BRIEF NR. 51

Editorial 3

Schwerpunkt: ›Einführung in den Schwerpunkt 7 30 Jahre TAB – ›Den Menschen »weiser und geschickter« machen? 30 Jahre Beiträge zu einer Human Enhancement als Dauerthema der TA 9 vorausschauenden und vor- sorgenden Politikgestaltung ›CCS: über enttäuschte Hoffnungen, ungedeckte Schecks und dringende Notwendigkeiten 14 ›Technologischer Wandel in einem Kernbereich demokratischer Politik: zur Digitalisierung der politischen Ö ffentlichkeit 21 ›Sichtweisen und Wertvorstellungen zu wissenschaft- lich-technischen Entwicklungen – Diskurs und Dialog in der Arbeit des TAB 27 ›Horizon-Scanning oder wie eine Foresightmethode zur Technikfolgenabschätzung kam 30 ›Zukünftige Technologien zur Untersuchung technologischer Zukünfte 33

Projekte ›Wenn der Algorithmus weiße Männer bevorzugt 40 ›Petitionen an den Deutschen – Bekanntheit und Nutzung 42 ›Beobachtungstechnologien im zivilen Sicherheitsbe- reich – Praktiken, Wirkungen und Gestaltungsoptionen 45 ›Gentherapien mit Genome Editing – neue Möglichkeiten, neue Herausforderungen 50 ›Zum Nutzen partizipativer Verfahren für die parlamentarische TA 55 ›Digitalisierung der Landwirtschaft: Stand und Perspektiven 60 ›New Space – neue Dynamik in der Raumfahrt 64

Horizon-Scanning ›Themenvielfalt: elf neue Kurzprofile aus dem Horizon-Scanning 68

TA International ›EPTA-Aktivitäten vor und in der Coronakrise 74

Veröffentlichungen 75

Dezember 2020 Brief Nr. 51 Laufende Untersuchungen

Laufende Untersuchungen

TA-Projekte

Alternative Technologiepfade für die Emissionsreduktion in Dr. Claudio Caviezel der Grundstoffindustrie

Urbaner Holzbau Dr. Sonja Kind, Tobias Jetzke

Energiespareffekte im Gebäudesektor Dr. Lydia Illge, Britta Oertel

Gene Drives – Technologien zur Verbreitung genetischer Veränderungen Dr. Alma Kolleck, Dr. Arnold Sauter, in Populationen Dr. Steffen Albrecht TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Chancen und Risiken der Digitalisierung kritischer kommunaler Infrastrukturen Dr. Pauline Riousset, an den Beispielen der Wasser- und Abfallwirtschaft Dr. Saskia Steiger, Dr. Claudio Caviezel

Welt ohne Bargeld – Veränderungen der klassischen Banken- und Bezahlsysteme Dr. Simone Ehrenberg-Silies, Dr. Sonja Kind

Stand und Perspektiven der Telemedizin Dr. Katrin Gerlinger, Michaela Evers-Wölk

Innovative Technologien, Prozesse und Produkte in der Bauwirtschaft Dr. Christoph Kehl, Dr. Matthias Achternbosch, Dr. Christoph Revermann

Chancen der digitalen Verwaltung Michaela Evers-Wölk, Jakob Kluge, Dr. Saskia Steiger

Energieverbrauch der IKT-Infrastruktur Dr. Reinhard Grünwald

Algorithmen in digitalen Medien und ihr Einfluss auf die Meinungsbildung Britta Oertel, Dr. Steffen Albrecht

Potenziale von mobilem Internet und digitalen Technologien für die bessere Dr. Steffen Albrecht, Teilhabe von Menschen mit Behinderungen Dr. Katrin Gerlinger

Data-Mining – gesellschaftspolitische und rechtliche Herausforderungen Dr. Katrin Gerlinger

2 Editorial

30 Jahre TAB – 30 Jahre Beiträge zu einer vorausschauenden und vorsorgenden Politikgestaltung

Zum Ende des von der Coronaviruspandemie geprägten Jahres 2020 er- deo zugeschaltet, die Öffentlichkeit konn- scheint der vorliegende TAB-Brief. Er berichtet nicht nur wie üblich von un- te den Diskussionen live im Parlaments- seren zurückliegenden und laufenden Aktivitäten, sondern umfasst außer- fernsehen folgen. dem einen speziellen Schwerpunkt: Anlässlich von 30 Jahren TAB haben sich viele der TAB-Mitarbeitenden mit prägnanten, sozusagen typischen Dadurch, dass kurzfristige oder sogar Fragestellungen der Technikfolgenabschätzung (TA) befasst, die bereits in tagesaktuelle Themenstellungen in den mehreren Analysen des TAB behandelt wurden, aber von anhaltender Aktu- Auftragsmodalitäten des TAB nicht vor- alität sind. Nachgezeichnet werden wichtige Diskussionslinien und die zu- gesehen sind und weil es nicht unsere Auf- gehörigen Ergebnisse und Einschätzungen aus unseren Projekten, um zu gabe ist, Handlungsempfehlungen aus- fragen, wie umsichtig und vorausschauend die Analysen waren, und damit zusprechen, hat das Coronageschehen eine Antwort zu geben auf die Frage, worin der besondere Wert unserer ansonsten unsere Arbeit insgesamt bis-

Untersuchungsansätze liegt. Außerdem reflektieren wir die Entwicklung lang nicht so stark verändert wie die von – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. der Aktivitätsbereiche Diskurs und Dialog sowie Vorausschau bzw. Hori- anderen Institutionen. Allerdings rechnen zon-Scanning und werfen einen Blick voraus auf die Frage, ob zukünftige wir damit, dass unsere kommenden The- Technologien nicht auch bei der Untersuchung technologischer Zukünfte menstellungen Fragen aufgreifen werden, selbst immer wichtiger werden können – oder sogar sollen. die aus der jetzigen Ausnahmesituation resultieren. Wie gut die deutsche Gesell- schaft und der deutsche Staat auf Krisen Doch zunächst folgt an dieser Stelle wie In quasi letzter Minute vor dem weitge- vorbereitet sind, war in der Vergangenheit gewohnt eine Zusammenfassung unse- henden Shutdown des öffentlichen Lebens, hinsichtlich der möglichen Folgen eines rer Arbeitsergebnisse seit Erscheinen des am 4. März 2020, konnte Armin Grunwald großflächigen Stromausfalls Thema ei- letzten TAB-Briefs im Sommer 2019. noch im vollbesetzten Ausschusssitzungs- nes vielbeachteten TAB-Projekts, aktuell saal auf Anregung der Berichterstatter- gehen wir der Frage nach, wie es um die gruppe TA einen Zwischenbericht über die Kritikalität der wichtigen Infrastruktu- Aktivitäten im Bundestag Arbeit des TAB in der laufenden 19. Wahl- ren in der Wasserversorgung und in der periode geben. Er erläuterte die vielfältigen Abfallwirtschaft steht. Im September 2019 lud das TAB im An- Projekte und Produkte des TAB und be- schluss an eine Sitzung des Ausschusses antwortete gemeinsam mit den Kollegin- Personell gab es im Oktober 2019 aufsei- für Bildung, Forschung und Technik- nen der Konsortialpartner VDI/VDE-IT ten der TA-Berichterstatter einen Wechsel folgenabschätzung (ABFTA) erstma- und IZT, Sonja Kind und Michaela Evers- in der FDP-Fraktion: , lig zum »TAB im Foyer« ins Paul-Lö- Wölk, Nachfragen der Ausschussmitglie- der in seiner Fraktion andere Aufgaben be-Haus des Deutschen Bundestages. der zu den unterschiedlichen Arbeitswei- übernahm, aber als Spezialist für Fragen Mit diesem neuen Veranstaltungsfor- sen und Produkttypen. Die Berichterstat- des digitalen Wandels und Obmann in der mat soll (geplant einmal jährlich) ein ter für TA aller Fraktionen unterstrichen Enquete-Kommission Künstliche Intelli- vielfältiger und lebendiger Austausch die wertvolle Unterstützungsleistung bei genz – Gesellschaftliche Verantwortung zwischen Abgeordneten, Mitarbeiten- der Orientierung und Entscheidungsfin- und wirtschaftliche, soziale und ökologi- den der Fraktionen sowie der Bundes- dung im parlamentarischen Alltag und sche Potenziale dem TAB verbunden blieb, tagsverwaltung, den Projektzuständigen nutzten die Möglichkeit, Anregungen zu übergab das Amt an Prof. Dr. Andrew Ull- des TAB sowie in den Projekten betei- formulieren, wie die (Zusammen-)Arbeit mann – seines Zeichens Infektiologe, Ob- ligten weiteren Expertinnen und Exper- in der TA in Zukunft noch wirksamer und mann der FDP im Gesundheitsausschuss ten über aktuelle TA-Themen ermög- partizipativer gelingen kann. und damit prädestiniert für eine wissen- licht werden (hierzu auch der Beitrag auf schaftsbasierte Politikgestaltung in Reak- S. 27 ff.). Die anvisierte zweite Ausgabe Nachdem ab Mai wieder die regelmäßigen tion auf das Coronageschehen. 2020 fiel dann den Coronaverhaltens- Berichterstattertreffen – mit großen Ab- regeln zum Opfer – wir sind gespannt, ständen im Ausschusssitzungssaal – statt- was 2021 möglich sein wird oder ob wir finden konnten, wurde am 18. Juni 2020 Eine Fülle von Resultaten: zumindest temporär das Konzept (»So auch das öffentliche Fachgespräch »Welt TAB-Berichte und -Hinter- viele Interessierte so nah wie möglich ohne Bargeld – Veränderungen der klas- grundpapiere zusammen und in Austausch bringen, sischen Banken- und Bezahlsysteme« in u. a. an Hands-on-Objekten« – corona- Präsenz durchgeführt, allerdings mit sehr Im Zeitraum von Mitte 2019 bis Ende inkompatibler geht’s kaum!) grundsätz- begrenzter Teilnehmendenzahl vor Ort. 2020 hat sich der ABFTA mit einer Reihe lich ändern müssen. Einige der Fachleute waren daher per Vi- von TAB-Berichten befasst, die zugleich

3 Editorial

abgenommen und zur Veröffentlichung Technologiepfaden abwägen zu können. richt Nr. 185 »Legal Tech – Potenziale freigegeben wurden. Hierzu wurde eruiert, welche Menge al- und Wirkungen«. Präsentiert wurden die genbasierten Biokraftstoffs umweltver- Ergebnisse der Kurzstudie zu neuartigen Am 26. Juni 2019 erfolgte die Abnahme träglich zur Verfügung gestellt werden automatisierten Rechtsdienstleistungen des TAB-Arbeitsberichts Nr. 181 »Das könnte, sowie der aktuelle Forschungs- in der Sitzung von der Projektleiterin Potenzial algenbasierter Kraftstoffe für stand zur Gesamtenergiebilanz der neu- Dr. Sonja Kind. Die Analyse umfasst eine den Lkw-Verkehr«. Im Bericht werden en Kraftstoffe erhoben. Zudem wird Übersicht zu Legal-Tech-Angeboten und auch andere Kraftstoffe und ihre jewei- dargelegt, welche forschungs- und wirt- -Anwendungen. Erörtert wird, welche ligen Antriebssysteme angesprochen, um schaftspolitischen Strategien und Ins- rechtlichen Aspekte und Fragestellun- so die potenzielle Rolle von Algenkraft- trumente zur Verfügung stehen oder ggf. gen des Verbraucher- und Datenschutzes stoffen für Lkw im Hinblick auf Min- notwendig wären, um dieses Poten zial durch die Aktivitäten von Legal Tech be-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. derungen in den THG-Emissionen im zu heben. Ebenfalls am 26. Juni 2019 ab- rührt werden. Durch ein internationales Verkehr in Relation zu diesen anderen genommen wurde der TAB-Arbeitsbe- Mapping von Legal-Tech-Start-ups wur-

Öffentliches Fachgespräch »Autonome Waffensysteme« im Deutschen Bundestag

Anlässlich des großen Interesses an der TAB-Studie sowohl dung potenziell tödlicher Gewalt durch AWS und nicht zuletzt innerhalb des Bundestages als auch in der (Fach-)Öffentlich- der Stand der internationalen Debatte um völkerrechtliche Re- keit fand am 4. November 2020 im Bundestag ein öffentli- gulierung bzw. Rüstungskontrolle von AWS. ches Fachgespräch mit Expertinnen und Experten sowie Bun- destagsabgeordneten statt. Nach der Begrüßung durch den Ein öffentliches Fachgespräch unter Coronabedingungen stellt Vorsitzenden des Ausschusses für Bildung, Forschung und eine organisatorische Herausforderung dar. So war die Mehr- Technikfolgenabschätzung, Dr. , und zahl der Abgeordneten bzw. Expertinnen und Experten online einer inhaltlichen Einführung durch den Projektleiter des zugeschaltet. Die Öffentlichkeit wurde über eine Liveübertra- TAB, Dr. Reinhard Grünwald, präsentierten und diskutierten gung im Parlamentsfernsehen hergestellt. Zeitgleich bestand Prof. Dr.-Ing. Frank Flemisch (Fraunhofer FKIE), Dr. Jürgen über die Plattform »adhocracy+« die Möglichkeit, Fragen an Altmann (TU Dortmund), Johanna Polle und Dr. Christian die Sachverständigen und Abgeordneten zu richten. Die öf- Alwardt (IFSH), Dr. Bernhard Koch (ITHF), Anja Dahlmann fentlichen Reaktionen und die Medienresonanz bestätigten das (SWP) sowie Dr. Frank Sauer (Uni BW M) eine breite Palet- TAB in der Einschätzung, dass dieses Format durchaus span- te von Themen: Technologische Aspekte zu existierenden und nende und lebendige Diskussionen ermöglicht. Die Veranstal- in der Entwicklung befindlichen Waffensystemen, die mögli- tung wurde dokumentiert und steht als Videomitschnitt auf che Transformation der Kriegsführung durch neue technolo- der Webseite des Deutschen Bundestages unter https://dbtg.tv/ gische Möglichkeiten, ethische Fragen rund um die Anwen- cvid/7480616 zur Verfügung.

Abb. Livestream – öffentliches Fachgespräch »Autonome Waffensysteme«

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de ermittelt, in welchen Anwendungsbe- wie Handlungsansätze« wurde am 17. Juni erfolgte am 28. Oktober 2020. Insbeson- reichen von Legal Tech die Markt- und 2020 abgenommen. Der Bericht fasst den dere anhand von vier Fallbeispielen aus Gründungsdynamiken am stärksten aus- wissenschaftlichen Erkenntnisstand im den Bereichen der Arbeitsvermittlung, geprägt sind. Zudem wurden die aktu- Hinblick auf Trends und Umfang der der medizinischen Versorgung, des Straf- ellen Debatten zum Thema Legal Tech künstlichen Nachtaufhellung sowie ihre vollzugs und der automatisierten Perso- analysiert, um Chancen, Potenziale und wirtschaftlichen und soziokulturellen, nenerkennung zeichnet der Bericht nach, Risiken abzuwägen und etwaige Hand- humanmedizinischen und ökologischen dass Ungleichbehandlungen durch algo- lungsbedarfe auszuloten. Wirkungen zusammen. Handlungsoptio- rithmische Entscheidungssysteme häufig nen, die eine Verringerung der Lichtver- Fortführungen »vordigitaler« Ungleich- In seiner Sitzung am 25. September 2019 schmutzung unterstützen können, umfas- behandlungen sind. Er verdeutlicht zu- behandelte der ABFTA ebenfalls gleich sen etwa Vorschläge für Forschungs- und gleich, dass die Frage, ob eine konkrete zwei Berichte: Der TAB-Arbeitsbericht Förderprogramme, Mess- und Monito- Ungleichbehandlung diskriminierend ist – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Nr. 182 »Aktueller Stand und Entwick- ringsysteme, Steuerungsinstrumente, (oder nicht), innerhalb einer Gesellschaft lungen der Präimplantationsdiagnostik« Mög lichkeiten der Entwicklung inte- und innerhalb der Rechtsprechung oft- (PID) bietet einen konzentrierten Über- grierter lokaler und regionaler Lichtkon- mals hoch umstritten ist. Abschließend blick über die Entwicklungen der geneti- zepte sowie Orientierungshilfen für Bund, stellt das Hintergrundpapier verschiede- schen Analyse von Embryonen vor einer Länder und Kommunen zur Unterstüt- ne Handlungsansätze zur Prävention von künstlichen Befruchtung seit der Etablie- zung planerischer und rechtlicher Ange- algorithmisch basierten Diskriminierun- rung der ersten zugelassenen Zentren in legenheiten, z. B. hinsichtlich der Indus- gen vor. Der Bericht steht damit in enger Deutschland. Der Bericht stellt den Ver- trienormen für Straßen-, Gebäude- und thematischer Verbindung zu den Arbeiten fahrensablauf einer PID mit ihren me- andere Außenbeleuchtungen. der Enquete-Kommision »Künstliche In- dizinischen und rechtlichen Aspekten telligenz«, die ihren Abschlussbericht An- dar und dokumentiert die in zahlreichen Am 1. Oktober 2020 erfolgte die Abnah- fang November 2020 vorlegte. Damit die Interviews gewonnenen Sichtweisen des me des TAB-Arbeitsberichts Nr. 187 »Au- Ergebnisse des TAB hierfür berücksich- medizinischen Personals, von Mitglie- tonome Waffensysteme« (AWS). Anhand tigt werden konnten, wurden der Fokus dern und Mitarbeitenden der PID-Ethik- einer Bestandsaufnahme von existieren- der Fragestellungen sowie der zeitliche kommissionen sowie Vertreterinnen und den und in der Entwicklung befindlichen Umfang des TAB-Projekts so begrenzt, Vertretern der Belange von Betroffenen. Systemen wird darin illustriert, welche dass eine kürzere Laufzeit als bei den um- Der TAB-Arbeitsbericht Nr. 183 »Arz- Funktionen moderne Waffensysteme be- fassenden TA-Projekten realisiert wer- neimittelrückstände in Trinkwasser und reits heute und in absehbarer Zukunft au- den konnte. Gewässern« gibt vor dem Hintergrund tonom ausüben können. Es werden mög- eines stetig steigenden Verbrauchs von liche Einsatzszenarien für AWS diskutiert Eine ähnlich kompakte Analyse erfolgte Arzneimitteln einen Überblick über den und sich daraus ergebende sicherheits- in der Untersuchung »Petitionen an den Wissensstand zu Mengen, Qualitäten politische Implikationen analysiert. Im Deutschen Bundestag – Bekanntheit und und Wirkungen der Mikroverunreini- Mittelpunkt stehen Fragen danach, ob Nutzung«. Das resultierende TAB-Hin- gungen auf Mensch und Umwelt, trägt der mögliche Einsatz von AWS zu mehr tergrundpapier Nr. 25 wurde am 18. No- Vorschläge zur Vermeidung der Verun- oder weniger kriegerischer Gewalt füh- vember 2020 vom Forschungsausschuss reinigungen zusammen und identifiziert ren würde, welche Auswirkungen auf die abgenommen und am selben Tag von der Wissenslücken und mögliche Handlungs- regionale Stabilität und das strategische Projektleiterin Britta Oertel auch im Pe- strategien zur Verringerung der Risiken Gleichgewicht zu erwarten wären und ob titionsausschuss vorgestellt. Da dem Pe- durch Arzneimittelrückstände im Was- neue Rüstungswettläufe ausgelöst werden titionsausschuss nur wenige Informatio- ser. Dieser Bericht wurde zudem in ei- könnten. Ob und ggf. inwiefern die An- nen darüber vorliegen, wer Petitionen an ner Sitzung des Umweltausschusses am wendung tödlicher Gewalt durch auto- den Deutschen Bundestag richtet und un- 15. Januar 2020 durch den Projektleiter nom agierende Maschinen moralisch zu- terstützt, war das TAB beauftragt worden, Prof. Dr. Bernd Klauer (vom ehemaligen lässig ist, ist die Kernfrage der ethischen diese Lücke zu schließen. Im Mittelpunkt TAB-Konsortialpartner UFZ) ausführ- Debatte um AWS, die im Bericht ausführ- standen drei Kernfragen, die anhand von lich präsentiert und von den Fraktionen lich dargestellt wird. umfangreichen Befragungen behandelt intensiv diskutiert. wurden: Wem ist das Recht, sich mit Bitten Die Abnahme des TAB-Hintergrundpa- und Beschwerden an den Deutschen Bun- Der TAB-Arbeitsbericht Nr. 186 »Licht- piers Nr. 24 »Mögliche Diskriminierun- destag zu wenden, bekannt bzw. nicht be- verschmutzung – Ausmaß, gesellschaft- gen durch algorithmische Entschei- kannt? Falls bekannt, wie haben die Befrag- liche und ökologische Auswirkungen so- dungssysteme und maschinelles Lernen« ten von diesem Recht erfahren? Wer nutzt

5 Editorial

das Recht, Petitionen beim Deutschen Bun- › »Nutzenpotenziale innovativer und Plastikmüll durch üb erflüssige Verpa- destag einzureichen, zu veröffentlichen, zu partizipativer methodischer Verfahren ckungen sowie zur Schnittstelle von So- diskutieren oder zu unterstützen? für den Deutschen Bundestag« (TAB- zial- und Umweltpolitik forschte. Pauline Arbeitsbericht Nr. 192) Riousset studierte Umweltpolitik und -na- Zu guter Letzt wurde der Bericht »New › »Digitalisierung der Landwirtschaft: turwissenschaften in Paris und Montreal Space« am 16. Dezember 2020 abgenom- technologischer Stand und Perspek- und promovierte an der FU Berlin. Wäh- men. Diese als TAB-Kurzstudie Nr. 1 im tiven« (TAB-Arbeitsbericht Nr. 193) renddessen arbeitete sie am Mercator Re- neuen Erscheinungsbild vorgelegte Unter- › »Digitalisierung der Landwirtschaft: search Institute on Global Commons and suchung vermittelt einen Überblick über gesellschaftliche Voraussetzungen, Climate Change zu Wirkmechanismen aktuelle Entwicklungen und zukünftige Rahmenbedingungen und Effekte« der wissenschaftlichen Politikberatung. Perspektiven der deutschen Raumfahrt- (TAB-Arbeitsbericht Nr. 194) Im TAB war sie zuletzt am Abschluss

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. forschung und -industrie und berücksich- des Berichts »Mögliche gesundheitliche tigt dabei insbesondere neue Entwick- Die Breite der Aufgabenstellungen und Auswirkungen verschiedener Frequenz- lungs- und Gründungsdynamiken; die Untersuchungsformate des TAB doku- bereiche elektromagnetischer Felder (HF- Aktivitäten in Deutschland werden mit mentiert einmal mehr die Rubrik »Hori- EMF)« mitbefasst und leitet aktuell das dem internationalen Umfeld verglichen. zon Scanning«. Vorgestellt werden die Er- Projekt »Chancen und Risiken der Digi- Neben nationalen Strategien zur Förde- gebnisse von elf Kurzdarstellungen, die talisierung kritischer kommunaler Infra- rung der Raumfahrt und der Positionie- im Januar und im August 2020 publiziert strukturen an den Beispielen der Wasser- rung der großen Raumfahrtorganisationen wurden und auf reges Interesse inner- und und Abfallwirtschaft«. bilden die Ambitionen neuer Akteure (ins- außerhalb des Bundestages trafen (hierfür besondere privatwirtschaftliche Unterneh- sprechen u. a. die hohen Downloadzahlen Zuvor machte Franziska Börner, die ab men, Start-ups) einen besonderen Fokus. z. B. des Themenkurzprofils Nr. 30 »Dark 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin Patterns – Mechanismen (be)trügerischen beim TAB gearbeitet hatte, den Schritt zu- Internetdesigns«). Zum Thema »Urbaner rück in die forschende Wissenschaft und Zu den Beiträgen des Holzbau« (Themenkurzprofil Nr. 32) wur- wechselte im Sommer 2019 an das Institut vorliegenden TAB-Briefs de auf Empfehlung der Berichterstatter- für Arbeitsmedizin der Charité in Berlin. gruppe TA vom ABFTA eine vertiefende Neben dem diesmal besonders ausführ- Kurzstudie beim TAB in Auftrag gegeben. Seit März 2020 hat das TAB auch end- lichen Schwerpunkt (S. 7 ff.) wird im Fol- lich wieder eine zweite Mitarbeiterin genden wie immer eine Vielzahl von Pro- In der Rubrik »TA International« wird von im Sekretariat: Carmen Dienhardt ver- jektergebnissen dokumentiert. Von den der EPTA-Konferenz 2019 in Stockholm fügt über vielfältige und langjährige Er- genannten abgenommenen und publi- berichtet. Diese behandelte »Technolo- fahrungen in den Bereichen Sekretariat, zierten Berichten wurden die meisten be- gien, die ältere Menschen unterstützen Assistenz und Büromanagement. Zu- reits in früheren TAB-Briefen (Nr. 49 u. bzw. bei deren Pflege helfen«. Im Jahr letzt arbeitete sie in Berlin als Sekretä- 50) vorgestellt. Lediglich zur Kurzstudie 2020 hingegen konnten aufgrund der co- rin in der Geschäftsstelle des Gemeinsa- Nr. 1 und zu den beiden Hintergrundpa- ronabedingten Restriktionen weder der men Bundesausschusses – dem zentralen pieren 24 und 25 enthält der vorliegende EPTA-Council noch die EPTA-Konfe- Gremium der gemeinsamen Selbstver- TAB-Brief Beiträge. Darüber hinaus fin- renz – die sich dem Thema »Technikfol- waltung im Gesundheitswesen – in der den sich Kurzdarstellungen und Ergeb- genabschätzung in Krisenzeiten« hätte dortigen Abteilung Qualitätssicherung nisse zu einer Reihe (nahezu) abgeschlos- widmen sollen – durchgeführt werden. und sektorenübergreifende Versorgungs- sener TA-Projekte, die neugierig machen konzepte, davor etliche Jahre als Ge- sollen auf die in nächster Zeit zur Abnah- schäftsführungsassistentin im Bereich me und zur Veröffentlichung anstehen- TAB-Personalia Unternehmensberatung. den Berichte. Dabei handelt es sich um folgende Themen: Wir freuen uns im TAB alle sehr über un- Hiermit fühlen wir uns personell sehr gut sere beiden neuen Kolleginnen: aufgestellt für die Herausforderungen des › »Beobachtungstechnologien im Bereich kommenden Jahres 2021, für das wir allen der zivilen Sicherheit – Möglichkei- Pauline Riousset ist seit Oktober 2019 Leserinnen und Lesern des TAB-Briefs al- ten und Herausforderungen« (TAB- wissenschaftliche Mitarbeiterin im TAB. les Gute wünschen! Arbeitsbericht Nr. 190) Zuvor arbeitete sie im Institut für ökolo- › »Genome Editing am Menschen« gische Wirtschaftsforschung (IÖW) in Arnold Sauter (TAB-Arbeitsbericht Nr. 191) Berlin, wo sie u. a. zur Vermeidung von Christoph Revermann

6 Einführung in den Schwerpunkt

Einführung in den Schwerpunkt

Als hätten wir etwas geahnt, haben wir nach den großen Festveranstaltun- Matthias Achternbosch, Claudio Caviezel gen zum 20- und zum 25-jährigen Bestehen von vornherein auf etwas Ver- und Reinhard Grünwald schlussfolgern gleichbares zum 30. TAB-Geburtstag verzichtet, auch wenn wir naturgemäß in ihrem Beitrag »CCS: über enttäusch- hocherfreut und auch ein wenig stolz sind, dass uns, d. h. das Institut für te Hoffnungen, ungedeckte Schecks und Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Insti- dringende Notwendigkeiten«, dass sich tuts für Technologie (KIT), der Deutsche Bundestag über so einen langen die zeitweise vielfach vertretene Ansicht, Zeitraum sein Vertrauen in den Wert unserer Arbeit der parlamentarischen die CCS-Technologie könnte ab 2020 ein Politikberatung immer wieder bestätigt hat. Im Zuge unserer mehr oder we- wirksames Werkzeug im Kampf gegen niger kontinuierlichen Hinterfragung und Reflexion unserer Arbeit haben den Klimawandel sein, nicht bewahrhei- wir uns zum Jubiläum für die Gestaltung eines ausführlichen Schwerpunkts tet hat, sondern vielmehr die Klimapo- im TAB-Brief entschieden, nachdem wir in den drei letzten Ausgaben von litik vor einem großen und sehr ernsten dieser Form der Ergänzung unserer Kernpublikationen abgesehen hatten. Dilemma steht. Daher müsste entwe- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. der umgehend eine klare politische Ent- scheidung für die CCS-Technologie als ein In den folgenden Beiträgen werden drei › Und zu guter Letzt wendet sich der wichtiges Strategieelement für den Kli- Perspektiven auf 30 Jahre TAB eingenom- Blick nach vorne – wenn auch nicht maschutz getroffen werden mit dem Ziel, men – wobei der Fokus auf der zweiten gleich 30, sondern vielleicht nur 5 oder die Forschung und Erprobung von CCS- Hälfte dieses Zeitraums liegt: 10 Jahre: Wir schauen auf neue, KI- Technologien in Deutschland und welt- basierte Technologien zur Erfassung weit zu intensivieren und umzusetzen, › In den drei ersten Beiträgen befas- von wissenschaftlicher Evidenz und oder Forschung und Entwicklung müss- sen sich die TAB-Mitarbeitenden mit gesellschaftlichen Meinungen, die für ten alternativ auf dem Gebiet der radi- drei prägnanten Themenfeldern, die die wissenschaftlichen Politikberatung kalen Innovationen von klimaneutralen in unterschiedlichen Fragestellungen und damit des TAB selbst zukünftig Verfahren zur Grundstoffherstellung ei- und Zuschnitten in mehreren Projek- möglicherweise eine ernsthafte Rolle nen deutlichen Schub erhalten. ten der vergangenen Jahre behandelt spielen könnten. wurden. Es handelt sich um eine Art Alma Kolleck und Steffen Albrecht kon- Kernthemen der TA, die auch von vie- Katrin Gerlinger und Christoph Kehl statieren in ihrem Beitrag »Technologi- len TA-Einrichtungen, z. B. den ande- haben die erste Hälfte des Titels ihres scher Wandel in einem Kernbereich de- ren EPTA-Mitgliedern (hierzu der Beitrags »Den Menschen ›weiser und mokratischer Politik: zur Digitalisierung Beitrag auf S. 74), untersucht wurden: geschickter‹ machen? Human Enhance- der politischen Öffentlichkeit«, dass die Human Enhancement, also das Stre- ment als Dauerthema der TA« direkt der Auswirkungen der Digitalisierung auf ben nach physischer, psychischer und Schwerpunktüberschrift des TAB-Briefs die Demokratie im TAB bereits ab Mit- mentaler Leistungssteigerung durch Nr. 33 aus dem Jahr 2008 entnommen. te der 1990er Jahre untersucht und neben wisssenschaftlich-technische Mittel, 12 Jahre später werden nunmehr die Ge- den Potenzialen früh auch die Probleme Carbon-Capture-and-Storage(CCS)- meinsamkeiten und Unterschiede, Kon- einer zunehmenden Digitalisierung der Technologien zur Reduktion von CO2- tinuitäten und Weiterentwicklungen an- Onlinekommunikation thematisiert wur- Emissionen sowie Entwicklungen und hand dreier verschiedener TAB-Projekte den. Aktuell wird deutlich, dass die Be- Formen der Digitalisierung der poli- herausgearbeitet, in denen jeweils medial deutung von Social-Media-Plattformen tischen Öffentlichkeit hin zu einer ausgeschmückte und zum Teil über lan- als Intermediäre der öffentlichen Online- E-Demokratie. ge Zeiträume gehypte Visionen Schritt kommunikation weiter zunehmen wird. › In den beiden darauffolgenden Beiträ- für Schritt entmystifiziert wurden – in- Zugleich wird eine zukünftige Aufgabe gen wird der betrachtete Zeitraum kür- dem damit verbundene Zukunftserwar- gerade für politikberatende TA darin ge- zer: Die für das TAB zuständigen Kol- tungen anhand des aktuellen Stands der sehen, ein realistisches Bild der Poten- leginnen der Konsortialpartner beim Technik und des Wissens einem gründli- ziale der immer stärker aufkommenden Betrieb des TAB seit der vorletzten Ver- chen Realitätscheck unterzogen wurden. künstlichen Intelligenz (KI) zu zeichnen tragsperiode, IZT und VDI/VDE-IT, Die Autorin und der Autor gehen insbe- und Anwendungsfelder im öffentlichen fassen zusammen, wie die Aktivitätsbe- sondere der Frage nach, wie die Ergebnis- Bereich zu identifizieren, die nicht nur reiche Diskurs und Dialog sowie Vor- se der TAB-Analysen heute zu beurtei- technisch möglich, sondern auch gesell- ausschau bzw. Horizon-Scanning seit len sind und welche Schlussfolgerungen schaftlich wünschenswert sind. 2013 auf- und ausgebaut und konti- sich daraus für die zukünftige TA-Befas- nuierlich hinsichtlich ihrer Zielstellung sung mit ähnlich gelagerten Visionen ab- Im nächsten Beitrag »Sichtweisen und und Umsetzung angepasst wurden. leiten lassen. Wertvorstellungen zu wissenschaftlich-

7 Einführung in den Schwerpunkt

technischen Entwicklungen« beschreiben für die praktische TA-Arbeit eröffnen. So erwiesen. Und dies bestätigt uns in unse- Britta Oertel und Michaela Evers-Wölk, wird aktuell und zunehmend kolportiert, rem Bemühen, kontinuierlich zu beobach- welchen Stellenwert »Diskurs und Dialog dass die Fortschritte beim Einsatz von KI ten, wie andere Einrichtungen der wissen- in der Arbeit des TAB« in den vergange- bereits die wissenschaftlichen Produk- schaftlichen Politkberatung arbeiten, um nen 7 Jahren erlangt haben. Die Nutzung tionsprozesse erreicht haben. Blicken wir immer wieder neue Methoden und Ver- partizipativer Methoden und Formate in also in eine Zukunft, in der auch die Ar- fahren auf ihre Eignung für unsere Bera- der parlamentarischen TA ist darauf aus- beit der TA zunehmend von Softwaresys- tungstätigkeit des Deutschen Bundesta- gerichtet, vielfältige Standpunkte von ge- temen übernommen wird? Und wie wäre ges zu prüfen – ohne jedem Trend sofort sellschaftlichen Gruppen sowie Bürge- eine solche Entwicklung zu bewerten? folgen zu wollen. rinnen und Bürgern strukturiert in die Würde sie zu einer Erleichterung und Ef- TAB-Arbeit und in die Dialogprozesse fizienzsteigerung der Arbeit führen? Oder Christoph Revermann

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. des Deutschen Bundestages einzuspeisen. wäre sie aufgrund der Risiken (mangelnde Arnold Sauter Hierfür haben die Kolleginnen und Kolle- Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, Feh- gen vom TAB-Konsortialpartner IZT vor ler bei der Übertragung von Daten, Ma- allem das Konzept des Stakeholder Panel nipulierbarkeit der Systeme, weitere, bis- TA entwickelt sowie spezifische Publika- her noch nicht absehbare Risiken) eher tions- und neue Veranstaltungsformate als problematisch einzuschätzen? Nach etabliert, um die Sichtbarkeit der TA im einem genaueren Blick auf diese und an- Parlament sowie den Dialog zwischen Ab- dere Beispiele zeigt sich, dass diese Fragen geordneten, Expertinnen und Experten derzeit noch nicht beantwortet werden und der interessierten Öffentlichkeit über können. Denn wie so oft bei technologi- aktuelle TA-Themen zu stärken. schen Entwicklungen ist der Hype darum weniger in der Substanz der Entwicklung Simone Ehrenberg, Tobias Jetzke und Son- als in den Erwartungen der Rezipienten ja Kind stellen in ihrem Beitrag »Horizon- und der Aufmerksamkeitsökonomie der Scanning oder wie eine Foresightmetho- Öffentlichkeit begründet. de zur Technikfolgenabschätzung kam« ein weiteres wichtiges Element des me- Wir hoffen, mit den folgenden Schwer- thodischen Spektrums des TAB vor. Das punktbeiträgen zeigen zu können, wie ak- von den Kolleginnen und Kollegen des tuell und zielführend die Beauftragung TAB-Konsortialpartners VDI/VDE-IT des TAB zur Bearbeitung dieser Themen methodisch kontinuierlich weiterentwi- durch den Deutschen Bundestag war und ckelte Horizon-Scanning wurde auf die ist und wie umsichtig und vorausschau- spezifischen Anforderungen einer umfas- end die TAB-Analysen durchgeführt wur- senden TA für den Deutschen Bundestag den und werden. Dabei meinen wir, dass angepasst. So werden primär neue wissen- deutlich wird, dass die aufwendigen Un- schaftlich-technologische Entwicklungen tersuchungsansätze in den großen TA- beobachtet, um möglichst frühzeitig ihre Projekten, in denen eine umfassende ökonomischen, ökologischen, sozialen mittel- und längerfristig orientierte Po- und politischen Veränderungspotenzia- tenzial- und Folgeneinschätzung erfolgt, le zu erfassen und zu beschreiben und da- lohnenswert sind und sich in Ergebnissen durch einen Beitrag zur forschungs- und und Berichten niederschlagen, die auch innovationspolitischen Orientierung und nach Jahren noch erkenntnisbringend für Meinungsbildung des Deutschen Bundes- die parlamentarische Arbeit und resul- tages zu leisten. tierende Politikgestaltung herangezogen werden können. Gleichzeitig hat sich die Pauline Riousset und Steffen Albrecht ge- Erweiterung des Untersuchungsportfo- hen im abschließenden Beitrag »Zukünf- lios sowohl durch das Horizon-Scanning tige Technologien zur Untersuchung tech- als auch durch die neuen Diskurs- und nologischer Zukünfte« der Frage nach, Dialogformate mit den daraus resultie- welche Perspektiven neue, insbesondere renden kürzeren Projekt- und Berichts- digitale bzw. KI-basierte Technologien formen als willkommene Bereicherung

8 Schwerpunkt: Human Enhancement

Den Menschen »weiser und geschickter« machen? Human Enhancement als Dauerthema der TA

Die biomedizinische Forschung und biotechnologische Entwicklungen wer- gesellschaftlichen und politischen Bedeu- den seit jeher mit großen Hoffnungen verbunden, genetisch bedingte tung des Phänomens wurde das TAB vom Krankheiten zu heilen, Demenzerkrankungen zu behandeln oder gelähm- ABFTA 2008 mit einem entsprechenden ten Menschen wieder motorische Fähigkeiten zu verleihen. In solcherart TA-Projekt beauftragt. Forschung und Entwicklung (FuE) wird ein erheblicher gesellschaftlicher Nutzen gesehen, was sich auch in staatlichen Förderprogrammen nieder- Fortschritte in der Neurotechnologie und schlägt. Gleichzeitig befeuern manche Forschungsansätze Visionen, die Robotik haben in den letzten Jahren neue über medizinisch-therapeutische Anwendungen hinausgehen. Was wäre, Möglichkeiten eröffnet, körperliche De- wenn sich bestimmte Fähigkeiten auch bei gesunden Personen pharmako- fizite wie Gliedmaßenverlust oder Ge- logisch steigern ließen oder der menschliche Körper mit technischen Mit- hörlosigkeit technisch zu kompensieren. teln optimiert werden könnte? Derartige Vorstellungen einer Verbesserung Die Rede ist von intelligenten motori- des Menschen werden seit etlichen Jahren unter dem Schlagwort Human schen Prothesen, die sich durch Verka- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Enhancement kontrovers diskutiert, wobei utopische und dystopische Zu- belung mit dem Gehirn des Nutzers per kunftsbilder aufeinanderprallen. Sie werfen grundsätzliche Fragen auf so- Gedanken steuern lassen, oder senso- wohl nach der Wünsch- und Machbarkeit als auch nach den Folgen für den rische Neuroprothesen, durch die Sin- Einzelnen und die Gesellschaft und sind somit klassische TA-Themen, die neseinschränkungen kompensiert werden auch vom TAB in mehreren Projekten und mit Bezug zu unterschiedlichen sollen. Bis auf wenige Ausnahmen, wie technischen Entwicklungen bearbeitet wurden. etwa das Cochlea-Implantat, sind derarti- ge Verfahren allerdings erst in frühen Ent- wicklungsphasen und bieten noch längst Enhancementvisionen als der Sportausschuss des Bundestages 2005 keine zugelassenen und verbreiteten Be- Untersuchungsgegenstand die Durchführung eines TA-Projekts zum handlungsoptionen. Dennoch befeuern Thema Gendoping durch das TAB an. sie weitreichende Anwendungsvisionen Die Übertragung der weitreichenden Vi- jenseits therapeutischer Maßnahmen bis sionen und medizinischen Ziele der Hu- Die konzeptionelle Übertragung der phar- hin zur technischen Weiterentwicklung mangenomforschung auf die Welt des makologischen Möglichkeiten zur phy- der menschlichen Spezies. Superintelli- Sports brachte das Gendopingphantom sischen Leistungssteigerung auf kogniti- gente Maschinen und sogenannte Cy- hervor, das nach der Jahrtausendwende ve Leistungsdimensionen oder seelische borgs – also Menschen, die durch dauer- durch die Medien geisterte. Die Vorstel- Befindlichkeiten nährte eine andere Vi- hafte maschinelle Erweiterungen zu einer lung, dass man (das Medikament) Ery- sion: Was wäre, wenn man mit speziellen Einheit verschmelzen – sind im Science- thropoetin (Epo) nicht mehr spritzen Substanzen nicht nur Muskeln aufbauen, Fiction-Bereich seit Langem beliebte Mo- muss, sondern Blutzellen genetisch so ver- sondern auch die Leistung des Gehirns tive. Angetrieben durch neue technische ändern kann, dass sie ihre Eigenproduk- verbessern könnte? Wenn solche Mittel Entwicklungen werden derartige Visionen tion dieses Sauerstofftransporters erhöhen, keine gravierenden Nebenwirkungen hät- seit einigen Jahren zunehmend populärer. führte bei einigen dopingbekämpfenden ten, könnte deren Einnahme in den heuti- Angesichts der großen Forschungsdyna- Akteuren zu teilweise dystopischen Szena- gen Wissensgesellschaften in Alltags-, Ar- mik im Bereich der Robotik und der Neu- rien und Debatten um die Zukunft des or- beits- und Ausbildungsbereichen durchaus rotechnologien initiierte der Ausschuss ganisierten Sports. Die Welt-Anti-Doping- nützlich sein. Derartige Visionen werden für Digitale Agenda 2014 ein TA-Projekt, Agentur (WADA 2004) setzte Gendoping begrifflich mit Neuroenhancement oder das sich explizit mit den visionären Ten- bereits 2004 vorsorglich auf die Verbotslis- Hirndoping umschrieben. Sie erlebten ei- denzen einer Mensch-Maschine-Entgren- te, obwohl noch weitgehend unklar war, ob nen gewissen medialen Hype, nachdem zung beschäftigte. und wie sportliche Leistungen durch gene- die Wissenschaftszeitung »Nature« 2007 tische Verfahren verbessert werden könn- solche Mittel als »Professor’s little hel- In den genannten TAB-Projekten wurden ten. Aufgrund der langen Dopingtradition pers« titulierte, ihre Leserschaft danach Variationen von Human-Enhancement- vor allem im Spitzensport schien es aber befragte und 20 % von 1.400 Teilnehmen- visionen hinterfragt und geprüft, die aus plausibel, dass trotz Verbot und weitrei- den entsprechenden Substanzkonsum zur technischen Fortschritten in unterschied- chender Sanktionen eine gewisse Bereit- mentalen Leistungssteigerung zugaben lichen lebenswissenschaftlichen und in- schaft bestand, auch medizinisch hoch- (Sahakian/Morein-Zamir 2007). Wegen formationstechnischen Bereichen abge- riskante und nicht ausreichend geprüfte der erheblichen Unsicherheiten in Bezug leitet wurden (Gen-/Neurotechnologie, Mittel und Verfahren auszuprobieren – vor auf das grundsätzlich Machbare, die Ver- Pharmakologie, Robotik): Was daran war allem dann, wenn die Wahrscheinlichkeit breitung von Neuroenhancement auch in Wunschdenken, was erschien realistisch der Entdeckung klein ist. In der Folge regte Deutschland sowie zur Abschätzung der und machbar? Welche möglichen Folgen

9 Schwerpunkt: Human Enhancement

zeichneten sich auf individueller, kollekti- tischem Material, die gezielte Steigerung schaftlich zu tolerieren, wenn nicht gar zu ver und gesellschaftlicher Ebene ab? der Genaktivität oder sonstwie pharma- befördern sei (Greely et al. 2008; Schöne- kologisch erfolgt, ist für die Entwicklung Seifert/Talbot 2009). Da es in Alltags-, von Nachweisverfahren zwar höchst rele- Aus bildungs- und Arbeitsumgebungen Herangehensweise des TAB vant, für eine darüberhinausgehende Fol- kaum aktiv gegensteuernde Strukturen genbetrachtung, insbesondere unter dem gab, sah das TAB im Neuroenhancement In allen drei Projekten wurden visionä- Blickwinkel der Prävention, jedoch weit- weit größere gesellschaftliche Herausfor- re Zukunftserwartungen thematisiert, gehend irrelevant. Jegliches Doping birgt derungen als im Gendoping und setzte deren Machbarkeit unklar war. Deshalb erhebliche gesundheitliche Risiken, ver- sich nach der Beauftragung mit den Vi- wurde jeweils zunächst der Stand des zerrt den Wettkampf, ist verboten und sionen zum Neuroenhancement in zwei Wissens und der Technik dezidiert er- wird dennoch praktiziert. Die Brisanz Phasen schrittweise auseinander (Sauter/

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. fasst. Dies schloss u. a. Fragen zur An- des Themas lag und liegt daher bei der Gerlinger 2012). wendungsreife gentechnischer Eingriffe Frage der Nachweismöglichkeit, denn ge- und neurotechnologischer Verfahren so- richtsfeste Nachweisverfahren sind eine Die Explorationsphase diente einer breit wie zum Wirkungsspektrum verfügbarer zwingende Voraussetzung für die Durch- angelegten Wissensbestandsaufnahme Psychopharmaka und anderer Wirkstof- setzung der formal existierenden (Gen-) u. a. zum Wirkungsspektrum relevan- fe ein. Anschließend wurden bereichsspe- Dopingverbote, die nicht nur in den Re- ter Psychopharmaka und entsprechend zifische normative Rahmenbedingungen gularien des Wettkampfsports, sondern beworbener Nahrungs- und Genussmit- auf ihre Passfähigkeit sowie sich heraus- in Deutschland auch im Arzneimittelge- tel sowie der Darstellung der sozialwis- bildende gesellschaftliche Einstellungen setz und in den Berufsordnungen der Ärz- senschaftlichen, ethischen und rechtli- und Konzepte zum Umgang mit dem je- tinnen und Ärzte verankert sind. Wenn chen Debatten. In der Vertiefungsphase weiligen Phänomen untersucht. wegen fehlender Testverfahren kein Fehl- wurde mit Blick auf die kurz- und mit- verhalten nachweisbar ist, gewinnen an- telfristige gesellschaftliche und politische Im Gendopingprojekt ergab die techni- dere präventive Ansätze zur Vermeidung Bedeutung das Spektrum möglicher En- sche Bestandsaufnahme, dass das Wissen von (Gen-)Doping an Relevanz. Eine Stär- hancementmittel auf pharmakologisch zu möglichen Hochleistungsgenvarianten kung der Dopingprävention ist zweifels- wirksame Substanzen begrenzt. Anhand begrenzt, unscharf und wenig spezifisch ohne eine Aufgabe des Staates als größtem zweier Zukunftsszenarien wurden Her- war (Gerlinger et al. 2008). Bis heute geht Förderer des Sports (Gerlinger et al. 2008). ausforderungen und Folgedimensionen man davon aus, dass viele Gene zusam- herausgearbeitet, die sich einerseits bei menwirken und aufwendige Trainingsme- Etliche Annahmen, die man auch beim gesellschaftlicher Tolerierung (Business- thoden nötig sind, um besondere physi- Doping anfänglich formulierte, aber im as-usual-Szenario) und andererseits bei sche Fähigkeiten entwickeln zu können. Wettkampfsport längst aufgegeben hat- aktiver Beförderung (Erweiterungsszena- Damit erscheinen Ansätze zur gezielten te, wurden in der Debatte zum Neuroen- rio) ergeben würden. Parallel wurde das Selektion oder dauerhaften Veränderung hancement erneut formuliert: seit Jahrzehnten real existierende Doping- der genetischen Disposition grundsätzlich phänomen im Sport dahingehend unter- wenig erfolgversprechend. › die Annahme einer wirkungsvollen sucht, welche der dort prägenden Verhal- und gleichzeitig nebenwirkungsar- tensformen und Systembedingungen auch Realistischer ist, dass andere gentechni- men pharmakologischen Verbesserung für (Neuro-)Enhancement in Berufs- und sche Ansätze zur physischen Leistungs- menschlicher (hier: kognitiver) Fähig- Alltagssituationen relevant sein könnten steigerung verwendet werden könnten, keiten gesunder Menschen; (Sauter/Gerlinger 2012). wobei Eingriffe in Genexpressionsprozes- › die Annahme der Nützlichkeit (hier: se 2008 kurz- bis mittelfristig relevanter in modernen Wissensgesellschaften); Die Bestandsaufnahme ergab, dass eine erschienen als das Einbringen von gene- › die Annahme der freien Entscheidung mentale Leistungssteigerung mit unter- tischem Material oder genetisch verän- des Einzelnen in Bezug auf die Sub- schiedlichen Substanzen sowohl eine Wir- derten Zellen. Als wahrscheinlich galt stanzeinnahme in hochgradig kompe- kungs- als auch eine Nebenwirkungs(frei- (und gilt), dass sich die Ziele eines mög- titiven Strukturen. heits)illusion ist. Das beginnt bereits da- lichen Gendopings mit denen konventio- mit, dass es für die Bestimmung und neller Dopingstrategien weitgehend de- Diese Annahmen wurden in der Neu- Erfassung geistiger Leistungen keine fest- cken: Es geht dabei um die Verbesserung roenhancementvision gebündelt, zu der stehenden Messkonzepte wie im Wett- des Muskelaufbaus, der Sauerstoffversor- dann eine bioethische Debatte begann, in kampfsport gibt. Dafür sind Arbeits-, gung und/oder der Energiebereitstellung. der u. a. diskutiert wurde, inwiefern ent- Alltags- und Lernumfelder viel zu divers Ob dies durch die Übertragung von gene- sprechendes Verhalten zumindest gesell- und dynamisch. Die bloße Erfassung ein-

