ausgesehen hat, das wir neten der SPD) im Bundestag verabschiedet haben, nachdem es aus dem Wettbewerb zwischen den Ländern heißt: Künftig Vermittlungsausschuss erneut in den Bundestag ge- setzt der Beste den Maßstab. Nur so kommt unser Land kommen ist. Das wird so nicht mehr stattfinden. voran. Wir dürfen unser Heil nicht im Mittelmaß suchen. Unser Land braucht Exzellenz. Wettbewerb ist ein Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- deckungsverfahren für Exzellenz. Eine Stärkung des neten der SPD) Wettbewerbs zwischen den Ländern wird mehr zum Die Föderalismusreform schafft wieder mehr Klar- Bürokratieabbau und zur Vereinfachung von Verwal- heit. Sie weist Kompetenzen eindeutig zu und macht tungsverfahren beitragen als jede theoretische Ankündi- deutlich, wo die Länder und wo der Bund Verantwortung gung zu diesem Thema. tragen. Deshalb stärkt eine Reform des föderalen Sys- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tems, wie sie heute vorgelegt wird, unsere Demokratie. neten der SPD – Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) PISA ist kein Schock, sondern ein Weckruf, es den er- Natürlich nehmen damit die Gesetzgebungskompe- folgreichen Ländern gleich zu tun, und zwar im Wettbe- tenzen der Länder zu. Aber ganz entgegen manchen Be- werb der Länder innerhalb Deutschlands, aber auch in fürchtungen, die geäußert werden, schwächen wir damit Europa. Im Korsett des einheitlichen Mittelmaßes hätte nicht den Bund; wir stärken ihn vielmehr. Viele Ent- sich kein Land erfolgreich profilieren können. scheidungen können wir nun hier im Deutschen Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU) tag endgültig ohne Zustimmung der Länder treffen. Das, was in der Öffentlichkeit und in manchen Kommentaren Für die Freiheit, in bestimmten Fragen eigene Wege in den Medien immer wieder als Kuhhandel bezeichnet zu gehen und eigene Lösungen zu entwickeln, sind die wird, wird zukünftig nicht mehr stattfinden. Durch die Länder bereit, auf Einfluss im Bund zu verzichten. Die Föderalismusreform entflechten wir unser politisches Reform macht daher etwas wahr, was viele nicht mehr System und davon profitieren beide: Bund und Länder. für möglich gehalten haben. „Deutschland lässt sich doch reformieren“, titelte die „Neue Zürcher Zeitung“ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vor einigen Tagen zur Föderalismusreform. Manchmal neten der SPD) müssen wir uns vom Ausland daran erinnern lassen, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1751

Volker Kauder (A) wir nur mit Zuversicht, nicht aber mit Bedenken weiter- lich ein Umweltgesetzbuch des Bundes möglich. Das (C) kommen. Für uns sollte zu Beginn der Debatte im Deut- werden wir schaffen. schen Bundestag und in seinen Ausschüssen das Wort von Tucholsky nicht gelten, der einmal gesagt hat: Wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – der Deutsche nichts mehr hat, Bedenken hat er immer Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- noch. NEN]: Ha, ha!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Frau Künast, neten der SPD – Dr. Guido Westerwelle (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [FDP]: Meinen Sie Herrn Platzeck?) NEN]: Guten Morgen!) – Ich glaube, Herr Kollege Westerwelle, dass diesen die Wortkaskade „Ha, ha!“ habe ich wohl vernommen. Hinweis jeder verstanden hat, der ihn verstehen soll. Aber soweit ich mich erinnern kann, ist dieses Umwelt- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie gesetzbuch in Ihrer Regierungszeit nicht in Kraft getre- bei Abgeordneten der SPD und der FDP) ten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Tatsächlich sind wir mit der Reformgesetzgebung ei- neten der SPD – Renate Künast [BÜND- ner großen Herausforderung gerecht geworden. Denn es NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wer hat es im ging nicht darum, eine Position des Bundes zu formulie- Bundesrat abgelehnt?) ren; es ging vielmehr darum, gemeinsam mit den Län- dern eine von beiden Seiten getragene Lösung zu finden. – Frau Künast, Sie sollten einmal zuhören, manchmal Auch die Länder waren sich nicht von vornherein in je- kann man etwas lernen. der Frage einig. Ein besonderer Stellenwert kommt dem Bereich der Natürlich handelt es sich bei dem, was wir heute vor- Bildung zu. legen, um einen Kompromiss. Was ich immer wieder höre und lese, nämlich dass der Bund einseitig seine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vorstellungen hätte durchsetzen können, zeugt nicht von Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Realismus. Wenn wir zwischen Bundestag und Bundes- NEN]: Oh!) rat eine gemeinsame Lösung erarbeiten wollen, sollen Im Bereich Bildung und Hochschulen können die Län- und in diesem Fall auch müssen, dann wird sich nicht ei- der ihre schon bestehenden Kompetenzen – manchmal ner auf Kosten des anderen zu 100 Prozent durchsetzen bekommt man den Eindruck, als ob die Verantwortung (B) können. Das hat mit Realität nichts zu tun. für die Bildungspolitik bisher ausschließlich beim Bund (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gelegen hätte und jetzt auf einmal auf die Länder über- neten der SPD) tragen werden soll; wir waren noch nie für die Grund- schulen in Deutschland zuständig – abrunden. Bei jeder einzelnen Frage haben wir deshalb das Für und Wider abgewogen. Wir sind zu Ergebnissen gekom- Dass wir hier zu klaren Entscheidungen kommen, ist men, die sich sehen lassen können und von Bund und zwingend notwendig. In keinem Land in Europa gibt es Ländern gemeinsam getragen werden. so viel staatliche Einflussnahme auf das Bildungssystem wie in Deutschland. Daran krankt unser System. Lassen Sie mich ein paar Hinweise zu dem geben, was die Föderalismusreform ausmacht. Wir reduzieren (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Vetorechte der Länder. Gleichzeitig stärken wir NEN]: Ha, ha!) ihre Gesetzgebungskompetenz. Den Kommunen dürfen Wir können uns einen lähmenden Streit zwischen Bund in Bundesgesetzen künftig keine Aufgaben mehr über- und Ländern in diesen Fragen nicht länger leisten. Sie tragen werden. Damit stärken wir das Prinzip der Kon- wissen aus Ihrer Regierungszeit: Immer wieder mussten nexität; ganz einfach gesagt: Wer bestellt, bezahlt in Zu- wir Streit vor dem Bundesverfassungsgericht klären. Das kunft auch. wollen wir in Zukunft nicht mehr. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Organisations- und die Personalhoheit der Länder neten der FDP) werden gestärkt. Ich halte es für einen ganz zentralen Jetzt geht es um mehr Wettbewerb und weniger Zen- Punkt, dass der Bund eine neue Gesetzgebungskompe- tralismus. Die Föderalismusreform muss Wettbewerb tenz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Ter- möglich machen und dazu führen, dass unsere Universi- rorismus erhält. täten mehr Freiheit erhalten. Bei diesem Wettbewerb (Beifall bei Abgeordneten der SPD) geht es nicht nur um einen Vergleich der Länder unterei- nander; es geht um den Wettbewerb zwischen den ein- Ein Blick in das Gesetz erleichtert die Rechtsfindung zelnen Universitäten. Bildung und Wissenschaft – das und auch die Tatsachenerkenntnis. Deswegen möchte wissen wir – kennen keine Grenzen. Der Wettbewerb, ich hier sagen: Wer in die Gesetze hineinschaut, wird er- den ich mir vorstelle, besteht zwischen München und kennen, dass das, was wir uns vorgenommen haben, Harvard, zwischen Heidelberg und Cambridge, zwi- möglich wird. Durch die Föderalismusreform wird näm- schen Aachen und der ETH in Zürich. In diesem Wettbe- 1752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Volker Kauder (A) werb werden unsere Universitäten aber nur bestehen – Herr Gerhardt, davon können Sie von der FDP wahr- (C) können, wenn wir ihnen die Freiheit dazu geben. haftig ein Lied singen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der neten der SPD und der FDP) CDU/CSU, der SPD und der FDP) Der Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern in Ihre Fraktion hat vor lauter Experten manchmal Pro- den vergangenen Jahren hat uns nicht weitergeholfen. bleme zusammenzufinden. Das wollen wir aber jetzt Deshalb führt die Föderalismusreform zu einer notwen- nicht weiter diskutieren. digen Entflechtung. Die Gemeinschaftsaufgabe Hoch- schulbau wird beendet. Der Bund lässt die Länder aber Klar muss sein: Entscheidungen des Bundestages al- nicht allein. Das hat die Bundesbildungsministerin Frau lein reichen nicht aus. Jede Regelung muss von Bundes- Schavan klar und deutlich gesagt. Die gemeinsame För- tag und Bundesrat gemeinsam getragen werden, und derung von Forschungsbauten an Hochschulen ein- zwar mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit. schließlich Großgeräten wird in der Gemeinschaftsauf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gabe Forschungsförderung fortgeführt. Wer das vergisst, der hat übersehen, dass wir es hierbei Wenn wir etwas dringend brauchen, um Arbeitsplätze mit einem besonderen Verfahren zu tun haben. Zu glau- schaffen und die Zukunft unseres Landes sichern zu kön- ben, es reiche aus, zu sagen, man habe einen Wunsch nen, dann ist es Forschungsförderung in großem Um- und dieser könne umgesetzt werden, das hat mit der Rea- fang. Daran wird der Bund beteiligt werden. lität dieses Verfahrens zwischen Bundestag und Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der rat überhaupt nichts zu tun. Darin liegt unsere besondere FDP) Verantwortung. Deswegen ist diese Föderalismusreform auch eine Kon- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido zentration auf Aufgaben. Eine solche Konzentration auf Westerwelle [FDP]: Ein bisschen mehr Beifall, Aufgaben tut in dieser Zeit mehr Not, als mancher Genossen! – Gegenruf des Abg. glaubt. Das wurde in den Diskussionen über die Frage, [SPD]: Kommt noch!) ob wir die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung Herr Kollege Westerwelle, ich stelle das, was ich vor- von Bund und Ländern weiterhin betreiben, auch nie be- hin gesagt habe, ganz bewusst noch in einen anderen Zu- stritten. sammenhang. Wer um die vielen gescheiterten Anläufe In den vergangenen Tagen ist hier, unter den Kolle- zu einer Föderalismusreform weiß – das sage ich auch ginnen und Kollegen, in den Fraktionen, in der Öffent- dem einen oder anderen Kollegen in den Koalitionsfrak- (B) (D) lichkeit und in den Medien viel darüber gesprochen tionen –, wird das vorliegende Ergebnis umso höher ein- worden, ob das Paket Föderalismusreform noch aufge- schätzen und sich darüber bewusst sein, welche Verant- schnürt und verändert werden kann. Das Verfahren, in wortung in dieser Frage im Gesetzgebungsverfahren auf das wir heute mit der ersten Lesung eintreten, ist ein Ge- uns zukommt. setzgebungsverfahren wie jedes andere auch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der neten der SPD) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Die Föderalismusreform ist kein Stückwerk. Sie ist NEN) ein Meilenstein in der Gesetzgebung. Sie stärkt unsere – Ich bin einigermaßen überrascht, dass das solche Be- bundesstaatliche Ordnung und macht sie zukunftsfähig. geisterung auslöst. Sie ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ Unser Land braucht die Föderalismusreform. Deshalb DIE GRÜNEN) bitte ich Sie: Helfen Sie alle mit, dass es diesmal gelingt! Natürlich sind Änderungen an dem vorliegenden Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wurf denkbar. bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, Selbstverständlich werden wir eine ordentliche Exper- FDP-Fraktion. tenanhörung zu diesem großen Reformwerk durchfüh- ren. Ernst Burgbacher (FDP): (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das hatten wir gestern schon!) Lieber Kollege Kauder, Sie haben gerade gesagt: Wir müssen das Veränderungstempo der Globalisierung mit- – Augenblick, Sie sollten immer erst zuhören. – Das gehen. Das ist richtig. Dann haben Sie vom größten wird keine Schaufensterveranstaltung sein. deutschen Reformvorhaben geredet. Auch das ist richtig. (Dr. [FDP]: Das Problem Ein Vorhaben war das. Was aber jetzt auf dem Tisch liegt ist, hier ist jeder Experte!) und was dabei herausgekommen ist, ist eigentlich eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1753

Ernst Burgbacher (A) mutlose Reform, die weit hinter den Erwartungen der heit unter Berufung auf ihren Einsetzungsauftrag abge- (C) Fachleute und der staunenden Öffentlichkeit zurück- lehnt. bleibt. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, genau! So (Beifall bei der FDP – Dr. Peter Struck [SPD]: war das!) Ach! Nein, nein!) So sind nun einmal die Tatsachen. Wir als FDP haben schon zu Beginn des Verfahrens Da ich gerade von der Kommission spreche, gestatten immer kritisiert, dass bei der Konstruktion der Födera- Sie mir bitte, mich bei denjenigen zu bedanken, die uns lismuskommission Fehler gemacht wurden. Damals ha- wesentlich unterstützt haben: bei den hervorragenden ben wir gesagt: Eine solche Reform aus den eigenen Rei- Experten, die die Arbeit der Kommission mit viel Ein- hen schultern zu wollen, wird schwierig. Das hat sich satz begleitet und auch gehofft haben, dass als Ergebnis bestätigt. Wir haben uns damals für den Konvent ausge- der Beratungen etwas mehr herauskommt. Diesen Ex- sprochen. Denn es ist nun einmal schwierig, die Frösche perten möchte ich von dieser Stelle aus für ihre Arbeit damit zu beauftragen, den Sumpf trocken zu legen. Ich ganz herzlich danken. glaube, das Ergebnis, das jetzt auf dem Tisch liegt, be- stätigt diese Einschätzung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Krista Sager (Beifall bei der FDP – Volker Kauder [CDU/ [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) CSU]: Aber auch Frösche haben ein Lebens- recht!) Die FDP hat sich von dieser „Mutter aller Reformen“, wie sie der bayerische Ministerpräsident Stoiber genannt Auch wir haben über ein Jahr lang konstruktiv an den hat, wesentlich mehr erwartet – mich wundert übrigens, Beratungen der Föderalismuskommission teilgenommen dass er heute nicht hier ist – und versucht, etwas zu bewegen. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Er ist doch (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, genau! heute im Bundesrat! Das müssten Sie aber Sie waren auch dabei! Das wollte ich gerade wissen! Vielleicht denken Sie mal ein bisschen sagen!) nach!) Dort, verehrter Herr Kollege Röttgen, haben wir aller- – Entschuldigung, Herr Ramsauer; das war kein dings auch miterlebt, zu welcher Erbsenzählerei es in Angriff –, nämlich eine deutliche Stärkung der Parla- den Projektgruppen manchmal kam: Die Beteiligten sa- mente sowie eine deutlichere Entflechtung der Zustän- (B) ßen teilweise mit einem Taschenrechner da und haben digkeiten mit einer sinnvollen Neuordnung der Kompe- (D) gerechnet: „Was kostet es mich und was bringt es mir?“, tenzen und vor allem einer stärkeren Einbeziehung des ohne dabei auch zu fragen: „Was müssen wir eigentlich Subsidiaritätsprinzips. Das ist nur ansatzweise, aber viel tun, um den großen Wurf zu erreichen?“ Diesen großen zu wenig gelungen. Das Grundproblem besteht unserer Wurf vermissen wir auch in den Gesetzentwürfen, die Meinung nach darin, dass das Ziel, in Deutschland wie- heute auf dem Tisch liegen. der mehr Wettbewerbsföderalismus zu schaffen, wirk- lich nur ansatzweise erreicht wurde. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dieser Wettbewerb wurde von manchen in einer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Weise dargestellt, die mich nur wundern kann. Ich erin- Ich denke, heute kann und muss man feststellen: Es nere mich, dass Frau Kollegin Sager immer vom „entfes- war ein Fehler, wichtige Bereiche auszugrenzen und zu selten Wettbewerb“ geredet und ihn sehr negativ darge- tabuisieren. Hier denke ich zum Beispiel an die Reform stellt hat. Welche Auffassung von Wettbewerb wurde bei der Finanzbeziehungen und an das Thema Länderneu- Ihnen eigentlich da deutlich? Gerade durch Wettbewerb gliederung. Es war falsch, diese Bereiche völlig außen ist die Bundesrepublik Deutschland wieder hochgekom- vor zu lassen. Wie Sie sich sicherlich erinnern, haben men. Durch Wettbewerb sind wir wieder zu Wohlstand wir in den Beratungen der Kommission den Vorschlag gekommen. Unser heutiges Problem ist nicht, dass wir eingebracht, wenigstens den Art. 29 des Grundgesetzes zu viel Wettbewerb hätten, unser Problem ist: Wir haben so zu ändern, dass eine Länderneugliederung, wenn sie zu wenig Wettbewerb. Das müssen wir korrigieren. denn von unten gewollt ist, erleichtert wird. Aber selbst (Beifall bei der FDP) das haben Sie unter Berufung darauf, das gehöre nicht zum Arbeitsauftrag der Kommission, abgelehnt. Das war Viele haben ein völlig falsches Verständnis von ein Fehler. Wir hätten diese Themen offensiver angehen Wettbewerb. Die heute ärmeren Länder zum Beispiel müssen. Dann würde heute auch ein anderes Ergebnis meinen, sie würden unter Wettbewerb prinzipiell leiden. vorliegen. Das ist doch nicht der Fall. Wir wollen einen Wettbe- werb, um die besten Möglichkeiten zu finden. Wir wol- (Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- len Wettbewerb, weil Föderalismus für uns nicht Gleich- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie doch macherei, sondern Vielfalt bedeutet, und aus dieser machen können! Also bitte!) Vielfalt heraus können wir die besten Ergebnisse für un- ser Land erzielen. Das muss die Richtung sein. – Verehrte Frau Künast, das haben wir in der Kommis- sion zweimal beantragt; aber es wurde von ihrer Mehr- (Beifall bei der FDP) 1754 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

(A) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Warum haben wir die Fragestellung nicht erweitert? Wir (C) Kollege Burgbacher, gestatten Sie eine Zwischen- haben als FDP den Antrag eingebracht, in der Föderalis- frage der Kollegin Sager? muskommission zu beschließen, die Autonomie der Hochschulen ins Grundgesetz zu schreiben. Ernst Burgbacher (FDP): (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Sehr gerne. Damit hätten wir einen deutlichen Schritt nach vorn ge- tan. Denn wenn wir die Hochschulautonomie ins Grund- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gesetz geschrieben hätten, hätten wir uns einen Teil der Herr Kollege Burgbacher, Sie hatten mich nach mei- Diskussion über die Verteilung der Kompetenzen zwi- nem Verständnis von Wettbewerb gefragt. Ich frage Sie: schen Bund und Ländern sparen können. Ich habe nicht Stimmen Sie mit mir darin überein, dass Wettbewerb in verstanden, warum die großen Fraktionen nicht den Mut Deutschland in erster Linie zwischen Unternehmen statt- hatten, dem zuzustimmen; wir hätten es uns damit in ei- finden sollte und nicht darin bestehen sollte, für diese nigen Punkten wesentlich erleichtert. Unternehmen möglichst viele unterschiedliche Gesetze zu machen? Stimmen Sie mit mir darin überein, dass in (Beifall bei der FDP) Deutschland ein Wettbewerb zwischen den Bildungsein- Wir als FDP-Fraktion haben nach wie vor Bedenken, richtungen stattfinden muss und nicht darin bestehen was die Beziehungen zwischen Bund und Kommunen sollte, dass die Länder für die Bildungseinrichtungen anbetrifft. Nach der aktuellen Formulierung darf der möglichst viele unterschiedliche Gesetze machen? Bund keine Aufgaben an die Kommunen übertragen. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN große Mehrheit hat sich aber geweigert, das Konnexi- sowie bei Abgeordneten der SPD) tätsprinzip – wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch – aufzunehmen. Ich sage wie der Deutsche Städtetag und Ernst Burgbacher (FDP): die kommunalen Spitzenorganisationen: Es gibt große Verehrte Kollegin Sager, schon Ihre Fragestellung Zweifel an der Praktikabilität der vorgesehenen Rege- zeigt den Denkfehler, den Sie machen. Ich will Ihnen an lung. Es kann durchaus Fälle geben, in denen es vernünf- nur einem einzigen Beispiel zeigen, wozu Wettbewerb in tig ist, dass der Bund Aufgaben an die Kommunen der Bildung führen kann: Das Land Baden-Württemberg überträgt. Dann muss er aber auch das Geld dafür bereit- hat vor vielen Jahren die Berufsakademien eingeführt, stellen. Deswegen werden wir noch einmal beantragen, das Erfolgsmodell schlechthin bei uns im Land. Das das Konnexitätsprinzip im Grundgesetz festzuschreiben. konnte Baden-Württemberg, weil hier Wettbewerb be- Das wäre der sauberste Weg und würde den Kommunen Verlässlichkeit bringen. (B) steht. Wäre der Bund zuständig gewesen, hätten wir (D) noch heute keine Berufsakademien und wären für viele (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Bodo Leute um einiges ärmer. Das ist eine Tatsache. Deshalb Ramelow [DIE LINKE]) will ich Wettbewerb. Ich will auch nicht verschweigen, dass es in unserer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fraktion Bedenken bezüglich der Themen Umwelt, öf- der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ fentliches Dienstrecht und Strafvollzug gibt. Wir hatten DIE GRÜNEN]: Wenn so etwas schon geht, das in der Kommission teilweise ja auch ausführlicher warum müssen Sie dann etwas ändern?) diskutiert. Meine Damen und Herren, wir haben bei dieser Re- Meine Damen und Herren, die Akzeptanz der Födera- form zu viele kleine Schritte gemacht. Die Frau Bundes- lismusreform wird sehr stark davon abhängen, ob wir kanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung gesagt – ich diese Bedenken ausräumen können. Wir können sie nur zitiere –: ausräumen, wenn es ein wirklich sauberes Gesetzge- bungsverfahren gibt. Deshalb verstehe ich nicht, dass in Überraschen wir uns deshalb damit, dass wir die dieser Woche zum Beispiel Anhörungen im Umweltaus- großen Fragen nicht immer aufgegliedert nach Ein- schuss abgelehnt wurden, die bereits beschlossen waren. zelfragen und -interessen angehen, sondern einmal Das ist kein richtiges Vorgehen, dadurch werden Min- im Zusammenhang. derheitenrechte ausgehebelt. Ich kann Sie nur dringend Die Erfüllung dieser Überraschung ist wünschenswert auffordern, jetzt nicht mit der Arroganz der Mehrheit der und ich kann nur hoffen, dass dieses Hohe Haus die großen Koalition vorzugehen, sondern die Rechte der Kraft findet, aus den vorliegenden Gesetzentwürfen jetzt Minderheit in diesem Haus sehr sorgsam zu achten. Die auch dieses große Ganze zu machen und sich nicht in Opposition beteiligt sich an dem Verfahren, aber Sie Einzelfragen zu verheddern. Wir als FDP werden daran müssen der Opposition auch die Rechte dazu lassen. sehr konstruktiv mitwirken; da können Sie sicher sein. (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/ Es gibt aber Punkte, die man wirklich anders hätte an- CSU]: Bei diesen Themen ändert sich nichts! gehen und lösen können. Herr Kollege Kauder, Sie ha- Es bleibt alles!) ben über Bildung und über Kompetenzverteilung gere- det. Warum haben wir immer nur gefragt, wie wir Es ist eine kleine Reform, aber wir haben immer sehr Kompetenzen zwischen Bund und Ländern verteilen? deutlich gemacht, dass wir das konstruktiv angehen. Wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1755

Ernst Burgbacher (A) begreifen unsere Oppositionsrolle nicht so, dass wir jetzt so nicht. – Wir stehen immer noch dazu. Daran hat sich (C) plötzlich alles ablehnen, weil wir in der Opposition sind, nichts geändert. sondern wir begreifen unsere Rolle so, dass wir kon- (Beifall der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/ struktiv handeln. DIE GRÜNEN]) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Plötzlich stimmen Sie allem zu! Sie Ernst Burgbacher (FDP): sind nicht plötzlich in der Opposition! – Fritz Frau Kollegin Sager, ich weiß sehr wohl, wo Sie Be- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie denken angemeldet hatten und wo auch wir das getan sind schon lange in der Opposition!) hatten. – Genau darauf habe ich gewartet. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aha!) NEN]: Ja, wir hören nämlich zu!) Dass ich jetzt von den Grünen aber nur noch ein Nein Es ist schon faszinierend – wir saßen mit den Grünen ja höre – andere Kommentare sind nicht mehr vernehm- immer am Tisch –, wie Sie das Ganze begleitet und jetzt bar –, zeigt, dass Sie sich nicht mehr zu Ihrer Verantwor- vergessen haben, dass Sie einmal in der Regierung wa- tung bekennen. Sie haben regiert und daran sollten Sie ren. sich noch ein kleines Stück erinnern. Das wäre hilfreich für alle. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, sehr gut!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jetzt höre ich nur noch Stimmen, die besagen, dass Sie der CDU/CSU) alles ablehnen. Sie haben es doch mitgetragen. Stehen Sie doch endlich auch einmal dazu. Herr Kollege Kauder, meine Damen und Herren von der großen Koalition, lassen Sie mich noch einmal klar- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der stellen: Wir werden das Verfahren konstruktiv begleiten. SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE Wir haben immer gesagt, wir würden Dinge mitmachen, GRÜNEN]: Nein, nein, Quatsch! Nicht lü- aber unter zwei Bedingungen: gen!) Erstens. Es muss klar sein, dass es vor Abschluss des Meine Damen und Herren, uns liegt jetzt ein Gesetz- Gesetzgebungsprozesses eine feste Vereinbarung da- entwurf vor. Wenn dieser Gesetzentwurf Realität wird, rüber geben muss, dass die Reform der Finanzverfas- wird er im Lande einiges Positive bewirken. Wir werden sung noch in diesem Jahr angegangen wird. Darin muss (B) den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze reduzie- stehen, in welcher Form, mit welchem Zeitplan und mit (D) ren. Über die Zahlen kann man streiten, aber die Reduk- welchen Eckpunkten dies geschieht. Dabei darf es keine tion wird erfolgen. Das bedeutet eine Stärkung der Parla- Tabus geben. – Das ist die eine Bedingung der FDP. Das mente – sowohl eine Stärkung des Deutschen wissen Sie auch und das müssen wir zu Papier bringen. Bundestages als auch eine Stärkung der Landtage – auf Kosten der Ministerpräsidenten. Das begrüßen wir aus- (Beifall bei der FDP) drücklich. Zweitens. Die Länder erhalten tatsächlich erheblich (Beifall bei der FDP) größere Kompetenzen. Deshalb wollen wir von den Län- dern auch wissen, wie sie es bewerkstelligen wollen, Vizepräsident Wolfgang Thierse: dass die Qualität der Bildung erhöht wird. Wir wollen Kollege Burgbacher, gestatten Sie noch eine Zwi- daneben auch wissen, wie sie es bewerkstelligen wollen, schenfrage der Kollegin Sager? dass Bildungsabschlüsse vergleichbar sind und überall anerkannt werden. Die Kultusministerkonferenz hat das nicht geleistet. Sie müssen uns vor Abschluss des Ge- Ernst Burgbacher (FDP): setzgebungsverfahrens sagen, wie das geschehen soll; Aber selbstverständlich. denn Mobilität ist in dieser Republik notwendig. Mobili- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hat der eine tät darf dadurch nicht eingeschränkt, sondern muss be- Geduld! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ein fördert werden. großmütiger Mensch!) (Beifall bei der FDP) Ich höre viel Erstaunliches aus dem Lager der großen Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Koalition. Der Kollege Tauss Herr Burgbacher kann es ja nicht lassen, uns immer persönlich anzusprechen. (Jörg Tauss [SPD]: Ja?) Herr Burgbacher, können Sie sich wenigstens noch zieht durchs Land und erklärt, das Ganze könne man so daran erinnern, nicht machen. Er ist Generalsekretär der baden-württem- bergischen SPD. Sein Kollege Drexler hingegen, der (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein!) Fraktionschef der baden-württembergischen SPD, ver- dass wir, als wir in der Regierung waren, keinesfalls zu kündet überall im Land, dass diese Regelungen ganz toll allem Ja gesagt haben, dass wir nämlich gesagt haben: seien und die SPD mitmachen werde. Herr Tauss, Sie Die Regelungen im Bildungs- und Umweltbereich gehen müssen den Leuten schon erklären, was jetzt stimmt. 1756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Ernst Burgbacher (A) (Widerspruch bei der SPD) nigen bedanken, die die Föderalismusreformkommission (C) über eine lange Zeit wirklich erfolgreich geführt haben. Wir machen das nicht mit. Wir haben eine klare Linie. Das sind Franz Müntefering und Edmund Stoiber. Bei- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koali- den gebührt unser Dank für die Vorarbeit für das, was tion, jetzt ist der Ball in Ihrem Feld. Sie müssen uns wir heute beraten. schon sagen: Wollen Sie auf diesem Weg weitergehen oder stimmen die Meldungen, dass dieser Beschluss in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der SPD-Fraktion überhaupt nicht mehrheitsfähig ist? Wir sagen noch einmal ganz klar: Unter den genannten Dass wir unser Grundgesetz ändern müssen, steht au- Bedingungen haben Sie unsere konstruktive Unterstüt- ßer Frage; Volker Kauder hat das überzeugend dargelegt. zung. Wir haben unsere Bedingungen klar gemacht. Wir Auch zu Herrn Kollegen Burgbacher von der FDP-Frak- wollen die Reform. Wir wären gerne einen größeren tion muss ich sagen: Sie haben überhaupt keine Zweifel Schritt gegangen. Aber wenn der kleinere Schritt der daran geäußert, dass Änderungsbedarf besteht. Einstieg in eine gute Reform ist, dann soll er an der FDP Jetzt reden wir über die Frage, wie das gehen soll. Wir nicht scheitern. reden auch über die Frage, inwieweit wir das zusammen Herzlichen Dank. mit den Ländern machen können. Ich will zunächst ein- mal darauf hinweisen, dass es ein Fehler wäre, zu glau- (Beifall bei der FDP) ben, dass der Bund im Gegensatz zu den Ländern eine einheitliche Position vertritt. Natürlich gibt es innerhalb Wolfgang Thierse (SPD): unserer Fraktion und zwischen den Fraktionen im Parla- Ich erteile das Wort Kollegen Peter Struck, SPD- ment unterschiedliche Auffassungen. Das haben wir im Fraktion. Vermittlungsausschuss oft genug erlebt. Dass wir Rege- lungen finden müssen, um die Zahl der zustimmungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten pflichtigen Gesetze zu reduzieren, steht außer Frage. der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 100 oder nicht 100?) (Beifall des Abg. [SPD]) Die Frage ist natürlich: Wie groß ist tatsächlich der Dr. Peter Struck (SPD): Umfang der Gesetze, die dann nicht mehr zustimmungs- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und pflichtig wären? Wir haben die Bundestagsverwaltung Herren! Das parlamentarische Verfahren zur Föderalis- darum gebeten, uns anhand der letzten Gesetzgebungs- musreform beginnt heute. Es ist nicht am Ende; das will vorhaben darzulegen, wie das Verhältnis aussehen ich deutlich sagen. Das heißt auch, das Ergebnis ist of- würde, wenn die Föderalismusreform schon in Kraft ge- (B) fen. wesen wäre. Wir werden sehen, dass diese Reform schon (D) (Beifall bei der SPD) etwas bringen wird; daran habe ich gar keinen Zweifel. Zu dem Verfahren gehören – Kollege Kauder hat das Wenn man hier im Bundestag über die Länder redet, ausgeführt – ausführliche Anhörungen, Diskussionen hat man bei den Debatten den Eindruck, als gehe es nur und, wenn es sich als notwendig erweist, Änderungen um die „bösen“ Ministerpräsidenten, betrachtet von der am Gesetzestext. jeweils anderen politischen Seite. Aber wenn wir über die Länder reden, Herr Burgbacher, dann reden wir auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) über Landtage. Wir reden dann auch über neue Zustän- Erst wenn der Bundestag und der Bundesrat diese Re- digkeiten für die Landtage, nicht nur für die Ministerprä- form jeweils mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen sidenten. haben, ist sie in Kraft getreten, aber erst dann. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) bei Abgeordneten der FDP) Ich halte auch nichts von Äußerungen, dass die Reform Ich traue den Landtagen einiges zu. Wenn man ihnen dann, wenn man dieses oder jenes ändern würde, nicht eine Zuständigkeit gibt, heißt das für mich nicht automa- mehr in Kraft treten könne. Auch halte ich nichts von tisch, dass sie dann etwas Verrücktes beschließen. Das Äußerungen aus meiner Fraktion, die ihre Zustimmung ist ganz sicher nicht der Fall. Sie werden vielmehr ge- von Bedingungen abhängig machen. Das betrifft auch nauso sorgfältig abwägen, um zum Wohle des Landes zu hier im Saal Anwesende. entscheiden, wie wir das im Bundestag tun. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der Trotzdem müssen wir über einige Punkte ausführlich FDP) sprechen. Ich beginne mit der Bildungspolitik. In dem neuen Art. 104 b Grundgesetz wird vorgeschlagen, dass Vielmehr müssen wir ausführlich beraten. Wofür ist der Bund in den Bereichen keine Finanzhilfe mehr leis- denn sonst das parlamentarische Verfahren da? ten darf, in denen die ausschließliche Gesetzgebungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kompetenz bei den Ländern liegt. Nicht nur in meiner der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Fraktion gibt es dagegen ernst zu nehmende Bedenken. GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich will vorweg nicht nur einer Pflicht, sondern auch der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- einem Wunsch nachkommen. Wir müssen uns bei denje- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1757

Dr. Peter Struck (A) Diese Regelung würde nämlich konkret bedeuten, höchst sensibler Punkt, der nicht nur unter finanziellen (C) dass der Bund generell in der Bildungspolitik keine Ak- Aspekten betrachtet werden darf, zente mehr setzen darf. Ist das wirklich gewollt? Wird das von allen Ländern gleichermaßen beurteilt? Oder hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten man sich in dieser Frage von den Bedenken lediglich ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nes Landes leiten lassen? Ich kann mir schwer vorstel- nach dem Motto „In reichen Ländern steht mehr Geld für len, dass Länder erklären, sie wollten kein Geld vom pflegebedürftige Menschen zur Verfügung, in armen Bund haben. Das war in den vergangenen 15 Jahren im- Ländern weniger“. mer anders. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Beifall des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Diskussionswürdig ist des Weiteren – das hat der Kol- Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) lege van Essen bereits gestern in der Geschäftsordnungs- debatte nicht ganz zu Unrecht angesprochen – das Gerade in diesem Bereich hat das Ganztagsschulpro- Thema Strafvollzug. Nach meiner Kenntnis war nie be- gramm gezeigt, dass der Bund mit seinen Finanzzuwei- absichtigt, den Strafvollzug in die alleinige Kompetenz sungen richtige und zukunftsweisende Weichen stellen der Länder zu übertragen. und vor allem auch Diskussionen auslösen kann. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Was? Das habt ihr doch unterschrie- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ben!) GRÜNEN) Wenn Sie heute jemanden fragen, wem das eingefallen Deshalb bin ich sehr dafür, dass im Laufe der Beratun- ist, dann will es keiner gewesen sein. gen im Bundestag und Bundesrat die Frage ernsthaft ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- prüft wird, ob das Kooperationsverbot in der vorgesehe- NEN]: Ich weiß aber, wer es war! – Gegenruf nen Fassung sinnvoll ist oder nicht. Ich neige eher zu des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie wis- Letzterem, um das deutlich zu sagen. sen doch alles, Frau Künast! – Gegenruf der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das steht im Stoiber/ GRÜNEN) Müntefering-Papier!) (B) Ich bin den Ländern auch dankbar, dass Bundestag – Nein, es ging um die Frage, wie es dazu gekommen ist, (D) und Bundesrat, wie heute Morgen mitgeteilt wurde, ein die Zuständigkeit übertragen zu wollen. gemeinsames Anhörungsverfahren durchführen werden. (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Sie leiden un- Ich glaube, damit wird den Bedenken der Opposition ei- ter Gedächtnisverlust!) nigermaßen Rechnung getragen. Eigentlich passt das auch nicht zu der im Koalitions- Wir müssen auch über das Umweltrecht reden. vertrag getroffenen Vereinbarung, erstmals ein Untersu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des chungshaftvollzugsgesetz und ein Jugendstrafvollzugs- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gesetz zu schaffen. Bei der Übertragung der Kompetenz auf die Länder ist zu befürchten, dass diese Bereiche Das ist ein weiterer Punkt, der ausführlich diskutiert nicht in allen Ländern geregelt werden. Ich frage Sie: Ist werden muss. Wird mit der beabsichtigten Regelung tat- ein Wettbewerb um die härtesten und strengsten Knäste sächlich eine klare Rechtssicherheit gewährleistet oder in Deutschland sinnvoll? Wollen wir das wirklich? trägt die vorgesehene Lösung nicht vielmehr zur Zer- splitterung des Umweltrechts, zur möglichen Absenkung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Umweltstandards und zu einem für die Unternehmen DIE GRÜNEN) nicht mehr tragbaren bürokratischen Aufwand bei? Auch Das sind Punkte, die wir in den Ausschüssen diskutie- diese Fragen müssen geprüft werden. ren müssen. Ich kann sehr gut verstehen, dass unsere Ab- geordneten, ich persönlich auch, darauf fundierte Ant- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- worten haben wollen. Nur weil etwas eingebracht KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- worden ist, muss es nicht so beschlossen werden. Dieser NEN) alte Grundsatz gilt nach wie vor. Auch das Heimrecht ist ein sehr diskussionswürdiger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Punkt. Wir haben das Heimrecht erst vor wenigen Jahren der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- novelliert. Die Kompetenz dafür soll auf die Länder SES 90/DIE GRÜNEN) übergehen. Das kann – es muss aber nicht – in den Bun- desländern zu unterschiedlichen Qualitätsstandards bei Ich will in diesem Zusammenhang einen weiteren der Pflege führen. Es gab bereits eine Bundesratsinitia- Aspekt nennen. In allen Verfassungen der Bundesländer tive, in den Ländern unterschiedliche Regelungen für die sind Kultur und Sport als Staatszielbestimmungen Personalausstattung festzulegen, um künftig Personal definiert. Auch die europäische Verfassung, die wir einzusparen. Die Pflege von Menschen ist aber ein schon ratifiziert haben, die die Europäische Union in 1758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Peter Struck (A) besonderer Weise zur Förderung und zum Schutz von Offenheit sorgen, die wir brauchen, wenn wir tatsäch- (C) Kultur und Sport verpflichtet, sieht ähnliche Regelungen lich eine Reform bekommen wollen, die diesen Namen vor. Wir sollten zumindest ergebnisoffen prüfen, ob eine verdient. Zurzeit erleben wir nur, dass die Reform in ei- solche Bestimmung, die Staatszielbestimmung „Förde- ner Art und Weise auf den Weg gebracht wird, bei der rung der Kultur und des Sports“, nicht auch in das ganze Bereiche ausgegrenzt werden. Ich darf daran erin- Grundgesetz Eingang finden sollte. nern: Ich gehörte als Fraktionsvorsitzender aus dem Thüringer Landtag dem Lübecker Konvent an. Die Tinte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unter dem Papier, das die Basis für die Föderalismusde- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE batte abgeben sollte – sie ist ja dringend notwendig und GRÜNEN und des Abg. [FDP]) ich sage ausdrücklich: Niemand bezweifelt, dass sie ge- Ich komme zum Schluss. Es besteht überhaupt kein führt und erfolgreich zu Ende gebracht werden muss –, Zweifel daran, auch für mich und meine Fraktion nicht, war noch nicht trocken, da wurden alle Fraktionsvorsit- dass die Föderalismusreform beschlossen werden muss. zenden und alle Fraktionen der PDS aus den Landtagen Ich wollte mit meinem Beitrag nur deutlich machen, einfach aus dem Prozess ausgegrenzt. Man hat uns gar dass in der Tat für mich das, was eingebracht worden ist, nicht mehr eingeladen; man hat uns nicht einmal mehr noch nicht das letzte Wort ist. Das kann auch nicht sein. mit einem Vertreter in der Kommission mitarbeiten las- Jeder Abgeordnete würde seine Rechte sozusagen an der sen. Das war der erste Punkt. Garderobe abgeben, wenn er sagte: Ich muss das alles Zweiter Punkt. Herr Struck hat das, was auf den Weg abnicken. – Das machen wir ja auch nicht. gebracht worden ist, als offenen Prozess dargestellt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber gleichzeitig sorgt die SPD im Bundesrat dafür, dass der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- der Prozess nicht mehr offen ist. Herr Beck lässt heute SES 90/DIE GRÜNEN) als Wahlkämpfer verlautbaren, die ostdeutschen Bundes- länder hätten wohl ein gestörtes Verhältnis zum Zentral- Es gibt eine Reihe von Punkten, die wir diskutieren staat oder litten an einer zentralstaatlichen Nostalgie. müssen. Das Parlament wird sich dazu die nötige Zeit Deswegen bringt er wohl die gleichen Gesetzentwürfe, nehmen; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Wir wer- die hier als Diskussionsgrundlage eingebracht werden, den alle Sachverständigen, die von den Oppositionsfrak- gleichzeitig in den Bundesrat ein, sodass das Vermitt- tionen und den Koalitionsfraktionen vorgeschlagen wer- lungsverfahren wesentlich komplizierter wird. Ich habe den, bitten, uns Auskunft zu geben. Am Ende werden den Eindruck, dass es angebrachter ist, die Föderalis- wir eine Föderalismusreform beschließen, die unser musreform, die Herr Stoiber als die „Mutter aller Refor- Land zukunftsfähiger macht, die die Entscheidungen men“ bezeichnet, mit dem Wortpaar „Edelstahl und (B) hier im Parlament transparenter macht, die von den Bür- Diebstahl“ zu qualifizieren. Beides hat nichts miteinan- (D) gern akzeptiert werden wird und die auch von den Abge- der zu tun. Von einer Mutter aller Reformen kann ich je- ordneten des Deutschen Bundestages getragen wird. denfalls nicht sonderlich viel erkennen. Ich sehe nur, Vielen Dank. dass wir eine Rolle rückwärts in die feudale Kleinstaate- rei machen, in der Herrn Koch und anderen gedient wird. (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- (Beifall bei der LINKEN) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich appelliere an alle Vertreterinnen und Vertreter der neuen Bundesländer, über Folgendes einmal parteiüber- Vizepräsident Wolfgang Thierse: greifend und kritisch nachzudenken: Sowohl die A-Län- Ich erteile das Wort dem Kollegen Bodo Ramelow, der als auch die B-Länder, die im Bundesrat federfüh- Fraktion Die Linke. rend am Verfahren beteiligt sind, sind ausschließlich Westländer. Das heißt, der gesamte Osten Deutschlands (Beifall bei der LINKEN) wird in dem Verfahren, über das wir hier zurzeit disku- tieren, völlig abgemeldet. In einem Punkt gebe ich der Bodo Ramelow (DIE LINKE): FDP ausdrücklich nicht Recht. Wettbewerbsföderalis- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! mus ist nicht unser Ziel. Man möchte Herrn Fraktionsvorsitzenden Struck direkt Recht geben und sagen: Wenn dem so wäre, dass wir das (Beifall bei der LINKEN) alles diskutieren würden, und wenn der Prozess so offen Wir wollen zwar eine Neuordnung des Föderalismus. wäre, wie Sie ihn eben als notwendig beschrieben haben, Aber Wettbewerbsföderalismus auf dem Rücken der dann würden auch wir uns eingeladen fühlen, auf diesem strukturschwächeren Regionen bedeutet, ganze Regio- Weg mit Ihnen gemeinsam zu gehen, um dann am nen in Deutschland komplett abzuhängen. In diesem Zu- Schluss mehr zu erhalten als das, was im Moment von sammenhang möchte ich auf die Steuerdeckungsquote Herrn Stoiber als die „Mutter aller Reformen“ bezeich- der Bundesländer hinweisen. Ihre Bandbreite reicht re- net wird. aliter von 37 bis 73 Prozent. Das heißt, die starken Bun- (Beifall bei der LINKEN) desländer können sich die geplante Föderalismusreform erlauben. Aber die schwachen Bundesländer werden ab- Herr Struck, ich hatte aber eher den Eindruck, dass gehängt. Letztendlich werden wir erleben, dass der Wett- Sie Ihre Fraktion, die ja ein Teil der großen Koalition ist, bewerbsföderalismus zum Abbau von Standards führt. befrieden wollten und dass Sie nicht für die notwendige Das kann aber nicht unser Ziel sein. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1759