10 Schwerpunkt: Human Enhancement

zelner Hirnfunktionen oder kognitiver, makologische Enhancementsubstanzen Die wohl weitreichendsten und radikalsten emotio naler oder sozialer Fähigkeitsdi- in den derzeitigen Strukturen nicht syste- Zukunftsvisionen einer technischen Opti- mensionen oder Erregungszustände mag matisch erforscht, entwickelt und bereit- mierung des Menschen waren im Projekt ein Indikator sein, reicht jedoch zur tat- gestellt werden können. Dafür müssten zur Mensch-Maschine-Entgrenzung The- sächlichen Erfassung mentaler menschli- neue rechtliche Rahmungen geschaffen ma (TAB 2016). Im Unterschied zum Neu- cher Leistungen nicht aus. Ob Wirkstoffe werden, wobei keine Hinweise gefunden roenhancement ging es hier nicht nur um in den Konzentrationen, in denen sie in wurden, dass ein solches Erweiterungs- Erwartungen an kurzfristige Leistungs- Lebens-, Nahrungsergänzungs- oder Ge- szenario eine realistische Option werden steigerungen, sondern um eine grund- nussmitteln enthalten sein dürfen, jenseits könnte. Die Fragen nach Freigabe oder legende Überwindung der biologischen der Überbrückung kurzfristiger Müdig- Verbot von Enhancementsubstanzen so- Grenzen des Menschen durch technische keitsattacken überhaupt relevante leis- wie letztlich ein Großteil der bioethischen Geräte, die buchstäblich unter die Haut tungsassoziierte Effekte haben können, Debatte beruhten folglich auf einer (De-) gehen und mit dem Menschen verschmel- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. ist fraglich. Für die These, dass pharma- Regulierungsillusion, für die es keine kon- zen. Sowohl Entwicklungen in der Robo- kologisch wirksame Substanzen, die die kreten gesellschaftlichen oder politischen tik als auch im Bereich der Neurotechno- Blut-Hirn-Schranke passieren und die di- Anhaltspunkte gab und gibt. logien befeuern entsprechende Visionen, rekt in die im Gehirn ablaufenden Pro- allerdings aus unterschiedlichen Richtun- zesse eingreifen, nebenwirkungsfrei oder Eine weitere Leerstelle der Enhancement- gen: Auf der einen Seite lassen neurotech- zumindest nebenwirkungsarm sind, gab debatte lag aus Sicht des TAB in der feh- nologische Anwendungen wie Hör- oder (und gibt) es keinerlei Praxisbelege (Sau- lenden Auseinandersetzung mit den Sehprothesen den technisch modifizier- ter/Gerlinger 2012). langjährigen Dopingdiskussionen. Eine ten Menschen als zunehmend reale Mög- Nichtvergleichbarkeit wurde und wird lichkeit erscheinen – es gibt bereits erste Um die Neuroenhancementdebatte zu Ka- meist oberflächlich mit fehlenden Wett- Trägerinnen und Träger von Cochlea-Im- tegorien wie Autonomie und Freiwilligkeit bewerbsstrukturen oder Fair-Play-Regeln plantaten, die sich selbst als Cyborg be- des Einzelnen oder zu Gerechtigkeit und in Alltagswelten begründet und Neuroen- zeichnen. Auf der anderen Seite stimulie- staatlichem Handeln in Bezug auf Sub- hancement daher kategorisch abgegrenzt ren aktuelle Entwicklungen in der Robotik stanzfreigaben oder -verboten überhaupt (Galert et al. 2009). Dadurch blieben etli- Vorstellungen einer kompletten artifiziel- führen zu können, setzen sich viele Teil- che Parallelen zu frühen Dopingdebatten len Nachbildung des Menschen in Form nehmende insbesondere in bioethischen unerkannt. Die Auffassung, dass pharma- humanoider Roboter, was zusammen mit Debatten über diese Tatsachen weitgehend kologische Leistungssteigerung nur ge- der Übertragung des Geistes eines Indi- hinweg. Diskutiert wird z. B über Gerech- ringe Nebenwirkungen und Spätfolgen viduums (»mind uploading«) dessen vir- tigkeitsfragen anhand der hypothetischen habe, hielt sich lange. Die retrospektive tuelle Unsterblichkeit sicherstellen soll. Annahme, es gäbe wirkungsvolle, neben- Auseinandersetzung mit dem jahrzehn- wirkungsarme Substanzen (Galert et al. telangen Dopinggeschehen und mit sys- Auch im Projekt zur Mensch-Maschine- 2009). Dieser argumentative Kniff (im temischen Dopingstrukturen bis hin zum Entgrenzung wurde der Entwicklungs- Sinne einer spekulativen Bioethik) ne- Staatsdoping widerlegte nicht nur diese stand in den relevanten Technikfeldern giert nicht nur die äußerst dünne empi- Annahme. Sie zeigte auch, dass Doping genau untersucht. Da es sich um ein Son- rische Datenlage zur Wirksamkeit kog- ein Prozess ist und eine Entwicklung an- dierungsprojekt handelte, wurde jedoch nitiv-leistungssteigernder Substanzen, stößt. Aus einem kurzfristigen Nutzen auf auf einen vertiefenden Blick auf relevan- sondern auch die über Jahrzehnte aufge- der individuellen Ebene wird im nächsten te Anwendungsfelder verzichtet. Ziel war bauten medizinethischen und -rechtlichen Schritt eine gewisse Notwendigkeit, weil es vielmehr, die Umsetzungschancen po- Rahmenbedingungen für die Erforschung, sonst das Leistungsniveau nicht gehalten pulärer Entgrenzungsvisionen allgemein Entwicklung und Verbreitung pharmako- oder gar weiterentwickelt werden kann zu bewerten. Den Ausgangspunkt der Be- logisch wirksamer Substanzen. Im TAB- und eine Abkehr vom Doping in der Re- trachtung bildeten entsprechend nach Art Projekt wurde diese Leerstelle geschlos- gel das Ende der sportlichen Laufbahn be- eines Vision Assessments die sehr weitrei- sen und gezeigt, dass das Forschungsziel deutet. Wenn Doping in einer Sportart um chenden Zukunftsvorstellungen, die den bzw. die Substanzwirkung »Leistungsstei- sich greift, ziehen auch die Leistungs- und gesellschaftlichen Diskurs rund um Ro- gerung bei Gesunden« weder zu den gül- Wettkampfanforderungen an. Wer nicht botik und Neurotechnologien bestimmen tigen, in langwierigen Prozessen etablier- mitmacht, hat dann schlechtere Karten. und den Anbruch eines neuen trans- oder ten Zulassungsvorschriften für klinische Damit kann auch die Annahme, die oder gar posthumanistischen Zeitalters pro- Studien noch zum Vertrieb entsprechen- der Einzelne würde sich völlig frei für oder phezeien. Im TAB-Projekt wurden die der Produkte passt. Das Business-as- gegen Doping entscheiden, bezweifelt wer- historischen Ursprünge und gesellschaft- usual-Szenario verdeutlichte, dass phar- den (Singler 2012). lichen Triebkräfte derartiger Visionen so-

11 Schwerpunkt: Human Enhancement

wie die sie umgebenden Debatten detail- grenzung als wichtig erscheinen. Das Ziel kologisch wirkenden Substanzen als mit liert aufgearbeitet (TAB 2016). müsste sein, die weitere technische Ent- Nukleinsäuren, gilt jedoch nicht als Gen- wicklung mit gesellschaftlichen Werten doping. Die ab 2005 von der WADA orga- Dabei zeigte sich, dass die zugrundeliegen- und Zielen in Einklang bringen zu können. nisierten spezifischen Forschungssympo- den Ideen und Erwartungen weitgehend Wie sich dies angesichts sehr weitreichen- sien fanden 2013 letztmalig statt. Seitdem deckungsgleich sind mit Spekulationen, der Zukunftserwartungen und Anwen- ist es um das Gendopingthema bzw. die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dungsvisionen realisieren lässt, wurde im -phantom ruhiger geworden. Die selten angestellt wurden und aktuell vor allem Projekt zur Mensch-Maschine-Entgren- gewordenen medialen Wiederbelebungs- von Akteuren aus dem Umfeld der US- zung allerdings nicht weiter vertieft, son- versuche bringen kaum Neues hervor. Da- amerikanischen Tech-Branche aufgegrif- dern erst in einem Anschlussprojekt zur bei wird häufig darauf verwiesen, dass fen, popularisiert und teils durch eigene Pflegerobotik behandelt (TAB 2018). sich der Bundestag bereits vor mehr als

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Forschungen vorangetrieben werden. Die 10 Jahren des Themas annahm (Knaack technologische Bestandsaufnahme führte 2019). Der Gendopingbericht gilt nach allerdings zu dem Schluss, dass der Reali- Ein Blick zurück nach vorn wie vor als eine Art Standardwerk für die tätsgehalt der propagierten Visionen der- Auseinandersetzung mit der Thematik. zeit als eher gering einzuschätzen ist. Eine In den TAB-Projekten wurden jeweils me- weitgehende Verschmelzung von Mensch dial ausgeschmückte und zum Teil über Der Bericht zum pharmakologischen Neu- und Maschine dürfte absehbar bereits da- lange Zeiträume gehypte Visionen Schritt roenhancement entzauberte zwar den auf ran scheitern, dass die erforderlichen Neu- für Schritt entmystifiziert, indem damit Wirksamkeitsannahmen beruhenden roimplantate noch nicht über die nötige verbundene Zukunftserwartungen anhand Hype der Debatte. Es wurde jedoch auch Langzeitstabilität verfügen und operati- des aktuellen Stands der Technik und des darauf hingewiesen, dass es trotzdem Men- ve Eingriffe erforderlich machen, die mit Wissens einem gründlichen Realitätscheck schen in Ausbildungs-, Arbeits- und All- großen gesundheitlichen Risiken einherge- unterzogen wurden. Wie sind die Ergeb- tagwelten gibt, die Psychopharmaka zur hen. Außerdem sind bisherige Anwendun- nisse der TAB-Analysen heute, mit eini- Bewältigung von Leistungsanforderungen gen häufig mit Nebenwirkungen, teilwei- gen Jahren Abstand, zu beurteilen? Wel- einnehmen. Auch wenn die Verbreitung in se auch mit Persönlichkeitsveränderungen che Schlussfolgerungen lassen sich daraus Deutschland wohl viel kleiner ist, als die verbunden (z. B. bei der tiefen Hirnstimula- für die zukünftige Befassung mit ähnlich Nature-Umfrage vermuten ließ, deutet dies tion). Der Einsatz wird deshalb bisher nur gelagerten Visionen ableiten? dennoch auf eine problematische Über- zur Behandlung gravierender Einschrän- forderungssituation einiger Menschen in kungen oder Krankheiten in Erwägung ge- Grundsätzlich kann man sagen, dass sich der Ausbildungs-, Arbeits- und Lebens- zogen. Ein breiter Einsatz derartiger Neu- die Vision der wirkungsvollen und zu- welt hin. Dies schien dem TAB damals die rotechnologien bei gesunden Menschen gleich nebenwirkungsarmen Verbesse- eigentliche gesellschaftliche Herausforde- ist auf absehbare Zeit wohl kaum zu er- rung von Fähigkeiten und Leistungen ge- rung zu sein. Die diesbezüglich relevanten warten – geschweige denn die technische sunder Personen mit unterschiedlichen Fragen und Aufgaben, die näher unter- Überwindung menschlicher Begrenzun- biotechnologischen Ansätzen in allen sucht, durch Handeln im Bereich des Ar- gen, wie sie in transhumanistischen Visio- drei Fällen als weitgehend spekulativ he- beits- und Gesundheitsschutzes und der nen propagiert wird (TAB 2016). rausstellte. Zumindest um die Themen Prävention angegangen sowie in Politik Gendoping und Neuroenhancement ist und Gesellschaft verhandelt werden soll- Die Fokussierung der öffentlichen Debat- es in den letzten Jahren deutlich stiller ten, lassen sich wohl nur schlecht unter te auf spekulative, transhumanistisch ins- geworden. dem Label Enhancement versammeln. Es pirierte Entgrenzungsvisionen erweist sich geht vielmehr um den Umfang von und vor diesem Hintergrund als wenig hilf- Das TAB bewertete 2008 die Gefahr, dass den Umgang mit Leistungsvorgaben und reich. Denn dies lenkt von den eigentlich risikobereite Personen auch hochriskan- Leistungsanforderungen in der globalisier- drängenden, allerdings weniger spekta- te, nichtzugelassene gentechnologische ten Ausbildungs- und Arbeitswelt. kulären Herausforderungen ab – z. B. von Verfahren zum Doping missbrauchen, als der Frage, inwiefern individuelle Autono- durchaus möglich und empfahl u. a. eine Dieser Einschätzung folgend hat die Bun- mie und Subjektivität bedroht sind, wenn kontinuierliche Beobachtung der Situa- desanstalt für Arbeitsschutz und Arbeits- maschinell in das menschliche Denkorgan tion. Bis heute ist unklar, ob die ohnehin il- medizin (Schröder et al. 2015) von 2012 eingegriffen wird. Solche grundlegenden legalen Ansätze zum Gendoping den Weg bis 2014 in einer groß angelegten Studie Fragen lassen eine sachliche gesellschaft- in die Praxis gefunden haben. Die als rele- den Einfluss psychischer Belastungen liche Debatte zu den Implikationen und vanter eingestufte Beeinflussung der Gen- am Arbeitsplatz auf das Neuroenhance- Konsequenzen der Mensch-Maschine-Ent- expression gelang bisher eher mit pharma- ment durch aufwendige empirische Un-

12 Schwerpunkt: Human Enhancement

tersuchungen an 4.000 beruflich besonders schritte, die in den letzten Jahren erzielt rah, M. (2008): Towards responsible use of geforderten Erwerbstätigen untersuchen wurden, lassen eine technische Optimie- cognitive enhancing drugs by the healthy. lassen. Die Ergebnisse der Studie deuten rung des Menschen (z. B. mittels KI-ba- In: Nature 456, S. 702–705 darauf hin, dass die Einnahme vermeint- sierter Mensch-Maschine-Schnittstellen) lich leistungssteigernder Substanzen noch heute zunehmend plausibler erscheinen. Knaack, B. (2019): Ein Leben lang gedopt. nicht weit verbreitet ist. Sie weisen auf ei- Auch wenn die im TAB-Projekt getroffe- Spiegel sport online, 8.1.2019, www.spiegel. nen Zusammenhang zwischen Arbeits- nen Einschätzungen zu den Möglichkei- de/sport/sonst/gendoping-im-sport-ein- belastungen und Neuroenhancement hin ten und Grenzen der Mensch-Maschine- leben-lang-gedopt-a-1246962.html und zeigen, dass vermeintlich leistungs- Entgrenzung nach wie vor zufreffen, ist steigernde Präparate bei hoher Belastung davon auszugehen, dass transhumanis- Sahakian, B.; Morein-Zamir, S. (2007): punktuell eingenommen wurden – weil die tische Visionen durch die weitere techni- Professor’s little helper. In: Nature 450(20),

Betroffenen befürchteten, den Anforde- sche Entwicklung neue Impulse erhalten S. 1157–1159 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. rungen nicht gewachsen zu sein. Das TAB und das TAB auch zukünftig beschäfti- wurde über eine wissenschaftliche Beirats- gen können. Neben einer kontinuierlichen Sauter, A.; Gerlinger, K. (2012): Der phar- mitgliedschaft in das Projekt eingebunden. Evaluation des Entwicklungsstandes rele- makologisch verbesserte Mensch. Leis- vanter Anwendungen, die angesichts der tungssteigernde Mittel als gesellschaftli- Es war bei Weitem nicht das erste Mal, Geschwindigkeit des technischen Fort- che Herausforderung. Studien des TAB 34, dass die gründliche Befassung des TAB schritts geboten scheint, wird es dabei Berlin mit einem zunächst technologiespezifi- vor allem darauf ankommen, auf die öf- schen Thema zu einer problemorientier- fentliche Debatte über die sich erst dun- Schöne-Seifert, B.; Talbot, D. (Hg.) (2009): ten Perspektive führte. Aber es war doch kel am Horizont abzeichnenden Anwen- Enhancement. Die ethische Debatte. außergewöhnlich, wie wenig von der Vi- dungsvisionen Einfluss zu nehmen. Denn Paderborn sion eines pharmakologischen Neuro- eine fundierte gesellschaftliche Ausein- enhancements am Ende übrig blieb. Es andersetzung mit dem Phänomen der Schröder, H.; Köhler, T.; Knerr, P.; Kühne, scheint fast eine logische Konsequenz zu Mensch-Maschine-Entgrenzung ist nur S.; Moesgen, D.; Klein, M. (2015): Einfluss sein, dass angesichts des Stands von For- möglich, wenn die dominierenden Techni- psychischer Belastungen am Arbeitsplatz schung und Entwicklung die Vision der sierungs- und Optimierungsvisionen hin- auf das Neuroenhancement – empirische mentalen Leistungssteigerung mit Psy- terfragt und alternative Zukunftsperspek- Untersuchungen an Erwerbstätigen. Bun- chopharmaka in sich zusammenfiel, wäh- tiven aufgezeigt werden. Mit einem Vision desanstalt für Arbeitsschutz und Arbeits- rend psychische Belastungen in Ausbil- Assessment, das die sozialen Treiber und medizin, Dortmund u. a. O. dungs- und Arbeitskontexten bis heute Kontexte sowie normativen Leitbilder der immer wieder Thema auch der politischen visionären Debatten offenlegt, kann die Singler, A. (2012): Autonomie- und Nütz- Befassung sind. Genauso gut ließe sich TA dazu einen wichtigen Beitrag leisten. lichkeitsillusionen beim Doping im Sport. eine andere Vision oder ein politisches In: TAB-Brief Nr. 40, S. 21–27 Leitbild konstruieren: das einer Wissens- Katrin Gerlinger gesellschaft mit attraktiven Ausbildungs-, Christoph Kehl TAB (2016): Technologien und Visio- Arbeits- und Lebensverhältnissen, die so nen der Mensch-Maschine-Entgrenzung gestaltet sind, dass Leistungsanforderun- (Kehl, C.; Coenen, C.). TAB-Arbeitsbe- gen begrenzt sowie Überforderungen ver- Literatur richt Nr. 167, Berlin mieden werden und sich Menschen aus innerer Motivation beteiligen und frei Galert, T.; Bublitz, C.; Heuser, I.; Merkel, TAB (2018): Robotik und assistive Neuro- entfalten können. Die Entwicklung der- R.; Repantis, D.; Schöne-Seifert, B., Tal- technologien in der Pflege – gesellschaft- artiger Alternativvisionen ist jedoch keine bot, D. (2009): Das optimierte Gehirn. In: liche Herausforderungen (Kehl, C.). TAB- eigentliche Aufgabe der TA bzw. des TAB. Gehirn und Geist 11/2009, S. 40–48 Arbeitsbericht Nr. 177, Berlin

Im Unterschied zum Gendoping oder dem Gerlinger, K.; Petermann, T.; Sauter, A. WADA (World Anti-Doping Agency) Neuroenhancement sind transhumanisti- (2008): Gendoping. Wissenschaftliche (2004): The World Anti-Doping- sche Zukunftsvisionen, die gegenwärtig im Grundlagen – Einfallstore – Kontrolle. Code. The 2004 Prohibited List Inter- Kontext der Mensch-Maschine-Entgren- Studien des TAB 28, Berlin national Standard. www.wada-ama. zung diskutiert werden, so lebendig wie eh org/sites/default/files/resources/files/ und je. Die Forschungsdynamik in der Ro- Greely, H.; Sahakian, B.; Harris, J.; Kess- WADA_Prohibited_List_2004_EN.pdf botik und die neurotechnologischen Fort- ler, R.; Gazzaniga, M.; Campbell, P.; Fa-

13 Schwerpunkt: CCS-Technologien

CCS: über enttäuschte Hoffnungen, ungedeckte Schecks und dringende Notwendigkeiten

Um den menschenverursachten Klimawandel aufzuhalten, stehen vielfäl- › Potenziale und Risken von Techno- tige Instrumente zur Verfügung. Eines davon ist die Idee, CO2 aus Abga- logien zur Realisierung von negativen sen oder direkt aus der Luft abzuscheiden, um es anschließend für lange CO2-Emissionen waren Thema im 2014 Zeit unterirdisch zu lagern (Carbon Capture and Storage – CCS). In die CCS- veröffentlichten TAB-Arbeitsbericht Technologie wurden und werden große Hoffnungen gesetzt. Auch das TAB »Climate Engineering« (TAB 2014). hat sich bereits mehrfach mit den Potenzialen und Risiken der Technologie › Die Rolle der CCS-Technologie als auseinandergesetzt. Auf der Grundlage der hierbei gewonnenen Erkennt- Option zur Reduktion der CO2-Emis- nisse wird der Frage nachgegangen, welcher Beitrag für den Klimaschutz sionen in der Industrie wird im 2021 von der CCS-Technologie erwartet werden kann. beginnenden TA-Projekt »Alternative Technologiepfade für die Emissions- reduktion in der Grundstoffindustrie«

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 Eine Technologie, in die sowohl für die näher beleuchtet. verpflichtet die globale Staatengemein- Reduktion der CO2-Emissionen als auch schaft, Maßnahmen zu ergreifen, um den für die Realisierung von negativen CO2- Im Folgenden werden wichtige Erkennt- globalen Temperaturanstieg in diesem Emissionen große Erwartungen gesetzt nisse aus der jahrelangen Befassung des Jahrhundert zumindest unter 2 °C über werden, ist die Abscheidung von CO2 aus TAB mit der CCS-Technologie resümiert dem vorindustriellen Niveau zu halten, Abgasen oder direkt aus der Luft und und die Frage gestellt, welche Lehren da- und weitere Anstrengungen zu unterneh- dessen unterirdische Lagerung (CCS). raus für die derzeit wieder aufflammen- men, um den Temperaturanstieg mög- Innerhalb der letzten 20 Jahre trat und de Debatte um die CCS-Technologie ge- lichst auf 1,5 °C zu begrenzen. Die ge- tritt die CCS-Technologie in unter- zogen werden können. genwärtig angekündigten Minderungen schiedlichen Anwendungskontexten als genügen allerdings noch nicht, um dieses mögliche Klimaschutzmaßnahme auf: Ziel zu erreichen – vielmehr wäre mit ei- CCS – lebensverlängernde nem Temperaturanstieg von bis zu 2,7 °C › Etwa seit dem Jahr 2000 wird die Idee Maßnahme für gegenüber dem vorindustriellen Niveau diskutiert, CO2 direkt im Abgasstrom Kohlekraftwerke? zu rechnen (https://climateactiontracker. von fossil befeuerten Kraftwerken org/global/temperatures). abzuscheiden, um dadurch den Aus- Mit der Veröffentlichung des Sonder- stoß des Energiesektors zu reduzieren. berichts des IPCC (2005) im Jahr 2005 Soll das Klimaziel des Pariser Abkom- › Seit ca. 2010 hat in den Klimawis- erschien die CCS-Technologie erstmals mens eingehalten werden, so sind in senschaften das Konzept der negati- auf der politischen Landkarte möglicher den kommenden Jahren weltweit deut- ven CO2-Emissionen zunehmend an Optionen zur Minderung anthropogener lich stärkere Anstrengungen zur Reduk- Relevanz gewonnen. Entsprechende CO2-Emissionen. Befürworter dieser Op- tion des anthropogenen Treibhausgas- technische Ansätze sehen u. a. eine tion versprachen sich davon, große Men- ausstoßes notwendig. Das verbleibende großskalige Anwendung der CCS- gen an CO2 aus Kraftwerken oder Indus- Kohlenstoffbudget zur Einhaltung des Technologie in Verbindung mit der trieanlagen unterirdisch in geologischen 1,5-°C-Ziels, also die Gesamtmenge an Energieerzeugung aus Biomasse vor. Formationen, wie etwa porösen wasser- CO2, welche die Menschheit der Atmo- › Seit 2018 erlebt die CCS-Technologie führenden Schichten oder ausgeförderten sphäre insgesamt noch hinzufügen kann, im deutschen Klimadiskurs eine noch Erdöl- bzw. Erdgasfeldern, dauerhaft ein- ohne dass die globale Erwärmung in die- weitergehende Aufmerksamkeit, dies- lagern zu können – bei lediglich modera- sem Jahrhundert diese kritische Mar- mal als Komponente in den Strategien ten Kosten und überschaubaren Risiken. ke überschreitet, wird auf rund 420 bis zur Dekarbonisierung der Industrie. Technologische Durchbrüche wären nicht 570 Mrd. t CO2 geschätzt. Bei aktuel- erforderlich, da es bei der CO2-Abschei- len CO2-Emissionen von rd. 42 Mrd. t Das TAB hatte bzw. hat die Gelegenheit, dung um konventionelle chemische Pro- pro Jahr würde dies noch für etwas sich mit den Potenzialen und Risiken der zesse sowie beim Transport und bei der mehr als 10 Jahre reichen (IPCC 2018, CCS-Technologie in allen der zuvor ge- Einbringung des CO2 in Gesteinsschich- S. 18 f.). Wird das Kohlenstoffbudget je- nannten Anwendungskontexten inten- ten um bekannte Verfahren aus der Erdöl- doch überzogen, so muss – um das Tem- siv auseinanderzusetzen: bzw. Erdgasförderung geht. Bei zu dieser peraturziel noch einhalten zu können – Zeit publizierten Roadmaps wurde davon das überschüssige CO2 wieder aus der › 2007 erschien der TAB-Arbeitsbericht ausgegangen, dass die komplette Techno- Luft entfernt werden (sogenannte nega- »CO2-Abscheidung und -Lagerung bei logiekette bis 2020 im Kraftwerksmaß- tive CO2-Emissionen). Kraftwerken« (TAB 2007). stab kommerziell verfügbar sein könnte (BMWi et al. 2007).

14 Schwerpunkt: CCS-Technologien

Ein Vorreiter war Norwegen, denn die Die Kernaussage des TAB-Berichts (TAB sowohl Pilotanlagen als auch kommer- Vorstellung, Erdgas zu fördern, in Was- 2007) bestand – für Kenner der TA wenig zielle Großanlagen ermöglichen sollte. serstoff umzuwandeln und das dabei ent- überraschend – darin, dass es für die er- Die klimapolitische Notwendigkeit, CCS stehende CO2 abzuscheiden und wieder folgreiche Umsetzung von Technolo gien als CO2-Minderungsoption ergebnisof- in die Lagerstätten zurückzuführen, er- ganz entscheidend auf die rechtlichen und fen weiterzuentwickeln, wurde dabei in schien als ökonomisch attraktives und politischen Rahmenbedingungen und Expertenkreisen breit geteilt. So beton- klimapolitisch sinnvolles Geschäfts- auf die gesellschaftliche Akzeptanz an- te etwa das Öko-Institut (2009) in einer modell. So versprach Ministerpräsident kommt. Denn insbesondere »die öffent- Stellungnahme zum Gesetzentwurf: »Auf Stoltenberg 2007, dass die Investitionen liche Wahrnehmung kann erhebliche und die Option CCS mit einem signifikanten in die CCS-Technologie die norwegi- unerwartete Auswirkungen auf geplante Beitrag zur Minderung von Treibhaus- sche »Mondlandung« sein würden. In Technologie- und Infrastrukturprojekte gasemissionen und zweifelsohne vorhan-

Deutschland war das Interesse an der haben. Auseinandersetzungen – beispiels- denen, aber beschränkten Risiken kann – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. CCS-Technologie klar getrieben von der weise um Kernenergie und Gentechnik – im Rahmen einer ambi tionierten Kli- Vorstellung, die Klimawirkungen von legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Tech- mapolitik nicht ohne Weiteres verzich- Kohlekraftwerken zu minimieren und nologien wie CCS mit teilweise schwer tet werden.« so deren Betrieb auf Jahre hinaus zu si- einschätzbaren langfristigen Risiken für chern. So beteiligten sich etwa am Pilot- Sicherheit, Gesundheit und Umwelt sind In der Öffentlichkeit jedoch entstand der projekt im brandenburgischen Ketzin die besonders anfällig dafür, öffentliche Be- Eindruck, dass die großtechnische Ein- großen Kohlekraftwerksbetreiber RWE unruhigung und gegebenenfalls Wider- führung der Technologie kurz bevorste- und Vattenfall als Industriepartner. stand auszulösen« (TAB 2007, S. 10). hen würde, umso mehr als einige Unter- nehmen bereits Explorationstrupps in In dieser Phase wurde das TAB vom Bun- Zur Vermeidung von Akzeptanz- und Regionen schickten, um für die CO2-Ein- destag beauftragt, den Wissensstand zu Vertrauenskrisen regte das TAB (2007, lagerung geeignete geologische Formati- erheben und kritische Wissenslücken – S. 10) daher ein bedachtes Vorgehen onen zu erkunden. Aufseiten der Betrof- z. B. bezüglich der Speichersicherheit, der durch die frühzeitige Organisation ei- fenen wurden Befürchtungen laut, zum Kosten, der Verfügbarkeit der Technik – nes ergebnisoffenen Dialogprozesses »Endlager« für CO2 auserkoren zu sein. zu identifizieren. Der bestehende recht- zwischen Industrie, Interessengruppen, Einzelne Klauseln im Gesetzentwurf liche Rahmen für die CCS-Technologie Wissenschaft und Öffentlichkeit an. In (Bundesregierung 2009) bestärkten die- sollte im Hinblick auf mögliche Defizi- Bezug auf die Gestaltung des Regulie- se kritischen Stimmen. So war etwa vor- te und gesetzgeberischen Handlungsbe- rungsrahmens war nach Auffassung des gesehen, dass nach 30 Jahren die Haftung darf analysiert werden. Und last but not TAB eine schrittweise Herangehenswei- für etwaige Schäden von den Betreiber- least sollte untersucht werden, wie sich se durch einen zweistufigen Ansatz an- unternehmen auf den Staat übergehen die Wahrnehmung bzw. Akzeptanz der zuraten: Im Zuge einer kurzfristig zu re- sollte. Diese – im Bergrecht nicht unüb- CCS-Technologie in Fachkreisen und in alisierenden Interimslösung sollten die liche Regelung – wurde so interpretiert, der Öffentlichkeit darstellt. rechtlichen Voraussetzungen geschaf- dass unabsehbare Langzeitrisiken auf die fen werden, damit Vorhaben, die über- Allgemeinheit abgewälzt werden sollten Die Auffassung, dass die CCS-Techno- wiegend der Erforschung und Erprobung (Greenpeace 2009). logie eine ernstzunehmende Option sein der CO2-Ablagerung dienen, zeitnah ge- könnte, um die Klimaziele auch ohne startet werden können. Gleichzeitig soll- Wie schnell in der Folge die Stim- Disruptionen im Energiesektor zu errei- te ein umfassender Regulierungsrahmen mung der Debatte von verhalten po- chen, wurde in dem engen Kreis derjeni- entwickelt und möglichst auf EU-Ebene sitiv in pure Ablehnung umschlug, gen, die sich für das Thema seinerzeit in- und international abgestimmt werden, überraschte so manchen politischen Be- teressierten, breit geteilt. Dies war auch der allen Aspekten der CCS-Technolo- obachter. Bürgerinitiativen gegen CCS auf einem Expertenworkshop 2007 im gie Rechnung trägt. Dieser sollte dann schossen wie Pilze aus dem Boden, Bundestag zu beobachten, der im Rah- die Interimsregulierung ablösen, sobald z. B. in Nordfriesland oder in der Lau- men des TAB-Projekts stattfand. In- der großtechnische Einsatz von CCS an- sitz (z. B. https://www.keinco2endlager. dustrievertreter loteten gemeinsam mit steht (TAB 2007, S. 13). de/ueber-uns/). An die Spitze dieser Be- Umweltorganisationen und Wissen- wegung setzte sich der Ministerpräsident schaftlern kritisch konstruktiv die Chan- Die Bundesregierung (2009) entschied Schleswig-Holsteins, der im Vorfeld der cen und Risiken der CCS-Technologie sich allerdings dazu, beide Schritte in für September 2009 terminierten Land- aus und diskutierten, wie Pilotprojekte einem zu gehen, und legte 2009 einen tags- und Bundestagswahlen ankündigte, am besten umgesetzt werden könnten. entsprechenden Gesetzentwurf vor, der dem Gesetzentwurf im Bundesrat wegen

15 Schwerpunkt: CCS-Technologien

fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung zwischen zwei Herangehensweisen unter- wannen in den Folgejahren die Themen nicht zuzustimmen (lno 2009). Wegen schieden werden: Climate Engineering im Allgemeinen und dieser Widerstände wurde die Verabschie- CDR-Technologien im Besonderen in den dung des Gesetzes bis nach den Wahlen › Die Carbon-Dioxide-Removal(CDR)- Klimawissenschaften stark an Bedeutung. verschoben. Der überarbeitete Gesetzent- Technologien zielen darauf ab, bereits Nicht nur wurden die verschiedenen An- wurf entkräftete schließlich den erwarte- emittiertes CO2 wieder aus der Atmo- sätze des Climate Engineering im 5. Sach- ten Widerstand im Bundesrat dadurch, sphäre zu entfernen. Solche negativen standsbericht des IPCC (2013) erstmals dass eine Öffnungsklausel den Bundes- CO2-Emissionen könnten z. B. den einer intensiveren Begutachtung unter- ländern erlaubte, bestimmte Gebiete CO2-Ausstoß von Sektoren kompen- zogen. Darüber hinaus zeigte sich, dass für CCS auszuschließen. Davon mach- sieren, in denen Reduktionsmaßnah- das 2-°C-Ziel ohne negative CO2-Emis- ten Mecklenburg-Vorpommern, Nie- men nur sehr aufwendig umzuset- sionen, die vor allem durch eine großflä-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. dersachsen und Schleswig-Holstein Ge- zen sind (z. B. die Luftfahrt). Negative chige Anwendung des BECCS-Verfahrens brauch und schlossen die CO2-Lagerung CO2-Emissionen lassen sich etwa durch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts re- für das gesamte Landesgebiet aus (Bun- großflächige Aufforstungsmaßnahmen alisiert werden sollen, kaum noch einzu- desregierung 2018a, S. 6). Unternehmen und andere ökosystembasierte Ansätze halten ist (UBA 2019, S. 11). Dies bedeu- zogen sich daraufhin aus geplanten Pro- realisieren. Im Fokus stehen außerdem tete nichts weniger als eine Abkehr vom jekten zurück. Somit war die Erprobung technikbasierte Ansätze auf Basis der Paradigma in den Klimawissenschaften, der Technologie in Deutschland am ge- CCS-Technologie, u. a. die Abschei- wonach die Reduktion der anthropogenen sellschaftlichen und politischen Wider- dung von CO2 aus Biomassekraftwer- Treibhausgasemissionen als alternativlo- stand gescheitert. ken (»bio-energy with carbon capture se Strategie zur Eindämmung des Klima- and storage« – BECCS) oder direkt aus wandels und seiner Folgen galt. Ob das vom TAB angeratene behutsame- der Luft (»direct air carbon capture and re Vorgehen, flankiert von einem offenen storage« – DACCS) und dessen Lage- Der TAB-Bericht zu Climate Engineering gesellschaftlichen Diskurs, letztlich zu rung in geologischen Formationen. entstand just in dieser Phase der Neuori- einem anderen Ergebnis geführt hätte, › Die Radiation-Management(RM)- entierung in den Klimawissenschaften, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist je- Technologien zielen dagegen auf eine wodurch er eine ungeahnte politische Re- doch, dass ein solcher Diskurs aufwendig Veränderung der Strahlungsbilanz der levanz erhielt. Denn wie im Bericht ge- zu organisieren und für alle Beteiligten Erde. Eine Abkühlung der Erde könnte zeigt wurde, wäre nach damaligem (und anstrengend ist, ohne dass eine Gewiss- etwa durch das Ausbringen von Schwe- auch nach aktuellem) Kenntnisstand kei- heit besteht, dass der Prozess zu einem felpartikeln in die Atmosphäre erreicht ner der diskutierten Ansätze des Climate positiven Ergebnis führt. Hierfür legen werden, die einen Teil der einfallenden Engineering – falls in einer für eine sub- die Bemühungen bei einem anderen ge- Sonnenstrahlung zurück in den Welt- stanzielle Klimawirkung erforderlichen sellschaftlichen Konfliktfeld von großer raum reflektieren. Die atmosphärische Größenordnung zum Einsatz gebracht – Reichweite, dem Ausbau der Stromnet- CO2-Konzentration wird hierbei nicht ohne gravierende Risiken für Mensch ze, ein beredtes Zeugnis ab (hierzu TAB reduziert – andere Folgen des Klima- und Umwelt umsetzbar. Dies gilt auch 2015). Allerdings erscheint die Alterna- wandels (z. B. die Versauerung der Oze- für das im Vergleich zu anderen CDR- tive, eine Großtechnologie im Hauruck- ane) ließen sich dadurch nicht beheben. Technologien noch vergleichsweise risi- verfahren durchzusetzen, in der heutigen koarme BECCS-Verfahren. So projizie- Zeit noch weniger erfolgversprechend. Die Debatte um aktive großtechnische ren aktuelle IPCC-Emissionspfade, die Eingriffe in das Klimasystem geht bis das 1,5-°C-Ziel einhalten und dafür auch in die 1960er Jahre zurück, blieb jedoch den Einsatz von BECCS-Verfahren vorse- CSS – Rettungsanker für bis Mitte der 2000er Jahre vornehmlich hen1, je nach Szenario eine erforderliche das Klima? ein akademischer Diskurs unter weni- kumulative CO2-Entnahme von 150 bis gen Wissenschaftlern. Im 4. Sachstands- 1.200 Mrd. t innerhalb dieses Jahrhun- 2011 wurde das TAB mit einer TA-Unter- bericht des IPCC (2007) wurde Climate derts – was im pessimistischsten Szena- suchung zum Thema »Climate Enginee- Engineering nur als Randthema erwähnt, ring« beauftragt. Climate Engineering ist und in den damals aktuellen Klima- 1 Bei allen IPCC-Emissionspfaden zur Einhaltung des ein Sammelbegriff für gezielte technische schutzszenarien ging man davon aus, dass 1,5-°C-Ziels werden negative CO2-Emissionen ge- nutzt. In Szenarien, in denen von einer deutlich sin- Eingriffe in den CO2- oder Strahlungs- Strategien der Emis sionsreduktion ausrei- kenden Energienachfrage für 2050 ausgegangen wird, würden die erforderlichen negativen CO2- haushalt der Erde, mit denen das Ziel ver- chen würden, um das 2-°C-Ziel einzuhal- Emissionen durch Aufforstungsmaßnahmen und folgt wird, den Klimawandel oder seine ten. Angesichts der ausbleibenden Erfolge andere ökosystembasierte Ansätze umgesetzt wer- den können, also ohne technikbasierte Ansätze wie Folgen abzumildern. Grundsätzlich kann bei der Emissionsreduktion allerdings ge- BECCS (IPCC 2018, S. 21).

16 Schwerpunkt: CCS-Technologien

rio einer Entnahmen und Speicherung mangelnde politische und gesellschaftli- breiten gesellschaftspolitischen Debatte von bis zu 16 Mrd. t CO2 pro Jahr ent- che Akzeptanz, das frühe Aus für eine zu Notwendigkeit und Risiken großska- spräche (IPCC 2018, S. 21 ff.). Neben den neue Technologie bedeuten können. liger CDR-Maßnahmen zu konstatieren. möglichen Risiken durch Transport und Dies ist weiterhin als kritisch zu bewer- Einlagerung des CO2 würde der enorme Vor diesem Hintergrund regte das TAB ten, denn mittlerweile werden bereits Flächenverbrauch für die Biomassepro- die Etablierung einer umfassenden, ge- neue Hoffnungen in die CCS-Technolo- duktion die heute bereits bestehenden samtgesellschaftlichen und prinzipiellen gie projiziert, nämlich ihre Anwendung Nutzungskonkurrenzen um fruchtbares Debatte zur Frage an, ob überhaupt, aus als wichtiges Werkzeug zur Realisie- Land, Nahrung, nachwachsende Rohstof- welchen Motiven und in welcher Art und rung der Vision einer klimaneutralen fe und Wasser massiv verstärken. Weise die verschiedenen Ansätze des Cli- Grundstoffindustrie. mate Engineering weiter erforscht, entwi-

Das TAB (2014) wies aber auch auf ein ckelt und perspektivisch ggf. eingesetzt – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. weiteres großes Risiko hin: Bereits die werden sollten. Denn während die De- CCS – Patentrezept für Aussicht auf einen prospektiven groß- batten über Climate Engineering und ins- die Dekarbonisierung flächigen Einsatz der BECCS-Techno- besondere über die Notwendigkeit von der Industrie? logie in der zweiten Hälfte dieses Jahr- negativen CO2-Emissionen in den Wis- hunderts könnte die Staatengemeinschaft senschaften, der Politikberatung und Bei der Umsetzung von Deutschlands dazu verleiten, heute dringend notwen- in damit befassten Behörden und Ins- langfristigem Ziel, bis 2050 weitgehend dige Anstrengungen zur Reduktion des titutionen immer stärker an Fahrt auf- treibhausgasneutral zu werden (BMU weltweiten CO2-Ausstoßes weiter hinaus- nahmen, so war damals eine tieferge- o. J.), nimmt die Dekarbonisierung der zuzögern. Denn negative CO2-Emissio- hende politische und gesellschaftliche Industrie eine Schlüsselrolle ein. 2018 nen eröffnen die Option, Maßnahmen zur Ausein andersetzung mit dem Themen- emittierte der deutsche Industriesektor Begrenzung der atmosphärischen CO2- feld in Deutschland, aber auch interna- ca. 196 Mio. t CO2-Äquivalente und hatte Konzentration später, dafür aber in grö- tional noch weitgehend ausgeblieben. damit einen Anteil von 23 % an den na- ßerem Umfang zu erbringen. Dabei gilt: Allerdings müssen Entscheidungen da- tionalen Treibhausgasemissionen (Wup- Je länger der globale CO2-Ausstoß nicht rüber, ob und wie das BECCS-Verfahren pertal Institut o. J.). Etwa zwei Drittel der substanziell reduziert wird, desto höher ist oder andere risikobehaftete Ansätze des Emissionen des Industriesektors stam- die künftige Abhängigkeit von CDR-Tech- Climate Engineering in Zukunft einge- men aus der energieintensiven Grund- nologien, um die internationalen Klima- setzt werden sollen, nicht nur im Hin- stoffindustrie (vor allem Baustoffe, Che- ziele noch erreichen zu können. blick auf Akzeptanzfragen letztlich von mie, Glas, Aluminium, Papier und Stahl). der Gesellschaft als Ganzes getroffen wer- Alleine die Herstellung von Stahl und Allerdings kann gegenwärtig niemand den. Dabei wurde vom TAB Eile ange- Zement verursacht fast die Hälfte die- verlässlich einschätzen, ob das BECCS- mahnt: Werden wichtige Entscheidun- ser Emissionen (Agora Energiewende/ Verfahren oder eine andere CDR-Techno- gen nämlich zu lange hinausgezögert, so Wuppertal Institut 2019; BMU 2019). lo gie in Zukunft in einer Größenordnung, besteht die Gefahr, dass ein unter Um- Im Klimaschutzplan 2050 der Bundes- wie sie in aktuellen Szenarien antizipiert ständen weiter ansteigender anthro- regierung wurde für den Industriesek- wird, überhaupt erfolgreich und ohne pogener Treibhausgasausstoß bereits tor ein Treibhausgasminderungsziel für gravierende Nebenwirkungen umgesetzt eventuell nichtrevidierbare Fakten ge- 2030 von ca. 40 Mio. t CO2-Äquivalen- werden kann. Beispielsweise gelangte der schaffen hat, die dann den Einsatz von ten gegenüber 2014 gesetzt. Dies ent- European Academies’ Science Advisory CDR- oder gar von noch risikobehaf- spricht einer Minderung von rund 50 % Council (EASAC 2018) zum Ergebnis, teteren RM-Technologien alternativlos gegenüber 1990 und stellt somit ein Zwi- dass keine der derzeit diskutierten Tech- machen. schenziel auf dem Weg zur Erreichung nologien das Potenzial hat, negative CO2- der Treibhausgasneutralität des Indus- Emissionen in der Größenordnung von Auch wenn die Ergebnisse des TAB-Pro- triesektors bis 2050 dar. Allerdings konn- jährlich mehreren Mrd. t zu erreichen. jekts 2014 im Rahmen einer öffentlichen ten in den letzten 10 Jahren zwar Effi- Zudem zeigen gerade die in Deutschland Ausschusssitzung mit Bundestagsabge- zienzsteigerungen in der Industrie er- gemachten Erfahrungen mit der CCS- ordneten, Experten, Behördenvertretern zielt werden, unter dem Strich jedoch Technologie als Option zur Emissionsre- und der Öffentlichkeit diskutiert wur- keine Emissionsreduktion en. Es ist der- duktion bei Kohlekraftwerken, dass nicht den und sich seitdem die politische Be- zeit nicht erkennbar, wie das 2030-Ziel nur technische, ökonomische oder öko- fassung mit dem Thema intensiviert hat innerhalb von nur 10 Jahren noch er- logische Hemmnisse, sondern auch so- (z. B. Bundesregierung 2018b u. 2019), reicht werden soll. Klar ist zudem, dass ziopolitische Faktoren, insbesondere eine so ist nach wie vor das Ausbleiben einer der Austausch von älteren Bestandsanla-

17 Schwerpunkt: CCS-Technologien

gen durch effizientere Anlagen mit eben- Für die Zementindustrie ergibt sich für die tive Klimaeffekte zu erzielen (Achtern- falls konventioneller Technologie zur Er- Dekarbonisierung eine besondere Situa- bosch et al. 2019; EASAC 2018). reichung des Ziels einer klimaneutralen tion. Gegenwärtig tragen allein die Pro- Industrie bis 2050 nicht ausreichen wird zessemissionen der Zementherstellung (Agora Energiewende/Wuppertal Ins- mehr als 4 % zu den globalen anthropo- Ausblick titut 2019). Erforderlich sind vielmehr genen CO2-Emissionen bei (Achternbosch neue technologische Konzepte und lang- et al. 2019). Aus Sicht der Zementindus- Die vor etwa 15 Jahren aufkeimenden gro- fristige politische Rahmenbedingungen, trie gelten diese Emissionen als unver- ßen Hoffnungen, dass die CCS-Techno- die frühzeitig mögliche Handlungsfel- meidbar (https://www.project-leilac.eu/). logie ab 2020 ein wirksames Werkzeug der und Entscheidungspfade zur Rea- In diesem Kontext befindet sich die Ze- im Kampf gegen den Klimawandel sein lisierung einer klimaneutralen Indus- mentindustrie in einem Dilemma: In den könnte, haben sich nicht bewahrheitet.

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. trie aufzeigen. nächsten 10 bis 15 Jahren ist kein alterna- Hätten sich die damaligen Erwartungen tives Bindemittel in Sicht, das Portlandze- erfüllt – etwa nach dem Fahrplan der In- Ein zentrales Element der Strategien für mentklinker ersetzen kann, um die CO2- ternationalen Energieagentur (IEA) – so eine klimaneutrale Industrieproduktion Emissionen der Zementindustrie deutlich wären heute weltweit rund 100 CCS-Pro- ist die stärkere Nutzung von (weitgehend) zu senken (Achternbosch et al. 2018; De- jekte mit einer jährlichen Gesamtspei- CO2-frei hergestelltem Wasserstoff. Die- wald/Achternbosch 2016). Als Lösung cherkapazität von 300 Mio. t CO2 in Be- ser sogenannte grüne Wasserstoff kann bleiben die Abscheidung und Lagerung trieb (Reiner 2016). Tatsächlich liegt die zum einen als Ersatz für fossilen, d. h. aus des entstehenden CO2 mithilfe der CCS- genutzte Speicherkapazität heute (Bezugs- Erdgas gewonnenen Wasserstoff in kon- Technologie sowie die Intensivierung der jahr 2019) bei weniger als 40 Mio. t (Glo- ventionellen Produktionsprozessen die- Entwicklung neuer kohlenstoffarmer Bin- bal CCS Institute 2019). Die meisten der nen (z. B. für die Ammoniakproduktion demittel, um mittel- bis langfristig die Ab- in Betrieb befindlichen Anlagen dienen in der chemischen Grundstoffindustrie) hängigkeit von der CCS-Technologie wie- primär der Ausbeutesteigerung von Erd- und ermöglicht zum anderen neue kli- der zu verringern. öl- und Erdgaslagerstätten, die CO2-La- mafreundliche Technologierouten (z. B. gerung ist also lediglich ein Nebeneffekt. die Direktreduktion von Eisenerz durch Festzustellen bleibt somit, dass es wie- Und in Deutschland wurden die Weiter- Wasserstoff anstelle des konventionellen derum die CCS-Technologie ist, die – entwicklung und die Erprobung der CCS- Verfahrens im Hochofen unter Einsatz zumindest kurz- bis mittelfristig – fast Technologie entgegen der erklärten Inten- von Kohlenstoff) (Bundesregierung 2020, schon im Wortsinne die Kohle aus dem tion der Bundesregierung aufgrund von S. 2 f.). Grüner Wasserstoff kann zum Bei- Feuer holen soll. Dabei geben die hier- massiven Widerständen in den betroffe- spiel aus Biogas mittels Dampfreformie- zulande gemachten Erfahrungen mit nen Regionen ad acta gelegt. rung gewonnen werden, im Fokus steht der CCS-Technologie bei Kohlekraft- aber vor allem die Nutzung von großska- werken durchaus Anlass dazu, das Rea- Die Klimapolitik steht angesichts die- ligen Elektrolyseuren, die mit regenerati- lisierungspotenzial für CCS in Deutsch- ser Situation vor einem ernsten Dilem- vem Strom betrieben werden. Das Problem land nicht zu überschätzen. Was den ma: Außer wenigen sehr optimistischen hierbei ist, dass die Herstellung von grü- kurz- und mittelfristen Bedarf an blau- Szenarien basieren alle aktuellen Modell- nem Wasserstoff in ausreichenden Men- em Wasserstoff angeht, so könnte dieser pfade des IPCC, die zur Einhaltung des gen den Bedarf an regenerativem Strom von Deutschland zwar möglicherweise 1,5-°C-Ziels entworfen wurden, auf ei- drastisch ansteigen lassen würde. Um z. B. importiert werden, allerdings würden nem breiten Einsatz der CCS-Technolo- den Energiebedarf für Rohstahl, der bisher damit die Risiken der CCS-Technologie gie für die Emissionsminderung im Ener- durch die konventionelle Hochofen-Kon- nur verlagert. Überdies erscheint es zur- gie- und Industriesektor sowie für die verter-Route in Deutschland durch Koh- zeit mehr als fraglich, dass die weltweiten technologische Umsetzung von negati- le geliefert wurde, durch Wasserstoff im enormen Erwartungen in CCS als tech- ven CO2-Emissionen – obwohl die CCS- Direktreduktionsverfahren zu decken, ist nische Lösung für die Reduk tion der an- Technologie einem Scheck gleicht, der bis- eine Strommenge notwendig, die grob ab- thropogenen CO2-Emissionen im Ener- lang in keiner Weise gedeckt ist! geschätzt ca. 50 % des 2019 insgesamt re- gie- und Industriesektor sowie für die generativ hergestellten Stroms entspricht. Realisierung von negativen CO2-Emis- Um dieses Dilemma aufzulösen, sind zwei Als Übergangslösung wird daher die Ver- sionen vollumfänglich zu erfüllen sein prinzipielle Optionen denkbar: wendung von blauem Wasserstoff vorge- werden. Gründe hierfür sind die ungüns- schlagen, d. h. von Wasserstoff auf der Ba- tigen Realisierungsbedingungen für gi- › Den Scheck decken – CCS als ernst- sis von Erdgas und der Anwendung der gantische Mengen an CO2, die jährlich hafte Klimaschutzoption forcieren: CCS-Technologie. sequestriert werden müssten, um posi- Eine Option besteht darin, eine klare

18 Schwerpunkt: CCS-Technologien

politische Entscheidung für die CCS- einen deutlichen Schub erhalten (Ach- Transport und dauerhafter Speicherung Technologie als ein wichtiges Strate- ternbosch et al. 2018 u. 2019). von Kohlendioxid. Gesetzentwurf der gieelement für den Klimaschutz zu Bundesregierung. Deutscher Bundestag, treffen mit dem Ziel, die Forschung Beide Optionen verlangen Politik und Ge- Drucksache 16/12782, Berlin und Erprobung von CCS-Technolo- sellschaft Einiges ab: Ihre Umsetzung kos- gien in Deutschland und weltweit zu tet Kraft und natürlich auch Geld. Ge- Bundesregierung (2018a): Evaluierungs- intensivieren und umzusetzen. Ob eine meinsam ist den Optionen aber auch, dass bericht der Bundesregierung über die solche Strategie nach den geschilder- sie das Risiko ausräumen, dass der un- Anwendung des Kohlendioxid-Speiche- ten Erfahrungen mit dem deutschen gedeckte Scheck CCS zu einem späteren rungsgesetzes sowie die Erfahrungen zur CCS-Gesetz eine realistische Chance Zeitpunkt platzt. Oder wie der damalige CCS-Technologie. Deutscher Bundestag, hätte, ist schwer zu prognostizieren. PIK-Direktor Schellnhuber sagte: »Mit Drucksache 19/6891, Berlin