Bodo Ramelow (A) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ich will es Ihnen an einem Beispiel deutlich machen, (C) Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dem Thema Umwelt. Jetzt soll das Umweltgesetzbuch NEN]) eingeführt werden. Es soll aber gleich wieder von den Ländern außer Kraft gesetzt werden können bzw. die Ich möchte der FDP allerdings ausdrücklich Recht Standards sollen gesenkt werden können. Was ist denn geben, dass alle Fragen betreffend die Finanzbeziehun- das für ein Unsinn? gen in die Reform einbezogen werden müssen. Sie au- ßen vor zu lassen ist schon einmal ein zentraler Fehler. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist Herr Struck, ich begrüße Ihre Ausführungen über die schlicht und ergreifend falsch!) Kultur. Aber ich wünsche mir, dass wir, wenn wir schon Ich denke auch an den Hochwasserschutz. Erinnern Sie das Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit ändern, Subsi- sich doch einmal an das Elbe- bzw. Oderhochwasser! Er- diarität und Konnexität als Prinzipien festschreiben und innern Sie sich an die Hamburger Sturmflut! Wollen wir so die Kommunalparlamente und die Landesparlamente wirklich zulassen, dass es 16 verschiedene Standards bei ermutigen. Denn dann wäre endlich klargestellt: Wer die solchen Katastrophen gibt? Glauben Sie, die Flutwelle Musik bestellt, bezahlt sie auch. Das bedeutete auch wäre in einem Fluss unterschiedlich, nur weil er ver- mehr Freiraum für die Kommunen. Diese Prinzipien schiedene Bundesländer durchfließt? Was soll denn an müssen also im Grundgesetz verankert werden. Dabei der Grenze zwischen zwei Bundesländern geschehen, dürfen aber die Finanzbeziehungen nicht vergessen wer- die der Fluss durchquert? Soll es da unterschiedliche den. Standards und unterschiedliche Deiche geben? Das, was Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen der Sie in Sachen Umwelt beabsichtigen, ist ein Schritt in FDP und der Linken. die Kleinstaaterei. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Viele! Ganz Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine viele!) zweite Anmerkung. Sie verlagern alle Kompetenzen auf die Länder, nur die Atompolitik soll Sache des Bundes – Herr Westerwelle, das stimmt. Damit haben Sie Recht. bleiben. Alles, was uns umgibt, ist aus Atomen zusam- Deswegen bin ich nicht auf Ihrer Seite. mengesetzt, selbst die Luft, die wir atmen. Bleibt also über diesen Umweg alles in der Hoheit des Bundes? Wir unterscheiden uns eindeutig, wenn es um die Oder wie soll ich diesen Unsinn verstehen, den Sie auf Steuereinnahmenseite geht. Wir sagen: Damit sich Bund, den Weg bringen wollen? Länder und Kommunen finanzieren und entschulden können, brauchen wir ein klares Bekenntnis zur Wieder- (Beifall bei der LINKEN) (B) einführung der Vermögensteuer, der Börsenumsatzsteuer Kommen wir zum Thema Justiz. Ich bin erstaunt, (D) und anderer Steuerarten. dass Sie, Herr Struck, sagen, die Kompetenzverlagerung (Beifall bei der LINKEN) habe niemand vor. Ich frage mich dann allerdings, wa- rum alle Fachleute, die sich bisher mit dem Teil der Fö- Wir lehnen Wettbewerbsföderalismus in der Bundesre- deralismusreform, der die Justiz betrifft, beschäftigt ha- publik Deutschland ganz klar ab. Wir wollen vielmehr ben, kategorisch ablehnen, dass diese Kompetenzen einen kooperativen Föderalismus, der die Aufgaben neu künftig unter die Länderhoheit fallen sollen. Es muss, verteilt. was den Justizvollzug betrifft, nationale Standards ge- ben. Es ist ein Skandal, diesen Bereich den Ländern zu In der gestrigen Sitzung des Vermittlungsausschusses überlassen. Ich habe eben auf die Steuerdeckungsquote ist ein verehrter Kollege nach vielen Jahren und hingewiesen. Arme Länder können dann darüber nach- 60 Sitzungen verabschiedet worden. Der Vorsitzende des denken, ob sie die Knäste privatisieren und es den priva- Vermittlungsausschusses hat sich bei ihm für die geleis- ten Betreibern überlassen, die Standards zu setzen. Das tete Arbeit bedankt. Der Kollege hat darauf geantwortet, halten wir für katastrophal und für den falschen Weg. man habe im Vermittlungsausschuss hervorragend zu- sammengearbeitet und oft die Probleme lösen müssen, (Beifall bei der LINKEN) die die Parteivorderen ihnen eingebrockt hätten. Ich Ich glaube, dass der Kollege Beck beim Thema glaube, so nehmen das auch die Menschen in diesem Bildung vor lauter Wahlkampf in Rheinland-Pfalz die Land wahr. Über die Relation zwischen Bundestag und wesentlichen Dinge aus den Augen verloren hat. Er be- Bundesrat wird nicht im Vermittlungsausschuss ent- zichtigt die ostdeutschen Länder, sie hätten ein merk- schieden, sondern in erster Linie in den strategischen würdiges Verhältnis zum Zentralstaat. Das mag sich so Abteilungen der Parteizentralen. So hat man seit Jahren darstellen, wenn man aus dem Blickwinkel der südlichen und Jahrzehnten Bundestag und Bundesrat in parteipoli- Weinstraße oder von Trier aus Mainz betrachtet. Tat- tische Frontstellung zueinander gebracht. sächlich aber ist die Erfahrung der neuen Bundesländer, Nun sitzen die Strategen gemeinsam in der großen dass man mit längerem gemeinsamen Lernen und natio- Koalition und wollen eine große Föderalismusreform auf nalen Bildungsstandards mehr erreicht als durch Klein- den Weg bringen. Wir können nur feststellen: Diese Art staaterei, die Sie gerade auf den Weg bringen. der Herangehensweise ist mutlos, kraftlos und sogar (Beifall bei der LINKEN) ziellos. Deswegen wäre es auch hilfreich, in Sachen nationale (Beifall bei der LINKEN) Bildungsstandards nicht nur nach Finnland, sondern 1760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Bodo Ramelow (A) auch einmal in die ehemalige DDR zu schauen. Man che Privilegien geht. Es geht vielmehr um die Trennung (C) könnte dann ein wenig davon finden, was in Finnland er- und Atomisierung von Menschen im öffentlichen folgreich umgesetzt worden ist. Dienst. Es wäre gut, ein einheitliches Dienstrecht zu ha- ben. (Zuruf des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Die Menschen im Lande haben eh das Gefühl, dass – Sie können einfach nach Finnland schauen, wenn Ih- Bundestag und Bundesrat immer nur versuchen, sich ge- nen das leichter fällt. Es fällt Ihnen ideologisch schwer, genseitig auszubremsen. Wir sind sehr gespannt darauf, die Struktur der DDR-Schule an bestimmten Stellen zu sehen, wie lange die große Koalition das Verhältnis – ich rede nicht von Margot Honecker und der Ideologie, zu den Bundesländern austarieren kann. Ob der Vermitt- sondern von den Bildungsstandards – einfach anzuer- lungsausschuss in dieser Legislatur Arbeit bekommt, kennen. wissen wir nicht. (Beifall bei der LINKEN) Eines darf ich Ihnen sagen: Eine Föderalismusreform, Die Industrie- und Handelskammer Südthüringen – sie die diesen Namen verdienen möchte, muss die Men- ist nicht verdächtig, uns nahe zu stehen – hat festgestellt, schen mitnehmen, muss sie überhaupt erreichen. Wenn dass polytechnischer Unterricht in den Schulen heute wir das Grundgesetz ändern – wir wollen es; Sie haben fehlt. Interessant ist doch, dass ausgerechnet Wirt- beschlossen, entsprechende Gesetzesinitiativen auf den schaftsvertreter diesen Teil der Föderalismusreform für Weg zu bringen –, dann lassen Sie uns folgende Punkte falsch halten. Deswegen ermuntere ich Sie: Schauen Sie im Grundgesetz verankern: sich doch einfach einmal das Bildungssystem genauer Erstens: Kulturförderung, Konnexitätsprinzip und das an! Prinzip „mehr direkte Demokratie“. Das Verhältnis der (Beifall bei der LINKEN) Bürger zu ihrem Staat wäre damit ein Stück weit ge- stärkt. Wir fordern deswegen, mehr direkte Demokratie Das Gleiche gilt auch für die Hochschulen. Wenn man im Grundgesetz zu verankern. Exzellenzstandorte haben will, dann müssen die Hoch- schulen auch mit den entsprechenden finanziellen Mit- (Beifall bei der LINKEN) teln ausgestattet sein. Darüber hinaus sagen wir katego- Das wäre ein Element der Neuordnung der Strukturen in risch Nein zu Studiengebühren. Deutschland. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens: das Subsidiaritätsprinzip. Eine weitere Bemerkung zum Beamtenrecht. Ich Drittens: nationale Standards für Bildung. Gemeint (B) finde es hocherstaunlich, dass der verehrte Ministerpräsi- sind sämtliche Bildungsstandards, also auch nationale (D) dent Dieter Althaus am letzten Wochenende die 42-Stun- Standards für Hochschulen. den-Woche gefordert hat, und das trotz des Streiks im öf- Viertens: nationale Umweltstandards. Ziel sollte ein fentlichen Dienst. Er sagte, die 42-Stunden-Woche sei Umweltgesetzbuch sein, das diesen Namen verdient hat die Lösung für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst. und nicht anschließend infrage gestellt wird. Er fordert sie für West- und Ostdeutschland. Es war die CDU in Thüringen, die die 42-Stunden-Woche für Be- Fünftens: ein einheitliches Dienstrecht für ganz amte durchgepeitscht hat, und jetzt empfiehlt sie, dass Deutschland. Ich empfehle Ihnen einen Blick auf das Ar- den Angestellten im öffentlichen Dienst dasselbe zuge- beitsgesetzbuch der DDR. Sie müssen es nicht überneh- mutet wird. Das tut sie auch noch, obwohl zurzeit ge- men. streikt wird. Diese Form der Solidarität verbitten wir uns. Wenn Sie Mut hätten – deshalb habe ich vorhin von (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Mutlosigkeit geredet –, dann würden Sie ein einheitli- CSU – Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Die ches Dienstrecht für Deutschland schaffen. Keine Tren- Stasi auch?) nung mehr zwischen Arbeitern, Angestellten und Beam- – Sie können weiter aus ideologischen Gründen auf- ten. Das wäre ein mutiger Schritt nach vorne, ein schreien. Aber es würde sich lohnen, hinzuschauen. – einheitliches Arbeitsgesetzbuch. Vergleichen Sie das Arbeitsgesetzbuch der DDR einmal mit dem deutschen Arbeitsrecht! Wer entbürokratisieren (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- will, der sollte 30 Formen von Arbeitsrecht beseitigen neten der SPD) und durch ein einheitliches Dienstrecht ersetzen. Was aber machen Sie? 16 Beamtenrechte auf Länder- (Beifall bei der LINKEN – Volkmar Uwe ebene plus ein Bundesbeamtenrecht heißt 17 verschie- Vogel [CDU/CSU]: Soll die Führung durch die dene Rechtssituationen. Die kommen zu dem atomisier- PDS auch ins Grundgesetz?) ten Arbeitsrecht hinzu, das wir in Deutschland ohnehin haben. Das ist rückwärtsgewandt. Deswegen wäre es – Wenn Sie möchten: Bitte, gerne. Im Gegensatz zu Ih- gut, in Analogie zur Überleitung des Bundes-Angestell- nen übernehmen wir die Verantwortung, auch wenn Sie tentarifvertrages in den TVöD das Dienstrecht in das immer leugnen. Deutschland insgesamt zu öffnen und damit einen Sechstens: Hände weg von Justiz und Strafvollzug! Schritt nach vorne zu kommen. Ich glaube, dass Sie den Beamtenbund auf Ihre Seite ziehen können, wenn sich Siebtens: eine bundeseinheitliche Verwaltungs- herausstellt, dass es nicht um formale oder um angebli- reform, die diesen Namen verdient hat. Das heißt, es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1761

Bodo Ramelow (A) muss zu einer Aufgabentrennung und zu einer Aufga- problem mehr: Dies ist nicht das Meisterstück der gro- (C) benzuordnung kommen. Einfließen sollten dabei die Er- ßen Koalition, sondern das ist ein Stümperwerk, in das gebnisse der Diskussion der Bundesländer. Ob die Auf- noch viel Arbeit gesteckt werden muss, wenn es stellung der Bundesländer noch zeitgemäß ist, auch Deutschland dienen soll. darüber muss diskutiert werden, allerdings von unten. Deswegen wäre es gut, den Weg dafür über eine entspre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chende Änderung im Grundgesetz zu ebnen. Herr Kauder, Sie haben hier über Wettbewerbsfödera- Achtens: die Stärkung der Staatsfinanzen. Das heißt lismus geredet. Ich sage Ihnen einmal ganz klar: Wir nicht nur, dass die Finanzbeziehungen neu geordnet wer- wollen an der Stelle keinen Wettbewerbsföderalismus, den müssen, sondern auch, dass die Einnahmenseite zu sondern wir wollen einen Föderalismus, der auch noch stärken ist. die gleichwertigen Lebensverhältnisse in dieser Repu- blik im Blick hat. Wenn Sie diese acht Punkte mit auf den Weg bringen, dann können wir gemeinsam eine Föderalismusreform (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschieden. Nach meiner Überzeugung brächte diese sowie bei Abgeordneten der SPD) Reform den Menschen mehr Gewinn als Verlust. Das, Wir müssen den Ausgleich der Waage, die Balance hin- was Sie im Moment machen, ist wieder Gezänk in den bekommen, sodass wir Föderalismus mit einem Stück parteipolitischen Hinterzimmern. Wettbewerb, aber auch mit Solidarität haben. Die Bun- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Von Gezänk desrepublik macht es nämlich aus, dass nicht an dem ei- müssen Sie gerade reden!) nen Ende des Landes arme Kinder oder Migrantenkinder keine Chancen auf gute Bildung haben und darauf, sich Das führt leider nur zur Befriedigung von Herrn Koch zu entwickeln, Teil der Gesellschaft zu sein, sich beruf- und anderen, aber nicht dazu, dass wir Deutschland lich zu verwirklichen und in der Gesellschaft ihren Teil wirklich zum Wohle der Menschen neu ordnen. Bitte, zu leisten, während die reichen Kinder am anderen Ende machen Sie sich in eine andere Richtung auf und verlas- der Republik so richtig durchziehen, sodass nur sie am sen Sie Ihre parteipolitischen Hinterzimmer. Ende die Vorstände in den DAX-Unternehmen stellen. Vielen Dank. Einen solchen Föderalismus wollen wir nicht, Herr Kauder. Wir wollen auch Solidarität. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie können ja nicht einmal Ihre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gruppe in Berlin zusammenhalten!) Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie wollen keinen Föderalismus, weil Sie nirgends mehr beteiligt (B) sind!) (D) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Renate Künast, Fraktion – Nein. Von uns gibt es ein klares Bekenntnis zum Föde- Bündnis 90/Die Grünen. ralismus, Herr Kauder. Aber man muss auch im Detail wissen, was man wie regelt. Ich will, dass die Länder Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mehr entscheiden können, aber nicht nur die Minister- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brau- präsidentenbank, nicht nur der Bundesrat, sondern wirk- chen eine Föderalismusreform. Dabei brauchen wir ei- lich auch die Landtage. nes: mehr Transparenz, damit die Bevölkerung und wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alle wirklich verstehen, wer eigentlich für welche Berei- sowie bei Abgeordneten der SPD) che zuständig ist. Wir brauchen mehr politische Hand- lungsfähigkeit, damit die immer wieder qualvollen Ver- Wir haben die Debatte um die Frage, wie hier mit handlungen, die sich über ein oder zwei Jahre hinziehen, dem Parlament und mit seinen Anhörungsrechten umge- und die permanenten Blockaden durch den Bundesrat gangen wird, schon geführt. Was Sie da gestern und vor- endlich hinter uns liegen. Das ist unser Maßstab. Das gestern hingelegt haben, war, finde ich, demokratietech- war übrigens auch der Maßstab der Föderalismuskom- nisch nun nicht gerade ein Meisterwerk. mission. Ich muss leider feststellen: Was uns heute hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorliegt, wird diesem Maßstab nicht gerecht. Dies ist sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker keine große Reform. Kauder [CDU/CSU]: Was Sie in Ihrer Regie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – rungszeit mit dem Parlament gemacht haben, Zuruf von der FDP: Das stimmt!) spottet jeder Beschreibung!) Wir wollten entflechten. Das leistet diese Reform Herr Kauder, Ihnen fehlt noch etwas ganz anderes. nicht. Wir wollten handlungsfähiger werden in Europa. Sie haben hier gesagt, jetzt werde es eine wunderbare Das leistet diese Reform nicht. Wir wollten Lösungen gemeinsame mehrtägige Anhörung geben. der großen Zukunftsaufgaben anbieten. Auch das leistet (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD) diese Reform nicht. Diese große Koalition hat behauptet: Nach den ersten 100 Tagen dieser Regierung kommt das – Geht es? Können Sie nicht einmal einen Koalitions- Meisterstück. Eines ist ganz klar: Wir haben das in den ausschuss einberufen? Dann könnten Sie alles bespre- vergangenen Wochen kritisiert. Nach der Rede des SPD- chen. Wir haben bei diesem so genannten Meisterstück Fraktionsvorsitzenden gibt es überhaupt kein Beweis- gerade gemerkt, dass die Koalition hoch zerstritten ist. 1762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Renate Künast (A) Insofern verstehe ich sozusagen Ihre Debatte jetzt über reichende Entflechtung statt. Es mag sein, dass hier eine (C) die grünen Bänke hinweg. kleine Entflechtung vorgenommen wurde, aber für die Behauptung, die Zahl der zustimmungspflichtigen Ge- Die einen sagen, es sei ein Meisterstück. Herr Struck sagt, man müsse eigentlich in wesentlichen Bereichen setze würde von 60 auf circa 40 Prozent reduziert, also noch ändern. Sie sagen, Sie hätten jetzt eine Anhörungs- selbst für diesen kleinen Sprung, findet sich bei keinem idee mit Bundestag und Bundesrat zusammen. Aber, Wissenschaftler ein Beleg. Wir alle hier wissen, dass es Herr Kauder, Herr Struck, Sie haben schon wieder die sich hierbei schlicht und einfach um eine Schätzung Pi Landtage vergessen. mal Daumen handelt. Es liegt keinerlei Beleg dafür vor, dass es zu einer solchen Reduzierung kommen wird. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) glaube sogar, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn es eine ehrliche Beratung gibt, dann wollen wir, In Ihre Änderungsvorschläge bezüglich des Verfah- dass auch die Landtage und nicht nur die Ministerpräsi- rensrechtes in Art. 84 und 104 a Grundgesetz bezüglich denten und die Mehrheit an dieser Beratung beteiligt der geldwerten Sachleistungen haben Sie wieder Rege- werden. lungen hereingefummelt, die am Ende mindestens in Ich würde übrigens auch gern wissen, was eigentlich gleichem Umfang dem Bundesrat ein Zustimmungsrecht die Position der FDP ist. Herr Burgbacher, mir ist sie einräumen, wie es derzeit der Fall ist. mit Ihren Ausführungen nicht klar geworden. Wenn ich mir das Ganze noch einmal vor Augen führe, dann erin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nere ich mich daran, dass Herr Westerwelle im Dezem- ber 2004 gesagt hat, das sei deutlich zu wenig und Auch Sie wissen genau, dass es Papiere von Sachver- enttäuschend. Mittlerweile hören wir von Herrn ständigen gibt, in denen das so gesagt wird. Am Ende Westerwelle, Sie würden dieser Reform sowieso zustim- bleibt alles beim Alten: Sie wollen zwar entflechten, men, weil man danach über die Finanzfragen redet. Herr aber mit den von Ihnen vorgesehenen Änderungen be- Burgbacher erklärt hier aber, es müsse noch viel geregelt züglich geldwerter Sachleistungen haben Sie eigentlich werden. Herr Burgbacher, dann widerrufen Sie doch Ih- wieder einen Nasenring eingeführt, an dem die Landes- ren Parteivorsitzenden, Herrn Westerwelle; der ist an fürsten, also die Ministerpräsidenten, den Bundestag dieser Stelle längst umgefallen. durch die Republik ziehen können. Ich bin mir sicher, auch in diesem Punkt wird es uns gehen wie nach der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schnell durchgezogenen und nicht durchdachten Reform Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nur weil Sie es 1994: Wir werden uns in Karlsruhe wiedertreffen. Un- nicht verstanden haben, müssen wir hier nichts sere Vorstellung war eigentlich, eine Reform auf die widerrufen! Sie müssen es verstehen! Sie re- (B) Beine zu stellen, bei der das nicht der Fall ist. (D) den sich das Durcheinander selbst ein!) – Ich weiß, was Sie wollen, Herr Gerhardt. Wegen des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 26. März wollten Sie sich, weil Sie in Rheinland-Pfalz gern mit den einen und in Baden-Württemberg gern mit Schauen wir uns einmal an, wie Sie die Probleme den anderen wollen, keinen Ärger mit den beiden ein- beim Thema Bildung lösen. Bildungspolitik ist die So- handeln. Deshalb haben Sie sich hier eigentlich schon zialpolitik der Zukunft und damit Politik für den Stand- zum Steigbügelhalter dieser schlechten Reformvorlage ort Deutschland. Aber Sie geben jede Möglichkeit für gemacht. eine gemeinsame strategische Bildungsplanung auf. Ich respektiere die Zuständigkeit der Länder für die Bildung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und die Erziehung von Kindern im föderalen System, Dirk Niebel [FDP]: Wir regieren in den Län- aber zugleich müssen wir uns bewusst machen, dass es dern, im Gegensatz zu Ihnen!) einen knallharten internationalen Wettbewerb gibt. In- Ich kann nicht akzeptieren, wenn hier angesagt wird, dien bildet jedes Jahr 300 000 Ingenieure aus. Wir kön- sogar aus dem Kanzleramt, dass dieses Paket so ge- nen es uns nicht leisten, hier in Vielstaaterei zu verfallen. schnürt ist und so durchgeht. Ich kann auch nicht akzep- Wir müssen wenigstens die Möglichkeit zu einer ge- tieren, wenn uns Ministerpräsidenten das sagen; denn es meinsamen strategischen Bildungsplanung von Bund geht an dieser Stelle nicht allein darum, ein Paket durch- und Ländern offen lassen. Davon würden nämlich un- zuwinken. Wir haben vielmehr die Aufgabe, uns zu sere Kinder profitieren, weil unsere Wirtschaft Fachleute überlegen: Was sind die Probleme der Republik, der braucht. Das ist damit in doppeltem Sinne die Zukunfts- Kinder dieser Republik, der Wirtschaft dieser Republik? frage Deutschlands. Deshalb darf es nicht zu solchen Re- Was sind die Probleme von heute, von morgen und von gelungen kommen, wie sie geplant sind. übermorgen? Diese Reform muss eine Lösung für diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Probleme anbieten und das tut sie bisher definitiv nicht; im Gegenteil. Schauen Sie sich einmal an, Herr Kauder, was pas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sierte, wenn Ihre Vorschläge durchkämen: Ganztags- schulprogramme wären nicht mehr möglich. So etwas Ich gehe einmal zwei oder drei Punkte durch, um zu wie das Sinusprogramm, mit dem klären, ob diese Reform uns eigentlich genügt. In der dazu beigetragen hat, dass dieses Land bei den mathe- Generaleinschätzung wird behauptet, hier finde eine aus- matischen Fähigkeiten weiter nach vorne kommt, dürf- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1763

Renate Künast (A) ten wir nicht mehr machen. Von Mitteln für den Hoch- Herr Struck, ich habe mit einer gewissen Genugtuung (C) schulbau und von Ihrer Förderung von technischen wahrgenommen, dass Sie auch auf die Themen Heim- Großgeräten profitierten am Ende nur die großen Län- recht und Strafvollzug eingegangen sind. Wir werden der; ein Land wie Schleswig-Holstein würde leer ausge- mit Ihnen und der SPD-Fraktion da eine intensive Dis- hen. kussion führen. Ich will Ihnen sagen, warum: Ich meine, dass das Heimrecht nicht nur mit Blick auf die Kinder, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach Quatsch!) sondern gerade mit Blick auf die älteren Menschen – wir So kann doch die Zukunft dieses Landes nicht gestaltet alle kennen das Thema des demografischen Wandels – werden. einer der Kernpunkte ist, um die wir uns kümmern müs- sen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass man in dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Republik in Würde altern und ein entsprechendes Leben Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Künast, Sie führen kann. Deshalb dürfen wir nicht dazu beitragen, bleiben unter Ihren intellektuellen Möglichkei- dass ältere Menschen in Heimen nur noch gewaschen ten!) und gefüttert werden. Wir dürfen nicht dazu beitragen, – Das war wahrscheinlich, Herr Kauder, Ihr Wort zum dass es im wahrsten Sinne des Wortes einen Personal- Frauentag. Es kam zwar ein bisschen spät, aber passte dumpingschlüssel gibt. vom Niveau her. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Volker Kauder [CDU/CSU]: Überhaupt nicht! sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Wenn Sie ein Mann wären, hätte ich es ge- KEN) nauso gesagt!) Ich freue mich darüber, dass auch die SPD-Fraktion Herr Kauder, Sie haben gesagt, durch die Föderalis- an dieser Stelle einen Blick auf den Strafvollzug wirft. musreform würde der Bund für Bürokratieabbau bei den Ich weiß, warum dieses Thema aufgenommen worden Ländern sorgen. Ich sage Ihnen, die Bürokratie, unter ist. Ich sage Ihnen aber: Im Interesse unser aller Sicher- der im Augenblick die Schulen leiden, liegt nicht in der heit in der Bevölkerung ist es wichtig, dass im Strafvoll- Verantwortung des Bundes, sondern wurde von den zug nicht gespart wird, sondern dass Resozialisierung Bundesländern verschuldet, weil sie den Schulen keine stattfindet. Autonomie geben wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) In diesem Sinne haben wir noch grundsätzliche Bera- (B) tungen vor uns, damit dies eine Reform wird, die ver- (D) Schauen wir uns das Thema Umwelt an: Mit dem in dient, dass man über sie sagen kann: Das ist ein Meister- Ihrer Vorlage enthaltenen Vorschlag für ein Umweltge- stück, das die Probleme des Landes löst. setzbuch bauen Sie nichts anderes auf als ein potemkin- sches Dorf: vorne eine elegante Fassade, dahinter aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht einmal ein fester Kern, der Abweichungen in den verschiedenen Bereichen verhindert, wie es ein UGB tat- Vizepräsident Wolfgang Thierse: sächlich ermöglichen könnte. Ich erteile das Wort Kollegen Peter Ramsauer, CDU/ (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Stimmt nicht! CSU-Fraktion. Sie müssen erst lesen und dann reden!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ja, Herr Röttgen, nur ein Hauch Naturschutz: Ihre Po- sition kenne ich aus der Kommission. Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): (Volker Kauder [CDU/CSU]: Damit wären wir Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und wieder beim Thema Frauentag!) Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ihre hier vorgesehene Abweichungsgesetzgebung ist ein Kollegin Künast, Sie haben gegen Ende Ihrer Rede ge- Fehler. Sie wird am Ende nicht die Probleme lösen, die sagt: Das ist doch nicht die Zukunft unseres Landes. – bisher im Zusammenhang mit der Erforderlichkeitsklau- Ich sage Ihnen dagegen: Mit der Einstellung, die Sie so- sel auftraten. eben in Ihrer Rede verbreitet haben, sind Sie, Ihre Partei und Ihre Fraktion garantiert nicht die Zukunft unseres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Landes. Wir wollen ein Umweltgesetzbuch, das im Kern gut (Beifall bei der CDU/CSU) für die Umwelt und gut für die mittelständische Wirt- schaft in dieser Republik ist. Das wäre zum Beispiel der Wir sind uns – darüber bin ich froh – im Grunde ge- Fall, wenn ein Mittelständler mit einem Antrag ein Ge- nommen alle über die Fraktionsgrenzen hinweg darin ei- nehmigungsverfahren bewältigen könnte. Er hat nämlich nig, dass es so wie bisher nicht weitergeht und dass wir nicht die Möglichkeit, drei Juristen einzustellen, um die – ich bin meinem Kollegen Peter Struck außerordentlich Gesetzessammlungen von 16 Bundesländern durch- dankbar, dass er dies am Ende seiner Rede noch einmal schauen zu lassen. betont hat – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) 1764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Peter Ramsauer (A) diese Reform zu einem guten Ende bringen wollen. Des- rung des Grundgesetzes, ihre Begründung und die be- (C) halb bin ich mir ganz sicher, dass diese Reform des Fö- gleitenden Gesetze werden gründlich geprüft. Um die deralismus ein Zeichen der Zuversicht für unser Land Vorwürfe der Opposition nochmals aufzunehmen: Sie ist. tun so, als befänden wir uns hier in einem Ratifizie- rungsverfahren. Davon kann aber überhaupt nicht die Die Probleme sind uns seit langem bekannt. Deswe- Rede sein. In einem Ratifizierungsverfahren kann nichts gen wissen wir alle, dass es so nicht weitergeht. In den geändert werden; dafür gibt es Beispiele. Wir befinden letzten Jahren wurde viel darüber geredet und geschrie- uns hier aber in einem geordneten Gesetzgebungsverfah- ben: über die schrittweisen Zuständigkeitsverluste der ren. Länder, über die Verflechtung aller Ebenen, über ver- wischte Verantwortlichkeiten und über die Blockade- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der macht des Bundesrates. SPD und der FDP) Neu ist: Die große Koalition redet nicht nur, sondern Wenn da und dort Feinschliff erforderlich ist – so hat es sie handelt auch. der Kollege Volker Kauder mit anderen Worten gesagt –, dann handeln wir entsprechend und machen aus diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Diamanten sozusagen einen großartigen politischen Bril- neten der SPD) lanten. Deutschland ist nicht mehr Stillstandort. Wir haben das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- innerhalb der ersten 100 Tage dieser großen Koalition rufe von der FDP: Oh! – Dr. Wolfgang bewiesen. Wir haben bewiesen, dass wir handlungsfähig Gerhardt [FDP]: Schleifer seid ihr also!) sind; es wird entschieden, es geht vorwärts und es gibt Zuversicht in unserem Lande. Der zweite Leitgedanke. Die Mehrheiten im Bundes- tag und im Bundesrat setzen auf Kooperation statt wie (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Die Aussicht bisher auf Konfrontation. Das ist etwas, was unsere ist noch ein bisschen gemischt!) Wählerinnen und Wähler nach den vielen Jahren des Ich schließe mich dem Dank, den der Kollege Peter ständigen Gegeneinanders erwarten. Wir unterstreichen Struck gerade ausgesprochen hat, für meine Fraktion dies mit gemeinsamen Sitzungen: Heute gibt es parallele und für meine Partei ausdrücklich an: dem Dank an die Sitzungen im Bundesrat und im Bundestag – es findet beiden Pioniere der Föderalismusreform in den letzten die erste Lesung statt – und die federführenden Aus- Jahren, schüsse der beiden Häuser tagen gemeinsam. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Graf Die große Koalition will eine gute Zusammenarbeit (B) Lambsdorff und wer noch?) mit den Ländern. Das stimmt optimistisch; denn Bund (D) und Länder müssen gemeinsam anpacken, um Deutsch- nämlich Edmund Stoiber und Franz Müntefering. land wieder nach vorne zu bringen. Ich bin sicher, das (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ach, die wa- Reformwerk wird überzeugen. In den Debatten werden ren es!) seine Stärken hervorgehoben und Fehldeutungen korri- giert werden. Sie haben an der Spitze der Föderalismuskommission großartige Vorarbeit geleistet. Das verdient Respekt und (Beifall bei der CDU/CSU) Dank. Die schlimmste Fehldeutung ist, dass der jeweils an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dere der Verlierer sein müsse, wenn Bund bzw. Länder neten der SPD) etwas gewännen. Das ist falsch. Ich sehe das anders. Wenn Verflechtungen aufgelöst werden, dann gewinnen Ich schließe auch alle anderen in diesen Dank ein: doch beide Ebenen neue Gestaltungsfreiheit. Ausufernde Graf Lambsdorff, wie hier zugerufen wurde, und diejeni- Zustimmungserfordernisse im Bundesrat verwischen gen, die viel früher aktiv waren. Gerade deshalb stehen doch Verantwortung und sie verzögern Entscheidungen. die Liberalen in der Verpflichtung, zielstrebig daran mit- Die Zahl derjenigen Gesetze wird deshalb reduziert, de- zuwirken, dass wir Erfolg haben. nen der Bundesrat zustimmen muss. Auf dem Feld der (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Na klar!) bisherigen Rahmengesetzgebung gewinnt der Bund neue Kompetenzen hinzu. In 22 Gegenständen der – Kollege Westerwelle, Sie sprechen nach mir und kön- konkurrierenden Gesetzgebung entfällt die bisherige nen dies bestätigen. verfassungsgerichtliche Prüfung, ob eine bundeseinheit- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jawohl! Wenn liche Regelung erforderlich ist. Das schafft Rechtsklar- das die große Koalition wünscht!) heit. Bundestag und Bundesrat beginnen heute parallel mit Im Gegenzug – darin liegt natürlich auch eine ge- den parlamentarischen Beratungen dieser umfassenden wisse Ausgewogenheit – wachsen die Kompetenzen Reform des Grundgesetzes. Wie meine beiden Kollegen der Länder. Vom Presserecht bis zum Ladenschluss Volker Kauder und Peter Struck sehe auch ich die Bera- kommen neue Kompetenzen hinzu. Schule, Kultur und tung der Vorlagen von zwei Leitgedanken geprägt. Rundfunk werden als Sache der Länder bestätigt. Der erste Leitgedanke. Wir Abgeordneten nehmen Ich will auch hervorheben: Die Föderalismusreform unsere parlamentarische Verantwortung wahr. Die Ände- macht endlich Ernst mit dem Grundsatz – er ist für die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1765

Dr. Peter Ramsauer (A) Kommunen von großer Bedeutung –: Wer anschafft, der Vizepräsident Wolfgang Thierse: (C) bezahlt. Dieser Grundsatz ist gerade für meine Partei Ich erteile das Wort dem stellvertretenden Minister- sehr wichtig, da sie in den Kommunen tief verwurzelt präsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Andreas ist. Der Bund darf Aufgaben künftig nicht mehr direkt Pinkwart. auf die Gemeinden, die Städte oder die Landkreise über- (Beifall bei der FDP) tragen. Von den bisher getroffenen Behördenregelungen können die Länder nach Abschluss der Reform abwei- chen. Das ist ein echter Autonomiegewinn für die Län- Dr. Andreas Pinkwart, Minister (Nordrhein-West- der. Die Länder – ich betone: die Länder – regeln damit falen): künftig das Verhältnis zu den Kommunen. Damit schützt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und das so genannte Konnexitätsprinzip in den Landesver- Herren! Bundestag und Bundesrat gehen mit diesem Re- fassungen die Kommunen künftig auch im Bereich der formvorhaben einen ersten Schritt in die richtige Rich- Bundesgesetze. tung. Es ist ein Stück weit ein erster Schritt, um mit dem bisherigen System organisierter Unverantwortlichkeit in Deutschland braucht starke Länder. Deutschland unserem demokratischen Gemeinwesen Schluss zu ma- braucht starke Kommunen. Vielfalt belebt. Wettbewerb chen. setzt Anreize, nach besseren Lösungen zu suchen. Noch (Beifall bei der FDP) einmal: Beide, das Parlament im Bund und die Parla- mente in den Ländern, die Landtage, sind die Gewinner Das gilt auch mit Blick auf die gemeinsame Heraus- dieser großartigen Reform. Der gesetzgeberische Spiel- forderung, die deutsche Wissenschafts- und Hoch- raum der Landesparlamente wächst. Wir Abgeordneten schullandschaft wieder an die internationale Spitze im Deutschen Bundestag sind künftig freier in der Ge- heranzuführen. Wir müssen die Hochschulen und For- staltung unserer Gesetzesbeschlüsse. Ich stimme Volker schungseinrichtungen in unserem Land befähigen, sich Kauder zu, der gesagt hat, dass man die Gesetze manch- im immer härteren internationalen Wettbewerb um die mal nicht mehr erkannt habe, als sie zerrupft aus dem besten Köpfe, die größten Etats und um exzellente Er- Vermittlungsausschuss zurückgekommen seien. Viel- gebnisse besser zu behaupten. Sie brauchen dafür im leicht wurden sie auch manchmal verbessert, wenn wir Kern zwei Dinge: erstens, die Freiheit, sich im Wettbe- in den letzten sieben Jahren am anderen Ende gezogen werb strategisch zu entwickeln und zu positionieren, haben. und, zweitens, eine verlässliche und auskömmliche Fi- nanzierung. (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast (Beifall bei der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie (B) ein einziges Beispiel!) Mehr Freiheit und Verantwortung sollen die Länder (D) im Bereich von Wissenschaft und Forschung bekom- Es gewinnt derjenige, auf den es in unserem Land letzt- men. Das ist ein viel diskutierter und wesentlicher Be- lich ankommt und dem wir unsere politische Macht und standteil des heutigen Reformvorhabens. Die Länder unser politisches Mandat verdanken: Letztlich gewinnen nehmen diese neue Herausforderung an. Sie sind nach die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. unserer festen Überzeugung gut beraten, die neuen Handlungsspielräume in Form von echter Freiheit und Auf Folgendes kommt es an: Erstens. Entscheidungen Autonomie an ihre Hochschulen weiterzugeben. können schneller getroffen werden. Zweitens. Politische Verantwortung wird klarer. Drittens. Wichtige Kompe- (Beifall bei der FDP) tenzen rücken näher an die Bürger heran. Wir jedenfalls tun das. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Künast, Sie haben eben die Autonomie der neten der SPD) Schulen eingefordert. Ich würde mich freuen, wenn Ihre Partei zum Beispiel in meinem Bundesland auch die Die Entflechtung der Ebenen lässt die Wahlent- Autonomie der Hochschulen so nachdrücklich unter- scheidung künftig wieder klarer als eindeutige Entschei- stützen würde, wie Sie dies eben hier im Bundestag im dung für die eine oder die andere Richtung in der Politik Hinblick auf die Schulen gefordert haben. hervortreten. Es gibt kein Herumstochern mehr in einem Einheitsbrei, sondern klare Richtungen und klare Kom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten petenzzuweisungen. Klare Verantwortlichkeiten stärken der CDU/CSU) das Vertrauen in unseren demokratischen Staat. Niemand muss Angst vor Kleinstaaterei haben. Ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gesunder Wettbewerbsföderalismus darf nicht mit klein- karierter Kleinstaaterei gleichgesetzt werden. Es ist ein Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit die- Irrglaube, dass Probleme umso besser gelöst werden, je ser Reform eine ganz großartige Chance in der Hand. zentralistischer die Zuständigkeiten angesiedelt sind. Lassen Sie uns diese Chance für unser Land gemeinsam (Beifall bei der FDP) nutzen! Das gilt mit Blick auf die letzte Legislaturperiode (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch für die Wissenschaftspolitik. Einheitslösungen wie neten der SPD) etwa ein bundesweites Verbot von Studiengebühren – es 1766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Andreas Pinkwart, Minister (Nordrhein-Westfalen) (A) ist beim Versuch geblieben; das ist nur ein Beispiel – ha- (Beifall bei der FDP) (C) ben Deutschland in Europa nicht wettbewerbsfähiger ge- Lassen Sie mich einen letzten Gedanken formulieren. macht. Eingangs habe ich von einem ersten Schritt in die rich- (Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Jörg tige Richtung gesprochen. Die andere Seite der Medaille Tauss [SPD]) der Neuordnung der Aufgaben ist, wenn man die Grund- systematik richtig versteht, die Neuordnung der Finanz- Freiheit ist aber nur eine Seite der Medaille. Hinrei- beziehungen. Deswegen begrüßt das Land Nordrhein- chende Finanzierung, Herr Tauss, ist die andere. Auch Westfalen ausdrücklich, dass vorgesehen ist, dem ersten wegen unzureichender und durch die Vorgängerregie- Schritt einen zweiten folgen zu lassen. Wir begrüßen es rung abgesenkter Bundesmittel besteht im Hochschulbe- außerordentlich, dass dies jetzt verbindlich und konkret reich ein enormer Sanierungsstau. angegangen wird. Nur so kann die Bundesrepublik (Jörg Tauss [SPD]: Sieh an! – Deutschland auch an dieser Stelle aus der organisierten [SPD]: Wo waren Sie denn?) Unverantwortlichkeit herausfinden. Hinzu kommen steigende Studierendenzahlen, die wir Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nicht als Belastung, sondern als Chance für unser Land (Beifall bei der FDP) begreifen sollten. Eine besondere Bedeutung kommt deshalb dem Vizepräsident Wolfgang Thierse: Hochschulbau zu. Dafür ist dreierlei notwendig: Ers- Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Rudolf tens. Wir setzen uns für eine Garantie für eine dauerhafte Körper, SPD-Fraktion. Zweckbindung der Bundesmittel in den jeweiligen Län- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dern ein.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fritz Rudolf Körper (SPD): der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Oh!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will Zweitens. Wir – darum bitte ich das ganze Haus sehr meinen Ausführungen ein Zitat von vo- herzlich – müssen im laufenden Gesetzgebungsverfah- ranstellen. Johannes Rau sagte einmal: ren darüber diskutieren, ob die bis 2013 vom Bund zur Die Demokratie lebt davon, dass für die Bürger klar Finanzierung vorgesehenen Baumittel mit Blick auf die ist, wem sie auf Zeit welche Verantwortung übertra- steigenden Studierendenzahlen tatsächlich sachgerecht gen haben und wer ihnen nach der Frist Rechen- sind. schaft schuldet. (B) (D) Drittens. Wir sollten noch einmal darüber nachden- Ich denke, dass wir diese Mahnung ganz besonders ernst ken, ob die jetzt vorgesehene Verteilung der Mittel an nehmen sollten, wenn wir über das Thema Föderalis- die Länder sachgerecht ist; musreform sprechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) denn es kann nicht sein, dass die Länder, in denen Bei diesem Reformvorhaben können wir auf Vorar- 50 Prozent der Studierenden in Deutschland eingeschrie- beiten der Kommission zur Modernisierung der bundes- ben sind, in Zukunft nur 30 Prozent der Bundesmittel er- staatlichen Ordnung zurückgreifen. Diese hatte eine halten sollen. Diese Regelung sollte man, wenn man den schöne Abkürzung, nämlich KoMbO. Tatsächlich glaube Hochschulen wirklich helfen will, noch einmal überden- ich, dass es bei diesen Fragen eher wie in einer Bigband ken. zugeht. Denn bei so vielen Beteiligten ist es in der Tat nicht überraschend, dass es hier und da zu Misstönen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und Missstimmungen kommt. Diese müssen ausgeräumt der SPD– Ulla Burchardt [SPD]: Sagen Sie werden. das mal Ihrem Ministerpräsidenten!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auf einem anderen Feld, bei der Forschungsförde- rung und der Finanzierung von Forschungsbauten und Deswegen ist die Kritik an unserem jetzt geplanten Großgeräten von überregionaler Bedeutung, steht der Anhörungsverfahren unter der Federführung des Bund weiter in der Pflicht. Frau Ministerin Schavan hat Rechtsausschusses völlig unangebracht. Diese Anhö- angekündigt, dass sie die gemeinsamen Aufgaben in ei- rung wird so strukturiert und organisiert, dass alle Ex- nem kollegialen Verhältnis zu den Ländern angehen will. pertenmeinungen und alle Fachpolitiken einbezogen Sie hat den Ländern vorgeschlagen, einen Hochschul- werden, und steht unter dem Motto: Es ist allemal bes- pakt 2020 zu schließen, der klären soll, wie Bund und ser, miteinander zu reden als übereinander; denn nur das Länder auch künftig gemeinsam Verantwortung tragen bringt gute Ergebnisse. können. Die Gespräche dazu haben begonnen. Wir be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten grüßen dieses Vorgehen. Es ist ein richtiges Signal, wenn der CDU/CSU) wir den Hochschulen einerseits mehr Freiheit geben, sie aber andererseits nicht im Stich lassen, wenn es darum Ich appelliere an Sie, diese Beratungen nicht in Kon- geht, Qualitätssicherung im Studium und bei der For- frontation, sondern im Geiste der Kooperation zwischen schung sicherzustellen. der Bundesebene auf der einen Seite und der Länder- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1767