Erfolgversprechend erscheint dies nur, der Natur kann man nicht verhandeln«. – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. wenn eine bundesweite Kommuni- Bundesregierung (2018b): Geoengi- kations-, Informations- und Beteili- Matthias Achternbosch neering und Klimakrise. Antwort der gungsstrategie entworfen und umge- Claudio Caviezel Bundesregierung auf die Kleine An- setzt werden würde. Reinhard Grünwald frage der Abgeordneten , › Den Scheck zurückziehen – CCS , , weiterer Ab- abschreiben: Eine alternative Option geordneter und der Fraktion BÜND- besteht darin, in nationalen Klima- Literatur NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache schutzstrategien explizit auf eine 19/2586 –. Deutscher Bundestag, Druck- zukünftige Berücksichtigung von CCS- Achternbosch, M.; Dewald, U.; Nieke, sache 19/3149, Berlin Technologien zu verzichten. Diese E.; Sardemann, G. (2018): Why it is so Position sollte auch international ver- hard to develop new binder systems for Bundesregierung (2019): Status quo treten werden. Es sollte darauf hinge- mass application? In: ZKG international »Negative Emissionen«: Förderung von wirkt werden, dass die IPCC-Szenarien 9, S. 68–79 CO2-Entnahmetechnologien. Antwort zukünftig ohne CCS operieren. Dies der Bundesregierung auf die Kleine würde implizieren, dass zur Erreichung Achternbosch, M.; Dewald, U.; Nieke, E.; Anfrage der Abgeordneten Olaf in der des 1,5-°C-Ziels die Ambitionen im Sardemann, G. (2019): Towards a low-car- Beek, , Grigorios Aggelidis, Energiesektor – Ausbau der erneuer- bon post OPC era – External framing con- weiterer Abgeordneter und der Fraktion baren Energien in Kombination mit ditions. In: ZKG international 9, S. 46–60 der FDP – Drucksache 19/6737 –. Deut- Energieeffizienzsteigerungen – deut- scher Bundestag, Drucksache 19/7400, lich gesteigert werden müssten. Damit Agora Energiewende; Wuppertal Institut Berlin die Dekarbonisierung ohne die Option (2019): Klimaneutrale Industrie Schlüs- CCS auch im Bereich der Grundstoff- seltechnologien und Politikoptionen für Bundesregierung (2020): Die nationa- industrie vorankommen kann, müsste Stahl, Chemie und Zement, Berlin/Wup- le Wasserstoffstrategie. www.bmwi.de/ alles dafür getan werden, dass grüner pertal. https://static.agoraenergiewende. Redaktion/DE/Publikationen/Energie/ Wasserstoff in ausreichenden Mengen de/fileadmin2/Projekte/2018/Dekarbo die-nationale-wasserstoffstrategie.html und zu tragbaren Kosten bereitgestellt nisierung_Industrie/164_A-EW_Kli werden kann. Dies erfordert einen dras- maneutrale-Industrie_Studie_WEB.pdf BMU (Bundesministerium für Um- tischen Ausbau der Erzeugungskapa- welt, Naturschutz und nukleare Si- zitäten in Deutschland wie auch welt- BMWi (Bundesministerium für Wirt- cherheit) (2019): Klimaschutz in Zah- weit (vor allem zur Stromerzeugung schaft und Technologie); BMU (Bundes- len: der Sektor Industrie. www.bmu. aus erneuerbaren Energien nebst Elek- ministerium für Umwelt, Naturschutz de/fileadmin/Daten_BMU/Download_ trolyseanlagen) in den nächsten Jahren und Reaktorsicherheit); BMBF (Bundes- PDF/Klimaschutz/klimaschutz_zahlen_ und Jahrzehnten. Bei den Grundstof- ministerium für Bildung und Forschung) 2019_fs_industrie_de_bf.pdf fen, für die die End-of-pipe-Technolo- (2007): Entwicklungsstand und Perspek- gie CCS zurzeit die einzige Option für tiven von CCS-Technologien in Deutsch- BMU (o. J.): Der Klimaschutzplan die Emissionsreduktion darstellt (etwa land. www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/ 2050 – Die deutsche Klimaschutz- Zement), müssten die Forschung und application/pdf/kabinettbericht_ccs.pdf langfriststrategie. Stand: 6.10.2020, Entwicklung auf dem Gebiet der radi- www.bmu.de/themen/klima-energie/ kalen Innovationen von klimaneutralen Bundesregierung (2009): Entwurf eines klimaschutz/nationale-klimapolitik/ Verfahren zur Grundstoffherstellung Gesetzes zur Regelung von Abscheidung, klimaschutzplan-2050/

19 Schwerpunkt: CCS-Technologien

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TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. report 35. Deutsche Akademie der Natur- Boschung, J.; Nauels, A.; Xia, Y.; Bex. V.; gerung bei Kraftwerken (Grünwald, R.). forscher Leopoldina, Halle Midgley, P.M. [Hg.]). Cambridge/New TAB-Arbeitsbericht Nr. 120 York Global CCS Institute (2019): Global Status TAB (2014): Climate Engineering (Cavie- of CCS 2019. Targeting Climate Change. IPCC (2018): 1,5 °C globale Erwärmung. zel, C.; Revermann, C.). TAB-Arbeitsbe- Melbourne, www.globalccsinstitute.com/ IPCC-Sonderbericht. Zusammenfassung richt Nr. 159, Berlin wp-content/uploads/2019/12/GCC_ für politische Entscheidungsträger. (Mas- GLOBAL_STATUS_REPORT_2019.pdf son-Delmotte, V.; Zhai, P.; Pörtner, H.-O.; TAB (2015): Handlungsmöglichkeiten für Roberts, D.; Skea, J.; Shukla, P.R.; Pirani, Kommunikation und Beteiligung beim Greenpeace (2009): CO2-Endlager sind A.; Moufouma-Okia, W.; Péan, C.; Pid- Stromnetzausbau (Grünwald, R.; Ah- geologische Zeitbomben. Presseerklä- cock, R.; Connors, S.; Matthews, J.B.R.; mels, P.; Banthien, H.; Bimesdörfer, K.; rung vom 25.3.2009, Berlin, https://www. Chen, Y.; Zhou, X.; Gomis, M.I.; Lonnoy, Grünert,J.; Revermann, C.) TAB-Hinter- greenpeace.de/presse/presseerklae- E.; Maycock, T.; Tignor, M.; Waterfield, grundpapier Nr. 20, Berlin rungen/co2-endlager-sind-geologische- T. Hg.]). Genf zeitbomben UBA (Umweltbundesamt) (2019): As- lno (2009): Landtag lehnt Gesetz einstim- sessment of bio-CCS in 2 °C compatible IPCC (International Panel in Clima- mig ab. sh:z, 19.6.2009, www.shz.de/regio scenarios. Final report. Dessau-Roßlau, te Change) (2005): IPCC Special Report nales/schleswig-holstein/politik/landtag- www.umweltbundesamt.de/sites/ on Carbon Dioxide Capture and Sto- lehnt-gesetz-einstimmig-ab-id495086. default/files/medien/1410/publikationen/ rage. Prepared by Working Group III of html 2019-04-01_cc_09-2019_bio-ccs.pdf the Intergovernmental Panel on Clima- te Change (Metz, B.; Davidson, O.; de Öko-Institut (2009): Regulierung von Wuppertal Institut (o. J.): DekarbInd. Coninck, H.; Loos, M.; Meyer, L. [Hg.]). CO2-Abscheidung und -Ablagerung https://wupperinst.org/p/wi/p/s/pd/896/ Cambridge (CCS). Der Entwurf für das Kohlendioxid-

20 Schwerpunkt: Digitalisierung der politischen Öffentlichkeit

Technologischer Wandel in einem Kernbereich demokratischer Politik: zur Digitalisierung der politischen Öffentlichkeit

Das öffentliche Leben wurde und wird in der COVID-19-Pandemie durch Ab- tionalisierte Menschen bzw. Organisa- standsgebote, zeitweise Schulschließungen und das Arbeiten von zu Hau- tionen zu Gehör bringen könnten (Di- se stark eingeschränkt. Die Maßnahmen haben deutlich gemacht, welche Maggio 2001, S. 321 f.). große Rolle digitale Medien für die Information, insbesondere aber den Austausch und die Diskussionen innerhalb der Bevölkerung spielen. Eine Damit verbunden wurde zum ande- Technologie wie das World Wide Web, das vor 30 Jahren als »Reihe ausge- ren erwartet, dass bei Debatten im Netz sprochen nützlicher Werkzeuge« für die wissenschaftliche Arbeit erdacht mehr Menschen in stärkerem Maß ein- wurde (Berners-Lee/Cailliau 1990), bildet heute ein Herzstück der Kommu- gebunden und beteiligt würden. Durch nikationsinfrastruktur der Gesellschaft. Die dadurch ermöglichte einfache die neuen Kommunikations- und Inter- und schnelle Verbreitung von Informationen an ein Massenpublikum eben- aktionsformate wird es möglich, in grö- so wie die Kommunikation von Mensch zu Mensch und innerhalb von Grup- ßeren Gruppen konstruktiv zu debattie- pen haben insbesondere auch die Art verändert, in der öffentliche Debat- ren und an Lösungen gesellschaftlicher – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. ten und die politische Meinungsbildung ablaufen. Probleme mitzuarbeiten. Die deliberati- ve Kapazität der Öffentlichkeit, also die Fähigkeit, Themen und Meinungen aus Während in anderen Bereichen die po- Gegensätzliche der Gesellschaft aufzugreifen und durch sitiven Aspekte der Digitalisierung im Einschätzungen in der offene, unbeeinflusste Debatten zu bear- Vordergrund stehen, fällt die Bewer- Frühphase der Forschung: beiten und in Lösungen zu überführen, tung der Veränderung der politischen Netzoptimismus ... wird dadurch gestärkt (DiMaggio et al. Öffentlichkeit gegenwärtig eher kri- 2001, S. 320; Thiel 2020, S. 335 f.). tisch aus. Beklagt wird eine zunehmen- de Fragmentierung der Öffentlichkeit Diese Janusköpfigkeit der digitalisierten Derart optimistische Perspektiven er- in Teilbereiche, in denen ein homoge- Öffentlichkeit steht nicht nur aktuell im hielten zumindest zeitweilig Bestätigung nes Meinungsspektrum vorherrscht Vordergrund der Wahrnehmung, sie wur- durch Ereignisse wie den Arabischen und die gegenüber anderen Teilberei- de bereits Anfang der 1990er Jahre im Frühling, bei dem ab 2011 insbesondere chen (mit anderen Meinungen) abge- Zuge der einsetzenden wissenschaftlichen junge Menschen in vielen Ländern des schottet sind. Gerade in sozialen Medi- Erforschung der Auswirkungen des Inter- Nahen Ostens sowie des Maghreb ge- en konstatieren viele Beobachter einen nets auf die Politik festgestellt. Es bilde- gen ihre jeweiligen autokratischen Regie- durch Hassrede und destruktives Ver- ten sich früh zwei gegensätzliche Sicht- rungen aufbegehrten und demokratische halten geprägten Kommunikationsstil weisen heraus – eine (netz)optimistische Strukturen einforderten. Zur Organisa- sowie das Ausnutzen der Funktionswei- und eine pessimistische. tion und Kommunikation nutzten sie sen von Onlineplattformen und sozia- soziale Medien und Plattformen und len Netzwerken zur gezielten Manipu- Aus der optimistischen Perspektive wurde erreichten so eine beachtliche Mobili- lation der öffentlichen Meinung. In der zum einen auf die gesteigerten Teilhabe- sierung und in einigen Ländern die Ab- Coronaviruspandemie sahen sich etwa möglichkeiten hingewiesen, die das Netz dankung bzw. Absetzung von Autokra- die WHO und andere Organisationen im Vergleich zur ausschließlich massen- ten. So festigte sich der Eindruck, dass veranlasst, die Bekämpfung der »Info- medial geprägten Öffentlichkeit bot. Die es sich bei den Onlinemedien um Be- demie«, also der Ausbreitung von Des- Veröffentlichung von Meinungen wurde freiungstechnologien handelt (Kneuer information, als wichtigen Aspekt in die durch die neuen Onlineangebote funda- 2020, S. 6). Auch Kampagnenplattfor- Pandemiemaßnahmen einzuschließen mental erleichtert, und dadurch, so die Er- men wie change.org oder openPetition. (Zarcostas 2020). Zugleich dürfte un- wartung, könnten mehr unterschiedliche de wurden ab den 2010er Jahren inten- strittig sein, dass digitale Medien die Bevölkerungsteile politische Informatio- siv und erfolgreich zur Artikulation po- Bekämpfung der Pandemie massiv un- nen erhalten und Einfluss auf politische litischer Forderungen genutzt und schie- terstützt haben, z. B. mittels der Corona- Entscheidungen gewinnen (DiMaggio nen die netzoptimistischen Annahmen Warn-App, der Verbreitung und Veran- 2001, S. 321 f.; Thiel 2020, S. 339 f.). Die einer mobilisierenden Wirkung zu be- schaulichung relevanter Informationen Bedeutung von Gatekeepern, die über den stätigen. Einzelne Kampagnen, wie 2013 und digitalen Beteiligungsmöglichkei- Zugang zur Öffentlichkeit entscheiden, gegen eine Tarifreform der GEMA oder ten, wie im Fall von Hilfsgemeinschaf- werde durch die egalitäre Struktur des In- 2015 gegen das Freihandelsabkommen ten oder Hackathons, bei denen innova- ternets verringert, wodurch sich die Viel- CETA, erlangten mit jeweils mehr als tive Lösungsansätze entwickelt wurden. falt der Meinungen erhöhe und sich auch 100.000 Unterstützenden große öffent- ressourcenschwache und gering institu- liche Aufmerksamkeit.

21 Schwerpunkt: Digitalisierung der politischen Öffentlichkeit

... versus Netzpessimismus information zu trennen (Buchstein 1996, wurden beide Perspektiven dadurch ge- S. 595 f.; Kneuer 2020, S. 6); eine durch so- prägt, dass in den 1990er Jahren Defizite Diese Bewertung der genannten Bei- ziale Ungleichheiten beim Zugang zu und der westlichen demokratischen Systeme spiele wird allerdings von Pessimistin- Nutzung von Internetdiensten verstärk- immer stärker sichtbar und in der For- nen bzw. Pessimisten nicht geteilt. Im te Kluft zwischen Menschen, die an poli- schung als »Legitimationskrise« themati- Fall der Kampagnenplattformen verwei- tischen Debatten beteiligt, und solchen, siert wurden (Norris 2000, S. 3). Die Bürge- sen sie darauf, dass es sich in erster Li- die davon ausgeschlossen sind (Buch- rinnen und Bürger vieler industrialisierter nie um »Klick-Aktivismus« handelt, eine stein 1996, S. 586; DiMaggio et al. 2001, Staaten fühlten sich von den bestehenden sehr niedrigschwellige Form von politi- S. 310 ff.; Kneuer 2020, S. 6); die Kommer- Parteien immer weniger repräsentiert und schem Engagement, aus der kaum Kon- zialisierung des Mediums Internet und standen nicht nur der Regierung, sondern sequenzen folgten. In Bezug auf den Ara- das Überhandnehmen der Interessen gro- den politischen Institutionen allgemein zu-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. bischen Frühling heben sie hervor, dass ßer Unternehmen, wodurch die Orientie- nehmend kritisch gegenüber, die Wahlbe- die Rolle der sozia len Medien in den ein- rung an gemeinsam geteilten Problemla- teiligung sowie die Mitgliederzahlen der zelnen Ländern sehr unterschiedlich aus- gen in den Hintergrund rückt (Buchstein Parteien sanken (Dalton 1998, S. 74). Re- fiel und sozialstrukturelle Faktoren einen 1996, S. 596; DiMaggio et al. 2001, S. 319); präsentative Verfahren der Demokratie er- bedeutenderen Einfluss auf die revolutio- die Förderung von Extrempositionen und schienen in netzoptimistischer Perspektive näre Dynamik hatten als technologische Hassrede in der Onlinekommunikation, gegenüber dem demokratischen Ideal ei- (Wolfsfeld et al. 2013, S. 118). Zudem führ- die der Kultur öffentlicher Debatte zuwi- ner Regierung des Volkes vielfach als eine ten die Unruhen langfristig nicht zu einer derlaufen (Buchstein 1996, S. 601; DiMag- »Krücke« (Thiel 2020, S. 335), deren offen- Demokratisierung der Region, sondern gio et al. 2001, S. 321). kundige Mängel mittels der neuen Tech- vielerorts zu (neuen) autoritären Regi- nik überwunden werden sollten, wohin- men, die ihrerseits die sozialen Medien gegen aus pessimistischer Sicht eher eine und Onlinetechnologien dazu benutzten, Die Weiterentwicklung der Verstärkung der Probleme erwartet wurde. die Bevölkerung zu überwachen und den wissenschaftlichen Sicht Eine weitere Gemeinsamkeit ist schließlich Informationsfluss zu kontrollieren und zu auf Onlineöffentlichkeit ... eine häufig technikdeterministische Sicht- manipulieren (Hempel 2016). weise, wonach bestimmte Merkmale einer Bei aller Gegensätzlichkeit der optimisti- Technologie mehr oder weniger direkt po- Auch die pessimistischen Einschätzun- schen und pessimistischen Perspektive ist sitive oder negative Folgen hervorbringen. gen der Auswirkungen des Internets auf nicht zu übersehen, dass beide auch Ge- Diese Sichtweise wird in der Forschung zu die politische Öffentlichkeit bildeten sich meinsamkeiten teilen. Vertreterinnen bzw. Technikfolgen allerdings weithin kritisiert. bereits in der Frühphase der Onlinefor- Vertreter beider Positionen gingen bereits Studien zur Technikentwicklung haben ge- schung heraus. Gegen die Annahme ei- in der frühen Phase der Internetverbrei- zeigt, dass die Folgen einer Technologie in ner Ausweitung politischer Debatten tung davon aus, dass diese bedeutende ge- erster Linie durch die Art, wie sie von der wurde darauf verwiesen, dass diese pri- sellschaftliche Auswirkungen haben wird: Gesellschaft aufgenommen, genutzt und in mär innerhalb von Gruppen gleichge- »So wenig sich bereits abschätzen lässt, wel- den Alltag integriert (und auch zunächst sinnter Menschen abliefen und es gerade che Konsequenzen das Internet auf die un- erfunden bzw. entwickelt) wird, bestimmt nicht zu einem Austausch über ideolo- terschiedlichen gesellschaftlichen Lebens- werden (Sismondo 2010). gische Grenzen hinwegkomme (Rafaeli/ bereiche konkret haben wird – dass die Sudweeks 1998; Sunstein 2001). Als Folge Folgen insgesamt gravierend sein werden, Vor dem Hintergrund dieser Kritik und wurde eine zunehmende Fragmentierung steht für jeden, der über etwas Phantasie auch angesichts der offensichtlichen Ge- und Polarisierung der Netzöffentlichkeit verfügt, außer Frage« (Buchstein 1996, meinsamkeiten der eigentlich konträren erwartet (Buchstein 1996, S. 596; DiMag- S. 589). Beide Gruppen legen ihrer Ein- Bewertungen entwickelten sich bereits früh gio et al. 2001, S. 321), wofür sich das Bild schätzung den Blick auf frühere mediale Positionen, die trotz der medial-techni- der Echokammern (Sunstein 2001) bzw. Entwicklungen (des Radios bzw. des Pri- schen Veränderungen von einem unver- Filterblasen (Pariser 2011) etabliert hat. vatfernsehens) bzw. auf die technischen änderten Weiterbestehen der politischen Merkmale der neuen Informations- und Prozesse ausgehen – »Politics as usual« Als weitere negative Auswirkungen der Kommunikationstechnologien zugrunde, (Margolis/Resnick 2000). Und es mehr- Internetnutzung auf die politische Öf- aus denen sie ihre – wenn auch gegensätzli- ten sich Stimmen, die darauf verwiesen, fentlichkeit wurden bereits damals ge- che – Bewertung der Auswirkungen ablei- dass die dichotomen Positionen sich einsei- nannt: die Informationsüberflutung, die ten. Eine systematische empirische Erfor- tig aus den »Bedingungen der Technik« ab- es erschwert, Relevantes von Unwichtigem schung der Nutzung dieser Technologien leiteten, aber deren Gebrauch zu wenig be- und verlässliche Darstellungen von Des- entwickelte sich erst allmählich. Zudem rücksichtigten (Schönberger 2000, S. 813).

22 Schwerpunkt: Digitalisierung der politischen Öffentlichkeit

Neue Informations- und Kommunika- zialwissenschaftliche Onlineforschung im- wald et al. 2006, S. 237) erweisen sich aus tionstechnologien ließen sich aus dem mer weiter ausdifferenziert hat. heutiger Sicht als überraschend aktuell. Alltag nicht mehr wegdenken, sondern Gleiches gilt für die Handlungsoptionen: stellten ein zunehmend konventionel- Außerdem fällt auf, dass neben den Po- Vorschläge der Förderung von Medien- les Medium dar, das im Verbund mit äl- tenzialen früh auch die Risiken einer zu- kompetenz und allgemein verfügbarem teren Medien genutzt wird (Yang 2008, nehmenden Digitalisierung der Online- Zugang, zur Untersuchung der Bedeu- S. 2). Auch wenn die Diskussion etwa in kommunikation thematisiert wurden. So tung und Wirkung von Suchmaschinen, der politischen Wissenschaft zum Teil bis konstatierten Riehm und Wingert bereits der Sicherstellung von Vielfalt und Qua- heute durch den einseitigen Blick auf ent- 1995, dass die Mediatisierung von Poli- lität des Informationsangebots und einer weder Chancen oder Gefahren geprägt ist tik sowohl politisches Handeln als auch Ausweitung des Angebots von Onlinebe- (Thiel 2020, S. 332), hat sich in der For- dessen Wahrnehmung durch die Bürge- teiligungsmöglichkeiten (Grunwald et al. schung die Hinwendung zur empirischen rinnen und Bürger verändert und »die 2006, S. 234 ff.) finden sich auch in der – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Untersuchung der mit dem medialen Wan- ohnehin vorhandene Tendenz zur In- gegenwärtigen Debatte (z. B. Borucki et del verbundenen konkreten Auswirkungen szenierung von Politik als symbolische al. 2020, S. 364 f.; Bundesregierung 2018, durchgesetzt (DiMaggio et al. 2001, S. 319). Handlung« fördert (Riehm/Wingert 1995, S. 44; EK 2020, S. 477; Horz 2019; Krafft/ S. 125). Im Bericht zu den Auswirkungen Zweig 2017, S. 343; TAB 2017a). der neuen Medien auf die Kultur wur- ... und ihre Rolle in de auf die Gefahr einer Fragmentierung Mit dem Bericht von 2006 wurde zum TAB-Untersuchungen der politischen Öffentlichkeit verwiesen. letzten Mal ein Urteil über die demokra- Gleichzeitig wurde nicht erwartet, »dass tischen Potenziale des Internets in Gänze Blickt man zurück auf die 30 Jahre der Ar- die aufgeführten Gegensätze [zwischen gewagt: »Das Internet ist, so der aktuelle beit des TAB, so fällt auf, dass Auswirkun- den Potenzialen und den möglichen Ge- Stand der Diskussion, weder ein eigener gen der Digitalisierung auf die Demokra- fahren] in naher Zukunft aus den Debat- politischer Raum, noch hat es dazu ge- tie bereits sehr früh untersucht wurden. ten über die Wechselwirkungen von Kul- führt, die Politik an grundlegend neuen Der erste Bericht zum Thema erschien tur- und Medien verschwinden werden« Kriterien zivilgesellschaftlicher oder ba- 1995 unter dem Titel »Multimedia – My- (Paschen et al. 2002, S. 128). sisdemokratischer Politikgestaltung zu then, Chancen und Herausforderungen« messen.« (Grunwald et al. 2006, S. 68) In (Riehm/Wingert 1995). Weitere Berich- Einige Jahre später wurden diese Gegen- den späteren Berichten standen jeweils te folgten zu »Neue Medien und Kultur« sätze zwar noch erwähnt, es wurde aber einzelne Aspekte bzw. Verfahren im Vor- (Paschen et al. 2002), »Internet und De- versucht, sie durch Rückgriff auf Unter- dergrund, insbesondere unterschiedliche mokratie« (Grunwald et al. 2006), zu Stand suchungen der »tatsächlichen Nutzungs- Formen der Onlinebürgerbeteiligung wie und Entwicklungsperspektiven elektroni- formen des Internets für politische Kom- E-Petitionen. Dabei festigte sich der Fo- scher Petitionen in Deutschland (Riehm et munikation« zu überwinden: »In der kus auf die Onlineangebote staatlicher In- al. 2009) und Europa (Riehm et al. 2013), Spannung zwischen hoch fliegenden Vi- stitutionen, der bereits in der frühen Un- zu elektronischer Partizipation an der par- sionen und Erwartungen einerseits und tersuchung zu Multimedia angelegt war. lamentarischen Arbeit (TAB 2017a), zur skeptischen Einschätzungen sowie Be- Veränderungen in der politischen Öffent- Bekanntheit und Nutzung der elektroni- fürchtungen andererseits sollen in diesem lichkeit durch die zivilgesellschaftliche schen sowie postalischen Petitionen an den Bericht – im Rückgriff auf einschlägige, Nutzung des Internets spielten demge- Deutschen Bundestag (hierzu der Beitrag teils zu diesem Zweck in Auftrag gegebe- genüber eine geringere Rolle in den TAB- auf S. 42 ff.) sowie zum Einfluss von Algo- ne empirische Arbeiten – nachvollziehba- Untersuchungen – obwohl sich das 1995 rithmen in digitalen Medien auf die Mei- re und realistische Antworten auf die Fra- noch konstatierte »vielfach geringe Inter- nungsbildung (www.tab-beim-bundestag. ge nach den Folgen der Internetnutzung esse an politischen Themen in der Bevöl- de/de/untersuchungen/u40000.html). Der für politische Kommunikation gegeben kerung« (Riehm/Wingert 1995, S. 128) in Blick auf die Themen macht deutlich, dass werden.« (Grunwald et al. 2006, S. 25) Die den 2000er Jahren deutlich gesteigert hat eine Verschiebung von sehr globalen The- dabei aufgeworfenen Problemstellungen – (Weßels 2018, S. 350 f.). men (Multimedia) zu konkreteren Wech- von der Stärkung von »Obskurantisten, selbeziehungen (Neue Medien und Kultur, rechtsradikalen Gruppen und anderen Doch diese Fokussierung ermöglichte es Internet und Demokratie) bis hin zu ein- Gegner[n] der Demokratie« (Grunwald et auch, Bereiche des Forschungsfelds Digi- zelnen Verfahren bzw. Aspekten (E-Peti- al. 2006, S. 231) über den ungleichen Zu- talisierung und Öffentlichkeit zu adres- tionen beim Deutschen Bundestag, Algo- gang zur politischen Öffentlichkeit (»di- sieren, die von der Forschung vernachläs- rithmen und Öffentlichkeit) stattgefunden gital divide«) bis hin zur »Bedeutung und sigt wurden. So konnte das TAB im Fall hat – in ähnlicher Weise, wie sich die so- Wirkung von Suchmaschinen« (Grun- der E-Petitionen »umfangreiche Grundla-

23 Schwerpunkt: Digitalisierung der politischen Öffentlichkeit

genarbeit« leisten (Jungherr/Jürgens 2011, Aktuelle Herausforderungen Die Forschung zur Digitalisierung der S. 526) und weitere Forschungsarbeiten Öffentlichkeit hat sich zwar in den ver- dieser neuen Verfahrensvariante ansto- Der Rückblick auf die Entwicklung der gangenen 30 Jahren stark weiterent- ßen. Es wurden zudem konkretere und wissenschaftlichen Untersuchung der di- wickelt und ausdifferenziert, dennoch stärker auf die politische Praxis ausge- gitalisierten Öffentlichkeit verdeutlicht, verbleiben Desiderate wie etwa ein stär- richtete Handlungsoptionen entwickelt, dass das Aufstellen von (optimistischen kerer interdisziplinärer Austausch (Bie- als es auf der abstrakteren Ebene möglich und pessimistischen) Extrempositionen ber 2020, S. 157; Jungherr 2017, S. 285). gewesen wäre. Zwar wurden die optimis- nicht dazu führen sollte, die tatsächli- Außerdem scheint es der Forschung trotz tischen und pessimistischen Einschätzun- che Techniknutzung sowie die konkre- aller Weiterentwicklung schwerzufallen, gen weiter als Bezugspunkte herangezo- ten Wechselwirkungen zwischen Techno- mit der ebenfalls beschleunigten tech- gen, gleichzeitig wurde jedoch auf das logie und deren Nutzung aus dem Blick zu nologischen Entwicklung Schritt zu hal-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. noch frühe, experimentelle Stadium der verlieren. Oftmals liegt eine Schwierigkeit ten und diese empirisch wie theoretisch Onlinebeteiligung bei Parlamenten hin- für die empirische Forschung darin, sol- einzuholen. Immer neue Entwicklun- gewiesen: »Tatsächlich rechtfertigt es der che Wechselwirkungen überhaupt erst zu gen, wie zuletzt im Bereich der KI, wer- Stand der Entwicklung im Bereich par- identifizieren und in einem zweiten Schritt fen neue, umfassende Fragen nach ihren lamentarischer E-Demokratie aber noch ihre Bedeutung für die weiteren Auswir- Auswirkungen auf. Trotz der Geschwin- nicht, ein Scheitern der Hoffnungen zu kungen der Technik zu bewerten. Ein digkeit der technologischen Entwicklung konstatieren, die in das Internet in Bezug Beispiel für eine aktuell diskutierte Ent- und des medialen Diskurses sollten sich auf eine Intensivierung der deliberativen wicklung im Bereich der digitalen Öffent- Wissenschaft und Forschung folglich die Kommunikationsbeziehungen zwischen lichkeit wird unter dem Stichwort »dark notwendige Zeit nehmen, um einzelne Repräsentanten und Repräsentierten ge- participation« verhandelt. Damit wird eine Aspekte genauer zu untersuchen und da- setzt werden. Wie die E-Partizipation destruktive Debattenkultur beschrieben, bei allgemeine Überzeugungen zu Wech- insgesamt steckt die parlamentarische die den Diskurs in eine bestimmte Rich- selwirkungen zwischen Politik, Gesell- E-Demokratie immer noch in den Kin- tung lenken oder zum Scheitern bringen schaft und Digitalisierung auf die Probe derschuhen.« (Riehm et al. 2009, S. 125) will (etwa durch Hassrede, Desinforma- zu stellen. tion, Provokationen sowie strategische Der Deutsche Bundestag begleitet den Versuche, die öffentliche Meinung zu Wandel der Informations- und Kommuni- beeinflussen; Kneuer 2020, S. 7; Quandt Ausblick auf zukünftige kationstechnologien nicht nur als Gesetz- 2018, S. 40 ff.). Eine Ausweitung dieser De- Forschungsfragen geber (Rathenau Instituut 2020, S. 27 f.), battenkultur in der Onlineöffentlichkeit sondern ist als zentrale demokratische Ins- wird zum Teil auf technologische Fakto- Richtet man den Blick entlang der techno- titution unmittelbar von ihm betroffen. Er ren wie die Nutzung von Social Bots oder logischen Entwicklungslinien in die Zu- betreibt in verschiedenen Ausschüssen und die verstärkenden Algorithmen der So- kunft, so weist der Pfad vom Internet als Kommissionen aktiv Angebote der Online- cial-Media-Plattformen zurückgeführt. Kommunikationsinfrastruktur über das beteiligung (TAB 2017a, S. 202 f.), zuletzt Inwiefern diese Beschreibung jedoch aus- Web 1.0 und die sozialen Medien des Web beispielsweise durch die Enquete-Kommis- reichend ist, ist eine offene Frage. So sind 2.0 auf die mobile Onlinekommunika- sion Künstliche Intelligenz – Gesellschaft- die Wirkungszusammenhänge von Social tion, die gegenwärtig bereits von knapp liche Verantwortung und wirtschaftliche, Bots auf die politische Willensbildung drei Vierteln der deutschsprachigen Be- soziale und ökologische Potenziale (Deut- bislang kaum belegt (Assenmacher et al. völkerung genutzt wird (Beisch/Schäfer scher Bundestag 2020). Da diese Angebote 2020; TAB 2017b) und die Rolle von Social- 2020, S. 476). Welche weiteren Verände- nicht fest institutionalisiert sind, sondern Media-Plattformen für die Meinungsbil- rungen damit verbunden sind, lässt sich gewissermaßen auf Probe durchgeführt dung der Öffentlichkeit erweist sich bei ge- aktuell noch nicht absehen. Naheliegend werden, besteht weiterhin Bedarf an ei- nauerer Analyse meist als weniger wichtig, ist die Annahme, dass die Bedeutung von ner wissenschaftlichen Begleitung und an als es die mediale Debatte suggeriert (ICO Social-Media-Plattformen als Interme- Hinweisen, wie sich die Potenziale für die 2020; Sängerlaub et al. 2018). Daher bleibt diäre der öffentlichen (und vor allem der parlamentarische Arbeit nutzen und die es die – oft mühsame – Aufgabe kleintei- mobilen) Onlinekommunikation weiter Gefahren beispielsweise einer »Placebopo- liger empirischer Forschung, das genaue zunehmen wird und damit eine doppelte litik« (TAB 2017a, S. 62) vermeiden lassen, Zusammenspiel von technischen und so- Privatisierung (mit Blick auf die Rechts- bei der die Beteiligung primär um der Be- zialen Faktoren herauszuarbeiten. Erst auf stellung der Unternehmen, aber auch die teiligung selbst willen betrieben wird und dieser Grundlage können die gesellschaft- Orientierung an den persönlichen Präfe- damit ohne tatsächlichen politischen Ein- liche Relevanz bewertet und Handlungs- renzen und Netzwerken der Nutzenden) fluss bleibt. optionen identifiziert werden. stattfindet (Stark/Magin 2019).

24 Schwerpunkt: Digitalisierung der politischen Öffentlichkeit

In Bezug auf die Angebotsseite politischer Die digitalisierte Öffentlichkeit bleibt ein Buchstein, H. (1996): Bittere Bytes: Cyber- Kommunikation, insbesondere die Akti- Untersuchungsobjekt, das starken Verän- bürger und Demokratietheorie. In: Deut- vitäten staatlicher Institutionen, zeichnet derungsprozessen unterliegt. Die Annah- sche Zeitschrift für Philosophie 44(4), sich in der Forschungsliteratur ein Schwer- me, dass sich aus der Digitalisierung gra- S. 583–607 punkt bei KI als relevante Zukunftstech- vierende gesellschaftliche Folgen ergeben, nologie ab. In Bezug auf politische Öf- kann mittlerweile als bestätigt gelten (Thiel Bundesregierung (2018): Strategie Künst- fentlichkeit wird beispielsweise die Vision 2020, S. 344 f.). Ein Ende des Veränderungs- liche Intelligenz der Bundesregierung. beschrieben, KI könnte genutzt werden, prozesses ist noch nicht absehbar, daher Stand: November 2018, www.bmbf.de/ um »Meinungsbildungsprozesse delibe- dürfte die Frage, welche Öffentlichkeit(en) files/Nationale_KI-Strategie.pdf rativer« stattfinden zu lassen (Borucki et Demokratien brauchen und wie sie die- al. 2020, S. 368). So ließen sich mithilfe se schaffen können, »in den kommenden Dalton, R. (1998): Political Support in Ad- von KI regelwidrige Inhalte identifizie- Jahren eines der politisch wichtigsten The- vanced Industrial Democracies. In: Nor- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. ren und so eine Moderation auch großer men« sein (Thiel 2020, S. 342). ris, P. (Hg.): Critical Citizens. Global Sup- Onlinedebatten ermöglichen (Marsden et port for Democratic Government. Oxford al. 2020, S. 6) – ein Verfahren, das aller- Steffen Albrecht u. a. O., S. 57–77 dings bisher noch auf menschliche Mitar- Alma Kolleck beit angewiesen ist (Marsden et al. 2020, Datenethikkommission der Bundesregie- S. 8). Eine sehr weitreichende Vision ist rung (2019): Gutachten der Datenethik- ein »realtime smart government«, bei dem Literatur kommission. Berlin »über soziale Medien und Big Data viel- fältige Informationen über individuelle Assenmacher, D.; Clever, L.; Frischlich, Deutscher Bundestag (2020): Enquete- Einstellungen und Verhaltensweisen der L.; Quandt, T.; Trautmann, H.; Grimme, Kommission Künstliche Intelligenz prä- Bürger gesammelt« werden, die vernetzt C. (2020): Demystifying Social Bots: On sentiert Ergebnisse ihrer Arbeit. Pressemit- und mit weiteren Informationsquellen the Intelligence of Automated Social Me- teilung vom 21.9.2020, www.bundestag.de/ verknüpft Rückmeldungen über indivi- dia Actors. In: Social Media and Socie- presse/pressemitteilungen/pm-200921- duelle wie kollektive Einstellungsprofi- ty 6(3), DOI: 10.1177/2056305120939264 enquete-793960 le der Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer »passiven Partizipation« (Kersting Beisch, N.; Schäfer, C. (2020): Internetnut- DiMaggio, P.; Hargittai, E.; Neuman, W.; 2019, S. 108) generieren und in den po- zung mit großer Dynamik: Medien, Kom- Robinson, J. (2001): Social Implications of litischen Prozess einbringen. Derartige munikation, Social Media. Ergebnisse der the Internet. In: Annual Review of Socio- Visionen werden gegenwärtig allerdings ARD/ZDF-Onlinestudie 2020. In: Media logy 27, S. 307–336 als »eher dystopisch« angesehen (Kers- Perspektiven 9/2020, S. 462–481 ting 2019, S. 108) und erscheinen auch EK (Enquete-Kommission »Künstliche nicht realistisch. Die damit verbundene Berners-Lee, T.; Cailliau, R. (1990): World- Intelligenz – Gesellschaftliche Verant- systematische Beobachtung sozialer Me- WideWeb: Proposal for a HyperText Pro- wortung und wirtschaftliche, soziale dien würde wohl u. a. gravierende Daten- ject. E-Mail vom 12.11.1990, www.w3.org/ und ökologische Potenziale«) (2020): Be- schutzfragen aufwerfen (Datenethikkom- Proposal richt der Enquete-Kommission Künstli- mission der Bundesregierung 2019, S. 98). che Intelligenz – Gesellschaftliche Ver- Zudem stellt sich die Frage, ob die tech- Bieber, C. (2020): Forschungsfragen der antwortung und wirtschaftliche, soziale nischen Möglichkeiten von KI nicht über- digitalen Öffentlichkeit. Ein Ausblick. und ökologische Potenziale. Unterrich- schätzt werden (Kersting 2019, S. 108 f.). In: Bedford-Strohm, J.; Höhne, F.; Zey- tung. Deutscher Bundestag, Drucksache Eine zukünftige, typische Aufgabe gerade her-Quattlender, J. (Hg.): Digitaler Struk- 19/23700, Berlin für politikberatende TA wird darin beste- turwandel der Öffentlichkeit. Interdis- hen, ein realistisches Bild der Potenziale ziplinäre Perspektiven auf politische Grunwald, A.; Banse, G.; Coenen, C.; von KI zu zeichnen und Anwendungsfel- Partizipation im Wandel. Baden-Baden, Hennen, L. (2006): Netzöffentlichkeit und der im öffentlichen Bereich zu identifizie- S. 151–158 digitale Demokratie. Tendenzen politi- ren, die nicht nur technisch möglich, son- scher Kommunikation im Internet. Stu- dern auch gesellschaftlich wünschenswert Borucki, I.; Michels, D.; Marschall, S. dien des TAB 18, Berlin sind, wozu etwa die Enquete-Kommis- (2020): Die Zukunft digitalisierter Demo- sion Künstliche Intelligenz bereits einen kratie – Perspektiven für die Forschung. Hempel, J. (2016): Social Media Made the Beitrag geleistet hat (Deutscher Bundes- In: Zeitschrift für Politikwissenschaft Arab spring, But Couldn’t Save It. Wired. tag 2020). 30(2), S. 359–378 com, 26.1.2016, www.wired.com/2016/01/

25 Schwerpunkt: Digitalisierung der politischen Öffentlichkeit

social-media-made-the-arab-spring-but- Norris, P. (2000): A Virtuous Circle. Politi- Sismondo, S. (2010): An Introduction to Sci- couldnt-save-it cal Communications in Postindustrial So- ence and Technology Studies. Chichester cieties. Cambridge u. a. O. Horz, C. (2019): Lasst uns ein Medium für Stark, B.; Magin, M. (2019): Neuer Struk- die Bürgergesellschaft schaffen! In: Der Ta- Pariser, E. (2011): The Filter Bubble. What turwandel der Öffentlichkeit durch In- gesspiegel, 19.1.2019, S. 30 the Internet is Hiding From You. New York formationsintermediäre: Wie Facebook, Google & Co. die Medien und den Jour- ICO (Information Commissioner’s Of- Paschen, H.; Wingert, B.; Coenen, C.; Ban- nalismus verändern. In: Eisenegger, M.; fice) (2020): RE: ICO Investigation Into se, G. (2002): Kultur – Medien – Märkte. Udris, L.; Ettinger, P. (Hg.): Wandel der Medienentwicklung und kultureller Wan- Use of Personal Information and Political del. Studien des TAB 12, Berlin Öffentlichkeit und der Gesellschaft. Wies- Influence. https://ico.org.uk/media/action- baden, S. 377–406

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. weve-taken/2618383/20201002_ico-o-ed- Quandt, T. (2018): Dark Participation. In: l-rtl-0181_to-julian-knight-mp.pdf Media and Communication 6(4), S. 36–48 Sunstein, C. (2001): Republic.com. Princeton Jungherr, A. (2017): Das Internet in der Rafaeli, S.; Sudweeks, F. (1998): Interac- tivity on the Nets. In: Sudweeks, F.; Mc- politischen Kommunikation: Forschungs- Laughlin, M.; Rafaeli, S. (Hg.): Network TAB (2017a): Online-Bürgerbeteiligung stand und Perspektiven. In: Politische and Netplay. Virtual Groups on the Inter- an der Parlamentsarbeit (Oertel, B.; Kah- Vierteljahresschrift 58(2), S. 284–315 net. Menlo Park u. a. O., S. 173–189 lisch, C.; Albrecht, S.). TAB-Arbeitsbericht Nr. 173, Berlin Jungherr, A.; Jürgens, P. (2011): E-Petiti- Rathenau Instituut (2020): A Better Grip onen in Deutschland: Zwischen niedrig- on Digitisation – An International Com- TAB (2017b): Social Bots (Kind, S.; Jetz- schwelligem Partizipationsangebot und parison of Parliamentary Working Meth- ke, T.; Weide, S.; Ehrenberg-Silies, S.; Bo- quasi-plebiszitärer Nutzung. In: Zeitschrift ods. Den Haag venschulte, M.). Horizon-Scanning Nr. 3, für Parlamentsfragen 42(3), S. 523–537 Berlin Riehm, U.; Böhle, K.; Lindner, R. (2013): Kersting, N. (2019): Online Partizipation: Elektronische Petitionssysteme. Analy- Thiel, T. (2020): Demokratie in der digita- Evaluation und Entwicklung – Status quo sen zur Modernisierung des parlamenta- len Konstellation. In: Riescher, G.; Rosen- und Zukunft. In: Hofmann, J.; Kersting, rischen Petitionswesens in Deutschland zweig, B.; Meine, A. (Hg.): Einführung in N.; Ritzi, C.; Schünemann, W. (Hg.): Po- und Europa. Studien des TAB 35, Berlin die Politische Theorie. Stuttgart, S. 331–349 litik in der digitalen Gesellschaft. Biele- feld, S. 105–122 Riehm, U.; Coenen, C.; Lindner, R.; Blü- Weßels, B. (2018): Politische Integration mel, C. (2009): Bürgerbeteiligung durch und politisches Engagement. In: Statisti- Kneuer, M. (2020): E-Democracy. In: E-Petitionen. Analysen von Kontinuität sches Bundesamt; Wissenschaftszentrum Klenk, T.; Nullmeier, F.; Wewer, G. (Hg.): und Wandel im Petitionswesen. Studien Berlin für Sozialforschung (Hg.): Datenre- Handbuch Digitalisierung in Staat und des TAB 29, Berlin port 2018. Ein Sozialbericht für die Bun- Verwaltung. Wiesbaden, S. 1–11 desrepublik Deutschland. Bonn, S. 350–357 Riehm, U.; Wingert, B. (1995): Multime- Krafft, T.; Zweig, K. (2017): Ein Fakten- dia – Mythen, Chancen und Herausfor- Wolfsfeld, G.; Segev, E.; Sheafer, T. (2013): check. Ließ ein Algorithmus Trump trium- derungen. Mannheim Social Media and the Arab Spring: Politics phieren? In: Informatik Spektrum 40(4), Comes First. In: The International Journal S. 336–344 Sängerlaub, A.; Meier, M.; Rühl, W.-D. of Press/Politics 18(2), S. 115–137 (2018): Fakten statt Fakes. Verursacher, Margolis, M.; Resnick, D. (2000): Politics Verbreitungswege und Wirkungen von Yang, M. (2008): Jenseits des ›Entweder- as Usual: The Cyberspace »Revolution«. Fake News im Bundestagswahlkampf 2017. Oder‹: Internet als konventioneller Teil Thousand Oaks u. a. O. Berlin, www.stiftung-nv.de/sites/default/ der Demokratie. In: kommunikation@ files/snv_fakten_statt_fakes.pdf gesellschaft 9, S. 1–13 Marsden, C.; Meyer, T.; Brown, I. (2020): Platform Values and Democratic Elections: Schönberger, K. (2000): Der Mensch als Zarcostas, J. (2020): How to Fight an In- How Can the Law Regulate Digital Disin- Maschine. Flexibilisierung der Subjek- fodemic. In: The Lancet 395(10225), S. 676 formation? In: Computer Law & Security te und Hartnäckigkeit des Technikde- Review 36, 105373 terminismus. In: Das Argument 42(5/6), S. 812–823

26 Schwerpunkt: Diskurs und Dialog

Sichtweisen und Wertvorstellungen zu wissenschaftlich-technischen Entwicklungen – Diskurs und Dialog in der Arbeit des TAB

Bürgerinnen und Bürgern, Nichtregierungsorganisationen, Vereinigungen sowie auch wenig bzw. nicht institutio- und Verbänden kommen im Kontext der Diskussion und der Bewertung von nell organisierten Bürgerinnen und Bür- Problemen und Problemlösungen steigende Bedeutung zu. Dieser partizi- gern. In den ersten Jahren konnten ins- pative Wandel spiegelt sich auch in der Arbeit des TAB wider. Seit Septem- gesamt mehr als 2.500 Panelmitglieder ber 2013 ist der Erfahrungs- und Meinungsaustausch mit gesellschaftlichen gewonnen werden, die für Befragungen Akteuren durch systematische Diskursanalysen und Dialogverfahren eine oder andere Dialogelemente angespro- der Aufgaben des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewer- chen werden können. Da alle Befragun- tung im Rahmen der Konsortialpartnerschaft des TAB. Dabei geht es um eine gen öffentlich beworben werden, wächst systematische Nutzung von Beteiligungsverfahren sowohl für die Generie- das TA-Panel kontinuierlich. rung von Erkenntnissen für TAB-Projekte (Input) als auch für die Weiterver- breitung und Debatte von deren Ergebnissen (Output). Hierfür hat das IZT Seit dem Start des Internetauftritts www. in den vergangenen Jahren das Konzept des »Stakeholder Panel TA« entwi- stakeholderpanel.de im November 2014 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. ckelt und etabliert. Mit diesem Instrument werden seitdem empirische Umfra- hat das IZT zum einen Befragungen im gen auf der Grundlage verschiedener Erhebungsinstrumente durchgeführt. Panel zu Themen wie dem Ausbau der Stromnetze, der exzessiven Mediennut- zung und Online-Bürgerbeteiligung Typisches Ziel von TA-Partizipationspro- wissenschaftlichen Expertinnen und Ex- durchgeführt. Zum anderen wurden in zessen ist die Früherkennung von Aspek- perten zu vereinfachen und zu stärken. der aktuellen Legislaturperiode des Bun- ten, bei denen Chancen und Gefahren Gleichzeitig können parlamentarische destages systematisch Bevölkerungsbefra- umstritten sein können und diverse Hoff- Diskussionen und Entscheidungen noch gungen ergänzt, wie beispielsweise eine nungen und Sorgen bei unterschiedlichen transparenter und teilhabeorientierter ge- repräsentative Befragung junger Men- Interessengruppen bestehen: Wer gehört staltet werden. Im Folgenden stellen wir schen zu personalisierten Onlineme- zu den Gewinnern, wer zu den Verlieren Beispiele aus der Arbeit des TAB vor, bei dien oder eine repräsentative Erhebung von Veränderungsprozessen, welche poli- denen verschiedene Dialogprozesse im der deutschen Wohnbevölkerung zum tischen Handlungsoptionen könnten an- Mittelpunkt standen. Nutzen von Gesundheits-Apps. gestoßen werden, um die Chancen wis- senschaftlich-technischer Entwicklungen Am Stakeholder Panel TA beteiligen zu steigern und die Gefahren zu minimie- Stakeholder Panel TA und sich bislang vorrangig Akteure, die über ren? Partizipative TA beim TAB ist dar- andere Dialogformate 30 Jahre alt sind. Für die gezielte Anspra- auf ausgerichtet, vielfältige Standpunkte che junger Menschen wurden deshalb ju- und Problemsichten von gesellschaftli- Ziel des Stakeholder Panel TA ist es, Dia- gendspezifische Formate ergänzt, darun- chen Gruppen, aber auch von Bürgerin- logprozesse zu wissenschaftlich-techni- ter bundesweite persönliche Interviews nen und Bürgern strukturiert in die ei- schen Entwicklungen zu initiieren, die mit 60 Erstwählerinnen und Erstwählern gene Arbeit und in die Dialogprozesse Sichtweisen unterschiedlicher gesell- im Sommer 2017 oder eine Repräsenta- des Deutschen Bundestages einzuspeisen. schaftlicher Gruppen in die Arbeit des tivbefragung junger Menschen über ein TAB einzubringen und damit für den Online-Access-Panel zum TA-Projekt Befragungen bieten eine klassische Her- Deutschen Bundestag nutzbar zu machen. »Algorithmen in digitalen Medien und angehensweise, die Sichten von Akteuren Hierbei sollen nicht nur fachliche, poli- ihr Einfluss auf die Meinungsbildung«. einzubinden. Das Spektrum der Beteili- tisch-strategische und normative Aspek- gungsmöglichkeiten ist damit aber längst te berücksichtigt, sondern insbesondere Jugendliche Teilnehmende des branden- nicht ausgeschöpft: Neue, oft digitale Par- auch gesellschaftliche Bedürfnisse und burgischen Landeswettbewerbs »Jugend tizipationsformate bieten immer mehr potenzielle Ansprüche im Kontext aus- debattiert« diskutierten 2016 im Deut- Menschen die Möglichkeit, sich in dis- gewählter wissenschaftlich-technischer schen Bundestag das Thema »Sollen alle kursive TA-Verfahren einzubringen und Entwicklungen identifiziert und abgebil- Computerspiele einen ›Beipackzettel‹ er- sich so mit ihrem Wissen und ihren Er- det werden. halten?« »Jugend debattiert« ist ein Schü- fahrungen an der vorausschauenden Be- lerwettbewerb unter der Schirmherrschaft wertung aktueller wissenschaftlich-tech- Formal besteht das Stakeholder Panel TA des Bundespräsidenten, bei dem die De- nischer Entwicklungen zu beteiligen. Für aus einem Kreis registrierter Mitglieder battanten entweder die Pro- oder die Kon- die TA beim Deutschen Bundestag er- (Panel) aus verschiedenen gesellschaft- trapositionen vertreten und sich nach fes- öffnen sie die Möglichkeit, den struktu- lichen Gruppen wie Politik und Verwal- ten Regeln zum Thema austauschen. Der rierten Austausch mit gesellschaftlichen tung, Wissenschaft und Bildung, Wirt- Wettbewerb will so junge Menschen zum und politischen Gruppen, aber auch mit schaft, Umwelt- und Verbraucherschutz qualifizierten Mitgestalten in der Demo-

27 Schwerpunkt: Diskurs und Dialog

kratie anregen. Die Debatte war Teil des › TAB-Sensor Nr. 1: Wie bewerten jun- der Bundestagsverwaltung, den Projektzu- öffentlichen Fachgesprächs des TAB zur ge Menschen personalisierte Online- ständigen des TAB sowie in den Projekten Präsentation und Diskussion der Ergeb- medien? beteiligten weiteren Expertinnen und Ex- nisse des TA-Projekts »Neue elektronische › TAB-Sensor Nr. 2: Wie werden Gesund- perten über aktuelle TA-Themen zu stär- Medien und Suchtverhalten«. heits-Apps genutzt und bewertet? ken. Dabei boten Informationsstände zu › TAB-Sensor Nr. 3: Wer kennt und den TAB-Untersuchungen »Additive Fer- nutzt Petitionen an den Deutschen tigungsverfahren« und »Wettlauf in eine TAB-Sensor Bundestag? neue Weltraumära« und -Publikationen – wie der kurz zuvor erschienene TAB-Sen- Die etablierten Veröffentlichungsforma- Ein weiterer TAB-Sensor ist derzeit in Be- sor zu Gesundheits-Apps – die Gelegen- te des TAB werden seit August 2018 um arbeitung und wird Anfang 2021 die Er- heit, sich über neue Technologien und ihre

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. eine handliche und reich illustrierte Pub- gebnisse einer für Deutschland wohnbe- vielfältigen Wechselwirkungen mit Gesell- likation erweitert. In der Publikationsrei- völkerungsrepräsentativen Erhebung zur schaft und Umwelt zu informieren. Beson- he TAB-Sensor werden zu ausgewählten Telemedizin dokumentieren. deres Interesse erweckten bei Parlamenta- Themen Befragungsergebnisse aus dem riern und Tagesbesuchern des Bundestages Stakeholder Panel TA visuell einprägsam die ausgestellten Produktinnovationen: So in Kurzbroschüren aufbereitet. Das le- Erprobung neuer präsentierte die EOS GmbH – ein welt- sefreundliche Format soll auch zur Teil- Veranstaltungsformate weit führender Technologieanbieter im nahme beim Stakeholder Panel TA mo- 3-D-Druckbereich aus München – Pro- tivieren. Der TAB-Sensor soll für alle am Im September 2019 wurde erstmals das dukte aus der industriellen additiven Fer- Thema Interessierte einen schnellen Ein- neue Veranstaltungsformat »TAB im tigung: vom individualisierten Fahrrad- stieg in TA-Analysen ermöglichen und Foyer – Zukunftstechnologien im Blick« helm oder Sportschuh über medizinische dabei systematisch auf die TA beim Deut- im Deutschen Bundestag durchgeführt, Produkte bis hin zu industriellen Werk- schen Bundestag bzw. die verfügbaren um die Sichtbarkeit der TA im Parlament zeugen. Und die Planetary Transportation TAB-Ergebnisse hinweisen. Bislang er- sowie den Dialog zwischen Abgeordne- Systems GmbH, ein deutsches New-Space- schienen sind drei Ausgaben: ten, Mitarbeitenden der Fraktionen und Unternehmen, stellte sein Mondauto aus,

Dritte Ausgabe des TAB-Sensors

Wer kennt und nutzt Petitionen an den Deutschen Bundestag? Und wie haben die Menschen vom Petitionsrecht erfahren? Der TAB-Sensor Nr. 3 nähert sich diesen Kernfragen aus der Sicht von Internetnutzerinnen und -nutzern mit Wohnsitz in Deutsch- land. Auch über die Bekanntheit von außerparlamentarischen Petitions- bzw. Kampagnenportalen in der Bevölkerung wird im neuen TAB-Sensor berichtet.