Fritz Rudolf Körper (A) ebene auf der anderen Seite anzugehen. Wenn wir nicht sich zuerst aus Berlin und nicht aus der jeweiligen Lan- (C) verinnerlichen, dass wir Kooperation brauchen, werden deshauptstadt. wir scheitern. Das wollen wir nicht und das können wir uns nicht leisten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Das kann man zwar bestreiten, aber ich glaube, die Er- CDU/CSU) wartungshaltung ist so richtig beschrieben. Das ist mit Sicherheit eine Folge der Globalisierung in vielen Le- Was bedeutet eigentlich Föderalismusreform? Ich bensbereichen. Diese Erwartungshaltung entspricht aber habe festgestellt, dass das von den Menschen im Land auch unserem Grundgesetz, das dem Bund eine maßgeb- häufig nicht richtig nachvollzogen werden kann. Bei der liche Gesetzgebungskompetenz zuweist. Föderalismusreform geht es darum, dass wir Klarheit und mehr Transparenz im Verhältnis zwischen Bund und Allerdings steckt der Bund in einem ähnlichen Di- Ländern schaffen, und um eine stärkere Kompetenztren- lemma wie der Riese Gulliver: Gefesselt sind seine nung und -abgrenzung. Dass der eine oder andere Streit- Kräfte wirkungslos. Die Fessel ist hier und heute das Ve- punkt darüber entsteht, hängt mit der unterschiedlichen torecht des Bundesrates. Die Reform der bundesstaatli- Interessenvertretung zusammen. chen Ordnung muss ein klares Ziel verfolgen, nämlich die Zahl der Bundesgesetze, denen der Bundesrat zu- Im Moment ist die Situation so, dass 16 Materien auf stimmen muss, deutlich zu reduzieren. die Länder übertragen werden. Das betrifft beispiels- weise den umstrittenen Hochschulbereich, das Ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sammlungsrecht, das aus meiner Sicht überhaupt nicht CDU/CSU) umstritten ist, und das öffentliche Dienstrecht. Auf der Ein wichtiger und richtiger Schritt auf dem Weg zu anderen Seite werden dem Bund Bereiche übertragen diesem Ziel ist die Änderung des Art. 84 des Grundge- – ob man sich als Bundespolitiker darüber besonders setzes. Bislang muss sich der Bund entscheiden: Macht freuen kann, mag dahingestellt sein –, wie zum Beispiel er den Ländern Vorgaben für den Vollzug seiner Gesetze, das Waffenrecht und das Atomrecht. Und es kommt entsteht Zustimmungspflicht. Nur dann, wenn er sich je- – was ganz erstaunlich ist – zu einer Kompetenzerweite- der Verfahrensregelung enthält – wir haben in der ver- rung des Bundeskriminalamtes im Kampf gegen den in- gangenen Zeit gesehen, wie man das macht –, kann er ternationalen Terrorismus. Ich bin sehr froh, dass die ohne den Bundesrat handeln. Dieses Alles-oder-nichts- Länderebene dem zugestimmt hat. Denn das ist eine Prinzip wollen und müssen wir ändern. Abweichungs- Maßnahme, die der Herausforderung, gegen den interna- recht statt Zustimmungspflicht lautet im Grunde ge- tionalen Terrorismus effektiv und effizient vorzugehen, nommen die neue Formel, die hier erfunden worden ist. (B) gerecht wird. (D) Künftig soll der Bund den Vollzug seiner Gesetze auch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – ohne die Zustimmung des Bundesrates regeln können. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Allerdings dürfen die Länder von diesen Vorgaben ab- GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber weichen. nicht!) Dazu sage ich mit Blick auf die Praxis: Ich bin zuver- Ich komme zur Zustimmung des Bundesrates zu Bun- sichtlich, dass auf Bundesebene so gute Gesetze ge- desgesetzen. Es ist ein wichtiges Ziel – und ich hoffe, macht werden, dass die Länder nur in seltenen Fällen dass wir uns darin einig sind –, die Zustimmungsquote von der Möglichkeit der Abweichungsregelungen Ge- erheblich zu reduzieren. brauch machen werden. Davon bin ich überzeugt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das muss unser An- Wenn wir die Zustimmungsquote des Bundesrates um spruch sein!) mehr als die Hälfte reduzieren könnten, wäre das hervor- ragend. Allerdings muss der Bund auch den Mut haben, auf die Qualität seiner Regelungen zu vertrauen. Die Möglich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit, eine Länderabweichung mit Zustimmung des Bun- der CDU/CSU) desrates auszuschließen, ist als Ausnahmefall konzipiert. Dass auch die klare Zuordnung der Finanzverantwortung Sie sollte, wenn ich das richtig verstanden habe, nicht zwischen Bund und Ländern klar geregelt werden muss, zur Regel werden. versteht sich von selbst. Wir müssen an einer anderen Stelle aber sehr aufpas- (Beifall des Abg. Dirk Manzewski [SPD]) sen, damit wir unser Anliegen nicht zunichte machen, beispielsweise bei Art. 104 a des Grundgesetzes. Künf- Ich will einen weiteren Punkt ansprechen: Wenn es tig soll der Bundesrat ein Vetorecht bei allen Gesetzen um Lösungen so genannter großer Probleme in unserem haben, die die Länder zu Geld- oder geldwerten Sach- Land geht, dann muss man bedenken, dass sich die Er- leistungen verpflichten. Das ist eine bedeutsame Aus- wartungen der Menschen in unserem Land zuerst an die weitung der gegenwärtigen Regelung, die mir ganz per- Bundespolitik richten. Das ist die Gefühlslage. Das ist sönlich fast zu weitgehend erscheint. die Erwartungshaltung. Mehr Arbeitsplätze, sichere Renten oder eine moderne Familienpolitik erhofft man (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 1768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Fritz Rudolf Körper (A) Die Länder sollen mitreden, wenn ihnen erhebliche Herzlichen Dank. (C) Kosten zu entstehen drohen. Einverstanden. Braucht der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundesrat aber wirklich ein Vetorecht, wenn 99,9 Pro- der CDU/CSU) zent einer Geldleistung vom Bund übernommen wer- den? Vizepräsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich erteile das Wort der Kollegin Inge Höger-Neuling, Wir sollten Obacht geben, dass wir hier keine neuen Fraktion Die Linke. Seile auslegen, mit denen der Bund gefesselt werden (Beifall bei der LINKEN) kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Inge Höger-Neuling (DIE LINKE): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Föderalis- Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]) musreform könnte zum Unwort des Jahres werden, Ich habe den Eindruck gewonnen, dass bei manch (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Na ja!) einem noch Unklarheit darüber besteht, welche Konse- quenzen praktischer Art sich aus der Föderalismus- nicht weil die Menschen im Lande diesen Begriff nicht reform ergeben. Auf Länderseite gibt es zu manchen verstehen, Punkten ganz unterschiedliche Reaktionen und Kom- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie haben mentierungen. Was die einen freudig herbeisehnen, wird ihn wahrscheinlich nicht verstanden!) von anderen mit gewisser Sorge betrachtet. Ich nehme auf die Richter- und Beamtenbesoldung Bezug. Das sondern weil das, was als Jahrhundertreform und als Grundgesetz kennt keinen asymmetrischen Föderalis- Befreiung von der Selbstblockade angekündigt wird, in mus, bei dem einige Länder mehr Befugnisse haben als Wahrheit ein Bürokratiemonster ist. andere. Das Grundgesetz kennt nur ein Entweder-Oder, Sie verhindert eine einheitliche Bildungspolitik, eine Bund oder Länder. Deshalb müssen sich alle Länder im einheitliche Vorschulförderung und eine einheitliche Klaren darüber sein, ob sie mehr Verantwortung wollen Hochschulpolitik. Es fehlt auch eine einheitliche Ant- und ob sie die neuen Lasten auch wirklich schultern kön- wort auf die PISA-Studie. Sie macht effektiven Natur- nen. schutz und vernünftigen Hochwasserschutz unmöglich. Das Ergebnis unserer Arbeit darf nicht zu einem Wir brauchen endlich ein einheitliches Umweltrecht statt Scheinföderalismus führen eines neuen Kompetenzwirrwarrs. Man sollte doch glau- (B) ben, dass es ihr Ziel war, für Entbürokratisierung und für (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verbesserungen für die Menschen zu sorgen. Herausge- – klatscht doch später –, kommen sind allerdings massive Verschlechterungen für viele. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Die Länder und Gemeinden haben sinkende Steuer- der dazu führt, dass Gesetze in Düsseldorf oder Mün- einnahmen zu verzeichnen. Nun suchen nach Einspar- chen, also in den großen Bundesländern, gemacht wer- möglichkeiten und sehen diese erfahrungsgemäß nicht den und die kleinen Länder ihren Inhalt nur noch ab- bei Wirtschaftssubventionen oder beim Straßenbau, son- schreiben. dern eher in den Haushalten für Soziales und für Jugend. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke Die Länder und Gemeinden geben dem Druck von Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Firmen nach, die mit Arbeitsplatzverlagerungen drohen. NEN]) Die Zuständigkeit des Bundes stellte bisher häufig eine Einige Länder hoffen zwar, von individuellen Regelun- Grenze dar. In Zukunft wird es einen Wettbewerb zwi- gen anderer Länder profitieren zu können. Aber ange- schen den Ländern – den sie ja alle befürworten – um sichts eines gesetzgeberischen Wettbewerbs, bei dem das schnellste Sozialdumping geben. Das ist der Inhalt ungleiche Startbedingungen herrschen, werden mit Si- dieser Reform. cherheit nicht alle eine faire Chance haben. Das wird zum Beispiel die Menschen, die in Heimen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) leben, betreffen, also Menschen mit Behinderungen, Alte und chronisch Kranke. Das Heimrecht soll nun Wir haben die Pflicht und die Verpflichtung, für eine Ländersache werden. Einzelne Bundesländer haben be- sorgfältige und intensive Beratung im Deutschen Bun- reits angekündigt, ihre Pflegestandards zu senken und destag zu sorgen. den Pflegeschlüssel nach unten zu schrauben. Dabei wa- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren es gerade die Missstände in den Heimen, die 1974 NEN]: Dann nicken wir das jetzt also ab, oder dazu geführt haben, dass das Heimrecht auf die Bundes- was?) ebene übertragen wurde. Das Föderalismuspaket ist nicht geeignet, mit verbunde- Die in diesem Bereich tätigen Vereine laufen dagegen nen Augen und im Schweinsgalopp abgesandt zu wer- Sturm: Die Caritas, sehr geehrte Damen und Herren von den. Deswegen werden wir es intensiv beraten und letzt- der CDU/CSU, die Arbeiterwohlfahrt, liebe Genossin- lich auch eine Reform hinbekommen. nen und Genossen von der SPD, die Verbraucherzentra- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1769

Inge Höger-Neuling (A) len, werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, schäftigten in der Pharmaindustrie treffen. Die Global- (C) und wichtige private Träger von Pflegeheimen – das player werden die Länder künftig noch intensiver mit sage ich an die Liberalen gerichtet –, alle protestieren dem Arbeitsplatzargument gegeneinander ausspielen energisch gegen die Verlagerung der Zuständigkeit für nach dem Motto: Erlaubt mir die Einleitung von Chemi- das Heimrecht auf die Länder. kalien in den Rhein oder wir verlagern den Betrieb. (Beifall bei der LINKEN) Mit der vorgesehenen Grundgesetzänderung soll die Bundeszuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau und Worum geht es diesen Verbänden? Wenn Eltern be- das Wohngeld quasi abgeschafft werden. Das wird die hinderter Kinder umziehen müssen, können sie sich in Leute treffen, die auf Wohngeld oder Sozialwohnungen Zukunft nicht mehr darauf verlassen, dass ihr Kind in ei- angewiesen sind. nem anderen Bundesland ähnliche Bedingungen vorfin- det. Angehörige pflegebedürftiger alter Menschen wer- Sie wollen Entscheidungen zu den Menschen brin- den sich nicht mehr darauf verlassen können, dass an der gen? Die Föderalismusreform bringt den Menschen Ostseeküste bei der Heimpflege ähnliche Qualitätsstan- mehr Bürokratie, ein Wirrwarr von Verordnungen und dards gelten wie in der Rhön. einen Abbau von Sozialstandards. Statt der Lösung drin- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gender Probleme wie Erwerbslosigkeit oder Pflegebe- NEN]: Das ist wirklich ein Skandal!) dürftigkeit wird auf dem Rücken der Betroffenen ein Kuhhandel abgeschlossen. Als Mitglied der Fraktion Die Die Menschen, die beruflich Pflege organisieren, Linke kann ich diese Grundgesetzänderungen nur ableh- müssen demnächst nicht nur vier Ausführungsverord- nen; sie sind unsozial. nungen zum Heimgesetz kennen, sondern 4 mal 16, also 64. Die geplante Grundgesetzänderung würde also einen (Beifall bei der LINKEN) enormen Zuwachs an Bürokratie – ja, einen Zuwachs – bedeuten. Alle gegenteiligen Behauptungen sind schlicht Vizepräsident Wolfgang Thierse: unwahr. Frau Kollegin Höger, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles (Beifall bei der LINKEN) Gute für Ihre Arbeit. Betroffen sind auch Kinder und Jugendliche, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen, in Familien, (Beifall) die Hilfen von Jugendämtern in Anspruch nehmen müs- Ich erteile nun das Wort Kollegin Krista Sager, Frak- sen. Denn die geplante Grundgesetzänderung trifft auch tion Bündnis 90/Die Grünen. die Jugendämter. Bisher fungieren die örtlichen und die (B) (D) Landesjugendämter als Berater von Familien, als An- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sprechpartner für Frauen mit Unterhaltsproblemen, für missbrauchte Mädchen, für belastete Jugendliche. Dem- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte nächst werden diese Ansprechpartner kaum noch an- es für ein sehr gutes Signal, dass Herr Struck hier deut- sprechbar sein. Denn wer glaubt im Ernst, dass die armen lich gemacht hat, dass über diese Reform noch nicht das Kommunen bzw. die Landesfinanzminister weiterhin Ju- letzte Wort gesprochen ist und dass es Veränderungen gendämter vorhalten werden, die fachlich fundiert über geben wird. Das will ich ausdrücklich sagen. Hilfebedarf entscheiden können? Auch dies wird der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sparwut und somit dem Sozialdumping zum Opfer fal- sowie bei Abgeordneten der SPD) len. Ich hoffe, dass er das heute nicht bloß gesagt hat, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden nicht Kritiker in den eigenen Reihen kurzfristig zu beschwich- nur unmittelbar von der jetzt vorgesehenen vollständigen tigen. Verlagerung der Zuständigkeit für das Dienstrecht auf die Länder betroffen sein, sondern auch mittelbar. Künf- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tig wird es einen Kostenwettbewerb zwischen den Län- SES 90/DIE GRÜNEN) dern geben. Im sozialen und im Gesundheitssektor lassen Wie sich andere diese Reform vorstellen, hat der Kol- sich Kosten in der Regel aber nur durch Personalabbau lege Dr. Röttgen ja gestern aufgezeigt nach dem Motto: sparen. Das betrifft unter anderem die Hochschulklini- Wir können jetzt nicht auf Einzelanliegen und Einzelin- ken, die nun von den Ländern anerkannt, gefördert, ge- teressen schauen, wir müssen den Blick doch auf das steuert werden sollen. Dadurch werden sie noch stärker große Ganze richten. Wir können aber nicht einerseits in in den Wettbewerb mit anderen Krankenhäusern geraten. Sonntagsreden immer wieder erklären, dass Bildung und Sie werden in einen Kostenwettbewerb gedrängt, der auf Wissenschaft zentral für die Zukunft dieses Landes sind, dem Rücken der zurzeit streikenden Pflegekräfte ausge- tragen wird. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht zentralistisch!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und andererseits dann, wenn es um die Reform des Fö- NEN]) deralismus geht, so tun, als seien das Eigeninteressen von Einzelpersonen. Das passt einfach nicht zusammen. Der Wettbewerb, der entsteht, wenn die Zulassung von Arzneimitteln Ländersache wird, wird auch die Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Krista Sager (A) Dass von Bildungs- und Wissenschaftsorganisatio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) nen massive Kritik kommt, müssen wir ernst nehmen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir können uns falsche Weichenstellungen bei Bildung und Wissenschaft nicht leisten. Das wäre mit dem „gro- Das würde dadurch noch schlimmer gemacht, was wir nicht akzeptieren können. ßen Ganzen“ vollkommen unvereinbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Es ist ja richtig, dass es schwer ist, eine Mehrheit für Cornelia Hirsch [DIE LINKE]) eine Verfassungsänderung zusammenzubekommen. Aber Herr Burgbacher, Sie können es mir abnehmen – das gerade wenn das schwer ist, können wir uns eine falsche haben Sie auch erlebt –: Es geht nicht darum, den Län- Weichenstellung für Bildung und Wissenschaft erst recht dern die Schulkompetenz streitig zu machen. Das hat nicht erlauben; sie würde uns über Jahrzehnte begleiten, doch niemand getan. Wir müssen aber doch auch sehen, wir würden sie nicht wieder los. dass es in anderen Ländern mehr Freiheit der Bildungs- einrichtungen, mehr Wettbewerb um Qualität und mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Autonomie bei einem gemeinsamen Rahmen gibt. Diese sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sind dabei besser gefahren als wir; denn sie haben bei KEN) der PISA-Studie die besseren Ergebnisse erzielt. Das Mit einem Kooperationsverbot für den Bund im Be- müsste uns doch ein bisschen zum Nachdenken bringen. reich Schulen und Hochschulen würden wir internatio- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nal einen absoluten Sonderweg einschlagen. Es gibt kein SES 90/DIE GRÜNEN) föderatives System, in dem das so geregelt ist. Nirgends ist es der Zentralebene verboten, für Schulen und Hoch- Von vielen Zielen, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag schulen Geld auszugeben. Das gibt es nicht einmal in selbst formuliert haben – Sie wollen etwas für junge den USA und wir sollen so etwas einführen. Das ist an Leute ohne Schulabschluss tun und die Studierenden- Blödsinn kaum noch zu übertreffen. quote erhöhen –, hat sich die Bildungsministerin im Grunde doch schon längst verabschiedet. Dort wird sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bund keine Rolle mehr spielen. Sie ist nur noch eine sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ministerin der warmen Worte für diese jungen Leute. Cornelia Hirsch [DIE LINKE]) Nach dieser Reform wird sie dort nichts mehr tun kön- nen. Deswegen darf diese Reform so nicht kommen. Erzählen Sie den Menschen draußen im Lande doch ein- mal, dass dem Bund durch die Verfassung verboten wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) den soll, in Zukunft etwas für die Ganztagsschulen in sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. (D) Deutschland zu tun. Das begreift wirklich kein Mensch. Cornelia Hirsch [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir als Grüne wollen eine Föderalismusreform. Wir sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. haben aber an den richtigen Stellen Nein gesagt, nämlich Cornelia Hirsch [DIE LINKE]) bei Bildung, Umwelt und Strafvollzug. Dass der Gesetz- entwurf jetzt unverändert vorgelegt wird, zeigt doch, wie Es muss einen doch wirklich misstrauisch stimmen, schlecht es für dieses Land ist, wenn der Einfluss der dass die Ministerpräsidenten der großen Länder während Grünen zurückgeht. der Arbeit der Föderalismuskommission so tun – auch in den letzten Tagen –, als könnten sie vor Kraft kaum noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – laufen und in Zukunft alles alleine machen, während der Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das beklagt erste Fachminister, der hier auftritt – er kommt nicht aus aber niemand außer den Grünen!) einem kleinen, schwachen Land –, Ich hoffe, dass gerade auch die Kollegen in der SPD das, worüber wir uns im Dezember 2004 einig waren, (Jörg Tauss [SPD]: Dem größten!) weiterhin ernst nehmen. Liebe Kollegen, ich sage Ihnen schon einmal den herannahenden Katzenjammer auf- eines: Den Stellenwert Ihrer Partei und den Stellenwert scheinen lässt. Das haben wir hier erlebt und das muss von Gerechtigkeit und Wohlstandssicherung für alle uns doch misstrauisch machen. Menschen in diesem Lande wird man am Ende auch da- ran messen, ob Sie sich durch die Koalitionskarte nieder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bügeln lassen oder ob Sie hier noch Veränderungen vor- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. nehmen. Cornelia Hirsch [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wer den Bund bei der Bildung und der Wissenschaft Fritz Rudolf Körper [SPD]: Sie kennen uns vor die Tür stellt, der tut das doch nicht nur auf Kosten doch! Wir lassen uns nicht niederbügeln!) der schwachen Länder. Er tut das zwar ganz massiv auf Kosten der schwachen Länder, aber er tut das vor allen Vizepräsident Wolfgang Thierse: Dingen auch auf Kosten der jungen Menschen in diesem Ich erteile Kollegen Norbert Röttgen, CDU/CSU- Lande, einem Lande, in dem der Zusammenhang zwi- Fraktion, das Wort. schen Bildung und sozialer Herkunft schon heute uner- träglich ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1771

(A) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Kastner) häufigsten diskutieren wir Abgeordnete, wir Politiker Wir haben erlebt, dass Vermischung von Verantwor- hier im Bundestag darüber, auf welche Veränderungen tung im Ergebnis nur eines bewirkt und bedeutet, näm- und Reformen sich die Bürger einstellen müssen. Wir sa- lich Auflösung von Verantwortung. Darum ist die Fö- gen den Bürgern: Ihr müsst euch ändern und reformbe- deralismusreform eine Reform, die dort ansetzt, wo es reit sein. um die Wiederherstellung der Verantwortung im Staate geht. Bevor wir auf Einzelheiten zu sprechen kommen, Diese Föderalismusreform ist eine Reform des Staa- bevor wir über Gaststättenrecht und viele andere wich- tes. Sie wird damit der Erwartung der Bürger gerecht tige Themen und Einzelfacetten dieser Reform debattie- – alle sagen das: Bürger, Fraktionen und Parteien –, dass ren – was notwendig ist –, darf aber das Kernanliegen sich nicht nur die Bürger ändern müssen, sondern dass dieser Reform nicht untergehen. Ich will es deshalb noch sich auch der Staat verändern muss. Er muss besser wer- einmal sagen: Der Kern dieses Reformanliegens ist die den. Das ist der Anspruch, der mit dieser Reform ver- Wiederherstellung staatlicher Entscheidungsfähig- bunden wird. keit, die Wiederherstellung der Erkennbarkeit politi- scher Verantwortung. Das ist das zentrale staatspoliti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sche Anliegen dieser Reform. Das ist der Maßstab. neten der SPD und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Der Staat muss auf einem Gebiet besser werden, das bei Abgeordneten der FDP) das Entscheidende, das Zentrum eines demokratischen Es gibt zwei Lebenselemente einer parlamentari- Gemeinwesens ist, nämlich in der Gesetzgebung. Bevor schen Demokratie. Das eine ist Vertrauen, das andere wir wieder auf die Einzelheiten kommen: Was ist der ist Verantwortung. Wir brauchen wieder Klarheit in der Ausgangspunkt? Was ist denn jahrelang zu Recht be- Verantwortung, Klarheit in der Möglichkeit, zu entschei- klagt worden? Was ist die Misere? Ich finde es nicht den, die dann mit der Möglichkeit der Bürger korrespon- übertrieben, von einer Misere zu sprechen. Die Misere, diert, sich ihr eigenes Urteil darüber zu bilden, wie die die wir erleben und erleiden, ist der Verlust an Ent- Politik entschieden hat, und dieses Urteil bei Wahlen aus- scheidungsfähigkeit des Staates. Das ist das Problem. zudrücken. Das ist der Anspruch. Für diesen Anspruch gibt es ein Leitmotiv. In der Umsetzung des Prinzips Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- antwortung heißt dieses Leitmotiv: Verhinderungsmacht wie des Abg. Olaf Scholz [SPD]) im Staat abbauen, Gestaltungsmacht aufbauen. (B) (D) Auf dieses Problem richtet sich auch der Vorwurf der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Menschen. Wir reden relativ viel über Politikverdros- Fritz Rudolf Körper [SPD]) senheit und ich glaube, dass es dieses Phänomen gibt. Politik darf nicht mehr verhindern wollen, sondern muss Ich bin auch davon überzeugt, dass dieses Phänomen, den Anspruch haben, zu gestalten. Worin drückt sich diese Unzufriedenheit, einen zentralen Vorwurf an die dies konkret und in den Schwerpunkten aus? Ich möchte Politik beinhaltet: Ihr tut nicht das, was das Wichtigste einige der Punkte benennen. ist, das, wozu ihr da seid, nämlich Probleme zu lösen. Dafür seid ihr gewählt und das tut ihr zu wenig. – Dieser Zunächst will ich unterstreichen, was das große Ziel Vorwurf stimmt. Darum müssen wir etwas ändern. ist, nämlich die Zahl der zustimmungsbedürftigen Ge- setze in der Bundesgesetzgebung zu vermindern. Inzwi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schen ist es so, dass über 60 Prozent der Gesetze, die neten der SPD) hier im Bundestag verabschiedet werden, nicht mehr ohne die Zustimmung auch des Bundesrates in Kraft tre- Ich meine das natürlich nicht in quantitativer Hin- ten können. Wir und auch die Bürger können nicht wol- sicht. Es werden im Bund permanent Entscheidungen len, dass die Mehrheit, die auf Zeit legitimiert wurde, am getroffen und Gesetze produziert. Aber es geht um den Ende nicht entscheiden kann. Das höhlt das Wahlrecht Verlust von Problemlösungsfähigkeit. Mit diesem Vor- aus. wurf sind wir alle, die wir hier im Parlament Verantwor- tung tragen, konfrontiert. Für diese Unzulänglichkeit, für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) diese Misere – ich will das Kind beim Namen nennen – Wir werden mit dieser Reform die Zahl der zustim- gibt es viele Gründe. Aber es gibt einen ganz wichtigen mungsbedürftigen Gesetze – das ist das Ergebnis einer Grund, und zwar die Frage, wie wir das Verhältnis zwi- Bewertung dieser Reform, bezogen auf die Gesetzge- schen Bund und Ländern organisiert haben. Es geht bung der letzten Legislaturperiode; das ist recherchiert darum, dass wir das Zusammenwirken von Bund und worden – um ein Drittel reduzieren. Ein Drittel weniger Ländern, die Verantwortung beider Ebenen, in ein Sys- Zustimmungsgesetze, das ist ein enormer Zugewinn für tem der Vermischung von Verantwortung über fast die legitime Durchsetzungskraft der gewählten Mehr- alle staatlichen Aktivitäten verwandelt haben: Vermi- heit. Was dies bedeutet, können wir als Bundestag nicht schung bei der Gesetzgebung, Vermischung bei der Fi- hoch genug einschätzen. Wir werden damit in Deutsch- nanzierung und Vermischung bei der Verwaltung des land die Art, Politik zu machen, verändern. Die Politik Staates. hat dann wieder die Chance, Strukturentscheidungen zu 1772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Norbert Röttgen (A) treffen. Diese sind oft noch nicht getroffen worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C) Stattdessen werden permanent Reparaturentscheidun- gen getroffen. Erstmalig wird die Möglichkeit bestehen, einheitliche Standards in diesem Bereich zu schaffen. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ja, richtig!) Es ist eine Legende, dass die Länder von allem abwei- Es ist ein Unding, dass der Vermittlungsausschuss chen können. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. die Reparaturkammer der deutschen Politik ist. Der Bund behält ausschließliche Gesetzgebungskompe- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der tenzen in diesem Bereich. Die Länder können insoweit FDP) keine abweichenden Regelungen treffen. Der Bund be- hält konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten. Auch Das darf nicht so weitergehen, weil es letztlich alle ent- da ist den Ländern kein Abweichen möglich. Nur in dem mündigt. Es ist ein intransparentes Gremium, durch das marginalen kleinen Bereich, in dem die Rahmengesetz- alle Mitglieder des Bundestages entmündigt werden, gebung bisher beim Bund lag – die Gesetzgebungskom- weil sie dessen Ergebnisse letztlich nur noch ablehnen petenz war eingeschränkt; er konnte lediglich die Grund- oder ihnen zustimmen können; sie können kein Komma sätze bestimmen –, erhält er jetzt die volle Kompetenz. mehr ändern. Wir alle als Abgeordnete werden entmün- Die Länder können abweichende Regelungen treffen, digt. aber nur in den Bereichen, die ihnen vorgegeben werden. Auch die Bürgerinnen und Bürger werden entmün- Der Bund ist deshalb der Gewinner der Reform. Wir digt, weil sie bei diesem geheim tagenden Gesetzge- können wieder Politik für das ganze Land machen. bungsorgan – in einem demokratischen Staat wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit Politik gemacht; das muss (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- man sich einmal vorstellen – nicht mehr erkennen kön- neten der SPD) nen, wer für die Politik verantwortlich ist. Wenn die Bür- Ich will einen letzten Gesichtspunkt ansprechen. Die ger die Verantwortlichkeiten nicht mehr erkennen kön- Reform ist ein Kompromiss – darin liegt das Wesen der nen, dann entmündigen wir sie. Insofern bedeutet unser Verfassungsgesetzgebung –, der im Konsens entstanden Vorhaben einen riesigen Fortschritt. ist. Dabei gibt es fast nur Gewinner. Der Bundestag ist Fortschritte gibt es auch an anderer Stelle, etwa bei ein Gewinner – ich habe bereits versucht, das zu erläu- der konkurrierenden Gesetzgebung. Nur noch in elf tern –, weil er seine durch Wahlen erhaltene Legitima- von 33 Fällen ist der Erforderlichkeitsnachweis für die tion umsetzen kann. Die Landtage werden Gewinner Bundesgesetzgebung notwendig. Wir schaffen mit der sein, weil sie eigene Gestaltungskompetenzen erhalten. Rahmengesetzgebung eine ganze Gesetzgebungskate- Die Ministerpräsidenten sind keine Gewinner der Re- (B) (D) gorie ab. Das ist gut und richtig, form. Der Bundesrat gibt Kompetenzen an den Bundes- tag und die Landtage ab. Es ist doch ein demokratischer (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Richtig!) Gewinn, wenn Zuständigkeiten von der Exekutive zur weil die Rahmengesetzgebung sozusagen als Gesetzge- Legislative verlagert werden. Ein solches Vorhaben kann bungstypus auf die Vermischung von Bundes- und Lan- man doch nur befürworten. despolitik angelegt ist. Wir teilen die damit verbundenen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kompetenzen zwischen Bund und Ländern auf; einiges neten der SPD und des Abg. Dr. Guido geht an den Bund, anderes an die Länder. Westerwelle [FDP]) Nebenbei bemerkt – die Reform ist noch nicht be- schlossen; darum sollte man vorsichtig sein –: Der Bund Auch die Bürger sind die Gewinner, weil der Staat ent- ist der eindeutige Gewinner. Denn nach der Grundge- scheiden kann und sie die entsprechende Politik besser setzänderung 1994 und der anschließenden Rechtspre- beurteilen können. chung hat der Bund nur noch sehr geringe Gesetzge- Alle, die das Thema unter dem Gesichtspunkt der bungskompetenzen in der Rahmengesetzgebung. Wir staatspolitischen Verantwortung angehen, werden sich haben auf diesem Gebiet kaum noch Kompetenzen, kön- an den Beratungen im Gesetzungsgebungsverfahren be- nen also kaum etwas verlieren, gewinnen jetzt aber teiligen; aber letztlich können sie sich der praktischen Kompetenzen hinzu. Alternative nicht entziehen, die dem schlechten Status Wir verlieren übrigens nicht die Möglichkeit der quo vorzuziehen ist. Hochschulförderung, Frau Kollegin Sager. Die Grünen haben dem Vorhaben schon einmal zuge- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stimmt. Erinnern Sie sich an die Verantwortung, die Sie Wie wollen Sie noch Sonderprogramme ma- damals wahrgenommen haben! chen?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – – Bitte beschäftigen Sie sich mit den Sachverhalten! Das Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ist definitiv falsch. Der Bund wird weiter Hochschulför- Das stimmt nicht!) derprogramme durchführen. Das ist auch nötig. Dass die Grünen in diesem Land nichts mehr zu sagen Wir werden in der Umweltpolitik etwas realisieren, haben, liegt daran, dass die Bürger das in Wahlen so ent- was seit vielen Jahren gefordert wird. Es wird ein ein- schieden haben. Je schwächer Ihre taktischen Argumente heitliches Umweltgesetzbuch geben. werden, meine Damen und Herren von den Grünen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1773

Dr. Norbert Röttgen (A) desto weniger werden Sie in Zukunft in Deutschland zu Das Problem dabei ist: Für die Sache, um die es geht, (C) sagen haben. leisten Sie einen Bärendienst, wenn Sie eine gute, demo- kratisch faire Beratung in diesem Haus unterdrücken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie wollen eine Massenanhörung durchführen und die neten der SPD und der FDP – Widerspruch Fachausschüsse ausschalten. beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Nein!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Damit bewirken Sie in Wahrheit nur eines: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion. (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Falsch!) (Beifall bei der FDP) Sie wiegeln diejenigen, die eigentlich gutwillig sind, auf, dagegen zu sein. Wir sind konstruktiv; wir wollen mit- wirken. Wir kennen unsere Verantwortung: Es geht um Dr. Guido Westerwelle (FDP): Deutschland als Ganzes, aber es geht auch darum, dass Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und auch Abgeordnete der Opposition ihre Anliegen vortra- Herren! Ich will zunächst einmal eines klarstellen und gen können und nicht nur dann, wenn aus Ihren eigenen dabei an das anknüpfen, was Kollege Röttgen gesagt hat: Reihen entsprechende Anregungen kommen. Es ist kein Anliegen einer Partei; es ist auch kein Anlie- gen einer großen Koalition oder einer rot-schwarzen Re- (Beifall bei der FDP) gierung, vielmehr muss es das Anliegen der gesamten Nun sagt Herr Kollege Stoiber, das sei die „Mutter al- deutschen Politik sein, dass die Effizienz unseres ler Reformen“; Frau Bundeskanzlerin Merkel sagt, so et- Staatswesens wieder besser wird. was könne nur eine große Koalition zustande bringen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Warten wir einmal ab, was daraus wird! Wir haben die Reden heute ja gehört. Herr Kollege Struck hat bei- Es handelt sich hier nicht um eine Auseinanderset- spielsweise wörtlich gesagt: Das Ergebnis ist offen. – zung zwischen Opposition und Regierung, sondern die Das ist ja bemerkenswert. Wenn das Ergebnis so offen Auseinandersetzung geht quer durch alle Fraktionen und ist, dann verstehe ich nicht, warum Sie uns die ganze dreht sich um die Frage: Wie kann unser Staatswesen Zeit mit der Bemerkung unter Druck setzen wollen, das schneller werden? Wie kann es entflochten werden? Wie Paket sei geschnürt, daran dürfe jetzt auch nicht mehr wird es weniger bürokratisch? Wie kann die Qualität un- gerüttelt werden. serer Entscheidungen besser werden? Wie kann der Staat besser werden? Das – und kein parteipolitisches Hin und (Jörg Tauss [SPD]: Das haben Sie doch (B) Her – muss der Maßstab bei diesen Beratungen sein. gesagt!) (D) Denn diejenigen, die im Bundestag gegeneinander auf- Entweder ist das Paket geschnürt, Herr Kollege Kauder, gestellt sind, auf der einen Seite die Regierungsbank und oder, Herr Kollege Struck, das Ergebnis ist offen. auf der anderen Seite wir als Teil der Opposition, treffen sich ja spätestens im Bundesrat wieder. Sie wissen, dass (Zuruf Volker Kauder [CDU/CSU]: Reingu- Sie eine Föderalismusreform nicht durchsetzen können, cken können wir ja mal!) ohne dass die von der FDP mit regierten Bundesländer Wir werden schon miteinander darüber reden müssen. zustimmen, weil ansonsten keine verfassungsändernde Mehrheit möglich ist. Jetzt will ich zur Sache selbst kommen. Es ist auch notwendig, dass man dazu einige Bemerkungen macht. Deswegen will ich vorab ausdrücklich würdigen: Es Gewinner einer Föderalismusreform ist doch nicht der hat zu allen Zeiten, vor allen Dingen in der Zeit der Re- Bundestag, ist doch nicht die Bundesregierung, ist doch gierungsbildung, immer wieder Abstimmungsgespräche nicht eine Landesregierung und ist auch nicht ein Land- gegeben und die Bundesregierung hat sich immer wieder tag; Gewinner einer Föderalismusreform sind die Bür- bemüht, jedenfalls die FDP als liberale Oppositionspar- gerinnen und Bürger. tei in die Gespräche und die Beratungen mit einzubezie- hen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall des Abg. Olaf Scholz [SPD]) Das ist der einzige Maßstab, den wir in dieser Debatte anlegen sollten. Nachdem ich das gesagt habe, will ich aber auch das Folgende anführen: Es ist natürlich notwendig, dass wir, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nachdem wir hier miteinander demokratisch gut und fair der CDU/CSU) umgegangen sind, das auch in Zukunft tun. Das, was Sie Es geht nicht darum, ob wir oder andere mehr Rechte ha- gestern veranstaltet haben, nämlich die normalen parla- ben werden; es geht darum, ob die Deutschen etwas von mentarischen Beratungen faktisch zu beenden, steht in dieser Reform haben. großem Widerspruch zu dem, was heute Vormittag hier von Herrn Kauder und von Herrn Struck gesagt worden Der Zustand unserer Verfassung heute ergibt sich teil- ist. Das muss man an dieser Stelle ganz klar betonen. weise aus dem, was von der großen Koalition Mitte der 60er-Jahre fehlerhaft gemacht wurde; das wollen wir da- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bei kurz festhalten. der LINKEN – Fritz Rudolf Körper [SPD]: Das ist falsch!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) 1774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Guido Westerwelle (A) Es ist richtig, dass die heutige große Koalition das wie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) der in Ordnung bringt, was die andere große Koalition Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter, SPD- damals „versaubeutelt“ hat. Das kann man hier auch of- Fraktion. fen ansprechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ein Existenzgrund der Klaus Uwe Benneter (SPD): jetzigen großen Koalition!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle- – Da ist wohl was dran. Sie stimmen dem ja zu; Sie wis- ginnen und Kollegen! Herr Westerwelle hat Recht: Es sen das als Jurist ja auch. kommt in erster Linie darauf an, welche Politik gemacht wird, nicht darauf, wer in welchen Verästelungen dafür Das Entscheidende ist aber: Derzeit haben wir eine zuständig ist. Aber wir müssen feststellen, dass es dem völlig verquere Verantwortungslage der Politik. Nur Bürger heute nicht mehr ohne weiteres möglich ist, zu wenn die Bürger sehen können, dass ihnen diese oder erkennen, wer Verantwortung für welchen Bereich und jene Maßnahme von einer Landesregierung oder von der für welche Ergebnisse trägt. Der Kollege Röttgen hat Bundesregierung eingebrockt worden ist, können sie die gerade sehr eingehend dargestellt, wie in Geheimdiplo- Regierenden wirklich zur Verantwortung ziehen. Deswe- matie und eigentlich entgegen allen Grundsätzen einer gen liegt die Trennung der verschiedenen Ebenen zual- parlamentarischen Demokratie Ergebnisse im Vermitt- lererst im Interesse der Bürger. lungsausschuss erzielt werden, die von uns allen hinzu- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) nehmen sind, ob wir wollen oder nicht. Das ist die ge- genwärtige Situation. Insofern sind wir uns alle darüber Das zählt für die Freien Demokraten. einig: Deutschland braucht neue Verfassungsbestimmun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen. In allen Diskussionen, die – seit Ende 2003 konzen- der CDU/CSU und der SPD) triert – über das Thema Föderalismusreform in Deutsch- land geführt wurden, habe ich niemanden gehört, der Da meine Redezeit in Kürze zu Ende ist, möchte ich dies infrage stellt. Jeder betont zwar, dass das Grundge- noch Folgendes sagen: Wir legen Wert darauf, dass das setz die beste Verfassung ist, die wir jemals in der deut- eingehalten wird, was in dem Gespräch, das in Ihrem schen Geschichte hatten. Jeder sagt aber auch, dass nach Haus stattgefunden hat, Frau Bundeskanzlerin, zwischen bald 60 Jahren eine Reform des Zusammenspiels zwi- Ihnen und Herrn Müntefering vereinbart worden ist. schen Bund und Ländern dringend notwendig geworden Darauf hat auch Herr Professor Pinkwart als stellvertre- ist. tender Ministerpräsident hingewiesen. Das, worüber (B) heute hier diskutiert wird, ist ein kleiner Schritt. Es ist Nun haben die Koalitionsfraktionen einen detaillier- (D) ein Schritt in die richtige Richtung, soweit es um die ten Gesetzentwurf eingebracht, den auch die Minister- Entflechtung der Staatsverantwortungen geht. Es muss präsidenten im Bundesrat auf den weiteren parlamentari- aber wie vereinbart auch der zweite Schritt gemacht wer- schen Weg gebracht haben. Aber nach Ansicht vieler den. Sie haben zugesagt, dass auch die Finanzbeziehun- Kritiker bringt dieser Gesetzentwurf weder das, was gen zwischen Bund und Ländern neu geordnet wer- Deutschland bräuchte, noch das, was die Deutschen den. Wir verlangen, dass Sie Ihr Wort halten. Nur dann wollten. Diesen Kritikern kann ich nur entgegenhalten: können Sie erwarten, dass auch wir, die Opposition, kon- Wir haben bei diesem Reformwerk kein leeres Blatt vor struktiv mitwirken. Das muss an dieser Stelle klar gesagt uns. Wir stehen nicht auf der grünen Wiese, auf der wir werden. von neuem anfangen könnten. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus Wir haben eng beschriebene Seiten, was die bundes- Uwe Benneter [SPD]) staatliche Ordnung angeht, und können diese nicht, selbst wenn wir das wollten, mit einem Federstrich weg- Die Qualität hängt – auch in der Bildungspolitik – wischen. Wenn die PDS postuliert, man könne dies ein- weniger davon ab, welche staatliche Ebene zuständig ist. fach wegwischen und neu anfangen, dann habe ich dafür (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) noch halbwegs Verständnis; aber wenn Sie, Frau Sager, und die Grünen sich auf diesen Standpunkt stellen, dann Sie hängt vielmehr in erster Linie davon ab, welche Poli- fehlt mir dafür das Verständnis. tik tatsächlich gemacht wird. Deswegen richtet sich un- ser Maßstab nicht nach der Frage, welche politische , als ehemaliger hessischer Ministerpräsi- Ebene zuständig ist, sondern danach, dass die Bildungs- dent und ehemaliger Bundesminister ein ganz profunder einrichtungen wieder mehr Autonomie haben. Die Zu- Kenner der Materie, um die es hier geht, hat als angebli- ständigkeit des Bundes garantiert noch lange nicht, dass chen Geburtsfehler dieser Reform ausgemacht, dass am die Qualität zunimmt, ebenso wenig die KMK, die sich Anfang nicht die Frage stand, was Deutschland und die bislang nicht als Qualitätsgarant erwiesen hat. Entschei- Menschen im 21. Jahrhundert brauchen, sondern die dend ist, dass wir Wettbewerb bekommen. Wer den Frage: Was gibst du mir, wenn ich dir etwas abgebe? – Wettbewerb fürchtet, der fürchtet in Wahrheit die Quali- Das war, wenn man so will, die Frage am Anfang. Ich tät. Das ist in meinen Augen falsch. teile die Einschätzung von Hans Eichel, aber ich muss diese Erkenntnis als blutleer und blass bezeichnen; denn (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wer Deutschlands Verfassung heute handhabbarer und der CDU/CSU) damit zukunftsfähiger machen will, der muss von dem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1775