Die bundesweite Repräsentativbefragung stellt einen Baustein der Untersuchung des TAB zum Thema »Petitionen an den Deut- schen Bundestag – Bekanntheit und Nutzung« dar (hierzu der Beitrag auf S. 42 ff.).

28 Schwerpunkt: Diskurs und Dialog

das mit einem elektrischen Allradantrieb, ziale Innovation wurde beispielsweise ein In den vergangenen Jahren hat der Deut- kippbaren Solarmodulen, wiederaufladba- partizipativer, moderierter Stakeholder- sche Bundestag vielfältige Erfahrungen ren Batterien und hochauflösenden Kame- diskurs durchgeführt . Hier wurden so- mit der konkreten Umsetzung von Ange- ras in Wissenschaftsqualität ausgestattet wohl zukünftige Entwicklungspfade von boten der Online-Bürgerbeteiligung ge- dennoch nur 30 kg auf die Waage bringt. Gesundheits-Apps kritisch als auch po- sammelt. Sowohl die Enquete-Kommis- TAB im Foyer soll auch zukünftig weiter- tenzielle gesellschaftspolitische Hand- sion Internet und digitale Gesellschaft geführt werden – die nächste Umsetzung lungs- und Gestaltungsfelder gewürdigt. (2010–2013) mit ihren neuartigen web- ist derzeit für das Frühjahr 2021 geplant, Kürzlich wurde zudem eine Studie »Nut- basierten Herangehensweisen und Be- sofern die aktuellen Coronabeschränkun- zenpotenziale innovativer und partizi- teiligungsformaten als auch die vom gen dies erlauben. pativer methodischer Verfahren für den Petitionsausschuss geschaffenen Mög- Deutschen Bundestag« abgeschlossen. Sie lichkeiten, Petitionen beim Deutschen

kann als Grundlage herangezogen wer- Bundestag über das Internet einzurei- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. TA-Studien zur den, um in der kommenden Runde der chen, mitzuzeichnen und mit anderen Bürgerbeteiligung Themenfindung des Bundestages für die zu diskutieren, haben große öffentli- TAB-Arbeit sowie der anschließenden che Beachtung erfahren. Nachdem das Auch in den TA-Studien werden – da, wo Projektkonzeption und Beschlussfassung TAB bereits die Einführung elektroni- es möglich und sinnvoll ist – neue und neuer TA-Studien partizipative Verfahren scher und öffentlicher Petitionen ab 2005 partizipative Formate integriert. Für die gezielt berücksichtigen zu können (hier- durch mehrere Untersuchungen begleitet Bewertung von Gesundheits-Apps als so- zu der Beitrag auf S. 55 ff.). hatte, wurde sich in einem von der En- quete-Kommission Internet und digita- le Gesellschaft initiierten, vielbeachteten Abb. TAB im Foyer (September 2019) Projekt 2015/2016 den Erfahrungen und Möglichkeiten der Online-Bürgerbetei- ligung an der Parlamentsarbeit gewid- met. Hierfür lieferte eine große Stake- holder-Panel-TA-Befragung wichtige Ergebnisse.

2019 wurde dann vom Petitionsaus- schuss die Konzeption und Durchfüh- rung bevölkerungsrepräsentativer Befra- gungen durch das TAB zur Bekanntheit und Nutzung von Petitionen an den Deutschen Bundestag angeregt. Die Stu- die zur Online-Bürgerbeteiligung wurde u. a. im Bundestag in unterschiedlichen Gremien präsentiert. Auch die aktuel- len Ergebnisse zur Bekanntheit und Nut- zung von Petitionen (hierzu der Beitrag auf S. 42 ff. sowie der TAB-Sensor Nr. 3) wurden nicht nur den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, sondern auf der Tagung der Vorsitzenden und stellvertre- tenden Vorsitzenden der Petitionsaus- schüsse des Bundes und der Länder im September dieses Jahres auch den Ver- treterinnen und Vertretern der Landes- parlamente vorgestellt.

Britta Oertel Michaela Evers-Wölk

29 Schwerpunkt: Horizon-Scanning als Foresightmethode

Horizon-Scanning oder wie eine Foresight- methode zur Technikfolgenabschätzung kam

Seit 2013 gehört zum methodischen Spektrum des TAB auch das Horizon- umfasste Codes zu Megatrends, Sub- Scanning, das vom Konsortialpartner VDI/VDE-IT in regelmäßigen Abstän- trends, Schlüsseltechnologien, Wirt- den durchgeführt wird. Horizon-Scannings sind oftmals ein erster Schritt in schaftszweigen, Zukunftsbildern, Zeit- umfangreicheren Prozessen der strategischen Vorausschau (Foresight) (Ha- horizonten und die in Foresightprozes- begger 2009), mittels derer systematisch nach schwachen Signalen, also frü- sen zur Analyse eines Themas häufig ver- hen Anzeichen für sich abzeichnende Veränderungen, gesucht wird (Ansoff wendeten STEEP+VL-Faktoren (social, 1980; Glenn/Gordon 2009; Lang 1998; Lasinger/Lasinger 2011). Diese Ver- technological, economic, ecologic, politi- änderungen können sich beispielsweise in Form von neuen wissenschaft- cal, values, legal = gesellschaftlich, tech- lichen Erkenntnissen und Technologien sowie in Form neuer sozioöko- nisch, wirtschaftlich, ökologisch, poli- nomischer Themen und Entwicklungen zeigen (Cuhls 2019). In typischen tisch, ethisch, rechtlich). Foresightprozessen werden die durch Horizon-Scannings gewonnenen Er-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. kenntnisse aufbereitet und für weitere Analysen anschlussfähig gemacht. Die eingelesenen Texte korrespondierten So können sie beispielsweise als Grundlage für Delphibefragungen oder inhaltlich zum Teil mit den im Brainstor- für die Entwicklung von Szenarien dienen. ming generierten Ideen und bereits vali- dierten Themen der Shortlist, zum Teil wurden sie nach dem Zufallsprinzip aus- Das von der VDI/VDE-IT konzipierte waregestützte Such- und Analyseschritte gewählt, um durch die Quellenauswahl und methodisch kontinuierlich weiterent- mit expertenbasierten Validierungs- und verursachte Verzerrungen bei der Daten- wickelte Horizon-Scanning für das TAB Bewertungsprozessen. Somit verbindet auswertung zu vermeiden. Auf Basis der greift die beschriebene Grundfunktion es die Vorteile qualitativer Herangehens- softwaregenerierten (Co-Occurrence-)Ma- von Horizon-Scannings auf, wurde je- weisen wie Offenheit und Flexibilität mit trix, welche die Häufigkeiten des gemein- doch zusätzlich auf die spezifischen An- der höheren Objektivität und Generali- samen Auftretens unterschiedlicher Codes forderungen einer umfassenden TA für sierbarkeit quantitativer Ansätze, die zu- zeigte, ließen sich sowohl technisch-wis- den Deutschen Bundestag angepasst. So meist aus größeren Fallzahlen resultieren. senschaftliche Entwicklungen in den be- werden primär neue technologische Ent- reits validierten Themen als auch neue, wicklungen beobachtet und systematisch Die Anfänge des Horizon-Scan- ergänzende Themen entdecken. In der Ma- auf ihre Chancen und Risiken bewertet. nings: softwaregestützte quan- trix wurde zur Identifizierung ergänzender Ziel ist es, technologische, ökonomische, titative Inhaltsanalyse und Themen nach Auffälligkeiten (ausgeprägt ökologische, soziale und politische Verän- Experten-Know-how hohe Anzahl der gemeinsamen auftreten- derungspotenziale möglichst früh zu er- den Codes, ausgeprägt geringe Anzahl der fassen und zu beschreiben und dadurch Das Horizon-Scanning von 2013 bis 2018 gemeinsam auftretenden Codes, Unwahr- einen Beitrag zur forschungs- und inno- basierte im Wesentlichen auf zwei paral- scheinlichkeit eines gemeinsamen Auftre- vationspolitischen Orientierung und Mei- lelen Vorgehensweisen: einer Themen- tens zweier Codes etc.) gesucht. Zu den nungsbildung des ABFTA zu leisten. identifizierung durch Expertinnen und identifizierten Auffälligkeiten wurden die Experten der VDI/VDE-IT unter Einbe- korrespondierenden codierten Zitate ange- Die Ergebnisse des Horizon-Scannings ziehung des Know-hows des gesamten zeigt und auf thematische Kohärenz und werden als Themenkurzprofile aufbereitet TAB-Konsortiums und einer softwarege- Relevanz geprüft. Erst wenn diese gegeben und veröffentlicht. Das bisher entstande- stützten quantitativen Textanalyse mit waren, konnte auf Basis der Zitate ein er- ne Themenspektrum der Kurzprofile um- dem Computerprogramm »Atlas.ti«. Zu gänzendes Thema abgleitet werden. fasst neue wissenschaftlich-technischen Beginn eines jeden Horizon-Scanning- Entwicklungen u. a. in den Bereichen Zyklus stand damals ein intensives Brain- Nach einigen durchgeführten Zyklen des Arbeitswelt, Architektur, Biotechnolo- storming, indem zunächst eine umfas- Horizon-Scannings mit der beschriebe- gie, Digitalisierung, Ernährung, Klima- sende, gemeinsame Ideensammlung zu nen Methodik zeigte sich, dass der Auf- und Umweltschutz, Plattformökonomien, aktuellen wissenschaftlich-technischen wand für die Codierung der Texte im Raumfahrt sowie Zahlungsverkehr. Trends entstand (Longlist). Diese wurde Rahmen der softwaregestützten Inhalts- in mehreren systematischen Reflexions- analyse im Verhältnis zu der Anzahl und gesprächen zu einer finalen Kurzliste ver- Qualität der gefundenen Themen zu hoch Die Entwicklung des dichtet (Shortlist). Parallel dazu wurden ist. Um den Aufwand für die softwarege- Horizon-Scannings im TAB Quellen unterschiedlicher Provenienz stützten Such- und Analyseschritte zu systematisch und mittels »Atlas.ti« soft- reduzieren, sollten deshalb effizientere Methodisch verknüpft das Horizon-Scan- waregestützt durch die Teammitglieder Verfahren zum Einsatz kommen. Ein ent- ning der VDI/VDE-IT seit Beginn soft- codiert. Das Schema der VDI/VDE-IT scheidender Erfolgsfaktor für die im Re-

30 Schwerpunkt: Horizon-Scanning als Foresightmethode

visionsprozess des Horizon-Scannings Abb. 1 Horizon-Scanning zur strategischen Früherkennung von relevanten realisierte Effizienzsteigerung war, dass Themen für die Technikfolgenabschätzung bereits eine fundierte und validierte Quel- lenbasis aus thematisch breit gefächer- Scoping Scanning Bewertung Ausarbeitung ten Blogs, Fachzeitschriften, Veröffent- lichungen von Forschungsinstitutionen, ausgewählte nationale und Beratungsunternehmen und parlamen- internationale Quellen • Print • Web tarischen TA-Einrichtungen sowie po- • Konferenzen • Befragungen pulärwissenschaftlichen Zeitschriften • Interviews und nationalen und internationalen Ta- Output ges- und Wochenzeitungen existierte, die im Jahr 50–100 40 10 1–2 die Grundlage für eine weitgehend au- Quellenauswahl Methoden Themenlonglist kommentierte Themen- TA-Themen- TA-Kurzstudien – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. (Tabelle) liste (Teaser) kurzprofile (ca. 50–70 Seiten) • Quellenpool • Kriterienkatalog (ca. 1/2 Seite) (ca. 5–10 Seiten) tomatisierte Artikelsuche bilden konn- • Suche, Selektion und Interpretation (Sense- te, die davor ausschließlich händisch making) mittels eines 150 RSS-Feed-Readers und Foresight-Know-how durchgeführt worden war. Zudem ergab im Team die Evaluation der Ergebnisse der quanti- tativen und qualitativen Vorgehensweise des Horizon-Scannings, dass die Quali- und internationalen Onlinequellen und Entwicklung bzw. Innovation und be- tät der durch Expertinnen und Experten Printmedien verarbeitet. Darüber hinaus rührt soziale, ökonomische, ökolo- gefundenen Themen jenen Themen aus werden einmal im Jahr im Rahmen einer gische, ethische oder geopolitische der softwaregestützten Inhaltsanalyse zu- VDI/VDE-IT-internen Befragung von ca. Fragestellungen. meist überlegen war. Als Konsequenz des 500 Expertinnen und Experten nach zu- › Zeithorizont: Es ist zu erwarten, dass Revisionsprozesses sollte im nachfolgen- kunftsrelevanten technologischen Ent- das Thema in den nächsten 5 bis 10 Jah- den Horizon-Scanning deshalb der qua- wicklungen die besten Themen in einem ren die politische und gesellschaftliche litative expertenbasierte Ansatz gestärkt Wettbewerb gekürt. Diskussion weiter beschäftigen bzw. an und zusätzlich eine Teilautomatisierung Bedeutung zunehmen wird. erprobt werden. Hiernach erfolgt die Scanningphase: Mit- › Relevanz: Es besteht ein gesteigerter tels eines webbasierten RSS-Feed-Readers Informationsbedarf, ggf. ist die Anpas- Das Horizon-Scanning heute: wird der Quellenpool analysiert, um Ar- sung des legislativen Rahmens erfor- Teilautomatisierung durch RSS- tikel und Beiträge auf strukturierte Wei- derlich. Es werden ein oder mehrere Feed-Reader und Stärkung der ex- se zu sammeln. politische Handlungsfelder adressiert. pertenbasierten Vorgehensweise Parallel dazu erfolgt der expertenbasier- Im Auswahlprozess entsteht analog der In der praktischen Umsetzung wird das te Prozess, der die softwaregestützte Su- ursprünglichen Longlist zunächst eine Horizon-Scanning heute als Kombina- che ergänzt. Die gesammelten und aufbe- Liste mit ca. 50 bis 100 Themen. Als ein tion einer teilautomatisierten Artikel- reiteten Informationen werden mithilfe weiterer Schritt wird eine Informations- suche mittels eines webbasierten RSS- des Know-hows der beteiligten Exper- sammlung zu identifizierten wissen- Feed-Readers sowie eines ausgeweiteten tinnen und Experten sowohl im Team schaftlich-technischen Trends in Form expertenbasierten Such-, Validierungs- der VDI/VDE-IT als auch im gesamten von annotierten Themenüberschriften und Bewertungsprozesses durchgeführt. TAB schrittweise bewertet und validiert. (Teaser) erstellt, die hinsichtlich ihrer Re- Die Identifizierung von möglicherweise levanz und Eignung für eine weiterfüh- TA-relevanten Texten und Inhalten ist Zur Auswahl potenzieller Themenvor- rende Analyse diskutiert wird (vergleich- dadurch zu einem gewissen Grad auto- schläge werden die folgenden Kriterien bar mit ehemaliger Shortlist). Ergebnis matisiert. Ein nicht unbeträchtlicher Teil angewendet: dieser Diskussion ist eine finale Liste von an Informationen wird zusätzlich exper- Themen, zu denen der TA-Berichterstat- tenbasiert und damit händisch gefunden › Gesellschaftlicher Diskurs: Über das tergruppe des ABFTA Themenkurzpro- und bewertet. Thema wird in den Medien berichtet; file vorgelegt werden. Pro Jahr werden im es zeichnen sich Kontroverse bzw. Kon- heutigen Horizon-Scanning ca. 40 Tea- Der Prozess beginnt mit der Ergänzung fliktlinien ab, gesellschaftliche Akteure ser und 10 Themenkurzprofile erarbeitet. neuer Quellen zum bereits existierenden nehmen Stellung. Quellenpool (Scoping). Im Schnitt wer- › Themencharakteristik: Das Thema Bis zum Frühjahr 2020 wurden rund 750 den Informationen aus ca. 150 nationalen repräsentiert eine technologische potenziell TA-relevante Themen im Ho-

31 Schwerpunkt: Horizon-Scanning als Foresightmethode

rizon-Scanning identifiziert, zu rund alltägliche parlamentarische Arbeit ge- künstlicher und menschlicher Intelligenz 140 von diesen wurde ein Teaser erstellt. nutzt werden. verbindet. Trivial ist dies mit Sicherheit 50 Themen wurden als Themenkurzpro- nicht, denn Algorithmen basieren auf Re- file der TA-Berichtergruppe vorgelegt. geln, die wir vorgeben müssen. Wie bei je- Sie stehen zum Download auf der Web- Das Horizon-Scanning in der dem Horizon-Scanning, stünden wir auch seite des TAB einer breiten Öffentlich- Zukunft: Quo vadis? hier erneut vor der Herausforderung, erst keit zur Verfügung. Aus den vorgelegten einmal sinnvolle Regeln zu entwickeln, Themenkurzprofilen wurden von der Be- Das Horizon-Scanning ist als lernender um einen Suchraum durch diese Regeln richterstattergruppe seitdem fünf The- Prozess angelegt und wird durch das Team einzugrenzen, der per definitionem of- men ausgewählt, die als TA-Kurzstudien der VDI/VDE-IT regelmäßig einem Re- fen sein soll. Außerdem soll der Prozess ausgearbeitet wurden. Die zuletzt in Auf- view unterzogen. Auch in Zukunft werden des Horizon-Scannings durch den Ein-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. trag gegebene Studie behandelt das The- wieder neue Methoden ausprobiert und satz von KI keine Blackbox werden, denn ma »Urbaner Holzbau« (Kasten auf S. 68). vorhandene Vorgehensweisen optimiert. Entscheidungen, wie Themen identifiziert Der seit 2018 eingeschlagene Pfad einer werden, müssen nachvollziehbar bleiben. Die Kurzprofile sind kompakte The- stärkeren Automatisierung bei der quanti- mendarstellungen, die nach einem kla- tativen, softwaregestützten Vorgehenswei- Simone Ehrenberg ren Schema gegliedert sind: Zunächst se soll ausgebaut werden. Vorstellbar wäre Sonja Kind werden die Hintergründe und die Dyna- beispielsweise, mittelfristig die bislang Tobias Jetzke miken eines Themas beschrieben (z. B.: teilautomatisierten Suchstrategien mit- Welche inhaltlichen Entwicklungen kön- tels RSS-Feed-Reader durch KI-Anwen- nen für das Thema seit seinem ersten Auf- dungen zu ersetzen, die zusätzlich auch Literatur kommen bis heute beschrieben werden? eine inhaltliche Auswertung erlauben. Es Welche Treiber gibt es? Wer sind Schlüs- wird vermutet, dass KI im Gegensatz zur Ansoff, H. (1980): Strategic Issue Manage- selakteure?). Es folgt eine Einordnung der menschlichen Intelligenz besser geeignet ment. In: Strategic Management Journal gesellschaftlichen und politischen Rele- sein könnte, Strukturen in umfassenden 1(2), S. 131–148 vanz und ein Ausblick darauf, in welchen Datenmengen wie unserem Quellenpool TA-Formaten das Thema weiterbearbeitet zu identifizieren und zu systematisieren. Cuhls, K. (2019): Horizon Scanning in Fo- werden könnte. In der Regel werden bis zu Die im gegenwärtigen Horizon-Scanning resight – Why Horizon Scanning is only a zwei Themen pro Jahr als TA-Kurzstudie eingesetzte teilautomatisierte Technik er- part of the game. In: Futures & Foresight weiter vertieft. Themenkurzprofile kön- möglicht zwar bereits eine gewisse Vor- Science 2(1), S. 1–21 nen Impulse für die Themenfindungspro- strukturierung durch die Sammlung von zesse der Fraktionen und Ausschüsse ge- Artikeln und Beiträgen, erfordert in der Glenn, J.; Gordon, T. (2009): Environ- ben und als Informationsquellen für die Nachbearbeitung jedoch noch eine enor- mental Scanning. In: Glenn, J.; Gordon, me menschliche Inter- T. (Hg.): Futures research methodolo- pretationsleistung. Diese gy. The Millennium Project Version 3.0. Abb. 2 Identifizierte Themen im Horizon-Scanning menschlichen Ressour- Washington, D.C., S. 1–59 cen könnten besser beim Schritt der qualitativen Habegger, B. (2009): Horizon Scanning in expertenbasierten The- Government. Concept, Country Experi- menidentifizierung und ences, and Models for Switzerland, https:// -validierung zum Einsatz works.bepress.com/beathabegger/16/ kommen, wo die Vorzü- ge menschlicher Intelli- Lang, T. (1998): An Overview of Four Fu- genz wie Kreativität und tures Methodologies. www.futures.ha- Ideenfindung durch Dis- waii.edu/publivcations/half-fried-ideas/ kussionsprozesse bisher J7/LANG.pdf zu guten Ergebnissen geführt haben. Die Vi- Lasinger, D.; Lasinger, M. (2011): Der Sig- sion ist, in den nächs- nalnavigator: Signale frühzeitig erkennen ten Jahren ein Horizon- und für Innovationen nutzen. Ein Leitfa- Scanning zu entwickeln, den mit Best-Practice-Beispielen und Ge- welches das Beste aus staltungsempfehlungen. Wiesbaden

32 Schwerpunkt: Methoden zur Untersuchung technologischer Zukünfte

Zukünftige Technologien zur Untersuchung technologischer Zukünfte

In der Forschung zur Technikfolgenabschätzung (TA) herrscht ein ausgepräg- gelnde Nachvollziehbarkeit der Ergebnis- tes Methodenbewusstsein vor (Grunwald 2009). Doch speziell die bei TA-Un- se, Fehler bei der Übertragung von Daten, tersuchungen eingesetzten Technologien werden kaum je zum Gegenstand Manipulierbarkeit der Systeme, weitere, der Betrachtung, und dies, obwohl bei digitalen Technologien für Kernauf- bisher noch nicht absehbare Risiken) eher gaben der TA, wie die Erfassung von wissenschaftlicher Evidenz und von als problematisch einzuschätzen? gesellschaftlichen Meinungen, sowie für ihre synthetische Darstellung im letzten Jahrzehnt beträchtliche Forschritte gemacht wurden. Manche dieser Ein genauerer Blick auf die beiden Bei- Technologien haben eine Reife erreicht, die die Frage aufwirft, ob eine neue spiele zeigt, dass diese Fragen derzeit noch Aufgabeaufteilung zwischen Mensch und Maschine nicht angezeigt wäre. In nicht beantwortet werden können. Denn diesem abschließenden Beitrag des TAB-Brief-Schwerpunkts soll nach vorne wie so oft bei technologischen Entwick- geschaut und gefragt werden, welche Zukunftsperspektiven neue, insbeson- lungen ist der Hype darum weniger in dere digitale Technologien für die praktische TA-Arbeit eröffnen. der Substanz der Entwicklung als in den – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Erwartungen der Rezipienten und der Aufmerksamkeitsökonomie der Öffent- Für visionäre Ausblicke lohnt sich ein ten, dass sich die Rollen der Forschen- lichkeit begründet. So konnte das maschi- Blick auf die Berichterstattung zur KI- den wie auch der wissenschaftlichen nengeschriebene Fachbuch nur entstehen, Forschung. Diese suggeriert, dass die Autoren grundlegend wandeln werden. weil Informatiker mit Fachexpertinnen Fortschritte beim Einsatz von KI bereits › Ein Jahr später, Anfang 2020, erlangte und -experten sowie Redakteurinnen und die wissenschaftlichen Produktionspro- das KI-Programm »GPT-3« der Firma Redakteuren eng zusammengearbeitet zesse erreicht haben. Während sich die OpenAI (Brown et al. 2020) große und die Parameter des Algorithmus über Erwartungen der 1980er Jahre nicht er- mediale Aufmerksamkeit. Es war in der zahlreiche Rückmeldungsschleifen manu- füllt haben, künstliche Intelligenz könn- Lage, auf Basis eines Sprachmodells mit ell angepasst hatten. Bei der Umsetzung te eigene wissenschaftliche Entdeckun- bis dahin nie erreichten 175 Mrd. Para- zeigten sich viele offenkundige Mängel, gen beisteuern (Collins 1989), wird ihr metern (also Gewichtungen innerhalb beispielsweise erwies es sich als schwie- gegenwärtig zumindest das Potenzial zu- des Modells, die aus den Trainingsda- rig, Textbeiträge sowohl kreativ als auch geschrieben, wissenschaftliche Ergebnis- ten gewonnen wurden) ganz unter- akkurat und kohärent zusammenzustel- se darstellen zu können, wie sich jüngst schiedliche Textsorten in einer schein- len bzw. zu formulieren. So verzeichne- an zwei Fallbeispielen zeigte: bar sinnhaften, von menschlichen Tex- te das Ergebnis vielfach fachliche Unge- ten kaum unterscheidbaren Form zu nauigkeiten bzw. Inkorrektheiten (Writer › 2019 gab Springer Nature das erste generieren (Graf 2020). Die Textsor- 2019, S. xxi). Auch viele der veröffentlich- maschinell generierte Fachbuch her- ten reichten dabei von Computercodes ten Texte von »GPT-3«, die gerade auf- aus. Das knapp 250 Seiten starke Werk, und Übersetzungen bis hin zu einem grund ihrer sprachlichen Qualität beach- das den Forschungsstand zum Thema Meinungsbeitrag für die britische Zei- tet wurden, erwiesen sich als editorisch Lithium-Ionen-Batterien (einer Tech- tung »The Guardian« (2020). Auch nachbehandelt und aus mehreren Ent- nologie, deren Entwicklung im selben philosophisch anmutende Essays über wurfsfassungen zusammengestellt. Au- Jahr mit dem Nobelpreis geehrt wurde) Intelligenz wurden von dem System ßerdem machten spezifischere Tests deut- darstellen sollte, wurde – abgesehen verfasst (Sabeti 2020). Die Erzeugung lich, dass das Programm kein Verständnis von einer Einleitung – vollständig von des Textes erfolgte ohne ein spezielles des Gegenstands der Texte entwickelt und einem KI-Algorithmus erstellt. Dieser Training für die jeweilige Aufgabe, wie daher nicht in der Lage ist, den Sinn von hatte aktuelle wissenschaftliche Texte es für andere Sprachgeneratoren not- an es gestellten Fragen zu erfassen (Mar- aus Datenbanken zusammengefasst wendig ist. Das System konnte anhand cus/Davis 2020). und – in Kapiteln geordnet – in gewis- von wenigen Beispielen, die ihm vor- sermaßen eigenen Worten wiedergege- gegeben worden waren, seine Aufgabe Es besteht somit durchaus Grund zu der ben (Writer 2019). Das Ziel war, For- erschließen (Graf 2020). Erwartung, dass menschliche Kompeten- schenden einen schnellen Überblick zen in der absehbaren Zukunft weiterhin über die aktuelle Forschungsliteratur Blicken wir also in eine Zukunft, in der für die Verfassung von qualitativ hoch- des Themengebiets zu bieten. Der Her- auch die TA-Arbeit zunehmend von Soft- wertigen und belastbaren Synthesen und ausgeber bezeichnete das Werk selbst waresystemen übernommen wird? Wie Analysen von zentraler Bedeutung blei- als Experiment bzw. als Prototyp, der wäre eine solche Entwicklung zu bewer- ben (Sutherland/Wordley 2018) und dass das Potenzial habe, eine neue Ära wis- ten? Würde sie zu einer Erleichterung und Technologien der künstlichen Intelligenz senschaftlichen Publizierens einzulei- Effizienzsteigerung der Arbeit führen? allenfalls ein Hilfsmittel darstellen wer- ten (Writer 2019, S. v). Es sei zu erwar- Oder wäre sie aufgrund der Risiken (man- den, den Prozess der Erstellung von fachli-

33 Schwerpunkt: Methoden zur Untersuchung technologischer Zukünfte

chen Übersichten oder der Formulierung künftig einen Mehrwert für den jeweili- sen erleichtern (Marshall/Wallace 2019). von Texten zu vereinfachen und ggf. zu gen Schritt darstellen könnten. Dabei wirft allerdings – außer in sehr spe- beschleunigen (Writer 2019, S. ix u. xi). ziellen Themenfeldern – die schiere Men- Allerdings ist zu fragen, wie sich solche ge an wissenschaftlichen Veröffentlichun- neuartigen technischen Hilfsmittel in die Erfassen und Auswerten gen zunehmend Kapazitätsprobleme bei praktische Durchführung von TA-Unter- wissenschaftlicher Evidenz der Verarbeitung auf. Entsprechend wer- suchungen integrieren lassen. Die folgen- den hauptsächlich drei Ansätze verfolgt, den Betrachtungen sind vor diesem Hin- Eine Kernaufgabe der TA ist die neu- um diesen Problemen effektiv begegnen tergrund weniger als Prognosen, sondern trale Darstellung des Wissensstandes zu zu können: als Beitrag zu einer vorausschauenden Re- wissenschaftlich-technischen Entwick- flexion über die Rolle und die Methoden lungen. Das zu einem gegebenen The- › die softwaregestützte Organisation kol-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. der (parlamentarischen) TA zu verstehen. ma verfügbare Wissen kann als Evi- laborativer Reviews, denz bezeichnet werden, dabei kann es › die KI-gestützte Erfassung und Aus- sich um gesicherte Evidenz handeln, wie wertung wissenschaftlicher Publika- Technologische beispielsweise die in wissenschaftlichen tionen sowie Entwicklungen Fachzeitschriften nach Kontrolle durch › die systematische Evidenzkartierung. Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaft- Parlamentarische TA, wie sie das TAB für ler (»peer review«) veröffentlichten Er- Softwaregestützte Organisation den Deutschen Bundestag leistet, zeich- kenntnisse, aber auch um andere Arten kollaborativer Reviews net sich insbesondere durch ihre wissen- wie anekdotische Evidenz, die als solche schaftliche Orientierung (und die damit gekennzeichnet werden. Für die Evidenz- Einige auf dem Markt verfügbare Soft- verbundene Überparteilichkeit) aus, die darstellung im Rahmen einer TA-Unter- waresysteme unterstützen die Einbindung sich in politischen Kontroversen, Wert- suchung müssen Daten aus unterschied- einer breiten Expertengemeinschaft in konflikten und bei zukunftsbezogenen lichen Quellen (in der Regel, aber nicht kollaborative Reviews der wissenschaft- Fragestellungen bewähren muss, außer- ausschließlich wissenschaftliche Litera- lichen Literatur. Sie werden beispielsweise dem durch ihre Ausrichtung auf den Be- tur) umfassend erhoben, zusammenge- bei der Erstellung von »clinical reviews« ratungsbedarf sowie die Einflussmög- führt, bewertet und in die Analyse ein- in der Medizin verwendet. Mit ihrer Hil- lichkeiten des Parlaments und durch bezogen werden, zielgerichtet auf das fe kann das Analyseraster festgelegt und entsprechend abgestimmte Handlungs- jeweilige Untersuchungsthema und die mit dem Netzwerk von Reviewern geteilt optionen (Grunwald 2013, S. 91). Aus dem damit verbundenen Fragestellungen. Für werden, Studien können zur Begutach- vielfältigen Spektrum der Arbeitsschritte die Erstellung des Korpus von relevan- tung zugeteilt und der Fortschritt des Pro- von TA-Untersuchungen sollen zwei he- ten Studien müssen Abstracts gescreent, zesses kann zentral überwacht werden. rausgehoben werden, die typisch für die nach Themen sortiert und ihre Relevanz Auch die Methode des Crowdsourcing Anforderungen an TA im parlamentari- für die Analyse eingeschätzt werden. Da- spielt für die Beteiligung an der Bewer- schen Kontext sind und zu denen sich in- ran anschließend erfolgt die zielgruppen- tung wissenschaftlicher Studien zuneh- teressante Entwicklungen im Umfeld der gerechte Zusammenfassung der Informa- mend eine Rolle. Bei dieser »interaktive[n] wissenschaftsbasierten Politikberatung tionen der Studien. Vorgehensweisen mit Form der Wertschöpfung unter Nutzung beobachten lassen. Dabei handelt es sich ähnlichen Anforderungen gibt es in Wis- moderner IuK-Techniken«, in deren Rah- um erstens die umfassende und systemati- senschaftsfeldern wie der Gesundheits- men »einzelne Aufgaben […] an eine Viel- sche Erfassung, Auswertung und zusam- und der Klimaforschung, bei denen es zahl von Nutzern oder Interessenten aus- menfassende Integration wissenschaftli- ebenfalls um verlässliches, »sozial robus- gelagert [werden]« (Kollmann/Markgraf cher Literatur zu einem gegebenen Thema tes« (Nowotny 2003) Wissen zu potenziell 2018), können viele Personen zur Samm- (»evidence synthesis«) sowie zweitens die konfliktträchtigen Themen geht. lung relevanter Daten herangezogen und Einbeziehung außerwissenschaftlicher die Erfassung unterschiedlicher wissen- Perspektiven und Standpunkte (Stake- In der Gesundheitsforschung werden schaftlicher Beiträge beschleunigt wer- holderbeteiligung). Diese zwei Schritte schon seit Längerem Softwaresysteme an- den. Crowdsourcing kommt z. B. bei der unterscheiden sich in der Art der Quel- geboten, welche die systematische manu- Verfassung der »Cochrane Croud Health len, die verarbeitet werden und für die die elle Codierung von Daten bzw. Studien Reviews« (http://crowd.cochrane.org/) anzuwendenden Technologien konzipiert (z. B. untersuchte Substanz, gesundheitli- zur Anwendung sowie in Verbindung mit sind, sowie in den Methoden der Bewer- che Auswirkungen, Art der Studie – Tier-, der teilautomatischen Erfassung wissen- tung der jeweiligen Quellen. Im Folgen- Human-, Zell-, In-vitro-Studien) und die schaftlicher Veröffentlichungen (Shackel- den werden Technologien vorgestellt, die darauf basierende Analyse von Ergebnis- ford et al. 2020).

34 Schwerpunkt: Methoden zur Untersuchung technologischer Zukünfte

KI-gestützte Erfassung und (u. a. Mutlu et al. 2019; Zhang et al. 2019; Bei der Erstellung von systematischen Auswertung wissenschaftlicher El-Kassas et al. 2021), doch die Zusam- Evidenzdatenbanken wird auch Crowd- Publikationen menführung und gebündelte Darstellung sourcing in der Forschung etwa zu Ge- von wissenschaftlichen Erkenntnissen sundheitsrisiken und Katastrophen er- Eine Weiterentwicklung der software-ge- basieren auf einem komplexen Zusam- gänzend eingesetzt, wobei zusätzlich die stützten kollaborativen Reviews wissen- menspiel ganz unterschiedlicher Tätig- Relevanzbewertung und die kontinuier- schaftlicher Studien stellt KI-Software keiten und lassen sich daher schwer au- liche Aktualisierung der Datenbank mit- dar, die auf Text-Mining und maschinel- tomatisieren (Nakagawa et al. 2020). Die hilfe von maschinellem Lernen teilauto- lem Lernen beruht, um die für das Scree- vorhandenen Technologien sind noch matisiert werden können (Shackelford ning von wissenschaftlichen Stu dien er- nicht in der Lage, die Analyse von Daten et al. 2020). forderliche Zeit zu reduzieren bzw. große zu automatisieren (Marshall/Wallace

Datenmengen zu verarbeiten. Die Erfas- 2019, S. 7 f.). Die systematische Evidenzkartierung – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. sung und Verarbeitung unstrukturierter wird zunehmend für unterschiedliche Daten, wie sie wissenschaftliche Litera- Systematische Evidenzkartierung Themenfelder eingesetzt, wie z. B. exis- tur darstellt, haben in den letzten Jahren tenzielle und globale katastrophische Risi- beachtliche Fortschritte gemacht. Außer In manchen Wissenschaftsbereichen ist ken (Shackelford et al. 2020) und den Na- in der Primärforschung (z. B. bei gesund- jedoch ein so schneller Zuwachs an neu- turschutz (Sutherland et al. 2019). Auch in heitsbezogenen Daten aus Patienten- em Wissen und neuen Informationen zu weiteren Bereichen, wie etwa in der Che- akten) werden entsprechende Systeme beobachten, dass die Entwicklung zeitnah mikalienpolitik und im Risikomanage- auch etwa in der Klimaforschung ein- nur mit technologischer Unterstützung ment, könnten sie Vorteile bringen (Wolf- gesetzt, um die sehr schnell wachsende zu erfassen sein dürfte (Nakagawa et al. fe et al. 2019). Solche Ansätze könnten in Menge an wissenschaftlichen Erkennt- 2020). Die systematische Evidenzkartie- der TA insbesondere für umfangreiche nissen zu verarbeiten, welche für eine rung stellt eine Möglichkeit dar, mit dieser Themen interessant sein, die ein transfor- Entscheidungsfindung relevant sein kön- Herausforderung umzugehen (Haddaway matives Potenzial für ganze Wirtschafts- nen (Sethi et al. 2020; Fisch-Romito et al. et al. 2016). Sie produziert abfragbare Evi- zweige darstellen und sich rasch entwi- 2020). Text-Mining-Tools werden als Er- denzdatenbanken der relevanten Studien ckeln (z. B. Industrie 4.0, Arbeiten 4.0), weiterung spezialisierter Datenbanken mitsamt ihrer Metadaten sowie einem Be- aber auch für Untersuchungen, deren Er- angeboten, als webbasierte Anwendun- richt und ggf. einem Geoinformationssys- gebnisse von technologischen Entwick- gen oder Software, in welche Daten zur tem (Haddaway et al. 2016, S. 613). Ange- lungstrends oder Durchbrüchen abhängig Analyse eingepflegt werden, sowie als wendet werden sie in unterschiedlichen sind (z. B. Impfstoff gegen das Corona- Bestandteil größerer Softwarepackages Entscheidungskontexten. Manche sol- virus Sars-CoV-2, Wasserstofftechnolo- (Glanville 2019). cher Datenbanken stellen Zusammen- gien). In diesen Themenbereichen sind hänge in Form von Datenvisualisierun- gegenüber schärfer eingrenzbaren oder Trotz der Verfügbarkeit auf dem Markt gen dar (Haddaway et al. 2019, S. 8). Der weniger dynamischen Bereichen übli- bleiben bei der Anwendung von Soft- »EviAtlas« (Haddaway et al. 2019), ein auf cherweise besonders viele und hetero- waretools für die Erfassung und Aus- der für statistische Analysen entwickel- gene Informationen zu erfassen und zu wertung wissenschaftlicher Studien vie- ten Programmiersprache R basierendes berücksichtigen – und dies unter hohem le Herausforderungen. Westgate et al. Open-Access- und Open-Source-Tool für Zeitdruck oder bei einer schnell wachsen- (2018) weisen auf die linguistische Varia- die Produktion von interaktiven Tabel- den Menge an Informationen. Die geschil- bilität und unterschiedliche Darstellung len und Grafiken zur Visualisierung des derten Ansätze könnten eine im Vergleich von Daten hin. Zudem wird die Leis- Forschungstands zu einem Thema, stellt zur allein manuellen Recherche kostenef- tungsfähigkeit existierender Tools nur ein interessantes Beispiel dar. Eingepfleg- fektivere kontinuierliche Erfassung des selten evaluiert oder verglichen. Auch te Daten müssen zunächst umfangreich Wissenszuwachses bieten und bei der fehlen Standards für ihre Validierung. codiert werden, dafür können mit seiner Identifizierung zentraler Erkenntnisse Diese Probleme stellen sich auch Versu- Hilfe künftige – zum Zeitpunkt der Da- zu einer entsprechenden Aktualisierung chen entgegen, Methoden zur mehr oder teneinspeisung noch unbekannte – Fra- der Handlungsoptionen durch das Au- weniger automatischen Zusammenfas- gen beantwortet und Forschungslücken torenteam führen. Allerdings ersetzt die sung von Inhalten aus mehreren Text- identifiziert werden. Mit der Codierung (teil)automatisierte Sammlung von Daten quellen zu entwickeln, wie das eingangs können zudem KI-Algorithmen trainiert nicht ihre Interpretation, die gänzlich in geschilderte Beispiel des KI-Programms werden, um die Sammlung relevanter Stu- der Verantwortung der Fachexpertinnen »GPT-3« belegt. Zwar wird intensiv an dien, Screening und Datenextraktion zu und -experten bzw. Wissenschaftlerinnen entsprechenden Anwendungen geforscht unterstützen (Marshall/Wallace 2019). und Wissenschaftlern bleibt.

35 Schwerpunkt: Methoden zur Untersuchung technologischer Zukünfte

Aufgabe der parlamentarischen TA ist es tise unterstützen soll. Dabei nutzte ein dabei unterstützen, Stellungnahmen und auch, geltende Regelwerke und bestehen- Gutachterteam der TU Berlin das soge- Positionspapiere gesellschaftlicher Akteu- de (forschungs)politische Instrumente zu nannte 4-Dimensionen-Modell, eine inno- re systematisch zu erfassen und strittige analysieren und im Lichte der aufgedeck- vative Anwendung der Netzwerkanalyse Themen, kontroverse Positionen und wi- ten Wissenslücken Handlungsoptionen (www.4d-sicherheit.de). Das 4-D-Mo- derstreitende Meinungen umfassend zu (z. B. neue Förderschwerpunkte oder Pro- dell ermöglicht die systematische Erfas- identifizieren. Neben der Sammlung und gramme) zu formulieren. Für solche Wir- sung unterschiedlicher widerstreitender Strukturierung von webbasierten Texten kungsanalysen im Bereich der Forschung Perspektiven auf die jeweilige Technolo- können auch die Erfassung und Struktu- und Innovation wird KI teilweise bereits gieentwicklung, die Identifizierung von rierung von Diskursen aus heterogenen in öffentlichen Verwaltungen eingesetzt nichtintendierten Folgen und die In- Onlinequellen computerunterstützt oder (OECD 2020, S. 170). Es läge nahe zu prü- tegration von Wissensbeständen. Soft- sogar (teil)automatisiert erfolgen. Diskus-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. fen, ob ein solcher Ansatz künftig auch ware kann aber nicht nur die Meinungs- sionen auf Twitter lassen sich mit Verfah- in der parlamentarischen TA eine Rolle erfassung, sondern auch die Meinungs- ren wie »Topic Modeling«, bei dem aus spielen könnte. bildung zu aufkommenden Technologien häufig zusammen verwendeten Wörtern oder technologischen Anwendungen un- statistisch auf Themen der Diskussion ge- terstützen. Im selben TAB-Projekt wird schlossen wird, und maschinellem Lernen Stakeholderbeteiligung bei der Erstellung des Gutachtens eine auf Akteure bzw. Themen und Inhalte hin weitere Software eingesetzt, die es ermög- analysieren (Karamshuk et al. 2017; Schat- Neben der umfassenden und möglichst licht, im Rahmen eines Planspiels Kri- to-Eckrodt et al. 2020); ähnlich ist dies für aktuell gehaltenen Darstellung des wis- senszenarien durchzuspielen und die Re- Facebookseiten möglich (Puschmann et senschaftlichen Wissens zu einem gege- aktion der Spielenden auf vorab definierte al. 2020; Quandt et al. 2020). benen Thema geht es in der TA auch da- Ereignisse digital zu erfassen. rum, die Perspektiven und Standpunkte Mehrere Forschungsprojekte richten von weiteren, außerwissenschaftlichen Häufig sollen die Positionen von Stakehol- sich auf die Analyse von Argumentatio- Stakeholdern zu berücksichtigen. Denn dern in TA-Untersuchungen nicht eigens nen. Bereits seit einiger Zeit werden Ar- wissenschaftliche Expertise kann nicht erhoben, sondern der bereits in den Me- gumentationskarten zur Unterstützung alle Arten von Fragen beantworten, sie dien bzw. online geführte öffentliche Dis- von Diskussionen u. a. über wissenschaft- ist häufig umstritten und ihre Generie- kurs zum betreffenden Thema abgebildet lich-technische Entwicklungen genutzt rung benötigt mehr Zeit, als im Fall von und ausgewertet werden (z. B. im TAB- (Groetker 2012; Reed et al. 2017; Voigt drängenden politischen Entscheidungen Projekt »Algorithmen in digitalen Medien 2014; hierzu der Beitrag auf S. 55 ff.). Der zur Verfügung steht (Abels/Bora 2016). und ihr Einfluss auf die Meinungsbil- Aufwand der Sammlung von Argumenten Die Einbeziehung gesellschaftlicher Per- dung«; www.tab-beim-bundestag.de/de/ und der Darstellung der Zusammenhän- spektiven kann nicht nur die Wissensba- untersuchungen/u40000.html ) – nicht ge zwischen ihnen in Form von Karten sis von TA-Untersuchungen verbessern, zuletzt, um ein unverzerrtes Meinungs- ist allerdings hoch. Ansätze einer Auto- sondern auch dabei helfen, eine zu enge bild zu gewinnen, was durch aktiv eingrei- matisierung mittels KI-Technologien wa- Orientierung am aktuellen Mainstream fende Erhebungen nur bedingt möglich ren lange Zeit nicht über einen konzep- der Forschung zu vermeiden und die Wer- ist. Softwaretools können die systema- tionellen Status hinausgekommen (Reed te, Bedarfe und Interessen der von wis- tische und umfassende Sammlung und 2017; Reed et al. 2018; Walton 2016). Die senschaftlich-technischen Entwicklungen Strukturierung von Dokumenten für die webbasierte Anwendung »ArgumenText« Betroffenen systematisch zu berücksich- Analyse soziotechnischer Diskurse un- nutzt jedoch ein neuronales Netzwerk und tigen (Grunwald 2019; hierzu der Beitrag terstützen. So bieten webbasierte Anwen- Deep Learning, um Argumente und Ge- auf S. 27 ff.). dungen wie der »Issue Crawler« (Mar- genargumente zu bestimmten Themen in res 2015) oder »Hyphe« (Tournay et al. einem Textkorpus zu identifizieren. Als Im laufenden TAB-Projekt »Chancen und 2020) die Möglichkeit, einen Korpus von Korpus dienen 400 Mio. englische Texte Risiken der Digitalisierung kritischer Webseiten inklusive der Beziehungen zwi- des »CommonCrawl« (https://common- kommunaler Infrastrukturen an den Bei- schen diesen zu charakterisieren (»web crawl.org/), einer offenen digitalen Platt- spielen der Wasser- und Abfallwirtschaft« crawling«). Eine Plattform wie »Penelope« form, die u. a. Textdaten aus dem Internet (https://www.tab-beim-bundestag.de/ (Willaert et al. 2020) stellt Onlineser- sammelt, aggregiert und der Öffentlich- de/untersuchungen/u40300.html) wird vices zur Erfassung und Auswertung von keit zur Verfügung stellt (Stab et al. 2018). bereits eine Software eingesetzt, welche Debatten in sozialen Medien zur Verfü- Als mögliches Anwendungsgebiet wird die Beteiligung von Stakeholdern und die gung. Solche Systeme können Forschen- u. a. die Erfassung von Chancen und Ri- umfassende Einbeziehung ihrer Exper- de im Rahmen von TA-Untersuchungen siken aufkommender Technologien ge-

36 Schwerpunkt: Methoden zur Untersuchung technologischer Zukünfte

nannt (Daxenberger et al. 2020). Bereits gen sind zwiespältig: Auf der einen Sei- Auswertung gewonnenen Erkenntnisse jetzt erlaubt das System einen schnellen te sind die neuen Technologien attrak- können die praktische Arbeit der TA ver- Zugriff auf die Quellen ausgewählter Ar- tiv und versprechen Effizienzgewinne, bessern und deren Methodenrepertoire gumente zu einem Thema. Entsprechend etwa hinsichtlich der in einem gegebe- und ggf. die Kapazitäten der Behandlung ausgereiftere Algorithmen könnten die nen Zeitrahmen bearbeitbaren Fragestel- forschungs- und technologiepolitischer Analyse gesellschaftlicher Diskurse in lungen. Für das TAB, welches in den letz- Fragestellungen erweitern. TAB-Projekten unterstützen. ten Jahren zunehmend mehr Themen in kürzeren Zeiträumen (und das mit weit- Pauline Riousset Der Aufwand für die Vorbereitung der gehend gleichbleibenden finanziellen Res- Steffen Albrecht Daten und das Training solcher KI-Syste- sourcen) bearbeiten sollte, stellt dies mög- me sind allerdings nicht zu unterschätzen. licherweise eine interessante Option dar.

Eine automatische Argumentationsanaly- Auf der anderen Seite wird die in Aussicht Literatur – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. se und visuelle Darstellung sollen im For- gestellte Effizienz durch die hohen Kos- schungsprojekt »ADD-up« (https://typo. ten bzw. den häufig auch personell hohen Abels, G.; Bora, A. (2016): Ethics and Pub- uni-konstanz.de/add-up/) entwickelt wer- Aufwand konterkariert, der beispielsweise lic Participation in Technology Assess- den, bei dem Sprachdaten in Echtzeit auf mit KI-Anwendungen und/oder der Ver- ment. Tübingen/Bielefeld, doi: 10.13140/ Argumente hin analysiert und der Stand arbeitung großer Datensätze verbunden RG.2.2.35586.89282 der Diskussion in Form von Visualisie- ist. Solange keine generischen Ansätze rungen an die Teilnehmenden ausgege- verfügbar sind, die sich für eine Vielzahl Brown, T.; Mann, B.; Ryder, N.; Subbiah, ben werden sollen. von Fragestellungen ohne aufwendige An- M.; Kaplan, J.; Dhariwal, P.; Neelakantan, passung an den jeweiligen Einzelfall an- A.; Shyam, P.; Sastry, G.; Askell, A.; Agar- wenden lassen, sind die Vorteile innova- wal, S. et al. (2020): Language Models are Fazit und Ausblick tiver technologischer Lösungen schnell Few-Shot Learners. arXiv:2005.14165v4 wieder verspielt. Viele Tätigkeiten, wie Die Beispiele technologischer Innovatio- z. B. die Bewertung der Qualität der Pri- Collins, H. (1989): Computers and the So- nen zu den unterschiedlichen Arbeits- märquellen, können nur bedingt auto- ciology of Scientific Knowledge. In: Social schritten von TA-Untersuchungen zei- matisiert werden. Auch hinsichtlich der Studies of Science 19(4), S. 613–624 gen, dass auch in dieser methodischen Qualität der Ergebnisse sowie deren Über- Dimension der TA viel Bewegung vor- prüfbarkeit stellen sich in vielen Fällen Daxenberger, J.; Schiller, B.; Stahlhut, C.; handen ist. Diese Entwicklungen sind noch Fragen bzw. die Technologien sind Kaiser, E.; Gurevych, I. (2020): Argumen- selbst kaum Gegenstand von TA-Unter- Gegenstand von Forschungsprojekten, ha- Text: Argument Classification and Clus- suchungen, werden jedoch intensiv in der ben aber häufig noch keine Anwendungs- tering in a Generalized Search Scenario. TA-Community reflektiert. Auch die Ar- reife erlangt. In: Datenbank Spektrum 20(2), S. 115-121 beitsweise des TAB hat sich in den letzten 30 Jahren in vielerlei Hinsicht gewandelt, Im Umgang mit diesen Ungewisshei- El-Kassas, W.; Salama, C.; Rafea, A.; Mo- basierend u. a. auf der kontinuierlichen ten bietet sich eine begrenzte Erprobung hamed, H. (2021): Automatic text sum- Beobachtung und Erprobung innovati- an, bei der zunächst in einem abgrenz- marization: A comprehensive survey. In: ver Verfahren. Hierzu gehören Partizi- baren Gebiet die Neuerungen zur An- Expert Systems with Applications 165, Ar- pationsmethoden (hierzu der Beitrag auf wendung gebracht und die mit ihnen er- tikel 113679 (im Erscheinen) S. 55 ff.), die softwaregestützte Analyse zielten Ergebnisse evaluiert werden. Im von Konfliktnetzwerken oder auch die Fall der Bewährung kann das Vorgehen Fisch-Romito, V.; Guivarch, C.; Creutzig, datenbasierte Modellierung und Simula- dann auch für andere Untersuchungen F.; Minx, J.; Callaghan, M. (2020): Sys- tion – vorgesehen im kommenden TAB- übernommen werden, ggf. nur unter be- tematic map of the literature on carbon Projekt »Alternative Technologiepfade für stimmten Umständen, über die die Er- lock-in induced by long-lived capital. In: die Emis sionsreduktion in der Grund- probung Aufschluss gibt. Solche Erpro- Environmental Research Letters, Artikel stoffindustrie« (www.tab-beim-bundestag. bungen haben entweder den Charakter 10.1088/1748-9326/aba660 de/de/untersuchungen/u40700.html). eigener Untersuchungen – wie etwa bei der Auseinandersetzung mit dem Kon- Glanville, J. (2019): Text mining for in- Die Ergebnisse eines Blicks über den Ho- zept von Responsible Research and Inno- formation specialists. In: Levay, P.; Cra- rizont der TA-Methoden hinaus in diesem vation (TAB 2016) oder werden im Rah- ven, J. (Hg.): Systematic Searching: Prac- Beitrag, aber auch unsere Erfahrungen men von thematischen Projekten bzw. tical ideas for improving results. London mit existierenden Softwareanwendun- Gutachten durchgeführt. Die aus ihrer

37 Schwerpunkt: Methoden zur Untersuchung technologischer Zukünfte

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38 Schwerpunkt: Methoden zur Untersuchung technologischer Zukünfte

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D.; Amano, T.; Christie, A.; Dicks, L.; Fields. In: Omics: a journal of integrative ment. In: Environment International 130, – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Lemasson, A.; Littlewood, N.; Martin, P.; biology 24(1), S. 29–42 Artikel 104871 Ockendon, N. et al. (2019): Building a tool to overcome barriers in research-imple- Voigt, C. (2014): Going live: Using ar- Writer, B. (2019): Lithium-Ion Batteries. mentation spaces: The Conservation Evi- gument maps for debate moderation. A Machine-Generated Summary of Cur- dence database. In: Biological Conserva- argunet blog, 21.8.2014, www.argunet. rent Research. Heidelberg, https://link. tion 238, S. 108199 org/2014/08/21/argument-maps-for- springer.com/content/pdf/10.1007/978-3- debate-moderation/ 030-16800-1.pdf Sutherland, W.; Wordley, C. (2018): A fresh approach to evidence synthesis. In: Walton, D. (2016): Some Artificial Intelli- Zhang, Y.; Li, D.; Wang, Y.; Fang, Y.; Xiao, Nature 558(7710), S. 364–366 gence Tools for Argument Evaluation: An W. (2019): Abstract Text Summarization Introduction. In: Argumentation 30(3), with a Convolutional Seq2seq Model. In: TAB (2016): »Responsible Research and S. 317–340 Applied Sciences 9(8), S. 1665 Innovation« als Ansatz für die For- schungs-, Technologie- und Innovations- Westgate, M.; Haddaway, N.; Cheng, S.; politik – Hintergründe und Entwicklun- McIntosh, E.; Marshall, C.; Lindenmay- gen (Lindner, R.; Goos, K.; Güth, S.; Som, er, D. (2018): Software support for envi- O.; Schröder, T.), TAB-Hintergrundpapier ronmental evidence synthesis. In: Nature Nr. 22, Berlin Ecology & Evolution 2(4), S. 588–590

39 TA-Projekt: Mögliche Diskriminierung durch algorithmische Entscheidungssysteme und maschinelles Lernen

Wenn der Algorithmus weiße Männer bevorzugt

Stellen Sie sich vor, Sie leben in Österreich und melden sich arbeitssuchend Wie gelangen verzerrende oder diskri- beim zuständigen Arbeitsmarktservice (AMS). Eine Beschäftigte bzw. ein Be- minierende Einstellungen in AES? Dafür schäftigter des AMS empfängt Sie und trägt wichtige Merkmale Ihrer Per- gibt es verschiedene Wege. Erstens ist es son und Ihres Suchprofils in ein zentrales Erfassungssystem ein. Dieses möglich, dass die Technikentwickelnden Erfassungssystem berechnet Ihre Chancen am Arbeitsmarkt. Je nachdem, Voreingenommenheiten explizit oder im- welche Chancen Ihnen eingeräumt werden, erhalten Sie mehr oder weni- plizit direkt in ein Verfahren oder techni- ger Unterstützung vom AMS bei Ihrer Jobsuche und bei möglichen Wei- sches Artefakt einbauen. Zweitens kann terqualifizierungen. Wird in das Erfassungssystem eingetragen, dass Sie es passieren, dass sich Wertannahmen eine Frau sind, sinken Ihre prognostizierten Arbeitsmarktchancen. Haben nicht intendiert in Verfahren oder Arte- Sie zudem Betreuungspflichten gegenüber Kindern zu erfüllen, schmälert fakte einschreiben, etwa, wenn bei lernen- dies Ihre Prognosen zusätzlich. Auch ein Alter über 30 Jahre wirkt sich ne- den Verfahren Trainingsdaten verwendet

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. gativ aus. Im Ergebnis könnte es schwierig für Sie werden, in die Gruppe werden, in denen gesellschaftliche Un- mit den besten Prognosen am Arbeitsmarkt zu gelangen. Ist das fair, weil gleichbehandlungen abgebildet sind. Das es schlicht ein Abbild der Arbeitsmarktrealität ist? Oder ist es diskriminie- System lernt diese Ungleichbehandlun- rend, weil Frauen mit Betreuungspflichten von vornerein als schwerer ver- gen und setzt sie (oftmals in gesteigerter mittelbar klassifiziert werden? Größenordnung) fort.

Ungleichbehandlung und diger gesellschaftlicher Aushandlungs- Statistik und Diskriminierung prozesse, wie etwa die Debatten um die Ungleichbehandlung »Ehe für alle« oder um die Senkung des Das Erfassungssystem für Arbeitssu- Wahlalters vor Augen führen. Wenn sich gesellschaftliche Ungleichbe- chende des AMS in Österreich ist eines handlungen in komplexe AES einschrei- von vier Fallbeispielen zu Ungleichbe- ben, können sie dadurch eine Vielzahl handlung durch Algorithmische Ent- Wenn Algorithmen von Personen betreffen. Algorithmische scheidungssysteme (AES) und maschi- diskriminieren Ungleichbehandlungen geschehen häu- nelles Lernen (ML), die vom TAB in einer fig auf der Grundlage statistischer Zu- Kurzstudie beleuchtet wurden. Bei jedem Unter Algorithmen versteht man allge- sammenhänge und anhand von Ersatz- der vier Fallbeispiele existieren unter- mein programmierte Verfahren (häufig variablen für Merkmale, die zwar von schiedliche Positionen dazu, ob es sich in Software), die aus einem bestimmten Interesse, aber statistisch nicht erfasst im jeweiligen Fall um eine gerechtfertig- Input (meist Zahlenwerte) mittels einer sind. Solche sogenannten statistischen te oder eine ungerechtfertigte Ungleich- genau definierten, seriellen Schrittfolge Ungleichbehandlungen finden, wie dar- behandlung handelt. Denn Ungleichbe- einen gewünschten Output berechnen. gestellt, auch außerhalb von AES An- handlungen müssen nicht zwangsläufig Eine häufige Unterscheidung gliedert wendung, wenn sie eine Ersatzvariable ungerechtfertigt sein, wie eine Reihe ge- Algorithmen danach, ob sie regelbasiert (wie etwa das Alter) nutzen, um auf das sellschaftlich breit akzeptierter Prakti- funktionieren oder aber lernen, also aus Vorliegen anderer Merkmale (etwa Rei- ken zeigt (beispielsweise existieren ein Trainingsdaten eigene Funktions- und fe) zu schließen und anhand dieser den Mindestalter für die Erlangung von Analyseregeln ableiten. Lernende Algo- Zugang zu bestimmten Gütern zu be- Wahlrecht und Führerschein sowie ein rithmen bilden einen Teil maschineller grenzen (z. B. Wahlrecht). Je nachdem, Höchstalter für die Ausübung bestimm- Lernsysteme, die auch mit dem Begriff auf welche Merkmale sich die Ungleich- ter Berufe wie etwa des Piloten). Sozial- der künstliche Intelligenz (KI) beschrie- behandlung richtet und welche Konse- wissenschaftliche Definitionen verstehen ben werden. Sowohl regelbasierte als auch quenzen damit einhergehen, erscheint Diskriminierung als eine soziale Praxis, lernende Algorithmen können Teil von eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt die den Zugang zu bestimmten materiel- AES sein. AES vollziehen sowohl die Da- oder nicht. Wenn etwa Personen aus ei- len wie immateriellen Gütern anhand tenerfassung und -analyse als auch die ner bestimmten Wohngegend lediglich von (vermeintlichen) Gruppenzugehö- Deutung und Interpretation der Ergeb- aufgrund ihrer Adresse keinen Kredit rigkeiten beschränkt. Dabei dient die Ab- nisse und schließlich die Ableitung ei- erhalten oder Menschen mit schwar- weichung vom jeweils angenommenen ner Entscheidung(sempfehlung) aus zer Hautfarbe in der Justiz als rück- Normalfall als Unterscheidungsmerk- den Ergebnissen. AES dienen häufig fallgefährdeter gelten, erscheinen die mal und damit Diskriminierungsanlass. der Vorbereitung oder Unterstützung, zugrundeliegenden statistischen Ver- Was eine Diskriminierung ausmacht und teilweise auch als Ersatz menschlicher allgemeinerungen zumindest rechtfer- wo sie beginnt, ist ein Produkt bestän- Entscheidungsprozesse. tigungsbedürftig und können im Kon-

40 TA-Projekt: Mögliche Diskriminierung durch algorithmische Entscheidungssysteme und maschinelles Lernen

flikt mit gesellschaftlichen Grundwerten AMS seit 2018 einsetzt. Das AES bewer- trum der Diskussion. So kann beispiels- oder Gesetzen stehen. tet Arbeitssuchende anhand ihrer sozio- weise eine Kennzeichnungspflicht dazu demografischen Daten hinsichtlich ihrer beitragen, den Einsatz eines AES für die Arbeitsmarktnähe und teilt sie auf dieser Betroffenen transparent zu machen, eine Rechtlicher Schutz vor Basis einer von drei Gruppen (arbeits- risikoadap tierte Bewertung von AES kann Diskriminierung marktnah bis arbeitsmarktfern) zu. Da gesellschaftliche Folgewirkungen ex ante die Rechenvorschriften bei dieser Klas- abschätzen und je nach Kritikalität ver- Gesetze, die Schutz vor Diskriminierun- sifizierung von Arbeitssuchenden öffent- schiedene Kontrollmaßnahmen etablie- gen bieten sollen, sind in Deutschland lich einsehbar waren, entzündete sich öf- ren, und eine Förderung des kollektiven das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz fentliches Interesse daran, dass Frauen Rechtsschutzes mit der Möglichkeit der (AGG), die Persönlichkeitsrechte nach Ar- mit Betreuungspflichten vom österreichi- Verbandsklage kann eine einheitliche Re- tikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 schen AMS systematisch als eher arbeits- gulierung begünstigen. Diese Maßnah- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. des Grundgesetzes (GG) und die Daten- marktfern klassifiziert werden. In der ver- men stellen nur einen Ausschnitt der der- schutz-Grundverordnung. Das AGG de- öffentlichten Berechnungsvorschrift zeigt zeit diskutierten Ansätze dar, die darauf finiert Voraussetzungen für das Vorliegen sich, dass das weibliche Geschlecht per zielen, einen gesellschaftlichen und recht- einer Diskriminierung, benennt geschütz- se zu einem Abzug in der Arbeitsmarkt- lichen Umgang mit AES zu entwickeln, te Merkmale (also Eigenschaften, anhand nähe führt und Betreuungspflichten (le- der Raum für Innovationen und Ent- derer keine Benachteiligung stattfinden diglich bei Frauen) zu einem weiteren wicklung bietet und zugleich Bürgerinnen darf) und schafft unter bestimmten Vor- Abzug. Stellt dies eine Diskriminierung und Bürgern Sicherheit vor Intranspa- aussetzungen die Möglichkeit der Bewei- dar? Oder vielmehr eine Förderung, da renz und Diskriminierungen beim Zu- serleichterung für Betroffene. Die Persön- der AMS die mittlere Gruppe am stärks- gang zu gesellschaftlich verfügbaren Gü- lichkeitsrechte nach dem GG schützen die ten fördert? Das Fallbeispiel macht deut- tern gewähren. freie Entfaltung des Individuums sowie das lich, dass sich diese Fragen nicht allein Recht auf Selbstdarstellung. Statistische durch eine Betrachtung des AES beant- Die Ergebnisse des TAB-Projekts »Mögli- Verallgemeinerungen durch AES können worten lassen, sondern die Einbeziehung che Diskriminierung durch algorithmische diese Rechte tangieren. Die Datenschutz- des gesamten Entscheidungs- und Um- Entscheidungssysteme und maschinelles Grundverordnung verbietet gänzlich auto- setzungsprozesses, also der sozialen Rah- Lernen« wurden als TAB-Hintergrund- matisierte Entscheidungen mit rechtlicher menbedingungen vonnöten ist. Zentrale papier Nr. 24 publiziert. Wirkung über Personen und legt Informa- Fragen in diesem Fall lauten etwa: Kön- tionspflichten fest. nen die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Kontakt ter des AMS die Entscheidungen des Sys- Dr. Alma Kolleck Algorithmische Ungleichbehandlung (wie tems korrigieren? Falls ja, müssen sie sich +49 30 28491-113 auch ihr Zustandekommen) ist häufig für dafür rechtfertigen? Wie wirkt sich der [email protected] Betroffene schwer nachzuvollziehen (und Einsatz des AES auf die Arbeitsplatzauf- wird, so ist anzunehmen, deshalb auch nahme von Frauen und Müttern aus? Er- nur selten publik). Sie betrifft potenziell halten Frauen durch den Einsatz des AES eine Vielzahl von (digitalisierten) Lebens- mehr oder weniger Fortbildungen? Wel- bereichen – u. a. Arbeit, Bildung, Gesund- che Gruppen profitieren von der Einfüh- heit, Handel, Kommunikation, Kultur, rung des AES in die Arbeitsvermittlung, Verkehr, innere Sicherheit. Ungleichbe- welche nicht? handlung kann an verschiedenen Merk- malen ansetzen und dementsprechend ge- sellschaftlich stärker oder weniger stark Möglichkeiten, um problematisiert werden, wie auch das fol- Diskriminierungsrisiken gende Fallbeispiel illustriert. zu verringern

Eine Reihe von Vorschlägen zielt dar- Algorithmische Bewertung auf ab, die Diskriminierungsrisiken von von Arbeitssuchenden AES zu minimieren. Dabei stehen die Herstellung von Transparenz, eine Kon- Im eingangs dargestellten Fall handelt es trolle und Evaluierung von AES sowie sich um ein AES, das der österreichische eine einheitliche Regulierung im Zen-

41 Diskursanalyse: Petitionen an den Deutschen Bundestag

Petitionen an den Deutschen Bundestag – Bekanntheit und Nutzung

»Jedermann« hat nach Artikel 17 des Grundgesetzes das Recht, sich mit Bank- oder Versicherungsgeschäften. Bitten oder Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden. Allein Thematisiert wurden zudem außerpar- im Jahr 2019 wurden ca. 13.500 Petitionen an den Deutschen Bundestag lamentarische Petitions- oder Kampa- gerichtet. Doch wer kennt und nutzt das Petitionsrecht? Diese Frage stand gnenportalen wie »openPetition« oder im Mittelpunkt des TAB-Projekts »Petitionen an den Deutschen Bundestag – »Campact«. Des Weiteren erfolgt ein Ver- Bekanntheit und Nutzung«. Es wurde angeregt vom Petitionsausschuss, des- gleich zu den Ergebnissen früherer Befra- sen Arbeit das TAB seit vielen Jahren immer wieder begleitet. gungen des TAB zum Thema der Unter- suchung aus den Jahren 2007 und 2008.

An den Deutschen Bundestag werden so- Deutschen Bundestag durch mehrere Un- Zur Beantwortung der Untersuchungsfra- wohl grundsätzliche Anliegen von allge- tersuchungen begleitet. Anfang 2007 wur- gen wurden drei Befragungen bei folgen-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. meinem Interesse als auch persönliche den im Rahmen der wissenschaftlichen den Zielgruppen durchgeführt: Unterstützungsbitten, die die Sorgen und Begleitung des Modellversuchs »Öffent- Nöte von einzelnen Personen betreffen, liche Petitionen« erstmals Daten zur So- › Die erste repräsentative Befragung rich- herangetragen. Sie erreichen den Petitions- ziodemografie von Petentinnen und Pe- tete sich an deutschsprachige Internet- ausschuss des Deutschen Bundestages per tenten sowie zur Internetnutzung, zum nutzerinnen und -nutzer ab 16 Jah- Post, Fax oder elektronisch über das E-Pe- politischen Interesse und zur politischen ren mit Wohnsitz in Deutschland. Sie titionsportal des Deutschen Bundestages Teilhabe erhoben. Als Teil desselben Pro- fokussierte auf die Bekanntheit des (https://epetitionen.bundestag.de/) . jekts wurden 2008 die Bekanntheit und Instruments Petitionen und auf die die Nutzung des Petitionsrechts und der Nutzung bzw. Nichtnutzung des Peti- Über das E-Petitionsportal können Petitio- Institutionen des Petitionswesens in einer tionsrechts beim Deutschen Bundes- nen nicht nur eingereicht, sondern auch Bevölkerungsumfrage erfasst. Ende 2009 tag und bei den Länderparlamenten. zur Bekanntmachung, Mitzeichnung und wurden die Petentinnen und Petenten so- Berücksichtigt wurde dabei der Durch- Diskussion als öffentliche Petitionen pub- wie die Nutzenden des E-Petitionsportals schnitt der deutschen Wohnbevölke- lik gemacht werden. Ende 2019 waren hier im Rahmen einer zweiten TAB-Unter- rung hinsichtlich Geschlecht, Alter und mehr als 3,3 Mio. Personen angemeldet. suchung befragt, um mögliche Verände- Schulabschluss. Ausgewertet werden rungen der Nutzung im zeitlichen Ver- konnten 990 Datensätze. Die Anspra- Der Petitionsausschuss des Deutschen lauf zu erfassen. che der Teilnehmenden erfolgte über Bundestages legt über seine Tätigkeit ein Online-Access-Panel und einen jährlich ausführlich Bericht ab und wertet Onlinefragebogen. Personen, die dort dazu die verfügbaren Prozessdaten aus. Kernfragen des TAB-Projekts registriert sind, hatten sich zuvor bereit Zu den Petentinnen und Petenten sowie erklärt, wiederholt an Befragungen den Nutzerinnen und Nutzern des E-Pe- Im Mittelpunkt des Projekts standen drei teilzunehmen. titionsportals werden Daten jedoch nur Kernfragen: › Die zweite Erhebung wurde ebenfalls sparsam und im für die Verfahren erfor- als Onlinebefragung durchgeführt, derlichen Maß erhoben. So werden Per- › Wem ist das Recht, sich mit Bitten und sie richtete sich an Personen, die das sönlichkeitsrechte und Privatsphäre ge- Beschwerden an den Deutschen Bun- E-Petitionsportal des Deutschen Bun- schützt. Soziodemografische Merkmale destag zu wenden, bekannt bzw. nicht destages zum Einreichen, Mitzeich- für statistische Zwecke zählen nicht dazu. bekannt? nen oder Diskutieren von Petitionen Auch in der Forschung gelten Petitionen › Falls bekannt, wie haben die Befragten nutzen. Neben soziodemografischen als Nischenthema. Daher liegen dem Pe- von diesem Recht erfahren? Merkmalen wurden Aspekte der Nut- titionsausschuss nur wenige Informatio- › Wer nutzt das Recht, Petitionen beim zungsweise des Petitionsportals adres- nen darüber vor, wer Petitionen an den Deutschen Bundestag einzureichen, zu siert. Zur Teilnahme eingeladen wur- Deutschen Bundestag kennt und nutzt. veröffentlichen, zu diskutieren oder zu den 7.000 Personen, die sich seit dem Diese Lücke schließt das aktuelle TAB- unterstützen? Start des E-Petitionsportals registrier- Hintergrundpapier Nr. 25 »Petitionen an ten. 453 Personen nahmen daran teil. den Deutschen Bundestag – Bekanntheit Diese Kernfragen wurden ergänzt durch › Die dritte Befragung richtete sich an und Nutzung«. Fragestellungen zur Bedeutung von au- Personen, die ihr Anliegen postalisch ßergerichtlichen Schlichtungsstellen – einreichen. Sie konzentrierte sich auf Seit der Einführung elektronischer und z. B. Datenschutz- und Migrationsbeauf- die Fragestellungen, wer sich auf die- öffentlicher Petitionen hat das TAB die tragte oder Antidiskriminierungsstellen, sem klassischen Weg an den Deutschen Entwicklung des Petitionswesens beim aber auch zu Verbraucherfragen wie u. a. Bundestag wendet und wie die Peten-

42 Diskursanalyse: Petitionen an den Deutschen Bundestag

tinnen und Petenten vom Abb. Haben Sie den Begriff Petition bereits gehört und könnten Sie seine Bedeutung Petitionswesen Kenntnis inhaltlich beschreiben? erlangten. Dazu wurde Peten- tinnen und Petenten, die sich 16–25 27,7 60,0 12,3 im Zeitraum von Dezember 2019 bis April 2020 mit einer 26–35 30,5 61,0 8,8 Bitte oder Beschwerde an den Petitionsausschuss des Deut- 36–45 44,5 50,0 5,5 schen Bundestages wandten, mit der Eingangsbestätigung 46–55 34,4 59,7 5,8 ihrer Petition ein Fragebogen

zugesandt. Von 1.200 Frage- 56–65 44,4 53,5 2,1 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. bögen wurden 492 gut ausge-

füllte Antworten an das TAB Altersgruppen in Jahren 66–75 38,7 57,5 3,8 zurückgesandt.

75+ 38,1 56,0 6,0 Die Fragebögen wurden ge- meinsam mit dem Sekretariat 0 20 40 60 80 100 des Petitionsausschusses ent- Angaben in % wickelt. Das Sekretariat unter- stützte auch die Adressierung Ich habe den Begriff bereits gehört. der Teilnehmenden der beiden Ich habe den Begriff gehört und könnte ihn inhaltlich beschreiben. letztgenannten Erhebungen. Bei Ich habe den Begriff noch nicht gehört. allen Befragungen wurde da- rauf geachtet, Daten anonym Online-Access-Panel-Befragung der deutschen Wohnbevölkerung 2019; n = 990 zu erheben, sodass sie nicht den teilnehmenden Personen zuge- ordnet werden können. Petitionen etwas häufiger inhaltlich er- der. Die Nutzenden sind häufiger männ- läutern. Etwa 1 % der Befragten haben be- lich und eher im mittleren Alter (46 bis reits selbst eine Petition beim Deutschen 65 Jahre). Sie verfügen mehrheitlich über Hohe Bekanntheit des Bundestag oder einem Länderparlament einen höheren Bildungsabschluss. Vom Begriffs Petitionen eingereicht. Unter den Nutzerinnen und Petitionsportal bzw. von aktuellen Peti- Nutzern des E-Petitionsportals bejahten tionen erfahren sie meist aus den sozia- Die Ergebnisse der Bevölkerungsbefra- 7 % diese Frage. len Me dien. Dieses Ergebnis deckt sich gung zeigen: Der Bekanntheitswert des mit Ergebnissen anderer wissenschaftli- Begriffs Petitionen ist mit 90 % sehr hoch. Das Recht, Petitionen in eigener Sache cher Veröffentlichungen: Personen mel- Selbst das Recht, sich mit Bitten und Be- postalisch beim Deutschen Bundestag den sich, so die These, vor allem dann schwerden an den Deutschen Bundestag einzureichen, nutzen vor allem ältere auf dem E-Petitionsportal an, wenn sie oder an Länderparlamente zu wenden, ist Menschen und Personen, die meist nicht eine aktuelle Petition, die in Presse oder 70 % der deutschen Wohnbevölkerung be- mehr erwerbstätig sind. Bei 37 % von ih- sozialen Medien Aufmerksamkeit ge- kannt. Dieser Wert ist im Vergleich zur nen wurde eine Behinderung festgestellt. weckt hat, mit einer Mitzeichnung un- TAB-Befragung von vor gut 10 Jahren so- terstützen wollen. Oft erfolgt dann eine gar leicht gestiegen. Männer haben häufi- Die Bereitschaft zum Mitzeichnen von Mitzeichnung von einer oder mehreren ger Kenntnis des Petitionsrechts als Frau- Petitionen ist in der Bevölkerung un- sonstigen laufenden Petitionen. Es ist en, auch erhöht sich der Anteil derjenigen, abhängig vom Alter hoch. Jede vierte dem Petitions ausschuss bislang jedoch die das Petitionsrecht kennen, mit zuneh- Person hat bereits eine Petition unter- kaum gelungen, Personen zu einer kon- mendem Alter. Befragte mit (Fach-)Abi- stützt, meist über eine handschriftliche tinuierlichen Aktivität auf dem Portal tur kennen das Petitionsrecht eher als Per- Mitzeichnungsliste. zu motivieren. Interessant ist auch, dass sonen mit sonstigen Schulabschlüssen. In Nutzerinnen und Nutzer der E-Petitions- der Gruppe der bis 35-Jährigen sind Peti- Die Nutzerschaft des E-Peti tionsportals plattform oft auch außerparlamentari- tionen etwas weniger bekannt. Allerdings beim Deutschen Bundestag spiegelt nicht sche Petitions- und Kampagnenporta- können Menschen dieser Altersgruppen den Durchschnitt der Bevölkerung wi- le nutzen. Es ist davon auszugehen, dass

43 Diskursanalyse: Petitionen an den Deutschen Bundestag

diese Gruppe vorrangig durch das Inte- pen und Bildungsniveau dabei statistisch den zu halten und dabei für kontinuier- resse an den Themen einzelner Petitio- si gnifikante Unterschiede. Werden die liche Aktivitäten des Mitzeichnens oder nen für eine Mitzeichnung überzeugt Teilnehmenden der Onlinebefragungen Diskutierens zu motivieren. Sie könnten werden kann. nach den von ihnen meist genutzten so- die Bekanntheit des Petitionsrechts för- zialen Medien gefragt, dominieren Mes- dern, da Nachrichten mit geringem Auf- Vor allem die Ergebnisse der repräsenta- sengerdienste und insbesondere Whats- wand an mögliche Interessierte weiter- tiven Befragung bezeugen, dass sich die App die Antworten. geleitet werden können. Menschen mit Bevölkerung mit Eingaben und Beschwer- Migrationshintergrund könnten zielgrup- den nicht nur an die parlamentarischen Menschen ohne deutsche Staatsangehö- penspezifisch informiert werden, um so Petitionsausschüsse, sondern auch an an- rigkeit oder mit Migrationshintergrund die derzeit geringe Bekanntheit des Peti- dere Schlichtungsstellen des öffentlichen sind in allen drei Befragungen deutlich tionsrechts als Jedermannsrecht zu stei-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Rechts bzw. zu Verbraucherfragen wendet. unterrepräsentiert. Aus den Untersuchun- gern. Nicht zuletzt könnten gezielt ältere gen ergeben sich indirekt Hinweise auf Menschen über klassische Medien über Klassische Medien wie Fernsehen, Radio einen zu geringen Bekanntheitsgrad des das Petitionsrecht informiert werden. Vor und Presse sind weiterhin die häufigsten Petitionsrechts in dieser in Deutschland allem in diesem Personenkreis kommt der Informationswege, über die Menschen anteilig großen Bevölkerungsgruppe. Möglichkeit, sich mit einer Bitte an den vom Petitionsrecht beim Deutschen Bun- Petitionsausschuss zu wenden, hohe Be- destag gehört haben. Allerdings erfahren deutung zu. viele Menschen auch über soziale Me- Optionen für die dien, durch Familie und Bekannte oder Öffentlichkeitsarbeit Die Ergebnisse des TAB-Projekts »Peti- während ihrer Schulzeit von Petitionen. des Petitionsausschusses tionen an den Deutschen Bundestag – Jeweils knapp unter 10 % nennen jeweils Bekanntheit und Nutzung« werden in diese Informationswege. Ausbildung Aus den Ergebnissen ergeben sich mög- Kürze als TAB-Hintergrundpapier Nr. 25 bzw. Studium werden mit 6 % seltener liche Optionen für die Fortführung der publiziert. genannt. Auch Internetsuchmaschinen Informations- und Öffentlichkeitsar- und Broschüren bzw. Informationsver- beit zu Petitionen. So könnten Messen- Kontakt anstaltungen des Deutschen Bundesta- gerdienste wie WhatsApp ein Informa- Britta Oertel ges kommt mit jeweils um 4 % eine nach- tionspfad sein, um interessierte Nutzende +49 30 80 30 88-43 geordnete Rolle zu. Allerdings zeigt die des E-Petitionsportals regelmäßig über [email protected] Analyse nach Geschlecht, Altersgrup- aktuelle Informationen auf dem Laufen-

44 TA-Projekt: Beobachtungstechnologien im zivilen Sicherheitsbereich

Beobachtungstechnologien im zivilen Sicherheitsbereich – Praktiken, Wirkungen und Gestaltungsoptionen

Über das richtige Maß des Einsatzes von Beobachtungstechnologien im Be- Breites Anwendungs- reich der zivilen Sicherheit wird seit geraumer Zeit (teils sehr kontrovers) spektrum für Beobachtungs- diskutiert: Erhoffen sich die einen mehr Sicherheit durch technisierte Be- technologien obachtung, zweifeln andere den Sicherheitsnutzen von Beobachtungstech- nologien an und sehen in ihrer Anwendung eine Gefahr für die Bürgerrechte. Begünstigt durch die rasanten Entwick- Für die hier notwendig zu führenden politischen und gesellschaftlichen De- lungen in den Bereichen Sensorik, Infor- batten will der TAB-Arbeitsbericht Nr. 190 »Beobachtungstechnologien im matik und Informationstechnik wird im Bereich der zivilen Sicherheit – Möglichkeiten und Herausforderungen« die zivilen Sicherheitsbereich bereits heute sachlichen Grundlagen liefern. eine breite Palette an Beobachtungstech- nologien in unzähligen Anwendungs- kontexten eingesetzt und fortwährend

Beobachtungstechnologien erweitern das chen) Einsatzfelder nicht zuletzt auch hin- kommen neue und erweiterte Anwen- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. menschliche Wahrnehmungs- und Beur- sichtlich ihrer technischen, rechtlichen dungsfelder hinzu. Dabei kann grund- teilungsvermögen für Risiken, Gefahren und sozialen Komplexität klar struktu- sätzlich zwischen sensorbasierten und da- oder Schäden in vielfältiger Weise. Von riert darzulegen. Dazu wurden tenbasierten Beobachtungstechnologien ihrer Anwendung können daher sämtli- unterschieden werden (Abb. 1): Sensorba- che Aufgabenfelder der zivilen Sicherheit › die wissenschaftlich-technischen sierte Beobachtungstechnologien erfassen profitieren, angefangen von der Verkehrs- Grundlagen der jeweiligen Beobach- bestimmte physikalische oder chemische überwachung und dem Umweltmonito- tungstechnologien in Abhängigkeit Eigenschaften der realen Welt und berei- ring über den Brand- und Katastrophen- von den Einsatzanforderungen und ten die Messgrößen in für den Menschen schutz, den Rettungsdienst und den -bedingungen, leicht interpretierbare Informationen auf. Schutz Kritischer Infrastrukturen bis hin › der erwartete und tatsächliche Sicher- Datenbasierte Beobachtungstechnologien zur polizeilichen Gefahrenabwehr und heitsnutzen der jeweiligen konkreten hingegen bezwecken die Erhebung und Strafverfolgung. Entsprechend erlangen Einsatzpraktiken, Auswertung von Informationen der digi- Beobachtungstechnologien im Bereich der › die rechtlichen Rahmenbedingungen talen Welt. Zentrale Beobachtungsräume zivilen Sicherheit sowohl durch ihre be- und die aktuellen Einsatzpraktiken sind hier das Internet und seine Anwen- reits erfolgte Verbreitung und Nutzung als sowie dungen, die Dienste und Infrastrukturen auch aufgrund des Entwicklungspoten- › mögliche nichtintendierte Wirkungen der Telekommunikation sowie informa- zials für neue und erweiterte Anwendun- und Folgen des Technologieeinsatzes tionstechnische Endgeräte wie beispiels- gen immer stärkere Bedeutung. In Teilen auf die beobachteten Personen und die weise PCs oder Smartphones. der Öffentlichkeit, Wissenschaft und Po- Sicherheitsakteure litik allerdings wird der (zunehmende) Sensorbasierte Beobachtung Einsatz von Beobachtungstechnologien analysiert. Dieses Wissen bildete schließ- für zivile Sicherheitsaufgaben mitunter lich die Grundlage zur Ableitung von Ge- Unter den sensorbasierten haben insbe- auch kritisch gesehen. So werden Fragen staltungsoptionen, die zu einem zielfüh- sondere die bildgebenden Beobachtungs- nach dem tatsächlichen Sicherheitsnut- renden und gesellschaftlich tragfähigen technologien vielfältige Anwendungs- zen von technisierten Beobachtungsmaß- Umgang mit Beobachtungstechnologien felder im zivilen Sicherheitsbereich. Zu nahmen gestellt, die Verhältnismäßigkeit im Bereich der zivilen Sicherheitsbereich nennen sind hier etwa Foto-, Video- oder vieler Einsatzpraktiken angezweifelt oder beitragen können. Wärmebildkameras am Boden (beispiels- unerwünschte Wirkungen und Folgen des Technologieeinsatzes für die beobachte- ten Personen oder die Sicherheitsakteu- Abb. 1 Systematik der Beobachtungstechnologien re befürchtet. Beobachtungs- Vor diesem Hintergrund war es die Ziel- technologien setzung des TA-Projekts, die hier rele- vanten gesellschaftlichen und politischen sensorbasiert datenbasiert Fragestellungen zu identifizieren und kri- tisch zu reflektieren. Um Chancen und Herausforderungen vertieft ergründen Internet- informationstech- bildgebend nichtbildgebend und herausarbeiten zu können, erwies es beobachtung nische Beobachtung sich als notwendig, die Vielfalt der (mögli-

45 TA-Projekt: Beobachtungstechnologien im zivilen Sicherheitsbereich

weise Videobeobachtung im öffentlichen Einsatzkontexten als auch mit Blick auf der Videobeobachtung in allen diesen drei Raum, Waldbrandfrüherkennungssyste- die gesellschaftlichen Kontroversen über Wirkungskategorien noch aus, da die bis- me), in der Luft (z. B. Videokamerasys- ihren Einsatz eine hervorgehobene Rolle her durchgeführten Evaluationen teilwei- teme auf Hubschraubern zur Lageauf- ein. Weit verbreitet ist namentlich die of- se widersprüchliche und oft hinter den klärung oder Vermisstensuche) oder im fene Videobeobachtung im öffentlichen Erwartungen liegende Ergebnisse zeig- Weltraum (z. B. Satellitenbilder für Risi- Raum, die von der Polizei beispielswei- ten. Insofern besteht hier nach wie vor koanalysen oder Lagebeurteilung im Kon- se an Kriminalitätsschwerpunkten, zum ein großer empirischer Forschungsbedarf. text großräumiger Katastrophen). Aber ganz überwiegenden Teil jedoch von an- auch nichtbildgebende sensorbasierte Be- deren öffentlichen (z. B. Videobeobach- Eine Folge der raschen Verbreitung der obachtungsverfahren gewinnen zuneh- tung im ÖPNV, in öffentlichen Gebäu- Videobeobachtung im öffentlichen Raum mend an Bedeutung. Beispiele hierfür den) und insbesondere privaten Akteuren ist eine stetig steigende Masse an Video-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. sind Metalldetektoren für Zutrittskon- (z. B. in Banken, Einkaufszentren, Veran- daten, deren Bewältigung durch Sicher- trollen, Geigerzähler zur Messung von staltungsstätten) zur Erkennung von Ge- heitsakteure jedoch zunehmend an Gren- Radioaktivität, Gassensoren zum Nach- fahrensituationen oder etwa zum Schutz zen stößt. An Bedeutung gewinnen daher weis toxischer Gase oder akustische Or- vor Vandalismus oder Diebstahl einge- algorithmenbasierte Verfahren, deren Ziel tungsgeräte zur Suche nach verschütte- setzt wird. darin besteht, den menschlichen Beob- ten Personen (Abb. 2). Im TAB-Bericht achter bei der Analyse und Interpreta- werden die wissenschaftlich-technischen Als Instrument der Kriminalitätsbekämp- tion der Videobilder zu unterstützen. Ein Grundlagen der sensorbasierten Beobach- fung werden mit der offenen Videobeob- Beispiel ist die automatisierte Gesichts- tungstechnologien erörtert sowie wichti- achtung drei wesentliche Zielsetzungen erkennung, die in Deutschland für po- ge aktuelle und künftige Anwendungs- verfolgt: die Senkung der Kriminalitäts- lizeiliche Zwecke aktuell im Rahmen felder im zivilen Sicherheitsbereich in belastung durch Kriminalitätspräven- der teilautomatisierten Grenzkontrolle Bezug auf Einsatzpraktiken, Sicherheits- tion, die Verbesserung der Strafverfol- (EasyPASS) oder als Hilfsmittel zur ret- nutzen und rechtliche Rahmenbedingun- gung durch Beweissicherung sowie die rospektiven Auswertung von gespeicher- gen diskutiert. Steigerung des Sicherheitsempfindens. tem Foto- oder Videomaterial eingesetzt Wie die Auswertung der dazu verfügba- wird (einschließlich Identitätsfeststel- Die Videobeobachtung nimmt sowohl in ren Literatur allerdings zeigt, steht ein lung durch den Abgleich mit polizeili- Bezug auf ihre Verbreitung in zahlreichen wissenschaftlicher Nachweis des Nutzens chen Lichtbilddatenbanken). Als mög- liches künftiges Anwendungsfeld wird aktuell die Personenfahndung in Echt- Abb. 2 Akustische Ortungsgeräte im Einsatz beim THW zeit diskutiert, wozu ein Videobeobach- tungssystem (z. B. an großen Bahnhöfen) über ein Gesichtserkennungssystem mit einer Fahndungsdatenbank verknüpft wird. Da hierzu in Deutschland bereits mehrere Versuchsprojekte stattfanden, wurde dieses Anwendungsfeld im TAB- Bericht vertieft erörtert. Deutlich wur- de, dass Vorhersagen zum sicherheitsrele- vanten Nutzen solcher Systeme aufgrund von technischen und praktischen Her- ausforderungen im Realbetrieb nur äu- ßerst schwer zu treffen sind. Notwendig erscheinen daher Versuchsprojekte, die nicht wie bis anhin nur die Erkennungs- leistung der Systeme messen, sondern auch Faktoren wie etwa spezifische Ver- haltensweisen von gesuchten Personen oder mögliche Auswirkungen des Tech- nologieeinsatzes auf die polizeiliche Ein- satzpraxis zum Untersuchungsgegenstand haben.

46 TA-Projekt: Beobachtungstechnologien im zivilen Sicherheitsbereich

Abb. 3 Beobachtung von Reisekoordination im Vorfeld von Risikospielen im Fußball wird derzeit (auch gefördert durch die zi- vile Sicherheitsforschung des Bundes) in- tensiv gearbeitet.

Informationstechnische Beobachtung

Im Gegensatz zur Internetbeobachtung richtet sich die informationstechnische Beobachtung auf Daten, die eine Person in der berechtigten Erwartung, dass sie

vertraulich bleiben, einem informations- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. technischen System anvertraut hat. Dazu gehören Inhalte und verbindungsbeglei- tende Metadaten (z. B. Rufnummern, IP- Adressen) der Telekommunikation wie auch sämtliche Daten, die eine Person auf ihren Endgeräten bewusst oder un- bewusst speichert. Informationstechni- sche Beobachtungsverfahren werden bei- nahe ausschließlich durch die Polizei- und Quelle: Munich Innovation Labs GmbH Strafverfolgungsbehörden und hier in ers- ter Linie zur verdeckten Informations- beschaffung zu Zwecken der Gefahren- Internetbeobachtung amt die Beobachtung der Internetakti- abwehr oder Strafverfolgung eingesetzt vitäten von verdächtigen Personen oder (nachrichtendienstliche Einsatzfelder Sicherheitsakteure sind darauf ange- gewaltbereiten Gruppierungen im Vor- werden im Bericht nicht behandelt). Die wiesen, mit veränderten Kommunika- dergrund. Schließlich können nutzer- Notwendigkeit dazu ergibt sich u. a. im tionsmustern Schritt zu halten und in- generierte Internetinhalte auch im Falle Kontext der Cyberkriminalität, deren Be- sofern auch verlässlich über Aktivitäten von unerwartet eingetretenen Großscha- kämpfung ohne den Einsatz von informa- und Trends im Internet und in den so- denslagen, Katastrophen oder Terroran- tionstechnischen Beobachtungsverfahren zialen Medien informiert zu sein. Ent- schlägen wichtige Informationsquellen kaum möglich ist. sprechend findet die Beobachtung des für polizeiliche und nichtpolizeiliche Ein- Internets durch Behörden und Organi- satzkräfte darstellen. Die Zielsetzungen, die technischen Funk- sationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) tions weisen und – soweit dies aus öffent- heute verstärkt statt. Als Quellen dienen Wie bei der Videobeobachtung besteht lich zugänglichen Quellen hervorgeht – die offen zugängliche Bereiche des Internets die Herausforderung auch hier in der Be- konkreten polizeilichen Einsatzpraktiken wie einschlägige Webseiten, Foren, Twit- wältigung und Interpretation der großen der verschiedenen informationstechni- termeldungen oder Inhalte sonstiger so- Datenmengen. Hilfe könnten hier Soft- schen Beobachtungsmethoden werden zialer Medien. warelösungen im Rahmen der »Social im TAB-Bericht ausführlich erläutert. Media Intelligence« (SOCMINT) bie- Als sehr voraussetzungsreich erweisen Einsatzformen und Zielsetzungen va- ten. Primäres Ziel ist, die notwendigen sich hier insbesondere die Verfahren zur riieren in Abhängigkeit vom jeweiligen Schritte für die Beobachtung sozialer Me- Beobachtung von Daten auf dem End- Aufgabenspektrum. Bei Polizeibehörden dien (und anderer Internetquellen) soft- gerät eines Verdächtigen, die unter Um- bereits gängige Praxis ist die Internetbe- waretechnisch zu unterstützen und da- ständen dann notwendig werden, wenn obachtung im Vorfeld von und während durch effizienter zu machen (Abb. 3). Straftäter ihre elektronische Kommuni- Großveranstaltungen (z. B. Demonstratio- Weiteren Nutzen versprechen sich Si- kation verschlüsseln. Da diese Verfahren nen, Risikospiele im Fußball), um lage- cherheitsakteure für die Früherkennung die heimliche Installation einer speziel- relevante Informationen für die Einsatz- sicherheitsrelevanter Lagen. Aktuell ver- len Beobachtungssoftware auf dem End- planung und -durchführung zu gewinnen. fügbare Softwarelösungen sind allerdings gerät erforderlich machen, stellen sie ei- Aufgabenbedingt steht bei Landeskrimi- noch nicht sehr ausgereift. An der Wei- nen sehr tiefen Eingriff in die technische nalämtern sowie dem Bundeskriminal- terentwicklung entsprechender Lösungen IT-Sicherheit dar.

47 TA-Projekt: Beobachtungstechnologien im zivilen Sicherheitsbereich

Informationstechnische Beobachtungsver- tung im gesellschaftlichen Kontext sehr sie benutzenden Sicherheitsakteure wur- fahren greifen aber nicht nur in techni- komplex ist. Verhältnismäßig gut erforscht den bislang wissenschaftlich kaum er- scher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht sind einzig mögliche psychische Auswir- forscht und spielen derzeit auch in poli- teilweise sehr tief in geschützte Bereiche kungen der offenen Videobeobachtung. tischen und öffentlichen Diskursen eine ein. Konkret sind die hochgradig sensiblen Demnach kann Videobeobachtung zu ei- nur untergeordnete Rolle. Dabei zeigt sich Felder der grundrechtlichen Privatheits- ner gesteigerten und ggf. als unangenehm in anderen Sicherheitskontexten, dass un- garantien betroffen. An die Durchführung empfundenen Selbstaufmerksamkeit füh- erwünschte Wirkungen auf die Techno- der Maßnahmen werden daher sehr hohe ren. Zudem sind Verhaltensmodifikatio- logieanwender das Ziel einer Steigerung verfassungsrechtliche Anforderungen ge- nen in Form der Vermeidung beobach- von Sicherheit durch Technisierung unter stellt, die im Eingriffsrecht (Strafprozess- teter Räume möglich. Der gegenwärtige Umständen konterkarieren können. Aus und Polizeirecht) konkretisiert sind. Im Forschungsstand legt jedoch auch nahe, dem Bereich der Luftfahrt bekannt ist bei-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. TAB-Bericht werden die aktuellen recht- diese Effekte nicht zu überschätzen. Da- spielsweise der Effekt, dass ein überstei- lichen Rahmenbedingungen aufgearbeitet rüber hinaus scheinen sich vergleichsweise gertes Vertrauen in die Funktions- und und wichtige regulatorische Fragestellun- schnell Gewöhnungseffekte einzustellen. Leistungsfähigkeit von Sicherheitstech- gen erörtert, die sich bei der praktischen nik zu Nachlässigkeit und zur Abnahme Anwendung der Eingriffsnormen stellen. Die Komplexität erhöht sich weiter bei Be- des Situationsbewusstseins bei den An- obachtungspraktiken, die ohne Wissen wendern führen kann. der Beobachteten stattfinden, also bei- Gesellschaftliche spielsweise Formen der polizeilichen In- Auch Beobachtungstechnologien wird Auswirkungen technisierter ternet- oder informationstechnischen Be- teilweise eine technische Überlegenheit Beobachtung obachtung. Potenziell betroffene Personen gegenüber menschlichen Beobachtern at- können kaum nachvollziehen, ob, wann testiert, etwa im Kontext der Videobe- Der Einsatz von Beobachtungstechnolo- und durch wen sie beobachtet werden; im obachtung in Verbindung mit Gesichts- gien im Bereich der zivilen Sicherheit ist Bewusstsein bleibt einzig die Möglichkeit, erkennungssystemen in Bezug auf die immer mit gesellschaftlichen Auswir- dass man beobachtet werden könnte. Die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit bei der kungen verbunden. Zu den intendierten psychischen und sozialen Auswirkungen Erkennung von polizeilich gesuchten Per- Wirkungen der jeweiligen Beobachtungs- solcher Beobachtungspraktiken sind bis sonen. Verlieren Sicherheitsakteure je- praxis (z. B. die erhoffte abschreckende dato nur unzureichend erforscht. Zwar doch das Bewusstsein für die Grenzen Wirkung auf potenzielle Straftäter) kom- zeigen einige Studien klare Anhaltspunk- und Limitationen von Beobachtungstech- men mögliche unerwünschte psychische te für sogenannte Chillingeffekte, also für nologien, kann dies dazu führen, dass und soziale Wirkungen auf Personen, die Verhaltensanpassungen oder Einschrän- technikbasierte Handlungsempfehlun- selbst keinen Anlass für die Beobachtung kungen der eigenen Handlungen als Folge gen akzeptiert werden, ohne sie auf ihre gegeben haben (z. B. Einschüchterungsef- staatlicher Beobachtung im Internet oder Richtigkeit zu überprüfen, oder dass si- fekte), hinzu. Zu beachten sind ferner po- in der elektronischen Kommunikation. cherheitsrelevante Situationen, die von tenzielle Auswirkungen auf die Technolo- Fraglich bleibt allerdings, ob diese Befun- der Technologie nicht erkannt wurden, gieanwender, also die Sicherheitsakteure de, die fast ausschließlich im Kontext der auch vom Menschen übersehen werden. und deren Institutionen. In den Debatten Beobachtungspraktiken durch (ausländi- Wenn zudem immer mehr Aspekte der um den Einsatz von Beobachtungstechno- sche) Nachrichtendienste erzielt wurden, Beobachtungs- bzw. Sicherheitsarbeit an logien durch Polizeibehörden schließlich sich auch auf polizeiliche Beobachtungs- technische Systeme abgegeben werden, bildet das schwierige Spannungsverhält- praktiken (in Deutschland) übertragen während sich die Aufgabe des aktiv han- nis zwischen den Werten der Sicherheit lassen. Es besteht daher noch großer For- delnden Sicherheitsakteurs immer stärker und der Freiheit eine herausragende Rolle. schungsbedarf, um die genauen Mecha- auf die Überprüfung von Systemmeldun- nismen der psychischen Auswirkungen gen beschränkt, kann sich dies ggf. nega- Psychische und soziale technisierter Beobachtung auf individu- tiv auf seine Arbeitsmotivation und -leis- Wirkungen eller Ebene besser zu verstehen. tung auswirken.

Intuitiv erscheint es naheliegend, dass das Auswirkungen auf Techno- Diese und weitere im TAB-Bericht dis- Wissen, beobachtet zu werden, sich auf die logieanwender und deren kutierten Beispiele verdeutlichen, dass Psyche und das Verhalten der beobachte- Institutionen ein verstärkter Technologieeinsatz auf- ten Personen auswirkt. Ein wissenschaft- grund von nichtintendierten Wirkungen licher Nachweis solcher Effekte ist jedoch Mögliche Auswirkungen des Einsatzes auf die Technologieanwender nicht auto- schwierig, da das Phänomen der Beobach- von Beobachtungstechnologien auf die matisch zu mehr Sicherheit führen muss.

48 TA-Projekt: Beobachtungstechnologien im zivilen Sicherheitsbereich

Bei Überlegungen und Entscheidungen eignet. Denn der praktische Sicherheits- entwickeln, die auf die jeweiligen konkre- über den (künftigen) Einsatz von Beob- nutzen von polizeilichen Beobachtungs- ten Einsatzsituationen anwendbar sind achtungstechnologien sollten mögliche maßnahmen hängt in den allermeisten und es ermöglichen, technische, recht- Effekte auf die sie benutzenden Sicher- Fällen nicht nur von technisch-funktio- liche, sozialwissenschaftliche und ethi- heitsakteure daher adäquat einbezogen nalen Kriterien, sondern auch wesentlich sche Bewertungsdimensionen integriert werden. Dazu ist es notwendig, das Wis- von den jeweiligen sozialen Anwendungs- zu betrachten. sen über solche Effekte zu erweitern. kontexten oder Verhaltensweisen der be- obachteten Personen ab. Schließlich sollten auch die Akteure der Spannungsverhältnis zwischen zivilen Sicherheit, die die Technologien Sicherheit und Freiheit Wie dieses Beispiel zeigt, sind die Prüf- im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrund- und Befugnisse in der Praxis anwenden,

Der Einsatz von Beobachtungstechnolo- satzes – zumindest nach bisheriger An- den Einsatz von Beobachtungstechnolo- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. gien im zivilen Sicherheitsbereich kann wendungspraxis – zum Teil zu vage, um gien regelmäßig auf den Prüfstand stellen. mit Eingriffen in individuelle Freiheits- über die Verhältnismäßigkeit polizeilicher Gerade hier bieten sich gute Vorausset- rechte verbunden sein. Hier im Fokus Beobachtungsmaßnahmen auch nach ge- zungen, um den tatsächlichen Sicher- stehen insbesondere polizeiliche Beob- sellschaftlichen (z. B. ethischen) Bewer- heitsnutzen zu bewerten und mögliche achtungspraktiken, die in der Regel tungsmaßstäben entscheiden zu können. unerwünschte Wirkungen der Techno- grundrechtlich geschützte Privatheits- Aus diesem Grund wurden im TAB-Be- logieanwendung frühzeitig zu erkennen. garantien berühren. Daraus entsteht mit- richt mögliche Anforderungen an eine Die Evaluationsergebnisse sollten ande- unter ein sensibles Spannungsverhältnis erweiterte Verhältnismäßigkeitsprüfung ren Sicherheitsakteuren, der Wissenschaft zwischen den gesellschaftlichen Sicher- im Kontext des Einsatzes von Beobach- und – im Sinne der Transparenz – der all- heitsbedürfnissen und den individuellen tungstechnologien im zivilen Sicherheits- gemeinen Öffentlichkeit zugänglich ge- Freiheitsrechten. bereich diskutiert. macht werden.