Klaus Uwe Benneter (A) ausgehen, was sich mit Billigung des Bundesverfas- Sie den Menschen draußen einmal erklären. Das ist die (C) sungsgerichts im Zusammenspiel von Bund und Ländern heutige Rechts- und Verfassungslage! entwickelt hat. Es reicht nicht, immer nur Erwartungen zu benennen und Befürchtungen zu äußern. Das wird (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der uns nicht zu Lösungen bringen. Wer gestalten will, darf CDU/CSU) sich keine Scheuklappen anlegen und darf sich nicht nur Richtig ist, dass in Art. 31 des Grundgesetzes steht: an dem Wünschbaren orientieren. Wer gestalten will, muss alle mitwirkenden und einwirkenden Kräfte einbe- Bundesrecht bricht Landesrecht. ziehen, auch wenn sie sich heute hier nicht sehen lassen. Aber dort, wo es kein Bundesrecht gibt – auch das muss Wer gestalten will, der muss auch berücksichtigen, was sich jeder bewusst machen –, kann kein Landesrecht von denn wäre, wenn alles beim Alten bliebe. Bundesrecht gebrochen werden. Das war ein Grund da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für, warum wir uns hier etwas Neues einfallen lassen der CDU/CSU – Dr. Hans-Peter Friedrich mussten. Ein Ergebnis ist, dass der Bundestag bis zum [Hof] [CDU/CSU]: Das ist eine gute Frage!) Jahre 2009 endlich das lang ersehnte komplette Umwelt- gesetzbuch einschließlich einer integrierten Vorhabens- Was würde denn passieren, wenn man nichts ändern genehmigung für alle Umweltmedien bundesweit vorge- würde? Sie haben von falschen Weichenstellungen ge- ben kann. Dieser große Erfolg wurde gerade im sprochen. Am Beispiel des Hochschulrahmenrechts Umweltbereich erzielt. Ich bitte darum, das einfach ein- hat das Bundesverfassungsgericht klar entschieden, dass mal zur Kenntnis zu nehmen. Wenn ein Landesparla- der Bundestag überhaupt nur noch dann ein Gesetz be- ment davon abweichen will, dann kann es das zwar schließen darf, wenn durch unterschiedliches Recht in grundsätzlich tun, muss es aber landespolitisch verant- den Ländern eine Gefahrenlage entsteht und sich die worten und umsetzen. Lebensverhältnisse zwischen den Ländern in einer un- erträglichen Weise auseinander entwickeln. Das ist die Die EU-Umweltrichtlinien verhindern im Übrigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu. Ökodumping. Hinzu kommt, dass in den wichtigsten Be- Die Beweislast, ob es zu einer unerträglichen Auseinan- reichen des wirtschaftsrelevanten Umweltrechts – dort derentwicklung kommt und Gefahrenlagen geschaffen ist die Gefahr eines Ökodumpings besonders groß – werden, trägt der Bundestag. Das betrifft den gesamten nicht abgewichen werden darf. Auch das sollten Sie end- Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 lich einmal zur Kenntnis nehmen. Wer jetzt gegen die des Grundgesetzes und alles, was zur Rahmengesetzge- Abweichungsmöglichkeiten der Länder wettert, der bung in Art. 75 steht. Das betrifft den Kündigungsschutz muss wissen: Wenn alles beim Alten bliebe, könnte der Bundestag in der Zukunft fast im gesamten Umweltbe- (B) genauso wie den Naturschutz. Das ist der gesamte Kata- (D) log. – Herr Ramelow, Sie unterhalten sich gerade. reich gar nichts mehr regeln. (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Ich höre Ihnen Was Herrn Westerwelle und seinen Hinweis auf die aufmerksam zu!) Finanzverfassung angeht: Das ist der FDP zugesagt. Die Kanzlerin hat vorhin heftig genickt. Die nächste Sie befürchten die Atomisierung des Arbeitsrechts. Die Stufe, die Beratung der Finanzbeziehungen von Bund müssen Sie dann befürchten, wenn Sie alles so weiter und Ländern, wird zügig in Angriff genommen. Das ge- laufen lassen wie bisher. Das, was ich gerade gesagt schieht aber nicht, um in der Bundesrepublik Deutsch- habe, betrifft nämlich auch das ganze Arbeitsrecht in der land einen Wettbewerbsföderalismus durchzusetzen, Bundesrepublik. sondern um gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu gewährleisten. Wir möchten diesem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ziel, auch was die Finanzbeziehungen angeht, näher Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Da haben Sie kommen. keine Ahnung vom Arbeitsrecht!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nicht nur alle neuen Gesetze, auch alle Gesetze dieser NEN]: Werden Sie sich erst mal einig!) Materien, die der Deutsche Bundestag seit 1994, näm- lich dem Zeitpunkt der Verfassungsänderung zu Im weiteren Verfahren werden wir für mehr Klärung sor- Art. 72 Abs. 2, verabschiedet hat, könnten die Länder gen. nach geltender Lage vor dem Bundesverfassungsgericht Wir werden auch klären, was der neue, im Hinblick kippen. Das betrifft auch andere einheitliche Vorausset- auf kostenbelastende Gesetze eingeführte Zustim- zungen, zum Beispiel den Schutz von wild lebenden Tie- mungstatbestand bringt. Nach dem Urteil von Verfas- ren und Pflanzen in Naturschutzgebieten. Das alles kann sungsexperten ist das zumindest unklar, sodass man angefochten werden. Das ist bisher nicht erfolgt. Bisher noch einmal ganz genau prüfen muss, ob die angestrebte wissen wir nur, dass die Länder erfolgreich gegen das Reduzierung der Anzahl der zustimmungspflichtigen Hochschulrahmengesetz des Bundes vorgegangen sind. Gesetze tatsächlich gelingt. Das betraf die Studiengebühren und die Juniorprofessu- ren. Das ist aber auch bei der Abfallbeseitigung, bei der Der Kollege Röttgen hat natürlich vollkommen Luftreinhaltung, beim Lärmschutz, beim Naturschutz Recht: Eines der wichtigsten Ziele dieser Reform ist es, und bei den Bundeswassergesetzen möglich. Dann für klar getrennte Zuständigkeiten und für klar getrennte würde von einem bundesweit geltenden Umweltschutz Aufgabenbereiche zu sorgen, sodass wir hier im Bundes- überhaupt nichts mehr übrig bleiben. Auch das müssen tag wirklich bundespolitische Entscheidungen treffen 1776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Klaus Uwe Benneter (A) können. Wenn die Reduzierung der Zustimmungstatbe- überschaubar. Heute besteht im Rahmen des Grundge- (C) stände nicht gelänge, dann verlöre diese Reform mit Si- setzes folgende Rechtslage: Auf der einen Seite gibt es cherheit einen wesentlichen Teil ihrer ursprünglichen den Kompetenztyp der konkurrierenden Gesetzgebung Zielstellung. Herr Röttgen, in der Tat: Der Staat muss mit Erforderlichkeitsklausel bei Abfall, Luftreinhaltung besser werden. und Lärmbekämpfung. Zum anderen gibt es die Katego- rie des Rechts Wasser, Naturschutz, Landschaftspflege, Wir müssen sicher auch über das Kooperationsver- Jagd und Raumordnung in der Rahmengesetzgebung des bot von Bund und Ländern im Bereich der ausschließli- Bundes, die von den Ländern ausgefüllt werden kann. chen Landesgesetzgebung nachdenken. Das ist hier Bisher gibt es also zwei Kompetenztypen. Was wir schon mehrfach angesprochen worden. Wie ist der schon bisher als Kompetenzwirrwarr angesehen haben, Strafvollzug auf die Liste gekommen? Das liegt zum ei- ist so problematisch, dass sich die gesamte umwelt- und nen daran, dass der Bund keine Gefängnisse hat und rechtswissenschaftliche Fachwelt darüber einig ist: Wir auch in der Zukunft keine braucht. Das hoffe ich jeden- brauchen eine Reform dieses Systems. Darüber besteht falls. Jetzt geht es aber darum, dass wir beim Strafvoll- ganz klar Einvernehmen. zug keine völlig neuen Orientierungen – weg von der Resozialisierung – in der Bundesrepublik Deutschland Woran soll sich die Neugestaltung ausrichten? Sie soll zulassen. Wir sind das unseren früheren Justizministern sich an den Herausforderungen einer modernen Umwelt- Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel und wie sie alle politik orientieren, sie soll eine Kompetenzentflechtung heißen, aber auch der Menschenwürde in Deutschland entlang der Sachaufgaben vornehmen, sie soll europa- schuldig. rechtstauglich sein und sie soll die Grundlagen für ein Umweltgesetzbuch schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Wenn man sich vor diesem Hintergrund das anschaut, was die große Koalition vorgelegt hat, dann kann man Strafvollzug hat etwas mit Menschenwürde zu tun. Dies wirklich sagen – ich werde das gleich auch begründen –: darf also kein Auftakt für einen weiteren Versuch sein, Es wird nicht besser, sondern es wird schlechter. Es wird beim Strafvollzug nicht mehr die Resozialisierung in nicht einfacher, sondern es wird komplizierter. Was Sie den Mittelpunkt zu stellen, sondern den Rachegedanken. vorlegen, ist kein Beitrag zur Konfliktvermeidung, son- Für uns gilt: Hier gibt es kein Niederbügeln. Frau dern bewirkt zusätzliche Konflikte, die letzten Endes Künast, wir schlucken nicht einfach, was uns vorgesetzt – das prognostizieren wir – sogar vor dem Verfassungs- wird, sondern wir schmecken gut ab und achten dabei gericht landen werden. auch darauf, dass wir uns nicht die Zunge verbrennen. Die Vorschläge gehen in die Irre. Das will ich an drei (B) Aber wir nehmen unsere Gestaltungsverantwortung Beispielen ganz besonders deutlich machen: (D) wahr und wir nehmen diese Verantwortung auch als eine Gestaltungschance ernst.Dies setzt voraus, dass wir eben Erstens. Die vorgesehene Kompetenzordnung ist ab- nicht nur an das Wünschbare, sondern auch an die erfor- solut unsystematisch. Statt zwei werden wir in Zukunft derlichen Mehrheiten denken. – Herr Benneter, das wissen Sie – fünf Kompetenz- zuordnungstypen haben: die ausschließliche Bundes- Vielen Dank. kompetenz, die konkurrierende Gesetzgebung mit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Erforderlichkeitsklausel, ohne Erforderlichkeitsklausel, mit Abweichungsbefugnissen für die Länder und die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das sind statt zwei fünf Kategorien. Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Loske, Bünd- nis 90/Die Grünen. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das stimmt so nicht!) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Da kann einem schon schwindelig werden. Deswegen NEN): möchte ich Herrn Röttgen gern fragen: Ist das wirklich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ein Beitrag zur Erreichung einer klaren Zuweisung von Es fügt sich ganz gut, dass ich im Anschluss an die Kol- Kompetenzen? Ich würde sagen: Das ist eher ein Be- legen Röttgen und Benneter rede. Herr Röttgen hat die schäftigungsprogramm für Juristen und gewiss kein Bei- These vertreten, die klare Zuweisung von Verantwortung trag zum Abbau von Bürokratie. sei der zentrale staatspolitische Anspruch dieser Reform. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sowohl Herr Röttgen als auch Herr Benneter haben die Klaus Uwe Benneter [SPD]: Was Sie sagen, ist geplante Föderalismusreform also mehr oder weniger als diskriminierend!) einen Segen für die Umweltpolitik bezeichnet. Ich will dieser These im Folgenden nachgehen und prüfen, ob sie – Nein, keineswegs. Ich kann ja verstehen, dass Herr zutreffend ist. Röttgen und Sie für den Berufsstand der Juristen wer- ben; das ist durchaus legitim. Im Bereich des Umweltschutzes klagen wir seit lan- gem darüber – das ist ganz gewiss wahr –, dass das Ich kann noch eine andere Stimme anführen. Der Ge- Recht völlig zersplittert ist. Dieser Flickenteppich ist schäftsführer Dierk Müller von der Amerikanischen nicht mehr zeitgemäß, nicht mehr sachgerecht, nicht Handelskammer in Deutschland sagt auf der Grundlage mehr europarechtstauglich und vor allem nicht mehr Ihrer Pläne: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1777

Dr. Reinhard Loske (A) Jeder macht, was er will – und der Investor weiß dass Sie durch Ihre Vorhaben das Umweltgesetzbuch, (C) nicht, was er tun soll. das kommen wird und das Sie loben und preisen, im Prinzip zu einer leeren Hülle machen, indem Sie den Das bringt die Sache ziemlich gut auf den Punkt. Ländern sehr weit gehende Abweichungsmöglichkeiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zugestehen. Das wissen Sie auch ganz genau. Der zweite Aspekt. Mit den exzessiven Abwei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- chungsmöglichkeiten, die Sie für die Länder im Natur- SES 90/DIE GRÜNEN) schutz, im Gewässerschutz und in der Raumordnung schaffen, leiten Sie – das können Sie definitiv nicht weg- Dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen und alle reden – einen Wettbewerb um niedrigste Umweltstan- anderen Umweltexperten diese Möglichkeiten in Bausch dards ein. Das wäre fatal und muss deshalb dringend und Bogen verurteilt haben, hat natürlich damit zu tun, unterbleiben. Vor allem passt es überhaupt nicht zusam- dass die abweichungsresistenten Kerne nur einen gerin- men, wenn die Umweltverwaltungen in den Ländern, gen Umfang einnehmen. Diese Antwort möchte ich Ih- beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Hol- nen gerne auf Ihre Frage geben. stein und Niedersachsen abgebaut werden, für diese aber (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- jetzt zusätzliche Kompetenzen reklamiert werden. Die SES 90/DIE GRÜNEN – Klaus Uwe Benneter Abweichungsmöglichkeiten der Länder sind also ein fa- [SPD]: Darf ich Ihnen noch eine Frage stel- taler Irrweg. len?) Vor allem ist Ihre Begründung wirklich hanebüchen. – Ich würde jetzt gerne fortfahren. Sie sagen, es gäbe regionale Unterschiede und deswegen dürfe abgewichen werden. Es ist doch klar, dass Natur- Dritter Punkt. Ihre Vorschläge bezüglich der Abwei- schutz im Alpenraum etwas anderes bedeutet als Natur- chungsmöglichkeiten und Erforderlichkeiten machen schutz in der Norddeutschen Tiefebene oder dass das Umweltgesetzbuch zur Farce. Dadurch würde es zu Hochwasservorsorge am Rhein etwas anderes ist als der Situation kommen, dass es zwar ein Umweltgesetz- Hochwasservorsorge an der Oder. Man braucht trotzdem buch gibt, man aber, wenn man nachsehen will, was es einheitliche Regeln, Prinzipien und Verfahren. Es gibt mit dem Umweltrecht auf sich hat, nicht sicher sein doch auch kein unterschiedliches Landwirtschaftsrecht, kann, ob dieses Recht an dem Ort, wo man lebt oder in- nur weil in der Uckermark und in der Magdeburger vestieren will, auch tatsächlich gilt, weil die Länder da- Börde unterschiedliche Standortbedingungen vorhanden von abgewichen sein könnten. sind. Es muss Einheitlichkeit hergestellt werden. Ein Umweltrecht aus einem Guss sieht vollkommen (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) anders aus. Mit einer solchen Regelung im Umweltbe- (D) reich machen wir uns in Europa lächerlich und hand- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lungsunfähig. Das muss ich ganz klar sagen. Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des Kollegen Benneter? Wir wollen einen einheitlichen Kompetenztitel „Um- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- welt“ mit einer klaren konkurrierenden Gesetzgebung, NEN): ohne Abweichungsmöglichkeiten und Erforderlichkeits- Gerne. klauseln. Den Interessen der Länder können wir entge- genkommen – das hat der Sachverständigenrat für Um- weltfragen, wie Sie, Herr Benneter, sehr genau wissen, Klaus Uwe Benneter (SPD): deutlich beschrieben – durch normierte Öffnungsklau- Herr Kollege Loske, haben Sie denn mitbekommen, seln. dass im Naturschutzbereich die Grundsätze des Natur- schutzes sozusagen abweichungsfrei sind? Zum ersten Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ich Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat der Bund weiß, dass das, was ich hier für meine Fraktion vortrage, eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die auch von sehr vielen Kolleginnen und Kollegen in den Grundsätze des Naturschutzes. Die gilt es zu formulie- Koalitionsfraktionen so gesehen wird. Im Umweltaus- ren. Sie sollten jetzt Ihr ganzes Gehirnschmalz einbrin- schuss herrschte ein schon fast sensationelles Maß an gen, damit wir hier zu guten Ergebnissen kommen. Fin- Einvernehmen. Deshalb fordern wir die Union und die den Sie nicht auch, dass das der richtige Weg wäre? SPD auf, unsere Bedenken ernst zu nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abschließend möchte ich noch ein Zitat bringen. Sie CDU/CSU) können nun wirklich nicht behaupten, die Fachleute stünden auf Ihrer Seite. Eine solche Aussage grenzt an Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Realitätsverweigerung. Der Vorsitzende des Sachver- NEN): ständigenrates für Umweltfragen schreibt zusammen- Theoretisch ist das richtig, aber praktisch besteht das fassend, Problem, … dass der SRU in zahlreichen Gesprächen mit (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Für die Praxis Fachleuten des Umweltschutzes nirgends auf Zu- sind wir zuständig!) stimmung zu dem Koalitionsvorschlag gestoßen ist. 1778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Reinhard Loske (A) Diese Einhelligkeit der Kritik sei außergewöhnlich und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) für die Politik sicher bedenkenswert. neten der SPD) Ich hoffe, der SRU hat Recht; denn das, was Sie hier Das gilt erst recht deshalb, weil weite Teile der Opposi- vorlegen, ist in Sachen Umweltschutz eine Verschlechte- tion an diesem Gesetzentwurf mittelbar als Mitglieder rung und ganz gewiss keine Verbesserung. der Föderalismuskommission mitgearbeitet und mitge- staltet haben. Die FDP erinnert sich wohl an diese Tatsa- Danke schön. che; aber bei den Grünen habe ich das Gefühl, dass ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) partieller Gedächtnisverlust eingetreten ist, weil man jetzt nicht mehr Regierung, sondern Opposition ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Nächster Redner ist der Kollege Michael Grosse- Damit werden Sie der Bedeutung dieses Gesetzentwur- Brömer, CDU/CSU-Fraktion. fes nicht gerecht, meine Damen und Herren von der grü- (Beifall bei der CDU/CSU) nen Fraktion. Diesen Schuh darf sich übrigens auch die linke Fraktion anziehen. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Sie vergessen in diesem Zusammenhang, dass wir alle Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und als Parlamentarier ebenfalls ein fundamentales Interesse Kollegen! Herr Loske, wenn man Ihnen zuhört, be- an dieser Reform der bundesstaatlichen Ordnung haben. kommt man den Eindruck, in Deutschland existierten zu Es geht nämlich im konkreten Fall auch um unsere urei- wenige Gesetze im Umweltbereich. Wenn Sie den Ge- genen Interessen. Durch dieses Gesetz wird die Anzahl setzentwurf gerade in diesem Punkt richtig lesen, kön- der zustimmungspflichtigen Gesetze verringert. Da- nen Sie feststellen, dass erstmalig die Chance der Kodi- durch nimmt zwangsläufig die Zahl der Sitzungen des fizierung, der Zusammenfassung und damit aus meiner Vermittlungsausschusses ab. Damit wird es weniger par- Sicht auch der Stärkung des Rechtes im Umweltbereich lamentarische Entscheidungen unter Ausschluss der Öf- gegeben wird. Ich hätte eigentlich gedacht, dass Sie das fentlichkeit in einem kleinen Vermittlungskreis geben. Gegenteil dessen vorgetragen hätten, was ich jetzt von Folglich steigt die Bedeutung der Abgeordneten, weil sie Ihnen gehört habe. nicht nachträglich einen Kompromiss des Vermittlungs- ausschusses absegnen müssen, sondern im Parlament di- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rekter und intensiver an bedeutenden Gesetzesvorhaben neten der SPD) beteiligt werden; denn unwichtige Entscheidungen hat der Vermittlungsausschuss meiner Erinnerung nach nicht (B) Meine Damen und Herren, wir debattieren über unser (D) fundamentalstes Recht. Das Grundgesetz, das wir teil- besonders häufig auf der Agenda gehabt. Diese grundle- weise ändern wollen, ist die Basis unserer Rechtsord- genden, strukturell positiven Wirkungen der Föderalis- nung und bestimmt die Leitlinien unseres Gemeinwe- musreform sollten wir bei allen weitergehenden Bera- sens. Deshalb schützt es sich im Übrigen in Art. 79 auch tungswünschen als Parlamentarier nicht vergessen. selbst vor zu leichtfertigen Veränderungen. Es wird zu Was die weiteren Beratungen betrifft, so bin ich der Recht eine breite Zustimmung in Bundestag und Bun- Meinung, dass der Rechtsausschuss völlig zu Recht fe- desrat verlangt, um das Verfassungsrecht neuen Ent- derführend mit diesem Thema betraut wurde. Es ist ori- wicklungen und Veränderungen anzupassen. ginäre Aufgabe des Rechtsausschusses, sich dem Verfas- sungsrecht zuzuwenden. Darum geht es nun einmal bei Die große Koalition will mit dem heute vorliegenden, dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich bin davon über- gut vorbereiteten Gesetzentwurf diese Herausforderung zeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, annehmen. Die Föderalismuskommission hat mehr als dass wir in einem sehr geordneten und strukturierten ein Jahr in zwei Arbeits- und sieben Projektgruppen un- Verfahren die parlamentarischen Rechte aller Mitglieder ter Einbeziehung des Sachverstandes von Bundesregie- dieses Hauses bei den Beratungen berücksichtigen wer- rung, Landesregierungen, Landtagen, kommunalen Spit- den. Jedenfalls war das nach meiner Kenntnis in der Ver- zenverbänden und Wissenschaft intensiv gearbeitet. Das gangenheit so. Es wird auch in Zukunft so bleiben, wenn Ergebnis war ein detaillierter Kompromissvorschlag, der der Rechtsausschuss tätig wird. jetzt nach Überarbeitung und nach Billigung durch fast alle Ministerpräsidenten diesem Hohen Hause zur Bera- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tung vorgelegt wurde. neten der SPD) Im Kern geht es um die Frage, ob wir die Dynamik in Wir haben es heute schon häufiger gehört: Unser unserem Land verbessern, ob wir die Gesetzgebung ef- Staatsaufbau muss dringend verändert werden. Das sagt fektiver und für den Bürger durchschaubarer gestalten jeder Experte, der sich mit dieser Frage in Deutschland und dadurch Politik- und Staatsverdrossenheit abbauen beschäftigt hat. Wir sollten uns deshalb die notwendige sowie Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit steigern kön- Gelassenheit bewahren und nicht schon bei Verfahrens- nen. Ich finde, diese Ziele sind es wert, dass man sich fragen von „Murks“ reden, wie dies der Kollege Beck ernsthaft Gedanken darüber macht, ob man diesen Ge- gestern in der Geschäftsordnungsdebatte getan hat. Man setzentwurf für parlamentarische Machtspiele benutzt kann nicht jahrelang von der blockierten Republik reden oder bei der Debatte darüber vorrangig das gesamtstaat- und dann bei intensiv vorbereiteten Verbesserungsvor- liche Interesse ins Auge fasst. schlägen reflexartig mit der gesamten Fraktion in Ab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1779

Michael Grosse-Brömer (A) wehrstellung gehen. Ich glaube nicht, dass das ein kon- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) struktiver Weg ist, diesen Gesetzentwurf zu behandeln. Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Frak- tion. Meine Damen und Herren, wir wollen mit dem vorlie- genden Entwurf die alte Tante Föderalismus wieder mit frischem Schwung versehen. Der dominierende Trend Axel Schäfer (Bochum) (SPD): der letzten Jahrzehnte nach In-Kraft-Treten des Grund- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gesetzes war eine Vermischung und Verwischung der Ein wichtiges Ziel der Föderalismusreform, die Ent- politischen Verantwortung bei gleichzeitiger Blockade flechtung der Kompetenzen zwischen dem Bund und der Gesetzgebung. den Ländern, geht einher mit der zunehmenden Ver- flechtung innerhalb der Europäischen Union. Deshalb ist Wir wollen zurück zu den Stärken des Föderalis- die Verbesserung der Europafähigkeit Deutschlands mus: zur klaren Teilung der Staatlichkeit mit dem damit ein bedeutendes Element, welches in dieser Debatte bis- verbundenen Schutz vor Machtmissbrauch; zur Stärkung her leider sehr vernachlässigt wurde. von demokratischer Teilhabe; zu der Grundidee im Übri- gen, dass Wettbewerb in und mit den Ländern dem Ge- (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Deshalb haben samtstaat fördernd zugute kommt. Die Subsidiarität ist wir dich engagiert!) hier schon angesprochen worden; die Kommunen wer- den hier besonders bedacht in Art. 84 neu. Wenn wir über den vor uns liegenden Weg der großen Koalition zur Grundgesetzreform reden, so müssen wir Ein aus meiner Sicht weiterer, sehr bedeutsamer zugleich an den zurückgelegten Weg in Europa erinnern. Punkt ist die Aufhebung von Effizienzschwächen beim staatlichen Handeln. In der Zeit der Globalisierung und 1986 hat der Bundesrat im Ratifikationsprozess zur der extensiven europäischen Rechtsetzung ist es unsere Einheitlichen Europäischen Akte sein Zustimmungs- Pflicht, Defizite in unserer eigenen staatlichen Ordnung recht genutzt, um die innerstaatlichen Mitwirkungsmög- als Erstes zu beheben, bevor wir mit dem Finger auf an- lichkeiten deutlich auszuweiten. Mit der Entscheidung dere zeigen. über die gemeinsame Währung 1992 erhielten die Betei- ligungsrechte der Länder erstmals Verfassungsrang. Im Vor dem beschriebenen Hintergrund wird auch der neu gefassten Art. 23 des Grundgesetzes wurde bei der Faktor Zeit immer bedeutsamer. Wollen wir in der Welt, Willensbildung des Bundes der Bundesrat in außerge- insbesondere in Europa, wirkungsvoller auftreten, so wöhnlicher Weise mit einbezogen, und zwar durch die müssen wir da schneller und besser werden, wo wir er- maßgebliche Berücksichtigung seiner Auffassung, so- (B) kennbar zu behäbig geworden sind und der Verfassungs- fern Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen (D) motor ins Stottern gekommen ist. sind, und bei der ausschließlichen Gesetzgebung durch einen der Plätze am Ratstisch in Brüssel. Meine Damen und Herren, wir werden diesen Ent- wurf intensiv beraten. Dazu werden wir auch Gelegen- Die Informationsbüros der Länder wuchsen in zwei heit haben. In Deutschland ist es üblich, dass bei Verän- Jahrzehnten so gewaltig, dass sie heute zum Teil größer derungen 10 Prozent Unzufriedene lauter klagen, als sind als die Botschaften einzelner Mitgliedstaaten. In 90 Prozent Zufriedene sich freuen. Ich würde mich neun Fällen erhielten diese Einrichtungen gar den Na- freuen, wenn das in diesem konkreten Fall anders wäre. men „Ländervertretung bei der Europäischen Union“. Ganz schlimm wäre aber ein vorgeschobener Ände- Hinzu kommt noch ein Büro des Bundesrates. rungsbedarf in Bezug auf diese Reform mit dem Ziel, (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Hört! Hört!) der großen Koalition keinen Erfolg zu gönnen. Wer das vorhat, muss wissen, dass er nationale Interessen zu- Während sich in der EU in diesen 20 Jahren die Mit- gunsten kurzfristiger Parteiinteressen aufs Spiel setzt. gliederzahl von zwölf auf 25 etwa verdoppelte, ist die Zahl der deutschen Repräsentanten um das Sechsfache Uns bringt, denke ich – so viel zum Abschluss –, bei gestiegen. Allein 400 Landesbeamte und -beamtinnen der vor uns liegenden Aufgabe nur eine Gesamtabwä- sind mittlerweile in den 300 EU-Verhandlungsgremien gung weiter. Lassen Sie uns hinterfragen, ob Deutsch- beteiligt. Weiterhin wurde vor über zehn Jahren unter land durch diese Reform insgesamt schneller, dynami- maßgeblicher Beteiligung des Bundesrates der Aus- scher, demokratischer und bürgernäher wird. Wenn wir schuss der Regionen gegründet, worin heute von insge- hier zu einem positiven Ergebnis kommen, dann müssen samt 24 unserer Vertreterinnen und Vertreter 21 aus den wir bereit sein, angesichts der Größe und Bedeutung die- Ländern kommen. So viel zum bereits bestehenden Ein- ses Vorhabens die bisher gezeigte Kompromissbereit- fluss auf föderaler Ebene. schaft aller Beteiligten auch im Bundestag zu honorie- ren. Jetzt ist es an der Zeit, neben den politischen und re- präsentativen Fragen auch die notwendigen Haushalts- In diesem Sinne freue ich mich auf die anstehenden fragen zu beantworten. Der Anspruch der Länder, auch Beratungen und danke für Ihre Aufmerksamkeit. im Rahmen der EU die Politik mitgestalten zu können, muss durch finanzielle Verantwortung ergänzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) 1780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Axel Schäfer (Bochum) (A) Diese Mitverantwortung kommt am deutlichsten durch barung treffen, um die Beteiligung von uns Abgeordneten (C) die Mithaftung zum Ausdruck, wie sie jetzt – man in Angelegenheiten der Europäischen Union zu verbes- müsste sagen: endlich – im Grundgesetz verankert wird. sern. Deshalb kann ich jenseits aller taktischen Überle- gungen erklären: Im Bereich des tatsächlichen politi- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas schen Einflusses muss der Bundestag mit dem Bundesrat Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]) auf gleiche Augenhöhe auf der europäischen Ebene kom- Konkret bedeutet dies: Bei legislativem, exekutivem men. Da wollen wir hin. oder judikativem Fehlverhalten gegenüber der EU wird (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der klargestellt, dass die Verursacher die Lasten zu tragen CDU/CSU) haben. Das heißt, bei übergreifenden Finanzkorrekturen, wie es so schön in Juristendeutsch heißt, beteiligt sich Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Bundesrats- die Ländergesamtheit mit 35 Prozent. 50 Prozent wird bank, es gibt allerdings einen Unterschied: Wir wollen von denjenigen getragen, die die Kosten verursacht ha- nicht das 17. Land in Brüssel werden. ben. Der Bund – auch das sei erwähnt – leistet einen so- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, richtig!) lidarischen Beitrag von 15 Prozent. Das ist Inhalt des neu gefassten Art. 104 a. Wir errichten nur ein Verbindungsbüro, um ungefiltert und vollständig aktuelle Informationen, die auf die Be- Im neuen Art. 109 Abs. 5 des Grundgesetzes wird zur dürfnisse unseres Parlamentes ausgerichtet sind, zu er- Einhaltung des nationalen Solidarpaktes erstmals eine halten. Beteiligung der Länder eingeführt, falls die EU zu Sank- tionen greifen sollte. Das entsprechende Sprichwort (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir geben kennen wir alle: Haushaltsdisziplin. Der 35-prozentige auch keine Empfänge!) Anteil der Länder entspricht zwar nicht dem durch- schnittlichen Anteil der Länder, inklusive Gemeinden, Der Ort der Mitwirkung des Bundestages ist und bleibt am gesamtstaatlichen Defizit der letzten Jahre. Aber im- Berlin. Das ist der Geist und der Buchstabe des Art. 23 merhin wurde die Mitverantwortung der Partner im des Grundgesetzes. zweigliedrigen Staatsaufbau grundsätzlich wie grundge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ setzlich festgeschrieben. CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Ich sage es hier ganz offen: Ob vor, während oder Abg. Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/ nach der Föderalismusreform, alle Landesregierungen CSU]) sollten sich zukünftig überlegen, ob sie tatsächlich den Anspruch haben sollten, zuweilen wie Regierungen von (B) Das heißt: Es gibt einen Paradigmenwechsel in der (D) EU-Mitgliedern zu agieren. Der immer wieder ge- deutschen Europapolitik. Dieser Wechsel ist richtig und brauchte Hinweis, viele Länder in Deutschland seien wichtig. Es ist gut, dass wir jetzt diesen Weg gehen. größer als eine Reihe von Staaten in der EU, ist zahlen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mäßig sicherlich korrekt, politisch jedoch Unsinn. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich sehe Franz Müntefering hier sitzen. Er weiß sehr Weder mein geliebtes Nordrhein-Westfalen noch das genau: Die Fachleute in der von ihm und Herrn Stoiber schöne Bayern oder das herrliche Land Rheinland-Pfalz geleiteten Kommission waren sich darin einig, dass die sind quasi eigenständige EU-Mitglieder. Ausgestaltung der Länderbeteiligung in unserem Grundgesetz eher einer Geschäftsordnung denn einer (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verfassung entspricht. Die Frage, ob die deutschen Län- Wären sie aber gern!) der in der EU Motor oder Bremser bei der Durchsetzung Sie sind und bleiben Teil der Bundesrepublik Deutsch- von Interessen sind, war deutlich aufgeworfen worden. land. Jawohl, die Länder bleiben in der Verantwortung. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista Künftig wird einer ihrer Vertreter sprechen, falls es um Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schulische Bildung, Kultur oder Rundfunkfragen geht. Aus der bisherigen Sollregelung wird also, wenn es nach Es ist völlig falsch, zu glauben, dass man die Zahl der unseren Vorstellungen geht, eine Mussregelung, die je- deutschen Akteure in Brüssel nur erhöhen muss, um doch – das gehört dazu – auf diese drei Bereiche be- mehr gemeinsamen Einfluss auszuüben. Bei zahlreichen schränkt wurde. Das ist auch dringend notwendig. Denn Beobachtern der EU-Institutionen entsteht der Eindruck: es kann nicht sein, dass die Länder nach der Föderalis- je vielstimmiger unser Chor in Brüssel, desto unklarer musreform in noch mehr Ratsformationen das Vertre- der Text, der gesungen wird. tungsrecht beanspruchen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ CDU/CSU) DIE GRÜNEN) Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung be- Hier schließt sich der Kreis: Die Entflechtung von deutet ein Weiteres: Wir, der Deutsche Bundestag, wer- Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern bei den in diesem Jahr mit der Bundesregierung eine Verein- gleichzeitiger Verflechtung der Politik in der Europäi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1781

Axel Schäfer (Bochum) (A) schen Union wird nur dann die Europafähigkeit gute und konstruktive Gespräche, beispielsweise mit (C) Deutschlands verbessern, wenn auch unsere Länder die Rainder Steenblock von den Grünen und mit Ernst neuen Herausforderungen in einem größer geworde- Burgbacher und , der jetzt nicht mehr dem nen Europa solidarisch wahr- und aufnehmen. Die deut- Bundestag angehört und den ich von hier aus grüßen sche Position im Rat muss klar sein. Das heißt, wir müs- möchte, von der FDP. sen Ja oder auch Nein sagen können und dürfen nicht auf das Mittel der Enthaltung ausweichen. Enthaltung be- Mit dieser Reform stärken wir den Föderalismus. deutet immer den Verzicht auf die Möglichkeit, in Ver- Mich hat die Diskussion in der Öffentlichkeit und hier handlungen etwas zu erreichen. im Parlament über die Föderalismusreform erstaunt; denn dort, wo ich erwartet hatte, positive Begriffe wie (Beifall bei der SPD) Subsidiarität, Vielfalt und passgenaue Möglichkeiten der Gestaltung zu hören, las und hörte ich nur Wörter wie Bei der von uns allen gewünschten Demokratisierung Zersplitterung, Kleinstaaterei und Afrikanisierung. und Parlamentarisierung Europas, die in der Regel zu Mehrheitsentscheidungen im Rat führen, ist die Ände- (Volker Kröning [SPD]: Das ist eine Beleidi- rung des Grundgesetzes, die wir gemeinsam anstreben, gung!) die eine Seite. Die andere Seite ist: Wir brauchen vor dem Hintergrund der Globalisierung ein neues Verständ- Was macht uns eigentlich so sicher, dass Einheitsbrei, nis von und ein neues Verhältnis zu europäischer Politik. dass Zentralismus besser sein soll als Föderalismus? Wir Deutsche wollen auch künftig in Europa nicht Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) triebene sein, sondern Gestalter bleiben. Wenn die Lobbyisten und Verbände so reagieren, dann Vielen Dank. habe ich Verständnis dafür; denn für Lobbyisten und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verbände ist es immer gut, zentralistische Entschei- der CDU/CSU) dungsinstanzen zu haben, weil man bei ihnen besser lob- byistisch tätig werden kann. Dass sich das aber zu einem Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: allgemein um sich greifenden Glauben entwickelt hat, ist Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter verwunderlich. Friedrich, CDU/CSU-Fraktion. Ein Kommentar in der „FAZ“ lautete am 6. März (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 2006: der SPD) Wo sind die Freunde des Föderalismus geblieben? (B) (D) Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Ich bin der Überzeugung, dass wir mit dieser Reform Freunde für den Föderalismus gewinnen werden, weil Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- wir mit dieser Reform beweisen werden, dass Ineffizienz legen! Als wir im Jahr 2003 die Föderalismuskommis- und Intransparenz, die wir jetzt beklagen, keine Eigen- sion konstituierten, gab es nur wenige, die an ein umfas- schaften des Föderalismus sind, sondern Eigenschaften sendes Reformwerk glaubten. Ich denke, es gab einige einer unnötigen Verflechtung, die wir jetzt auflösen. Von günstige Konstellationen. Eine davon haben Sie, lieber daher wird der Föderalismus auch im Bewusstsein der Kollege Benneter, genannt: die Rechtsprechung des Bevölkerung gestärkt. Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Erforderlich- keitsklausel. Diese Rechtsprechung hat viele Bundespo- Es ist richtig, wenn das Gaststättenrecht in die Zu- litiker aufgeweckt; denn sie hat deutlich gemacht, dass ständigkeit der Länder fällt. Es ist aber auch richtig, dass sich die Bundesgesetzgebung Stück für Stück zugunsten wir den Bund da stärken, wo bundesstaatlicher Zusam- der Länder verändern wird, wenn nicht gegengesteuert menhalt notwendig ist, beispielsweise bei der Terroris- wird. Von daher gab es in dieser Frage Handlungsbedarf. musabwehr. Genau das ist Bestandteil der Reform. Die zweite günstige Konstellation bestand darin, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zwei Menschen, nämlich Franz Müntefering und Edmund Stoiber, mit Herzblut daran gearbeitet haben. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb am 7. März 2006: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Eine wirkliche Föderalismusreform muss den Län- dern mehr nehmen als geben. Da war schon ein Hauch von großer Koalition in der letzten Wahlperiode zu spüren. Ich bestreite das ausdrücklich. Die Antwort auf unsere Probleme ist nicht zentralistische Vereinheitlichung. Die (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es war nur die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf den Zentralis- CSU! Das ist nicht die große Koalition!) mus in Europa, nämlich eine spürbar werdende Abnei- – Lieber Herr Benneter, es war sozusagen die erste gung der Bevölkerung ihm gegenüber, beweist doch, Schwalbe des großkoalitionären Frühlings, den wir jetzt dass die These, der Zentralismus sei der richtige Weg, erleben. falsch ist. Dezentralisierung und Subsidiarität an den Stellen, wo sie möglich sind, sind der richtige Weg. Darüber hinaus waren Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der FDP an der sachlichen Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der Kommission beteiligt. Ich erinnere mich an viele neten der SPD) 1782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Ich halte auch die Kritik an der Abweichungsgesetz- auf die Verantwortung der heutigen Dioskuren Volker (C) gebung für falsch. Manchmal ist dabei von Pingpong Kauder und Peter Struck. usw. die Rede. Gesetzgebung ist keine Rechthaberei, sondern das Bemühen von Parlamenten, ob auf Bundes- Ich stehe nach wie vor zu dem Paket, das heute vorge- oder Länderebene, sachgerechte Lösungen für die Men- legt wird, auch wenn ich mir einzelner schmerzhafter schen zu finden. Das sollten wir im Auge behalten. Des- Kompromisse bewusst bin und nach wie vor in der einen wegen halte ich auch jedes Misstrauen gegenüber den oder anderen Frage meine Meinung nicht unterdrücke. Ländern für völlig verfehlt und für den falschen Ansatz. Ich erlaube mir auch nicht, die Aussagen des Frakti- Ich kann allen Umweltpolitikern nur dringend emp- onsvorsitzenden der SPD zu interpretieren. Denn er hat fehlen, sich das, was Kollege Benneter zur Erforder- nicht nur formal, sondern auch inhaltlich deutlich ge- lichkeitsrechtsprechung ausgeführt hat, genau anzuse- macht, welche Informations- und Überzeugungsarbeit hen. Wenn Sie die Urteile, die existieren, auf die noch vor uns liegt. Es zeigt zugleich, wie wir nach mei- Umweltgesetzgebung fortschreiben, dann werden Sie er- nem Dafürhalten die Anhörung aufzäumen sollten, näm- leben, dass der Bund bei der jetzigen Konstellation viel lich von den Juckepunkten aus. mehr Kompetenzen im Umweltbereich verlieren wird, Ich möchte an alle, gerade auch an die Oppositions- als uns recht sein kann. Deswegen rate ich uns dringend, fraktionen, appellieren, ihre Alternativen deutlich zu diese Reform umzusetzen und nicht scheitern zu lassen. machen. Ich messe heutiges Tun nicht an vergangenem Der Föderalismus entspricht der kulturellen Vielfalt Tun. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich bitte unseres Landes. Natürlich wird die Reform weitergehen. Sie alle, Ihre Alternativen so deutlich zu machen, wie es Wenn die große Koalition zusagt – ich sage das auch in heute schon bei FDP und PDS erkennbar war. Es müssen Richtung FDP –, dass es weitere Schritte geben wird, klare Alternativen sein. Ich hoffe, unser früherer Koaliti- wird das auch geschehen; wir werden das einhalten. onspartner findet dazu zurück. Wichtig ist, dass wir mit dieser Reform den Beweis Zum Charakter einer Anhörung muss gesagt werden, erbringen, dass dieses Land und seine politischen Ak- dass es sich nicht um die Lesung der Gesetzestexte und teure in der Lage sind, entschlossen und geschlossen den -begründungen handelt; das bleibt dem federführenden Bundesstaat zu modernisieren. Es ist der Anfang eines Ausschuss und den mitberatenden Ausschüssen vorbe- guten Weges. Ich bin der Überzeugung, dass sich in den halten. Eine Anhörung ist auch keine Auswertung. Die nächsten Wochen und Monaten in allen Fraktionen jeder Auswertung muss nach der Anhörung stattfinden, und seiner Verantwortung für die Zukunft dieses Landes be- zwar von allen Beteiligten, nämlich Bund und Ländern, wusst sein wird. den Koalitionsfraktionen und sicher auch dem stillen Be- (B) teiligten an diesem Projekt, der sein Mitspracherecht (D) Vielen Dank. heute wieder deutlich angemahnt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Zur Erleichterung der parlamentarischen Arbeit habe bei Abgeordneten der FDP) ich einige Bitten. Der Begleittext und die Einzelbegrün- dungen zur Bildungspolitik sollten sorgfältig ausgewer- tet werden. Der Streitstoff wird sich nach meinem Dafür- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: halten fast auf Null reduzieren, weil wir schon in der Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Friedrich, im Vergangenheit intensiv darum bemüht waren, Verfas- Namen aller Kolleginnen und Kollegen zu Ihrem heuti- sungs- und Fachpolitik aneinander anzudocken. Am gen Geburtstag. Ende wird zu entscheiden sein, ob der Kompromiss ver- (Beifall) tretbar ist oder nicht. Ich lebe nach der Devise „Das Bes- sere ist der Feind des Guten“. Vielleicht fällt uns an der Das Wort hat der Kollege Volker Kröning, SPD-Frak- Stelle noch etwas Besseres ein. tion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Volker Kröning (SPD): Bei der Verfassungsreform werden die kleinen und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und großen Parteien lernen, dass Bildungspolitik – zu der Herren! Wer drei Jahre an der Föderalismusreform mit- alle ihre Argumente voller Leidenschaft vortragen – auf gearbeitet hat und nun schon drei Stunden dieser Debatte allen Ebenen – nicht nur im Deutschen Bundestag, auch zuhört, wer die Texte und Begründungen gelesen hat, wenn er die erste Gewalt der oberen Ebene ist – stattfin- was wir sicher alle bei diesem verantwortungsvollen det. Uns ist aufgegeben, eine Bildungspolitik zu konzi- Werk tun sollten, und wer weiß, was von uns erwartet pieren und auszuführen, die auf allen Ebenen funktio- wird, der darf nach diesen Stunden mit Optimismus in niert, von Europa bis zu den Kommunen. Ich glaube, auf die nächsten drei Monate schauen. Wer abwechselnd am diesem Gebiet haben nicht zuletzt die großen Parteien Kartentisch und im Maschinenraum gearbeitet hat, der eine Aufgabe vor sich. weiß auch, welche Verantwortung wir alle gemeinsam Dieses Thema lässt sich – das sage ich an die Adresse für den vor uns liegenden Prozess haben – ein parlamen- der FDP – nicht nach dem einfachen Schema „Wettbe- tarisches Verfahren, das zusammen mit dem Bundesrat, werbsföderalismus – ja oder nein?“ abhandeln. anders als ein Vermittlungsverfahren, nämlich vor der ganzen Öffentlichkeit zu bewältigen ist –, und der setzt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1783