Es ist eine schwierige Aufgabe, staatliches Der TAB-Arbeitsbericht Nr. 190 »Beobach- Sicherheitshandeln in eine angemesse- Gestaltungsoptionen tungstechnologien im Bereich der zivilen ne Balance zwischen Sicherheit und Frei- Sicherheit – Möglichkeiten und Heraus- heit zu bringen. Ein zentrales Instrument Aufbauend auf diesen Analysen wur- forderungen« wird nach Abnahme durch hierzu bildet der Grundsatz der Verhält- de eine Reihe von Gestaltungsoptionen den ABFTA publiziert. nismäßigkeit, der verlangt, dass der Staat abgeleitet, die einen zielführenden und mit jedem Grundrechtseingriff einen le- zugleich gesellschaftlich tragfähigen Kontakt gitimen Zweck mit geeigneten, erforderli- Umgang mit technisierten Beobachtungs- Dr. Claudio Caviezel chen und angemessenen Mitteln verfolgt. praktiken befördern könnten. +49 30 28491-116 So gilt beispielsweise ein Mittel im verfas- [email protected] sungsrechtlichen Sinne dann als geeignet, Gestaltungsoptionen für die Akteure der wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Er- Forschung und Entwicklung ergeben sich folg gefördert werden kann. Dabei muss aus den im Bericht identifizierten Wis- der erstrebte Erfolg nicht in jedem Einzel- senslücken. Ein fortwährend wichtiges fall erreicht werden oder erreichbar sein, Forschungsdesiderat stellt beispielsweise die abstrakte Möglichkeit der Zwecker- die Evaluation des konkreten Sicherheits- reichung genügt. Diese Voraussetzung nutzens technisierter Beobachtungsprak- aber erfüllen polizeiliche Beobachtungs- tiken im zivilen Sicherheitsbereich dar. maßnahmen zumeist quasi automatisch: Solange die technisch-funktionale Leis- Gestaltungsoptionen für den Gesetzge- tungsfähigkeit der jeweiligen Beobach- ber werden in erster Linie im Hinblick auf tungstechnologie gegeben ist, bestehen eine »Erweiterung« der Verhältnismäßig- kaum Zweifel, dass durch ihren Einsatz keitsprüfung gesehen. Um beispielsweise das verfolgte Ziel zumindest potenziell die Möglichkeiten für die Geeignetheits- bzw. in Einzelfällen erreicht werden kann. prüfung für polizeiliche Beobachtungs- Dies sagt aber wenig darüber aus, ob sich praktiken zu verbessern, wären neben die fragliche Beobachtungspraktik auch technisch-funktionalen Eignungskrite- tatsächlich zur Kriminalitätsbekämpfung rien zusätzliche Bewertungsmethoden zu

49 TA-Projekt: Genome Editing am Menschen

Gentherapien mit Genome Editing – neue Möglichkeiten, neue Herausforderungen

Schon seit Langem haben Fachleute über die Möglichkeit debattiert, über dieser Stelle ein Bruch des DNA-Strangs gentherapeutische Interventionen in bestimmten Körperzellen hinaus auch veranlasst wird. Dies führt zu einer Ak- gezielt in die menschliche Keimbahn einzugreifen. Als im November 2018 tivierung zelleigener Reparaturmecha- bekannt wurde, dass ein chinesisches Forschungsteam einen solchen Ein- nismen, die zur Veränderung von Gense- griff tatsächlich durchgeführt hatte, traf es die Fachwelt (und Teile der quenzen genutzt werden können. Neuere Öffentlichkeit) wie ein Schock. Denn nach fast einhelliger Meinung waren Varianten des Genome Editings erlauben (und sind) weder die technischen Möglichkeiten noch der Wissensstand an der anvisierten Stelle die gezielte Um- ausgereift genug, um die mit einem solchen Eingriff verbundenen Risiken wandlung einzelner oder mehrerer Basen beherrschen zu können. Die zugrundeliegenden Technologien eröffnen al- (der Buchstaben des genetischen Codes). lerdings viele weitere Anwendungsmöglichkeiten genetischer Therapien am Menschen. Mittels Genome Editing (und insbeson-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. dere durch das CRISPR-Cas9-System) wurde es erstmals möglich, relativ ein- Die rasante Entwicklung neuer gen- Keimbahn (durch genetische Veränderun- fach, schnell und kostengünstig gezielte technischer Verfahren, die als Geno- gen während der Befruchtung, in einzelli- Veränderungen direkt im Genom ganz me Editing bezeichnet werden, hat gen Embryonen oder in Geschlechtszellen unterschiedlicher Zelltypen (und das bei Keimbahneingriffe, also Veränderun- in unterschiedlichen Reifungsstadien), die fast allen Arten von Lebewesen) durch- gen des Genoms, deren Auswirkun- im Fall der Fortpflanzung auch die nach- zuführen, einschließlich menschlicher gen nicht nur die jeweils Behandelten, folgenden Generationen betreffen. Bei der Keimzellen sowie befruchteter Eizel- sondern auch deren Nachkommen be- somatischen Gentherapie stehen die Hoff- len bzw. einzelliger Embryonen. Zuvor treffen, auch beim Menschen technisch nungen von Forschenden und Betroffe- waren solche Veränderungen nur sehr möglich gemacht. Zu diesen Verfahren nen auf eine Verbesserung und Erweite- ineffizient, aufwendig und langwierig zählt insbesondere die Anwendung des rung therapeutischer Möglichkeiten bzw. umzusetzen und daher auf wenige Mo- CRISPR-Cas9-Systems, für dessen Ent- Optionen durch Genome Editing im Vor- dellorganismen (vor allem auf die Maus) deckung im Herbst 2020 der Nobelpreis dergrund. Diese werfen nach einhelliger und bestimmte Zelllinien beschränkt. für Chemie an Emmanuelle Charpen- Fachmeinung keine qualitativ neuartigen Oder aber die Veränderung erfolgte mit tier und Jennifer A. Doudna verliehen rechtlichen oder ethischen Fragen auf, da- weitgehend ungezielter Integration der wurde. Aber auch ältere molekularbio- her wurden hierzu vom TAB der natur- zusätzlichen Genkopien in das Genom logische Werkzeuge wie Zinkfingernuk- wissenschaftlich-medizinische Sachstand der Zellen. Vor allem die Möglichkeit, leasen und Transcription-Activator-like- erhoben und, so weit dies in so frühen mit Genome-Editing-Werkzeugen be- Effektor-Nukleasen (TALEN) erlauben Forschungs- und Entwicklungsstadien fruchtete Eizellen direkt und gezielt ge- eine im Vergleich zu früheren genthe- sinnvoll ist, mögliche gesundheitsöko- netisch zu verändern, hat das Erzeugen rapeutischen Ansätzen größere Vielfalt nomische Perspektiven und Herausforde- von Organismen mit genetischen Ver- an Eingriffsmöglichkeiten einschließlich rungen skizziert. Bei der Keimbahnthe- änderungen in allen Zellen stark ver- der Modifikation zelleigener Gene und rapie hingegen stellen sich grundsätzliche einfacht und das Spektrum von so ver- der Einbringung therapeutischer Gene biomedizinische und ethische Fragen, da- änderbaren Arten deutlich erweitert. an ganz bestimmten Stellen des Erbguts. her wurden insbesondere die bisherigen Gezielte Eingriffe in die Keimbahn des und laufenden ethischen und rechtlichen, Menschen zur dauerhaften Veränderung Die Forschung zu humanmedizinischen fachwissenschaftlichen und öffentlichen des Erbguts der Nachkommen wurden so Anwendungen dieser Verfahren wurde Diskurse analysiert. Ein übergreifendes erst rea listisch möglich. Außer solchen in den letzten Jahren stark ausgeweitet. Thema bildet die Frage der Sicherheit, die Keimbahneingriffen sowie der Verbesse- Das TAB hat in seinem Ende 2019 abge- für alle Anwendungen am Menschen von rung von Ansätzen somatischer Genthe- schlossenen Monitoringprojekt den Stand höchster Wichtigkeit ist. rapien ist es insbesondere die biomedi- der Forschung und Anwendung des Ge- zinische Grundlagen- und präklinische nome Editings am Menschen untersucht. Forschung, in denen sich durch Genome Dabei werden zwei Anwendungsberei- Die Grundlage: Genome Edi- Editing vielfältige neue Möglichkeiten che unterschieden. Auf der einen Seite die ting erleichtert Eingriffe ins aufgetan haben. somatische Gentherapie, also genetische menschliche Erbgut Veränderungen in Körperzellen (wie Le- Vielen Erfolgsmeldungen zum Trotz las- ber- oder Blutzellen), die nicht auf Nach- Genome-Editing-Verfahren zeichnen sich sen sich aber auch mit Genome-Editing- kommen vererbt werden, auf der anderen dadurch aus, dass eine bestimmte Stelle Verfahren – zumindest bislang – nicht Seite Eingriffe in Zellen der menschlichen im Genom einer Zelle aufgesucht und an 100%ig verlässliche Veränderungen im

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Abb. 1 Mögliche Anwendungen des Genome Editing am Menschen gen von genetischen Informationen kom- men, sodass zwar eine Inaktivierung von Genfunktionen recht leicht erreicht wer- somatische Gentherapie Keimbahntherapie den kann, eine erfolgreiche Sequenzän- derung oder das gezielte Einfügen bzw. der Austausch von Genen aber deutlich ungewisser ist. Weiterentwicklungen des

in vivo CRISPR-Cas-Systems, wie das Base bzw. Prime Editing, bei denen nicht der gan- ze DNA-Strang geschnitten wird, einzel- ne Basen umgewandelt bzw. bestimmte

DNA-Abschnitte gezielt eingefügt wer- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. den können, stellen mehr Kontrolle über ex vivo die Umwandlung der genetischen Infor- mation und teilweise geringere Off-Tar- get-Effekte in Aussicht. Insbesondere das Prime Editing wurde bisher aber nur ver- CRISPR-Cas9; suchsweise im Labor angewendet. Base/Prime Editors; TALEN; ZFN Ausweitung der Optionen bei der somatischen Gentherapie Wo erfolgt der Eingriff?

› Körperzellen, aus denen › Zellen der Keimbahn (Ei-/Samen- Neben der Verbesserung der Effizienz keine Geschlechtszellen hervorgehen zellen, einzelliger Embryo) und Genauigkeit der Anwendung ist die Ausweitung der Einsatzmöglichkeiten Wer ist betroffen? eine zentrale Hoffnung, die mit Genome › nur die behandelte Person › auch Nachkommen Editing im Bereich der somatischen Gen-

Wie erfolgt der Eingriff? therapie verbunden wird. Die Gentherapie konnte etwa ab dem Jahr 2000 mit dem › im Körper (in vivo) bzw. an › in einzelligen Embryonen bzw. Ansatz, bestimmte Krankheiten kausal entnommenen Zellen (ex vivo) bei der Befruchtung (in vitro) durch das Einbringen zusätzlicher Gene Was soll mit dem Eingriff bewirkt werden? zu therapieren, zunehmend Erfolge vor- › Ermöglichung/Verbesserung der Ermöglichung von ... weisen. In Europa und den USA wurden Therapie monogener Erkrankungen › Therapien monogener Erkrankungen mehrere solcher Therapien für monoge- › Ermöglichung der intrauterinen › Therapien von ererbten Krankheiten, ne Erbkrankheiten und Krebsarten zuge- Therapie von ererbten Krankheiten, die sich sehr früh oder multiorganisch lassen, darunter schwere Immunstörun- die sich sehr früh oder multi- manifestieren organisch manifestieren gen, angeborene Formen von Blindheit, › Korrekturen von Genvarianten für › spinale Muskelatrophie, ß-Thalassämie Ermöglichung der Therapie hohe Krankheitsrisiken chronischer Infektionen sowie bestimmte Leukämieformen. Al- › Therapien für Infertilität › Verbesserung/Ermöglichung von lerdings stellen das Risiko einer Muta- Immuntherapien für Krebs tion infolge des nicht zielgenauen Einbaus von Genabschnitten (Insertionsmutage- nese) bei Anwendungen, die eine stabile Genom erreichen. So kann es zu nichtbe- gen unterschiedlicher Chromosomentei- Integration von eingebrachten Genen in absichtigten Veränderungen an anderen le (Translokationen) führen und damit das Erbgut erfordern (z. B. in sich schnell Stellen des Genoms als der eigentlichen Krankheitsrisiken hervorrufen. Zudem teilenden Blutzellen) sowie mögliche Ne- Zielsequenz kommen (Off-Target-Ef- kann an der gewünschten Stelle nur sehr benwirkungen durch Immunreaktionen fekte). Diese können zur Inaktivierung begrenzt gesteuert werden, mit welchem gegen die für den Gentransport in die Zel- von Genen und Beeinträchtigung ihrer Mechanismus die Zelle den Bruch des le eingesetzten Viren (bei deren direkter Funktion, zu Veränderungen in der Men- DNA-Strangs repariert. Es kann zu un- Anwendung in Patienten) weiterhin Her- ge der Genprodukte oder zu Verknüpfun- geplanten Einfügungen oder Entfernun- ausforderungen dar.

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Genome-Editing-Verfahren sollen zum am Zielort (»on target«) sowie Immunre- ein Gendefekt bereits sehr früh (z. B. einen den zielgenaueren Einbau von Ge- aktionen gegen die (aus Bakterien stam- schon zum Zeitpunkt der Geburt oder nen an bestimmten Stellen des Genoms menden) Editingwerkzeuge. davor) zu schweren und/oder irreversi- erlauben und so das Risiko einer Inser- blen Schäden führt (wie bestimmte For- tionsmutagenese verringern. Außerdem men von lysosomalen Speicherkrank- werden erstmals Therapien für Krank- Voraussetzungen von heiten), Schäden in mehreren Organen heiten möglich, bei denen vorhandene Keimbahneingriffen hervorruft oder der Gendefekt in sehr Gensequenzen verändert werden müs- vielen Zellen eines Organs korrigiert sen. So können bestimmte gewünschte Nicht lediglich verbessert, sondern durch werden müsste (z. B. Duchenne-Mus- Genvarianten zu groß sein, um mittels der CRISPR-Cas bzw. Genome Editing über- keldystrophie oder Mukoviszidose), passenden Viren in Zellen eingeschleust haupt erst in den Bereich des technisch könnten Keimbahneingriffe Vorteile

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. werden zu können (z. B. bei einer be- Möglichen gerückt sind gezielte Eingrif- gegenüber somatischen Gentherapie- stimmten vererbbaren Form von Blind- fe in das Genom von Keimbahnzellen ansätzen bieten oder gar die einzige heit, LCA10). Oder dominante pathologi- beim Menschen. Frühere Techniken der kausale Therapieoption darstellen; sche Gene, die Krankheiten wie z. B. die Genmanipulation waren zu ineffi zient, › die präventive Veränderung von Gen- Huntington-Krankheit auslösen, müssen aufwendig und langwierig, um solche varianten, die mit einem sehr hohen inaktiviert werden. Darüber hinaus kön- Eingriffe durchführen zu können. Erste Krankheitsrisiko verbunden sind (z. B. nen auch Gene für therapeutische Funk- Veröffentlichungen zu Experimenten in Mutationen, die Brust- und Eierstock- tionen wieder aktiviert werden, die nor- China, bei denen Genveränderungen an krebs auslösen können); malerweise nicht mehr abgelesen werden (nichtlebensfähigen) menschlichen Emb- › Therapien für Infertilität als Folge frü- (z. B. zur Therapie von β-Thalassämie). ryonen durchgeführt wurden, erschienen her Arretierungen von Embryonen, Erste klinische Studien unter Anwen- 2015. Dabei wurden, wie bei allen bis heu- also Embryonen, deren Zellen sich dung von Genome Editing wurden be- te veröffentlichen Experimenten von For- aufgrund einzelner Gendefekte nach gonnen, u. a. wird in Deutschland gegen- scherteams aus China, den USA, Südkorea der In-vitro-Fertilisation (IVF) nicht wärtig eine Patientin mit β-Thalassämie und Großbritannien, das CRISPR-Cas9- mehr vermehren. behandelt. Genome-Editing-Ansätze rich- System oder darauf basierende Base-Edi- ten sich außerdem auf genbasierte Thera- tor-Systeme zur Einführung von geziel- Konstellationen von Eltern mit schweren pien für chronische Infektionskrankhei- ten Genomveränderungen in einzelligen Erbkrankheiten, die keine oder zu weni- ten wie HIV/AIDS und die Verbesserung Embryonen (bzw. in einem Fall in Eizel- ge gesunde Embryonen zeugen können, von Immuntherapien gegen Krebs. len während der Befruchtung) angewen- sind bislang sehr selten. Entsprechende det. Die meisten Versuche zielten auf die Fälle könnten jedoch häufiger auftreten, Auch mit den neuen Ansätzen sind Her- Korrektur von Mutationen, die monoge- wenn Krankheiten wie Mukoviszidose ausforderungen verbunden. Wie bei den ne Erkrankungen hervorrufen. Außer- zukünftig besser behandelt werden kön- konventionellen Ansätzen ist der Gen- dem wurde Genome Editing in einem nen. Eine weiter steigende Zahl an IVF- transfer bei direkten Behandlungen Fall eingesetzt, um das Grundlagenwis- Behandlungen wiederum könnte den Be- in Patienten (In-vivo-Verfahren) ver- sen über die frühe Embryonalentwick- darf an Therapien für Infertilität erhöhen. gleichsweise ineffizient und nur teil- lung zu verbessern. weise gewebsspezifisch. Insbesondere Erbkrankheiten, bei denen Schäden in Als mögliche Anwendungsgebiete, in Technische Herausforderun- mehreren und zum Teil schwer mit den denen Keimbahninterventionen als aus- gen und Sicherheitsfragen Genome-Editing-Werkzeugen zu errei- sichtsreiche Therapieoption eingesetzt chenden Organen hervorgerufen wer- werden könnten, erscheinen gegenwär- In den bisherigen Experimenten war die den (Mukoviszidose, muskuläre Dystro- tig insbesondere: Erfolgsrate der angestrebten genetischen phien), sowie Krankheiten, bei denen eine Veränderungen meist relativ klein (ty- Genmutation bereits sehr früh (z. B. schon › die Verhinderung der Weitergabe pischerweise unter 20 % der injizierten im Uterus oder zum Zeitpunkt der Ge- monogener Erbkrankheiten bei Paaren, Embryonen). Off-Target-Veränderungen burt) zu schweren oder irreversiblen Schä- bei denen eine Präimplantationsdiag- wurden beobachtet bzw. konnten nicht den führt, können daher nach wie vor nostik (PID) nicht erfolgversprechend ausgeschlossen werden, zudem kam es nicht oder nicht effizient behandelt wer- ist (weil keine oder zu wenig gesunde zu Mosaikbildungen, d. h. die Sequenz- den. Neue Herausforderungen stellen sich Embryonen entstehen würden, aus veränderung fand nicht in allen Zellen mit Genome-Editing-Ansätzen durch Off- denen eine Auswahl getroffen werden der Embryonen statt. Vor diesem Hin- Target-Effekte, unbeabsichtigte Schäden könnte). Vor allem in Fällen, in denen tergrund erscheinen Keimbahneingrif-

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fe, bei denen mehr als ein einzelnes Gen deren Ländern ggf. erzielten Erkenntnis- Embryonen wird nicht zuletzt die grund- verändert oder korrigiert werden müsste, sen umgegangen werden soll. sätzliche Zulässigkeit von Eingriffen, die aus wissenschaftlicher Perspektive der- möglicherweise deren Entwicklung be- zeit als nicht umsetzbar, zumal es viel- einträchtigen, hinterfragt, sei es zu Zwe- fach an Wissen über das Zusammenspiel Anhaltende Debatte über cken der Forschung oder aber der klini- der menschlichen Gene fehlt. Aus dem ethische Fragen und schen Anwendung. gleichen Grund erscheint auch ein ge- Regulierungsmöglichkeiten netisches Enhancement, also eine Ver- Einen gewissen Kulminationspunkt fand besserung bestimmter Merkmale durch Die wissenschaftliche wie auch die ge- die Debatte über Keimbahneingriffe, als Keimbahneingriffe ohne medizinische In- sellschaftliche Debatte über Keimbahn- im November 2018 publik wurde, dass ein dikation, auf absehbare Zeit als unrealis- eingriffe werden bereits seit den 1980er Forschungsteam in China nicht nur Ex- tisch. Dies gilt in besonderem Maß, wenn Jahren intensiv geführt (auch wenn sie da- perimente an Embryonen durchgeführt, – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. es um komplexe Merkmale wie kognitive mals noch keine konkrete Handlungsop- sondern diese Embryonen einer Frau ein- Fähigkeiten geht. tion darstellten). Während in Bezug auf gesetzt hatte, die schließlich Zwillinge auf Anwendungen in der somatischen Gen- die Welt brachte (ein weiteres, ebenfalls Sicherheitsaspekte sind bei allen medi- therapie neben Sicherheitsaspekten vor al- behandeltes Kind wurde später von ei- zinischen Eingriffen von zentraler Be- lem die Hoffnungen Betroffener die Dis- ner anderen Frau geboren). Ziel war es, deutung, geht es doch darum, gesund- kussion bestimmen, spielen beim Genome die Kinder durch das Nachahmen einer heitliche Schäden bei den Behandelten Editing von Keimbahnzellen außerdem natürlich vorkommenden Mutation in ei- zu vermeiden. Im Fall von Keimbahnein- fundamentale Bedenken eine wichtige nem Gen (CCR5) resistent gegen eine In- griffen ist die Frage der Sicherheit beson- Rolle. Kritisiert wird, dass Keimbahn- fektion mit dem HI-Virus zu machen. Es ders relevant, weil die Auswirkungen der eingriffe einen unzulässigen Eingriff in ist allerdings unklar, ob bzw. in welchem Behandlung nicht ohne Weiteres rück- das Selbstbestimmungsrecht der noch un- Ausmaß dies gelungen ist. Diese erstma- gängig gemacht werden können und weil geborenen Menschen darstellen und die lige klinische Durchführung von Keim- sie nicht nur die Behandelten, sondern nötigen langfristigen Monitoringmaß- bahneingriffen mittels Genome Editing auch deren Nachkommen betreffen. Da- nahmen Persönlichkeitsrechte verletzen. wurde von Forschenden weltweit nahe- her müsste sich ein Monitoring mögli- Befürchtet wird auch, dass ein so grund- zu einhellig verurteilt, weil sie ohne das cher unerwünschter Effekte auf mehrere legender Eingriff Grundvoraussetzungen nötige Wissen über die Sicherheit und die Generationen erstrecken. Auch die er- des menschlichen Zusammenlebens in- Folgen des Eingriffs und auch ohne die forderliche Einholung eines informier- frage stellen könnte, weil nicht mehr für Berücksichtigung medizinethischer Stan- ten Einverständnisses der Behandelten ist alle Menschen gleichermaßen eine allein dards wie der ausreichenden Information im Fall eines Keimbahneingriffs nicht im natürliche Gegebenheit unterstellt werden der Probanden und der Abwägung gegen- herkömmlichen Sinne möglich, sondern kann. Andererseits sollen Keimbahnein- über anderen Möglichkeiten des Schutzes kann nur durch eine Einwilligung der El- griffe Menschen helfen, ihre reproduktive vor einer Infektion erfolgte. Drei der Ver- tern ersetzt werden, bei der das mutmaß- Autonomie zu verwirklichen, also selbst- antwortlichen, unter ihnen der leitende liche Interesse der zukünftig Geborenen bestimmt über ihre eigene Fortpflanzung Forscher, wurden 2019 von einem chine- unterstellt wird. zu entscheiden, beispielsweise in Fällen, sischen Gericht zu Haftstrafen verurteilt. in denen Keimbahneingriffe die einzige Insgesamt ergibt sich eine Art Zwick- oder eine vorzuziehende Möglichkeit dar- International verstärkte sich in der Fol- mühle: Die (langfristige) Sicherheit von stellen, genetisch verwandte Kinder ohne ge die Debatte über die Bedingungen, Keimbahneingriffen lässt sich kaum be- Erbkrankheiten auf die Welt zu bringen. unter denen eine klinische Anwendung urteilen, ohne Forschung am Menschen Auf der gesellschaftlichen Ebene wird be- von Keimbahneingriffen vertretbar sein durchzuführen – für die jedoch die (zu- fürchtet, dass Keimbahneingriffe dazu könnte. Zwei internationale wissen- mindest weitgehende) Sicherheit der An- beitragen, dass sich Normvorstellungen schaftliche Kommissionen wurden ein- wendung vorausgesetzt werden muss. In- bezüglich der genetischen Ausstattung gesetzt, um diese Frage sowie die globale sofern ist fraglich, ob klinische Versuche des Menschen etablieren bzw. dass Selek- Regulierung von Keimbahneingriffen zu zu Keimbahneingriffen überhaupt zuge- tionen gegen von der Norm abweichende untersuchen. Neben einer bei der WHO lassen werden können bzw. wie – ange- Merkmale stattfinden, die als Ablehnung angesiedelten Arbeitsgruppe handelt es sichts von international sehr unterschied- bzw. Diskriminierung der Träger solcher sich um ein Gremium der US-amerika- lichen Haltungen zu dieser Frage wie auch Merkmale aufgefasst werden könnten. nischen National Academy of Medicine sehr unterschiedlicher Regulierung ent- Vor dem Hintergrund unterschiedlicher und National Academy of Science sowie sprechender Forschung – mit den in an- Vorstellungen zur Schutzwürdigkeit von der britischen Royal Society, das kürzlich

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einen »Consensus Report« vorgelegt hat. › die Herstellung von Krankheitsmodel- zur Erfüllung der Anforderungen hin- Darin wird ein enger Rahmen für mögli- len in Tieren und menschlichen Zel- sichtlich der medizinischen Sicherheit, che klinischen Anwendungen von Keim- len, wobei das Spektrum der Tiermo- ethischen Vertretbarkeit und gesellschaft- bahneingriffen gesteckt. Es wird festge- delle deutlich erweitert werden kann lichen Akzeptanz keine klinischen Versu- stellt, dass die Kriterien für effiziente und durch Nutzung induzierter pluri- che (also Versuche an Menschen) durch- und verlässliche Eingriffe in das Genom potenter Stammzellen und organähnli- geführt werden. von Keimbahnzellen gegenwärtig nicht cher Systeme (Organoide) menschliche erfüllt sind und dass sowohl weitere For- Krankheitsmodelle in der Petrischale Der TAB-Arbeitsbericht Nr. 191 »Genome schung als auch eine umfassende gesell- entwickelt werden können; Editing am Menschen« wird nach Abnah- schaftliche Debatte nötig sind, bevor wei- › schließlich Experimente an frühen me durch den ABFTA publiziert. tere Schritte unternommen werden. Embryonen in vitro, um Erkenntnisse

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. über die frühe menschliche Embryo- Kontakt nalentwicklung zu gewinnen. Dr. Steffen Albrecht Herausforderungen und +49 30 28491-111 Handlungsoptionen Während sich bei den ersten Bereichen [email protected] vor allem die Frage des Förderungsbedarfs Dem sehr unterschiedlichen Stand der stellt, wäre für ein Verfolgen der dritten Forschung in den Anwendungsfeldern Option eine Änderung des Embryonen- von Genome Editing am Menschen ent- schutzgesetzes notwendig. sprechend ergeben sich sehr unterschied- liche Herausforderungen und Handlungs- Der zukünftige Umgang mit den Mög- optionen. Im Bereich der somatischen lichkeiten von Keimbahneingriffen ist gen- und zellbasierten Therapien ist zu schließlich viel stärker Gegenstand poli- konstatieren, dass die neuen, immer tischer und gesellschaftlicher Debatten. präziseren, einfacheren und universel- Mit Blick auf die geringe Zahl realistischer ler anwendbaren Verfahren des Genome Anwendungsszenarien und die Ungewiss- Editings eine Vielzahl von Forschungs- heit bezüglich ihrer Realisierungsmög- und Entwicklungsaktivitäten angestoßen lichkeiten erscheint die hohe Aufmerk- haben, diese Ansätze zu verbessern bzw. samkeit für diesen Bereich erstaunlich. neue zu entwickeln. Erste klinisch Erpro- Falls in Deutschland Forschung zur Erlan- bungen wurden begonnen. Hier bestehen gung von Erkenntnissen angegangen wer- in den kommenden Jahren konkrete poli- den sollte, die den Weg zu Keimbahnein- tische Handlungsmöglichkeiten im Sin- griffen als therapeutische Option weisen ne einer Unterstützung von Forschung könnten, müsste zunächst das gesetzliche und Entwicklung durch die öffentliche Verbot von Experimenten an Embryonen Hand. Mit Blick auf die wohl auch wei- geändert werden. Bereits für entsprechen- terhin meist hohen Kosten müssen beste- de Initiativen, noch mehr aber für weiter- hende Finanzierungsmodelle durch neue gehende Schritte auf diesem Weg dürften Ansätze ergänzt werden. eine breite gesellschaftliche Meinungsbil- dung und Debatte eine wichtige Voraus- Optionen der Forschungsförderung be- setzung sein. Von einer Debatte über die treffen auch die Grundlagenforschung. Ermöglichung von Keimbahneingriffen Es sind insbesondere drei Bereiche, in de- ist gegenwärtig jedoch nicht allzuviel zu nen sich durch Genome-Editing-Verfah- erwarten, da das Wissen über Erfolgs- ren neue Möglichkeiten ergeben: raten und möglichen Nebenwirkungen noch wenig belastbar und die Szenarien › genomweite Screeningverfahren, mit möglicher Anwendungen entsprechend denen sich die Rolle von Genen und hypothetisch sind. Allerdings ließe sich ihren Produkten in zellulären und auf internationaler Ebene auf Vereinba- medizinisch relevanten Prozessen in rungen hinwirken, dass die Forschung verschiedensten menschlichen Zellen zu Keimbahneingriffen durch kompeten- untersuchen lassen; te Institutionen überwacht wird und bis

54 Methodenüberblick: Nutzenpotenziale partizipativer Verfahren

Zum Nutzen partizipativer Verfahren für die parlamentarische TA

Die Arbeit des TAB ist in der aktuellen Vertragsperiode darauf ausgerichtet, Barcamp neben neuen Veranstaltungsformaten auch neue Projektformate zu erpro- ben. Mit Blick auf dieses Vorhaben wurde durch den ABFTA das TA-Projekt Das Barcamp ist ein partizipatives Konfe- »Nutzenpotenziale innovativer und partizipativer methodischer Verfahren renzformat, das 2005 in den USA entstan- für den Deutschen Bundestag« und die Bearbeitung durch das IZT – Institut den ist. Es zeichnet sich dadurch aus, dass für Zukunftsstudien und Technologiebewertung beschlossen. Im Rahmen die Agenda und die Inhalte einer Konfe- der mittlerweile durchgeführten Studie wurden innovative und partizipati- renz erst von den Teilnehmenden vor Ort ve Verfahren der Zukunftsforschung und TA sondiert und im Hinblick auf festgelegt werden. Auch vortragende Per- ihr Nutzenpotenzial für die parlamentarische TA eingeordnet. sonen werden nicht im Vorfeld, sondern erst während der Konferenz bestimmt. Gemeinsam wird ein Tagesprogramm

Für eine tiefergehende Analyse wurden auftreten, können mit diesem Verfahren festgelegt und die Teilnehmenden kön- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Verfahren mit Blick auf die folgenden auf unterschiedlicher Detailebene analy- nen anschließend interessengeleitet an Nutzenpotenziale ausgewählt: siert und strukturiert werden. Für die Ar- einzelnen Sessions mitwirken. In welchem gumentkartierung werden die einschlä- Format die einzelnen Sessions durchge- › die Einbettung von aktuellem Exper- gigen Thesen und Argumente zunächst führt werden, ist dabei variabel: Vorträ- ten- bzw. Fachwissen rund um wissen- identifiziert, anschließend umschrieben ge, Workshops, Diskussionsrunden u. Ä. schaftlich-technische Entwicklungen; und die vermutlichen Beziehungen zwi- sind möglich. Für Barcamps ist es typisch, › die Integration von Erfahrungs- und schen den Thesen und Argumenten skiz- dass die Teilnehmenden während der Ver- Gestaltungwissen, insbesondere von ziert. Als Ergebnis liegt eine Argument- anstaltung über die Inhalte und Diskus- Bürgerinnen und Bürgern; karte vor, die grafisch die Struktur der sionen auf Social-Media-Kanälen berich- › eine Übersetzung von wissenschaft- analysierten Argumentationen visualisiert. ten. Ziel ist es, auch Personen teilhaben zu lichen Erkenntnissen in politische Argumentkarten können auch während lassen, die nicht bei der Konferenz dabei Handlungsoptionen für den Deutschen der Durchführung von Präsenzveranstal- sein können. Bundestag. tungen (Livekartierung) erstellt werden. Diskussionen können so dokumentiert Der Nutzen von Barcamps für die par- Die Studie stellt insgesamt neun Verfah- und für Analysezwecke verwendet wer- lamentarische TA kann darin bestehen, ren in einem praxisorientierten Kompen- den. Die Entwicklung von Argumentkar- neue Formen der Zusammenarbeit und dium im Hinblick auf Ziele und Voraus- ten kann durch die Verwendung von (frei- des Austausches zwischen verschiede- setzungen, Verfahrensablauf, Zeit- und en) Onlinetools unterstützt werden. nen wissenschaftlichen Disziplinen oder Kostenaufwand sowie ihren möglichen Mitarbeitenden unterschiedlicher Insti- Nutzen für die Arbeit des TAB für den Der Nutzen einer Argumentkartierung tutionen zu etablieren. Barcamps bieten Deutschen Bundestag dar. Neben einer für die parlamentarische TA kann dar- sich dazu an, ein komplexes TA-Thema zu umfassenden Beschreibung der Verfahren in bestehen, wissenschaftliche und ge- Beginn eines Projekts aus der Sicht ver- ist auch eine kompakt aufbereitete Über- sellschaftspolitische Debatten im Rah- schiedener gesellschaftlicher Stakehol- sicht in Form von Steckbriefen in dem men von TA-Studien zu strukturieren und der bzw. Teilnehmenden (Expertinnen Kompendium enthalten. Die Studie wird die dabei gewonnenen Erkenntnisse in und Experten, Politikerinnen und Politi- demnächst als TAB-Bericht veröffentlicht, die Ausarbeitung und Begründung von kern) zu beleuchten, um auf dieser Basis ausgewählte Inhalte zu den neun Verfah- Handlungsoptionen einzubinden. Die Ar- Schwerpunkte oder konkrete Fragestel- ren werden im Folgenden vorgestellt. gumentkartierung kann für partizipative lungen für den weiteren TA-Prozess fest- Onlineverfahren genutzt werden, indem zulegen. Barcamps können zudem helfen, sie zunächst einen Debattenstand auf- in der öffentlichen bzw. politischen Dis- Argumentkartierung mit zeigt, an den die in TA-Zusammenhän- kussion bislang marginalisierte Gruppen Onlineunterstützung gen oft inter- und transdisziplinär zusam- in TA-Prozesse einzubinden. mengesetzten Teilnehmenden anknüpfen Die Argumentkartierung kann neue Ein- können. In Präsenzveranstaltungen, wie sichten in die Struktur bislang wenig Diskussionsrunden oder Workshops zu Datenspende transparenter und vielschichtiger gesell- TA-Themen, kann das Verfahren Nutzen schaftlicher Debatten und Konfliktfelder stiften, indem es die eingehenden Diskus- Der Begriff der Datenspende bezeichnet verschaffen. Komplexe Argumentationen, sionsbeiträge strukturiert oder aggregiert, die bewusste und freiwillige Sammlung wie sie oft im Zusammenhang mit tech- sodass wesentliche Argumente und Posi- und Weitergabe von Daten zur Bearbei- nisch-wissenschaftlichen Entwicklungen tionen schnell kenntlich werden. tung einer wissenschaftlichen Fragestel-

55 Methodenüberblick: Nutzenpotenziale partizipativer Verfahren

lung. Die Daten werden zweckgebun- installierter Anwendungsprogramme be- de Auseinandersetzung der Beteiligten den und anonymisiert meist durch eine grenzt. Aktuell können Bürgerinnen und über wissenschaftlich-technische Ent- hohe Zahl von Personen bzw. Organi- Bürger beispielsweise über die Corona- wicklungen unterstützt werden. So kön- sationen für Forschungszwecke bereit- Datenspende-App des Robert Koch-In- nen gewohnte Denk- und Interaktions- gestellt, um so die Datenverfügbarkeit stituts auf freiwilliger und pseudonymer muster der Nutzenden hinterfragt und zu erhöhen. Die Datenspende ist in der Basis Daten spenden. Mittels dieser Daten diese zum offenen und kreativen Nach- Regel der Bürgerwissenschaft (Citizen soll z. B. eine Fieberkarte für Deutschland denken motiviert werden. Auch können Science) zuzuordnen, in deren Rahmen berechnet werden. Diese Karte soll auf die Erzählungen im Vergleich zu rein wis- Laien Daten für wissenschaftliche Zwecke Landkreisebene und täglich aktualisiert senschaftlich aufbereiteten Fakten in der sammeln und auswerten. Das Verfahren anzeigen, ob in einer Region überdurch- Regel besser auch außerhalb enger wissen- der Datenspende gewinnt vor dem Hin- schnittlich viele Menschen Fieber haben. schaftlicher Disziplinen erschlossen und

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. tergrund fortschreitender Digitalisierung Auf dieser Grundlage können die Zahl der bewertet werden. und der zunehmenden Erfassung von Da- COVID-19-Erkrankten geschätzt und die ten über digitale Geräte und Anwendun- Entstehung neuer Hotspots sichtbar ge- Im Unterschied zu dem bekannteren De- gen an Bedeutung. macht werden. sign Thinking geht es bei Design Fiction nicht darum, Kundenbedürfnisse genau Durch Datenspenden kann die notwendi- zu verstehen und neue passgenaue Lösun- ge Datenbasis für wissenschaftliche Ana- Design Fiction gen dafür zu entwickeln, sondern um die lysen geschaffen und somit ein Mehrwert Entwicklung zukunftsgerichteter Gedan- auch für die parlamentarische TA erzeugt Das Verfahren des Design Fiction wurde kenräume und die reflektierte Auseinan- werden. So können Datenspenden in TA- als eine spezielle Variante der kreativen dersetzung mit möglichen wissenschaft- Studien beispielsweise zum Einsatz kom- und kritischen Designtechniken ausge- lich-technischen Entwicklungen. Dabei men, um auf der Mikroebene Datensätze wählt, um zukunftsbezogene Fragestel- sollen Technologieoptionen aufgezeigt zu gewinnen. Das Themenspektrum ist lungen möglichst multiperspektivisch zu und Debatten rund um ihre Wirkungen dabei durch das Vorliegen strukturierter bearbeiten. Auf der Grundlage von Proto- angestoßen werden. Datensätze bei den Spendern oder durch typen, die neue technologische Möglich- die Möglichkeit der Erfassung struktu- keiten weitgehend detailliert und plausibel Der Nutzen von Design Fiction für die rierter Datensätze auf Computern oder darstellen und die in fiktive Erzählungen parlamentarische TA kann darin beste- Smartphones der Nutzenden mittels dort eingebettet werden, soll eine reflektieren- hen, zukunftsgerichtete Gedankenex-

Abb. 1 Typischer Ablauf von Datenspenden und ihrer Nutzung

152P 7 222X 9

133Y 7

(optional) Hypothese Entwicklung einer Definition von Rekrutierung der (z. B.: Google technischen Datenformat Datenlieferanten Daten- Daten- personalisiert Schnittstelle zur und auf freiwilliger sammlung auswertung Suchmaschinen- Datensammlung Erhebungsform Basis ergebnisse) (z. B. App, Browser-Plug-in)

Projektablauf

56 Methodenüberblick: Nutzenpotenziale partizipativer Verfahren

perimente rund um die Potenziale von Abb. 2 Prozess der partizipativen Modellierung wissenschaftlich-technischen Entwick- Anwendung thematische lungen vorausschauend zu fördern. In- des Modells Vorrecherche dem Design Fiction mögliche Zukunfts- bilder plastisch darstellt und verständlich vermittelt, können Impulse für die Gestal- tung wissenschaftlich-technischer Ent- wicklungen entstehen und frühzeitig in Input- gesellschaftliche Debatten zu wünschba- workshop ren Zukunftsentwicklungen eingebracht werden. TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr.

Digitale Kollaboration Validierungs- workshop Kollaboration bezeichnet die Zusammen- arbeit von Personen, Gruppen oder Insti- CODE tutionen mit dem Ziel, Ideen oder Wissen zu generieren, Erkenntnisse auszutau- Formalisierung schen und diese zu diskutieren und ab- des Modells zustimmen. In der Regel ist Kollaboration als Gegenteil zu Konkurrenz bzw. Kon- Sichten zu sammeln und zu gewichten. tinnen und Experten oder auch gesell- flikt konzipiert und auf das Erzielen von Des Weiteren können Handlungs- und schaftlichen Anspruchsgruppen bei der Konsens hin ausgerichtet. So kann es je Verbesserungsvorschläge zusammenge- Erstellung oder Nutzung konzeptioneller nach Zielsetzung sinnvoll sein, durch die führt und diskutiert werden, die die Hin- und computergestützter Modelle vorsieht. Kollaboration Meinungsvielfalt zu erzeu- weise und Kommentare der Mitwirken- Entsprechend dem Zeitraum der Beteili- gen oder Übereinstimmung abzufragen den berücksichtigen. Auch ist es möglich, gung können nach Hare (2011) drei For- bzw. ein möglichst hohes Maß an Konsens Vorfassungen von Dokumenten online men unterschieden werden: zu erzeugen. Die Digitalisierung und die zur Diskussion zu stellen und so gemein- Vernetzung erleichtern die Zusammen- schaftlich zu prüfen. Der Petitionsaus- › Front-End-partizipative Modellierung: arbeit und schaffen neue Möglichkeiten: schuss des Deutschen Bundestages bietet Diesem Ansatz zufolge werden gesell- Mit digitalen Kollaborationswerkzeugen auf dem E-Petitionsportal z. B. die Mög- schaftliche Stakeholder in die ersten wird eine Kommunikationsplattform im lichkeit, gemeinsam mit mehreren Per- Phasen des Prozesses mit einbezogen, Internet zur Verfügung gestellt, die die sonen eine Petition zu erarbeiteten. Dazu um Wissen zu generieren, welches ent- Zusammenarbeit strukturiert und stützt. wird der webbasierte Texteditor »Ether- weder für die Kalibrierung der Parame- Ein Vorteil der digitalen Kollaboration be- pad« genutzt, der eine kollaborative Be- ter oder für die Definition der System- steht darin, dass die Beteiligten ortsun- arbeitung von Texten erlaubt. dynamik im Modell relevant ist. abhängig und zeitlich asynchron an Ide- › Back-End-partizipative Modellierung: enfindung, Dokumenten oder Projekten In diesem Fall werden gesellschaftli- arbeiten können. Partizipative Modellierung che Stakeholder in spätere Phasen des Prozesses einbezogen, also nach der Grundsätzlich sind digitale Kollabora- Das Verfahren der partizipativen Model- Entwicklung des Simulationsmodells, tionsverfahren für alle Akteursgruppen lierung vereint zwei methodische Ansät- um das daraus resultierende Wissen und somit auch für die Einbindung von ze: die Modellierung komplexer Syste- zu validieren und die Plausibilität des Bürgerinnen und Bürgern in Prozesse der me mittels Computersimulationen und Modells zu testen. parlamentarischen TA geeignet. In der den partizipativen Ansatz der Sozialfor- › Co-Konstruktion von partizipativen bisherigen Praxis finden sich meist Ver- schung. Beide Herangehensweisen fin- Modellen: Diesem Ansatz zufolge wird fahren, die sich an Fachleute aus Wissen- den bereits einen breiten Einsatz in ver- das komplette Projekt gemeinsam mit schaft und Praxis und oft an geschlossene schiedenen Forschungsgebieten. Dabei gesellschaftlichen Stakeholdern durch- Gruppen richten. Bei TA-Projekten eig- fällt unter den Sammelbegriff der partizi- geführt, welche bereits in die Konzep- nen sich digitale Kollaborationsprozes- pativen Modellierung grundsätzlich jeder tionsphase einbezogen werden und den se, um Argumente und unterschiedliche Ansatz, der die Mitwirkung von Exper- gesamten Prozess begleiten.

57 Methodenüberblick: Nutzenpotenziale partizipativer Verfahren

In der Sozialforschung und auch in der Kenntnisse und von Erfahrungswissen je- rung von Treibern und Schlüsselfakto- Zukunftsforschung wird häufig das Ver- weils Aussagen bzw. Thesen zur zukünf- ren für eine spätere Szenarioentwicklung. fahren der agentenbasierten Modellie- tigen Entwicklung bewerten. Die Fach- rung verwendet. Dabei werden die Ent- leute sollen durch den stetig möglichen Im Rahmen der TA ergeben sich die Nut- scheidungen und Handlungen sozialer Abgleich mit den Einschätzungen ande- zenpotenziale eines RTD vor allem aus der Akteure in einem konfigurierbaren Um- rer Beteiligter zu ggf. fundierteren Urtei- Integration von räumlich verteiltem Ex- feld, beispielsweise in einem spezifischen len geleitet werden. pertenwissen zu wissenschaftlich-tech- Innovationssystem, simuliert und deren nischen Entwicklungen. Dabei geht es Auswirkungen im Rahmen des Modells Das RTD folgt der gleichen Grundidee nicht um die Abfrage von hartem Wis- untersucht. wie das konventionelle Delphiverfah- sen, sondern um die Einschätzung der ren: Auch hier bewertet eine Gruppe Wahrscheinlichkeiten von Zukunftsaus-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Der Nutzen von partizipativen Model- von Expertinnen und Experten Thesen sagen auf der Wissensbasis der befragten lierungen für die parlamentarische TA zu Zukunftsentwicklungen in ihrem Personen. Insbesondere bei der Bewer- kann darin liegen, Systeme und System- Fachgebiet. Während jedoch bei der kon- tung von Handlungsoptionen einer TA- zusammenhänge im Kontext aktueller ventionellen Variante die Anzahl der Be- Studie können Ergebnisse aus einem sol- wissenschaftlich-technischer Entwick- fragungsrunden – und somit auch die chen Prozess nützlich sein. lungen zu analysieren und zu bewer- Häufigkeit der Änderungsmöglichkeit – ten. Gegenstandsbereich der Modellie- vorgegeben ist, entfällt beim RTD die Un- rung können sowohl physische als auch terteilung in zwei (oder mehrere) Befra- Social-Media-Datenanalyse sozioökonomische Systeme sein, aber gungswellen. Stattdessen wird beim RTD auch die gesellschaftlichen Stakehol- eine Onlinebefragungsplattform freige- Die Social-Media-Datenanalyse ist ein der selbst oder eine Kombination die- schaltet. In der Folge erhalten alle Teil- interdisziplinäres Verfahren, bei dem Er- ser drei Bereiche. Mit der Partizipation nehmenden die Gelegenheit, mehrfach kenntnisse aus der Sozial- und der Com- von Stakeholdern oder Wissensträgern innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums puterwissenschaft kombiniert und ge- am Modellierungsprozess können neue den Fragebogen aufzurufen. Ihnen wer- nutzt werden. Sie kann dazu eingesetzt Wissensressourcen erschlossen werden, den die Antworten der anderen teilneh- werden, um Social Media als ergänzen- die beispielsweise auch in die Konstruk- menden Personen angezeigt. Alle Teil- de Informationsquelle für eine Themen- tion von Zukunftsszenarien einfließen nehmenden können darauf aufbauend feldanalyse zu nutzen, indem Themen können. Zudem können die Stakeholder die eigenen Antworten beliebig oft än- bzw. Trends, die in den sozialen Me- durch die Teilnahme an partizipativen dern. Unmittelbar nachdem eine Person dien diskutiert werden, aufgespürt wer- Modellierungsprozessen für die Kom- Angaben getätigt bzw. geändert hat, ak- den. Zudem können zentrale Akteure plexität und Dynamik wissenschaftlich- tualisiert sich die Ergebnisanzeige des innerhalb eines Diskurses identifiziert technischer Entwicklungen sensibilisiert elektronischen Fragebogens in Echtzeit werden. Dabei gibt es unterschiedliche werden, es wird eine Erfahrung des kol- (»real time«). Der jeweils aktuelle Stand Ausprägungen von Social-Media-Servi- lektiven Lernens ermöglicht. der Befragungsergebnisse ist somit zu je- ces, wie etwa Social Networks (z. B. Face- der Zeit für alle Teilnehmenden sichtbar. book), Weblogs (z. B. tumblr), Micro- Ein Vorteil des RTD gegenüber dem kon- blogs (z. B. Twitter), Videoportale (z. B. Real-Time-Delphi-Verfahren ventionellen Delphi besteht auch in der Youtube), Fotoplattformen (z. B. Pinte- Flexibilität des Darstellungsdesigns, die rest), sowie Mischformen (z. B. Insta- Das Verfahren des Real-Time-Delphi eine digitale Plattform bietet. Es eröffnet gram als Hybrid zwischen Fotoplatt- (RTD) wird zunehmend als zeiteffizien- unterschiedliche Möglichkeiten, um die form und Messengerservice). All diese te Methode im Umgang mit zukunftsbe- Anschaulichkeit zu fördern. Dienste haben jedoch Gemeinsamkei- zogenen Fragestellungen angewendet. Es ten: Sie sind Web-2.0-basierte Internet- ist eine spezielle Variante der bereits seit Die möglichen Ziele eines RTD entspre- anwendungen, stellen nutzergenerierte mehreren Jahrzehnten in der Zukunfts- chen denen einer konventionellen Grup- Inhalte in ihr Zentrum, verwalten Pro- forschung praktizierten Delphimethode. pendiskussion von Expertinnen und file von den Nutzenden und fördern die Der Grundansatz von Delphiverfahren Experten. Dazu zählen u. a. die Identifi- Entwicklung sozialer Netzwerke durch ist, dass durch mehrere Befragungswel- kation von Konsensmöglichkeiten, aber die Verlinkung sowohl der Profile als len Expertenmeinungen eingeholt wer- auch Meinungsdivergenzen innerhalb der auch der Inhalte. Aus dieser Kategori- den. Im Rahmen einer anonymen und befragten Gruppe, die Generierung von sierung ergeben sich mögliche Ansatz- strukturierten Befragung soll ein ausge- neuen Ideen und inhaltlichen Impulsen punkte zur Analyse von Social-Media- wählter Expertenkreis auf Basis fachlicher für den Prozess oder auch die Priorisie- Daten: Sie kann sich auf Inhalte, auf die

58 Methodenüberblick: Nutzenpotenziale partizipativer Verfahren

Profile der Nutzenden oder auf die Be- nen Informationen zum Stand der Din- Trendkarten eignen sich für dialogorien- ziehungen von Inhalten bzw. Nutzenden ge und zu bereits nachgewiesenen oder tierte Verfahren in der TA. Mit ihnen konzentrieren. absehbaren Auswirkungen des jeweili- können Erkenntnisse bzw. bekannte Her- gen Trends enthalten. Mit Blick auf die ausforderungen in knapper Form prä- Social-Media-Datenanalysen können in zukünftigen Entwicklungen können au- sentiert und mögliche Entwicklungspfa- der parlamentarischen TA dazu dienen, ßerdem (kritische) Fragen und Unsicher- de aufgezeigt werden. In Kleingruppen Meinungen, Einstellungen und Kommen- heiten aufgezeigt werden. Trendkarten kann eine Grundlage für Diskussionen tare von Bürgerinnen und Bürgern oder können durch die auf ihnen präsentier- geschaffen werden, die die Fokussie- gesellschaftlichen Stakeholdern zu be- ten Inhalte Basiswissen vermitteln, den rung auf das jeweilige Diskussionsthe- stimmten technologiebezogenen Themen Blick der Rezipierenden auf Herausforde- ma unterstützt. zu erfassen. Die Aktualität der in sozialen rungen lenken und so zu einem gemein-

Medien geteilten Inhalte spielt vor dem samen Problemverständnis beitragen. Sie – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Hintergrund sich rasant ändernder Tech- sind typischerweise nicht nur für Fachleu- Literatur nologietrends eine besondere Rolle. Ein te, sondern auch für nicht mit dem enge- weiterer wichtiger Faktor ist die Reich- ren Thema vertraute Personen verständ- Bots, P.; van Daalen, C. (2008). Participa- weite sozialer Medien, die es ermöglicht, lich und befähigen diese, sich an einer tory model construction and model use in eine besonders große Meinungsvielfalt Diskussion zu beteiligen. Üblicherwei- natural resource management: a frame- zu bestimmten Themen über eine Social- se wird ein zusammenhängendes Thema work for reflection. In: Systemic Practice Media-Datenanalyse abzubilden. So kön- mittels verschiedener Trendkarten in ei- and Action Research 21(6), S. 389 nen auch ansonsten politisch marginali- nem Kartenset dargestellt. sierte Themen und Akteure identifiziert Hare, M. (2011): Forms of participatory werden. Zudem kann eine Social-Media- Das Ziel der Anwendung der Karten be- modelling and its potential for widespread Datenanalyse im Rahmen eines TA-Pro- steht darin, den Einfluss einer Kombinati- adoption in the water sector. In: Envi- zesses dazu genutzt werden, frühzeitig re- on unterschiedlicher, teils rasanter Verän- ronmental Policy and Governance 21(6), levante Topthemen und Stimmungsbilder derungsprozesse auf das gesellschaftliche S. 386–402 aus den Daten zu extrahieren oder auch Miteinander zu diskutieren und zu be- Meinungsführer zu identifizieren. werten und so die Wahrnehmung mög- Der TAB-Arbeitsbericht Nr. 192 »Nutzen- licher Entwicklungspfade oder die Bereit- potenziale innovativer und partizipativer schaft für erforderliche bzw. wünschbare methodischer Verfahren für den Deutschen Trendkarten Maßnahmen zu fördern. Auch können Bundestag« wird nach Abnahme durch den Entscheidungsträger in Politik, Wirt- ABFTA veröffentlicht. Auf Trendkarten können in visuell an- schaft und Gesellschaft motiviert und sprechender Form Entwicklungen vorge- in die Lage versetzt werden, über unter- Kontakt stellt werden, die gesamtgesellschaftliche schiedliche Zukunftsszenarien gezielt Michaela Evers-Wölk Wandlungsprozesse in einem bestimmten nachzudenken. Die Kartensets können +49 30 80 30 88-23 Zeitraum beeinflussen oder auch disrup- in Workshops zu unterschiedlichen Zwe- [email protected] tiv verändern können. Trendkarten kön- cken eingesetzt werden.