Volker Kröning (A) Die Zukunftsfähigkeit unserer Staatspraxis und des wenn die Länder untereinander wieder stärker Wettbe- (C) rechtlichen Rahmens wird sich darin erweisen, ob wir zu werb und Koordination miteinander vereinbaren, wird einer horizontalen und vertikalen Koordinierung der Bil- der Föderalismus in seiner heutigen regionalen, territo- dungspolitik in der Lage sind. rialen Gestalt überleben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE der CDU/CSU) GRÜNEN]: Sie wollten das nicht, um die Qua- lität zu steigern! Das gibt einen Wettbewerb Zur Umweltpolitik. Die heutige Bundeskanzlerin und nach unten!) ihr Vorgänger im Amt des Umweltministers haben den Versuch unternommen, ein bundeseinheitliches Umwelt- Zu Kultur und Sport – das passt fast zu Ihrem Stich- gesetzbuch auf den Weg zu bringen. Der Vorgänger des wort: Man mag dieses Thema in der Bundesverfassung heutigen Umweltministers musste lernen, dass das an verankern wollen. der geltenden Kompetenzordnung scheitert. Herr Kol- lege Dr. Friedrich hat zu Recht hinzugefügt, dass ein sol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ches Vorhaben angesichts der Tendenz in der bundesver- Ich muss aber darauf hinweisen, dass es zwischen Bun- fassungsgerichtlichen Rechtsprechung mehr denn je desverfassung und Landesverfassungen einen Unter- vom Scheitern bedroht ist. Angesichts dieser Umstände schied gibt. Dieser Unterschied kommt im Grundgesetz, sollte sich die Bundesregierung bemühen, Klarheit in die das zugleich eine gesamtstaatliche Verfassung ist, zum nicht nur von Sachverständigen, sondern auch von Um- Ausdruck. In Art. 30 des Grundgesetzes heißt es, dass welt- und Wirtschaftsverbänden geführte Debatte zu nur die Bereiche in die Kompetenz des Bundes fallen, bringen, und bald Eckpunkte – ich sage sogar: eine Blau- die im Grundgesetz ausdrücklich geregelt sind. Das pause – eines zeitgemäßen Umweltgesetzbuches vorle- heißt im Umkehrschluss: Für Kultur und Sport sind die gen. Länder zuständig. Wenn das Landesverfassungsrecht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dies ausdrücklich vorsieht, ist das das eine. Ob der Bun- desgesetzgeber das für das Bundesverfassungsrecht aber Die Vorschläge der Sachverständigen sind bereits zehn auch tut, ist etwas ganz anderes. Jahre alt. Die Europäisierung dieses Rechtsgebietes ist stark fortgeschritten. Also brauchen wir, wenn wir Fach- Ehrlich gesagt, hätte ich es auch nicht gern, wenn der und Verfassungspolitik verantwortungsbewusst koordi- Grundsatz des Art. 20 des Grundgesetzes verunklart nieren wollen, eine Messgröße, die materielles Recht oder relativiert würde. Dort heißt es, dass die Bundesre- und Verfahrensrecht umfasst. publik Deutschland „ein demokratischer und sozialer (B) Bundesstaat“ ist. Dabei sollte es auch in vollem Umfang (D) Ich freue mich, dass das Bundeskabinett mit seiner bleiben – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Entscheidung vom Montag auch an dieser Stelle, auf dem Gebiet der besonders schwierigen Herausforderung (Beifall bei der SPD) der Umwelt- und Wirtschaftspolitik, Flagge gezeigt hat. Zum Schluss komme ich auf Stufe zwei der Bundes- Nun erwarten wir nicht nur Loyalität gegenüber unserem staatsreform zu sprechen. Das, was die Kollegen Tun, sondern auch Mittun, um den Beweis dafür führen Benneter und Friedrich dazu gesagt haben, trifft zu. zu können, dass die neue Kompetenzordnung besser ist Auch ich bin der Auffassung – damit bin ich zwar in als die alte. meinem Laden in der Minderheit; ich sage es aber trotz- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dem –, dass der Bundesstaat, was unsere obersten Poli- tikziele betrifft, so lange asymmetrisch und sogar unpro- Zu Strafvollzug und Heimrecht. Wenn man, wie duktiv ist, wie die Länder an dem Doppelmangel leiden, vorgeschlagen, auf diesen beiden Gebieten die Rege- dass sie weder hinreichende Ausgabenautonomie – das lungskompetenz vom Bund auf die Länder überträgt, soll jetzt geändert werden – noch hinreichende Einnah- sorgt Art. 125 a Grundgesetz in der neuen wie in der al- menautonomie besitzen. ten Fassung dafür – es ist gar nicht schlecht, die allge- meinen Geschäftsbedingungen zu lesen; im Grundgesetz Als es darum ging, das zu ändern, haben sie sich ist das der Teil mit den Übergangs- und Schlussbestim- merkwürdigerweise geweigert. Darüber führen sie unter- mungen –, dass das geltende Bundesrecht weiterhin gilt. einander auch noch gar keinen Dialog. Umso mehr freue Kein Land stolpert in ein schwarzes Loch. Jedes Land ich mich, dass schon im letzten Sommer mit dem Be- bleibt frei in der Entscheidung, das Bundesrecht weiter- schluss der Ministerpräsidentenkonferenz in Aachen die hin gelten zu lassen oder – die Möglichkeit besteht schon Bereitschaft des Bundesrates und der Länder zum Aus- jetzt – abzuweichen, das heißt, durch Landesrecht zu er- druck gekommen ist, sich einem Angebot des Bundes zu setzen. öffnen und darüber zu diskutieren. Ich rechne damit, dass gar nicht so viele Länder Al- Auch die Koalitionsvereinbarung ist in diesem Punkt leingänge unternehmen werden – Stichwort: mehr Viel- besonders interessant. In ihr wird nämlich etwas ange- falt in der Einheit –, sondern dass es regionale Abstim- sprochen, was wir im Rahmen der zuletzt durchgeführ- mungen geben wird. Das kann dem praktischen ten Runden zur Neuordnung des Finanzausgleichs nicht Föderalismus weiterhelfen. Im Übrigen wird das für die erlebt haben; denn diese Runden waren von der Recht- Ländergliederung in der derzeitigen Form in den nächs- sprechung induziert und normativ-juristisch ausgerich- ten zehn bis 15 Jahren eine Bestandsprobe sein. Nur tet. In der Koalitionsvereinbarung heißt es ganz klar, 1784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Volker Kröning (A) dass wir dazu beitragen wollen, dass auch der Bundes- hauptstadtbedingten Sicherheitsmaßnahmen. Das ent- (C) staat der Zielsetzung, für Wachstum und Beschäftigung spricht nur 35 Prozent der Kosten, die dafür tatsächlich zu sorgen, gerechter wird, als es gegenwärtig der Fall ist. aufgebracht werden. Dieses Ziel der Koalitionsvereinbarung wollen wir nach Abschluss der ersten Stufe der Bundesstaatsreform in (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Da bin ich Angriff nehmen. ja einmal auf die Haushaltsberatungen ge- spannt!) Vielen Dank. Auch der Anteil des Bundes an der Finanzierung kul- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tureller Einrichtungen in Berlin ist, so das DIW, deutlich geringer, als nach der Bonn-Berlin-Vereinbarung vorge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sehen. Geht man von dieser Feststellung aus, so fallen Nächster Redner ist der Kollege Dr. Friedbert Pflüger, die mit Berlin geschlossenen Hauptstadtverträge deut- CDU/CSU-Fraktion. lich restriktiver als die mit Bonn geschlossenen Verein- barungen aus. (Beifall bei der CDU/CSU) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Richtig! Das sagt Wowereit auch immer! – Dr. Guido Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Westerwelle [FDP]: Was sagt denn Herr Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Schäuble dazu?) Herren! Die Föderalismusreform ist für Berlin ein histo- risches Ereignis. Denn Berlin wird im Grundgesetz erst- Zweitens. Ich möchte hier ausdrücklich betonen: Der mals als Hauptstadt festgeschrieben. in die Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Ände- rung des Grundgesetzes aufgenommene Rückgriff auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Formulierung des Koalitionsvertrages, dass das neten der SPD) Bonn-Berlin-Gesetz unberührt bleibt, ändert die Rechts- Damit erreicht ein Prozess seinen Höhepunkt, der am qualität des Bonn-Berlin-Gesetzes von 1994 nicht; dies 9. November 1989 mit dem Fall der Mauer begonnen hat bestätigt ein im Auftrag des Abgeordneten Peter Rzepka und der sich am 3. Oktober 1990 mit der Vereinigung erstelltes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschlands und am 20. Juni 1991 mit der Entschei- Deutschen Bundestages vom 12. Januar 2006. Der Ge- dung des Bundestages für Berlin als Hauptstadt fort- setzgeber kann die Bonn-Berlin-Vereinbarungen auch setzte. künftig jederzeit mit einfacher Mehrheit ändern, um zu- künftigen Entwicklungen Rechnung zu tragen und um (B) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE die Effizienz von Parlament und Regierung in der (D) GRÜNEN]: Wie haben Sie denn damals abge- Hauptstadt zu stärken. stimmt?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir alle leben und arbeiten heute gerne in Berlin. Der neten der SPD) Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude wird jährlich von über 2,5 Millionen Menschen besucht. Er ist schon Ich danke der Bundesregierung, dass Versuche, die längst zum Symbol des freien, vereinten Deutschlands unsinnige Teilung der Ministerien festzuschreiben, ab- geworden. Die Berliner freuen sich darüber und sind gewehrt wurden. Die Verteilung der Regierungsfunktio- stolz darauf. nen auf zwei Standorte, nämlich Bonn und Berlin, ist teuer und ineffizient, beispielsweise weil Bundesbeamte (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. regelmäßig für kurze Termine bei den Ministerien und Fritz Rudolf Körper [SPD] – Klaus Uwe im Parlament nach Berlin reisen müssen. Benneter [SPD]: Ja! Das hat Klaus Wowereit durchgesetzt! – Fritz Rudolf Körper [SPD]: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Genau! Da wurde gut verhandelt!) der SPD) Ich möchte zum Thema „Föderalismusreform und Wir haben Deutschland und Berlin geeint. Wir sollten Hauptstadt“ drei Punkte ansprechen: nicht die Regierungsfunktionen dauerhaft getrennt las- sen. Erstens. Mit dem zweiten Satz des neuen Art. 22 des Grundgesetzes – er soll heißen: „Die Repräsentation … (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes“ – normieren neten der SPD) wir erstmals die bislang ungeschriebene Zuständigkeit Ich habe schon am 3. Juni 1991 gesagt: Wenn der Bun- des Bundes für die Repräsentation des Gesamtstaates destag sich mit knapper Mehrheit für Berlin entscheiden in der Hauptstadt. Das ist gut, ruft aber auch nach Kon- sollte, gehe ich lieber nach Berlin, als einem Kompro- sequenzen. Dass der Bund dieser Aufgabe trotz umfang- miss über die Teilung der Hauptstadtfunktionen zuzu- reicher Zahlungen bisher nicht in vollem Umfang nach- stimmen. gekommen ist – das gilt auch für den direkten Vergleich mit den nach Bonn geflossenen Bundesmitteln –, wird in (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Unsere Koali- einem aktuellen Gutachten des Deutschen Instituts für tionsdisziplin nicht überfordern, bitte! – Hei- Wirtschaftsforschung deutlich. Demnach beteiligt sich terkeit des Abg. Dr. Guido Westerwelle der Bund zum Beispiel mit nur 38 Millionen Euro an [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1785

Dr. Friedbert Pflüger (A) Drittens. Art. 20 des Grundgesetzes sieht als Aus- Natürlich freuen wir Berlinerinnen und Berliner uns (C) druck der bundesstaatlichen Ordnung eine Einstands- über jeden, der für die Interessen der Hauptstadt eintritt. pflicht des Bundes und der Länder vor. Föderalismus Mich würde aber einmal interessieren, ob es gelungen bedeutet eben nicht nur Länderhoheit, sondern auch ist, von der Finanznot Berlins, die Sie hier vorgetragen Länderverantwortung. Die enorme Schuldenlast Berlins haben und über die ich mit Ihnen völlig übereinstimme, ist nicht alleine hausgemacht. Sie ist vor allem teilungs- zumindest 50 Prozent Ihrer eigenen Fraktion zu überzeu- bedingt und beruht in hohem Maße auf dem zu schnellen gen. Rückzug des Bundes aus der Finanzierung Berlins. (Heiterkeit des Abg. Dr. Guido Westerwelle (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das war die [FDP]) große Koalition!) Vielleicht könnten wir eine Aussage der CDU/CSU- Es ist wenig bekannt, dass die Berlinförderung bis 2002 Fraktion dazu erhalten. um rund 40 Milliarden Euro gekürzt wurde – Ich hoffe sehr, dass wir in den Haushaltsberatungen (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die große Koali- auch haushaltswirksame Vorschläge von der Koalition tion hat Berlin fast Pleite gemacht!) erhalten, wie die Finanzierung Berlins gestaltet werden kann. der größte und vor allem schnellste Subventionsabbau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es wird vielleicht die entscheidende Aufgabe Berliner Herr Kollege Pflüger, bitte. Politik im nächsten Jahrzehnt sein, Verständnis dafür zu wecken, das alle Deutschen, alle Bundesländer und die Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Bundesregierung eine Mitverantwortung für ihre Haupt- stadt haben. Berlin soll ein Leuchtturm für das gesamte Frau Kollegin, das ist eine nationale Aufgabe. Wir Land sein. Die Hauptstadt ist eine nationale Aufgabe. alle müssen daran mitarbeiten, das Verständnis dafür zu wecken und zu stärken. Allerdings kommt es dafür sehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auf die Töne und die Politik in Berlin selbst an. Die Ber- neten der SPD – Abg. Dr. Gesine Lötzsch liner können eben nicht bloß die Hand aufhalten, wie es [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischen- der Senat tut und wie es zum Beispiel Herr Wowereit ge- (B) frage) tan hat. (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wider- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: spruch bei Abgeordneten der LINKEN) Nein, Frau Lötzsch, ich lasse keine Zwischenfrage mehr zu, weil Herr Pflüger seine Redezeit bereits über- – Sie haben mich herausgefordert mit dieser Kurzinter- zogen hat, und zwar massiv. Herr Kollege Pflüger, ich vention. Dann müssen Sie auch erdulden, wenn ich bitte Sie, zum Ende zu kommen. meine Meinung dazu sage. – (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Gut, dass wir Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): heute noch ein bisschen Wahlkampf bekom- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. men! Ich hätte es ja vermisst!) Die Berliner Politik darf allerdings nicht nur die Hand Herr Wowereit hat gesagt: Im Jahr 2015 werden alle un- aufhalten. Sie muss auch nachweisen, dass sie eigene, sere Finanzprobleme beseitigt sein; denn der Bund muss nachhaltige Anstrengungen unternimmt und mit konzep- ja bezahlen laut dem Bundesverfassungsgerichtsurteil. tionellen Beiträgen wieder ein Motor und Vorreiter der Ich unterstütze ausdrücklich, dass das Bundesverfas- deutschen Politik sein kann. sungsgericht angerufen worden ist, um ein Normenkon- trollverfahren durchzuführen. Danke für die Aufmerksamkeit. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich möchte (Beifall bei der CDU/CSU) noch etwas zu Rheinland-Pfalz, Sachsen-An- halt und Baden-Württemberg sagen!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich glaube, dass vom Bund mehr für Berlin getan Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kol- werden muss. Frau Kollegin, ich glaube aber auch, dass legin Lötzsch. es dringend notwendig ist, dass Berlin auch seine Bei- träge leistet. Solange Rot-Rot die Stadt regiert, wird die Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Bereitschaft anderer, Berlin zu helfen, relativ gering aus- fallen. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Herren! Da ich keine Zwischenfrage mehr stellen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido konnte, muss ich zum Mittel der Kurzintervention grei- Westerwelle [FDP]: Die Regierung ist aus dem fen. Häuschen! – Zurufe von den LINKEN) 1786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann, Volker Kröning [SPD]) CDU/CSU-Fraktion. Wir übertragen die Gemeinschaftsaufgabe Hoch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schulbau zum Teil in die Kompetenz der Länder. Hin- neten der SPD) sichtlich der überregionalen Mittel bleibt der Bund zu- ständig. Diese 700 Millionen Euro übertragen wir an die Landtage. Liebe Kollegen, ich bin etwas erschrocken Antje Tillmann (CDU/CSU): darüber, wie Sie mit den Kollegen in den Landtagen um- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- gehen. Die Aussage, dass all das, was wir tun, von Weis- legen! Der einen Gruppe von Rednern geht das Födera- heit geprägt ist, mag ich ja noch unterstützen, lismusgesetz zu weit, der anderen Gruppe, der Opposi- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Na, ich nicht!) tion, geht es nicht weit genug, was bei mir klar den Eindruck erweckt, dass wir mit dieser Reform genau dass Sie die Landtagskollegen aber so behandeln, als richtig liegen, nämlich exakt in der Mitte dessen, was seien das alles unverantwortliche Deppen, kann ich nicht hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung zwischen dem mittragen. Bund und den Ländern machbar war. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des Abg. Dr. Guido neten der SPD) Westerwelle [FDP]) Ich glaube, dass die Landtagsabgeordneten sehr verant- Bei dem Punkt, die Kommunen vor kostenträchtigen wortungsbewusst mit ihren Bürgerinnen und Bürgern Gesetzen zu schützen, indem wir dem Bund durch umgehen. Art. 84 GG versagen, dass er Aufgaben an die Kommu- nen übergeben kann, liegen wir absolut richtig. Lieber (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jedenfalls die Kollege Burgbacher, er konnte das auch bisher nicht der FDP!) ohne die Zustimmung der Länder. Bisher war es aber so, – Auch die der FDP. dass die Länder dem Bund finanzielle Erstattungen ab- gehandelt und diese nicht in jedem Fall an die Kommu- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein, „jeden- nen weitergeleitet haben. So wird es künftig nicht mehr falls die der FDP“!) gehen. Über die Landesverfassung wird das Konnexi- Aufgrund der Erfahrungen mit dem Solidarpakt II ha- tätsprinzip für die Kommunen eingeführt. Diesen ent- ben wir natürlich dafür gesorgt, dass uns für den Fall, (B) scheidenden Schritt können wir mit dieser Föderalismus- dass diese Mittel nicht ordnungsgemäß eingesetzt wer- (D) kommission erreichen, wenn wir dem zustimmen. den, diesmal Sanktionen zur Verfügung stehen. Bis (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 2013 ist die investive Zweckbindung im Bereich des Volker Kröning [SPD]) Hochschulbaus sichergestellt und auch nach 2013 be- steht die Verpflichtung, diese Mittel für investive Maß- Wir liegen mit unseren Regelungen bezüglich des nahmen zur Verfügung zu stellen. Wir werden das selbst- nationalen Stabilitätspakts absolut richtig, indem wir verständlich kontrollieren. die Verantwortung für die Verschuldung des Gesamt- An dieser Stelle hätte ich Frau Sager sehr gerne er- staatshaushaltes auf den Bund und die Länder verteilen. klärt, warum sie Unrecht hat, wenn sie sagt, dass es nicht Erstmalig können wir die Verantwortung der Länder, die mehr möglich ist, dass der Bund die Länder in der Bil- sich bereit erklärt haben, bei Nichteinhaltung des Defi- dung unterstützt. Sie sagt, durch die Streichung der Fi- zitkriteriums einen Teil der Haftungssumme zu bezah- nanzhilfen sei es nicht mehr möglich, dass sich der Bund len, mit in die Verfassung aufnehmen. Das ist ein guter an Länderaufgaben beteiligt. – Das stimmt so einfach Schritt hin zur Haushaltskonsolidierung. Liebe Kollegen nicht; denn in unserer Verfassung ist vorgesehen, dass der Linken, das nützt gerade den neuen Ländern, die sich die Aufgaben von Bund und Ländern mit den erforderli- Mühe geben, ihre eigenen Landeshaushalte in Ordnung chen finanziellen Einnahmen unterlegt werden. Es ist zu bringen, weil sie die Solidarität der anderen ansonsten überhaupt kein Problem, das Finanzausgleichsgesetz zu überstrapazieren und die Kosten, die andere verursa- verändern und den Ländern mehr Umsatzsteuerpunkte chen, mittragen müssten. zukommen zu lassen. Aber damit sind wir als Bundes- tagsabgeordnete in der Verpflichtung, zu überprüfen, ob Wir sind absolut auf dem richtigen Weg, wenn wir die es wirklich stimmt, dass der Bund für seine Aufgaben Finanzverwaltungen vereinheitlichen. Allein 15 Mil- viel zu viel Geld erhält und die Länder für ihre Aufgaben liarden Euro Umsatzsteuer können wir heben, wenn es zu wenig Geld bekommen. Wir als Bundespolitiker tra- uns gelingen würde, ein bundeseinheitliches Verfahren gen die Verantwortung für den Bundeshaushalt. Ihr soll- bei der Finanzverwaltung einzuführen. Wir werden das ten wir uns stellen. mit dem Föderalismusreform-Begleitgesetz und der Än- derung des Finanzverwaltungsgesetzes tun. Ich bin mir Das Einzige, was durch die Streichung im Art. 104 a sicher, dass diese 15 Milliarden Euro, die uns durch den des Grundgesetzes bei den Finanzhilfen nicht mehr mög- Umsatzsteuerbetrug verloren gehen, erheblich besser in lich ist, sind kurzfristige Programme, die der Bildungs- Bildung oder Forschung eingesetzt werden könnten. Mit politik gar nicht angemessen sind; denn wir sind uns ei- diesem Gesetz haben wir die Möglichkeit dazu. nig, dass Bildungspolitik eine langfristige Aufgabe ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1787

Antje Tillmann (A) Beim Finanzausgleichsgesetz sollten wir gemeinsam kung der Rückgewinnungshilfe und der Ver- (C) überprüfen, wer tatsächlich zu viel Steuereinnahmen aus mögensabschöpfung bei Straftaten dem Umsatzsteueraufkommen erhält: die Länder oder – Drucksache 16/700 – wir. Überweisungsvorschlag: (Volker Kröning [SPD]: Oder zu wenig!) Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Gegebenenfalls muss man bei beiden auf Haushaltsdis- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ziplin und vielleicht auch auf die richtige Schwerpunkt- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre setzung achten. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- neten der SPD) ministerin für Justiz, Brigitte Zypries. Der Blick auf den Haushalt und die Haushaltsdis- ziplin hilft gerade den neuen Ländern. Ich bin sehr froh, Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: dass sich die Föderalismuskommission ausdrücklich Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und zum Solidarpakt II bekannt hat. Aber ich sage auch: Je Herren! Nach diesen hehren Diskussionen über die Fö- schlechter die Haushaltssituation des Bundes wird, umso deralismusreform kommen wir wieder zu konkreten Ge- größer ist natürlich die Gefahr, dass wir als Bund die setzgebungsvorhaben zurück. Ich will gleich am Anfang 51 Milliarden Euro, die bis 2019 fließen sollen, nicht zur ein Stichwort nennen, das auch im Zusammenhang mit Verfügung stellen können. Deshalb ist es im eindeutigen der Föderalismusdiskussion gefallen ist, den Fleisch- Interesse der neuen Länder, auf die Haushaltsdisziplin skandal. des Bundes zu achten. Wir brauchen den Solidarpakt II. Sie erinnern sich: Kriminelle Unternehmer haben ver- Wir brauchen diese Sicherheit. Deshalb brauchen wir dorbenes oder unverkäufliches Fleisch umetikettiert, konsolidierte Haushalte, sowohl im Bund als auch bei dann verkauft und dadurch hohe Gewinne erzielt. Das ist den Ländern. schlichter Betrug zulasten der Verbraucher, der straf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rechtlich zu ahnden ist. Die Gewinne, die die Täter damit neten der SPD) erzielt haben, können aber in vielen Fällen nicht rückab- gewickelt werden. Wenn das so bleibt, dann heißt das: Gegen diese Reform sind mehrfach Bedenken geäu- Verbrechen lohnt sich wirklich. Das darf nicht sein. ßert worden. Wer an den Beratungen der letzten Jahre teilgenommen hat, der weiß, dass dies ein sehr ausge- Der Grund dafür, dass das derzeit noch so ist, ist eine (D) (B) klüngeltes System – Regelung im Strafgesetzbuch, die die Möglichkeit der Gerichte einschränkt, Gewinne aus Straftaten für ver- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Nicht „ausge- fallen zu erklären, also dem Täter das Geld wegzuneh- klüngelt“, ausgeklügelt!) men und das Eigentum daran auf den Staat zu übertra- gen. Bisher hat der Staat nur dann Zugriff auf – ausgeklügelt – der Berücksichtigung der Interessen Vermögenswerte aus Straftaten, wenn eine geschädigte von Bund, Ländern, Kommunen und Bürgern ist. Jeder, Privatperson keinen Anspruch geltend macht. Stellt der der Änderungswünsche hat, soll diese selbstverständlich Geschädigte Ersatzansprüche gegen den Betrüger, so vortragen. Wir nicken diese Reform nicht einfach ab. kann ein Verfall des erlangten Geldes zugunsten des Aber jeder muss sich auch die Frage stellen, ob sein per- Staates nicht angeordnet werden, weil zunächst die Pri- sönliches Anliegen, das er zu Recht vorbringt, tatsäch- vatperson die Hand auf dem Geld hat. Das ist grundsätz- lich dazu geeignet ist, die Gesamtreform scheitern zu lich richtig so, weil sich der Staat nicht auf Kosten der lassen. Wir werden das aus den genannten Gründen nicht Opfer bereichern soll. tun. Wenn aber derjenige, der betrogen wurde, seine An- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sprüche gar nicht geltend macht, dann muss man die si- neten der SPD) chergestellten Gewinne an den Täter zurückgeben. Das kann erforderlich sein, weil der Schaden zu gering ist Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: oder weil die Geschädigten nicht wissen, dass der Täter gefasst wurde. Es kann aber auch sein, dass die Ich schließe die Aussprache. Geschädigten ihre Ansprüche deshalb nicht geltend ma- Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- chen, weil sie selbst vielleicht Schwarzgeld gewinnbrin- würfe auf den Drucksachen 16/813 und 16/814 an die in gend anlegen wollten und um ihren Gewinn geprellt der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- wurden. In dem Fall verzichtet der Betrogene aus nach- gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist vollziehbaren Gründen auf seine Ansprüche. nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Wir wissen aus der Praxis, dass das leider kein Aus- schlossen. nahmefall ist. Im Jahr 2004 haben die Strafverfolgungs- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: behörden zum Zweck der Rückgewinnung Vermö- genswerte in Höhe von rund 145 Millionen Euro Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- sichergestellt. Diese konnten nicht zugunsten des Staates gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- für verfallen erklärt werden, weil noch Ansprüche der 1788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Geschädigten bestanden. Wenn diese ihre Ansprüche Für uns als FDP hat der Opferschutz immer im Mit- (C) nicht geltend machen, fällt das Geld an die Täter zurück. telpunkt unserer Strafrechtspolitik gestanden. Diese Regelung wollen wir ändern. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Wir haben ein weiteres sehr wichtiges Ziel, nämlich be- Wir wollen sicherstellen, dass die Täter solche Vermö- stehende bürokratische Hürden abzubauen. Wir ha- genswerte in keinem Fall mehr zurückerhalten können. ben bereits eine Fülle entsprechender Vorschläge im Deutschen Bundestag eingebracht. (Jörg van Essen [FDP]: Richtig!) Das Vorhaben, die Hürden im Ablauf des Verfahrens Denn es ist völlig widersinnig, dass der Betrüger einen zu reduzieren und damit die Rechtsstellung von Opfern Anspruch auf Rückübertragung des durch Betrug erlang- zu verbessern, begrüßen wir außerordentlich. Wer erlebt, ten Geldes hat. welche Auswirkungen eine Straftat auf die Opfer hat, Um den Geschädigten künftig genug Zeit zu geben, weiß, dass alle Folgen, die eine Straftat nach sich zieht, ihre Rückgabeansprüche auch durchzusetzen, wollen wir bei ihnen ohnehin zu Problemen führen. Deshalb sollten die hierfür maßgebliche Frist verlängern. Zurzeit müs- wir es ihnen möglichst leicht machen, ihre Ansprüche sen die Opfer innerhalb von drei Monaten erklären, dass geltend zu machen. sie ihre Ansprüche geltend machen wollen; künftig soll (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei diese Frist drei Jahre – gerechnet ab der Verurteilung des Abgeordneten der CDU/CSU) Angeklagten – betragen. Auch bei längerer Verfahrens- dauer vor den Zivilgerichten erhalten damit die Opfer Außerordentlich gut gefällt uns auch ein weiterer Vor- die Möglichkeit, einen – notfalls vorläufigen – Titel ge- schlag. Es ist allgemein bekannt, dass in den meisten gen den Verurteilten zu erwirken. Fällen der erhoffte finanzielle Gewinn der Anlass zu ei- (Beifall bei der SPD) ner Straftat ist. Die Täter wollen richtig abkassieren. Es geht aber nicht an, dass Vermögenswerte aus einer Straf- Verstreicht diese dreijährige Frist, ohne dass die Ge- tat, die übrig geblieben sind, dem Täter selbst zufallen. schädigten ihre Ansprüche geltend gemacht haben, so Wenn sich kein Opfer gemeldet hat oder kein Opfer er- fallen die sichergestellten Vermögenswerte künftig an mittelt werden kann, dann sollte besser der Staat die Ver- den Staat und müssen nicht wieder an den Verurteilten mögenswerte erhalten als der Täter selbst. Denn der herausgegeben werden. Staat hat schließlich sehr viele Aufwendungen zu leis- Ich glaube, wir haben eine gute Regelung gefunden, ten, beispielsweise für die Strafverfolgung und die (B) die sowohl den Interessen der Opfer – weil wir die Frist Finanzierung polizeilicher Aufgaben zur Aufklärung der (D) verlängern – als auch der Gerechtigkeit und damit dem Straftaten. Die dafür nötigen Mittel werden vom Steuer- Rechtsbewusstsein insgesamt dient. Die einzigen, die zahler aufgebracht. Deshalb begrüße ich es, dass das sich nicht freuen werden, sind die verurteilten Straftäter. Geld letztlich wieder dem Steuerzahler zugute kommen soll, indem beispielsweise Verbesserungen bei der Straf- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dann haben wir verfolgung finanziert werden können. ja die Richtigen getroffen!) (Beifall bei der FDP und der SPD) Aber denen wollen wir damit auch keine Freude ma- chen. Ich bitte Sie allerdings, zwei Anregungen zu berück- sichtigen. Wenn das Geld nicht an den Täter zurückfal- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len soll, dann sollten wir überlegen, ob es nicht sinnvoll der CDU/CSU) ist, wenigstens einen Teil davon für die Opferschutzor- ganisationen abzuzweigen. Der Weiße Ring beispiels- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: weise – wer ihn kennt, weiß, wie wichtig die Arbeit ist, Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDP- Opfer zu unterstützen und zu betreuen und viele andere Fraktion. Dinge zu tun – leidet, wie andere solcher Organisationen auch, immer an Geldnot. Ich fände es gut, wenn wir prü- Jörg van Essen (FDP): fen könnten, ob der Weiße Ring beispielsweise besser Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! unterstützt werden kann. Die Opposition hat zu kritisieren, wenn die Regierung (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Siegfried und die Koalition etwas falsch machen. Die Opposition Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/ hat aber auch Unterstützung zu leisten, wenn richtige CSU) und Josef Philip Winkler (BÜND- Schritte unternommen werden. NIS 90/DIE GRÜNEN)) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Nach den vielen positiven Bemerkungen zum Schluss Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE] – Klaus noch Folgendes: Wir haben ja in der 13. Legislatur- Uwe Benneter [SPD]: Das ist ein vernünftiges periode, damals noch unter der Federführung eines FDP- Verständnis von Opposition!) geführten Justizministeriums, den Versuch unternom- Im Falle des vorliegenden Gesetzentwurfs kann aus un- men, die zum Teil sehr komplizierten Vorschriften in Be- serer Sicht klar und eindeutig festgestellt werden, dass zug auf Verfall und Einziehung – ich gestehe, dass selbst die richtigen Schritte vorgesehen sind. ich als Oberstaatsanwalt bei dieser Problematik immer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1789

Jörg van Essen (A) noch mal sicherheitshalber in die Kommentare geschaut Staat gehen. – Das ist nicht so. Der Bundesgerichtshof (C) habe, hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1984 – nachzu- lesen in der „NStZ“ 1984, Seite 409 – entschieden, dass (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist immer es nämlich nicht darauf an komme, ob Geschädigte kon- gut!) krete Ansprüche geltend machten, es genüge weil das Ganze ziemlich kompliziert ist – zu vereinheit- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Der Kollege Reiche lichen und zu vereinfachen. Wir sollten bei den anste- wollte wissen, was „NStZ“ ist!) henden Beratungen überlegen, ob wir diesen Weg nicht erneut beschreiten sollten. Wir würden der Praxis der – „Neue Zeitschrift für Strafrecht“ –, Justiz damit ganz wesentlich helfen. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ich weiß das, Noch einmal zusammengefasst: Ich glaube, das sind aber woher soll er das wissen?) gute und richtige Ansätze. Wir werden das unterstützen. Wir sollten in den Beratungen versuchen, das eine oder wenn ein genereller Anspruch Geschädigter bestehe. andere zu verbessern. Das führt zu dem unerwünschten Ergebnis, dass dann die beschlagnahmten und eingefrorenen Millionen- oder Herzlichen Dank. Milliardenbeträge an den Täter ausgezahlt werden müs- sen. Das soll mit diesem Gesetzentwurf zu Recht geän- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dert werden. der CDU/CSU und der SPD) Der Weg, der mit diesem Gesetzentwurf eingeschla- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen wird, ist richtig. Er dient dem Opferschutz und merzt Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, verfahrenstechnische Schwierigkeiten aus. Dieses Ge- CDU/CSU-Fraktion. setz stößt insbesondere auch bei der Richterschaft nicht auf Widerspruch; vielmehr wird es in all seinen Rege- lungen begrüßt. Kritik wird nur in zurückhaltender Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ Weise angemeldet. Allerdings gibt es in einem Punkt be- CSU): rechtigte Kritik aus den Reihen der Strafverteidiger. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundeskriminalamt hat im Bundeslagebild über Wirt- Ich habe darüber gesprochen, dass das Vermögen bei schaftskriminalität des Jahres 2004 einen Schaden in der Straftätern beschlagnahmt wird. Die vorgelagerte Be- Bundesrepublik Deutschland aus Straftaten in Höhe von schlagnahme im Ermittlungsverfahren erfolgt aber nicht 10,4 Milliarden Euro festgestellt. In diesen Straftaten gegenüber einem Straftäter, sondern gegenüber einem (B) sind nicht Vergehen gegen die Abgabenordnung oder Tatverdächtigen. Ein Tatverdächtiger ist noch nicht ver- (D) Zollvergehen enthalten. Wir können also mit Recht von urteilt. Hin und wieder enden Strafverfahren auch mit hohen Schadenssummen sprechen. Wo bleibt das Geld? einem Freispruch. Für denjenigen, gegen den ein Er- mittlungsverfahren eingeleitet ist, spricht die Unschulds- Würde dieses illegale Vermögen beim Täter verblei- vermutung. Nun ist es aber so, dass die Vermögensbe- ben, entstünde in der Bevölkerung schnell der Eindruck, schlagnahme manchen mindestens genauso hart trifft Straftaten lohnten sich. Deswegen ist es wichtig, dieses wie eine lange Untersuchungshaft. Eine Vermögensbe- Vermögen schnell einzufrieren und im Wege der Vermö- schlagnahme kann sich für einen Unternehmer existenz- gensabschöpfung dem Staat zuzuführen. Dies ist insbe- vernichtend auswirken. sondere im Bereich der organisierten Kriminalität er- wünscht. Wenn das Geld bei den Tätern verbleibt, Vergleichen wir einmal das Recht der Untersuchungs- werden damit neue Straftaten geplant und durchgeführt haft mit dem der Vermögensbeschlagnahme. Gegen die und werden kriminelle Strukturen aufrechterhalten. Im Untersuchungshaft gibt es ein filigran ausgearbeitetes Vergleich dazu ist der Vermögensverfall zugunsten des Tableau von Rechtsmitteln durch zwei Instanzen. Dies Staates die bessere Lösung. ist bei der Vermögensbeschlagnahme nicht so. Wird Ver- mögen beschlagnahmt, steht demjenigen, der davon be- Aber muss es immer der Staat sein, der Zugriff auf troffen ist, das Recht der einfachen Beschwerde nach dieses Geld haben soll? Nein. Die Lösung, die der Ge- § 304 StPO – in Klammern für den Kollegen Benneter: setzgeber gefunden hat, ist opferorientiert und nobel. Strafprozessordnung – zu, Dort, wo Ansprüche des Opfers, der Geschädigten ent- standen sind, soll das Geld nicht dem Staat zugeführt (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ich weiß das ja!) werden, sondern im Wege der so genannten Rückgewin- während es dort, wo es um die Untersuchungshaft geht, nungshilfe dem Geschädigten zur Verfügung gestellt die weitere Beschwerde nach § 310 StPO gibt. Das werden. Nun haben wir es aber oftmals mit Massen- heißt, das Beschwerderecht ist im Untersuchungshaft- delikten zu tun, bei denen der Schaden des Einzelnen recht deutlich besser ausgebaut als im Bereich der Ver- außerordentlich gering ist, die Schadenshöhe insgesamt mögensbeschlagnahme. Deswegen sollten wir uns Ge- aber außerordentlich hoch. Der Einzelne macht wegen danken darüber machen, ob wir nicht im Bereich der 5,70 Euro Schadensersatzansprüche nicht geltend. Das Vermögensbeschlagnahme die weitere Beschwerde zu- führt in der Tat zu einem völlig frappanten Ergebnis. Die lassen wollen. Geschädigten erheben keinen Anspruch auf ihr Geld und jeder von uns würde spontan sagen: In diesem Fall soll Außerordentlich erfreut hat mich die Rede des Kolle- im Wege des nachgelagerten Verfalls das Geld an den gen van Essen. Natürlich mache auch ich mich dafür 1790 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) stark, dass beschlagnahmtes Vermögen, das nicht an die gestalten sich die Ermittlungen häufig kompliziert (C) Geschädigten zurückgezahlt werden kann, an Opfer- und umfangreich. schutzorganisationen geht. Sie haben sicherlich be- merkt, dass ich leuchtende Augen bekam, als der Weiße Die Bundesregierung steht mit dieser Erkenntnis offen- Ring als eine solche Institution erwähnt worden ist. sichtlich nicht allein. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 2. Dezember 2005 zum Aktenzei- Wir sollten aber im Rechtsausschuss zur Abrundung chen 5 StR 119/05 auf Seite 20 ausgeführt: der Sache auch andere anstehende Probleme erörtern. Es gibt das Recht der Gewinnabschöpfung nach § 10 UWG. Nach der Erfahrung des Senats kommt es bei einer Dieser Paragraf lässt sich in das System des Strafgesetz- Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren buches und der Strafprozessordnung nicht einfügen. Hier dazu, dass eine dem Unrechtsgehalt schwerwiegen- gibt es Wertungswidersprüche, die wir lösen sollten. der Korruptions- und Steuerhinterziehungsdelikte Zudem gibt es eine enorme Unklarheit dadurch, dass der adäquate Bestrafung allein deshalb nicht erfolgen Staat zwar auf fest eingefrorenes Vermögen nicht zu- kann, weil für die gebotene Aufklärung derart kom- rückgreifen darf, wenn Geschädigte da sind, dass er aber plexer Sachverhalte keine ausreichenden justiziel- nach der Entwurfsfassung des § 111 i Abs. 5 der Straf- len Ressourcen zur Verfügung stehen. prozessordnung dann, wenn sich die Geschädigten nicht Weiter argumentiert der Bundesgerichtshof, dass diesem melden, das Vermögen nachgelagert einziehen kann. Im Fakt nur durch eine spürbare Stärkung der Justiz in die- Strafgesetzbuch, im materiellen Recht, steht also, dass sem Bereich Rechnung getragen werden kann. kein Zugriff auf Vermögen möglich ist, wenn Geschä- digte da sind. Aber in der Strafprozessordnung steht ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es uns nicht nau das Gegenteil: Melden sich die Geschädigten nicht, gelingt, im gesamten Bereich der Justiz Voraussetzungen dann dürfen wir das Vermögen im Wege des nachgela- zu schaffen, dass die so genannte Weiße-Kragen-Kri- gerten Verfalls dem Staat zuordnen. Das sind noch Un- minalität wirksam bekämpft wird, wenn wir nicht si- ebenheiten, über die wir im Rechtsausschuss diskutieren cherstellen können, dass Gerichte einigermaßen ver- sollten. nünftig ausgestattet sind, dann werden wir immer wieder über den kleinen, prozessualen Lösungsansatz reden Zusammenfassend kann man aber sagen: Es handelt müssen, den Sie hier präsentieren, nämlich über die Ver- sich um den von Praktikern erarbeiteten Entwurf eines längerung von Fristen, wie in § 111 b Abs. 3 StPO vor- Gesetzes, das Unebenheiten in der praktischen Anwen- gesehen. Angesichts der Ausstattung der Gerichte und dung ausmerzt und deswegen begrüßenswert ist. der von der Praxis wahrgenommenen Unzulänglichkei- Vielen Dank. ten der derzeitigen gesetzlichen Regelung werden eine (B) Novellierung und Ergänzung der Vorschriften diese gan- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zen Probleme leider nicht beseitigen können. neten der SPD und der FDP) Wenn den Opfern von Wirtschaftsstraftaten wirklich geholfen werden soll und Wirtschaftsstraftaten angemes- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sen verfolgt werden sollen, dann ist mehr nötig als eine Das Wort hat die Kollegin Sevim Dagdelen, die Frak- Detailverbesserung im Verfahrensrecht. Damit die Ver- tion Die Linke. mögensabschöpfung tatsächlich einmal zu einer scharfen (Beifall bei der LINKEN) Waffe des Rechtsstaates und ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität werden kann, möchte ich dringend auffordern, neben dem jetzt Sevim Dagdelen (DIE LINKE): vorgelegten Gesetzentwurf wirksame Mittel zur Be- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte kämpfung von Wirtschaftskriminalität oder Weiße-Kra- Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage, die wir gen-Kriminalität zu ergreifen und nicht zuletzt die Justiz heute behandeln, wird der Versuch unternommen, in der zu stärken. Praxis von Gewinnabschöpfung und Verfall Erleichte- rungen einzuführen und damit die Rechte der Verletzten (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wir warten auf zu stärken. Gleichzeitig geht es darum, dem Staat ein Vorschläge!) Auffangrecht hinsichtlich illegal erlangter Vermögen zu – Darauf werden wir im Rechtsausschuss eingehen. gewähren. Gerade den Opfern von Straftaten Möglich- keiten zu geben, den finanziellen Verlust zu minimieren, Abschließend möchte ich zusammenfassen: Einer findet unsere Zustimmung. Wir sind gern bereit, mit Ih- Reihe von Änderungen in den §§ 111 b ff. StPO, die die nen im Ausschuss über die Vor- und Nachteile der vorge- Sicherstellung von Vermögen effektivieren und erleich- sehenen Regelungen, bei denen es sich im Wesentlichen tern sollen, kann uneingeschränkt zugestimmt werden. um Verfahrensfragen handelt, zu debattieren. (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Ich will jedoch aus Sicht meiner Fraktion auf ein Pro- blem aufmerksam machen, welches von der Bundesre- Mit dem Ziel verbesserten Opferschutzes ist die Verstär- gierung selbst im Gesetzentwurf angesprochen wird. kung der Zurückgewinnungshilfe durch Erweiterung des Auf Seite 11 des Gesetzentwurfs heißt es: Zulassungsverfahrens in § 111 g StPO gut vertretbar. Insgesamt bleibt jedoch das Recht der Vermögensab- Gerade in Wirtschaftsstrafsachen mit hohen Scha- schöpfung – das hat mein Kollege Kauder ganz gut dar- denssummen oder einer Vielzahl von Geschädigten gelegt – auch nach diesen vereinzelten Änderungen des Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1791

Sevim Dagdelen (A) Prozessrechts kompliziert und anwenderunfreundlich außerdem liest er, dass der Angeklagte Revision oder (C) und das bisherige gesetzliche Regelungskonzept im Berufung eingelegt hat. Der Zeitpunkt, an den ange- Grundsatz unverändert. knüpft wird, ist meines Erachtens ungeeignet. Ich glaube, dass die Rechtskraft ein besserer Zeitpunkt ist. Ich danke. Hier ist eben auch angesprochen worden, dass es sich (Beifall bei der LINKEN) häufig um Massenverfahren handelt. Das heißt, es gibt viele Geschädigte. Ich wage noch nicht, mir so richtig Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vorzustellen, was das für die Feststellung im Urteil be- Der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, deutet. Da gibt es sicherlich ein gewisses Problem. hat seine Rede zu Protokoll gegeben1). Deswegen gebe Schließlich muss man irgendeinen Anknüpfungspunkt ich das Wort dem Kollegen Dr. Peter Danckert, SPD- für denjenigen haben, der Ansprüche geltend macht. Fraktion. Vielleicht ist es zweckmäßiger, eine Art Pfleger für die betroffenen Geschädigten einzusetzen, der das außer- Dr. Peter Danckert (SPD): halb des eigentlichen Justizbereiches regelt und sich nur mit der Abwicklung dieser vermögensrechtlichen An- Frau Präsidentin! Ich bedanke mich dafür, dass ich sprüche befasst, anstatt Heerscharen von Rechtspflegern hier als Letzter reden darf. zu beschäftigen. Ich bin durchaus der Meinung, dass die (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Du bist nicht der Gerichte und die Rechtspfleger anders als dadurch be- Letzte! Lass dir das nicht einreden!) schäftigt werden müssten. Es besteht Bedarf, darüber nachzudenken, was das geeignete Instrumentarium ist. Ich hatte beinahe gehofft, dass wir das Thema ein biss- chen kontroverser behandeln könnten, aber ich vermute, Wir sind hier jedenfalls auf dem richtigen Wege. Uns dass wir einschließlich des Kollegen Jerzy Montag alle liegt endlich ein Gesetzentwurf vor. Ich hoffe, dass die einer Meinung sind. Beratungen im Rechtsausschuss sehr schnell zum Ab- schluss kommen, Wenn man überhaupt eine kritische Anmerkung wa- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: So viel Einig- gen darf, dann müsste man Sie, Frau Bundesministerin, keit! Das muss ruck, zuck gehen!) fragen, warum diese Gesetzesinitiative erst jetzt gekom- men ist. Das Problem ist seit geraumer Zeit bekannt. Wir damit wir auch im Plenum in der zweiten und dritten Be- haben das Phänomen über Jahre gehabt, dass beschlag- ratung zu einem Ergebnis kommen. Angesichts der Ei- nahmtes Vermögen, das dem Geschädigten nicht über- nigkeit, die zwischen uns herrscht, besteht nur noch eignet werden konnte, weil er sich nicht gemeldet hat Raum für einige diskussionswürdige Änderungen oder (B) oder weil er Fristen verpasst hat, wieder dem Täter zuge- Ergänzungen. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, (D) fallen ist. Das ist also kein ganz neues Phänomen. Aber haben wir das erreicht, was wir erreichen wollen, näm- nun liegt der Entwurf auf dem Tisch und wir werden si- lich eine Verbesserung der Rechtslage der Geschädigten. cherlich im Rahmen der Beratungen im Ausschuss das Außerdem haben wir dann endlich sichergestellt, dass eine oder andere miteinander besprechen können. Es die Täter nicht im Nachhinein von ihren Straftaten profi- sind durchaus – Herr Kollege van Essen ist leider schon tieren. weg – interessante Anregungen gekommen. Vielen Dank. Ich will aus meiner Sicht auf zwei Punkte aufmerk- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sam machen, von denen ich glaube, dass man an ihnen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) im Rahmen der Ausschussberatungen arbeiten muss. Es ist durchaus positiv, dass wir diese Fristverlänge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung auf drei Jahre haben. Für den Fall, dass die Rechts- Ich schließe die Aussprache. kraft erst danach eintritt, verlängert sich diese Frist noch Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- einmal. Das sind aber letztlich Steine statt Brot für den wurfs auf Drucksache 16/700 an die in der Tagesord- Geschädigten, den wir bei solchen Massendelikten im nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Auge haben. Es geschieht nämlich häufig, dass solche dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Urteile erster Instanz in Revision gehen, aufgehoben Dann ist die Überweisung so beschlossen. werden und wiederverhandelt werden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Ich schlage einfach einmal vor, dass wir darüber Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans- nachdenken, ob nicht die Rechtskraft der Punkt sein Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, müsste, an dem für den Beginn der Frist angesetzt wird. Dr. Claudia Winterstein, weiteren Abgeordneten Damit entstünde für den Geschädigten kein Nachteil, und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- sondern nur ein Vorteil; denn das ist eine sichere Marke. wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund- Ich könnte mir Folgendes vorstellen: Jemand liest in der gesetzes (Staatsziel Kultur) Zeitung von einem solchen Fall, von dem entsprechen- den Urteil, stellt fest, dass er selbst Betroffener ist, und – Drucksache 16/387 – fragt sich, ob er seine Ansprüche geltend machen soll; Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Rechtsausschuss (f) 1) Anlage 2 Federführung strittig 1792 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die grundlagen in Art. 20 a Grundgesetz geschützt sind, (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die müssen wir konsequenterweise auch die geistigen und FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- ideellen Grundlagen unserer Gesellschaft schützen. Die derspruch. Dann ist das so beschlossen. beiden Staatsziele „Schutz der Kultur“ und „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ sind zwei Seiten einer Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Medaille. Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion. Dies könnte man – jetzt schaue ich zu den Sozial- (Beifall bei der FDP) demokraten – von einem etwaigen Staatsziel Sport nicht sagen, zumal der Sport finanziell viel besser dasteht; da Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): brauche ich nur an die Fußball-WM oder die Olympiade Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mit- zu denken. tel der öffentlichen Hand für Kulturförderung sind in den (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist doch nicht vergangenen Jahren drastisch weiter gekürzt worden. der Maßstab!) Nach einer soeben veröffentlichten Antwort der Bundes- regierung ist die Gesamtsumme aller öffentlichen Kul- Nach dem einstimmigen und abschließenden Votum turausgaben von 2001 bis 2004, also in nur drei Jahren, der Kultur-Enquete – jetzt schaue ich zur Union – muss von 8,4 Milliarden Euro auf 7,8 Milliarden Euro zurück- das Plenum Farbe bekennen: Wie halten wir es mit der geführt worden. Das ist weniger als der Etat der öffent- Kultur? Die FDP geht dabei mit gutem Beispiel voran. lich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Ich halte das für ein Armutszeugnis für die Kulturnation Deutschland. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP – Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des [CDU/CSU]: Sie wollen ja wohl nicht dem Kollegen Börnsen? ZDF ans Geld, oder?) Wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, stellt Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): man fest, dass vor allen Dingen die Länder – minus Beim Kollegen Börnsen immer. 250 Millionen Euro – und die Kommunen – minus (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 230 Millionen Euro innerhalb von nur drei Jahren – für NEN]: Das kann sich aber rächen!) die Kürzungen verantwortlich sind. Dass dies aber nicht allein auf die angespannte Haushaltslage und die allge- meinen Sparzwänge zurückzuführen ist, zeigt die Ent- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): (B) wicklung des Anteils der Kulturförderung am Brutto- Wir gehen ja fair miteinander um. (D) inlandsprodukt. Von 2001 bis 2004 ist er von 0,41 Prozent Herr Kollege, Sie haben eben den bedeutungsvollen auf 0,36 Prozent abgerutscht. Meine Damen und Herren, Satz gesagt: Die FDP geht mit gutem Beispiel voran. – gerade einmal ein Drittel Prozent für die Kultur! Das hören wir gern. Hier sitzen Kulturpolitiker, die alle Einen deutlicheren Beleg für die Notwendigkeit des im Grundsatz Ihrer Auffassung sind. Wenn die FDP mit Staatsziels Kultur kann man sich wohl kaum vorstellen. gutem Beispiel vorangeht, frage ich Sie: Wo sind bisher Mehr denn je ist es erforderlich, ein klar vernehmbares die Signale aus den fünf Bundesländern, in denen die Zeichen für die Kultur zu setzen. Mir, uns allen ist da- FDP mitregiert? Aus keinem dieser Bundesländer gibt es bei völlig klar, dass auch ein Staatsziel Kultur im Grund- bisher ein Beispiel dafür, dass man sich in der langjähri- gesetz keinen einklagbaren Anspruch auf eine konkrete gen Diskussion zum Thema Staatsziel öffentlich dazu Förderung beinhaltet. Die Anhörung der bedeutendsten geäußert hat. Sie wissen darüber hinaus, dass eine Ver- Verfassungsrechtler in der Kultur-Enquete hat aber erge- fassungsänderung nur mit Zweidrittelmehrheit erreicht ben, dass das Staatsziel Kultur durchaus in doppelter werden kann und die FDP im Bundesrat die entscheiden- Hinsicht Wirkung entfaltet. Dieses Staatsziel wird – wie den Stimmen hat. Wo ist da der Vorbildcharakter der alle übrigen Staatsziele – Ermessens- und Beurteilungs- FDP, Herr Kollege? spielräume bei Gerichten und bei der Finanzverwaltung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und eröffnen. Diese Ermessensspielräume wären für jeden der SPD) Kulturdezernenten zumindest eine große Hilfe bei der Abwehr weiterer Kürzungen; Kultur ist bekanntermaßen keine kommunale Pflichtaufgabe. Vor allem aber wäre Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): ein solches klares Bekenntnis des Staates zu seiner Kul- Vielen Dank, Herr Kollege Börnsen, für diese tur ein ganz bedeutsames politisches Signal, ein Signal, Frage. – Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die FDP dass Kultur nicht nur ein Sahnehäubchen in guten Zeiten bisher – wir werden das ändern – noch keinen Minister- ist, sondern gerade auch in schlechten Zeiten die Gesell- präsidenten und keinen einzigen Kulturminister in den schaft im Kern zusammenhält. Ländern stellt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) Es gibt bisher nur öffentliche Äußerungen von Minister- Auch verfassungssystematische Gründe sprechen präsidenten, interessanterweise auch von solchen aus für das Staatsziel Kultur. Wenn die natürlichen Lebens- unionsregierten Ländern, aber keine öffentliche Äuße- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1793

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) rung eines Kulturpolitikers der FDP gegen das Staatsziel wird ein Schuh daraus: Die immer wieder gemach- (C) Kultur. ten Erfahrungen mit desaströsen Kulturetats der Länder und Kommunen rufen nach einer verfas- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht jetzt sungsrechtlichen Absicherung des Staatsziels Kul- um die Landesregierungen!) tur – Nennen Sie mir eine solche öffentliche Äußerung! Wenn (Zuruf von der FDP: So ist es!) Sie das können, dann würde ich das ernst nehmen. aus politischer Klugheit, aus ökonomischer Vernunft und Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, Herr Kollege vor allem auch aus intellektueller Selbstachtung. Börnsen: Die Voten, die einzelne Ministerpräsidenten ohne Rücksprache mit ihrem Koalitionspartner vor- Vielen Dank. schnell abgegeben haben, müssen nicht das letzte Votum (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sein. Wenn Sie dabei mithelfen, dass hier vom Bundes- der LINKEN) tag ein klares Signal gesendet wird, dann möchte ich den Ministerpräsidenten oder den Landtag sehen, der bei der Verankerung eines Staatsziels Kultur nicht mitmacht! Vizepräsident Dr. : Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von (Beifall bei der FDP – Britta Haßelmann [BÜND- der CDU/CSU-Fraktion. NIS 90/DIE GRÜNEN]: In NRW?) Meine Damen und Herren, der Kollege Börnsen hat Gitta Connemann (CDU/CSU): mit Recht festgestellt: Die FDP geht mit gutem Beispiel Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- voran. land, das Land der Dichter und Denker, die Heimat von Beethoven und Bach, ohne ein staatliches Bekenntnis (Heiterkeit bei der CDU/CSU) zur Kultur — undenkbar? Nein! Die Mütter und Väter Dabei werde ich immer wieder gefragt, warum ausge- unserer Verfassung haben dem Staat viele Ziele ins rechnet die FDP, die sich doch sonst immer für weniger Grundgesetz geschrieben; zuletzt wurde der Schutz der Staat und für eine Stärkung der Zivilgesellschaft ein- Tiere und der Natur aufgenommen. Aber Schutz und setzt, so vehement für das Staatsziel Kultur kämpft. Die Förderung von Kultur als unserer ideellen Lebens- Antwort ist einfach: Die Ziele bedingen einander. Inter- grundlage sind nicht positiv verankert, und das, obwohl nationale Erfahrungen belegen: Die Zivilgesellschaft Deutschland sich immer als Kulturstaat verstanden hat. lässt sich nur dann für die Kultur begeistern, wenn sich Zu Recht, denn Kunst und Kultur sind Teile unserer der Staat nicht gleichzeitig zurückzieht; denn kein För- Identität. (B) derer, kein Mäzen will seine Spende dem Finanzminister Unsere gemeinsame Kultur hat die Deutschen in den (D) oder dem Stadtkämmerer geben, sondern er will, dass sie Zeiten der Teilung über Mauer und Stacheldraht hinweg der Kultur zugute kommt. als Einheit verbunden. Wir begreifen Kunst und Kultur als unverzichtbar für den Zusammenhalt unserer Gesell- (Beifall bei der FDP) schaft. Daher brauchen wir – das sage ich ganz bewusst auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- als Liberaler – eine verlässliche und stetige Grundfinan- neten der SPD) zierung der Kultur durch den Staat, auf deren Fundament eine hoffentlich wachsende private Förderung aufsetzen Sollten wir dann nicht das Bekenntnis, ein Kulturstaat zu kann. sein, in unserer Verfassung zum Ausdruck bringen, meine Damen und Herren? Diese Frage wird seit 1981 (Beifall bei der FDP) debattiert. Die Mitglieder der letzten Enquete-Kommis- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto sion „Kultur in Deutschland“ haben sie mit Ja beantwor- Solms) tet. Sie empfahlen nach langer Beratung einstimmig, das Grundgesetz um einen Artikel 20 b „Der Staat schützt Diese Zusammenhänge gebieten es auch – jetzt schaue und fördert die Kultur“ zu ergänzen. ich in Richtung der beiden großen Fraktionen –, dem Kulturausschuss und nicht dem ohnehin völlig überlaste- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr ten Rechtsausschuss die Federführung für diesen Geset- schlaue Antwort!) zesantrag zu übertragen. Über diese Empfehlung debattieren wir heute, auch kon- (Beifall bei der FDP) trovers. Schließlich geht es um die Änderung unserer Verfassung. Deshalb finde ich auch, dass das Vorpre- Abschließend, meine lieben Kolleginnen und Kolle- schen der FDP dem Anliegen schadet. gen, möchte ich aus der klugen „FAZ“ zitieren, die die- ser Tage auf der ersten Seite kommentierte, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Hans-Joachim Otto [Frank- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: furt] [FDP]: Vorpreschen? Es ist schon ein hal- Gegen das Verfassungsziel!) bes Jahr dieser Legislaturperiode um!) „politische Klugheit, ökonomische Vernunft und in- Es bedarf Zeit, Mehrheiten für eine Verfassungsände- tellektuelle Selbstachtung“ geböten es, Kultur auch rung zu gewinnen. Auch aus den Bundesländern – da- ohne Staatsziel großzügig zu fördern. Umgekehrt rauf hat der Kollege Börnsen zutreffend hingewiesen –, 1794 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Gitta Connemann (A) in denen die FDP mitregiert, gibt es noch keine Signale (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- (C) dafür. Kultur ist ein besonderes Gut und eignet sich nicht furt] [FDP]) für Wahlkämpfe. Der Kollege Otto hat die Zahlen erwähnt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) neten der SPD) Ich habe Ihnen dargelegt, dass es keine juristischen Lassen Sie uns deshalb die Zeit nehmen, Zweifler ge- Gründe gegen die Aufnahme einer Kulturstaatszielbe- meinsam zu überzeugen. stimmung gibt, sondern sogar rechtliche, die dafür spre- Es gibt auch grundsätzliche Bedenken, die ich respek- chen. Damit ist das Feld des demokratischen Prozesses tiere, so das Argument der Ordnungspolitik. Unsere und der politischen Entscheidung eröffnet. Verfassung zeichnet sich aus durch Purismus, durch Wenn ich mich persönlich heute hier für die Veranke- Zeitlosigkeit. Sie ist eben gerade kein Warenhauskata- rung von Kultur ausspreche, dann hat das im Wesentli- log, der sein Angebot von Saison zu Saison ändert. chen einen Grund: Kultur ist kein Ornament. Sie ist das (Beifall des Abg. Michael Grosse-Brömer Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht und auf [CDU/CSU]) das sie baut. Ich frage Sie alle: Was wären wir ohne Kul- tur? Eine gesichtslose, sprachlose Masse – ohne Vergan- Bedarf es da wirklich einer Kulturstaatsklausel? Schließ- genheit, ohne Zukunft. lich hat das Bundesverfassungsgericht doch wiederholt Deutschland als Kulturstaat bezeichnet. Selbstverständ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- liches zu regeln, sei eben überflüssig, ja sogar schädlich neten der SPD – Beifall bei der FDP) im Hinblick auf nicht zu erfüllende Erwartungen, und Kindern versuche ich die Bedeutung des Begriffs schließlich liege ja die Kulturhoheit bei den Ländern. So Kultur immer mit einem Bild deutlich zu machen. Ich die Argumente gegen die Verankerung der Kulturstaats- frage sie: Stellt euch vor, ihr lauft in 100 Jahren, im klausel. Jahre 2106, durch Berlin. Was wird euch an das Jahr 2006 erinnern, was wird vom Jahre 2006 bleiben? – Aus meiner Sicht greifen aber diese Argumente zu Natürlich auch diese Parlamentsdebatte; sie wird abge- kurz. Allein das Bekenntnis des Bundesverfassungsge- heftet sein. Sicherlich wird sich auch der eine oder an- richts reicht nicht; denn es gibt nicht nur dogmatische dere von uns in Geschichtsbüchern wiederfinden, aber Kritik gegen die Herleitung aus Art. 5 Abs. 3 des Grund- eben in der Geschichte als kultureller Fähigkeit. Kinder gesetzes. Es kann auch nicht in der Hand eines Gerichtes begreifen das. Sie antworten mir immer dasselbe: Wir liegen, ob und wie wir uns definieren. werden uns erinnern an die Gebäude unserer Zeit, die (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Architektur. Wir werden uns erinnern an die bildende neten der SPD und der LINKEN) Kunst dieser Zeit, vielleicht eine Bildhauerarbeit, an die Gemälde, die in Galerien hängen. Wir werden uns er- Hier besteht eine Lücke. Es liegt in der Entscheidung des innern an die Musik dieser Zeit, nicht Daniel Küblböck, Gesetzgebers und damit an uns, ob und wie wir sie aber an die Beatles oder eine Komposition, die aufge- schließen wollen. Eine Kulturstaatsklausel würde auch nommen worden ist von einem Klangkörper dieser Zeit. nicht in die Kulturhoheit der Länder eingreifen; sie ist föderalismusneutral. Meine Damen und Herren, das Einzige, was von einer Gesellschaft bleibt, ist ihre Kultur. Sollte sie uns deshalb (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Rich- nicht eines besonderen Schutzes wert sein? Ich glaube, tig!) ja. Deshalb bitte ich Sie inständig – die Kollegen, die Für das Kompetenzgefüge von Bund und Ländern ergä- heute hier sind, aber auch die Kollegen, die nicht da sein ben sich dadurch keine Änderungen. Ich verweise dabei können, und die Bevölkerung, die uns zusieht –: Lassen immer gerne auf Art. 7 Abs. 1, nach dem das Schulwe- Sie uns gemeinsam überzeugen, lassen Sie uns gemein- sen unter die Aufsicht des Staates gestellt ist. Niemand sam beraten, und zwar für die Aufnahme von Kultur als würde das als Angriff auf die Bildungshoheit der Länder Staatsziel in das Grundgesetz. verstehen. Vielen Dank. Es ist richtig, dass Staatszielbestimmungen keine (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP konkreten individuellen Ansprüche begründen. Aber ein sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Staatsziel Kultur würde nicht nur jedem Gericht als Aus- legungs- und Anwendungsmaßstab für einfaches Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Recht gelten. Es könnte auch vor dem Bundesverfas- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Luc Jochimsen sungsgericht gegenüber Gesetzen in Ansatz gebracht von der Fraktion Die Linke. werden. (Beifall bei der LINKEN) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr richtig!) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Es würde auch die Gemeinden binden, dass Freiwillig- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keit nicht mehr als Beliebigkeit verstanden werden Herr Staatsminister! „Der Staat schützt und fördert die dürfte. Kultur.“ Dieser Satz als Grundgesetzartikel ist mehr als Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1795

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) nur eine schön klingende Formulierung. Die europäische Siegmund Ehrmann (SPD): (C) Kulturnation Deutschland stellt mit dieser Verpflichtung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe für sich einen Grundsatz auf; man könnte auch sagen: ei- Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerinnen und nen guten Vorsatz der Republik. mein Vorredner haben dargestellt, vor welchem Hinter- grund dieser Gesetzentwurf eingebracht wurde. In der In einer Zeit, da Kultur sich als globales Thema und Tat hat die Enquete-Kommission eine einstimmige Emp- auch als globaler Konfliktstoff erweist, halten wir, die fehlung ausgesprochen. Aber der Blick zurück zeigt, Fraktion der Linken, es für sehr wichtig, uns zum Staats- dass es ein mühsamer Prozess ist, eine solche Initiative ziel Kultur zu bekennen, selbstbewusst einerseits, ande- zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. rerseits auch aus Sorge, dass ein fundamentales Erbe un- seres Landes bedroht ist. Es sind schon ein paar Etappen genannt worden. Be- reits 1981 hat sich eine Regierungskommission mit die- Denn machen wir uns nichts vor: Die reiche Kultur- sem Thema auseinander gesetzt. Als Ausfluss des Eini- landschaft Deutschlands – ihre Theater, Museen, Opern- gungsvertrages gab es Anfang der 90er-Jahre eine häuser, Konzertsäle, Bibliotheken, ihre Festspiele, auch Debatte über die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der ihre Abertausende lokalen und regionalen Projekte und Staatsziele. Die Verfassungskommission ist in diesem vor allem ihre bisherigen Bildungseinrichtungen für Punkt aktiv geworden. Auch das Parlament hat sich da- Kinder und Jugendliche – steht auf der Kippe. Dabei mit beschäftigt und einige Staatsziele in die Verfassung geht es nicht allein um die dramatischen Kürzungen der aufgenommen. Das Parlament hat aber seinerzeit – das Kulturhaushalte von Kommunen und Ländern, die zu ist Fakt – mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt, das Staats- Beginn dieser Debatte erwähnt wurden. Es geht auch um ziel Kultur in der Verfassung zu verankern. das Infragestellen von Kultur überhaupt angesichts einer aggressiv operierenden globalen Unterhaltungs- und Es ist also ein streitiges Thema. Darüber wird unter Werbeindustrie, die die totale Sinnfreiheit feiert und Verfassungsrechtlern, aber auch hier im Plenum kontro- sonst gar nichts. vers diskutiert. Umso wichtiger war es, dass sich die Enquete-Kommission nicht auf alte Arbeitsergebnisse Ja, es geht um die Stärkung des Gewichts der Kultur gestützt hat, sondern sich selbst die Mühe gemacht hat, in Konkurrenz mit anderen mächtigen Interessen, wenn im Rahmen einer sehr breit angelegten Expertenanhö- wir dafür eintreten, das Staatsziel Kultur in unserem rung den – ich erlaube mir, das so zu formulieren – heu- Grundgesetz zu verankern. Der Hinweis, dass man sich tigen Stand der Technik abzufragen, die vorgetragenen für einen Artikel im Grundgesetz nichts kaufen kann, Argumente für das Pro und Kontra gegenüberzustellen verfängt nicht. und nach sorgfältiger Abwägung letztendlich dieses ein- mütige Votum abzugeben. (B) Natürlich sind die Verfassung und die Verfassungs- (D) wirklichkeit ein weites Feld. Aber glauben Sie mir, die Der Kern des Anliegens ist von meinen Vorrednerin- ich als Mädchen, junge Frau und berufstätige Mutter die nen und meinem Vorredner schon herausgearbeitet wor- Geschichte der Bundesrepublik erlebt habe, dass die den. Natürlich entstehen durch eine solche Grundge- schrittweisen Veränderungen zur Gleichberechtigung setzänderung keine Ansprüche von einzelnen öffentlich- nur möglich waren, weil die Gleichberechtigung im rechtlichen Institutionen. Mit einem derart angelegten Grundgesetz stand und wir uns immer darauf berufen Staatsziel hat beispielsweise kein Theaterintendant einen konnten, gerade auch in den vielen Jahren der offenkun- Anspruch darauf, dass ein Schutzwall um seine Institu- digen Diskriminierung. tion errichtet wird. Gleichwohl handelt es sich um ein qualifiziertes Abwägungsgebot für alle staatlichen Ebe- Staatsziel Kultur als Versprechen für ein vielfältiges, nen und muss von denen – auch das ist schon erwähnt reiches, auch alle unsere Minderheiten einbeziehendes worden –, die die Entscheidungskompetenz haben, ange- Kulturleben, dafür sind wir sehr. Deshalb unterstützen wendet werden. Damit wäre die Ergänzung des Grund- wir auch den Gesetzentwurf der FDP. Mehr noch hätten gesetzes auf indirektem Wege sehr wohl ein ganz wichti- wir eine große fraktionsübergreifende Initiative in dieser ger kulturpolitischer Akzent. Sache begrüßt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Damit schließlich auch das klar ist: Wir sprechen uns der CDU/CSU und der FDP) nicht für eine Inflation von weiteren Staatszielen aus. Das war auch Auffassung der Enquete-Kommission. Das Staatsziel Fußball brauchen wir meiner Meinung nach nicht. Kultur ist da ein besonderes Ding. Die kritischen Einwände darf man natürlich nicht bei- seite schieben. Es wird gesagt, es handele sich um einen Vielen Dank. Eingriff in den Föderalismus und um einen wirkungs- losen Placeboeffekt. Es wird auch das Argument vorge- (Beifall bei der LINKEN und der FDP – Hans- tragen, dies widerspreche dem Charakter unserer Verfas- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wo sie Recht sung. Im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung sei hat, hat sie Recht!) das Grundgesetz anders angelegt. Es wird auch einge- wandt, der Kulturbegriff sei zu unbestimmt und stelle Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für das Abwägungsgebot überhaupt keine Hilfe dar. Das Wort hat jetzt der Kollege Siegmund Ehrmann Ich will einmal auf das letzte Argument eingehen. In von der SPD-Fraktion. der Enquete-Kommission ist unstreitig gewesen, dass 1796 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Siegmund Ehrmann (A) der Kulturbegriff im öffentlich-rechtlichen Schrifttum Staatszielbestimmungen sind Richtlinien für staatli- (C) gesichert ist. ches Handeln auf allen Ebenen sowie für die Auslegung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften. Das ist Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dieses viel und wenig zugleich. Mit dem Staatsziel Kultur ha- Thema anzugehen. Insofern, Herr Otto, machen Sie uns ben wir wenig Konkretes gewonnen. Das ist, glaube ich, allen trotz anfänglicher Bedenken mit Ihrem Gesetzent- allen klar. wurf Feuer. Trotzdem geht es nicht bloß um eine symbolische (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Aktion. Wir betonen mit einer solchen Staatszielbestim- Wir sind nun in der Situation, zu Klärungen kommen mung den Stellenwert von Kultur in juristischen und und Bekenntnisse ablegen zu müssen. Insofern sind wir politischen Entscheidungsprozessen. aus den großen Fraktionen aufgefordert, unsere internen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Klärungsprozesse sorgfältig durchzuführen. Richtig!) Zumindest für die SPD-Fraktion kann ich an dieser Das kann das Gewicht von Kultur steigern. Stelle sagen: Wir sind noch nicht an einem endgültigen Punkt angekommen. Aber unser Fraktionsvorsitzender (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das hat heute Morgen in seiner grundlegenden Rede die wird es steigern!) Unterstützung dafür erbeten, im Rahmen der Föderalis- Wenn wir es schaffen, Kultur als Staatsziel zu verankern, musdebatte auch dieses Thema zu erörtern und anzu- fängt die Arbeit übrigens erst an. Dann gilt es, dieses sprechen. Ziel mit Leben zu füllen. Ich finde, unter diesem Aspekt wäre es ein guter Be- Wir wissen, wie hart die wirtschaftliche und soziale schluss, dass der Rechtsausschuss federführend ist. Es Situation für viele Künstlerinnen und Künstler ist und in liegt dann an uns, den Kulturpolitikern, das Thema in der welch harten Abwehrkämpfen die Kultur gegenwärtig zu organisierenden Anhörung so zu unterfüttern, dass steht. In Zeiten knapper Kassen stehen die Ausgaben wir allen Kolleginnen und Kollegen im Hause Argu- für Kultur unter einem starken Rechtfertigungsdruck. mente für ihre persönliche Abwägung anbieten können, Offensichtlich ist bei uns immer noch die Ansicht ver- in der Hoffnung, dass es, anders als Anfang der 90er- breitet, dass Kultur nettes, schmückendes Beiwerk ist, Jahre, die nötige verfassungsändernde Mehrheit hierzu das im Zweifelsfall auch wegfallen kann. gibt. Mit der Bestimmung eines Staatsziels Kultur können Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre wir einem solchen Denken ein Stück weit entgegentre- (B) Aufmerksamkeit. ten. Kultur ist nicht Beiwerk, sondern Lebenselixier; da- (D) von bin ich überzeugt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: SPD und der FDP) Das Wort hat jetzt der Kollege von Der Mensch als soziokulturelles Wesen ist angehalten, Bündnis 90/Die Grünen. die kulturellen Bedingungen seiner Existenz ebenso zu schützen wie die natürlichen Lebensgrundlagen. Kai Boris Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Richtig!) Kollegen! Wir diskutieren über einen Gesetzentwurf, mit Eine Bestimmung, nach der der Staat die Kultur schützt dem das Staatsziel Kultur in das Grundgesetz aufgenom- und fördert, wäre eine logische Ergänzung des Art. 20 a, men werden soll. Die Anstöße dazu kamen aus dem Um- der ja den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen fest- kreis der Enquete-Kommission „Kultur“ in der letzten schreibt. Legislaturperiode. Dieser Gedanke wurde zusammen mit dem Kulturausschuss weiter verfolgt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir freuen uns, dass Herr Otto und die FDP diese Ini- tiative aufgreifen. Eine solche Bestimmung wahrt auch die notwendige Allgemeinheit. Es geht nicht um irgendeine Staats- oder (Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) Leitkultur, die hier verordnet wird. Es geht um den Wir sollten sie interfraktionell vorantreiben, und zwar Schutz des lebendigen und pluralen Prozesses der Kul- auch im Kulturausschuss. tur, der sehr elementar für unser Leben ist. (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- Bei der näheren Begründung des Staatsziels Kultur furt] [FDP]) sollten wir nicht nur den Erhalt der bereits bestehenden Kultur in ihrer Vielfalt und Breite betonen, sondern auch Rechts- und Kulturausschuss müssen die entscheidenden die Bedingungen ihrer Entwicklung und Vermittlung. Es Orte der Debatte sein. Wir brauchen also eine intensive geht um die Freiräume, in denen Neues entsteht. Es geht Mitberatung im Kulturausschuss. auch um faire Chancen des Zugangs zu Kultur. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1797

Kai Boris Gehring (A) Der UN-Sonderberichterstatter für Bildung, Muñoz, kann man streiten – in unser Grundgesetz aufgenommen (C) hat der Bundesrepublik für die Gerechtigkeitsdefizite ih- haben. Nachdem der Schutz der Natur als Staatsziel fest- res Bildungssystems sehr schlechte Noten ausgestellt. geschrieben wurde, kann man sich natürlich die Frage Ich bin mir sicher: Diese Kritik ließe sich auch mit Blick stellen, ob die Kultur nicht ebenfalls als Staatsziel geför- auf den Zugang zu kultureller Bildung formulieren. dert Gerade hier, bei der kulturellen Bildung, brauchen wir große Anstrengungen. Kultur ist kein schmückendes (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Beiwerk, sondern ein Raum der Begegnung, der ästheti- Richtig!) schen Kommunikation. und geschützt werden sollte. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sehr gut!) neten der SPD – Hans-Joachim Otto [Frank- Ein Gemeinwesen, das sich um die lebensweltlichen furt] [FDP]: Die Frage muss man sich stellen!) Fundamente von Demokratie sorgt, das soziale Integra- Ein Staatsziel Kultur würde Entscheidungsträgern auf tion und nicht Ausgrenzung anstrebt, muss Kultur för- allen politischen Ebenen angesichts knapper Kassen ein dern und schützen. Eine Staatszielbestimmung Kultur gewichtiges Argument an die Hand geben, wenn sie über wäre ein angemessener Ausdruck eines solchen An- den Kulturetat debattieren. spruchs. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Vielen Dank. Damit wäre der Schutz unserer Kultur besser gewähr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, leistet. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP so- wie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Trotzdem gibt es auch Gründe, die gegen eine Auf- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nahme des Staatszieles Kultur ins Grundgesetz sprechen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der Ich denke, man darf bei einer Debatte über eine Grund- CDU/CSU-Fraktion. gesetzänderung sowohl den Befürwortern als auch den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gegnern nicht die Ernsthaftigkeit ihrer Argumente ab- neten der SPD) sprechen. Ich habe lange an Vorschlägen zur Entbürokra- tisierung mitgearbeitet und mir dabei immer wieder ei- nen Grundsatz von Montesquieu vor Augen gehalten: Dorothee Bär (CDU/CSU): (B) (D) Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatsminister! Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin enttäuscht, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. Herr Kollege Otto, Die Frage, ob in diesem Fall ein Gesetz notwendig ist, (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was?) haben sich viele unserer Kollegen gestellt. Ich bin mir si- cher, dass alle Kulturpolitiker sich darin einig sind, dass dass Sie zwei Wochen vor drei Landtagswahlen dieses die Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutsch- Thema hier aufgreifen. Ich bin nämlich der Überzeu- land von keiner Seite angezweifelt wird. gung, dass die Art und Weise Ihrer Rede diesem wichti- gen Thema nicht gerecht wird. Zudem haben wir in Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz als Grundrecht – nicht nur als Staatsziel – die Freiheit von (Beifall bei der CDU/CSU) Wissenschaft, Forschung, Lehre und Kunst garantiert. Wir debattieren heute über eine Frage, die nicht ein- Darin drückt sich bereits aus, dass unser Staat Verant- fach mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Das ha- wortung für die Kultur übernimmt. ben wir schon in den vorangegangenen Reden gehört. Außerdem enthalten viele Landesverfassungen, bei- Dennoch tendiere ich heute Bezug nehmend auf Ihren spielsweise die bayerische, Aussagen zum Schutz und Gesetzentwurf bei einer 51-zu-49-Prozent-Abwägung zur Förderung der Kultur. Dass unser Staat Verantwor- eher zu einer Ablehnung des Gesetzentwurfs der FDP. tung für die Kultur übernimmt, zeigt sich auch in finan- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim zieller Hinsicht. Bereits jetzt werden über 90 Prozent der Otto [Frankfurt] [FDP]: Das war knapp! Da Mittel für Kultur aus staatlichen Haushalten aufgebracht. können wir noch arbeiten!) Die Frage „Ist Kultur ein Staatsziel?“ stellt sich wei- Ich möchte das nicht ausschließlich an inhaltlichen ter. Das möchte ich an dieser Stelle betonen. Darüber hi- Punkten festmachen, sondern auch an der Art und Weise, naus möchte ich, dass wir uns sachlich und fair mit die- wie die FDP mit diesem Thema umgeht. Darauf komme sem Thema auseinandersetzen. Wir dürfen nicht nur die ich aber später noch zu sprechen. Argumente der Befürworter gelten lassen und ihnen Recht geben, wir müssen auch die Argumente der Geg- Es gibt für uns alle sehr gute Gründe, die Kultur als ner bewerten. Das ist ein sehr enger Abwägungsprozess. Staatsziel in unser Grundgesetz aufzunehmen. Meine Kollegin Frau Connemann hat bereits viele davon ge- Wir haben uns in der Enquete-Kommission „Kultur“ nannt. Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, sehr intensiv mit dem Thema befasst. Deswegen möchte dass wir den Schutz der Natur als Staatsziel – darüber ich, dass wir die Zeit, bis die Enquete-Kommission 1798 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dorothee Bär (A) „Kultur“ zu einem Ergebnis gekommen ist, nutzen, um einigt hat, erst einmal die Ergebnisse der Enquete-Kom- (C) sowohl die Kräfte auf der einen als auch auf der anderen mission abzuwarten. Seite zu mobilisieren. Diese Diskussion muss aber im- mer ergebnisoffen geführt werden, weil die Überlegun- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim gen mit Blick auf eine Grundgesetzänderung sehr wich- Otto [Frankfurt] [FDP]: Die sind endgültig ab- tig sind. In der Enquete-Kommission wurde sehr lange geschlossen!) darüber debattiert; darauf hat der Kollege Ehrmann be- – Nein, die sind nicht endgültig abgeschlossen, weil wir, reits hingewiesen. wie Sie wissen, in der 16. Legislaturperiode sind und Abschließend möchte ich sagen: Ich finde es einfach nicht mehr in der 15. schofel von der FDP, dass sie das jetzt vor den Landtags- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: wahlen machen will. Abgeschlossen!) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir haben in diesem Haus einstimmig beschlossen, in Jawohl! Das ist der eigentliche Grund!) der 16. Legislaturperiode den Abschlussbericht abzu- warten; der ist noch vorzulegen. Dann können wir sehr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gern noch einmal über einen Gruppenantrag diskutieren. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto? Vielen Dank. Dorothee Bär (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Bitte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von Bitte schön, Herr Otto. der SPD-Fraktion.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Monika Griefahn (SPD): Ich verlängere Ihre Redezeit. – Liebe Frau Kollegin Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen Bär, darf ich Ihnen mitteilen – hoffentlich mit Unterstüt- und Herren! Wir haben schon diverse geschichtliche zung der Obleute des Kulturausschusses –, dass die Hintergründe als Begründung dafür gehört, warum wir FDP-Fraktion monatelang versucht hat, einen gemeinsa- überhaupt über Kultur als Staatsziel diskutieren. Aus- men, fraktionsübergreifenden Antrag in dieser Frage ge- gangspunkt war die Enquete-Kommission und deren (B) radezu wie sauer Bier anzupreisen, und dass Ihre Frak- Empfehlung nach verschiedenen ausführlichen und auch (D) tion sich nicht in der Lage gesehen hat, diesen Antrag kontrovers geführten Diskussionen. Dabei ist die gemeinsam mit uns zu tragen? Enquete-Kommission zu einer einstimmigen Empfeh- lung gekommen. Die Fraktionen im Deutschen Bundes- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: tag haben diese aufgegriffen und intensiv darüber disku- Das ist völlig falsch, was er sagt!) tiert. – Das stimmt absolut und ist im Protokoll festgehalten, Herr Otto, bei Ihren Gesprächen mit den Fraktionen lieber Herr Börnsen. haben wir alle Ihnen signalisiert – ich glaube, Frau (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Connemann und Herr Ehrmann haben das sehr deutlich Nein! Das steht in keinem Protokoll!) gemacht –, dass wir große Sympathie für Ihren Antrag als solchen haben. Aber große Fraktionen brauchen für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: so ein Vorhaben ein bisschen länger als kleine Fraktio- Moment bitte. Herr Börnsen, Sie haben nicht das nen. Ich glaube, Herr Börnsen hat verdeutlicht, dass man Wort. Herr Otto stellt gerade eine Frage. auch mit den Ländern übereinkommen muss. Das ist keine Sache, die man einmal eben so erledigt. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Ich weiß nicht, wer von Ihnen letzte Woche die Ich ergänze meine Frage: Sind Sie bereit, zur Kennt- Freude hatte, sich auf Arte noch einmal den Film nis zu nehmen, dass ich hier wie auch schon zuvor im- „Rhythm is it!“ anzusehen, dieses sehr bemerkenswerte mer erklärt habe, dass die FDP-Fraktion ihren Antrag so- Projekt, das Simon Rattle mit Schülern aus benachteilig- fort zurückziehen wird, wenn es einen Gruppenantrag ten Gebieten in Berlin gemacht hat. Sie sind zu einer oder einen fraktionsübergreifenden Antrag gibt? Wenn wunderbaren Aufführung in der Treptower Arena zu- Sie sich in Ihrer Fraktion klar darüber werden, sind wir sammengekommen und viele, die vielleicht nie gedacht bereit, unseren Antrag zurückzunehmen. Was daran hatten, dass sie etwas mit Kultur zu tun haben, haben da- schofel ist, müssen Sie mir bitte erklären. durch Selbstbewusstsein gewonnen. Ich war selber in der Treptower Arena und kann mich daran erinnern, dass (Beifall bei der FDP) die Besucher und auch die Eltern dieser Schüler, die sich noch nie klassische Musik angehört haben, wirklich be- Dorothee Bär (CDU/CSU): geistert mitgemacht haben. Simon Rattle hat daraus die Herr Kollege Otto, dann bitte auch ich Sie, zur Kennt- Konsequenz gezogen: Kultur ist wie die Luft zum At- nis zu nehmen, dass man sich interfraktionell darauf ge- men und wie das Wasser zum Trinken. Ich kann daraus Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1799

Monika Griefahn (A) nur schließen – so heißt es in der SPD-Fraktion –: Kultur ständnis. Das müssen wir an prominenter Stelle fest- (C) ist Lebensmittel. schreiben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es ist gut, dass die Anhörung der Verfassungsrechtler, die der Enquete-Kommission zur Seite standen, in die Dass die Enquete-Kommission nach der kontroversen große Föderalismusdebatte einfließen soll. Über das Diskussion diese Empfehlung ausgesprochen hat, ist, so Staatsziel Kultur soll mit den Verfassungsrechtlern de- denke ich, ein Zeichen für die Überzeugungskraft von battiert werden. Ich hoffe auf die Kraft der Argumente. Argumenten. Für mich persönlich als Kulturpolitikerin Ich hoffe, dass wir auf diesem Weg viele Kolleginnen als auch als überzeugte Demokratin und Sozialdemokra- und Kollegen erreichen können; denn wenn die Verfas- tin bietet unsere Verfassung, das Grundgesetz, ein Gerüst sungsrechtler die Kolleginnen und Kollegen in der En- für unser Zusammenleben. Dieses Gerüst ist nicht nur quete-Kommission erreicht haben, können sie vielleicht auf die unverzichtbare Formulierung von Grundrechten, auch die anderen Kollegen im Bundestag erreichen. Ich auf die Beschreibung von politischen Spielregeln und hoffe auf eine positive Debatte. die Organisation des Zusammenspiels im föderalen Sys- tem Deutschlands beschränkt, sondern es beschreibt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der eben auch Strukturprinzipien. Diese machen Deutsch- CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) land zu dem, was es ist: ein Staat, der beispielsweise das Recht auf freie Meinungsäußerung, den Schutz und die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Förderung von Kindern und Familien, Demokratie und Ich schließe die Aussprache. Sozialstaatlichkeit zu obersten Verfassungsprinzipien er- hebt. Was bisher vielleicht noch fehlt, ist die geistig- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- ideelle Dimension unseres Zusammenlebens. Manche wurfs auf Drucksache 16/387 an die in der Tagesord- denken, eine Leitkulturdebatte könnte das leisten. Das nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe- glaube ich kaum. Ich denke, dass das Grundgesetz unse- derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/ ren gemeinsamen kulturellen Nenner darstellt. Hier ha- CSU und der SPD wünschen Federführung beim Rechts- ben wir unsere Werte und unsere Kultur auf ein für uns ausschuss. Die Fraktion der FDP wünscht Federführung alle geltendes Fundament gestellt. Deswegen ist es auch beim Ausschuss für Kultur und Medien. höchste Eisenbahn, im Grundgesetz Kultur als Staatsziel Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der zu verankern. Eine starke Position der Kultur schafft Fraktion der FDP, Federführung beim Ausschuss für Identität und politische Integration. Kultur und Medien, abstimmen. Wer stimmt für diesen Die europäische Verfassung leistet das bereits. Der Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer (B) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den (D) enthält – das wurde schon gesagt – mit Art. 151 bereits Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Frak- einen Kulturartikel, der das europäische kulturelle Ver- tion, die für diesen Überweisungsvorschlag gestimmt ständnis hervorhebt. Außerdem haben fast alle Bundes- hat, abgelehnt. länder eine Kulturstaatsklausel in ihren Verfassungen. In Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Sachsen wird Kultur explizit zur Pflichtaufgabe erklärt. Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim Vor meinen Augen täte sich eine eklatante Lücke auf, Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen wenn wir Kultur als Basis unseres Zusammenlebens Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- nicht auch im Grundgesetz verankern würden. gen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen (Beifall des Abg. Dr. Peter Danckert [SPD]) aller Fraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. Damit liegt die Federführung beim Neben der in Art. 5 definierten Kunst- und Wissen- Rechtsausschuss. schaftsfreiheit könnte die Verankerung von Kultur als Staatsziel im Grundgesetz dem Selbstverständnis Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie die Zu- Deutschlands als Kulturnation in Europa Ausdruck ver- satzpunkte 10 und 11 auf: leihen. Das ist das Entscheidende des Kulturbegriffs, wie 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten er sich in der deutschen Nation seit der Zeit der Aufklä- Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul rung entwickelt hat. Der Begriff hat sich seit der Zeit der Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Aufklärung entwickelt und die feudale Rückständigkeit Fraktion der LINKEN in vielen kleinen Fürstentümern überwunden. Diesen geistigen Fortschritt müssen wir verankern. Abzug der Atomwaffen aus Deutschland (Beifall bei der SPD) – Drucksache 16/448 – Das ist gewissermaßen die Befreiung des Menschen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Mit dem Ausdruck „Kulturnation“ gehen wir in an- Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss dere Länder und gestalten unsere auswärtige Kulturpoli- tik. Damit treten wir in den Dialog über Demokratie ein. ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Ich glaube, dass wir unser eigenes Bewusstsein für Kul- Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bre- tur in Situationen wie dem Karikaturenstreit deutlich men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion machen müssen. Kultur gehört zu unserem Selbstver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 1800 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Abrüstung der taktischen Atomwaffen voran- tionierung dieser Waffen ist. Die Stationierung von (C) treiben – US-Atomwaffen aus Deutschland Atomwaffen in Deutschland trägt nicht zum Schutz der und Europa vollständig abziehen Bevölkerung vor militärischen Angriffen oder Anschlä- gen bei – ganz im Gegenteil. – Drucksache 16/819 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Auswärtiger Ausschuss (f) Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verteidigungsausschuss NEN]) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sie stellen eine permanente Bedrohung für die Bevöl- ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen kerung dar. Das US-Militär selbst hat in internen Doku- Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck (Köln), menten immer wieder Zweifel an der Sicherheit der in weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Europa gelagerten Atomwaffen geäußert. Daraus folgt: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Katastrophen und Unfälle sind jederzeit möglich und Nuklearen Dammbruch verhindern – Indien an Atomwaffenlager sind immer ein potenzielles Ziel für das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüs- militärische oder terroristische Anschläge. tungskontrolle und Nichtweiterverbreitung heranführen Trotzdem hält es die Bundesregierung nicht für nötig, die deutsche Bevölkerung über die Anzahl, Art und La- – Drucksache 16/834 – gerung der Atomwaffen zu informieren. Begründet wird Überweisungsvorschlag: dies zynischerweise auch noch damit, möglichen Risi- Auswärtiger Ausschuss (f) ken für Bevölkerung und Umwelt vorbeugen zu wollen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auch wenn Deutschland formell keine Atomwaffen be- Verteidigungsausschuss sitzt, ist die Bundeswehr über die nukleare Teilhabe in Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Atomkriegsplanungen verstrickt. In Büchel stehen deut- Entwicklung sche Piloten mit den Tornado-Kampfjets der Bundes- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wehr für Einsätze bereit. Diese Kampfjets können mit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Atombomben ausgestattet werden, vorausgesetzt, der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre US-Präsident hat diese vorher freigegeben. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. An die Grünen gerichtet möchte ich sagen: Dieses Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Problem erledigt sich nicht automatisch im Jahr 2015, ner dem Kollegen Alexander Ulrich von der Fraktion wie Sie in Ihrem Antrag suggerieren, weil bis dahin alle (B) Die Linke das Wort. atomwaffenfähigen Tornados vollständig durch die (D) neuen Eurofighter ersetzt worden sind. (Beifall bei der LINKEN) (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! Deshalb wollen wir das Alexander Ulrich (DIE LINKE): auch eher regeln!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt viele Gründe, warum es gut ist, dass wieder eine Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf unsere linke Kraft im Bundestag vertreten ist. Heute kommt ein Kleine Anfrage mitgeteilt, dass sogar über das Jahr 2020 weiterer hinzu: Mit ihrem heutigen Antrag verfolgt die hinaus an einer kleinen Stückzahl von Tornados festge- Linke als einzige Fraktion im Bundestag eine glaubwür- halten wird. Die Bundeswehr soll also weiterhin für den dige Friedenspolitik. Einsatz von Atomwaffen gerüstet sein. Mit der nuklea- ren Teilhabe bricht die Bundesregierung ihre völker- (Beifall bei der LINKEN) rechtlichen Verpflichtungen in einer Art, wie sie es bei 61 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki und 16 Jahre Nicht-NATO-Staaten zu Recht nie akzeptieren würde. nach dem Ende des Kalten Krieges ist Rheinland-Pfalz Der rheinland-pfälzische Landtag hat sich bereits im ein riesiges Atomwaffenlager. Auch angesichts des ge- vergangenen Jahr für einen Atomwaffenabzug ausge- genwärtigen Irankonflikts gilt es, klarzustellen: Kein sprochen. Allerdings hat der dortige Ministerpräsident Land auf der Welt hat ein Recht auf den Besitz von Mas- und SPD-Vize mit hervorgehobener Stellung, Kurt senvernichtungswaffen. Beck, ebenso wie die komplette rot-gelbe Landesregie- (Beifall bei der LINKEN) rung diesen Beschluss ignoriert und die Bundesregie- rung bisher nicht aufgefordert, auf einen Abzug der Dennoch werden nach Schätzungen von US-Experten Atomwaffen hinzuarbeiten. Auch das können Sie in der allein im rheinland-pfälzischen Büchel weiterhin Antwort auf unsere Kleine Anfrage nachlesen. 20 Atombomben stationiert. Das Atomwaffenlager in Ramstein wurde im Frühjahr 2005 angeblich zeitweise Kurt Beck hat dieses Thema bei seinem USA-Besuch, geräumt. Wo die dort bis dahin stationierten 130 Bom- wie man Medienberichten entnehmen konnte, bewusst ben derzeit lagern, ist unbekannt. Die Bundesregierung nicht zur Sprache gebracht, da er – das muss man sich hat sich in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der einmal überlegen – nicht die Gastfreundschaft verletzen Fraktion Die Linke geweigert, dazu auch nur ein Wort zu wollte. Wo kommen wir denn hin, wenn ein Ministerprä- sagen. Wahrscheinlich weiß sie, dass eine überwälti- sident nicht in der Lage ist, einer befreundeten Nation zu gende Mehrheit der Bevölkerung gegen die weitere Sta- sagen, dass der Landtag von Rheinland-Pfalz einen Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1801