59 TA-Projekt: Digitalisierung der Landwirtschaft

Digitalisierung der Landwirtschaft: Stand und Perspektiven

Innovative Agrartechnologien und die digitale Datenverarbeitung gewin- Ausprägung von Bewirtschaftungsmaß- nen in der landwirtschaftlichen Praxis immer mehr an Bedeutung. Verbun- nahmen bestimmen. In der Pflanzen- den damit ist die Vision, landwirtschaftliche Maschinen und Prozesse um- produktion kann eine Reihe verschiede- fassend miteinander zu vernetzen, und zwar nicht nur auf Betriebsebene, ner Sensoren eingesetzt werden, um die sondern weit darüber hinaus – von der Futtermittel- und Saatgutherstel- Wachstumsbedingungen für Pflanzen lung über den Anbau der landwirtschaftlichen Erzeugnisse bis hin zur Le- zu optimieren und Erträge zu sichern bensmittelverarbeitung und zum Einzelhandel. Ziel ist letztendlich, nicht bzw. zu steigern. Anwendungsbereiche nur einzelne Prozessabschnitte, sondern gesamte Wertschöpfungsketten mit besonderer Relevanz sind Boden-, zu optimieren, im Sinne einer möglichst effizienten, aber auch ressourcen- Stickstoff-, Unkraut- sowie Erntesenso- schonenden Agrar- und Lebensmittelproduktion. Schon jetzt ist abzuse- ren. In der Tierhaltung kommen Sensor- hen, dass sich Strukturen, Abläufe und Verantwortlichkeiten in der Land- technologien sowohl in den Stallungen

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. wirtschaft damit grundlegend ändern werden. als auch in der Weidewirtschaft zum Ein- satz, etwa bei der Einzeltierbeobachtung (Herdenmanagement), bei Melk- und Wie in vielen Wirtschaftsbereichen eröff- wie eine umfassend vernetzte Landwirt- Fütterungsprozessen sowie bei der Steue- net die Digitalisierung auch in der Land- schaft 4.0 realisiert werden könnte und rung des Stallklimas (Stallmanagement). wirtschaft neue Möglichkeiten, Produk- welche Wirkungen sie hätte, gibt es je- tionsprozesse datenbasiert zu steuern und doch noch große Unsicherheiten. Des- Landmaschinen für Ernte, Bodenbear- zu optimieren. Dies betrifft etwa eine dif- halb hat der ABFTA das TAB beauftragt, beitung, Aussaat und Düngung sind aus ferenziertere Bewirtschaftung landwirt- ein TA-Projekt zum Thema Digitalisie- der Pflanzenproduktion nicht mehr weg- schaftlicher Flächen (Präzisionsackerbau, rung der Landwirtschaft durchzufüh- zudenken. Sie umfassen/besitzen immer auch Precision Farming) oder die einzel- ren und den Chancen und Herausfor- mehr automatisierte Assistenzfunktionen tierbezogene Erfassung von Gesundheits- derungen dieser Entwicklung auf den und agieren zunehmend vernetzt, wobei und Leistungsdaten (Präzisionstierwirt- Grund zu gehen. der Trend hin zu autonomen Maschinen schaft, auch Precision Livestock Farming). geht. Moderne Landmaschinen verfügen Unerlässliche Grundlage dafür sind inno- über eine satellitengestützte Navigation vative Agrartechnologien – etwa satelli- Stand der Technik und und darauf basierende Assistenzfunktio- tengesteuerte Landmaschinen, Sensorsys- Anwendung nen (Parallelfahrsysteme, automatische teme zur Erfassung von Zustandsgrößen Teilbreitenabschaltung). Zudem bieten oder Roboter zur Automatisierung von Digitaltechnologien, die in landwirt- sie neue Möglichkeiten zur automatischen Routinetätigkeiten –, die digitale Daten schaftlichen Betrieben zum Einsatz Dokumentation der durchgeführten Be- erfassen sowie verarbeiten. kommen, sind überaus vielfältig und he- wirtschaftungsmaßnahmen (Telemetrie- terogen. Im TA-Projekt wurden Entwick- oder Telematiksysteme). Angesichts der vielfältigen, teils unver- lungsstand, Anwendungsmöglichkeiten einbar erscheinenden Anforderungen, und Tendenzen in vier zentralen Technik- Drohnen sind unbemannte Luftfahrzeu- denen sich die Landwirtschaft aktuell feldern untersucht: bei Sensoren, Land- ge, die in Bodennähe operieren. Als Trä- gegenübersieht – Ertragssteigerung für maschinen, Drohnen und Robotern. gerplattform für Sensorsysteme, Navi- Ernährung und Bioökonomie bei gleich- gations- und Funksysteme oder kleinere zeitiger Reduktion von Ressourcenver- Sensoren erfassen vielfältige Prozessda- Lasten sind die Nutzungsmöglichkeiten brauch und Umwelteffekten –, werden ten, die eine entscheidende Grundlage vielfältig und vor allem im Pflanzenbau die beschriebenen Entwicklungen und für digitalisierte Entscheidungsfindun- anzutreffen, z. B. beim Bestandsmonito- ihre Perspektiven politisch intensiv dis- gen und Bewirtschaftungstechniken bil- ring, bei der Wildtierortung sowie der kutiert. Die Hoffnung ist, durch die um- den. Sie sind integraler Bestandteil fast Schädlings- und Unkrautbekämpfung. fassende Vernetzung digitalisierter An- aller digitaler Agrartechnologien, au- Der Echtzeitbetrieb ist jedoch in der Re- wendungen, Prozesse und Datenbestände ßerdem gibt es Sensorsysteme, die als gel noch nicht möglich, was einen wesent- die Landwirtschaft insgesamt ressour- eigenständige digitale Technologien lichen Nachteil gegenüber bodengebun- censchonender, damit wirtschaftlicher fungieren. Die Anzahl der verfügbaren denen Sensorsystemen darstellt. Zudem und gleichzeitig nachhaltiger ausrichten Sensorsysteme und ihre Anwendungsfel- begrenzen die aktuell verfügbare Technik zu können. Generell ist festzustellen, dass der haben sich in den letzten Jahren er- (begrenzte Flugzeit und Tragevermögen) in der Diskussion gerne auf erfolgreiche höht. Dabei ist eine deutliche Tendenz sowie die relativ hohen rechtlichen Ein- Einzelanwendungen und ihre Potenziale hin zu Onlineverfahren zu erkennen, bei satzhürden die Anwendungsmöglichkei- verwiesen wird. Hinsichtlich der Fragen, denen die Sensorwerte in Echtzeit die ten in der Landwirtschaft.

60 TA-Projekt: Digitalisierung der Landwirtschaft

Als Roboter werden Apparate bezeichnet, leistungsfähigen Breitbandinfrastruk- intelligenter Dienstleistungen ermöglicht. die komplexe physische Aufgaben mit ei- tur, der Bereitstellung von behördlichen Farmmanagementsysteme fungieren so- ner hohen Autonomie durchführen kön- Geodaten (z. B. Katasterdaten, Bodenkar- mit zunehmend als Datenplattformen und nen. In der Landwirtschaft werden sie ten, Wegenetze) und der Nutzung her- entwickeln sich zu einem Dreh- und An- bislang vor allem in der Tierhaltung, ins- stellerübergreifender Schnittstellen und gelpunkt der digitalen Wertschöpfung im besondere in der Stallwirtschaft zur Auto- Datenformate, um die Verknüpfung von Bereich der Landwirtschaft. Die Agrar- matisierung diverser Routinetätigkeiten, Daten aus unterschiedlichen Quellen zu branche befindet sich dadurch in einem eingesetzt. Die gebräuchlichsten Techno- ermöglichen. fundamentalen Transformationsprozess. logien sind automatische Melk- und Füt- Die meisten traditionellen Player bauen terungssysteme sowie Reinigungsroboter. inzwischen eigene Digitalsparten auf oder Dahingegen befinden sich Robotersys- Die Agrarbranche im haben dies bereits getan. teme für Bewirtschaftungsmaßnahmen digitalen Wandel – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. im Pflanzenbau noch weitestgehend in Mit der zunehmenden Verbreitung von der Forschungs- und Entwicklungspha- Die Agrarbranche umfasst im Allgemei- Farmmanagementsystemen wird die Fra- se. Denn für die vollständige Automati- nen die Landwirtschaft sowie vor- und ge virulent, wer über die auf den Plattfor- sierung ackerbaulicher Prozesse bedarf nachgelagerte Bereiche der Wertschöp- men gespeicherten Daten verfügen darf es neben neuen Technologien auch einer fungskette – darunter Saatguthersteller, und von ihrer wirtschaftlichen Verwer- Neuausrichtung bestehender Pflanzen- Agrarchemieunternehmen, die Landtech- tung profitiert. Dieser Aspekt wird un- bausysteme, die an immer größere und nikbranche, die Nahrungsmittelindus- ter dem Begriff Datenhoheit verhandelt. schwerere Landmaschinen angepasst trie sowie den Lebensmittelhandel. Seit Damit ist das Recht des Einzelnen zu ver- wurden und deshalb nicht ohne Weite- den 1980er Jahren sind alle diese Sparten stehen, selbstbestimmt über die von ihm res mit robotischen Kleinmaschinen kom- durch fortschreitende Konzentrationspro- erzeugten oder ihn betreffenden Daten patibel sind. zesse geprägt, was dazu geführt hat, dass zu verfügen, d. h. über Art, Umfang und wenige, global agierende Konzerne einen Zwecke ihrer Nutzung zu entscheiden und Insgesamt ist sowohl im Pflanzenbau als Großteil des Marktes beherrschen. andere von der Nutzung dieser Daten aus- auch in der Tierproduktion ein Trend zur schließen zu können. Umfragen zufolge zunehmenden Automatisierung bis hin Im Zuge der Digitalisierung drängt seit ei- ist die Sorge der landwirtschaftlichen Be- zur autonomen Arbeitserledigung mithil- niger Zeit eine Vielzahl neuer Unterneh- triebe vor einem Verlust ihrer Daten deut- fe digitaler Systeme festzustellen. Bislang men mit innovativen digitalen Produkten lich ausgeprägt. bewegen sich die verfügbaren digitalen und Dienstleistungen auf den Markt. Die Agrartechnologien aber noch durchweg Entwicklung wird maßgeblich dadurch Eine gesetzliche Vorschrift, nach welchen im Rahmen der bestehenden Bewirtschaf- geprägt, dass immer mehr Daten direkt Maßstäben Daten einem bestimmten tungsverfahren. Im Bereich des Acker- an den Landmaschinen und im Hof er- Rechtssubjekt zuzuordnen sind, existiert baus könnte der weitere Fortschritt aller- fasst, übertragen und zunehmend zwi- allerdings momentan weder auf nationa- dings zu grundlegenden Veränderungen schen verschiedenen Akteuren, z. B. Be- ler noch auf europäischer Ebene. In der der landwirtschaftlichen Prozesse führen, ratern, Lohnunternehmern und weiteren juristischen Literatur werden seit Län- etwa zur gezielten Bewirtschaftung von Serviceprovidern, Zulieferern von Pro- gerem verschiedene rechtliche Ansatz- Einzelpflanzen resp. Einzeltieren durch duktionsmitteln, geteilt werden. Den so- punkte kontrovers diskutiert, wie sich ein autonome Roboterlösungen. genannten Farmmanagementsystemen solches eigentumsähnliches Recht an Da- kommt bei der Verarbeitung der Hof- und ten begründen ließe, jedoch ohne, dass Das größte Potenzial zur Optimierung Maschinendaten im landwirtschaftlichen bislang eine zufriedenstellende Lösung landwirtschaftlicher Prozesse wird in der Betrieb eine Schlüsselrolle zu. Dabei han- gefunden werden konnte. Eine Regelung datenbasierten Vernetzung der beschrie- delt es sich um Softwarelösungen, die u. a. dieser Frage ist bislang nur über vertrag- benen Einzeltechnologien auf Betriebs- bei der Dokumentation und der Betriebs- liche Vereinbarungen zwischen den betei- ebene (und darüber hinaus) gesehen – planung unterstützen sollen. ligten Parteien möglich (z. B. im Rahmen durch die interoperable Anbindung von der allgemeinen Geschäftsbedingungen). betrieblichen Managementsystemen oder Fast alle Farmmanagementsysteme spei- von Softwareplattformen zur Erbringung chern Daten inzwischen nicht mehr lo- Anbieter von Farmmanagementsystemen datenbasierter Dienstleistungen etc. Al- kal auf dem Hof-PC, sondern auf einem haben dadurch nach aktueller Rechtsla- lerdings ist der derzeitige Vernetzungs- Netzwerkserver, was die nutzerübergrei- ge einen praktisch unbegrenzten Spiel- grad als eher gering einzuschätzen. De- fende Datenaggregation sowie -analyse raum, wie sie mit der Frage der Datenho- fizite bestehen noch hinsichtlich einer und darauf basierend die Bereitstellung heit umgehen wollen. Die Agrarbranche

61 TA-Projekt: Digitalisierung der Landwirtschaft

steht damit wohl an einer entscheidenden suchsbedingungen nicht generalisieren Mit der technischen Weiterentwicklung Weggabelung – entwickelt sich die digi- lassen. und durch weitere Vernetzung sind zu- tale Wertschöpfung eher in eine offene, künftig verstärkt positive Umweltwirkun- von kollaborativen Beziehungen gepräg- Bei einzelnen Einsatzfeldern können zu- gen zu erwarten. Gleichzeitig erscheinen te oder eher in eine einseitige, von einzel- dem Zielkonflikte auftreten. Bei der Un- die digitalen Agrartechnologien allein nen Marktakteuren dominierte Richtung? krautbekämpfung beispielsweise verrin- nicht ausreichend, um einige wichti- gern Onlineverfahren, die eine gezielte ge Umwelt- und Tierwohlprobleme der chemische oder mechanische Bekämp- landwirtschaftlichen Produktion zu be- Wissensstand zu fung von einzelnen, erkannten Unkraut- heben (wie z. B. die Überdüngung infol- Umweltwirkungen pflanzen vornehmen, zwar deutlich die ge der Intensivtierhaltung). ökotoxikologischen Auswirkungen im

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Anwendungen der Präzisionslandwirt- Vergleich zur bisherigen, meist präventi- schaft können mittels einer höheren Pro- ven Herbizidanwendung. Sie lassen aber Auswirkungen auf Betriebe duktionseffizienz in unterschiedlichem nur eine sehr geringe oder keine Restver- und Agrarstrukturen Umfang den Einsatz von Betriebsmit- unkrautung zu, die als Nahrungsangebot teln verringern und in der Folge Um- und Habitate für Insekten und Vögel von Die Aussicht auf Effizienzsteigerungen weltentlastungen bewirken. Sowohl in hoher Bedeutung ist. Potenzielle Umwelt- und daraus resultierende Einspareffekte der Pflanzen- wie in der Tierproduktion entlastungen durch digitale Agrartech- gehören zu den großen Versprechen di- sind inzwischen etliche innovative Ag- nologien müssen deshalb unter Berück- gitaler Agrartechnologien, was diese für rartechnologien etabliert, die eine prak- sichtigung systemarer Zusammenhänge landwirtschaftliche Betriebe wirtschaft- tische Anwendung von Maßnahmen der beurteilt werden. Relevant sind z. B. Ef- lich attraktiv macht. Gleichzeitig ist de- Präzisionslandwirtschaft ermöglichen. fekte einer alternativen Flächennutzung ren Anschaffung aber teilweise mit hohen Im Ackerbau gehören dazu teilflächen- der freigesetzten Produktionsfläche, die Kosten verbunden. Ob ein entsprechendes spezifische Verfahren in den Bereichen sich bei Einsparungen von biologischen Investment betriebswirtschaftlich ren- Bodenbearbeitung, Grunddüngung (mit Ressourcen aus der Landwirtschaft wie tabel ist, hängt im Wesentlichen davon Phosphor, Kalium, Magnesium), Aussaat, Saatgut oder Futtermittel ergeben kann, ab, ob die realisierbaren Effizienz- und Stickstoffdüngung, Unkrautbekämpfung oder Reboundeffekte, wenn beispielswei- Produktivitätsgewinne die anfallenden und Bewässerung sowie die variable Be- se der effizientere Einsatz einer Ressour- Mehrkosten über die Nutzungsdauer hin- kämpfung von Pflanzenkrankheiten und ce – z. B. Wasser bei der teilflächenspe- weg aufwiegen. die automatisierte Spurführung. Im Be- zifischen Bewässerung – höhere Erträge reich der Tierproduktion werden Um- und dadurch eine verstärkte Nachfrage Voraussetzung für aussagekräftige Wirt- weltentlastungspotenziale durch digi- nach dieser Ressource bewirkt. schaftlichkeitsrechnungen ist, dass alle tale Agrartechnologien vor allem durch eine individualisierte Fütterung (Preci- sion Feeding) sowie automatisiertes Mel- Abb. Feldroboter ken erwartet.

Aufgrund der vielfältigen Anwendungs- bereiche und Verfahren, der sehr hete- rogenen Einsatzbedingungen und kom- plexen Wirkzusammenhänge bestehen hinsichtlich der Größenordnung der in der Praxis erzielbaren Entlastungseffekte allerdings noch große Unsicherheiten. Für eine fundierte Abschätzung der Umwelt- wirkungen mangelt es bislang noch an einer ausreichenden wissenschaftlichen Datenbasis. Bei den vorliegenden Unter- suchungen handelt es sich hauptsächlich um kurzzeitige Feldversuche oder Modell- rechnungen, deren Ergebnisse sich auf- grund der sehr unterschiedlichen Ver-

62 TA-Projekt: Digitalisierung der Landwirtschaft

Kosten- und Nutzenpositionen – auch sol- ber sind die hohen Produktivitätszuwäch- meinschaften ist diese Praxis bereits weit che, die erst zukünftig anfallen – mög- se, die durch den technischen Fortschritt verbreitet. Zu beachten ist jedoch, dass lichst exakt bestimmbar sind. Dies ist je- bedingt sind und dazu geführt haben, sich eine gemeinschaftliche Arbeitserle- doch meistens nicht der Fall. Während dass die Erträge und Leistungen über die digung nicht für alle digitalen Techno- sich die Preise für die Anschaffung neu- Jahre hinweg immer weiter erhöht werden logien gleichermaßen eignet und zudem er Applikations- und Navigationstech- konnten. Insgesamt besteht in der Litera- für Landwirtinnen und Landwirte mit nik relativ genau eingrenzen lassen – die tur weitgehende Einigkeit darüber, dass Einschränkungen der innerbetrieblichen Spanne reicht hier von wenigen Tausend die Digitalisierung tendenziell den struk- Entscheidungsautonomie verbunden ist. (Drohnen, nachrüstbare Lenksysteme) turellen Wandel weiter antreibt. Für die- über Zehntausende (bestimmte N-Sen- se These sprechen vor allem zwei Aspekte Aufbauend auf diesen Analysen werden sorsysteme) bis hin zu Hunderttausen- der Digitalisierung, nämlich der erforder- im Endbericht zum TA-Projekt Hand- den Euro (automatische Melk- oder Fütte- liche Investitionsbedarf einerseits sowie lungsoptionen vorgestellt. Es wird Hand- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. rungssysteme) –, sind die durch die neuen das nötige Spezial- und Expertenwissen lungsbedarf in verschiedenen Bereichen Bewirtschaftungsmaßnahmen erzielba- andererseits, welches in kleineren Betrie- identifiziert, darunter infrastrukturelle ren Kosteneinsparungen und Einnah- ben weniger verfügbar bzw. aufgrund ein- Rahmenbedingungen, Datenhoheit der mensteigerungen ungleich schwerer zu geschränkter Spezialisierungsmöglichkei- Landwirtinnen und Landwirte, Sicher- quantifizieren. Denn entweder sind sie ten der wenigen Arbeitskräfte schwerer stellung des Zugangs zu digitalen Tech- kaum untersucht (wie bei der Agrarro- zu beschaffen ist. Inwieweit der digitale nologien, Förderung von Innovation und botik, Drohnen) oder aber von so vielen Wandel – als aktuelle Entwicklungsstufe Technikentwicklung sowie Schließen von Einflussfaktoren bestimmt (wie bei Maß- der Technisierung – sich in seiner quali- Wissens- und Forschungslücken. nahmen der Teilflächenbewirtschaftung), tativen und quantitativen Wirkung von dass eine Übertragung der Ergebnisse aus vorherigen Stufen der Mechanisierung Die TAB-Arbeitsberichte Nr. 193 »Digita- Einzeluntersuchungen schwierig ist. und Automatisierung der Landwirtschaft lisierung der Landwirtschaft – technologi- abhebt, die ebenso wesentlich zum Ag- scher Stand und Perspektiven« und Nr. 194 Ob die entstehenden Mehrerlöse die Kos- rarstrukturwandel beigetragen haben, ist »Digitalisierung der Landwirtschaft – ge- ten für Anschaffung und Unterhalt zu zum jetzigen Zeitpunkt aber noch unklar. sellschaftliche Voraussetzungen, Rahmen- kompensieren vermögen, hängt oft maß- Ein wesentliches Hindernis bei der Beur- bedingungen und Effekte« werden nach geblich von der Betriebsgröße ab. Bei teilung der agrarstrukturellen Wirkungen Abnahme durch den ABFTA publiziert. größeren Betrieben ist mit einer höhe- der Digitalisierung sind die nicht ausrei- ren Maschinenauslastung zu rechnen, chenden Daten zu Verbreitungsmustern Kontakt sodass sie die anfallenden Kosten eher digitaler Agrartechnologien in der deut- Dr. Christoph Kehl amortisieren können. Hingegen errei- schen Landwirtschaft. +49 30 28491-106 chen vor allem Familienbetriebe die für [email protected] einen wirtschaftlichen Einsatz erforder- Angesichts des fortschreitenden Struk- liche Mindestbetriebsgröße oft nicht. Vor turwandels in der Landwirtschaft gilt als diesem Hintergrund wird vermutet, dass wichtig, Hürden speziell für kleine und sich im Zuge der Automatisierung und mittlere Betriebe abzubauen, damit die- Digitalisierung der wirtschaftliche Druck se an der Digitalisierung ausreichend par- auf kleinere und mittlere Betriebe ver- tizipieren können. Im Fokus stehen da- stärken und sich so der kontinuierliche bei insbesondere die Regionen, die eine Strukturwandel verschärfen könnte, dem Dominanz kleinbetrieblicher Strukturen die Landwirtschaft seit Jahrzehnten un- aufweisen (Süd‐ und Südwestdeutsch- terworfen ist. Ein zentrales Merkmal des land). Ein Lösungsansatz ist die gemein- Agrarstrukturwandels ist die Abnahme schaftliche Nutzung von Technologien, der Zahl der landwirtschaftlichen Betrie- also die teilweise oder vollständige ko- be bei gleichzeitiger Zunahme der durch- ordinierte Nutzung von Maschinen und schnittlichen Betriebsgrößen. Maschinenkapazitäten durch mehrere Be- triebe, mit dem primären Ziel, die anfal- Für den anhaltenden Agrarstrukturwan- lenden Fixkosten auf mehrere Schultern del werden verschiedene, teils komplex zu verteilen und einen besseren Auslas- miteinander verflochtene Ursachen ver- tungsgrad zu erreichen. In Form von antwortlich gemacht. Ein zentraler Trei- Maschinenringen sowie Maschinenge-

63 TA-Kurzstudie: Wettlauf in eine neue Weltraumära

New Space – neue Dynamik in der Raumfahrt

New Space steht für eine Kommerzialisierung der Raumfahrt, die zunehmend und Dienstleistungen, die ihre Wirkung von Unternehmen, darunter auch immer mehr Start-ups, geprägt wird. Kom- nicht nur innerhalb der Raumfahrt, son- merzielle Akteure sorgen mit der Entwicklung neuer Technologien und Ge- dern auch in Nichtraumfahrtindustrien schäftsmodelle für eine Innovationsdynamik in der Raumfahrt. Auch wenn entfalten. New Space auf völlig neue Entwicklungen hindeutet, lässt sich keine kla- re Grenze zwischen »Old« und »New Space« ziehen. Langjährig etablierte Aktuelle Marktpotenziale liegen primär Unternehmen sind genauso wie Start-ups in den Bereichen aktiv, die New in der Anwendung von Mikrosatelliten, Space zugeordnet werden. New-Space-Unternehmen agieren einerseits in Trägersystemen und Dienstleistungen in den angestammten Geschäftsfeldern der traditionellen Raumfahrtindus- den Bereichen Kommunikation, Naviga- trie, z. B. Kommunikation, Navigation und Erdbeobachtung, erschließen an- tion und Erdbeobachtung, die schon heute dererseits aber völlig neue Tätigkeitsfelder, wie etwa die private bemannte weitgehend implementiert sind, aber dank

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Raumfahrt, Weltraumservices inklusive der Entsorgung von Weltraumschrott, New Space noch deutliche Impulse erfah- Weltraumbergbau und -produktion, oder streben gar die Erschließung neu- ren können und weitere Entwicklungspo- er Weltraumhabitate an. Angetrieben werden die Entwicklungen durch In- tenziale bieten. novationen vor allem in den Feldern Miniaturisierung, 3-D-Druck, Robotik und künstliche Intelligenz (KI), die u. a. in stetig sinkenden Kosten für den Darüber hinaus sind weitere Weltraum- Raumtransport resultieren und neue Anwendungen ermöglichen. märkte in der Entwicklung begriffen, de- ren Marktpotenziale aufgrund der zum Teil sehr weit in die Zukunft weisenden Vielfach wird mit Blick auf New Space von 2017 mit einer durchschnittlichen Wachs- Anwendung nur sehr vage zu bestimmen einem zweiten Wettlauf ins Weltall ge- tumsrate von 6,7 % p. a. kontinuierlich ge- sind, darunter Weltraumtourismus oder sprochen, indem Bezug auf die Entwick- wachsen. Machten Unternehmen in der -bergbau. In den Medien liegt ein beson- lungen der traditionellen Raumfahrt in Raumfahrtindustrie im Jahr 2005 noch derer Fokus auf der Darstellung dieser neu- den 1950er und 1960er Jahren und den ca. 175 Mrd. US-Dollar Umsatz, so stei- en, prospektiven Weltraummärkte. Die von den USA und der Sowjetunion in- gerte sich dieser bis Ende 2018 auf insge- Aufmerksamkeit, die diese Themen er- szenierten Wettkampf um die Techno- samt ca. 360 Mrd. US-Dollar. fahren, spiegelt jedoch nicht die aktuellen logieführerschaft und staatlich-militä- Kommerzialisierungsmöglichkeiten wi- rische Vormachtstellung im Weltraum In der Raumfahrtindustrie wird zwischen der. Der Weltraumtourismus wird zurzeit genommen wird. Upstream- und Downstreamsektoren un- erprobt und ist auf dem Sprung in Rich- terschieden. Dem Upstreamsektor wer- tung Kommerzialisierung. Andere An- Auch gegenwärtig ist eine Art Wettlauf zu den diejenigen Aktivitäten zugeordnet, wendungsbereiche wie Produktion, Mon- beobachten, der sich jedoch vielfältig dar- die Objekte in den Orbit bringen sowie tage, Reparatur oder Entsorgung im All stellt und nicht mehr auf den Wettstreit dort betreiben sollen (z. B. Satellitenpro- sind Entwicklungsfelder, die noch größerer zwischen Nationen beschränkt ist. Ob- duktion, Trägersysteme, Raumfahrzeu- technologischer Fortschritte bedürfen. Ins- wohl die heutige zivile Raumfahrt durch ge). Der Downstreamsektor umfasst im besondere die Erschließung von Ressour- enge Kooperationsbeziehungen und kom- Wesentlichen die kommerzielle Nutzung cen im Weltraum und deren Weiterverar- plementäre Vorhaben auf staatlicher Ebe- von Produkten und Dienstleistungen auf beitung vor Ort oder deren Rücktransport ne gekennzeichnet ist, drängen immer der Erde in den Bereichen satellitenbasier- zur Erde müssen noch auf ihre Umsetzbar- mehr Nationen mit eigenen Aktivitäten te Kommunikation, Navigation und Erd- keit hin getestet werden. Noch weiter in die in den Weltraum. Gleichzeitig wächst beobachtung. Entwicklungen im Bereich Zukunft weisend und mit sehr ungewissem die Konkurrenz zwischen etablierten Upstream und Downstream befördern Kommerzialisierungspotenzial verbunden und neuen Akteuren, die mit vergleich- sich gegenseitig positiv und steigern die ist die Vision, auf Raumstationen bzw. Pla- baren Produkten und Dienstleistungen Dynamik der New-Space-Märkte. neten zu leben und zu arbeiten. vermehrt um staatliche und private Auf- träge konkurrieren. Zahlreiche neue Anwendungen wer- den durch die New-Space-Aktivitä- Innovative Technologien ten ermöglicht und wirtschaftlich trag- für einen kostengünstigen Prosperierender fähig, weil z. B. Raketenstarts immer Zugang zum Weltraum Weltraummarkt preiswerter oder kleine, kostengünsti- ge Satelliten(konstellationen) eingesetzt Den wichtigsten Zugang zum Weltraum Der globale Markt der weltraumbezoge- werden. Zunehmend entstehen neuar- bieten bis heute Trägerraketen. Vor ca. nen Wirtschaft ist zwischen 2005 und tige Geschäftsmodelle sowie Produkte 15 bis 20 Jahren war der Markt für Trä-

64 TA-Kurzstudie: Wettlauf in eine neue Weltraumära

Abb. Anwendungsfelder, deren Entwicklungsstand und Kommerzialisierungspotenziale

Kommerzialisierungs- potenzial

hoch Mikrosatelliten und Dienstleistungen -konstellationen und Systeme:

Trägersysteme › Navigation und › Erdbeobachtung Serviceaufgaben Raumfahrzeuge › Kommunikation im Orbit

Entsorgung von Weltraumschrott TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. mittel Produktion im Weltraum

Weltraum- Weltraum- bergbau tourismus

Weltraum- niedrig habitate

umgesetzt in Entwicklung prospektiv gersysteme ein rein von öffentlichen Ins- mit seiner Falcon-9-Rakete dies im Jahr mittleren Unternehmen (KMU) sowie die titutionen – also von Staaten und gro- 2010 auf 2.720 US-Dollar pro kg redu- Entwicklung von auf Daten und Techno- ßen Raumfahrtagenturen – organisierter zieren. 2018 gelang dann mit der Falcon logien aus der Raumfahrt basierenden Ge- Markt. Mit der Entwicklung von Schwer- Heavy-Rakete sogar eine Reduzierung auf schäftsmodellen in Nichtraumfahrtbran- lastträgern, die zur Beförderung von Te- 1.410 US-Dollar pro kg. chen eine wichtige Rolle. lekommunikationssatelliten eingesetzt wurden, begann eine Kommerzialisie- In den vergangenen Jahren konnten durch Die Schaffung eines sicheren Rechtsrah- rungstendenz, die bis heute anhält und zahlreiche technische Innovationen bei mens, die Klärung von Fragen zur Haf- auf den gesamten Bereich der Trägersys- Trägersystemen und Nutzlasten Kosten- tung und Versicherung sowie verbindliche teme und Nutzlasten übergegriffen hat. senkungen und damit Wettbewerbsvor- Regeln zur Vermeidung von Weltraum- teile erzielt werden. Diese wurden sowohl schrott stellen wichtige Voraussetzun- Die New-Space-Aktivitäten haben vor al- von etablierten als auch von neuen Ak- gen für die Raumfahrt dar. Schließlich lem in diesem Bereich mit den Raum- teuren realisiert. Kostensenkungspoten- ist auch die Rolle der Raumfahrtagentu- fahrtunternehmen SpaceX, BlueOrigin ziale und somit eine immer preiswerte- ren entscheidend, denn insbesondere die und Virgin Galactic der in den USA le- re Raumfahrt ergeben sich primär durch NASA befördert durch das Eingehen von benden Multimilliardäre Elon Musk, Jeff wiederverwendbare Raketen, Serienferti- öffentlich-privaten-Kooperationen mit Bezos und Richard Branson zugenom- gung, Verwendung handelsüblicher Bau- Unternehmen die Kommerzialisierung men. Diese und andere New-Space-Unter- teile und Miniaturisierung. neuer Produkte und Services. Dies führt nehmen tragen mit ihren Entwicklungen im Bereich New Space zu einer Domi- maßgeblich dazu bei, dass innovative Trä- nanz US-amerikanischer Unternehmen. gersysteme bzw. Raumfahrzeuge zur Ver- Trends, Treiber und fügung stehen und die Kosten für Rake- Barrieren tenstarts auf der Berechnungsgrundlage Stärken, Schwächen, Chancen Kosten per kg stetig sinken. Während die Im wirtschaftlichen Bereich spielen vor und Risiken durchschnittlichen Startkosten zwischen allem die Gründungen von New-Space- 1970 und 2000 ca. 18.500 US-Dollar pro Start-ups, die Verfügbarkeit von Finan- Die deutsche Luft- und Raumfahrtindus- kg für einen Transport in den niedrigen zierungsmitteln, das noch unausgeschöpf- trie gilt als wichtiger Innovationstreiber Erdorbit (LEO) betrugen, konnte SpaceX te Innovationspotenzial von kleinen und und Technologieentwickler für die euro-

65 TA-Kurzstudie: Wettlauf in eine neue Weltraumära

päische Raumfahrt. Das Raumfahrt-Öko- Deutschland im internationalen Vergleich tenmengen, die durch Erdbeobachtungs- system – bestehend aus der Gesamtheit eher wenig in die Raumfahrt investiert, missionen von einer Vielzahl von Akteu- der Akteure innerhalb einer Branche – was im Wettbewerb zu einer schlechteren ren erzeugt werden, stellt sich die Frage, hat sich in den letzten Jahren auch in Ausgangsposition führt. Eine entschei- wie durch internationale Abkommen der Deutschland verändert. So entwickeln dende und zu überwindende Hürde be- Datenschutz gewährleistet und die un- neben den etablierten Zulieferern und steht ferner in der Entwicklung von auf rechtmäßige Auswertung wettbewerbsre- Herstellern zunehmend Start-ups inno- Daten und Technologien aus der Raum- levanter Daten, insbesondere Unterneh- vative Lösungen für unterschiedliche fahrt basierenden Geschäftsmodellen in men betreffend, verhindert werden kann. Fragestellungen. andere Branchen, damit sich die vielver- sprechenden Potenziale für Anwendun- Mit Blick auf innovationsfördernde Maß- In der Gesamtschau zeigt sich, dass die gen – insbesondere im Downstreamseg- nahmen wäre vonseiten der Politik zu

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. deutsche Raumfahrt- und New-Space-Ak- ment – erschließen können. prüfen, ob für die Verbesserung des Zu- teurslandschaft mit ihrer leistungsfähi- gangs zu Finanzierung speziell auf New gen Raumfahrtforschung und -entwick- Space ausgerichtete Finanzierungsins- lung vielfältig und im Bereich technischer Handlungsfelder trumente, wie z. B. ein bei der KfW an- Komponenten und deren Fertigung inter- gesiedelter deutscher Weltrauminnova- national gut anschlussfähig ist. Auch in Aus den Stärken und Schwächen sowie tionsfonds, wünschenswert ist oder ob Deutschland sind Gründungen neuer Un- den Chancen und Risiken ergeben sich die Wachstumsunterstützung von Hoch- ternehmen zu verzeichnen, und spe ziell im Wesentlichen drei Handlungsfelder, technologie-Start-ups und innovativen für die frühen Gründungsphasen sind und zwar bei der Rechtssicherheit, hin- KMU insgesamt weiterentwickelt wer- zahlreiche Fördermaßnahmen verfüg- sichtlich innovationsbefördernder Maß- den soll. Auch hinsichtlich des Fachkräf- bar. Da der Raumfahrtmarkt substanziell nahmen sowie bei der Unterstützung von temangels könnte geprüft werden, ob es wächst, verspricht er auch für deutsche New Space als innovative Industrie. raumfahrtspezifischere Programme für Unternehmen lukrative Marktchancen. die Gewinnung von Talenten und zur Si- Die Anpassung des bisherigen Rechts- cherung des wissenschaftlichen Nach- Allerdings stehen den potenziell vielver- rahmens, d. h. des bisher geltenden Welt- wuchses bedarf oder ob diese Fragestel- sprechenden Entwicklungsmöglichkeiten raumrechts, erfolgt derzeit durch die lung vorzugsweise allgemein im Rahmen diverse Innovationsbarrieren gegenüber, Ausgestaltung eines nationalen Welt- von innovationsunterstützenden Maß- wie ein Mangel an Risikokapital – beson- raumgesetzes unter Berücksichtigung von nahmen adressiert werden soll. ders in der Wachstumsphase von Start- Lizenzierungsverfahren, Haftung, Zu- ups –, ein für kleinere Akteure tendenziell gang und Nutzung von Weltraumressour- Deutsche KMU in der Raumfahrt werden schwer zugängliches Fördersystem sowie cen sowie Umgang mit Weltraumschrott. ohne eine zielgruppenspezifische Aus- Rechtsunsicherheiten. Insgesamt wird in Mit Blick auf die ständig wachsenden Da- richtung der Förderinstrumente auch

Stärken Schwächen

› Eine vielfältige Akteurslandschaft und Start-up-Szene › Die mangelnde Verfügbarkeit von Wagniskapital vor allem schaff en ein gut entwickeltes New-Space-Ökosystem in für Start-ups und kleine und mittlere Unternehmen ist eine Deutschland. Wachstumsbremse. › Die leistungsfähige Raumfahrtforschung und -entwicklung › Im internationalen Vergleich fallen gemessen am Bruttoin- sind international gut anschlussfähig. landsprodukut Ausgaben von Deutschland für Weltraum- › In einigen Forschungsbereichen besteht weltweite Spitzen- programme gering aus. stellung (Sensor, Radar, Miniaturisierung). › Kleine und mittlere Unternehmen profi tieren im Förder- › Das System für die Frühphasenförderung von Start-ups ist system eher indirekt. gut ausgebaut. › Die deutsche Weltraumstrategie von 2010 ist nicht mehr › Drei von neun ESA-Zentren sind in Deutschland. aktuell. › Vier Clusterinitiativen mit Raumfahrtbezug unterstützen › Trotz positiver Grundhaltung der Bevölkerung gegenüber die Vernetzung von Wissenschaft , Wirtschaft und Politik. Weltraumaktivitäten erschließen sich die vielfältigen Poten- ziale der Raumfahrt bzw. von New Space kaum.

66 TA-Kurzstudie: Wettlauf in eine neue Weltraumära

weiterhin primär eher indirekt von der te Summe angesichts des zu erwartenden gung an internationalen Projekten wie bei Raumfahrtförderung profitieren, indem wirtschaftlichen Potenzials von raum- der ISS sowie bei der Erstellung des Euro- sie in Projekten als Unterauftragnehmer fahrtbezogenen Produkten und Dienst- pean Service Modul für die zukünftigen oder Zulieferer größerer Akteure betei- leistungen (substanziell) erhöht werden bemannten Raufahrzeuge der USA kön- ligt werden. Hier wäre eine stärkere Aus- sollte. Damit deutsche Unternehmen auf nen als guter Ausgangspunkt für Folge- richtung zukünftiger Förderprogramme dem wachsenden Raumfahrtmarkt wett- projekte genutzt werden. etwa durch eine Quote für Start-ups und bewerbsfähig bleiben können, sind Maß- KMU oder ausschließlich auf Start-ups nahmen zu entwickeln, mit denen die Die TAB-Kurzstudie Nr. 1 »New Space. bzw. KMU ausgerichtete Unterstützungs- Wettbewerbsfähigkeit gesichert bzw. ge- Neue Dynamik in der Raumfahrt« wird maßnahmen abzuwägen, um die Innova- steigert werden kann. in Kürze veröffentlicht. tionskraft der Raumfahrtindustrie noch besser auszuschöpfen. Der in den letzten Jahren kostengünsti- Kontakt – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. ger gewordene Zugang zum Weltraum Dr. Sonja Kind Es könnte ferner geprüft werden, ob sich, bietet erhebliche wirtschaftliche Chan- +49 30 310078-283 wie in den USA üblich, ein Wettbewerb cen für eine Vielzahl an Branchen. Damit [email protected] von kommerziellen Anbietern um Auf- diese Chancen – insbesondere die Nut- träge mit spezifizierten Fähigkeitsan- zung von Produkten und Dienstleistun- forderungen (»high level requirement«) gen des Downstreamsegments in Nicht- auch für Europa bzw. Deutschland an- raumfahrtbranchen – genutzt werden bietet. Aufgrund der aktuellen Dynamik können, ist die Raumfahrtindustrie ge- im New-Space-Markt böte es sich für fordert, geeignete Anwendungen und Ge- Deutschland – auch im Rahmen des ESA- schäftsmodelle für die Nichtraumfahrtin- Engagements – an, ambitionierte Pub- dustrien zu entwickeln. Dazu böte es sich lic Private Partnerships einzugehen, um an, flankierend zur zukünftigen Raum- damit zum Wachstum des Raumfahrt- fahrtstrategie die Nutzung von Weltraum- sektors beizutragen und gleichzeitig die technologien stärker auch in der Indus- gesellschaftlichen und wirtschaftlichen triestrategie der Bundesregierung und in Wirkungen der Raumfahrtaktivitäten zu anderen strategischen Maßnahmen zu stärken. verankern, sodass der Anschluss zu New Space stärker mitgedacht wird. Hinsichtlich der im internationalen Ver- gleich relativ geringen staatlichen Mit- Deutschlands starke Rolle in der europä- tel wäre zu überprüfen, ob die investier- ischen Raumfahrt und auch die Beteili-

Chancen Risiken

› Globale und nationale Raumfahrtmärkte wachsen im › Substanzielle Marktanteile bleiben außerhalb von Deutsch- Upstream- und Downstreamsektor kontinuierlich. land und Europa, weil etablierte bzw. neue US-amerikani- › Anwendungen von Erdbeobachtungsdaten bieten besonde- sche Unternehmen den Markt dominieren. res Wachstumspotenzial – hier könnten auch Marktführer- › Der weltweite Wettbewerb nimmt zu, die Subventionspoli- schaft en erreicht werden. tik der USA fördert die Marktdominanz US-amerikanischer › Neue Tätigkeitsfelder und Geschäft smodelle entstehen im Unternehmen. Bereich Weltraumservices, wie z. B. Entsorgung von Welt- › Anwendungspotenziale für Nichtraumfahrtunternehmen raumschrott. erschließen sich nur langsam. › Die positive Entwicklung der Zulieferindustrie erfolgt › Kosteneinsparungen werden durch den Einsatz standardi- durch Ausnutzung der Stärken im Maschinen- und Anla- sierter Bauteile nicht realisiert. genbau. › Internationale Einigung zu Fragen des Weltraumrechts und › Deutschland kann seine starke Positionierung in Richtung des Datenschutzes verzögert sich oder gelingt nur unzurei- Vermittler zwischen Raumfahrtnationen weiter ausbauen. chend.

67 Horizon-Scanning: Themenkurzprofile

Themenvielfalt: Elf neue Kurzprofile aus dem Horizon-Scanning

Das Horizon-Scanning wird seit 2014 vom Kooperationspartner VDI/VDE-IT schläge für eine mögliche vertiefte Bear- im TAB in regelmäßigen Zyklen durchgeführt. Seit dem Erscheinen des letz- beitung durch das TAB formuliert. Aus ten TAB-Briefs Nr. 50 im Juni 2019 wurden im Horizon-Scanning elf Kurzpro- dem Themenspektrum der Kurzprofile file ausgearbeitet und dem TA-Berichterstatterkreis vorgelegt. hat der ABFTA auf Empfehlung der Be- richterstattergruppe TA inzwischen fünf Themen ausgewählt, die in Form von TA- Das Horizon-Scanning wurde 2014 vom › »Hochwertiges Recycling für eine Kurzstudien bearbeitet wurden bzw. wer- TAB-Konsortialpartner VDI/VDE-IT Kunststoffkreislaufwirtschaft« (Nr. 35) den: »Social Bots«, »Legal Tech – Poten- im Aufgabenportfolio des TAB etabliert › »Innovationen zum Umgang mit dem ziale und Anwenungen«, »Wettlauf in eine (hierzu der Beitrag auf S. 30 ff.) und seit- Meeresspiegelanstieg« (Nr. 36) neue Weltraumära« sowie »Welt ohne Bar- dem regelmäßig durchgeführt. Im Janu- › »Technologien zur Nachverfolgbarkeit geld«. Das jüngst ausgewählte Thema ist

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. ar und im August 2020 wurden Kurzpro- von Wertschöpfungs- und Lieferket- »Urbaner Holzbau« (Kasten). file zu folgenden Themen veröffentlicht: ten« (Nr. 37) › »Kognitive Assistenzsysteme« (Nr. 38) Kontakt › »Dark Patterns – Mechanismen (be)trü- › »Nachhaltige Phosphorversorgung« Dr. Sonja Kind gerischen Internetdesigns« (Nr. 30) (Nr. 39) +49 30 310078-283 › »Digitale Lebensgefährten – der An- › »Robo-Recruiting – Einsatz künstli- [email protected] thropomorphismus sozialer Bezie- cher Intelligenz bei der Personalaus- hungen« (Nr. 31) wahl« (Nr. 40) › »Urbaner Holzbau« (Nr. 32) › »Labour Tech: Kommunikation und Die Themenkurzprofile geben einen kom- Organisation von Arbeitnehmerinte- pakten Überblick über ein Themenfeld ressen im Digitalzeitalter« (Nr. 33) und dessen Relevanz für Politik und Ge- › »Beyond Big Data« (Nr. 34) sellschaft. Darauf aufbauend werden Vor-

Aktuelle TA-Kurzstudie »Urbaner Holzbau«

War Holz bis in die Neuzeit der domi- Motive für das Bauen mit Holz liegen Holzbauweise an Bedeutung. Holz eig- nierende Werkstoff im Bauwesen, wurde insbesondere in ökologischen Vortei- net sich immer besser auch für mehrge- die Holzbauweise zunächst durch Stein- len (z. B. bessere CO2-Bilanz) gegenüber schossige Bauten. und Ziegelbauten und im Zuge der in- konventionellen Betonbauten. Bauteile dustriellen Entwicklung durch Stahl- können zudem gut vorgefertigt werden Ziel der Kurzstudie ist es, einen Über- und Betonbau größtenteils substituiert. und ermöglichen so ein schnelleres Bau- blick über Herausforderungen und Po- en mit bis zu 80 % weniger Baustellen- tenziale des urbanen Holzbaus, d. h. in Holzhäuser wurden bis in die 1990er verkehr. Die hohe Schwingfähigkeit von Bezug auf mehrgeschossige Holzhoch- Jahre überwiegend in ländlichen Regio- Holz erhöht auch die Erdbebensicherheit häuser und sonstige größere Holzbau- nen oder stadtnahen Randgebieten als der Häuser, was in vielen (Welt-)Regio- komplexe zu geben. In der Kurzstudie Ein- oder Zweifamilienhäuser errichtet. nen relevant ist. Demgegenüber stehen werden Innovationspotenziale des urba- Erst in jüngster Zeit zeigen sich eine Re- zum Teil noch Schwierigkeiten bei der nen Holzbaus sowie die damit verbunde- naissance und Weiterentwicklung des Erfüllung von Brandschutzanforderun- nen TA-relevanten Implikationen ana- Holzbaus. Durch die Weiterentwick- gen und aufwendigere Genehmigungs- lysiert. Ein weiterer Schwerpunkt liegt lung von Baurichtlinien und -gesetzen, verfahren bei der Planung und Realisie- auf der Beschreibung der Akteursland- vor allem im Kontext Brandschutz, so- rung von Holzbauten. schaft und der Wertschöpfungskette wie durch die stärkere Orientierung von (sogenanntes Ökosystem des urbanen Gesellschaft und Politik auf Nachhaltig- Insbesondere im Bereich der Bestands- Holzbaus). keitsaspekte im Bauwesen hält die Holz- sanierung – hierzu werden Baumaßnah- bauweise nun seit einigen Jahren ver- men zur Umnutzung, Aufstockung und mehrt im innerstädtischen Bau Einzug. Nachverdichtung gezählt – gewinnt die

68 Horizon-Scanning: Themenkurzprofile

Andere Muster sind darauf ausgelegt, ge- gitaler Interaktionspartner umfasst ein zielt die Aufmerksamkeit von wesentli- sehr breites Spektrum unterschiedlicher chen Aspekten abzulenken, z. B. von einer Typen von Geräten: Es reicht von di- erhöhten Rechnung oder versteckten Kos- gitalen und personalisierten Internet- ten. Preisvergleiche oder das Rückgän- angeboten (Avatare, Chatbots etc.) über gigmachen von Aktionen werden häufig Sprachassistenten wie »Alexa« oder erschwert. Ebenso gehören getarnte Wer- »Siri« bis hin zu komplexen technischen bung oder Produkte, die sich beim On- Interaktionssystemen aus dem Bereich linekauf »in den Warenkorb schleichen« der sozialen Robotik. Zentrales Merk- Dark Patterns – Mechanismen (»sneak into basket«), zu Dark Patterns. mal dieser Systeme ist, mit Menschen (be)trügerischen Internetdesigns Es werden somit manipulativ Zusatzkäu- zu interagieren und zu kommunizieren.

fe forciert oder auch verdeckt Kunden- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Dark Patterns ist ein Sammelbegriff für daten gesammelt. Der Einsatz von Dark Mit dem technischen Fortschritt wan- Internetmuster oder -designs, die dar- Patterns ist unethisch, mitunter unlau- deln sich diese Systeme von reinen Be- auf ausgelegt sind, Nutzende von On- ter und ggf. betrügerisch. Insbesondere fehlsempfängern oder Auskunftssyste- linediensten und sozialen Netzwerken sind auf die Ausnutzung menschlicher men zu immer autonomer agierenden dazu zu bringen, Tätigkeiten auszufüh- Wahrnehmungsschwächen ausgerichte- digitalen Helfern, die verstärkt über hu- ren, die ihren eigentlichen Interessen zu- te Dark Patterns für unerfahrene Nutzen- manoide Merkmale verfügen und sich widerlaufen und mit negativen Konse- de (z. B. Senioren, Kinder und Jugendliche dank sozialer Verhaltensweisen gleich- quenzen verbunden sein können. sowie bildungsferne Gruppen) schädlich. sam zu Partnern in Lebensgemein- Aus Sicht des Verbraucherschutzes wer- schaften entwickeln können – bis hin Stets werden dabei bestimmte mensch- den Verbraucherinnen und Verbraucher zur Simulation körperlicher Nähe. Da- liche Verhaltens- oder Wahrnehmungs- über Dark Patterns gezielt gesteuert, ma- bei kann es vonseiten des menschlichen muster ausgenutzt. Dark Patterns wer- nipuliert und getäuscht. Es bedarf einer Interaktionspartners zu einer anthropo- den u. a. im Rahmen von Neuromarke- besonderen Aufmerksamkeit der Nut- morphen Projektion kommen, die das ting eingesetzt und gehören im weiteren zenden, diese Manipulationen und de- technische System als Person und die In- Sinne zu den psychologischen Ansätzen ren typischen Muster zu erkennen und zu teraktion mit ihr als soziale Beziehung der technologiegestützten Verhaltensbe- umgehen. Eine regulatorische Herausfor- wahrnimmt. Unter solchen Umständen einflussung. Während die Beeinflussung derung besteht darin, Dark Patterns auf- kann sich eine Mensch-Maschine-Bezie- im Sinne einer von Kunden gewünsch- zudecken, da diese in aller Regel verschlei- hung – insbesondere, wenn sie sich auch ten (Kauf-)Aktivität bzw. Verhaltensän- ert werden, um ihren Zweck zu erfüllen. auf körperlicher Ebene abspielt – innig derung durch Überzeugung – wie etwa und in jeder Hinsicht intim ausprägen. das Beenden gesundheitsgefährdender bzw. die Initiierung gesundheitsfördern- Die Zuschreibung menschlicher Züge der Aktivitäten (beispielsweise mithilfe und Rollen beispielsweise für Haustie- von Gesundheits-Apps) – zumeist trans- re ist ein seit Langem bekanntes Phäno- parent erfolgt (und auch positiv konno- men (Namensgebung, direkte Anspra- tiert sein kann), werden Dark Patterns che und Kommunikation etc.). Ebenso üblicherweise verschleiert. Vergleich- ist eine unidirektionale und meist be- bar ist dieser Ansatz in etwa mit Social fehlende Kommunikation mit techni- Bots, die ebenfalls bewusst getarnt wer- schen Artefakten wie Autos oder Com- den und vortäuschen, echte (menschli- Digitale Lebensgefährten – der putern eine hinlänglich dokumentierte che) Nutzer zu sein, um eine Wahrneh- Anthropomorphismus sozialer Alltagserscheinung. Im Zuge der Digi- mungs- und ggf. Verhaltensänderung Beziehungen talisierung von Kommunikation und herbeizuführen. Interaktion erhält diese als Anthropo- Digitale Lebensgefährten umschrei- morphismus bezeichnete Vermensch- Mit Dark Patterns werden beispiels- ben das Phänomen einer digitalen Un- lichung nun eine weitreichende sozia- weise bestimmte Emotionen angespro- terstützung beim Aufbau und der le Dimension. Diese Entwicklung fällt chen, um zu einem Kauf im Internet zu Pflege zwischenmenschlicher Bezie- in eine Zeit, in der aufgrund der fort- verleiten oder einen bestimmten Link hungen, aber auch und insbesondere schreitenden Individualisierung der Ge- anzuklicken. der Substitution derselben durch intel- sellschaft tradierte Beziehungsgefüge an ligente technische Systeme. Das Feld di- Bedeutung verlieren und sich neue aus-

69 Horizon-Scanning: Themenkurzprofile

bilden, die immer stärker realweltlich- der Robotik, begleitet und getrieben wird, flexibel und stehen damit im Gegensatz virtuelle Mischformen umfassen. gibt es weiterhin auch Hürden zu über- zu traditionellen Organisationsformen winden. Ein Beispiel hierfür sind die rest- der etablierten Gewerkschaften. Ar- riktiven Vorgaben der Bauordnungen, die beitnehmer- und Arbeitgebervertre- den urbanen mehrgeschossigen Holzbau tungen, Plattformarbeitende sowie For- in vielen Ländern behindern. schungsinstitute äußern in der Debatte zu diesem Thema sehr unterschiedli- che Ansichten über den notwendigen Regulierungsbedarf. Erste regulieren- de Maßnahmen sind auf europäischer Ebene erfolgt. Eine Umsetzung in na-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. tionales Recht steht noch aus. Urbaner Holzbau

Holzhäuser wurden bis in die 1990er Jahre überwiegend in ländlichen Regio- nen oder stadtnahen Randgebieten als Labour Tech: Kommunikation und Ein- oder Zweifamilienhäuser gebaut. Organisation von Arbeitnehmerin- teressen im Digitalzeitalter Die Weiterentwicklung von Baurichtli- nien und -gesetzen, vor allem im Kon- Die fortschreitende digitale Transforma- text Brandschutz, und die zunehmende tion aller Wirtschaftsbereiche – und ins- Sensitivität der Gesellschaft und Politik besondere des Dienstleistungssektors – Beyond Big Data gegenüber nachhaltigem Bauen führten stellt Gewerkschaften als zentrale Akteure mittlerweile jedoch dazu, dass die Holz- der Mitbestimmung zunehmend infrage. Die weltweite wirtschaftliche und wis- bauweise seit einigen Jahren vermehrt in Der Anteil an Menschen, denen Arbeit als senschaftliche Führungsposition im Be- der Stadt eingesetzt wird. Insbesonde- Auftrag über Onlineplattformen vermit- reich der KI scheint bislang bei den USA re im Bereich der Bestandssanierung – telt wird (Plattformarbeitende), wächst. und China sowie ihren Tech-Konzernen hierzu werden Baumaßnahmen zur Doch Gewerkschaften sind aufgrund ih- zu liegen. Diese sind weltweit einzigar- Umnutzung, Aufstockung und Nachver- rer Ausrichtung auf traditionelle Leit- tig darin, große Mengen an Nutzerdaten dichtung gezählt – gewinnt die Holzbau- sektoren und abhängig Beschäftigte nicht zu sammeln, die KI-Algorithmen vom weise an Bedeutung. Holz wird zudem auf die Anforderungen dieser Zielgruppe Grundsatz her zum Lernen benötigen. für mehrgeschossige Bauten genutzt. ausgerichtet. Dennoch besteht in beson- Die Verfügbarkeit großer Volumina po- Waren Holzhäuser mit 5 bis 7 Geschos- derem Maße auch für Plattformarbeitende tenzieller Lerndaten in Verbindung mit sen vor einigen Jahren noch undenk- der Bedarf an einer Interessenvertretung. vergleichsweise niedrigen Datenschutz- bar, so werden sie mittlerweile häufiger standards bildet vermeintlich die Basis für errichtet. Auch in Deutschland wurde Es entstehen einerseits neue digitale erfolgreiche Produktentwicklungen und 2019 mit einer Höhe von 34 m das erste Formen der Interessenvertretung (La- einen großen Vorsprung im Wettrennen Holzhochhaus errichtet. bour-Tech-Lösungen), andererseits sind um die bestmöglichen KI-Anwendungen die Gewerkschaften gefragt, zielgerich- gegenüber Deutschland und zahlreichen Viele weitere Hochhäuser befinden sich tete digitale Beratungs- und Unterstüt- anderen europäischen Ländern. in der Planung. Mit der Errichtung von zungsangebote für Plattformarbeitende mehrgeschossigen Holz(hoch)häusern zu entwickeln. Neuere Entwicklungen im Bereich der wurde nicht nur die Machbarkeit de- Datensynthetisierung sowie der KI-For- monstriert, sondern aufgezeigt, welche Die deutschen Gewerkschaften haben dies schung mit Small Data, wie das bestär- städtebaulichen und architektonischen erkannt und bieten entsprechende Unter- kende Lernen (Reinforcement Learning), Potenziale die Holzbauweise für den ur- stützungsangebote an oder kooperieren die Methode des One-Shot-Lernens oder banen Raum hat. Während der Trend in mit Initiativen von Plattformarbeitenden. auch Zero-Shot-Lernens sowie das Trans- die Vertikale im Holzbau von technolo- Dabei werden vor allem webbasierte Lö- ferlernen, erwecken jedoch die Hoffnung, gischen Entwicklungen, beispielsweise sungen genutzt (soziale Netzwerke, Mes- dass KI-Innovationen auch unter Einhal- in den Bereichen der Werkstoffwissen- sengerdienste). Die so entstehenden neu- tung der europäischen Datenschutznor- schaften, der Digitalisierung wie auch en Organisationsformen sind hochgradig men möglich sind.

70 Horizon-Scanning: Themenkurzprofile

Dies bietet dem deutschen Mittelstand, Werkstoffliche Verwertung wird häufig Dhaka (Bangladesch), Bangkok (Thai- der meist nur über geringe Datenmen- auch als Downcycling bezeichnet, da die land), Rangun (Myanmar) und Miami gen verfügt, die Aussicht, im Bereich erzeugten Rezyklate von geringerer Quali- (USA). der KI den Anschluss zu finden. Zur- tät im Vergleich zum ursprünglich genutz- zeit wird die Methode der Datensyn- ten Kunststoff sind. Dies liegt an vermisch- Angesichts der Gefahrenlage reagieren thetisierung jedoch fast ausschließlich ten oder verschmutzten Abfällen. Obwohl Länder, Städte und Gemeinden mit zahl- von öffentlichen Stellen wie Statistik- in Deutschland 2017 immerhin 46 % der reichen Gegenmaßnahmen, die jedoch behörden angewendet, um im Sinne von Kunststoffabfälle werkstofflich verwertet unterschiedlich ausgereift sind und teils Open Data sensible Mikrodatensätze mit wurden, konnten trotz jahrzehntelanger lediglich als Prototypen und Konzeptide- personenbezogenen Daten für die wis- Erfahrungen im Trennen und Wiederauf- en vorliegen, etwa schwimmende Städte senschaftliche Forschung zugänglich zu bereiten von Kunststoffen nur aus 0,8 % die und Bauernhöfe. Lösungsansätze wie das

machen. Die KI-Forschung mit Small petrochemischen Grundstoffe rückgewon- niederländische Projekt »Sandmotor« be- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Data steckt ihrerseits noch in den Kin- nen werden. 53 % aller Kunststoffabfälle finden sich noch in der Erprobungspha- derschuhen. Beide Aspekte spiegeln sich wurden energetisch verwertet. se. Superdeiche sind aufgrund ihrer enor- in der geringen Anzahl von Start-ups men Kosten und langen Bauzeiten nicht wider, die Dienstleistungen in den Be- überall realisierbar, Innovationen wie der reichen synthetischer Daten und Small Bau auf Warften, z. B. in der Hamburger Data anbieten. Es wird also noch einige Hafencity, funktionieren nur bei der Neu- Zeit benötigen, bis sich das Potenzial der entwicklung von Stadtteilen. beiden Entwicklungen im KI-Bereich tatsächlich abschätzen und auch wirt- Politische und administrative Verant- schaftlich ausschöpfen lässt. Die For- wortliche stehen somit vor der Heraus- schungs- und Innovationsentwicklung forderung, aus dem Potpourri weltweit wird hier u. a. stark davon abhängen, ob diskutierter Lösungsansätze diejenigen durch zielgerichtete Schwerpunktset- Innovationen zum Umgang mit für den eigenen Küstenschutz auszu- zung in der Förderprogrammatik die dem Meeresspiegelanstieg wählen, die den finanziellen, geografi- Grundlage für eine gewisse Gründungs- schen, topografischen und soziokultu- dynamik geschaffen werden kann. Der globale mittlere Meeresspiegel steigt rellen Rahmenbedingungen am besten deutlich stärker, als dies noch vor einem gerecht werden sowie eine gewisse Fle- halben Jahrzehnt erwartet wurde. Für xibilität für den Fall aufweisen, dass sich 2100 wird mit einem maximalen An- die Dynamik des Meeresspiegelanstiegs stieg von 110 cm gegenüber dem Stand nochmals intensivieren sollte. von 2000 gerechnet, abhängig von den zu- grundegelegten Annahmen über die zu- künftigen Treibhausgasemissionen und die dadurch ausgelöste Temperaturerhö- hung. Je nach Berechnungsmodell betref- fen die jährlich zu erwartenden Überflu- Hochwertiges Recycling durch tungen für 2100 im Extremfall – bei einer eine Kunststoffkreislauf- stärkeren Dynamik des Schmelzens der wirtschaft Antarktiseisschilde – zwischen 260 Mio. (»NASA Shuttle Radar Topography Mis- Der weltweite Konsum von Plastik steigt sion« – SRTM) und 630 Mio. Menschen Technologien zur Nachverfolg- seit den 1950er Jahren stetig an. Zahllo- (»Coastal Digital Elevation Model« – barkeit von Wertschöpfungs- und se Produkte werden aus verschiedenen CoastalDEM). Am stärksten werden die Lieferketten Kunststoffen hergestellt. Für die Erzeu- Auswirkungen des steigenden Meeres- gung werden vor allem Primärrohstof- spiegels in den niedrigen und mittleren Durch die Globalisierung und die da- fe wie Erdöl und Erdgas genutzt. Nur Breiten sein. Zu den gefährdeten Hafen- mit verbundenen grenzüberschreiten- etwa 9 % der in Deutschland hergestell- städten mit der größten Bevölkerung zäh- den Warenströme wirkt die Geschäfts- ten Kunststoffprodukte bestehen aus Re- len Kolkata und Mumbai (Indien), Guang- tätigkeit von Unternehmen immer zyklaten, die durch werk- oder rohstoff- zhou und Shanghai (China), Ho-Chi- stärker auch über nationale Grenzen hin- liche Verwertung gewonnen wurden. Minh-Stadt und Hai Phòng (Vietnam), aus. Unternehmerisches Handeln in

71 Horizon-Scanning: Themenkurzprofile

Deutschland kann so die Lebens- und rischer Sorgfaltspflichten unterstützen produzierende Gewerbe, sondern ver- Arbeitsbedingungen sowie den Zustand und befördern könnten. Im Fokus steht breiten sich auch im Dienstleistungs- der Umwelt auf globaler Ebene positiv dabei die lückenlose Abbildung der Wert- sektor und in der Medizin. oder negativ beeinflussen. schöpfungs- bzw. Lieferkette einschließ- lich aller Akteure von der Rohstoffgewin- Bei der umfassenden Ermittlung des Dabei überwiegen negative Auswirkun- nung bis zum Endkunden. Leistungsprofils von Beschäftigten wäh- gen eher, wenn in Regionen mit niedri- rend der Analyse ihres Unterstützungs- gen nationalen Umwelt-, Arbeits- und bedarfs können die kognitiven Assis- Sozialstandards produziert wird oder tenzsysteme Fähigkeitslücken erkennen. dort Rohstoffe und natürliche Ressour- Durch eine entsprechende Wissensver- cen abgebaut und ggf. weiterverarbeitet mittlung sowie Überprüfung des Ler-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. werden, um Profite zu generieren, die nerfolgs können sie zur Weiterbildung unter den hierzulande geltenden Rah- im Prozess der Arbeit beitragen. menbedingungen nicht verwirklicht werden könnten.

Gleiches gilt für Regionen, in denen die Kognitive Assistenzsysteme Umsetzung solcher Standards nicht aus- reichend kontrolliert und durchgesetzt Kognitive Assistenzsysteme dienen der wird. Schwellen- und Entwicklungslän- Unterstützung von Beschäftigten, indem der stehen hier im Fokus, da ihre wirt- sie diesen, abhängig von den auszufüh- schaftliche Leistung in besonderem renden Tätigkeiten und den individuellen Maße von Unternehmen aus Industrie- Fähigkeiten, passgenaue Informationen ländern abhängt, die vor Ort Rohstof- zur Verfügung stellen, ihnen Hinweise Nachhaltige Phosphorversorgung fe, Güter, Produkte oder Dienstleistun- auf korrekte Arbeitsabläufe geben und gen beziehen. die Überprüfung der ausgeführten Ar- Phosphor ist ein natürlicher Rohstoff, beitsschritte ermöglichen. Sie sind Teil der der als Nährstoff essenziell für alles Die Wirkungen, die Unternehmen fortschreitenden Digitalisierung der Ar- Leben auf der Erde ist. Phosphor wird durch ihre globale Geschäftstätigkeit beitswelt und bieten Potenzial für die Stei- zu 95 % in der Düngemittelproduk- auslösen, werden seit einigen Jahren gerung von Produktivität, Qualität und tion für die Landwirtschaft verwen- auch auf internationaler Ebene ver- Kosteneffizienz, das sich aus dem engen det und ist damit entscheidend für die stärkt diskutiert. Zusammenspiel von Mensch und techni- Welternährung. schem System ergibt. 2011 veröffentlichten die Vereinten Na- Die natürlich vorkommenden Phosphor- tionen die Leitprinzipien für Wirt- Vergleichsweise weitverbreitete Beispie- reserven sind jedoch begrenzt. Phosphor schaft und Menschenrechte, die erst- le für kognitive Assistenzsysteme sind lässt sich weder synthetisch herstellen mals einen allgemein anerkannten Re- Lösungen zur sogenannten Werkerfüh- noch ersetzen. Wie lange die weltweiten ferenzrahmen für menschenrechtliche rung, die in der Montage oder der Kom- Reserven reichen, wird unterschiedlich Pflichten von Staaten und für die Ver- missionierung eingesetzt werden und Be- bewertet: Schätzungen gehen von 150 bis antwortung von Unternehmen in glo- schäftigte bei der korrekten Ausführung 300 Jahren aus. Vor dem Hintergrund balen Liefer- und Wertschöpfungsket- ihrer Tätigkeiten unterstützen. Je spezi- einer wachsenden Erdbevölkerung und ten bilden. Aus den Leitprinzipien der fischer die Systeme dabei auf den ein- dem damit verbundenen Mehrbedarf an Vereinten Nationen folgen unterneh- zelnen Beschäftigten und seine Fähig- Phosphor wird in Zukunft die nachhal- merische Sorgfaltspflichten. Deren Ein- keiten, Vorlieben etc. eingehen können, tige Phosphornutzung eine immer grö- haltung ist für deutsche Unternehmen desto zielgenauer und effektiver ist ihre ßere Rolle spielen. aktuell noch freiwillig, könnte aber in Unterstützungsleistung. naher Zukunft rechtsverbindlich ein- Doch nicht nur die langfristige Verfüg- gefordert werden. Aufgrund des technischen Fortschritts barkeit, sondern auch die kurzfristige werden kognitive Assistenzsysteme im- Versorgung ist mit Herausforderungen Im Kurzprofil wird dargelegt, inwie- mer leistungsfähiger, sodass die Ein- verbunden. So befinden sich die natür- weit (digitale) Technologien die Um- satzmöglichkeiten zunehmen: Sie be- lichen Vorkommen und Reserven nur setzung und Einhaltung unternehme- schränken sich nicht mehr nur auf das in einigen wenigen Regionen der Welt.

72 Horizon-Scanning: Themenkurzprofile

Die größten Lagerstätten liegen in Ma- Eine effiziente und nachhaltige Steu- dern Auswahlentscheidungen objekti- rokko, gefolgt von China und den USA. erung der Phosphorkreisläufe (Phos- ver sowie zeitlich und räumlich flexibel Rund 95 % der Lagerstätten sind unter phorgovernance) berührt eine Vielzahl gestaltet werden. Das trägt sowohl zu der Kontrolle von nur zehn Staaten, und europäischer und nationaler Gesetze und mehr Komfort bei den Kandidatinnen fast 80 % der weltweiten Phosphatmine- Verordnungen im Bereich des Umwelt- und Kandidaten als auch bei den Per- ralproduktion werden allein von Chi- schutzes und der Landwirtschaft. Wenn- sonalanfordernden bzw. -vermitteln- na, Marokko und dem Gebiet Westsa- gleich es vielversprechende Ansätze gibt, den (Recruitern) bei. Im schlechtesten hara, den USA und Russland geleistet. z. B. in Deutschland mit der Rückgewin- Fall werden Prozesse für Unternehmen Deutschland und die anderen Staaten nung von Phosphor aus Abwasser, fin- zwar effizienter, bisherige Einstellungs- der Europäischen Union (EU) sind na- det sich bis heute noch kein ausgewiese- muster werden jedoch lediglich reprodu- hezu vollständig von Phosphorimpor- ner Schwerpunkt auf einen nachhaltigen ziert und bestehende Diskriminierungs-

ten abhängig. Phosphoreinsatz in der europäischen muster verstärkt. – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Gesetzgebung. Die Phosphorverfügbarkeit hängt ne- Während KI-Systeme auch bei der ak- ben den vorhandenen Reserven von tiven Suche nach potenziellen Kandi- zahlreichen weiteren Faktoren ab, die daten, beim Personalmarketing und in kurzfristig Engpässe in der Lieferkette der Personalentwicklung angewendet verursachen könnten, wie die hohe Ab- werden können, liegt der Fokus hier auf hängigkeit von wenigen Produzenten- dem Einsatz von KI bei der Personalaus- ländern und deren geopolitische (In-)Sta- wahl. Dieser Bereich wird in der Debatte bilität, schwankende Marktpreise, unter- bislang als besonders sensibel bewertet. schiedliche Qualität des phosphathalti- gen Gesteins und Wirtschaftlichkeit der Auch in Deutschland sind mittlerwei- Phosphorherstellung. Phosphor steht da- Robo-Recruiting – Einsatz künstlicher le Robo-Recruitinganbieter am Markt, her seit 2017 auf der Liste der kritischen Intelligenz bei der Personalauswahl wenngleich die Marktdurchdringung Ressourcen. bis heute gering ist. Bis 2030 ist zu er- Im Personalwesen ist seit einigen Jahren warten, dass sich diese weiter verbrei- Methoden zur Rückgewinnung und ein Paradigmenwechsel festzustellen. Die ten. Trotz der bislang begrenzten Be- Wiederverwendung von Phosphor ent- Personalabteilungen von Unternehmen deutung des Robo-Recruitings in der lang des Stoffkreislaufs, insbesondere bemühen sich im Wettbewerb um die bes- Praxis ist die Debatte um den richtigen aus Klärschlämmen, werden deshalb im- ten Mitarbeitenden zunehmend darum, Einsatz von KI-Systemen im Recruiting mer bedeutender. Deutschland ist ne- Kandidatinnen und Kandidaten einen weit vorangeschritten. Neben zivilge- ben der Schweiz eines der ersten Länder, niedrigschwelligen und einfachen Zugang sellschaftlichen und politischen Ak- das die Rückgewinnung von Phosphor zum Einstellungsverfahren anzubieten. teuren setzen sich auch Unternehmen aus Klärschlämmen gesetzlich veran- und Verbände zunehmend kritisch mit kert hat. Mit der Novellierung der Klär- Künstliche Intelligenz (KI) eröffnet da- der Frage auseinander, wie KI-Systeme schlammverordnung (AbfKlärV) wird bei neue Möglichkeiten: Mithilfe algo- zur Personalauswahl gestaltet und an- ab 2029 die Phosphorrückgewinnung in rithmischer Systeme können Teile des Re- gewendet werden können, damit deren Deutschland bei Kläranlagen mit Kapa- cruitingprozesses automatisiert werden. wirtschaftliches und soziales Potenzial zitätsauslegung für über 50.000 Einwoh- Im besten Fall können Recruitingpro- genutzt, ethische Risiken jedoch vermie- nerinnen und Einwohner zur Pflicht. zesse dadurch nicht nur effizienter, son- den werden.

73 TA International

EPTA – Aktivitäten vor und in der Coronakrise

Durch Corona sind persönliche Treffen und der organisierte regelmäßige Für 2020 hat das Vereinigte Königreich Austausch im EPTA-Netzwerk vorerst zum Erliegen gekommen. Dieser Bei- die EPTA-Präsidentschaft übernommen. trag wirft einen Blick zurück auf die letzte Zusammenkunft des EPTA-Netz- Die geplanten Aktivitäten wurden durch werks, das Ende 2019 in Stockholm stattfand. Corona gehörig durcheinandergewir- belt. Das im Frühjahr 2020 vorgesehene Direktorentreffen fand immerhin digi- In vielen Ländern Europas und weltweit des EU-Parlaments wurde deutlich, wie tal statt. Hauptthema war ein Austausch existieren TA-Einrichtungen, die Parla- unterschiedlich die Herangehensweise darüber, wie die einzelnen Institutionen, mente beraten. Diese haben sich im Eu- bzw. die Affinität etwa zu robotischen aber auch die institutionalisierte TA all- ropean Parliamentary Technology Assess- Technologien in der Pflege älterer Men- gemein mit der coronabedingten Krise ment Network (EPTA) organisiert, dessen schen in den verschiedenen Ländern ist. umgehen. Alle EPTA-Mitglieder hatten

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Ziele sind, Erfahrungen auszutauschen, In der zweiten Session wurde deutlich, alle Hände voll zu tun, ihre Arbeit un- gemeinsam TA-Projekte durchzuführen, dass nicht nur technologische, sondern ter den aktuellen Prämissen neu zu or- sowie Parlamente darin zu unterstützen, vor allem auch soziale Innovationen von- ganisieren. Einige Institutionen richte- eigene TA-Kapazitäten aufzubauen. nöten sind, um die Herausforderungen ten praktisch alle ihre Aktivitäten auf in der Pflege und in der Erleichterung ei- Covid-19-induzierte Themen aus, bei- Traditionell versammelt sich die EPTA- nes aktiven Alltagslebens für ältere Men- spielsweise in Chile (siehe www.bcn.cl/ Community zweimal im Jahr. Im Frühjahr schen anzugehen. Die dritte Session be- coronavirus) oder in Frankreich (z. B. zu einem internen Arbeitstreffen sowie im fasste sich mit Zukunftsperspektiven und www2.assemblee-nationale.fr/con- Herbst zum Treffen des Steuerungsgre- Implikationen für politisches Handeln. tent/download/317310/3087195/versi- miums (EPTA-Council) und einer Fach- Ein klarer Schwerpunkt lag hier auf ethi- on/3/file/OPECST_COVID_29-10+VF1. konferenz zu einem aktuellen Thema. schen Fragestellungen und grundsätzli- pdf). Andere dagegen, wie etwa das Die Treffen werden von demjenigen EP- chen Überlegungen zu Menschenrechten TAB, haben ihr thematisches Portfolio TA-Mitglied ausgerichtet, das die Präsi- im Roboterzeitalter. Die Beteiligung von kaum bis gar nicht geändert und versu- dentschaft bekleidet, welche im jährlichen Abgeordneten aus ganz Europa war be- chen auf diese Weise, etwas Normalität Turnus unter den Vollmitgliedern rotiert. achtlich. Neben rund einem halben Dut- aufrechtzuerhalten. zend schwedischen Abgeordneten waren Technologien, die ältere Menschen un- Parlamentarierinnen und Parlamenta- Auf so manche liebgewonnene Norma- terstützen bzw. bei ihrer Pflege helfen, riern u. a. aus Österreich, Finnland, Ka- lität muss dagegen verzichtet werden. waren das Thema der EPTA-Konferenz talonien anwesend. Deutschland war mit So fand dieses Jahr erstmals seit knapp 2019 in Stockholm. In Vorbereitung auf dem Vorsitzenden des ABFTA, Dr. Ernst 3 Jahrzehnten keine EPTA-Konferenz im die Konferenz hatten 17 EPTA-Mitglie- Dieter Rossmann, prominent vertreten. Herbst statt. Diese hätte sich eigentlich der nationale Beiträge verfasst, die in Offensichtlich hatte die schwedische dem Thema »Technikfolgenabschätzung einem gemeinsamen Papier gebündelt EPTA-Präsidentschaft mit dem Thema in Krisenzeiten« widmen sollen. Es bleibt wurden. Den nationalen Beiträgen vo- einen Nerv der Zeit getroffen. zu hoffen, dass im kommenden Herbst rangestellt wurde eine Zusammenfas- freudvollere Themen im Vordergrund sung, die einen hervorragenden Über- Eine sehr positive Nachricht ist aus dem stehen werden. blick zu möglichen Entwicklungen und EPTA-Council zu vermelden: Das Par- daraus erwachsenden Herausforderun- lament Südkoreas hat im Mai 2018 mit Kontakt gen für die Politik bietet. Dieser Bericht dem National Assembly Futures Institu- Dr. Reinhard Grünwald steht in englischer Sprache auf der EPTA- te (NAFI) eine Einrichtung gegründet, +49 30 28491-107 Webseite https://eptanetwork.org/ zum die Foresightaktivitäten und TA für die [email protected] Download zur Verfügung. Nationalversammlung durchführen soll. Gemäß den Statuten von EPTA erfüllt Die Konferenz bestand aus drei inhaltli- NAFI alle Bedingungen für eine assozi- chen Sessions mit Präsentationen, jeweils ierte Mitgliedschaft (eine Vollmitglied- gefolgt von lebhaften Diskussionen, bei schaft ist europäischen Einrichtungen der die anwesenden Abgeordneten eine vorbehalten). Dementsprechend wurde zentrale Rolle einnahmen. In der ersten dem Mitgliedsantrag einstimmig statt- Session wurde eine internationale Pers- gegeben. Somit bereichert ein weiteres pektive präsentiert. In den Einzelbeiträ- nichteuropäisches Mitglied die EPTA- gen aus den USA, Japan und aus Sicht Familie. Herzlich willkommen!

74 Veröffentlichungen

Veröffentlichungen

Das Potenzial algenbasierter Der Bericht verdeutlicht, dass algenba- Kraftstoffe für den Lkw-Verkehr sierte Biokraftstoffe unter den derzeit Christoph Schröter-Schlaack, als plausibel angenommenen Produk- Christoph Aicher, Reinhard Grünwald, tionsoptionen auf kurz- und mittelfri- Christoph Revermann, Johannes Schiller stige Sicht keinen Beitrag für einen kli- Christoph Schröter-Schlaack Christoph Aicher

TAB-Arbeitsbericht Nr. 181 unter Mitarbeit von maneutralen Verkehr leisten können. Reinhard Grünwald Christoph Revermann Johannes Schiller Ein spürbarer Beitrag zur Verbesserung Der Verkehr trägt aktuell insgesamt zu der THG-Bilanz des Straßengüterver- Das Potenzial etwa einem Fünftel der gesamten Treib- algenbasierter Kraftstoffe kehrs kann bis 2050 von algenbasier- hausgasemissionen Deutschlands bei, für den Lkw-Verkehr ten Biokraftstoffen wohl nicht erwartet woran der Straßengüterverkehr durch Sachstandsbericht zum Monitoring werden. Hierfür wären wissenschaft- »Nachhaltige Potenziale der Bioökonomie – Biokraftstoffe der 3. Generation«

Lkw einen Anteil von etwa 35 % hat. Da lich-technische Durchbrüche und Pro- – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. aus Algen Kraftstoffe erzeugt werden zessinnovationen vonnöten, die derzeit können, die als Dieselsubstitute in rei- nicht absehbar sind. Für eine großtech- ner Form oder mit Diesel gemischt ohne nische und aus Nachhaltigkeitsperspek- große Anpassung der Infrastruktur in tive sinnvolle Erzeugung algenbasierter Lkw einsetzbar wären, könnte dies inte- Kraftstoffe sind wesentliche Fortschritte ressante Möglichkeiten eröffnen, die bis- Juni 2019 insbesondere hinsichtlich ihrer Energie- Arbeitsbericht Nr. 181 herige Abhängigkeit des Lkw-Verkehrs bilanz erforderlich. Analysiert und dis- von fossilen Kraftstoffen zu mindern. kutiert wird zudem, welche forschungs- Hierzu wurde eruiert, ob bzw. welche und wirtschaftspolitischen Strategien Menge algenbasierten Biokraftstoffs um- elle Forschungsstand zur gesamten En- und Instrumente zur Verfügung ste- weltverträglich zur Verfügung gestellt ergiebilanz der neuen Kraftstoffe inklu- hen oder ggf. notwendig wären, um re- werden könnte und wie sich der aktu- sive der Herstellung darstellt. levantes Potenzial zu heben.

Aktueller Stand und Entwick- Im Ergebnis zeigt der Bericht, dass die lungen der Präimplantations- Zahl der zugelassenen PID-Zentren so- diagnostik wie die involvierten reproduktionsmedi- Steffen Albrecht, Katrin Grüber zinischen Einrichtungen leicht angestie- TAB-Arbeitsbericht Nr. 182 gen sind. Mehr als 300 Anträge auf PID wurden bei einer der fünf PID-Ethik-

Mit Inkrafttreten der Präimplantationsdi- kommissionen gestellt (von denen der Steffen Albrecht Katrin Grüber agnostikverordnung 2014 und der darauf- größte Teil auch bewilligt wurde). Aller- folgenden Einrichtung von PID-Zentren dings ist davon auszugehen, dass die Zahl Aktueller Stand und Entwicklungen der in Deutschland richtet sich die Aufmerk- der Behandlungen diesen Wert zukünf- Präimplantationsdiagnostik samkeit auf die Umsetzung der gesetz- tig nicht wesentlich überschreiten wird. Endbericht zum Monitoring lichen Regelungen. Im Monitoringprojekt Aktuell besteht somit kein akuter Hand- des TAB wurde daher ein konzentrierter lungsdruck in Bezug auf eine Änderung Überblick über die wissenschaftlich-tech- der gesetzlichen Regulierung der PID. Je- nischen Entwicklungen, die Anwendung doch sollten die Entwicklungen weiterhin des Verfahrens sowie die sozialwissen- genau beobachtet werden. Eine Grund- schaftliche und gesellschaftliche Debat- lage dafür kann die Verbesserung der

September 2019 te zur PID erarbeitet. Der Bericht stellt Wissensbasis bilden, die durch die ak- Arbeitsbericht Nr. 182 den Verfahrensablauf einer PID mit ihren tuelle Veröffentlichung von Daten über medizinischen und rechtlichen Aspekten die Anwendung der PID sowie durch die dar und dokumentiert die in zahlreichen Förderung von Studien zur Perspektive Interviews gewonnenen Sichtweisen des der betroffenen Paare und zu medizi- denen Fragen lässt es zudem ratsam er- medizinischen Personals, von Mitglie- nischen Qualitätskriterien erreicht wer- scheinen, diese immer wieder auch in dern und Mitarbeitenden der PID-Ethik- den kann. Die grundlegende Bedeutung der öffentlichen politischen Debatte zu kommissionen sowie Vertreterinnen und der mit der Präimplantationsdiagnos- thematisieren. Vertretern der Belange von Betroffenen. tik auf gesellschaftlicher Ebene verbun-

75 Veröffentlichungen

Arzneimittelrückstände in Risiken von Arzneimittelrückständen für Trinkwasser und Gewässern die allgemeine Gesundheit und Umwelt Bernd Klauer andererseits analysiert. Weil das Eintreten TAB-Arbeitsbericht Nr. 183 negativer Effekte unsicher ist, wird disku- tiert, welche Anhaltspunkte und Hilfe- Vor dem Hintergrund eines stetig stei- stellung das Vorsorgeprinzip bei der Be- genden Verbrauchs von Arzneimitteln wältigung dieser Konflikte leisten kann. gibt der Bericht einen Überblick über den Wissensstand zu Mengen, Qualitäten Systematisch werden Überlegungen zu und Wirkungen der Mikroverunreini- technischen Maßnahmen und regulato- gungen auf Mensch und Umwelt. Es wer- rischen Strategien zur Verringerung der

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. den Vorschläge zur Vermeidung der Ver- Risiken von Arzneimittelrückständen in unreinigungen zusammengetragen und Gewässern vorgestellt, darunter die derzeit Wissenslücken und mögliche Handlungs- intensiv diskutierte vierte Reinigungsstu- strategien zur Verringerung der Risiken fe von Kläranlagen, die Mikroverunreini- durch Arzneimittelrückstände im Wasser gungen zu großen Teilen aus Abwässern aufgezeigt. Geboten wird eine Übersicht entfernen kann. Stärker an der Quelle der dazu, welche Human- und Tierarzneimit- Verunreinigung setzen regulatorische tel in welchen Quantitäten in Deutschland Maßnahmen an, z. B. im Zusammenhang verwendet werden und nach aktuellem mit dem Prozess der Arzneimittelzulas- Kenntnisstand ihrer Menge oder ihrer sung, oder Informationsmaßnahmen, die kombiniert und in eine umfassende Strate- Wirkung nach in human- und ökotoxi- bei Verbraucherinnen und Verbrauchern, gie eingebettet werden können und welche kologischer Hinsicht relevant sind. Zudem Ärzteschaft und Apotheken ein Problem- Rolle bei der Strategiefindung, -entschei- wird der Zielkonflikt zwischen individu- bewusstsein zu schaffen versuchen. Dis- dung und -umsetzung den verschiedenen ellen Ansprüchen auf Heilung durch Me- kutiert wird, wie die verschiedenen Maß- staatlichen und privaten gesellschaftlichen dikamente einerseits und den potenziellen nahmenoptionen sinnvoll miteinander Akteuren zukommt.

Legal Tech – neuer Geschäftsmodelle und der Grün- Potenziale und Wirkungen dung von auf Rechtsberatung und ju- Sonja Kind, Jan-Peter Ferdinand, ristische Services ausgerichteten Legal- Kai Priesack Tech-Unternehmen ab. Etliche Firmen TAB-Arbeitsbericht Nr. 185 bieten intelligente Softwarelösungen oder IT-basierte Dienstleistungen und

Sonja Kind Legal Technology (Legal Tech) bezeich- Jan-Peter Ferdinand drängen damit in juristische Anwen- Kai Priesack net allgemein den Einsatz von Technolo- dungsfelder. Die Kurzstudie bietet eine gien in der Rechtsberatung, der von ein- Legal Tech – Übersicht zu Legal-Tech-Angeboten und Potenziale und facher, plattformbasierter Unterstützung Wirkungen -Anwendungen. Auf Basis von Exper-

(Tele-Anwalt) bis hin zu teil- oder vollau- TA-Vorstudie teninterviews wird außerdem erörtert, tomatisierten Lösungen, die auf Big-Data- welche rechtlichen Aspekte und Frage- Analysen und Ansätze des maschinellen stellungen des Verbraucher- und Daten- Lernens zurückgreifen, reicht. Die Fähig- schutzes durch die Aktivitäten von Legal keit, rechtliche Daten abzubilden, zu ana- Tech berührt werden. Durch ein interna- lysieren und zu interpretieren, wird zu- tionales Mapping von Legal-Tech-Start- künftig einen immer größer werdenden ups wurde ermittelt, in welchen An-

Juni 2019 Anteil im Arbeitsspektrum von Anwalts- Arbeitsbericht Nr. 185 wendungsbereichen von Legal Tech die kanzleien einnehmen. Markt- und Gründungsdynamiken am stärksten ausgeprägt sind. Zudem wer- Der Bericht verdeutlicht, dass die Digita- schritten ist und unter der Bezeichnung den die aktuellen Debatten zum The- lisierung professioneller Beratungs- und Legal bzw. Law Tech auch das Rechts- ma Legal Tech analysiert, um Chancen, Dienstleistungen in der Finanz- und Ver- wesen erreicht hat. Aktuell zeichnet sich Potenziale und Risiken abzuwägen und sicherungswirtschaft bereits weit fortge- eine hohe Dynamik bei der Entwicklung etwaige Handlungsbedarfe auszuloten.

76 Veröffentlichungen

Lichtverschmutzung – künstlicher Außenbeleuchtung unter- Ausmaß, gesellschaftliche und sucht und der wissenschaftliche Erkennt- ökologische Auswirkungen nisstand im Hinblick auf Umfang und sowie Handlungsansätze Trends dieser Lichtverschmutzung so- Christoph Schröter-Schlaack, wie ihre wirtschaftlichen und soziokul- Christoph Schröter-Schlaack

unter Mitarbeit von Nona Schulte-Römer, turellen, humanmedizinischen und öko- Nona Schulte-Römer Christoph Revermann Christoph Revermann logischen Wirkungen zusammengefasst. TAB-Arbeitsbericht Nr. 186 Lichtverschmutzung – Ausmaß, gesellschaftliche Auf Basis dieser Erkenntnisse und aktu- und ökologische Auswirkungen sowie Die zunehmende Verbreitung künstlicher eller beleuchtungstechnologischer und Handlungsansätze

Außenbeleuchtung hat vielfältige Auswir- lichtplanerischer Möglichkeiten werden Endbericht zum TA-Projekt kungen. Durch künstliche Beleuchtung Handlungsoptionen abgeleitet, die eine – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. können etwa der biologische Tag-Nacht- Verringerung der Lichtverschmutzung Rhythmus und damit das Gesamtgefüge unterstützen können. Diese beinhalten des Naturhaushalts beeinflusst werden, etwa Vorschläge für Forschungs- und För- denn Licht ist ein wichtiger Zeitgeber, an derprogramme, Mess- und Monitoring- dessen natürlichen Rhythmus sich Men- systeme, Steuerungsinstrumente, Mög-

Juni 2020 schen, Tiere und Pflanzen über lange lichkeiten der Entwicklung integrierter Arbeitsbericht Nr. 186 Zeiträume angepasst haben. Vermutet lokaler und regionaler Lichtkonzepte so- wird auch, dass permanent oder perio- wie Aspekte sinnvoller Orientierungs- disch veränderte Lichtverhältnisse durch hilfen für Bund, Länder und Kommu- die Aktivitäten einiger europäischer künstliche Beleuchtung negative Auswir- nen zur Unterstützung planerischer und Nachbarländer, die etwa Gesetze gegen kungen auf die menschliche Gesundheit rechtlicher Angelegenheiten z. B. für Stra- Lichtverschmutzung verabschiedet und haben können. Vor diesem Hintergrund ßen-, Gebäude- und andere Außenbe- Grenzwerte für Beleuchtungsintensitäten werden die nichtintendierten Wirkungen leuchtungen. Beschrieben werden auch gesetzt haben.

Autonome Waffensysteme in der Entwicklung befindlichen Syste- Reinhard Grünwald, Christoph Kehl men wird illustriert, welche Funktionen TAB-Arbeitsbericht Nr. 187 moderne Waffensysteme bereits heute und in absehbarer Zukunft autonom aus- Technologische Fortschritte, die in den üben können. letzten Jahren in den Bereichen Robotik und künstliche Intelligenz erzielt wur- Reinhard Grünwald Auf Grundlage dieser militärischen Fä- Christoph Kehl den, haben Waffensysteme, die ohne higkeiten werden mögliche Einsatzszena- menschliches Zutun Ziele auswählen und rien für AWS diskutiert und sich daraus Autonome bekämpfen können, an die Schwelle zur Waffensysteme ergebende sicherheitspolitische Implika-

konkreten Umsetzung gerückt. Automa- Endbericht zum TA-Projekt tionen analysiert. Hier stehen die Fragen tisierung und Autonomie werden bereits im Mittelpunkt, ob der mögliche Einsatz heute für eine breite Palette an Funktio- von AWS zu mehr oder weniger krie- nen bei Waffensystemen genutzt (u. a. gerischer Gewalt führen würde, welche Suche und Identifizierung potenzieller Auswirkungen auf die regionale Stabili- Ziele mithilfe von Sensordaten, Zielver- tät und das strategische Gleichgewicht zu folgung, Priorisierung und Bestimmung erwarten wären und ob neue Rüstungs-

Oktober 2020 des Zeitpunkts für den Angriff auf diese Arbeitsbericht Nr. 187 wettläufe ausgelöst werden könnten. Ob Ziele). Die Erweiterung autonomer Funk- und ggf. inwiefern die Anwendung töd- tionen von Waffensystemen steht daher licher Gewalt durch autonom agieren- in allen technologisch fortgeschrittenen Facetten des Themas ab. Zunächst erfolgt de Maschinen moralisch zulässig ist, ist Ländern auf der Agenda. eine Darstellung des technologischen die Kernfrage der ethischen Debatte um Reifegrads und der Entwicklungsper- AWS, die im Bericht ausführlich darge- Der Bericht verfolgt einen breiten Ana- spektiven von AWS. Anhand einer Be- stellt wird. lyseansatz und deckt eine Vielzahl von standsaufnahme von existierenden und

77 Veröffentlichungen

Mögliche Diskriminierung lung, der medizinischen Versorgung, durch algorithmische Entschei- dem Strafvollzug und der automatisier- dungssysteme und maschi- ten Personenerkennung betrachtet. Sie nelles Lernen – ein Überblick machen dabei deutlich, dass Ungleich- Alma Kolleck, Carsten Orwat behandlungen durch AES häufig Fort-

TAB-Hintergrundpapier Nr. 24 führungen »vordigitaler« Ungleichbe- Alma Kolleck Carsten Orwat handlungen sind. Zugleich führen die

Viele Entscheidungen, die auf digitali- Fallbeispiele vor Augen, dass die Frage, ob Mögliche Diskriminierung durch algorithmische sierten Daten beruhen, bereiten algorith- eine konkrete Ungleichbehandlung dis- Entscheidungssysteme und maschinelles Lernen – mische Entscheidungssysteme (AES) ent- kriminierend ist oder nicht, innerhalb ei- ein Überblick weder vor oder treffen sie ganz, etwa zur ner Gesellschaft und innerhalb der Recht-

TAB-Brief Nr. 51 – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. Vergabe von Krediten, zur Auswahl von ge- sprechung oftmals hoch umstritten ist. eigneten Bewerbungen auf eine Stelle oder zur Berechnung eines individuellen Risiko- Eine Reihe von Vorschlägen im Bericht profils. Wenn zunehmend mehr Entschei- zielt darauf ab, die Diskriminierungsri- dungsprozesse automatisiert erfolgen, stellt siken von AES ex ante zu minimieren. sich die Frage, welche Folgen dies mit Blick Dabei stehen die Herstellung von Trans-

Oktober 2020 auf soziale Diskriminierung hat. Werden parenz, eine Kontrolle und Evaluierung Hintergrundpapier Nr. 24 bestehende gesellschaftliche Diskriminie- von AES sowie eine einheitliche Regu- rungsrisiken algorithmisch fortgeschrie- lierung im Zentrum der Diskussion. Die ben oder sogar potenziert? Oder sind AES vorgeschlagenen Maßnahmen stellen ei- vielmehr über menschliche Vorurteile er- nen Ausschnitt der derzeit diskutierten novationen und Entwicklung bietet und haben und bewerten somit sachlicher? Ansätze dar, die darauf zielen, einen ge- zugleich Bürgerinnen und Bürgern Si- sellschaftlichen und rechtlichen Umgang cherheit vor Intransparenz und Diskri- Im TAB-Bericht werden vier Fallbeispiele mit algorithmischen Entscheidungssy- minierungen beim Zugang zu gesell- aus den Bereichen der Arbeitsvermitt- stemen zu entwickeln, der Raum für In- schaftlich verfügbaren Gütern gewährt.

Petitionen an den Deutschen ten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag – Bekanntheit und Bundestag zu wenden, ist 70 % der deut- Nutzung schen Wohnbevölkerung bekannt. Män- Carolin Kahlisch, Britta Oertel ner haben häufiger Kenntnis vom Peti- TAB-Hintergrundpapier Nr. 25 tionsrecht als Frauen. Auch die tatsächlich Nutzenden sind häufiger männlich, im Carolin Kahlisch 2019 wurden ca. 13.500 Petitionen an den Britta Oertel mittleren Alter und verfügen mehrheitlich Deutschen Bundestag gerichtet. Sie betra- über einen höheren Bildungsabschluss. Petitionen an den fen sowohl grundsätzliche als auch persön- Deutschen Bundestag – Vor allem ältere Menschen und Per- Bekanntheit und liche Anliegen. Petitionen erreichen den Nutzung sonen, die nicht mehr erwerbstätig sind,

Petitionsausschuss per Post, Fax oder über Diskursanalyse nutzen das Recht, Petitionen in eigener das E-Petitionsportal des Bundestages. So- Sache postalisch einzureichen. Die Be- ziodemografische Merkmale liegen dem reitschaft zum Mitzeichnen von Petitio- Petitionsausschuss aus Datenschutzgrün- nen ist in der Bevölkerung hoch. Jede den jedoch nicht vor. Diese Lücke wird mit vierte Person hat bereits eine Petition dem Hintergrundpapier geschlossen. beim Bundestag unterstützt, meist über eine handschriftliche Mitzeichnungs-

November 2020 Im Mittelpunkt des Berichts stehen drei Hintergrundpapier Nr. 25 liste. Nutzende des E-Petitionsportals Kernfragen: Wem ist das Recht, sich mit des Bundestages kennen allerdings in Bitten und Beschwerden an den Deuschen der Regel nicht nur dieses Portal, son- Bundestag zu wenden, bekannt bzw. nicht Deuschten Bundestag einzureichen, zu dern auch die außerparlamentarischen bekannt? Falls bekannt, wie haben die veröffentlichen, zu diskutieren oder zu Petitions- sowie Kampagnenportale und Befragten von diesem Recht erfahren? unterstützen? Es zeigen sich folgende zen- nutzen diese gleichermaßen für Einrei- Wer nutzt das Recht, Petitionen beim trale Ergebnisse: Das Recht, sich mit Bit- chungen und Mitzeichnungen.

78 Bildnachweise/Impressum

Bildnachweise

S. 4: Deutscher Bundestag S. 46: Bundesanstalt Technisches Hilfswerk S. 62: AGCO-Fendt/Wikimedia Commons/CC-BY-SA-4.0 S. 65: in Abb. v. l. n. r.: NASA (1 u. 3), ESA (2 u. 4), Donald Davis (5) S. 69: TKP Nr. 30: artinspiring/AdobeStock; TKP Nr. 31: AndreyPopov/iStock S. 70: TKP Nr. 32: CCeliaPhoto/iStock; TKP Nr. 33: Prostock-studio/AdobeStock;

TKP Nr. 34: peterschreiber.media/AdobeStock – Dezember 2020 51 TAB-Brief Nr. S. 71: TKP Nr. 35: Bits and Splits/AdobeStock; TKP Nr. 36: elgol/iStock; TKP Nr. 37: Kalyakan/AdobeStock; S. 72: TKP Nr. 38: ipopba/AdobeStock; TKP Nr. 39: New Africa/AdobeStock S. 73: TKP Nr. 40: nanuvision/AdobeStock S. 75: TAB-AB Nr. 181: André Künzelmann, Anne Wessner, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH; TAB-AB Nr. 182: NinaSes/wikimedia.org; Jhagenk/wikimedia.org; BilliTheCat/pixabay.com S. 76: TAB-AB Nr. 183: Jacek Dylag/Unsplash; thought-catalog/Unsplash; TAB-AB Nr. 185: Maksim Kabakou/123rf.com S. 77: TAB-AB Nr. 186: Craig Mayhew/Robert Simmon, NASA GSFC; TAB-AB Nr. 187: Bertrand Bouchez/Unsplash S. 78: TAB-HP Nr. 24 (im Uhrzeigersinn): Mark Adams, Piotr Adamowicz, Fabio Formaggio, photovibes; alle 123rf.com TAB-HP Nr. 25: Vadym Malyshevskyi/123rf.com S. 28, 29, 31, 32, 43, 45, 51, 56, 57: TAB

Impressum

Redaktion: Dr. Christoph Revermann, Dr. Arnold Sauter

Satz und Layout: Carmen Dienhardt, Brigitta-Ulrike Goelsdorf

Den TAB-Brief können Sie kostenlos per E-Mail beim Se- kretariat des TAB anfordern bzw. abonnieren. Er ist auch als PDF unter www.tab-beim-bundestag.de verfügbar.

Papier: Circleoffset Premium White Druck: Wienands Print + Medien GmbH, Bad Honnef

ISSN-Print: 2193-7435 ISSN-Internet: 2193-7443

79 Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) berät das Parlament und seine Ausschüs- se in Fragen des wissenschaftlich-technischen Wandels. Das TAB wird seit 1990 vom Institut für Technikfolgenabschät- zung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) betrieben. Hierbei kooperiert es seit Sep- tember 2013 mit dem IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung gGmbH sowie der VDI/VDE Innova- tion + Technik GmbH.

Leiter Prof. Dr. Armin Grunwald stellvertretende Leiter Dr. Christoph Revermann Dr. Arnold Sauter

BÜRO FÜR TECHNIKFOLGEN-ABSCHÄTZUNG BEIM DEUTSCHEN BUNDESTAG Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Neue Schönhauser Str. 10 10178 Berlin Telefon: +49 30 28491-0 E-Mail: [email protected] Web: www.tab-beim-bundestag.de Twitter: @TABundestag