Alexander Ulrich (A) schluss zum Atomwaffenabzug gefasst hat? Es ist eben Dazu hat sich Deutschland völkerrechtlich verbindlich (C) leichter, Weinfeste zu eröffnen oder Lottoscheine entge- verpflichtet – das ist völlig richtig – und dies liegt in un- genzunehmen, als mit Freunden unangenehme Themen serem wohlverstandenen, fundamentalen Interesse. zu besprechen. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der LINKEN) Hieran hält offensichtlich auch die Bundesregierung fest, Altkanzler Kohl hat in dieser Woche in Trier gesagt, dass Herr Staatsminister, wie aus der Antwort auf die entspre- dieser Ministerpräsident ein Opportunist ist. Recht hat chende Anfrage deutlich wird. er! Der Nichtverbreitungsvertrag, den wir heute in sehr unterschiedlichem Kontext debattieren, hat bekanntlich Wir fordern, dass der Bundestag von der Bundes- die Abschaffung sämtlicher Kernwaffen zum Ziel. Die- regierung den Abzug jeglicher Atomwaffen verlangt, die sem Ziel sind auch wir als Bundesrepublik Deutschland sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet; das ist richtig. Man wird dieses Ziel aller- befinden, und dass keine Piloten und Flugzeuge der dings nur mit einem schrittweisen Ansatz verwirklichen Bundeswehr mehr für Atomwaffeneinsätze bereitgehal- können, wenn man nicht in Träumereien verfallen will ten werden. Würden die anderen hier vertretenen Frak- und sich nicht Illusionen hingegeben will. Auch wenn tionen den Beschlüssen ihrer Landesparteien folgen, Sie Ihre Forderungen jetzt in einem brachialen Stil, wie müssten wir unseren Antrag mit großer Mehrheit verab- er in Ihrem Antrag durchscheint, erheben, müssen Sie schieden können. Ihre Glaubwürdigkeit steht also auf sich am real Machbaren messen lassen. Auch das gehört dem Spiel. zu einem abgewogenen Vorgehen. Vielen Dank. Ohne Frage gibt es noch viele Stellen, an denen es hakt. Es gibt in den letzten Jahren aber auch Fortschritte (Beifall bei der LINKEN) zu konstatieren. Neben allem, was noch wünschenswert ist, darf auch einmal positiv angemerkt werden, dass seit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den Spitzenzeiten des Kalten Krieges die Anzahl der nu- Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu klearen Arsenale der NATO in Europa bereits um mehr Guttenberg von der CDU/CSU-Fraktion. als 95 Prozent reduziert wurde, und das auf der Grund- lage der geltenden Strategie des Bündnisses. Das reicht zwar nicht und diese Dinge müssen wir weiterhin voran- Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ treiben, doch einige Punkte sind im Kontext zu sehen: CSU): Die notwendige Reduzierung nuklearer Arsenale ist nur (B) (D) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und in engster Abstimmung mit unseren Bündnispartnern Herren! Herr Kollege Ulrich, was eine derart unreflek- zum Erfolg zu führen und nicht, indem wir gezielt und tierte und einseitige Haltung mit effektiver Friedenspoli- wiederkehrend einseitig – gelegentlich geschieht dies tik zu tun haben soll, das müssen Sie uns einmal erklä- auch wechselseitig – unsere Bündnispartner brüskieren. ren. Das ist ein völlig falscher Ansatz, um unser Ziel zu errei- chen. (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Sie haben die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage angesprochen. Dennoch hätten Sie nicht Von daher werden Sie dieses Ziel auf die Art und Weise, unbedingt verschweigen müssen, dass es auch innerhalb wie Sie vorgehen, mit Sicherheit nicht erreichen, Herr des Bündnisses Geheimhaltungsregelungen gibt, die Ulrich. man nicht so leicht vom Tisch wischen kann, wie Sie es Des Weiteren sind die in Deutschland stationierten gerade getan haben. Nuklearwaffen der NATO unterstellt. Demzufolge ist die Frage, ob und wann diese abgezogen werden, eine Wir diskutieren heute zwei Themenkreise, die ohne Frage, die die NATO zu beantworten hat. Sie machen es Frage in einem gewissen Zusammenhang stehen. Der sich zu leicht, wenn Sie, nur um Ihre Tradition antiame- eine ist der Abzug möglicher auf deutschem Boden stati- rikanischer Reflexe aufrechtzuerhalten onierter Atomwaffen. Der andere, nach einem Antrag der Fraktion der Grünen, betrifft die Folgen des indisch- (Widerspruch bei der LINKEN) amerikanischen Abkommens. Hier bestehen gewisse Zu- – so ist es doch! Es ist immer wieder dasselbe; lesen Sie sammenhänge und diese sollen in der Debatte auch nicht doch einmal Ihren Antrag! –, zu kurz kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Über die grundsätzliche Zielsetzung, die weltweite Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen, wer- isoliert die USA auffordern, ihre Waffen abzuziehen. Sie den wir uns in diesem Hause einig sein. scheinen die Zusammenhänge noch nicht ganz erkannt zu haben. Andernfalls hätten Sie in Ihrem Antrag einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Beitrag dazu geleistet, wie eine strategische Neuausrich- LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE tung der NATO aussehen könnte. Doch darüber liest GRÜNEN) man nichts bei Ihnen. Besonders bemerkenswert ist, dass 1802 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) Sie sich auf Verteidigungsminister Rumsfeld beziehen. nichts davon. Das ist bei weitem zu wenig. Es wäre Ih- (C) Das hat schon eine besondere Note. Nur sollte dann auch nen vielleicht einmal zu empfehlen, hier den Gesamt- der entsprechende Kontext genannt werden. kontext herzustellen In die Erwägungen sollte die abgewogene Beurtei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – lung einiger Punkte zumindest einbezogen werden: Mit Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Es geht um der Verringerung der Zahl der Atomwaffen auf ein, wie die Atomwaffen in Deutschland! – Jürgen es so schön heißt, allianzpolitisches Minimum ist weiter- Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hin die nukleare Teilhabe der europäischen Bündnispart- werden halt nicht in Rheinland-Pfalz gela- ner verbunden; das haben Sie richtig angemerkt. Solange gert!) wir eine nukleare Planung und ein gewisses Maß an Nu- – Herr Kollege Trittin, ein Schelm, der hier irgendwel- klearwaffen innerhalb des Bündnisses haben, ist damit che wahltaktischen Erwägungen vermutet, wenn man natürlich auch der Einfluss auf diese Planungen gewähr- auch an Rheinland-Pfalz denkt. leistet. Übrigens ist diese Strategie der NATO, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, erst im Jahre 1999 noch Zur indisch-amerikanischen Vereinbarung, deren einmal fortentwickelt und bestätigt worden und die Frak- Charakter mit Sicherheit ambivalent ist. tion der Grünen hat ihr zumindest nicht widersprochen; auch das ist anzumerken. (Dr. [FDP]: Jetzt wird es heikel!) Einen weiteren Aspekt, der damit im Zusammenhang steht, will ich eher in Frageform bringen: Kommt es auf- Diese Ambivalenz sollten wir auch herausstellen. Kol- grund einer überhasteten Abkopplung – wenn wir also lege Trittin, zu den jeweiligen Punkten in Ihrem Antrag, eine Abkopplung von dieser Strategie betreiben die Sie im Hinblick auf diese Vereinbarung genannt ha- würden – möglicherweise zu einer Desolidarisierung in- ben, kann man nur sagen: Sie sind schwer von der Hand nerhalb des Bündnisses? Dazu liest man in Ihrem Antrag zu weisen. Ich glaube, trotzdem bleibt es für uns eine nur ein wenig, während die Grünen auf Griechenland ernsthafte und gewichtige Wertungsfrage, ob man, wie und Kanada verweisen. Das ist aber natürlich ein biss- Sie, darin im Wesentlichen eine Erschütterung des chen dürr. Die Frage ist, wie man dem kreativ begegnen Nichtverbreitungsvertrages sehen will oder ob man das kann. Ich glaube, das Letzte, was wir wollen – mit einer Abkommen trotz aller negativen Implikationen zumin- Ausnahme wahrscheinlich –, ist eine Destabilisierung dest auch als partielle Heranführung Indiens an den und Desolidarisierung innerhalb des Bündnisses. Hier ist Nichtverbreitungsvertrag erachten kann. Das sollten wir schon etwas mehr als nur das zu leisten, was in den An- nicht vergessen, wenn wir diese Bewertung vornehmen. trägen zu lesen ist. Das eigentliche Problem ist doch weniger, dass der (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Nichtverbreitungsvertrag durch das Abkommen als sol- ches geschwächt würde; denn Indien hat ihn nie unter- Solange wir uns in einem schrittweisen Vorgehen be- zeichnet. Durch die Vereinbarung werden vielmehr die finden, ist es doch auch in unserem Interesse, sich noch bekannten Schwächen wieder offensichtlich, Schwä- ein gewisses Mitspracherecht für diese genannten Fälle chen, für die viele Verantwortung tragen – auch die Ver- zu bewahren. Ja, meine Damen und Herren, man darf einigten Staaten. Das wollen wir hier nicht ausklam- durchaus auch kritisch hinterfragen, ob die Stationierung mern. Viele tragen hierfür Verantwortung. Diese von Waffen, die erst einmal an einen Ort verbracht wer- Schwächen liegen aber insbesondere auch in der man- den müssten, an dem sie zum Einsatz kommen könnten, gelnden Universalität. Das ist eine der Grundschwächen aufgrund der Erweiterung der NATO und der Europäi- in diesem Zusammenhang. schen Union sowie aufgrund der veränderten Sicher- Wird der Beitritt Indiens zum Nichtverbreitungsver- heitslage noch zeitgemäß ist. Diese Frage darf gestellt trag damit unwahrscheinlicher? Für mich ist zunächst werden. Wenn man diese Frage aber stellt, dann sollte einmal nicht erkennbar, dass der Beitritt vorher wahr- man sie auch mit aktuellen Entwicklungen auf dieser scheinlicher gewesen ist. Noch einmal: Lassen Sie uns Erde koppeln und nicht isoliert behandeln. Man sollte sie positiv hervorheben, dass im Kontext dieses Abkom- dann auch in den Kontext stellen, wie sich die gesamte mens zukünftig zumindest in einem begrenzten Bereich Sicherheitslage darstellt. Stichwort „Iran“: Man muss Inspektionen der IAEO stattfinden. Das ist ein Zwi- sich dabei auch fragen, wo neue nukleare Potenziale ent- schenschritt hin zu einem zu fordernden Gesamtschritt, stehen. Sie werden Ihrer Verantwortung nicht gerecht, den wir politisch dann auch zu flankieren und zu unter- wenn Sie hier so isoliert vorgehen. stützen haben. Um einmal einen einseitigen Zungenschlag von Ihrer Herr Präsident, ich schließe mit den Fragen – das dür- Seite herauszuarbeiten: Herr Ulrich, wo benennen Sie fen wir auch einmal selbstkritisch anmerken –: Wo wa- – die Grünen tun das; man sollte sie auch einmal loben – ren in dem Gesamtkontext des letzten Punktes – Ame- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rika, Indien – eigentlich wir, die Europäer? Wo war die Europäische Union? Wo findet hier eine europäische beispielsweise die angekündigten Reduzierungen russi- Außenpolitik im Kontext sich verändernder strategischer scher substrategischer Nuklearwaffen? Davon liest man Neuausrichtungen und Umstände in der Welt statt? bei Ihnen überhaupt nichts. Es ist auch erwartungsge- mäß, dass das nicht der Fall ist. Bezüglich der Amerika- Ich glaube, das ist bei weitem wichtiger, als dass wir, ner machen Sie wieder mal Tabula rasa. Bei Ihnen steht wie auf der linken Seite dieses Hauses, nur auf Bündnis- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1803

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) partner einprügeln. Wir müssen uns über unsere Rolle die Forderung an den Iran nach Verzicht und auf der an- (C) als solche wieder klar werden und wir müssen uns wie- deren Seite die Privilegien für Indien ohne gravierende der bewusst werden, dass wir in diesem Zusammenhang Auflagen – ohne Not aufs Spiel gesetzt. eine weitergehende Aufgabe haben. Vor allem aber schwächt dieser Nukleardeal die Ver- Herzlichen Dank. handlungsposition gegenüber dem Iran, hintertreibt die diplomatischen Bemühungen der EU 3 und gefährdet (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie den weltweiten Konsens gegenüber Teheran, und zwar bei Abgeordneten der FDP) nicht nur, weil die Iraner selbst neue Argumente auf dem silbernen Tablett serviert bekommen. Wir alle wissen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass die Mitwirkung und Zustimmung Chinas in der Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff von der FDP- Iranfrage kritisch ist. Peking hat einerseits wegen seines Fraktion. enormen Energiebedarfs ein zwingendes Interesse an gu- ten Wirtschaftsbeziehungen zum Iran. Andererseits wis- (Beifall bei der FDP) sen die Chinesen aber auch, dass sie als größter regiona- ler Rivale einer der Adressaten des indischen Elke Hoff (FDP): Nuklearwaffenprogramms sind. Ich bezweifle, dass das Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen amerikanisch-indische Nuklearabkommen die konstruk- und Kollegen! Drei eng miteinander verknüpfte Themen tive Mitwirkung Pekings in der Iranfrage befördern stehen im Zentrum der heutigen Debatte: die nuklearen wird. Ambitionen des Iran, das jüngste Nuklearabkommen Noch ist dieses Abkommen nicht endgültig ratifiziert. zwischen Indien und den USA sowie der Abzug der tak- Der amerikanische Kongress wird sich dazu äußern müs- tischen Nuklearwaffen aus Deutschland. sen. Über die Nuclear Suppliers Group hat Deutschland Die Verhandlungen mit dem Iran über dessen mögli- gemeinsam mit den EU-Partnern Mitverantwortung und che Ambitionen, Nuklearwaffen herzustellen, stecken Einwirkungsmöglichkeiten. Ich bin mir durchaus be- nach dem Scheitern der russischen Kompromisslösung wusst, dass dies, folgte man dabei alten Reflexen, eine in der diplomatischen Sackgasse. Die internationale erneute Belastung der transatlantischen Beziehungen Staatengemeinschaft ist sich ausnahmslos bewusst, dass darstellen könnte. Die Bundesregierung muss aber an hier eine sicherheitspolitische Zeitbombe mit gefährli- dieser Stelle ebenso wie es alle anderen Beteiligten auch chen Auswirkungen auf die Stabilität im Nahen und tun, das nationale Interesse in den Mittelpunkt ihres Mittleren Osten und auch darüber hinaus tickt. Wir wis- Handelns stellen und mit einer klaren sicherheitspoliti- schen Position, die mir bisher allerdings noch nicht auf- sen, dass die Chancen der internationalen Gemeinschaft, gefallen ist, in dieser Frage aufwarten. (B) den Iran von seinem Vorhaben abzubringen, überhaupt (D) nur dann vorhanden sind, wenn ein breiter Konsens zwi- Das amerikanisch-indische Abkommen ist ein schwe- schen den Staaten erkennbar ist. Vor allem die Geschlos- rer Schlag für den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, senheit der P 5 ist hier entscheidend, wenn der Iran eine der sich seit dem Scheitern der Überprüfungskonferenz Angelegenheit des UN-Sicherheitsrates wird. im vergangenen Jahr ohnehin in einer Glaubwürdigkeits- krise befindet. Wir werden die Glaubwürdigkeit des (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr wahr!) Nichtverbreitungsregimes nur dann stärken können, In dieser Situation ist es mehr als unglücklich, dass wenn wir weltweit endlich wieder zu einer stringenten die Regierung Bush gerade jetzt mit Indien ein Abkom- nuklearen Abrüstungspolitik zurückfinden. men über zivile Nuklearkooperation abschließen will. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Indien gehört neben Pakistan und Israel zu den Atom- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der mächten, die sich seit langem weigern, dem nuklearen CDU/CSU und der SPD) Nichtverbreitungsvertrag beizutreten und die darin fest- gelegten Verpflichtungen zu erfüllen. Wenn dieser bekla- Verehrter Kollege Ulrich, es bedarf nicht des Erschei- genswerte Zustand jetzt in Form einer nuklearen Partner- nens der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag; schaft sozusagen ein internationales Gütesiegel erhält, denn die FDP hat bereits vor knapp einem Jahr hier im untergräbt und schwächt dies das nukleare Nichtverbrei- Bundestag einen abrüstungspolitischen Antrag einge- tungsregime nachhaltig. Der Eindruck, der Besitz von ei- bracht, in dem als wichtiges Abrüstungssignal unter an- genen Nuklearwaffen auch außerhalb des Vertragswer- derem ein Abzug der amerikanischen taktischen Nu- kes erhöhe das internationale Profil und sichere Macht, klearwaffen aus Deutschland gefordert wurde. Einfluss und Anerkennung eines Staates, wäre für so (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was macht manche potenzielle Nuklearmacht ein geradezu unwi- die Landesregierung Rheinland-Pfalz?) derstehlicher Anreiz. Die FDP hat damit eine Diskussion angestoßen, die seit (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist leider langem überfällig war und mit den jetzt vorliegenden wahr!) Anträgen wieder aufgegriffen wird. Natürlich ist Indien die größte Demokratie weltweit, Die bis heute in Deutschland stationierten taktischen aber das ist nach den Prinzipien des nuklearen Nichtver- Nuklearwaffen sind ein Relikt des Kalten Krieges und breitungsregimes nicht das ausschlaggebende Kriterium. haben angesichts der sicherheitspolitischen Herausforde- Seine substanzielle Glaubwürdigkeit wird durch die An- rungen des 21. Jahrhunderts keine strategische Funktion wendung von zweierlei Maßstäben – auf der einen Seite mehr. 1804 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Elke Hoff (A) (Beifall des Abg. Winfried Nachtwei [BÜND- bewusst einseitig und innenpolitisch motiviert und ver- (C) NIS 90/DIE GRÜNEN]) kürzen die Zusammenhänge. Potenzielle Adressaten nuklearer Abschreckung in Staa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten, die den atomaren Einsatz zu einem legitimen politi- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- schen Mittel erklären, wären mit diesen Waffen theore- SES 90/DIE GRÜNEN) tisch nicht zu erreichen. Anders kann ich mir diesen Antrag nicht erklären. Der russische Außenminister hat im Sommer 2005 Wenn Sie sich ernsthaft mit den Problemen beschäf- verkündet, Moskau sei zu neuen Abrüstungsverhandlun- tigt hätten, dann hätten Sie einige Punkte besser gewich- gen bereit. Der amerikanische Verteidigungsminister ten müssen. Ich habe mich gefragt, warum Sie nicht die Rumsfeld hat erklärt, dass er bereit sei, Deutschland und Atomwaffen in anderen europäischen Staaten wie Bel- der NATO die Entscheidung zu überlassen. Wir wollen, gien oder Großbritannien thematisieren. Sind sie besser? dass beide hier beim Wort genommen werden. Wenn wir als deutsches Parlament im europäischen Kon- Zum Schluss darf ich feststellen: Die alte Bundesre- text agieren wollen, dann muss man das doch benennen. gierung hat zwar als Reaktion auf unseren Antrag im Warum soll das nicht in den Antrag mit hineingehören? vergangenen Jahr zugesagt, das Thema in der NATO zur Sie haben die Forderung des Kollegen Guttenberg be- Sprache zu bringen. In den zuständigen NATO-Gremien lächelt, auch die russischen taktischen Nuklearwaffen zu ist dieser Punkt aber bisher noch nicht auf der Tagesord- benennen. Natürlich stehen sie im Zusammenhang mit nung erschienen. dem Thema. Das hätten Sie in Ihrem Antrag mit aufneh- Ich frage die neue Bundesregierung: Macht die Statio- men können. nierung von taktischen Nuklearwaffen in Deutschland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch Sinn und ist die nukleare Teilhabe nach dem Ende der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE des Kalten Krieges in dieser Form noch begründet? Das GRÜNEN) Forum, in dem über diese Frage nüchtern und sachlich diskutiert werden muss, sind – das hat mein Vorredner Deswegen wiederhole ich: Ihr Antrag ist nur innen- richtigerweise gesagt – die Gremien der NATO. politisch motiviert. Er wird den internationalen Heraus- forderungen nicht gerecht. Wir hoffen sehr, dass in absehbarer Zeit ein klares Si- gnal zur Abrüstung, das den Prozess weiter befördern Ich komme zu einem weiteren Punkt, den Sie in Ih- kann, zu erwarten ist. Wir als FDP stehen nach wie vor rem Antrag angesprochen haben. Ich war damals dabei, zu dem Antrag, den wir im letzten Jahr eingebracht ha- als die von Ihnen zitierte Studie vorgestellt wurde. Es (B) (D) ben. ging darum, dass bei einer weiteren Krise im Nahen und Mittleren Osten möglicherweise europäische Atomwaf- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. fen eingesetzt werden könnten. Das ist meiner Meinung (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ nach in keiner Weise herzuleiten; ich halte es auch nicht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der für belegbar. Wenn es dazu kommen sollte, dann werden SPD) keine Atomwaffen von hier aus eingesetzt; es wäre viel- mehr eine Situation, der wir gemeinsam begegnen müss- ten, und zwar nicht mit Alarmismus und solchen Anträ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen, sondern durch eine kluge Politik, mit der Sie die Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Mützenich Bundesregierung unterstützen könnten. von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Rolf Mützenich (SPD): Es gibt einen weiteren Grund, weshalb Sie mit Ihrem Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Antrag viel zu kurz gesprungen sind. Sie beziehen sich den vergangenen Wochen haben wir häufig über die darin auf die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffen- Rolle der Atomwaffen, die Krise der nuklearen Rüs- sperrvertrag. Dabei benennen Sie nur die USA, als ob tungskontrolle und die Folgen für die internationale Poli- das der einzige Akteur wäre, durch den die Konferenz tik gesprochen. Dies war richtig; denn es gab leider ge- gescheitert ist. Bei der Überprüfungskonferenz im nügend Anlässe dafür. Mai 2005 in New York haben auch der Iran, Frankreich und Ägypten eine Rolle gespielt. Das war nicht so ein- Kollege Ulrich, die Lagerung von Atomwaffen in seitig, wie Sie es darstellen. Deutschland ist ein weiterer Aspekt in diesem Zusam- menhang. Ich finde aber, dass Sie mit Ihrem Antrag zu Es bringt allerdings nichts, nur über verkürzte Zusam- kurz gesprungen sind. Der Kollege Guttenberg hat be- menhänge in Anträgen zu sprechen. Erlauben Sie mir reits einige Zusammenhänge dargestellt. Ich möchte dem deshalb einen Hinweis. Ich habe nichts dagegen, wenn noch einiges hinzufügen. Verteidigungsminister Jung in den zuständigen Gremien auf das Thema eingehen wird, aber in dem Fall sollten Lassen Sie mich begründen, warum Sie mit dem An- auch die Zusammenhänge berücksichtigt werden, wie es trag zu kurz gesprungen und damit den Herausforderun- der frühere Verteidigungsminister Struck getan hat. Ich gen, die Deutschland im Zusammenhang mit Atomwaf- glaube, es lohnt sich, an dieser Stelle die Zusammen- fen hat, nicht gerecht geworden sind: Sie agieren hänge zu benennen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1805

Dr. Rolf Mützenich (A) (Beifall bei der SPD) ist es das erste Mal, dass dieses Prinzip einseitig – so (C) muss man schon sagen – hintertrieben wurde. Ich möchte auch auf den Antrag der Grünen eingehen. Sie haben zu Recht auf den Antrag unserer damaligen Besonders hinterfragen möchte ich die Einseitigkeit rot-grünen Koalition hingewiesen, weil darin die Ge- dieser Handlungen. Wenn ich es richtig verstanden habe, samtzusammenhänge beschrieben worden sind. Ich haben die USA niemanden, insbesondere niemanden aus glaube, es lohnt sich, über beide Anträge eine intensive der Nuclear Suppliers Group, an dieser Diskussion betei- Debatte im Auswärtigen Ausschuss, aber auch im Unter- ligt. Ferner glaube ich, dass der Zeitpunkt, zu dem diese ausschuss für Abrüstung und Rüstungskontrolle zu füh- Vereinbarung unterzeichnet wurde, schlecht gewesen ist, ren. weil wir, besonders mit Blick auf den Iran, niemandem erklären können, warum dieser Vertrag die nukleare Der eigentliche Kern, über den wir diskutieren müs- Rüstungskontrolle stärken soll. Darüber hinaus ist die sen, wenn es um Atomwaffen geht, besteht auch in Fol- Chance vertan worden, Indien zu verpflichten, dem Pro- gendem: Ich selbst habe nach dem Ende des Ost-West- blem der Rüstungskontrolle in Südasien seine Aufmerk- Konflikts gedacht, es gebe eine Chance für Abrüstung, samkeit zu widmen. Es gibt in Südasien bisher keine es gebe eine Chance für die Friedensdividende. Leider ist das nicht eingetreten. Wir erleben seit Mitte der 90er- Vereinbarung, die der Frage der nuklearen Rüstungskon- Jahre in diesen Dingen einen Rückfall. Bisher sind es trolle dort gerecht würde, im Gegenteil: Diese Vereinba- nur die europäischen Länder gewesen, die versucht ha- rung zwischen den USA und Indien ist zum Anlass ge- ben, Regelwerke in die Diskussion einzubringen, die nommen worden, neue Waffenverkäufe anzubieten. Wir dem Thema der nuklearen Rüstungskontrolle gerecht tun dieser Region mit Sicherheit keinen Gefallen, wenn werden. wir sie in einen neuen Rüstungswettlauf stürzen. Wir haben diese Krise der nuklearen Rüstungskon- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten trolle, weil Initiativen scheitern. Der umfassende Test- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- stoppvertrag ist nicht unterzeichnet worden; das festzu- SES 90/DIE GRÜNEN) stellen, ist im Zusammenhang mit Indien und den USA Auch Folgendes möchte ich noch anführen: Ich hätte ganz interessant. Ferner gab es in jüngster Zeit Krisen in es verstanden, wenn wir über eine Alternative zum Bezug auf Nordkorea und den Iran. Wir haben es aber Nichtverbreitungsvertrag, zum Atomwaffensperrver- auch mit Ländern zu tun, die sich in diesen Fragen trag verfügen würden. Aber die haben wir überhaupt sozusagen ein besonderes Recht herausnehmen, wie bei- nicht. Keiner bietet aktuell eine Alternative dazu an, we- spielsweise Brasilien im Zusammenhang mit der Uran- der die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates anreicherung. Die Rolle, die Kernwaffen und militäri- (B) noch andere Staaten. Deswegen ist es ja so wichtig, dass (D) sche Gewalt spielen können, wird in vielen Ländern neu wir an dem Atomwaffensperrvertrag weiterarbeiten. definiert, nicht nur in den USA, sondern auch in Russ- Deswegen war es gut, dass die 25 Staaten der Europäi- land und der Volksrepublik China. Wenn Sie das Thema schen Union im Mai auf der Überprüfungskonferenz ge- wirklich ernst nehmen würden, hätten Sie diese Ent- meinsam agiert haben. Man muss auch sehen, dass der wicklungen in Ihrem Antrag aufgreifen müssen. Atomwaffensperrvertrag in den letzten zehn, 20 Jahren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vorteile gebracht hat. Denn Südafrika, Brasilien und Ar- der CDU/CSU) gentinien haben sich zu diesem Vertrag bekannt, ebenso wie einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Deswe- Ich möchte jetzt zu dem Themenkomplex Indien gen lohnt es sich, diesen Vertrag zu stärken. kommen. Ich glaube, dass die jüngsten Entwicklungen – wir haben am Mittwoch im Ausschuss darüber disku- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tiert – leider einen weiteren Schritt darstellen, der in den der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- nächsten zehn oder 20 Jahren die internationale Nuklear- SES 90/DIE GRÜNEN) ordnung verändern wird. Ich gebe zu: Gut ist, dass es der Dazu rufe ich die Bundesregierung von dieser Stelle Internationalen Atomenergiebehörde in Zukunft mögli- aus auf. Ich glaube, dass es notwendig ist, im Rahmen cherweise erlaubt werden soll, 50 oder 60 Prozent der der Europäischen Union neue Initiativen mit auf den dortigen Anlagen zu inspizieren. Ein abschließendes Ur- teil kann man sich heute noch nicht bilden, weil uns, so- Weg zu bringen, mit denen der Atomwaffensperrvertrag, wohl der Öffentlichkeit als auch – wenn ich das richtig aber auch die Rüstungskontrolle insgesamt gestärkt wer- verstanden habe – der Bundesregierung, der Text des den. Wir sollten in diesem Zusammenhang darüber Abkommens nicht vorliegt. Wir sollten darüber diskutie- nachdenken, ob möglicherweise die Ansätze betreffend ren, wenn wir den Text kennen. Abrüstung und Rüstungskontrolle, die die USA in letzter Zeit verfolgen – sie sind zwar sehr einseitig, aber immer- Aber eines ist bereits jetzt klar – das hat die Kollegin hin gibt es welche, wie die PSI-Initiative –, in ein Regel- vorhin sehr deutlich gemacht –: Es wird ein Prinzip des system überführt und institutionalisiert werden sollten. Nichtverbreitungsvertrages infrage gestellt, ein Prinzip, Wir brauchen auf jeden Fall ein Regelsystem, das ver- das darin besteht: Wir belohnen die Staaten, die auf hindert, dass Mittelstreckenraketen in die Hände von Atomwaffen verzichten, in Form von Unterstützung. Ob Staaten gelangen, die sie möglicherweise missbrauchen. wir das nun aus innenpolitischer Sicht für gut halten oder Dazu sind die Ansätze geeignet. Aber es muss einen völ- nicht: Dieses Prinzip war wichtig und richtig, um Staa- kerrechtlichen Vertrag geben. Ich glaube jedenfalls, dass ten an den Atomwaffensperrvertrag heranzuführen. Jetzt es in den USA relevante Ansätze gibt. Ich finde, es ist 1806 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Rolf Mützenich (A) hochinteressant, dass Senator Lugar in der „Süddeut- Aufrüstungspolitik; die Bereitschaft, einen Teil seiner zi- (C) schen Zeitung“ darauf hingewiesen hat, er könne sich vilen Nuklearanlagen unter internationale Kontrolle zu vorstellen, dass die USA direkt mit dem Iran verhandeln. stellen, gilt erstens nur für einen Teil und schließt zwei- Das Parlament und die Bundesregierung sollten das auf- tens die militärische Seite vollkommen aus“. Sie schließt nehmen. also all das aus, was für die Fragen betreffend die Nicht- proliferation, die Anreicherung und den Prozess der Se- Die Rüstungskontrolle hat mitgeholfen, den Ost- parierung von Plutonium in Wiederaufarbeitungsanlagen West-Konflikt zu überwinden. Dieses Instrument könnte relevant ist. auch bei anderen Rüstungskonflikten und Regionalkon- flikten helfen. Dem, was Edward Markey, ein demokratischer Abge- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ordneter im US-amerikanischen Repräsentantenhaus, gesagt hat, ist zuzustimmen: Das Abkommen „unter- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP gräbt die Sicherheit nicht nur der Vereinigten Staaten, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sondern des Rests der Welt … Der Präsident hat mit einem einzigen Schlag ein Loch in das nukleare Regel- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werk gesprengt.“ Diese Form praktizierter Doppelstan- Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin vom dards können wir uns gerade angesichts der Auseinan- Bündnis 90/Die Grünen. dersetzung um den Iran nicht erlauben. Hier kommt es in sehr starkem Maße auf die Haltung der Bundesregierung Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): an. Wollen Sie den für Indien geltenden Lieferstopp Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung hinsichtlich nuklearen Materials und entsprechender und Nichtverbreitung sind aktuelle, aber auch globale Technologie nun aufheben? Oder beharren Sie auf dem Themen. Global bedeutet ein bisschen mehr als Huns- Prinzip der Einstimmigkeit in der Nuclear Suppliers rück und Eifel, lieber Kollege Ulrich. Sie haben zwar Group? Ich glaube, dass die Aufrechterhaltung des Lie- Recht, dass wir die taktischen Waffen abziehen müssen; ferstopps der richtige Weg gewesen wäre, Indien an das wir haben dazu entsprechende Vorschläge vorgelegt. nukleare Kontrollregime heranzuführen. Aber die eigentliche Herausforderung ist in der Tat die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) globale Infragestellung des Nichtverbreitungsvertrages. Der Kern dessen, worüber wir heute diskutieren, ist die Jeder muss doch wissen, dass es nur eine Frage der Frage: Gelingt es uns, das Regime der nuklearen Rüs- Zeit ist, bis Indien nicht mehr über hinreichende Mengen tungskontrolle und Abrüstung zu erhalten, oder bewegen an Uran verfügt, um seine Anlagen zu betreiben. Hier (B) wir uns in eine Richtung, die dazu führt, dass dieses Sys- konsequent geblieben zu sein, wäre der richtige Weg ge- (D) tem durchlöchert und schließlich aufgelöst wird? Das ist wesen, Herr von Guttenberg, wenn man das hätte errei- gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um chen wollen, was man zu Recht begrüßt, nämlich dass es den Iran von zentraler Bedeutung. ein kleines Stück mehr Kontrolle gibt. Wenn man hart- näckig und konsequent geblieben wäre, dann wäre man Wir sind klar dagegen, dass sich der Iran unter dem auf dem richtigen Weg gewesen. Deckmantel der zivilen Nutzung der Atomenergie Atomwaffen verschafft. Wir wollen ihn mit friedlichen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zivilen Mitteln daran hindern. Hier ist vom Scheitern des letzten Nichtverbrei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tungsvertrages gesprochen worden. Damals hat Kofi und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Annan ein bitteres Fazit gezogen. Er hat gesagt: Das CDU/CSU) große Thema, das fehlt, ist Abrüstung und Nichtverbrei- Aber in einer solchen Situation muss man alles vermei- tung. Dies ist eine echte Schande. Wir haben in diesem den, was anschließend nach nachträglicher Legitimation Jahr zweimal versagt. Wir versagten bei der NPT-Konfe- der Argumentation der iranischen Führung aussieht nach renz und wir versagten jetzt. – Ich finde, mit dem Versa- dem Motto „Hier soll ein Sonderrecht allein gegen den gen muss es ein Ende haben. Es ist Zeit, zu handeln, und Iran als ein muslimisches Land geschaffen werden“. Ge- wir müssen zu dem großen Konsens zurückkehren, den nau das ist die subkutane Botschaft des Abkommens wir einmal hatten, nämlich mit dafür zu sorgen, dass es zwischen den USA und Indien. keine Atomwaffen mehr auf diesem Globus gibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Damit ich mich nicht dem Verdacht des Antiamerika- sowie bei Abgeordneten der SPD) nismus aussetze, (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Bestimmt nicht!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. will ich an dieser Stelle zwei Zitate anführen. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ schreibt, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf dass mit dem USA-Indien-Deal ein „schlechtes Beispiel den Drucksachen 16/448, 16/819 und 16/834 an die in schlechte Schule mache und den internationalen Bemü- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- hungen zur Nichtproliferation einen Bärendienst erweise. gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Indien wird im Nachhinein belohnt für seine nukleare Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1807

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: tigkeit zukunftsrelevant sind und im Einklang mit den (C) Umweltzielen der Lissabonstrategie stehen. Diese gehö- Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista ren nämlich unweigerlich und notwendig zur Lissa- Sager, Hans-Josef Fell, Kai Boris Gehring, weite- bonstrategie. rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zukunftsfähige Forschung in Europa stärken Wir sehen dabei natürlich nicht nur die regenerativen – Drucksache 16/710 – Energien, nicht nur die Einsparungseffekte aufgrund der Energieforschung, sondern auch die Nachhaltigkeits- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und potenziale in der Nanotechnologie, in der Materialfor- Technikfolgenabschätzung (f) schung, in der Weißen Biotechnologie, im Verkehrs- und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Umweltbereich und bei den nachwachsenden Rohstof- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union fen. Wir treten ganz klar dafür ein, dass Sie sich für diese Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die eindeutigen Prioritäten einsetzen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir haben im Ausschuss schon festgestellt, dass die- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- jenigen Programme im Bildungs- und Wissenschaftsbe- nerin der Kollegin Krista Sager vom Bündnis 90/Die reich, bei denen es um die Förderung von Personen Grünen das Wort. geht, von der Steigerung der Mittel nicht so sehr wie die Forschungsrahmenprogramme profitiert haben. Wir Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): möchten, dass in das 7. Forschungsrahmenprogramm die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir individuelle Förderung unseres wissenschaftlichen die Ziele der Lissabonagenda erreichen wollen, dann Nachwuchses, unserer jungen Forscherinnen und For- brauchen wir zweifelsohne sowohl auf der Ebene der scher, integriert wird; denn unter Nachhaltigkeitsge- Mitgliedstaaten als auch auf der europäischen Ebene sichtspunkten ist das zwingend notwendig. eine deutliche Steigerung der Mittel für die Forschung. Ich denke, darüber sind wir uns alle einig. Jetzt wissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir – das ist positiv –: Es wird auch auf der europäischen Wir wollen auch, dass kleine und mittlere Unterneh- Ebene im Zusammenhang mit dem 7. Forschungsrah- men und nicht nur die große Industrie Zugang zu diesen menprogramm mehr Mittel für Forschung geben. Wir Programmen haben. Das heißt, wir wollen administra- wissen aber auch: Es wird nicht so viele Mittel für For- (B) tive Hürden abbauen. Denn gerade unsere kleinen und (D) schung geben, wie die Kommission in ihrem Vorschlag mittleren Unternehmen verfügen über ein großes Inno- vorgesehen hat, wenn wir das zugrunde legen, was die vationspotenzial im Forschungsbereich. Staats- und Regierungschefs im Dezember auf dem Gip- fel über den mehrjährigen Finanzrahmen vereinbart ha- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) ben. Wir wissen zwar noch nicht endgültig, was Parla- ment und Rat über diesen mehrjährigen Finanzrahmen Wir brauchen auch starke Geisteswissenschaften. vereinbaren werden, wir müssen uns aber darauf einstel- Wenn wir uns gesellschaftliche Transformationsprozesse len, dass die Bundesregierung die Frage beantworten anschauen – große Veränderungen durch die Globalisie- muss, wie sie angesichts der Situation, dass wir weniger rung und durch den demografischen Wandel –, dann er- Geld haben werden, als im Kommissionsvorschlag vor- kennen wir, dass die Geisteswissenschaften eben nicht gesehen war, auf der europäischen Ebene agiert. nur Beiwerk sind und dass wir einen Schwerpunkt auf entsprechende Forschungsprogramme setzen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Da haben wir einige Bitten und Forderungen. Erstens. sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir möchten Sie auffordern, sich dafür einzusetzen, dass in jedem Fall mögliche Kürzungen nicht über alle Berei- Aus meiner Sicht ist das Thema „Europäisches che gleichmäßig verteilt werden, sondern dass in jedem Technologieinstitut“ noch nicht ausdiskutiert. Die vor- Fall der Forschungsbereich gegenüber anderen Berei- handenen Modelle werfen mehr Fragen auf, als sie heute chen ein stärkeres Gewicht bekommt. Das brauchen wir. beantworten. Es darf keinen Widerspruch zu dem Ansatz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geben, die europäische Grundlagenforschung zu stärken, unter anderem durch einen gemeinsamen Forschungsrat. Zweitens. Wenn es innerhalb des 7. Forschungsrah- Es muss von Anfang an Sorge dafür getragen werden, menplans gegenüber der Vorlage zu Einschränkungen dass der gemeinsame Forschungsrat kein Instrument von kommen muss, dann dürfen diese Kürzungen nicht Interessengruppen wird, schon gar nicht von nationalen; gleichmäßig über alle Forschungsbereiche verteilt wer- vielmehr muss er wirklich ein Instrument der europäi- den. Es darf schon gar nicht sein, dass bestimmte Mega- schen Grundlagenforschung werden. Wenn das der Fall projekte wie zum Beispiel ITER einen besonderen ist, können wir uns damit einverstanden erklären. Wir Schutz genießen. Wir wollen vielmehr einen Vorrang für gehen davon aus, dass die Bundesregierung uns laufend die zukunftsrelevanten Bereiche, und zwar vor allem für über die weitere Entwicklung auf der europäischen die Bereiche, die unter dem Gesichtspunkt der Nachhal- Ebene informiert, damit wir vom Parlament aus weiter 1808 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Krista Sager (A) zeitnah verfolgen können, wie die Weichen gestellt wer- Ein weiterer nicht zu unterschätzender Ansatz in der (C) den. europäischen Forschungsförderung ist der Wissen- schaftlernachwuchs. Dieser ist die Grundlage für den Danke schön. Weg zu unseren Zielen. Einige Forschungsbereiche sind (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ jedoch entweder gar nicht oder nur unzureichend be- DIE GRÜNEN und der SPD) kannt. So erreichen wir den wissenschaftlichen Nach- wuchs leider nicht. Faszination und Neugier müssen der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: jungen Generation vermittelt werden. Deswegen ist es wichtig, dass der Nachwuchs nicht nur national, sondern Das Wort hat der Kollege Carsten Müller von der auch auf europäischer Ebene gefördert und unterstützt CDU/CSU-Fraktion. wird und so Motivation erfährt.

Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Damen und Herren! Wissenschaft und Forschung haben GRÜNEN) für Deutschland und auch für die Europäische Union Bei den Bemühungen der EU müssen wir darauf ach- eine ganz herausragende Bedeutung. Innovationen sind ten, dass neue europäische Forschungsinfrastruk- für eine dauerhaft wachsende Volkswirtschaft lebensnot- turen nur in den Bereichen gefördert werden, in denen wendig. Das war zwar bisher schon so; dieser Aspekt bereits vorhandene nationale Einrichtungen diese Aufga- wird in Zukunft aber eine noch größere Bedeutung be- ben nicht ausfüllen können. Hierbei sollen bestehende kommen. Forschungseinrichtungen stärker an die gemeinschaftli- Sowohl die EU als auch Deutschland liegen im Ver- che Forschungsinfrastruktur angebunden werden. Im gleich der Forschungsaufwendungen hinter den USA Rahmen der europäischen Forschungspolitik ist es dabei und Japan zurück. Nur durch eine Steigerung der An- besonders wichtig, dass das Forschungsrahmenpro- strengungen ist es möglich, den uns bevorstehenden He- gramm einen europäischen Mehrwert generieren muss. rausforderungen zu begegnen und gesetzte Ziele zu er- Es darf nicht zulasten der nationalen Forschungsförde- reichen. rung gehen. Ein europäischer Forschungszentralismus muss unbedingt vermieden werden. Die neue Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, Forschung und Wissenschaft voranzutreiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Unionsfraktion und auch die Fraktion der SPD sind (B) der SPD) ganz froh darüber, dass die neue Bundesregierung das (D) offensichtlich auch so sieht. Der hohe Stellenwert der Forschung geht aus dem Koali- tionsvertrag ganz deutlich hervor. Die Bundesregierung Mit der Erklärung von Lissabon hat sich die EU das hat sich dort bezüglich der Bereiche Forschung und Ent- Ziel gesetzt, Europa an die Spitze der Wissensgesell- wicklung auf wichtige zusätzliche Maßnahmen geeinigt. schaften zu führen. Mit dem Forschungsrahmenpro- Bis zum Jahr 2009 werden zusätzlich 6 Milliarden Euro gramm soll Europa zur stärksten Forschungs- und Inno- für besonders zukunftsträchtige Forschungs- und Ent- vationsregion werden. Dieses Ziel wird in diesem Haus wicklungsvorhaben zur Verfügung gestellt. Dadurch wohl von allen Fraktionen gemeinsam getragen. Die werden Querschnitts- und Spitzentechnologien unter- Laufzeit des 7. Programms ab dem 1. Januar 2007 stützt und verbesserte Rahmenbedingungen für die deut- wurde sinnvollerweise der finanziellen Vorausschau von schen Forschungseinrichtungen und Unternehmen 2007 bis 2013 angepasst. Das bietet den Forschungsein- geschaffen. Ziel dieser Innovationspolitik ist es, die Ver- richtungen eine wesentlich größere Planungssicherheit. bindung zwischen Forschung und Zukunftsmärkten Leider – darauf ist Frau Sager schon eingegangen – auszubauen. konnte auf europäischer Ebene nicht alles wie ge- Deutsche Unternehmen gehören auf wichtigen Tech- wünscht im 7. Programm verankert werden. Die vorge- nologiefeldern, zum Beispiel auf dem Gebiet der erneu- sehene finanzielle Ausstattung wurde nicht erreicht. Es erbaren Energien, bereits heute zur internationalen ist jedoch dem großen Einsatz der Bundesregierung und Spitze. Die damit verbundenen Marktchancen werden insbesondere der Bundeskanzlerin zu verdanken, dass bislang leider noch nicht in vollem Umfang genutzt. Das am Ende ein tragfähiger und auch finanzierbarer Kom- muss sich dringend ändern. promiss steht. Im Jahr 2013 werden die EU-Forschungs- mittel 75 Prozent über denen des Jahres 2006 liegen. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist ein unbestreitbar großer Erfolg. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Auch die EU muss auf die Herausforderungen ange- messen reagieren. Wir müssen deswegen in europäi- Die nächste Stufe bei der notwendigen Einigung be- schen Dimensionen denken. Wichtige Forschungsvor- züglich der finanziellen Vorausschau ist die Einigung haben sind heute technisch und finanziell praktisch nur mit dem Europäischen Parlament. Der Start des Pro- noch im europäischen Maßstab durchführbar. Dabei gramms kann dann am 1. Januar 2007 zeitlich parallel denken Sie, Frau Sager, wie ich zum Beispiel an Galileo mit der deutschen Ratspräsidentschaft erfolgen und er- oder auch an ITER. folgreich vollzogen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1809

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, dass ich und durchgeführt wird. Nur durch eine nach wissen- (C) drei für die Union wichtige Gesichtspunkte hier noch schaftlichen Kriterien ausgerichtete Forschungsförde- einmal genauer benenne: rung können die Lissabonziele tatsächlich erreicht wer- den. Erstens. Eine Verfahrensverbesserung im Vergleich zum 6. Programm ist bei der Programmbeteiligung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kleiner und mittelständischer Unternehmen zu errei- neten der SPD) chen. Insbesondere das derzeitige Antragsverfahren hat sich als zu kompliziert erwiesen. Es kann tatsächlich Bündnis 90/Die Grünen haben zum 7. Forschungsrah- nicht angehen, dass kleine und mittelständische Unter- menprogramm einen sehr wortreichen Antrag vorgelegt. nehmen eigene Experten beschäftigen müssen, um die Bemerkenswert ist, wie Sie Ihre Schwerpunkte setzen. Antragsformulare bearbeiten zu können. Das muss geän- An der einen oder anderen Stelle scheinen tatsächlich dert werden. noch sehr stark Ideologie und Dogmatik durch. Sie zie- hen dadurch Grenzen, die gerade für die dynamischen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Bereiche Forschung und Wissenschaft kaum hilfreich der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE sind. Ich will Ihnen einige wenige Beispiele nennen: GRÜNEN]) Nehmen wir den Bereich „Ökologischer Landbau“. Zweitens. Neu ist der Bereich der Sicherheitsfor- (Uwe Barth [FDP]: Lassen Sie mir noch ein schung. Dieser muss weit gefasst werden. Der Schutz paar übrig!) vor Unterdrückung, Krankheit und Hunger wie auch der Schutz vor Katastrophen durch Terror oder Naturereig- – Gerne, es gibt genügend, Herr Barth. – Unbestritten nisse ist einzubeziehen. Europa muss vor dem Hinter- ein wichtiger Bereich, aber es kann nicht ernsthaft ein grund wachsender terroristischer Gefahren und zuneh- besonders herauszustellender Aspekt des 7. Forschungs- mender Umweltkatastrophen Antworten auf die rahmenprogramms sein. veränderte Sicherheitslage finden. Ich halte es für falsch – das sage ich mit Blick auf den Antrag von Bündnis 90/ (Dr. [SPD]: Wieso Die Grünen –, dass sinnvolle Forschung nur aufgrund ei- eigentlich nicht?) nes eventuell möglichen Dual-Use-Charakters aus ideo- Ein weiteres Beispiel für außerordentliche Themen- logischen Gründen abgelehnt wird. Der vorliegende An- spreizung liefern Sie in Ihrem Antrag im Kapitel „Ver- trag trägt zudem leider nicht dazu bei, eine praktikable kehr“. Sie erwähnen dort außergewöhnlich ausführlich Abgrenzung zwischen Sicherheits- und Militärforschung den Bereich Carsharing. Man könnte beim Lesen den zu finden. (B) Eindruck bekommen, dass Ihnen die Untersuchung von (D) Angesichts der veränderten Bedingungen im alltägli- Carsharing genauso wichtig ist wie die Nanotechnolo- chen Leben durch die Gefahren von Terrorismus und gie. Kriminalität ist es wichtig, dass der Bereich der Sicher- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heitsforschung auch eine Entsprechung auf europäischer Das ist doch Unsinn! – Dr. Martina Krogmann Ebene findet. Ihnen ist der Bereich der Sicherheitsfor- [CDU/CSU]: Diesen Eindruck hatte ich!) schung leider nur eine kurze Erwähnung wert. Ich glaube tatsächlich, dass wir das auf ein gesundes Drittens. Ein weiterer grundlegender Bereich ist die Maß zurückführen sollten. Energieforschung. Vor dem Hintergrund der Verknap- pung fossiler Brennstoffe sowie der notwendigen Ver- Insgesamt fällt auf, dass die thematische Schwer- sorgungssicherheit des europäischen Wirtschaftsraums punktbildung und der Blick für die großen Dimensionen muss ein bezahlbarer und vernünftiger Energiemix das des 7. Forschungsrahmenprogramms nicht unbedingt die klare Ziel sein. Um das zu erreichen, müssen die For- Stärke von Bündnis 90/Die Grünen ist. Alles in allem schungsanstrengungen in diesen Bereichen enorm ver- kann leider so dem vorliegenden Antrag nicht zuge- stärkt werden. stimmt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, Sie gestatten mir eine letzte Ausführung: Für Wissenschaft und Wirtschaft geht Die Aufnahme der Energieforschung als spezielles es in nächster Zeit vor allem darum, sich auf die neuen Themenfeld in das 7. Programm ist deshalb ausdrücklich Managementregeln des 7. Forschungsrahmenpro- zu begrüßen. In diesem Zusammenhang ist es von vor- gramms einzustellen. Wir müssen uns darum kümmern, rangiger Bedeutung, dass diesbezügliche Forschungs- dass es einen möglichst reibungslosen und fließenden projekte zunächst einmal ohne ideologische Scheuklap- Übergang vom sechsten zum siebten Programm gibt. pen geprüft werden; ihre Potenziale müssen gesehen Dazu sind die endgültigen Regelungen frühzeitig zu ver- werden. Ich möchte Ihren Blick hier besonders auf lang- öffentlichen. Wir rechnen insofern auch auf die Koope- fristige Projekte richten und erwähne in diesem Zusam- ration der Bundesregierung. menhang noch einmal ITER. Wir glauben, dass das 7. Forschungsrahmenpro- Unerlässlich ist es jedoch, dass das gesamte gramm ein großer Erfolg wird. Das wird nicht zuletzt da- 7. Forschungsrahmenprogramm unter allen Umständen durch gewährleistet, dass es parallel mit dem Beginn der unter der Maßgabe des Exzellenzprinzips aufgebaut deutschen Präsidentschaft auf EU-Ebene gestartet wird. 1810 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Carsten Müller (Braunschweig) (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Hier herrscht die Vorstellung: Gebt der EU mehr Geld, (C) FDP – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann wird sie schon alles richten. NEN: Chefideologe!) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt! Das steht da nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: drin!) Herr Kollege Müller, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen So geht es nicht. des Hauses dazu sehr herzlich. Auch Deutschland ist mit seinen knapp 2,5 Prozent (Beifall) im Jahr 2004 nicht in der Spitzengruppe der euro- päischen Länder zu finden. Aber bei steigenden Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Barth von der F-und-E-Ausgaben in der Wirtschaft hat sich der Anteil FDP-Fraktion. der öffentlichen Hand deutlich verringert. Der Bericht des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft hat Uwe Barth (FDP): uns diese Entwicklung deutlich vor Augen geführt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das zeigt: Jedes Mitgliedsland muss seine Hausauf- Lassen Sie mich zunächst auf das Positive eingehen. Der gaben machen und klare Zielsetzungen im eigenen Land vorliegende Antrag führt eine Reihe richtiger Ansätze haben, um die Lissabonstrategie bis 2010 zu verwirkli- auf: die europäische Sicherheitsforschung, den Europäi- chen. schen Forschungsrat, die Wasserstoffforschung und die Energiespeicherforschung. In ganz wesentlichen Teilen (Beifall bei der FDP) ist der Antrag aber eine nochmalige Zurschaustellung Uns bleiben dafür noch viereinhalb Jahre. Das 7. For- vermeintlicher Erfolge einer in Wahrheit verfehlten rot- schungsrahmenprogramm startet aber erst 2007 und geht grünen Forschungspolitik in Deutschland. bis 2013. Stellen wir uns doch einmal selbst die Frage, (Beifall bei der FDP – Dr. Ernst Dieter ob wir daran glauben, dass Deutschland im Jahr 2010 Rossmann [SPD]: Das sehen wir ausdrücklich mit dem Transrapid die Ziellinie überfährt. Hier sind anders!) doch deutliche Zweifel angebracht. Das, was Sie, Frau Sager, hier als Prioritätensetzung be- Gingen wir den Feststellungen in diesem Antrag auf zeichnet haben, ist in Wahrheit der Versuch, über das den Leim, dann würden wir nachträglich auch Ja sagen 7. Forschungsrahmenprogramm trotz nicht mehr vorhan- zu einer aus unserer Sicht katastrophalen und verfehlten dener Mehrheit Ihre Forschungspolitik fortzusetzen. Energieforschungspolitik von Rot-Grün. Herr Müller hat (B) das Beispiel ITER schon angesprochen. (D) Schon die einleitenden Feststellungen rücken die Be- deutung der Brüsseler Forschungspolitik in ein völlig Wenn wir diesem Antrag zustimmten, würden wir uns falsches Licht. auch der Auffassung anschließen, dass ein Forschungs- verbot in einem Land automatisch die Forschungsförde- (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und rung in allen anderen Ländern verbietet. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Geld für Brüssel zu fordern, damit die EU-Admi- Das stimmt auch nicht!) nistration mehr Geld für Forschung aufwenden kann, führt in eine Sackgasse. Auf der einen Seite reden wir Ich denke da an die biotechnologische Forschung und uns hier im Hohen Hause die Köpfe über eine Föderalis- besonders an die Stammzellforschung. Warum drehen musreform und die damit verbundene Reform der wir diese Forderung nicht um? Was in einem Land er- Finanzverfassung heiß, auf der anderen Seite wird aber laubt ist, soll in den anderen Ländern ebenfalls erlaubt mit diesem Antrag der Versuch unternommen, das in der sein. EU geltende Subsidiaritätsprinzip zulasten der Mit- (Beifall bei der FDP – Lachen beim BÜND- gliedstaaten zu unterwandern. NIS 90/DIE GRÜNEN – Priska Hinz [Her- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: born] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie Das steht aber wirklich nicht drin!) war das mit dem Subsidiaritätsprinzip?) Das ist nicht der richtige Weg. Zumindest sollte die Kriminalisierung der Forschung im Ausland beendet werden. Das wäre ein freiheitlicher An- (Beifall bei der FDP) satz; so entstünde Wettbewerb. Ebenso ist der Verweis darauf, dass die EU-Mitglied- (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE staaten im Durchschnitt nur knapp 2 Prozent ihres BIP in GRÜNEN]: Ob das in Ihrer Fraktion mehr- Forschung und Entwicklung investieren, noch lange heitsfähig ist, was Sie da vortragen?) keine ausreichende Begründung dafür, das Budget der EU zu erhöhen. Europa kann nicht all das reparieren, Aber das ist mit Ihrer Regelungswut und vor allem mit was in den Ländern versäumt wird. Ihrem Anspruch, quasi die letzte Instanz in allen morali- schen Fragen in diesem Universum zu sein, natürlich (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht zu vereinbaren. Wir haben von Prioritäten im Budget gespro- chen!) (Beifall des Abg. Christoph Waitz [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1811

Uwe Barth (A) Meine Damen und Herren, die Grünen haben es ge- mischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“ (C) schafft, dass Deutschland seine Führungsposition in der werden. kerntechnischen Forschung verloren hat. Nun wollen sie an Euratom heran. Ich sage: Achtung! Das hat lang- (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Toll!) fristig negative Konsequenzen für die Sicherheit der Deutschland war in diesem Fall sogar ein bisschen Kernreaktoren in Europa und stellt letztlich eine Gefahr schneller. Wir haben in einem Kraftakt seit 1998 die Be- für alle Europäer dar. Die Grünen wollen nicht wahrha- dingungen für Forschung und Entwicklung in diesem ben, dass die Kernenergie in Europa wieder auf dem Land deutlich verbessert. Die Bruttoinlandsausgaben für Vo r m a r s c h i s t Forschung und Entwicklung lagen 1998 bei 45 Mil- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: liarden Euro und im vorletzten Jahr bei 55 Milliar- Das ist eine Sackgassentechnologie!) den Euro. Das bedeutet eine Steigerung um 21 Prozent. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat und von den Menschen wieder als Bestandteil einer si- 1998 für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Techno- cheren Energieversorgung angesehen wird. Deshalb logieentwicklung 7,2 Milliarden Euro ausgegeben; 2005 – und damit wir die größtmögliche Sicherheit errei- lagen die Ausgaben bei 9,9 Milliarden Euro. Das ist eine chen – brauchen wir auch in diesem Bereich eine leis- Steigerung von 37,5 Prozent. tungsfähige Forschung in Europa. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ergebnis der Betrachtung: Den Geist dieses Antrages DIE GRÜNEN) können wir nicht mittragen. Wir müssen ihn daher ableh- Wenn Sie mir diesen Diskurs erlauben – Herr Barth, nen. Sie sind ja noch neu in diesem Haus –: Das sind Zahlen, (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die sich jede FDP-Regierung erträumt hätte. Das haben Das werden wir alle verschmerzen!) Sie in den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit für dieses Land leider nicht erreicht. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP) DIE GRÜNEN – Uwe Barth [FDP]: Ich habe ja noch nie regiert!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Die FDP hat noch nie regiert? Dann schauen Sie ein- Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPD- mal nach. Die FDP ist die Partei, die am längsten in die- Fraktion. sem Land an der Regierung gewesen ist. (B) (D) (Beifall bei der SPD) (Uwe Barth [FDP]: Aber ich nicht!)

René Röspel (SPD): Mit den Folgen müssen wir seit 1998 umgehen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Wenn Sie sich einmal anschauen, wie sich die Wis- Herren! Es ist immer wieder gut und schön, über For- senschaftsorganisationen äußern – die Helmholtz-Ge- schung und Wissenschaft, Bildung und Entwicklung in meinschaft lobt die Aktivitäten der letzten Jahre, die diesem Hause sprechen zu können, vor allen Dingen Fraunhofer-Gesellschaft und die Max-Planck-Gesell- freitags nachmittags vor „vollem“ Haus, wenn man schaft äußern sich sehr zufrieden über die Zuwächse in schon überlegen muss, wie man gleich nach Hause den letzten Jahren –, dann würden Sie diese Situation an- kommt. Es macht Spaß, hier über Forschung zu spre- ders darstellen, als Sie es vorhin getan haben. chen, vor allen Dingen weil es ein Bereich ist, in dem wir in den letzten Jahren auch von dieser Stelle als Bund (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Menge haben bewegen können. Ich glaube, dass wir DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der auch in den nächsten Jahren gemeinsam eine Menge be- CDU/CSU) wegen können. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, einmal (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann deutlich zu machen, welche zentrale Rolle Sozialdemo- [SPD]) kratinnen und Sozialdemokraten dabei spielen, diese Ge- sellschaft moderner und zukunftsfähiger zu machen. Wir Bildung und Forschung sind von zentraler Bedeutung für haben mit unserem alten Koalitionspartner Bündnis 90/ die Zukunft unserer Gesellschaft. Deswegen ist es gut, Die Grünen die Trendwende 1998 eingeleitet und Bil- dass dieses Thema immer wieder Eingang in dieses Haus dung und Forschung wieder zu einem Toppthema ge- findet. macht. Wir sind froh, dass wir diese Politik mit dem neuen Koalitionspartner CDU/CSU gleichermaßen er- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem folgreich in der Zukunft gestalten können. Diese Konti- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nuität ist wichtig für das Land. Die Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäi- (Beifall bei der SPD) schen Union haben auf ihrem Gipfeltreffen im März 2000 in Lissabon die so genannte Lissabonstrate- Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Sie haben re- gie beschlossen. Danach soll Europa – ich zitiere – „bis lativ polemisch – das ist für einen Physiker über- zum Jahr 2010 der wettbewerbsfähigste und dyna- raschend – in Sachen Energietechnologie argumentiert. 1812 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

René Röspel (A) Wir sind in Sachen Kernfusion sicherlich näher bei den (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (C) Grünen. Das ist gar keine Frage. [SPD]) (Uwe Barth [FDP]: Das wundert mich nicht!) Aus den letzten Jahren, lieber Herr Kollege Fell, wissen Schauen Sie sich einmal an, welche Bedeutung die Sie allerdings auch, dass wir es auf europäischer Ebene Kernenergie noch hat, obwohl es am 26. April vor immer sehr schwer gehabt haben, dieses Verhältnis zu 20 Jahren die Katastrophe von Tschernobyl gab. Aus ändern. Aus zukunfts- und umweltorientierter Sicht gibt diesem Anlass werden wir uns sicherlich mit den Men- es keine Alternative zu den erneuerbaren Energien. Man schen beschäftigen müssen, die in Belarus leben und von muss also auch auf europäischer Ebene für diesbezügli- dieser Katastrophe betroffen waren und sind. che Veränderungen sorgen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wir müssen unter diesem Gesichtspunkt die Diskussion Wir diskutieren heute über den Antrag der Grünen über die Atomkraft führen. zum 7. Forschungsrahmenprogramm. Dabei ist eine ins- gesamt erfreuliche Entwicklung festzustellen, wenn- Wenn Sie betrachten, was wir in den letzten Jahren im gleich wir vom 3-Prozent-Ziel, das sich die Regierungen Bereich der erneuerbaren Energien mit dem Erneuer- gesetzt haben, auf deutscher wie auch auf europäischer bare-Energien-Gesetz geschaffen haben – damit sind wir Ebene noch weit entfernt sind. Weltmeister auf diesem Gebiet; andere Länder nehmen sich ein Beispiel daran –, wenn Sie bedenken, dass wir Der Antrag der Grünen – um auf das eigentliche in Sachen Windkraftenergie mittlerweile führend sind Thema zu sprechen zu kommen – enthält viele positive (Uwe Barth [FDP]: Das sehe ich jede Woche, Elemente. Dort werden viele Gemeinsamkeiten darge- wenn ich nach Berlin komme!) stellt, die vom gesamten Haus getragen werden können. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Punkten, zu de- – das sage ich als Abgeordneter eines Wahlkreises im nen wir Fragen haben. Ruhrgebiet, wo die Stahlindustrie eine große Rolle ge- spielt hat, wo jetzt aber die Windenergie und die erneu- Es ist Aufgabe der Opposition – das wurde auch in erbaren Energien zugunsten des Umweltschutzes und der Zwischenfrage deutlich –, mehr Geld zu fordern. der Zukunftstechnologien einen großen Anteil haben –, Aber wir konnten in unserer gemeinsamen siebenjähri- dann hätten Sie vielleicht eine andere Rede gehalten. gen Regierungszeit auf europäischer Ebene feststellen, dass das nicht immer einfach zu realisieren ist. Ich ge- (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des stehe Ihnen also zu, diese Forderung im Antrag zu stel- (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) len, wenngleich sie nicht einfach zu erfüllen ist.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Offenere und flexiblere Strukturen zu fordern, damit Herr Kollege Röspel, erlauben Sie eine Zwischen- bin ich einverstanden. Es hat auch niemand etwas dage- frage des Kollegen Fell? gen, die Effizienz der eingesetzten Mittel zu erhöhen. Über den Abbau von Bürokratie hat der Kollege Müller von der CDU/CSU-Fraktion schon eine ganze Menge René Röspel (SPD): gesagt. Ja, wenn ich meinen Zug noch erreiche. (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: [CDU/CSU]) Bitte eine kurze Zwischenfrage, Herr Kollege Fell. Jeder wird dazu Ja sagen.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im 6. Forschungsrahmenprogramm war die Ausrich- Herr Kollege Röspel, Sie haben gerade dargestellt, tung darauf angelegt, gerade für kleine und mittlere wie stark die Aufwendungen für erneuerbare Energien Unternehmen eine Verbesserung hinzubekommen. Dies sein sollten und wie problematisch die Aufwendungen ist nicht erreicht worden. Also bleibt dies eine Aufgabe für die Kernenergie sind. Ich teile diese Aussage. Kön- für die Zukunft und für uns. Das ist dringend notwendig. nen Sie eigentlich mittragen, was im Entwurf des 7. For- Aber es scheitert an der Realität. schungsrahmenprogrammes und des Euratom-Program- Wenn Sie von den Grünen allerdings die Bundesre- mes vorgesehen ist? Danach sollen etwa 3 Milliar- gierung auffordern – wie zum Beispiel auf Seite 5 Ihres den Euro für die Kernenergie ausgegeben werden. Für Antrages –, dafür Sorge zu tragen, „dass KMUs an den die erneuerbaren Energien hingegen sollen – man Programmen des Bereichs Zusammenarbeit mindestens kann es noch nicht endgültig sagen – schätzungsweise die 15 Prozent aus dem 6. FRP erreichen“, so kann man 300 bis 400 Millionen Euro, also etwa nur ein Zehntel das zwar formulieren. Ich glaube aber, dass man dann, der Aufwendungen für die Kernenergie, ausgegeben wenn man für die Antragstellung ein offenes, nach be- werden. Halten Sie dieses Verhältnis für richtig? stimmten Kriterien festgelegtes Verfahren einführen will, nicht von vornherein Quoten festsetzen kann. Man René Röspel (SPD): wird vielmehr erst im Nachhinein feststellen, wie hoch Ich würde mir ein anderes Verhältnis wünschen. der Anteil war. Es liegt außerhalb der Möglichkeiten der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1813

René Röspel (A) Bundesregierung – diese ist ja der Adressat Ihres Antra- mie. Wir unterstützen ausdrücklich Ihre Aussage, dass (C) ges –, Einfluss zu nehmen. der Europäische Forschungsrat kein Instrument von Inte- ressengruppen sein darf und autonom entscheidet, wel- Wenn Sie auf Seite 5 die Bundesregierung auffordern, che wissenschaftlichen Vorhaben er unterstützt. Wenn „dass neben dem Auswahlkriterium der Exzellenz bei man von vornherein sagt, ihr müsst dieses und jenes der Förderung auch das Anwendungspotenzial der Inno- gleichermaßen berücksichtigen, dann, glaube ich, stellt vationen berücksichtigt wird“, dann hört sich das auf den man eine Leitplanke auf, die nicht sinnvoll ist. Die ersten Blick gut an. Aber bei genauerem Nachdenken Stärke des ERC ist es eben, unbürokratisch und autonom – das ist zumindest mir so gegangen; das soll ja hin und zu entscheiden. wieder vorkommen – stellt sich die Frage, ob es in der Tat sinnvoll und möglich ist, Exzellenz und Anwen- Es gibt noch eine Menge zu beraten. Wir werden dungspotenzial gleichermaßen als Anforderung zu pos- heute einer Überweisung Ihres Antrages an die Aus- tulieren. Gerade im Bereich der Grundlagenforschung ist schüsse zustimmen. Unseren Antrag, den von CDU/CSU das Anwendungspotenzial in der Regel nicht absehbar. und SPD, werden wir in den Beratungen daneben legen. Wilhelm Conrad Röntgen hätte nie gedacht, dass er eine Vielleicht gelingt es im Interesse der europäischen For- anwendungsorientierte Forschung betreiben würde, als schungsförderung, die Gemeinsamkeiten zu betonen. er sich mit Röntgenstrahlen befasste. Vielen Dank. In der Tat stellen sich folgende Fragen: Was ist, wenn (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das Vorhaben zwar exzellent ist, aber kein Anwendungs- potenzial hat? Scheidet es deswegen aus? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Nein!) und an diesem Tag hat das Wort die Kollegin Dr. Petra Sitte von der Fraktion Die Linke. Oder umgekehrt: Was ist, wenn das Anwendungspoten- zial offensichtlich und groß ist, aber keinerlei Exzellenz (Beifall bei der LINKEN) vorhanden ist, weil dies nicht notwendig ist? Scheidet dieses Vorhaben dann ebenfalls aus? Ich finde, über die- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): sen Bereich sollten wir noch nachdenken. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Nebenbei offenbart sich da eine Schwachstelle der ge- Röspel, Sie beklagen, dass Sie am Freitagnachmittag re- samten Exzellenzdiskussion, die wir seit einigen Jahren den müssen. führen. Sie sollten sich in Erinnerung rufen, dass wir vor (B) (René Röspel [SPD]: Ich habe es weiter nach (D) zwei Jahren eine Diskussion über SARS, über eine Seu- Hause!) che, die von China ausging und durch Viren übertragen wurde, geführt haben. Es waren in der Tat deutsche For- Ich muss als Letzte reden und habe nur vier Minuten Re- scher, die als Erste das Genom des SARS-Erregers ent- dezeit. Wer in vier Minuten angemessen über dieses schlüsselten. Herr Barth, dieser Erfolg kam übrigens da- Thema reden will, muss ein kleines Wunder vollbringen. her, dass die Genomforschung durch die rot-grüne Wunder – das wissen Sie – ersetzen im Allgemeinen Regierung sinnvollerweise extrem gefördert wurde. Am Forschung und Wissen ohnehin. Ende waren deutsche Forscher bei der Analyse und der (Beifall bei der LINKEN) Behandlung der Erkrankung durch den SARS-Virus füh- rend. Deshalb kann ich nur ein paar wenige grundsätzliche Be- merkungen machen. Warum war das so? Schlicht und einfach deshalb, weil Deutschland es sich erlaubt hat, eine Nischenfor- Dass es so ein komplexes Programm wie das For- schung weiter zu fördern, die es in anderen Ländern schungsrahmenprogramm gibt, ist natürlich eine der nicht mehr gab oder die es, wenn es die SARS-Fälle wichtigsten Leistungen auf der EU-Ebene; das ist völlig nicht gegeben hätte, nicht mehr geben würde, weil sie zu klar. Es ist schon angedeutet worden, dass es trotzdem uninteressant war. Für SARS- oder ähnliche Viren hat nicht kompensieren kann, was auf nationaler Ebene un- sich niemand interessiert. Weil unabhängig von dem Kri- terlassen wird. So sind die Ausgaben für Forschung und terium Exzellenz die Wirkung dieser Forschung wegen Entwicklung in den letzten Jahren – um es wohlmeinend der Größe der Forschergruppen überhaupt nicht messbar zu formulieren – als stagnierend zu bezeichnen. Die Ver- war, haben wir es uns erlaubt, dieses Gebiet zu fördern. antwortung dafür liegt wechselseitig sowohl bei der Dies ist vielleicht ein Grund dafür, noch einmal darüber staatlichen Ebene als auch bei der Wirtschaft. nachzudenken, ob wir nicht außerhalb der Exzellenzdis- Die EU-Vorgabe besagt ausdrücklich, dass der Staat kussion auch andere Bereiche betrachten sollten. ein Drittel für diesen Bereich ausgeben soll. Insofern ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD) es durchaus richtig, wenn der Bund in den nächsten vier Jahren 6 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung und Was den Europäischen Forschungsrat anbelangt, Entwicklung ausgeben will. Allerdings – das ist vorhin fordern Sie, technologische, naturwissenschaftliche und kurz erwähnt worden – bedürfte es eigentlich Ausgaben geisteswissenschaftliche Projekte gleichermaßen zu för- in Höhe von 3 Milliarden Euro pro Jahr und nicht von dern. Ich sage aus meiner Sicht: Die Stärke des Konzepts 1,5 Milliarden Euro, um das angestrebte Ziel zu errei- des Europäischen Forschungsrats ist gerade die Autono- chen. 1814 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

Dr. Petra Sitte (A) Ich will ein zweites Problem erwähnen. Im Rahmen Ich halte es für ein wenig problematisch, wenn man (C) der Föderalismusreform wird es relativ wenige struktu- versucht, nur seine eigenen Positionen in den Antrag relle Veränderungen für den Bereich Forschung und Ent- aufzunehmen, und hofft, dass diese beschlossen werden. wicklung geben. Damit bleibt auch die direkte Anknüp- Man kann den Versuch natürlich unternehmen, aber die fung an die EU-Politik erhalten. Wenn man sich aber Chancen sind nicht besonders groß. Ich erwähne bei- andererseits aus der Gestaltung der Rahmenbedingungen spielsweise, dass es im Bereich der Weltraumforschung der Hochschulen heraushält, dann ignoriert man, dass erheblichen Diskussionsbedarf gibt. Ich erwähne da- die deutschen Hochschulen seit vielen Jahren sehr er- rüber hinaus die neueren Diskussionen über die Stamm- folgreich die Einheit von Forschung und Lehre praktizie- zellproblematik. ren. Über einige Punkte in Ihrem Antrag besteht durchaus (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann noch Diskussionsbedarf. Bei anderen Punkten sind Sie [SPD]) relativ vage geblieben, beispielsweise beim Europäi- Unter diesem Gesichtspunkt halte ich es für kritik- schen Technologieinstitut. Hier habe ich mir an den würdig – man kann auch an die Worte von Herrn Struck Rand „sehr mutig“ geschrieben. Hier spricht man sich heute Morgen anknüpfen –, wenn wir hier darüber reden, für eine Prüfung aus. Ich meine allerdings, dass man auf- weil wir alle ganz genau wissen, was am Ende passiert. grund der Vorgeschichte eine eindeutig ablehnende Hal- Die einzelnen Bundesländer sprechen alle brav bei der tung zur Logik Ihrer Gedanken formulieren müsste. EU vor, um aus den einzelnen Fördertöpfen des 7. For- Abschließend möchte ich sagen, dass die Kommuni- schungsrahmenprogramms zu schöpfen. Schauen Sie quésprache des Antrags das Lesen zu einer mühseligen sich die Präsenz der einzelnen Bundesländer in Brüssel Disziplinübung gemacht hat. Wenn man sich aber in die oder Straßburg an! Sie sind ganz unterschiedlich ausge- einzelnen Abschnitte vertieft, bleibt es eine spannende stattet, was auch mit dem Reichtum der Länder zu tun Angelegenheit. hat. Diese Disparitäten werden noch stärker zutage tre- ten. Bayern kann zum Beispiel ganz anders agieren als Danke schön. andere Bundesländer. Vielleicht ist Bayern ein schlech- tes Beispiel und ich ziehe lieber Baden-Württemberg he- (Beifall bei der LINKEN) ran. Baden-Württemberg kann ganz anders als andere Bundesländer auf die Fördertöpfe des Forschungs- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rahmenprogramms zugreifen. Ich meine, dass wir mit Ich schließe die Aussprache. unseren Entscheidungen diese Disparitäten vertiefen. In- sofern muss es um Entscheidungsstrukturen in der Bun- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf (B) (D) desrepublik Deutschland gehen, die der europäischen der Drucksache 16/710 an die in der Tagesordnung auf- Organisation Rechnung tragen. geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Ebenso problematisch ist der Umgang mit den For- sung so beschlossen. schungsgegenständen und -inhalten, die sich hinter den spezifischen Programmen und ihren thematischen Priori- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- täten verbergen. Zu den Schwerpunktsetzungen – das ist ordnung. völlig klar – gibt es natürlich unterschiedliche Meinun- gen. Das macht auch der Antrag deutlich. Auch unserer- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- seits gibt es durchaus Zustimmung und Differenzen. Das destages auf Mittwoch, den 15. März 2006, 13 Uhr, ein. ist völlig klar. In diesem Punkt wird der Antrag der Die Sitzung ist geschlossen. Bündnisgrünen besonders interessant und diskussions- würdig. (Schluss: 14.49 Uhr) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1815

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 10.03.2006 Kunert, Katrin DIE LINKE 10.03.2006 DIE GRÜNEN Lange (Backnang), SPD 10.03.2006 Albach, Peter CDU/CSU 10.03.2006 Christian

Amann, Gregor SPD 10.03.2006 Laurischk, Sibylle FDP 10.03.2006

Andres, Gerd SPD 10.03.2006 Leutheusser- FDP 10.03.2006 Schnarrenberger, Bätzing, Sabine SPD 10.03.2006 Sabine

Binninger, Clemens CDU/CSU 10.03.2006 Lips, Patricia CDU/CSU 10.03.2006

Bismarck, Carl Eduard CDU/CSU 10.03.2006 Mogg, Ursula SPD 10.03.2006 von Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 10.03.2006 Dr. Botz, Gerhard SPD 10.03.2006 DIE GRÜNEN

Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 10.03.2006 Müller-Sönksen, FDP 10.03.2006* DIE GRÜNEN Burkhardt (B) (D) Evers-Meyer, Karin SPD 10.03.2006 Pflug, Johannes SPD 10.03.2006

Fograscher, Gabriele SPD 10.03.2006 Rachel, Thomas CDU/CSU 10.03.2006

Freitag, Dagmar SPD 10.03.2006 Romer, Franz CDU/CSU 10.03.2006

Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 10.03.2006 Roth (Esslingen), Karin SPD 10.03.2006

Dr. Geisen, Edmund FDP 10.03.2006 Dr. Schwall-Düren, SPD 10.03.2006 Angelica Gleicke, Iris SPD 10.03.2006 Schwarzelühr-Sutter, SPD 10.03.2006 Granold, Ute CDU/CSU 10.03.2006 Rita

Heinen, Ursula CDU/CSU 10.03.2006 Seehofer, Horst CDU/CSU 10.03.2006

Hilsberg, Stephan SPD 10.03.2006 Singhammer, Johannes CDU/CSU 10.03.2006

Homburger, Birgit FDP 10.03.2006 Steppuhn, Andreas SPD 10.03.2006

Jung (Konstanz), CDU/CSU 10.03.2006 Stünker, Joachim SPD 10.03.2006 Andreas Ulrich, Alexander DIE LINKE 10.03.2006 Kortmann, Karin SPD 10.03.2006 Wieczorek-Zeul, SPD 10.03.2006 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 10.03.2006 Heidemarie

Kramer, Rolf SPD 10.03.2006 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Krichbaum, Gunther CDU/CSU 10.03.2006 sammlung des Europarates 1816 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006

(A) Anlage 2 Damit die Opfer einer Straftat aber auch tatsächlich (C) ihre Ansprüche geltend machen können, soll die Staats- Zu Protokoll gegebene Rede anwaltschaft im elektronischen Bundesanzeiger mittei- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur len, dass Sicherungsmaßnahmen gegen das Vermögen Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der des Beschuldigten ergangen sind. Vermögensabschöpfung bei Straftaten (Tages- Wenn Geschädigte die Drei-Jahres-Frist ungenutzt ordnungspunkt 15) verstreichen lassen, fällt das Vermögen nun an den Staat. Dieser so genannte Auffangrechtserwerb des Staates ist Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der das Herzstück des Gesetzentwurfs und schließt die im heute zu beratende Gesetzentwurf ist zu begrüßen. Mit geltenden Recht bestehende Lücke. ihm soll zweierlei erreicht werden: Die Ergänzung der Vorschriften über die Zwangsvoll- Erstens. Finanziell geschädigte Opfer von Straftaten streckung des Verletzten in die vorläufig gesicherten Ge- sollen besser gestellt werden bei der Geltendmachung genstände und die Ausdehnung der Frist für die Auf- ihrer Ersatzansprüche. rechterhaltung der vorläufigen Sicherungsmaßnahmen erleichtern den Opfern von Straftaten die Durchsetzung Zweitens. Das durch eine Straftat erlangte Vermögen ihrer Ansprüche. fällt dem Staat zu, wenn das Opfer eines verurteilten Straftäters seine Ansprüche nicht innerhalb einer Drei- Die genannten Änderungen tragen den Bedürfnissen Jahres-Frist verfolgt hat. Dahinter steht die Idee, dass der Praxis und den Bedürfnissen der Verbrechensopfer Straftaten sich nicht lohnen dürfen: „Crime does not Rechnung. Vereinzelt vorgebrachte Einwände gegen ein- pay!“ Der Gesetzentwurf regelt also im Wesentlichen die zelne Bestimmungen des Gesetzes werden wir im Frage, wie mit kriminellen Gewinnen umgegangen wird Rechtsausschuss prüfen und gegebenenfalls berücksich- und wem sie unter welchen Umständen zustehen. tigen. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Gesetz zum Schluss von allen Fraktionen mitgetragen werden wird. Schon nach dem geltenden Recht der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung ist es möglich, den aus einer Straftat erlangten wirtschaftlichen Vorteil – zum Beispiel Anlage 3 den aus einem Betrug erlangten Gewinn – beim Beschul- digten sicherzustellen. Der vorliegende Entwurf dient Amtliche Mitteilungen der Verbesserung der bestehenden und in der Praxis oft Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit- verwendeten Instrumentarien. Denn bisher konnte nicht geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der (B) ausgeschlossen werden, dass kriminelle Gewinne an die Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den (D) beschuldigte oder gar schon verurteilte Person wieder nachstehenden Vorlagen absieht: herausgegeben werden mussten.

Zurzeit kann der Staat keinen Zugriff auf das Vermö- Finanzausschuss gen nehmen, solange den Geschädigten der Straftat Er- satzansprüche zustehen. Sind die Opfer der Straftat je- – Unterrichtung durch die Bundesregierung doch unbekannt oder verfolgen sie ihre Ansprüche gar Unterrichtung durch die Bundesregierung über die ak- nicht, sperren sie doch eine Vermögensabschöpfung tualisierten Stabilitäts- und Konvergenzprogramme durch den Staat. Ihr vermeintlicher Schutz wird zum 2004 der EU-Mitgliedstaaten Vorteil für Kriminelle. Das nur vorläufig sichergestellte – Drucksachen 15/5600, 16/480 Nr. 1.8 – Vermögen muss dem Täter spätestens drei Monate nach der Verurteilung zurückgegeben werden, obwohl rechts- – Unterrichtung durch die Bundesregierung kräftig feststeht, dass es sich um kriminell erlangtes Ver- Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen mögen handelt. des Alkopopsteuergesetzes auf den Alkoholkonsum von Jugendlichen unter 18 Jahren sowie die Marktentwick- Was soll sich durch den Gesetzentwurf verändern? lung von Alkopops und vergleichbaren Getränken Der aus einer Straftat resultierende wirtschaftliche Ge- – Drucksachen 15/5929, 16/480 Nr. 1.14 – winn darf jetzt länger sichergestellt werden: Zunächst kann das Vermögen wie nach geltendem Recht für sechs – Unterrichtung durch die Bundesregierung Monate sichergestellt werden. Dieser Zeitraum soll zu der Unterrichtung über die aktualisierten Stabilitäts- und Konvergenzprogramme 2004 der EU-Mitgliedstaa- künftig nicht mehr um drei, sondern – bei Vorliegen be- ten stimmter Tatsachen, die den Tatverdacht begründen – – Drucksache 15/5600 – um sechs Monate verlängert werden können. Und nur Nachtrag und Aktualisierung wenn dringende Gründe vorliegen, darf die Maßnahme – Drucksachen 15/5961, 16/612 Nr. 1.1 – länger als zwölf Monate aufrechterhalten werden. Die Geschädigten haben zur Geltendmachung ihrer Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Ansprüche und zum Betreiben der Zwangsvollstreckung mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- in das sichergestellte Vermögen drei Jahre Zeit. Diese Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Frist beginnt ab dem Zeitpunkt der Verurteilung des Tä- Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- ters im Strafverfahren zu laufen. tung abgesehen hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. März 2006 1817

(A) Innenausschuss Drucksache 16/150 Nr. 2.45 (C) Drucksache 16/150 Nr. 1.26 Drucksache 16/150 Nr. 2.46 Drucksache 16/150 Nr. 1.27 Drucksache 16/150 Nr. 2.50 Drucksache 16/150 Nr. 1.28 Drucksache 16/150 Nr. 2.51 Drucksache 16/150 Nr. 1.29 Drucksache 16/150 Nr. 2.58 Drucksache 16/150 Nr. 1.31 Drucksache 16/150 Nr. 2.59 Drucksache 16/150 Nr. 1.35 Drucksache 16/150 Nr. 2.61 Drucksache 16/150 Nr. 1.49 Drucksache 16/150 Nr. 2.66 Drucksache 16/150 Nr. 2.10 Drucksache 16/150 Nr. 2.70 Drucksache 16/150 Nr. 2.21 Drucksache 16/150 Nr. 2.76 Drucksache 16/150 Nr. 2.22 Drucksache 16/150 Nr. 2.82 Drucksache 16/150 Nr. 2.23 Drucksache 16/150 Nr. 2.117 Drucksache 16/150 Nr. 2.30 Drucksache 16/150 Nr. 2.183 Drucksache 16/150 Nr. 2.75 Drucksache 16/150 Nr. 2.79 Drucksache 16/150 Nr. 2.92 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Drucksache 16/150 Nr. 2.149 Verbraucherschutz Drucksache 16/150 Nr. 2.154 Drucksache 16/150 Nr. 2.171 Drucksache 16/150 Nr. 2.167 Drucksache 16/150 Nr. 2.231 Drucksache 16/150 Nr. 2.235 Drucksache 16/150 Nr. 2.262 Drucksache 16/288 Nr. 1.2 Drucksache 16/288 Nr. 2.9 Drucksache 16/288 Nr. 2.22 Drucksache 16/419 Nr. 2.5 Drucksache 16/288 Nr. 2.38 Drucksache 16/419 Nr. 2.31 Drucksache 16/419 Nr. 2.47 Drucksache 16/419 Nr. 2.49 Rechtsausschuss Drucksache 16/481 Nr. 1.7 Drucksache 16/150 Nr. 2.203 Drucksache 16/629 Nr. 2.9 Drucksache 16/629 Nr. 2.10 Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 16/150 Nr. 1.5 Drucksache 16/150 Nr. 2.26 Finanzausschuss Drucksache 16/150 Nr. 2.111 Drucksache 16/419 Nr. 1.5 Drucksache 16/150 Nr. 2.250 Drucksache 16/419 Nr. 2.33 Drucksache 16/419 Nr. 2.36 Drucksache 16/419 Nr. 2.39 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 16/419 Nr. 2.53 Drucksache 16/419 Nr. 2.63 Drucksache 16/419 Nr. 2.11 (B) Drucksache 16/419 Nr. 2.66 Drucksache 16/419 Nr. 2.12 (D) Drucksache 16/481 Nr. 1.10 Drucksache 16/419 Nr. 2.38

Haushaltsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksache 16/150 Nr. 2.17 Technikfolgenabschätzung Drucksache 16/150 Nr. 2.54 Drucksache 16/150 Nr. 2.102 Drucksache 16/150 Nr. 2.155 Drucksache 16/150 Nr. 2.173 Drucksache 16/150 Nr. 2.221 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Drucksache 16/419 Nr. 2.54 Entwicklung Drucksache 16/150 Nr. 2.93 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 16/150 Nr. 2.95 Drucksache 16/150 Nr. 2.180 Drucksache 16/150 Nr. 1.4 Drucksache 16/150 Nr. 1.19 Drucksache 16/150 Nr. 2.14 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 16/150 Nr. 2.16 Drucksache 16/150 Nr. 2.36 Drucksache 16/150 Nr. 2.224 Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980